Erschöpfungsgeschichten Kehrseiten und Kontrapunkte der Moderne 9783770564477, 9783846764473

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Erschöpfungsgeschichten Kehrseiten und Kontrapunkte der Moderne
 9783770564477, 9783846764473

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Erschöpfungsgeschichten

vita activa Herausgegeben von Claudia Lillge und Thorsten Unger

Wissenschaftlicher Beirat Franz Josef-Deiters Bernd Stiegler Isabella von Treskow

Jan Gerstner, Julian Osthues (Hg.)

Erschöpfungsgeschichten Kehrseiten und Kontrapunkte der Moderne

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen Umschlagabbildung: The Creation Michelangelo Italy Vatican, Michael Giorgio Castielli; bearbeitete Coverabbildung von Jan C. Watzlawik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2629-7299 ISBN 978-3-7705-6447-7 (paperback) ISBN 978-3-8467-6447-3 (e-book)

Inhalt Julian Osthues, Jan Gerstner Erschöpfungsgeschichten Kehrseiten und Kontrapunkte der Moderne – Zur Einführung  . . . . . . . . .

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MODERNE ERSCHÖPFUNGSGESCHICHTE Wolfgang Martynkewicz Der Skandal der Erschöpfung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Horst Gruner Topographie der Erschöpfung Die Narrative der Ratgeberliteratur zur Nervosität und Neurasthenie um 1900  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eva Stubenrauch Kontrapunkt moderner Historizität Erschöpfung als Gegenwartsdiagnose bei Görres, Nietzsche und Gumbrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ERSCHÖPFUNG, KAPITAL UND ARBEIT Jan C. Watzlawik Dinge, die ausbrennen Über Materialermüdung und Sachschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jörn Etzold Steigerung und Erschöpfung Zu Walter Benjamins Kapitalismus als Religion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jennifer Pavlik Der Weltverlust des animal laborans, seine Suche nach dem konsumierbaren Glück und die Widerständigkeit des Ästhetischen  . . . . . . 101

vi

Inhalt

SCHREIBWEISEN DER ERSCHÖPFUNG Dieter Heimböckel Lieber nicht Genosse Bartleby – Genosse Idiot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Iulia-Karin Patrut „Seine große Erschöpfung machte es begreiflich.“ Spielarten und Funktionen von Erschöpfung in Franz Kafkas Das Schloß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Georges Felten Grauzone Erschöpfung Utopische Kippfiguren und deren Arretierung in Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Axel Dunker „Jetzt merk ich erst, wie müd ich bin!“ Der erschöpfte Erzähler in Peter Kurzecks Das alte Jahrhundert und Das schwarze Buch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Jakob Christoph Heller Erosive Poetik als Antwort auf die Erschöpfungen der Spätmoderne Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

ERSCHÖPFUNGSPATHOLOGIE UND DIE WIEDERKEHR DER MELANCHOLIE Till Huber, Immanuel Nover Von der Erschöpfung zur Depression Überlegungen zu einer Ästhetik des Depressiven anhand von Lars von Triers Melancholia  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Hauke Kuhlmann Traurige Hunde Beobachtungen zum Melancholiediskurs der Gegenwart in Marion Poschmanns Hundenovelle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Julian Osthues, Jan Gerstner

Erschöpfungsgeschichten

Kehrseiten und Kontrapunkte der Moderne – Zur Einführung „Our age, it seems, is the age of exhaustion.“1 Es scheint, folgt man dem Tenor einer Vielzahl aktueller Studien, derzeit nicht gut um den Menschen bestellt. Zeitdiagnosen wie diese stehen gegenwärtig hoch im Kurs. Das zitierte Statement, mit dem die HerausgeberInnen in den 2017 veröffentlichten Sammelband Burnout, Fatigue, Exhaustion einleiten, steht beispielhaft für die Karriere eines Begriffs, der in Diskursen der Gegenwart seit einigen Jahren geradezu omnipräsent ist: Erschöpfung. Wie kaum ein anderes Konzept vermag Erschöpfung ein Lebens- und Zeitgefühl ins Bild zu setzen, das emblematisch zur Selbstbeschreibung des Menschen in Moderne und Gegenwart avanciert ist.2 Es mag wenig überraschen, dass der Begriff eine besondere Anziehungskraft für kulturkritische Diskurse ausstrahlt, die ihm indes den Rang einer Kultur- und Zeitdiagnose verliehen haben. Überforderung, Müdigkeit, Stress, Burnout, Depression: Eine Vielzahl von Studien der vergangenen Jahre tragen der Aktualität des Themas bereits im Titel Rechnung: Das erschöpfte Selbst,3 Müdigkeitsgesellschaft,4 Erschöpfende Arbeit,5 Wir Ausgebrannten,6 Der überforderte Mensch,7 Leistung und Erschöpfung,8 Soziale Erschöpfung,9 Die 1  Sighard Neckel / Anna Katharina Schaffner / Greta Wagner: Introduction. In: Burnout, Fatigue, Exhaustion. An Interdisciplinary Perspective on a Modern Affection. Hg. v. dens. Cham 2017, S. 1-26, hier S. 1. 2  Vgl. so auch das Fazit von Schaffner: „The rhetoric of our age is unique in that anxieties about exhaustion, sustainability, and resilience no longer concern only the mind, body, or society but our very habitat.“ (Anna Katharina Schaffner: Exhaustion. A History. New York  2016, S. 242). 3  Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2015. 4  Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin 2010. 5  Heiner Keupp / Helga Dill (Hg.): Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt. Bielefeld 2010. 6  Hilmar Klute: Wir Ausgebrannten. Vom neuen Trend, erschöpft zu sein. München 2012. 7  Patrick Kury: Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout. Frankfurt a.M. 2012. 8  Sighard Neckel / Greta Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Frankfurt a.M. 2013. 9  Ronald Lutz: Soziale Erschöpfung. Kulturelle Kontexte sozialer Ungleichheit. Weinheim, Basel 2014.

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erschöpfte Gesellschaft,10 Exhaustion. A History,11 sowie unlängst 2018 Das überforderte Subjekt12 – die Liste ließe sich weiter fortführen. Im Schnittfeld von Soziologie, Sozialphilosophie, Psychologie und Kulturwissenschaften formiert sich ein Erschöpfungsdiskurs der Gegenwart, der die soziokulturelle Tragweite und Brisanz des Phänomens verdeutlicht. Dabei sei „[d]ie Rede von der Erschöpfung“, wie Wolfgang Martynkewicz in Das Zeitalter der Erschöpfung bilanziert hat, nicht nur „ubiquitär“ geworden. Hinzu komme, dass sie „immer neue Varianten“ generiere: Wer ist nicht alles erschöpft – und was ist nicht alles von Erschöpfung bedroht: die menschliche Leistungsfähigkeit, das Ich in der digitalen Datenflut, die Ressourcen und Energien, der Fußballtrainer Rangnick, das männliche Selbstbild, die christlichen Religionen, die Zeugungskraft und die Sexualität im Allgemeinen, die Lehrer, die Professoren und Manager, die Zweierbeziehung und die Geschlechterdifferenz, der Kreidefelsen auf Rügen und – natürlich – die Politik, das neoliberale Wirtschaftsmodell und – last but not least – die europäische Idee.13

Dass die Virulenz des Themas alles andere als zu ermüden scheint, sondern weiter anhält, zeigt ein Blick auf zwei Diskursbereiche. Zum einen hat die fortschreitende Digitalisierung der Gegenwart in den vergangenen Jahren mehr und mehr Kritik auf sich gezogen. Das hat einige Studien dazu veranlasst, in der übermäßigen Mediennutzung eine potentielle Ursache für Krankheiten zu sehen, die mit körperlichen wie psychischen Erschöpfungserscheinungen verknüpft sind. Wenn in neueren Publikationen titelgebend Schlagwörter wie Digitale Erschöpfung,14 Digitale Depression15 oder Digitaler Burnout16 auftauchen, mag das angesichts der steigenden Bedeutung digitaler 10  11  12  13 

14  15  16 

Stephan Grünewald: Die erschöpfte Gesellschaft. Warum Deutschland neu träumen muss. Freiburg, Basel, Wien 2015. Schaffner: Exhaustion. Thomas Fuchs / Lukas Iwer / Stefano Micali (Hg.): Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2018. Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin  2013, S.  9; vgl. auch Schaffner in ihrer Kulturgeschichte Exhaustion, S. 3, 11; zur Feststellung einer „ubiquitous exhaustion“ vgl. dies.: Exhaustion and the Pathologization of Modernity. In: Journal of Medical Humanities 37 (2016), S. 327-341, hier S. 337f. Markus Albers: Digitale Erschöpfung. Wie wir die Kontrolle über unser Leben wiedergewinnen. München 2017. Sarah Diefenbach / Daniel Ullrich: Digitale Depression. Wie neue Medien unser Glücksempfinden verändern. München 2016.
 Alexander Markowetz: Digitaler Burnout. Warum unsere permanente SmartphoneNutzung gefährlich ist. München 2015.

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Medien in der Lebens- und Arbeitswelt einerseits nicht überraschen; es zeigt andererseits auch, wie geläufig die Rede von der Erschöpfung mittlerweile zur Problematisierung von Gegenwartsphänomenen geworden ist. Eine besondere Aktualität erfährt Erschöpfung in einem Diskursfeld, wo der Begriff in jüngster Zeit noch weiter an Schlagkraft gewonnen hat: Erschöpft ist nicht nur der Mensch. Im Zentrum von Debatten um die ‚Klimakrise‘ steht etwa die Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Ein konkretes Beispiel ist der sogenannte Earth overshoot Day (dt. ‚Welterschöpfungs-‘ oder ‚Überlastungstag‘), der jedes Jahr um einige Tage weiter nach vorne rückt. Gemeint ist der Tag, an dem die natürlichen Ressourcen des Planeten, die dem Menschen jährlich zur Verfügung stehen, bereits verbraucht bzw. ausgeschöpft sind.17 Erschöpfung und mit ihr assoziierte Vorstellungen, wie z.B. das Ende der Ressourcen, das Artensterben oder die Degradation der Böden, avancieren hier zu politischen Kampfbegriffen, die das Verhältnis des Menschen zur Natur problematisieren. Mit der Vorstellung von der totalen Erschöpfung unseres Planeten und der Irreversibilität der natürlichen Ordnung rückt gleichsam die Frage nach den historischen Grenzen des ‚Anthropozäns‘, also das Ende des Menschenzeitalters, in den Blick. Wie die Beispiele zeigen, ist der Rede von Erschöpfung nicht nur immer schon eine negative Wertung unterlegt. Sie fungiert dabei insbesondere als soziokulturelle Zuschreibung und mehr noch: sie ist Ausdruck einer Kulturund Zeitkritik. Mit Erschöpfung ist folglich ein Diskursraum umschrieben, „a discursive space in which specific cultural discontents are articulated.“18 Wenn nachfolgend von einem ‚Erschöpfungsdiskurs der Gegenwart‘ gesprochen wird, so ist zu berücksichtigen, dass dieser als interdiskursives Geflecht zu verstehen ist, das sich im Spannungsfeld von u.a. medizinischen, ökonomischtechnologischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Diskursen formiert. Eine besondere Resonanz hat der Begriff, wie die erwähnten Beispiele andeuten, in den vergangenen Jahren vor allem in der Soziologie, der Sozialphilosophie und der Psychologie erfahren, die einen zeitdiagnostischen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und mit Erschöpfung assoziierten Pathologien erkennen. Hochkonjunktur hat Erschöpfung besonders dort, wo der Zustand spätmoderner Leistungssubjekte zur Disposition steht, die auf eine sich stetig beschleunigende Lebens- und Arbeitswelt mit Überforderung, Überdruss und 17  18 

War dieser Tag 2015 noch am 13.8., so rückte er bereits ein Jahr später auf den 3.8., 2017 auf den 2.8. und 2018 auf den 1.8. (vgl. dazu https://www.overshootday.org; zuletzt geprüft am 21.5.2019). Neckel / Schaffner / Wagner: Introduction, S. 2.

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Entfremdung19 bis hin zu physio-psychischen Ausfallerscheinungen reagieren: Burnout, Depression, Fatigue. Der erschöpfte Mensch erscheint dabei nicht selten als Kehr- und Schattenseite der Produktivität, als Wiedergänger und „leidender Antiheld einer Erfolgskultur, deren alleiniges Maß der eigene Vorrang im Wettbewerb ist.“20 Wenn der Begriff fällt, herrscht im öffentlichen Diskurs zuweilen ein negatives, kulturkritisches Klima, eine Krisenrhetorik, die den Ausnahmezustand zugleich pathologisiert und normalisiert. Dies hat der Erschöpfung den Rang einer kollektiven Pathologie verliehen: sie ist ebenso Normalzustand wie Massenphänomen. In der Zeitdiagnose verschwimmen folglich die Grenzen zwischen Pathologie und Normalität. „Das Volk der Erschöpften“ titelte entsprechend 2011 eine Ausgabe des Spiegel zum Thema Ausgebrannt. Das überforderte Ich.21 Von der Erschöpfung als „Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts“ heißt es dort, sie habe mittlerweile das Ausmaß einer „modernen Epidemie“ erreicht. Das scheinbar widersprüchliche Verhältnis von Normalität und Abweichung in der Stilisierung des Ausnahmezustands einer Krankheit zur kollektiven Erfahrung wurde auch in einigen einschlägigen Studien der vergangenen Jahre thematisiert: Von Depression als einer „Pathologie der Spätmoderne“, die sich zukünftig zur „strukturell unausweichlichen Allgemeinerfahrung verdichten“ könnte,22 spricht etwa Hartmut Rosa in seiner Studie zur Beschleunigung, während der Philosoph ByungChul Han sie in Müdigkeitsgesellschaft als „Kennzeichen der spätmodernen Leistungsgesellschaft“23 bezeichnet und zusammen mit Burnout als typische „psychische Erkrankung[ ] von heute“24 einstuft. Alain Ehrenberg geht davon aus, dass es sich bei der Depression um eine „Demokratisierung des 19 

20  21  22 

23  24 

Zum Verhältnis von Entfremdung und Erschöpfungspathologien (Depression, Burnout) in aktuellen Arbeiten zu Entfremdungstheorien vgl. Christoph Henning: Theorien der Entfremdung zur Einführung. Hamburg 2015, S. 176-182; Peter V. Zima: Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft. Tübingen 2014, S. 140-147. Sighard Neckel / Greta Wagner: Einleitung. Leistung und Erschöpfung. In: Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Hg. v. dens. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, S. 7-25, hier S. 8. Markus Dettmer / Samiha Shafy / Janko Tietz: Volk der Erschöpften. In: Der Spiegel, 24.1.2011, H. 4 (2011), S. 114-122. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. 10. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, S. 388. An anderer Stelle spricht Rosa davon, „die Depression [könne] ohne Zweifel als die verbreitetste und charakteristischste Pathologie der Zeit begriffen werden.“ (Ders.: Beschleunigung und Depression – Überlegungen zum Zeitverhältnis der Moderne. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 65, H. 9/10 (2011), S. 1041-1060, hier S. 1055, Herv. i. Orig.). Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Um die Essays Burnoutgesellschaft und HochZeit erweiterte Neuausgabe. Berlin 2016, S. 50. Ebd., S. 72.

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Außergewöhnlichen“ handele und betont in seiner viel beachteten Studie Das erschöpfte Selbst die Brisanz der gegenwärtigen Situation,25 dass „[d]ie Frage nach mentaler Gesundheit […] – über den medizinischen Aspekt hinaus – zu einem zentralen gesellschaftlichen und politischen Problem unserer Zeit geworden“26 sei. Und ähnlich wie Ehrenberg und Han zieht auch Andreas Reckwitz 2017 in Die Gesellschaft der Singularitäten die (Selbst-)Überforderung des Menschen, er selbst zu werden, als eine mögliche Ursache in Betracht, durch die die Depression „das charakteristische Krankheitsbild der spätmodernen Kultur“27 werden konnte. Zuletzt erschien im September  2018 der Sammelband Das überforderte Subjekt. Ausgangspunkt ist hier die „Zeitdiagnose“, dass sich aufgrund von steigenden Erwartungen und Beschleunigungsprozessen der Druck auf das Subjekt drastisch erhöht habe, wodurch sogenannte „Überforderungserkrankungen“ signifikant zugenommen hätten.28 Dass diese Zeitdiagnose auch ihre Kritiker mobilisiert – und damit gleichsam Kontrapunkte zum Erschöpfungsdiskurs entstehen –, die Zweifel an der Virulenz von Erschöpfungsphänomenen äußern, soll dabei nicht unerwähnt bleiben. Martin Dornes bestreitet etwa in seiner Studie Macht der Kapitalismus depressiv? die Sichtweise, dass psychische Krankheiten wie Depression oder Burnout faktisch zugenommen hätten, oder dass Menschen überhaupt „von der gegenwärtigen Lebens- und Arbeitswelt zunehmend erschöpft oder überfordert sind“,29 da es hierfür keine empirischen Belege gebe. Die Beispiele zeigen, dass Erschöpfung und die mit ihr assoziierten Phänomene (u.a. Burnout, Depression) sich inzwischen zur diffusen Chiffre einer Kultur- und Zeitdiagnose entwickelt haben, in der die Grenze zwischen Pathologie und Normalität verschwimmt. Erschöpfung ist zur Kategorie 25 

26  27  28  29 

Alain Ehrenberg: Depression. Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. v. Christoph Menke / Juliane Rebentisch. Berlin 2012, S. 52-62, hier S. 52; ders.: Die Demokratisierung des Aussergewöhnlichen / Die Pathologie der Größe. Bettina Steinbrügge im Gespräch mit Alain Ehrenberg. In: Keine Zeit Busy. Erschöpftes Selbst. Entgrenztes Können. Hg. v. Agnes Husslein-Arco / Betina Steinbrügge. Köln 2012, S. 36-47, hier S. 46. In Das erschöpfte Selbst spricht er in dem Zusammenhang von einer „Popularisierung des Außergewöhnlichen“ (Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, S. 289). Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, S. 9. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt a.M. 2017, S. 348. Thomas Fuchs / Lukas Iwer / Stefano Micali: Einleitung. In: Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Hg. v. dens. Frankfurt a.M. 2018, S. 7-26, hier S. 7. Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M. 2016, S. 11.

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einer Sozialkritik geworden, der es – Axel Honneths viel zitierter Definition zufolge – „um eine Bestimmung und Erörterung von solchen Entwicklungsprozessen der Gesellschaft geht, die sich als Fehlentwicklungen und Störungen, eben als ‚Pathologien des Sozialen‘, begreifen lassen.“30 Der Blick auf soziale Pathologien erlaubt es, wie Ehrenberg in Anschluss an Honneth formuliert, die „Kehrseite der Entwicklung moderner Gesellschaften“31 kritisch zu beleuchten. Ehrenberg sieht daher in den individuellen Erkrankungen ein widerständiges Moment, das den Blick auf soziale Missstände schärft: Als Ausdruck eines allgemeineren sozialen Leids werden die Pathologien unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Unbehagens betrachtet: Depression, posttraumatische Belastungsstörung etc. sind Formen des Widerstands gegen die Normativität von Konkurrenz, Flexibilität, persönlichem Engagement und Autonomie; es sind Mittel und Wege, ihren Wert für die Menschen zu hinterfragen.32

Exemplarisch kommt die Konvergenz von Krankheit und Kritik in der Metapher des Burnouts zum Ausdruck: „Wer Burnout sagt, spricht im Modus der Kulturkritik“,33 schreibt Ulrich Bröckling. Und auch Sighard Neckel und Greta Wagner stellen einleitend zum Sammelband Leistung und Erschöpfung fest, dass sich gerade in der Rede vom Burnout, das sie an anderer Stelle als „arbeitsbedingtes Erschöpfungssyndrom“34 umschreiben, offenbar ein Unbehagen am Leistungsdruck im heutigen Berufsleben, an der Beschleunigung von Arbeit und Kommunikation, an alltäglicher Überforderung und neu empfundenen Formen von Entfremdung artikuliert, die

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Axel Honneth: Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie. In: Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie. Hg. v. dems. Frankfurt a.M. 1994, S. 9-69, hier S. 10; zu einer jüngst vorgeschlagenen Verwendung des Pathologiebegriffs im Bereich der Sozialphilosophie vgl. Rahel Jaeggi / Lukas Kübler: Pathologien der Arbeit. Zur Bedeutung eines kooperativen Arbeitsverhältnisses. In: WSI Mitteilungen 67, H. 7 (2014), S. 521-527, hier S. 526. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, S. 10. Ebd., S. 14. Ulrich Bröckling: Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad. Konturen einer Zeitkrankheit. In: Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Hg. v. Sighard Neckel / Greta Wagner. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, S. 179-200, hier S. 179. Sighard Neckel / Greta Wagner: Burnout. Soziales Leiden an Wachstum und Wettbewerb. In: Zeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-BöcklerStiftung (WSI) 6 (2014), S. 536-542, hier S. 537.

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den persönlichen Zumutungen einer entfesselten Wettbewerbsgesellschaft den Rang einer öffentlich debattierten Pathologie verleihen.35

Mit Blick auf den Titel dieses Bandes lassen sich zumindest zwei Aspekte festhalten: Erstens werden Pathologien der Erschöpfung als Zeitdiagnose betrachtet, als Negativfolie, welche Kehr- und Schattenseiten soziokultureller Entwicklungen zum Vorschein bringt.36 Konstitutiv ist dabei, dass das kulturelle Unbehagen in der Sprache der Medizin gefasst wird, indem Abweichungen als ‚krankhafte Störungen‘, eben als soziale Pathologien, verstanden werden. Mit Blick auf die Geschichte kulturkritischer Einsätze von Erschöpfung37 schließt dies an den Diskurs über die „Erschöpfungskrankheit der Moderne“38 an: die Neurasthenie um 1900. Wenngleich Müdigkeits- und Erschöpfungszustände, worauf Hartmut Böhme unlängst in einem für den vorliegenden Band zentralen Beitrag hingewiesen hat, kein genuin modernes Phänomen sind, so zeigt „[i]hr Aufstieg […] zur Epochensignatur […] in der Geschichte der physischen Befindlichkeiten, Emotionen und Mentalitäten dennoch eine historische Besonderheit. Das Zeitalter als eines der Nerven zu bezeichnen, ist historisch singulär.“39 In Anlehnung an Anson Rabinbach zeichnet Böhme die Konturen einer diachronen Perspektive, deren Fluchtlinien bis hin zu Erschöpfungspathologien der Gegenwart reichen.40 Die moderne Müdigkeit ist im Kern ein Element der hochorganisierten Arbeit – dort taucht sie zuerst auf und formatiert die Diskurse über Neurasthenie, später dann über Stress, Burnout und Depression. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo es stets um die effiziente Synthese von anorganischer (maschinaler) und organischer (körperlicher) Arbeit ging, war man über den Ersten Hauptsatz der Thermodynamik – Umwandlung und Erhaltung von Energie – ebenso 35  36 

37  38  39  40 

Neckel / Wagner: Einleitung: Leistung und Erschöpfung, S. 7. In ähnlicher Weise spricht Hartmut Rosa von Depression als Beispiel einer „strukturellen und kulturellen Erstarrung“, welche komplementär der Moderne zugehörig eine „paradoxe Kehrseite des Modernisierungsprozesses“ aufzeige. (Rosa: Beschleunigung und Depression, S. 1053). Vgl. hierzu ausführlich Schaffner: Exhaustion. Maximilian Bergengruen: Mystik der Nerven. Hugo von Hofmannsthals literarische Epistemologie des ‚Nicht-mehr-Ich‘. Freiburg, Berlin, Wien 2010, S. 11. Hartmut Böhme: Das Gefühl der Schwere. Historische und phänomenologische Ansichten der Müdigkeit, Erschöpfung und verwandter Emotionen. In: figurationen 16, H. 1: Erschöpfung / Épuisement (2015), S. 26-49, hier S. 29. Vgl. zu einer diachronen Perspektive die Überlegungen zu ‚Depression diachron‘ von Julian Osthues: „Das Gefühl einer tiefen, tiefen Müdigkeit.“ Erschöpfung im Adoleszenzroman um 1900. In: Ästhetik des Depressiven. Hg. v. Till Huber / Immanuel Nover. Berlin, Boston [im Erscheinen].

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Julian Osthues, Jan Gerstner entzückt wie zutiefst erschrocken über den Zweiten Hauptsatz, nämlich die irreversible Zunahme der Entropie. Die Moderne trat ins Zeichen einer Welt-Erschöpfung.41

Erschöpfung ist demnach ein Produkt der Moderne in zweifacher Hinsicht: Zum einen in ihrer spezifischen medizinischen Fassung; zum anderen darin, dass sie eng mit modernen sozialen Phänomenen – vor allem der Organisation von Arbeit – verknüpft ist. Die kulturkritische Metapher der „Pathologien des Sozialen“ bleibt so auch in der historischen Perspektive an den medizinischphysiologischen Komplex gekoppelt. In dieser kulturkritischen Wendung – und das ist der zweite Aspekt, der festzuhalten ist – kann Erschöpfung wiederum als etwas Widerständiges, als Kontrapunkt gegenüber dem Primat der Produktivität und der gegenwärtigen Leistungskultur interpretiert werden.42 Dies kann im Rahmen der oben erwähnten Kultur- und Sozialkritik geschehen, es kann aber auch durchaus affirmativere Formen annehmen, etwa in den alternativen Selbstentwürfen, Lebensweisen und Selbsttechniken, die seit einiger Zeit unter Paradigmen wie ‚Achtsamkeit‘, ‚Resilienz‘ oder ‚Resonanz‘ Einzug in öffentliche Debatten gehalten haben.43 Nicht selten zielen solche Konzepte der Selbstsorge darauf ab, zur Reproduktion der Arbeitskraft, zur Selbstoptimierung sowie zur Steigerung von Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit beizutragen. Erholung und NichtArbeit stellen also keineswegs das „Andere der Arbeit“ dar, sondern sind als „integraler Teil des Arbeitsprozesses“44 zu betrachten und mehr noch: Der Entschleunigung ist gleichsam der Wille zur Beschleunigung eingeschrieben. Rosa hält diesbezüglich die gegenwärtige Beliebtheit „zeitweiliger Entschleu41 

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Böhme: Das Gefühl der Schwere, S. 30; vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien  2002; ders.: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor. In: Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Philipp Sarasin / Jakob Tanner. Frankfurt a.M. 1998, S. 286-312. „Zeitkrankheiten zeichnen sich nicht nur durch gehäuftes Auftreten, sondern vor allem dadurch aus, dass ihre Symptome den Zeitgenossen den Spiegel vorhalten. Sie reflektieren, was diese fürchten, worunter sie leiden und woran sie scheitern – und zeigen dadurch zugleich ex negativo die Fluchtpunkte gegenwärtiger Lebensführung, die Vorstellungen darüber, wie die Einzelnen sich heute begreifen, wie sie an sich arbeiten und für sich sorgen sollen.“ (Bröckling: Der Mensch als Akku, S. 181). Vgl. zum Resilienzbegriff im Kontext des hier skizzierten Erschöpfungsdiskurses die unlängst erschienene Studie von Stefanie Graefe: Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit. Bielefeld 2019. Tim Sparenberg: Feuer, Asche und Verschwendung. Die Müdigkeit und die „kluge Verwaltung“ der (ästhetischen) Kraft in Thomas Manns Erzählungen Der Tod in Venedig und Schwere Stunde. In: Thomas Mann Jahrbuch 26 (2013), S. 95-133, hier S. 110.

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nigung“, wozu das Wochenendseminar im Kloster, das abseits der Hektik des Alltags zur inneren Einkehr führen soll, sowie Yoga- und Meditationskurse gleichermaßen zählen, für „die Funktionsfähigkeit moderner Gesellschaften von großer Bedeutung“ und spricht daher von „Entschleunigung als Beschleunigungsstrategie“.45 Davon zeugt eine Flut an Ratgeberliteratur,46 die Erschöpfung zwar als individuelle Lebenskrise begreift, sie jedoch zugleich positiv aufwertet, indem sie sie als natürliche Reaktion des Körpers auffasst, in der eine Chance zur Anpassung der Lebensführung liege. Diese Dialektik von Schöpfung und Erschöpfung hat Neckel und Wagner dazu veranlasst, mit Blick auf den Burnout-Diskurs von einer „schöpferischen Zerstörung“ zu sprechen, die als „Motor der Innovation neuartiger Subjektformationen in der Ökonomie der Gegenwart zu wirken vermag.“47 „Aus der Burnout-Klinik“, so Neckel und Wagner, kehrt man nicht mit der Kündigung in der Hand zurück, sondern mit den Selbsttechniken nachhaltigen Ressourcenmanagements. Wo die Wachstumslogik des Finanzkapitalismus und das Trugbild unerschöpflicher ökonomischer Quellen in die Krise geraten sind, müssen die Subjekte in sich selbst nach neuen Quellen der Wertschöpfung suchen.48

Zusammengefasst lässt sich auch festhalten, dass die Popularität des Erschöpfungsbegriffs gegenwärtig zu einer paradoxen Situation geführt hat. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, der Terminus habe sich inzwischen selbst erschöpft. Seine Verwendung u.a. in medizinischen, ökonomischen und soziologischen Diskursen der Gegenwart trägt maßgeblich dazu bei, den Erschöpfungsbegriff mehr und mehr zu entgrenzen, wodurch er an begrifflicher Schärfe eingebüßt hat.49 Was meinen wir also, wenn wir von Erschöpfung sprechen? Was ist ihre Spezifik? Was leistet der Begriff noch heuristisch angesichts seiner Entgrenzung, Universalisierung und Normalisierung? Welchen Platz hat der Erschöpfte in der Gesellschaft? Welchen in der Literatur? Und nicht zuletzt: Was sagt es über unsere kulturelle Situation aus, dass wir uns mit 45  46 

47  48  49 

Rosa: Beschleunigung und Depression, S. 1050. Angesichts der Menge an Veröffentlichungen vgl. exemplarisch die Ausführungen von Horst Gruner: Erschöpfte Menschen. Zur populären Darstellung von Burnout-Fällen (1980-2000). In: Stress und Unbehagen. Glücks- und Erfolgspathologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Stephanie Kleiner / Robert Suter. Berlin 2018, S. 52-76. Sighard Neckel / Greta Wagner: Erschöpfung als „schöpferische Zerstörung“. Burnout und gesellschaftlicher Wandel. In: Leistung und Erschöpfung. Hg. v. dens. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, S. 203-217, hier S. 214. Ebd., S. 216. Vgl. so auch Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung, S. 11.

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Begriffen der Erschöpfung so bereitwillig selbst beschreiben oder beschreiben lassen? Nicht, dass wir vorhaben, diese Fragen nachfolgend erschöpfend zu behandeln. Sie sollen als Problemaufriss dienen, um der Bedeutung dieses schillernden Begriffs näher auf den Grund zu gehen. Ein grundlegender Blick auf die Semantik und Sprache der Erschöpfung erscheint uns besonders interessant hinsichtlich dessen, was im Horizont des vorliegenden Sammelbands unter dem Paradigma ‚Ästhetik der Erschöpfung‘ betrachtet wird und literar-ästhetische Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen in den Fokus rückt. Erschöpfungsgeschichte Die Perspektive des vorliegenden Bands zielt nicht darauf ab, den Fokus auf eine Gegenwartsdiagnose zu verengen, deren unterschiedliche Formen eingangs skizziert wurden. Vielmehr gilt es, die Rede von Erschöpfung in einem weiteren Rahmen als konstitutive Begleiterscheinung der Moderne zu begreifen. Die Entstehung der modernen Arbeits- und Leistungsgesellschaft wird, so die These, von Erschöpfungsgeschichten als Gegengeschichten begleitet, die damit Bestandteil einer Geschichte der Moderne sind. Ihr Verhältnis zu dieser Geschichte lässt sich am Coverbild des vorliegenden Bands illustrieren.50 Unverkennbar handelt es sich um einen Ausschnitt aus einer (bzw. der) Schöpfungsgeschichte, genauer: den Ausschnitt eines Ausschnitts, das Detail einer entscheidenden Episode: der Aktivierung des ersten Menschen. Noch hängt Adams Hand schlaff herab, doch die Kombination mit dem Buchtitel, dem Schriftzug „Erschöpfungsgeschichten“, provoziert eine zur Aktivierung gegenläufige Lektüre und ruft schon die Gegengeschichte hierzu auf („im Schweiße deines Angesichts“). Das Bild wird zum Vexierbild; die Erschöpfungsgeschichte durchkreuzt die Schöpfungsgeschichte als der Schöpfung und einer von Kraft und Potenz her gedachten Geschichte schon immer inhärente Gegengeschichte. In Michelangelos Fresko materialisiert sich dieses Durchkreuzen auf wunderbare Weise in Form des Risses, der sich vom oberen Rand durch den Grund bis zu Adams gerade erwachendem Finger erstreckt. Was man hier symbolisch lesen könnte, ist aber zunächst einmal Ausdruck einer anderen, grundlegenderen Erschöpfung, der des materiellen Trägers des Bilds. Solche Erschöpfungsgeschichten bilden ‚Kehrseiten‘ und ‚Kontrapunkte‘, insofern mit ihnen teils offen, teils verdrängt Widersprüche im kulturellen 50 

Wir sind für diesen schönen Entwurf Jan C. Watzlawik zu Dank verpflichtet.

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und sozialen Selbstverständnis der Moderne erkennbar werden. Im Unterschied zu anderen Widersprüchen der Moderne – wie dem klassischen Widerspruch von Kapital und Arbeit oder dem Widerspruch von Globalisierung und Nationalstaatlichkeit – ist dieser zunächst einmal dadurch gekennzeichnet, dass er nicht bestimmte Formen des Einspruchs oder des Widerstands hervorbringt, die die großen Erzählungen der Moderne aufgreifen und umwenden wollen. Erschöpfung ist keine soziale Praxis oder Handlungsweise, sondern entspringt ungewollt und ungerufen den Leitbegriffen des modernen Selbstverständnisses, die sie darin radikal in Frage stellt: Der Arbeit und der Produktivität. Erschöpfung lässt sich so zunächst als eine sehr spezielle Diskursfigur begreifen, deren Spezifik vor allem darin liegt, dass mit ihr Unverfügbarkeiten der leitenden Diskurse (oder eben der großen Erzählungen) der Moderne gefasst werden können. Im Diskurs der Moderne erscheint die Erschöpfung daher zunächst als negative Leerstelle, nicht aber als positive Gegebenheit.51 Natürlich kann auch eine positive Gegebenheit zunächst funktional negativ erscheinen, also im Hegelschen Sinn als „bestimmte Negation“,52 aber die Negativität der Erschöpfung scheint sich einer solchen strukturellen Einbindung zu entziehen. Han weist darauf hin, dass die Erschöpfung in dem, was er in etwas fragwürdiger Periodisierung die ‚Leistungsgesellschaft‘ nennt, aus einem „Übermaß an Positivität“53 herrührt und nicht negativ auf ein äußeres Anderes bezogen ist. Eher als von einem äußeren Anderen, das dem Schöpferischen in der Erschöpfung zustößt, ließe sich vom ‚homo exhaustus‘ als dem unheimlichen Wieder- oder Doppelgänger des homo faber sprechen, auch im Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten. Das betrifft zunächst einmal die verdrängte Möglichkeit (physiologisch wohl auch die Gewissheit), dass es mit der unbegrenzten Produktivität, dem Wachstum oder ganz altmodisch gesagt dem Fortschritt so nicht immer weitergehen kann, dass die Ressourcen irgendwann auch einmal verbraucht sind. Das ist natürlich das große Thema aktueller Ökologiebewegungen und ökonomischer Wachstumskritiker. So berechtigt solche Kritik im Einzelnen ist, ist sie insgesamt vor dem Hintergrund der hier versuchsweise skizzierten Überlegungen zum Stellenwert der 51 

52  53 

Dass Erschöpfung im Sinne von Materialermüdung und Zerstörung durchaus funktional sein kann, insofern sie Motor neuer Produktivität ist, zeigt Jan C. Watzlawik in seinem Beitrag zu diesem Band. Die Pointe im Zusammenhang der hier formulierten Überlegungen liegt allerdings darin, dass diese Formen der funktionalen Einbindung kaum im Rahmen eines optimistischen Narrativs der Moderne diskursiviert werden. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hg. v. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1986, S. 74; Herv. i. Orig. Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 12; Herv. i. Orig.

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Erschöpfung in der Moderne zu betrachten. Das Fortschrittsdenken war stets vom Angstphantasma der Stagnation, der Regression, der ökonomischen wie psychischen Depression und der erschöpften Ressourcen begleitet. Wenn sich in Erschöpfungsgeschichten also die Wiederkehr eines Verdrängten ausdrückt, dann kann das auch heißen, dass in ihren Phantasmen sich verdrängte Wunschphantasien von der „Wiederherstellung eines früheren Zustandes“54 artikulieren. Phantasmen der Erschöpfung zeigen ebenso, dass diese als Kehrseite der Moderne durchaus in den Blick geriet, aber eben als eine Kehrseite, die weniger ein konstitutives Außen darstellt, das in irgendeiner Form einverleibt oder bestimmt ausgegrenzt werden könnte, sondern als Gefahr von innen. Die Kehrseite wäre also Metapher für ein nicht intendiertes, aber notwendig zugehöriges Phänomen. Aus solchen Phänomenen erwachsen zwar oft Widerstandsbewegungen – das alte Spiel der Dialektik –, aber bei der Erschöpfung handelt es sich, wie gesagt, doch um ein Phänomen, das sich nur schwer mit der Vorstellung einer widerständigen Praxis auf der Basis von und zugleich gegen die Moderne in Einklang bringen lässt. Zu welchem Widerstand sollte ein Erschöpfter fähig sein? Höchstens liefert die Erschöpfung noch ein Argument dafür, dass es so nicht weitergehen kann – sie wäre also eine Konsequenz, die es abzuwenden gilt. Einem solchen Impetus scheint sich die gegenwärtige Konjunktur des Erschöpfungsbegriffs zu verdanken. ‚Kontrapunktisch‘ begleitet die große Erzählung vom Fortschritt also eine zweite Stimme, die entweder auf die Erschöpfung als Gefahr hinweist und versucht, das drohende Unheil abzuwenden, oder sie als Chance für einen schöpferischen Neuanfang begreift, oder sie (heimlich?) als – und sei es tödlichen – Ausweg aus dem fortlaufenden Rad der Produktivität herbeisehnt. Ein tatsächlicher Widerstand der Erschöpfung oder aus der Erschöpfung heraus, so lautet eine der Hypothesen, die diesem Band zugrunde liegen, ist vor allem in ästhetischen Phänomenen zu finden. Während in der sozialen Wirklichkeit Wege gefunden werden müssen, mit der Erschöpfung umzugehen, sie zu verhindern oder zu überwinden, kann die ästhetische Kombination gegenläufiger Elemente das Kunststück zustande bringen, die Erschöpfung selbst produktiv zu machen. Erschöpfungsgeschichten können so kontrapunktisch einen ästhetischen Resonanzraum eröffnen, in dem sich über literarische Gegenstrategien kulturkritische Potentiale artikulieren.

54 

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey. Frankfurt a.M. 1975, Bd. III, S. 211-272, hier S. 246, 266; Herv. i. Orig.

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Die Begriffe ‚Kehrseite‘ und ‚Kontrapunkte‘ sollen also als heuristische Konstruktionen dienen, um die Position der Erschöpfung in der Moderne zu beschreiben. Die Metapher der ‚Kehrseite‘ ist dabei eine Wendung, die im gegenwärtigen Erschöpfungsdiskurs erstaunlich häufig auftaucht,55 um die „sozialen Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus“56 zu reflektieren. Mit dem Begriff ‚Kontrapunkte‘ wollen wir nach Narrativen fragen, die die Geschichte der Moderne zwar einerseits begleiten und affirmativ in sich aufnehmen können, ebenso jedoch auch kritisch reflektieren und kommentieren; also einen ästhetischen Gegendiskurs formieren. ‚Kontrapunktik‘ wäre so Merkmal sowohl der ästhetischen Phänomene als auch ihrer Rezeption. Wie Alexander Honold mit Blick auf Edward Saids Inanspruchnahme der Kontrapunktik für eine dezidiert politische Lektüre, die den ästhetischen Eigenwert der gelesenen Texte ernst nimmt, bemerkt, zielt die Metapher des Kontrapunkts darauf ab, „dass politischer Widerspruch und intellektuelle Einrede gegen eine dominante Überlieferungslinie paktieren können mit den gegenstrebigen Elementen der künstlerischen Artefakte selbst.“57 In Erschöpfungsgeschichten im emphatischen Sinn kommen Stimmen zu Wort, die im dominanten Leistungs- und Fortschrittsdiskurs der Moderne ausgeschlossen oder zum Schweigen gebracht werden. Herman Melvilles Erzählung Bartleby, the Scrivener zählt mit der berühmten Formel „I would prefer not to“ innerhalb der Literaturgeschichte sicherlich zu den bekanntesten Archetypen der Arbeitsverweigerung, was unlängst Han in Müdigkeitsgesellschaft dazu veranlasst hat, in ihr eine „Geschichte der Erschöpfung“58 zu lesen. Aus dem Gesagten ergeben sich weitere Fragen: Welche zeitlichen und räumlichen 55 

56  57  58 

Vgl. etwa bei Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, S. 185, 289; Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 57, 79; Lutz: Soziale Erschöpfung, S. 105; Christoph Menke / Juliane Rebentisch: Vorwort. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. v. dens. Berlin 2012, S. 7-11, hier S. 7; Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 343; Rosa: Beschleunigung und Depression, S. 1051, 1053; Schaffner: Exhaustion, S. 12. Damit assoziiert taucht diese Vorstellung in Metaphern wie „Schatten“, „Gegenstück“, „Wiedergänger“ oder „Negativfolie“ auf, so etwa bei Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. 2007, S. 289f.; Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, S. 34, 35, 307; Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung, S. 12; Rosa: Beschleunigung und Depression, S. 1053. Axel Honneth: Vorwort zur deutschen Erstausgabe  2004. In: Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.  2. Aufl. Frankfurt a.M. 2015, S. 337-340, hier S. 337. Alexander Honold: Kontrapunkt. Zur Geschichte musikalischer und literarischer Stimmführung bis in die Gegenwart. In: Handbuch Literatur & Musik. Hg. v. dems. / Nicola Gess. Berlin, Boston 2016, S. 508-534, hier S. 531. Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 55; vgl. zu Bartleby und kritisch zu Hans Lektüre den Beitrag von Dieter Heimböckel in diesem Band.

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Gegenmodelle entwirft die Literatur? In welchem Verhältnis stehen literarische Strategien der Entschleunigung (z.B. Ruhe, Stille, Muße, Langsamkeit), die sich dem Produktivitätszwang und Arbeitstempo entgegenstellen, oder auch entsprechende Gegenfiguren zur Erschöpfung? Und nicht zuletzt: wie sähe eine Ästhetik aus, die dem entspräche? Kann es so etwas wie eine Poetik der Erschöpfung geben? Zu einer Ästhetik der Erschöpfung Das ästhetische Paradox, wenn man es so nennen will, schöpferisch mit Erschöpfung umgehen zu können, schöpferisch zu erschöpfen oder erschöpfend zu schaffen, verweist auf eine semantische Unschärfe. Etymologisch ist nicht ganz klar, in welcher Beziehung ‚erschöpfen‘ zu ‚schöpfen‘, ‚schaffen‘ steht.59 Aus dem Grimm’schen Wörterbuch lässt sich erfahren, dass ‚erschöpfen‘ „zuweilen noch für erschaffen, creare“ (und damit auch der ‚Schöpfer‘ als ‚Erschöpfer‘) sowie vice versa zugleich für sein Gegenteil stand: für ‚(ex)haurire‘.60 Dies steht wiederum mit der weiteren Bedeutung des Verbs ‚schöpfen‘ in Verbindung: dem Herausschöpfen einer Flüssigkeit mit einer (Schöpf-)Kelle aus einem Gefäß – früher auch als ‚Schaff‘ bezeichnet.61 Wortgeschichtlich wurde das Verb ‚erschöpfen‘ (mhd. erschepfen) auch lange Zeit in der Bedeutung von „ausschöpfen, zu Ende bringen“ verwendet, bevor es ungefähr ab dem 17. Jahrhundert in der übertragenen und heute noch vorherrschenden Bedeutung von „stark ermüden“62 gebraucht wurde. Während demnach diese älteren Bedeutungsvarianten noch auf ein Objekt verweisen, das ausgeschöpft wird bzw. dann ‚erschöpfend‘ behandelt ist, überträgt sich in der Neuzeit die Bedeutung zunehmend auf das Subjekt, das die dazu erforderlichen Verrichtungen ausführt. Dies dürfte mit der in Hans Blumenbergs Genealogie des ‚schöpferischen Menschen‘ beschriebenen Entwicklung zusammenhängen, dass spätestens seit Descartes im europäischen 59  60  61 

62 

Vgl. dazu Art. schöpfen. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Elmar Seebold. 24. Aufl. Berlin, New York 2002, S. 823. Art. Erschöpfen. In: Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. Leipzig  1854-1961, Bd.  3, Sp.  969; vgl. noch deutlicher im Art. Erschöpfung: „1) creatio: für des menschen erschöpfung. […] 2) exinanitio: erschöpfung der kräfte, des geldes“ (ebd.). Vgl. Art. schöpfen. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Hg. v. Autorenkollektiv des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. Berlin 1989, Bd. 3, S. 1564; vgl. auch https://www.dwds.de/wb/erschöpfen; zuletzt geprüft am 6.6.2019. Art. erschöpfen. In: Kluge, S. 256.

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Denken „die Seinswirklichkeit“ „von der Seinsmöglichkeit her […] verstanden“63 wird, also der Naturbestand des Seienden nicht mehr das Maß des künstlerisch und technisch Nachzuahmenden darstellt. Schöpferisch ist nun der Mensch, der die nicht vom göttlichen Schöpfer (sofern man auf diese Annahme überhaupt noch rekurrieren muss) realisierten Möglichkeiten ausschöpfen kann. Neben der Technik stellt für Blumenberg gerade die Ästhetik und hier vor allem die Dichtung das Gebiet dar, in dem sich dieses Selbstverständnis artikuliert. Wie eine auf einer so grundsätzlichen Ebene angesiedelte Ästhetik der Erschöpfung aussehen könnte, wird deutlich in Gilles Deleuzes Bemerkungen zu Samuel Beckett (einem Autor, der wohl in einen ‚Kanon der Erschöpfung‘, wenn es so etwas gäbe, gehörte): der Erschöpfte […] kann keine Möglichkeiten mehr schaffen. […] Erschöpft er das Mögliche, weil er selbst erschöpft ist, oder ist er erschöpft, weil er das Mögliche erschöpft hat? Er erschöpft sich, indem er das Mögliche erschöpft, und umgekehrt. Er erschöpft, was sich im Möglichen nicht verwirklicht. Er macht ein Ende mit dem Möglichen […].64

Deleuzes Überlegungen geben über den spezifischen Gegenstand von Becketts Ästhetik hinaus Hinweise darauf, wie eine Ästhetik der Erschöpfung aussehen könnte, insofern hier in gewisser Weise eine Poetik der Fülle beschrieben wird. Einer Fülle allerdings, aus der nichts folgt, denn sie ist von jeder Verwirklichung abgeschnitten – eine leere Fülle, die sich in der reinen Potentialität erschöpft: „Becketts Personen spielen mit dem Möglichen, ohne es zu verwirklichen, sie sind viel zu sehr beschäftigt mit einem immer mehr in seiner Art eingeschränkten Möglichen, als daß sie sich darum kümmerten, was sonst noch geschieht.“65 Deleuze benennt mit u.a. der endlosen Kombinatorik von Dingen oder dem Leerlauf der Sprache einige Verfahren, in denen sich diese Poetik der Erschöpfung bei Beckett niederschlägt. Im vorliegenden, allgemeiner gefassten Zusammenhang wichtiger ist die Schlussfolgerung, dass die hier beschriebene Erschöpfung nicht aus einer Anstrengung folgt – der Verwirklichung eines möglichen Werks –, sondern eher wie eine pervertierte Variante jenes ‚Zuviel an Positivität‘ erscheint, von dem Han in seiner Zeitdiagnose spricht. Wir hätten es hier mit einer Poetik der Erschöpfung zu tun, die aus der 63  64  65 

Hans Blumenberg: „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1999, S. 55-103, hier S. 88. Gilles Deleuze: Erschöpft. In: Samuel Beckett: Quadrat, Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen. Frankfurt a.M. 1996, S. 51-101, hier S. 51. Ebd., S. 54.

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semantischen Verwandtschaft von Schöpfung und Erschöpfung heraus die Logik der Leistungsgesellschaft in einer absurden Brechung wiederholt. Dabei grenzt Deleuze die Erschöpfung von der Müdigkeit kategorial ab: Erschöpft sein heißt sehr viel mehr als ermüdet sein. […] Der Ermüdete verfügt über keinerlei subjektive Möglichkeit mehr, er kann also gar keine objektive Möglichkeit mehr verwirklichen. Die Möglichkeit bleibt jedoch bestehen, denn man verwirklicht nie alle Möglichkeiten, man schafft sogar in dem Maße, wie man sie verwirklicht, neue. Der Ermüdete hat nur ihre Verwirklichung erschöpft, während der Erschöpfte alles, was möglich ist, erschöpft.66

Böhme hat darauf aufmerksam gemacht, dass Deleuzes Überlegungen vor dem Hintergrund der klassischen Metaphysik mit ihren Begriffen der energeia und dynamis zu lesen sind.67 Während die Erschöpfung rein im Modus des Möglichen verharrt, bezieht sich die Müdigkeit vor diesem Hintergrund auf das Wirkliche, an dessen Verwirklichung das Subjekt ermüdet. Man könnte diesen Begriff von Erschöpfung, Hans Formulierung aufgreifend, polemisch auf ein heute gängiges Verständnis von Kreativität beziehen: Eine ständige Potentialität, die prinzipiell kein Außen kennt, da alles möglich ist, aber nichts wirklich. Auf die gegenwärtige Rede von Erschöpfung im modernen, subjektivierten Sinn lässt sich das mit Deleuze Ausgeführte allerdings schwerer beziehen, denn dieser kommt dem, was Deleuze mit der Ermüdung als subjektiver Unfähigkeit beschreibt, eine Möglichkeit in Wirklichkeit zu überführen, doch recht nahe. Dennoch sind beide Phänomene, Müdigkeit und Erschöpfung, auch im üblicheren Sprachgebrauch nicht unbedingt dasselbe. Sie unterscheiden sich in ihrem Bezug auf eine Grenze, die auf den Körper und die Kraft, d.h. die Potenz möglichen Handelns, verwiesen bleibt. Ermüdung ist allenfalls „eine Markierung, eine Warnung vor der Grenze, ein Punkt, über den hinaus eine übermäßige Verausgabung von Kraft unklug wäre. […] Die Ermüdung, so ließe sich sagen, gehört zum Diskurs der Umsicht statt zu dem der Leistung.“68 Erschöpfung ist dagegen eine Grenzerfahrung, die nachhaltig Folgen hat. Als permanenter Zustand droht sie, das Subjekt aus dem Kreis der Aktiven auszuschließen: Wer sich erschöpft, wer sich der Redewendung nach nicht mehr nur ‚am Rande der Erschöpfung‘69 befindet, sondern bereits 66  67  68  69 

Ebd., S. 51. Vgl. Böhme: Das Gefühl der Schwere, S. 36. Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, S. 286. Wie sehr die Metapher des Randes eine Grenze versinnbildlicht, deren Überschreitung mit Gefahr, Ende oder Tod assoziiert ist, führt der Eintrag im Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten näher aus. Ursprünglich stand der Rand metaphorisch für das „erhöhte Ufer des Meeres oder Flusses. Von hier aus erklären sich auch die Wndgn. Am Rande des

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darüber hinaus ist, der hat über seine Verhältnisse gelebt, sich verausgabt, seine letzten Ressourcen aufgebraucht und das Ende seiner Kräfte erreicht. Erschöpfung indiziert, wie ihr sprachlicher Gebrauch nahelegt, einen Zustand des ‚Zuviel‘, eine Grenzüberschreitung, die im Präfix ‚über‘ buchstäblich zum Tragen kommt: Überforderung, Überbelastung, Überarbeitung, Übermüdung, Überdruss sind Zustandsbeschreibungen, die häufig im sprachlichen Kontext von Erschöpfung auftauchen. Trotz dieser Unterschiede zwischen Müdigkeit und Erschöpfung finden sich weitere Hinweise auf eine mögliche Ästhetik der Erschöpfung ausgerechnet in einem Text, der von der „fatigue“, der Ermüdung, handelt. In den Vorlesungen über Das Neutrum, die Roland Barthes 1978 am Collège de France hielt, gibt es einen Abschnitt zur ‚Ermüdung‘, den der deutsche Übersetzer nicht zufällig mit „Die Erschöpfung“ übersetzt hat. Das Schwanken der Übersetzung zwischen ‚Erschöpfung‘ und ‚Ermüdung‘ hat seinen Grund auch darin, dass das, was Barthes’ skizzenhafte Überlegungen und etymologische Spiele zu fassen versuchen, sich phänomenal und temporal in einer Grauzone ansiedelt, in der beide Phänomene ineinander übergehen. Auch Barthes nähert sich der Erschöpfung an, indem er „das etymologische Spektrum“ umreißt, das er mit den lateinischen Wörtern labor, lassitudo und fatigatio absteckt und auf die „Bilder“ des „Einsinkens, Einfallens, Verfalls von etwas“ einerseits und einer „abnehmende[n] Spannung“ andererseits bezieht.70 Vor allem in Letzterem liegt für ihn „das unendliche Paradox der Erschöpfung: das Ende als unendlicher Prozeß.“71 Temporal setzt dies zunächst anders an als Deleuze, der die Erschöpfung an einem Anfang – einem Anfang freilich, der zu nichts führt – ansiedelt. Hier wird sie final, als Ende, gefasst – aber als ein Ende, in dem letztlich die Zeit aufgehoben ist: „Insofern kann man sagen, daß Erschöpfung in keiner empirischen Zeit stattfindet […]; ich füge meiner Arbeit die Idee ihrer Unendlichkeit hinzu.“72 Barthes’ metaphorisch-etymologisches Gedankenspiel zeigt so nicht nur den wesentlichen Konnex von Arbeit und Erschöpfung an, sondern deutet in seiner Form zugleich darauf hin, dass das konsequente und beharrliche Durchdenken der Erschöpfung in den Bereich des Ästhetischen drängt: als graduelle Intensität eines Gefühls, einer Wahrnehmung, eines Zustands.

70  71  72 

Abgrundes (des Unterganges, des Verderbens) stehen und völlig am Rande (der Verzweiflung) sein: kurz vor der Vernichtung, dem völligen Ruin stehen, seine Kraft und Mittel endgültig erschöpft haben.“ (Lutz Röhrich: Rand. In: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 7. Aufl. Freiburg, Basel, Wien 2006, Bd. 2, S. 1223-1224, hier S. 1223). Roland Barthes: Das Neutrum. Frankfurt a.M. 2015, S. 48. Ebd., S. 49. Ebd., S. 54.

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Darin unterscheidet sich die Erschöpfung auch von den mit ihr apostrophierten Pathologisierungen, wie etwa Depression oder Burnout. In seiner Vorlesung fragt Barthes nach dem „Problem des Ortes der Müdigkeit in der Gesellschaft“ und stellt drei Fragen ins Zentrum: „Welchen Platz nimmt eine Verletzung des (gesamten) Körpers im (sozial) anerkannten Tableau der Krankheiten ein? Ist Erschöpfung eine Krankheit, ja oder nein? Ist sie eine nosographische Realität?“73 Im Gegensatz zu Erschöpfung stelle Depression eine anerkannte, durch Ärzte bescheinigte Krankheit dar, eine „nosographische Realität“, die Barthes zufolge den Menschen von der Arbeit ausschließe: „Es gibt Krankheitsurlaub wegen ‚Depression‘ (Freistellung vom Militärdienst usw.).“74 Der Ort des Depressiven ist daher klar definiert: er steht außerhalb der Arbeit. Dieser Platz erinnert stark an den des Geisteskranken, wie ihn Michel Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft beschrieben hat, und ist als Mechanismus des Ausschlusses konstitutiv für Pathologisierungen: „Was die Arbeit angeht“, so Foucault, „gilt als wichtigstes Kriterium für die Feststellung, ob ein Mensch geisteskrank ist, selbst heute noch der Nachweis, dass er nicht arbeiten kann.“75 Anders verhält es sich bei der Erschöpfung: „Machen Sie ein Experiment“, fordert Barthes seine Studierenden auf, „[s]tellen Sie ein Verzeichnis (glaubhafter) Entschuldigungen auf: Sie wollen einen Vortrag, eine geistige Aufgabe, absagen: Welches sind die unverdächtigen Entschuldigungen, ohne weitere Nachfrage? Erschöpfung? Gewiß nicht.“76 Barthes kommt daher zu dem Schluss: Erschöpfung ist „nicht codiert, nicht anerkannt“, und funktioniere daher in der Sprache nur als „bloße Metapher, als Zeichen ohne Referent […]. In Wirklichkeit ist Erschöpfung = eine Intensität: die Gesellschaft erkennt sie nicht an.“77 Dies mag sich angesichts der eingangs dargelegten Konjunktur der Erschöpfung in der gegenwärtigen Publizistik und Theoriebildung in gewisser Hinsicht geändert haben, und für bestimmte Personengruppen, etwa Sportler, galt schon immer, dass Erschöpfung nach vollbrachter Leistung in höchstem Maße anerkannt war. Handelt es sich bei dieser allerdings um eine regenerierbare Ermüdung des Körpers, so wird gegenwärtig Erschöpfung vor allem als Problem betrachtet. Wenn sie nicht gleich individuell pathologisch gefasst wird (Burnout), dann metaphorisch als ‚Pathologie des Sozialen‘. 73  74  75  76  77 

Ebd., S. 49. Ebd. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Hg. v. Daniel Defert / François Ewald. Frankfurt a.M. 1994, Bd. 2, 157-165, hier S. 159. Barthes: Das Neutrum, S. 49. Ebd., S. 49f.

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Die Rede von der Erschöpfung als „Zeichen ohne Referent“ fasst diese aber als eine Form der Unterbrechung von Sinngebungsprozessen,78 die prinzipiell auch in den pathologisierenden Diagnosen der Gegenwart wirksam sind, und deutet damit wieder auf einen ästhetischen Umgang mit Erschöpfung hin. Selbstverständlich wäre es zynisch, den ästhetischen gegen den pathologischen Begriff von Erschöpfung auszuspielen und damit das mit Letzterem verbundene individuelle Leiden abzuwerten. Im individuellen Leiden kommt vielmehr die Kehrseite dessen zum Ausdruck, was oben als Geschichte der Moderne grob skizziert wurde, welche – um die andere leitende Metapher dieses Texts aufzugreifen – kontrapunktisch wiederum von inkohärenten, diversen Erschöpfungsgeschichten begleitet wird, die eben jene Kehrseiten exponieren oder Strategien erproben, mit den erschöpfenden Konsequenzen moderner Leistungsparadigmen umzugehen. Barthes’ Formulierung von der Erschöpfung als „Zeichen ohne Referent“ ist eine Variante solcher kontrapunktischer Strategien, die sich einer kohärenten Narrativierung verweigern. Sie ist im weiteren Kontext der Schriften des späten Barthes zu lesen, in denen es immer wieder um Momente geht, die sich einer klaren Sinngebung, also den Codes, entziehen.79 In dem Sinne erscheint die Erschöpfung als eine Figur des Neutrums, um das es ihm in den Vorlesungen geht und das Barthes als etwas definiert, das das Paradigma durchkreuzt. Am Ende des Abschnitts zur Erschöpfung steht mit Bezug auf den Philosophen Pyrrhon die Perspektive der Erschöpfung als Schöpfung, wo aus der Erschöpfung heraus – hier der Haltung gegenüber der sophistischen Schule – etwas Neues entsteht, womit Barthes im Kontext wahrscheinlich die radikale Skepsis Pyrrhons meint. Skepsis ist freilich auch bei einer Formulierung wie der hier titelgebenden „Erschöpfungsgeschichte“ geboten, zumindest vor der Folie einer Ästhetik der Erschöpfung, die ihren Gegenstand ernst nimmt. Wenn, wie Barthes meint, Erschöpfung nicht codiert ist, wäre ihre Narrativierung in einer Erschöpfungsgeschichte, die schließlich immer eine bestimmte Form der Strukturierung und Sinngebung impliziert, eine Form der Integration in vorliegende Codes. Die ‚besten‘ Geschichten erzählt die Erschöpfung aber wohl doch in Relation zu dem, dessen Kehrseite sie darstellt: Als Kontrapunkt einer wie auch immer gearteten Geschichte des Schöpfens, Schaffens und Machens. 78  79 

Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu Benjamin in Jörn Etzolds Beitrag im vorliegenden Band. In diesem Sinne ließe sich auch der Riss in Michelangelos Fresko auf dem Cover des vorliegenden Bands interpretieren: Als nicht-intendierte Ermüdung des Materials durchkreuzt er, ohne selbst dessen Codes anzugehören, den Sinn des Bilds von der Schöpfung des Menschen.

MODERNE ERSCHÖPFUNGSGESCHICHTE

Wolfgang Martynkewicz

Der Skandal der Erschöpfung Eine Krankheit, die „unverstanden“ ist, schafft „Mystifikationen“ und löst „Phantasien“1 aus, schreibt Susan Sontag. Das Burnout ist eine solche mysteriöse Krankheit, besser gesagt, ein solches Leiden, denn als ‚Krankheit‘ gibt es Burnout noch immer nicht. Auch auf der jüngsten Tagung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die im Mai 2019 in Genf stattfand, wurde Burnout nicht als ‚Krankheit‘ klassifiziert. Nach jahrzehntelanger Debatte ist jetzt aber erstmals von einem „Syndrom“ die Rede. Das Ausgebranntsein, so heißt es im überarbeiteten Diagnosesystem ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), entstehe aufgrund von chronischem Stress am Arbeitsplatz, der nicht „erfolgreich“2 verarbeitet werden könne. Chronischer, krankmachender Stress (Disstress), wirkt auf den Einzelnen so, dass er alle Lebensvollzüge als Belastung wahrnimmt und die Fähigkeit zur Regeneration verliert. Der internationale Katalog der Krankheiten verzeichnet ein ganzes Bündel von Symptomen, das mit dem Syndrom zusammenhängt. Neben der Distanz zur Arbeit und einer herabgesetzten Effizienz im Beruf zählt dazu auch eine negative oder zynische Lebenshaltung. Im Kern aber geht es um eine Pathologie der Energie, um Ermüdung und Erschöpfung. Die subjektive Empfindung, nicht genug Energie zu haben, kehrt in allen Geschichten, die sich um dieses Syndrom ranken, als Grundkonstante wieder. In einer Gesellschaft, die sich über Arbeit und Leistung definiert, ist das eine mehr als beunruhigende Empfindung. Die Pathologie der Energie erlebte bekanntlich im ausgehenden 19. Jahrhundert ihre Hochkonjunktur. In der Erschöpfung artikulierte sich die Angst der Epoche vor einer von Degeneration und Auszehrung bedrohten Menschheit, einer allgemeinen Ermüdung. Die „Erschöpfung“, so Nietzsche, sei nicht nur Folge einer „übermäßigen Reizung“, sie ist „nur ein Gleichniß eines viel tieferen und längeren Ruhen-Müssens“.3 1  Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Frankfurt a.M. 2003, S. 10. 2  „Burn-out is defined in ICD-11 as follows: Burn-out is a syndrome conceptualized as resulting from chronic workplace stress that has not been successfully managed. It is characterized by three dimensions: feelings of energy depletion or exhaustion; increased mental distance from one’s job, or feelings of negativism or cynicism related to one’s job; and reduced professional efficacy“ (www.who.int/mental_health/evidence/burn-out/en/, zuletzt geprüft am 28.10.2019). 3  Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente  1870-1889. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari. 2. Aufl. München 1988, Bd. 13, S. 357-358.

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Ermüdung und Erschöpfung stehen in engem Zusammenhang mit den Leitkrankheiten der Epoche: Neurasthenie und Hysterie. Man muss sich das Umfeld in Erinnerung rufen, in dem diese „mysteriösen“ Leiden zu Leitkrankheiten wurden. Es war eine Zeit, in der nicht nur das Naturgeschehen in Begriffen von Kraft, Bewegung und Energie gefasst wurde, sondern zunehmend auch die gesellschaftlichen Prozesse und das menschliche Leben überhaupt. Für den Chemiker Wilhelm Ostwald lag in der „beständige[n] Energiebetätigung“ das entscheidende Kriterium des Lebens. „Ein Lebewesen ist vor allen Dingen ein Gebilde, welches dauernd Energie von außen aufnimmt und ebenso welche nach außen abgibt.“4 Alles Vitale stecke im energetischen Prozess, Stoff, Materie und Körper seien im Grunde nicht existent. 1895 hielt Ostwald vor den Deutschen Naturforschern und Ärzten in Lübeck seinen berühmten Vortrag „Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus“, in dem er seine „energetische Weltauffassung“5 entwickelte. Er berief sich dabei auf das von Julius Robert Mayer zwischen 1841 und 1845 formulierte Erhaltungsgesetz der Energie, den Ersten Hauptsatz der Thermodynamik, und den 1847 von Hermann von Helmholtz formulierten allgemeinen Energieerhaltungsatz. Den entscheidenden Anstoß für ein neues Sehen sah er in der vom Erhaltungsgesetz regierten Welt, in der die Materie in ihrer Bedeutung zurücktritt. Das einzig Reale, so Ostwald, sei die Energie, die sich in unterschiedlicher Weise manifestiere. „Die Materie ist ein Gedankending, das wir uns, ziemlich unvollkommen, construirt haben, um das Dauernde im Wechsel der Erscheinungen darzustellen.“6 Das aber, was auf uns wirkt, sei nur die Energie, nicht die Materie. Für unsere Sinne würde die Welt nur in den „Unterschieden der Energiezustände“7 präsent. Ähnlich sah es der Physiker Felix Auerbach, der die Energie als „Göttin“8 bezeichnete und alle stofflichen Eigenschaften auf „Energiewirkungen“9 zurückführte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten die Ideale der Vitalität allerhöchste Bedeutung. Als die Elektrizität nach 1880 ins Leben Einzug hielt, realisierte sich ein langgehegter Menschheitstraum von einer „unsichtbar strömenden

4  Wilhelm Ostwald: Die Energie. Leipzig 1908, S. 129. 5  Wilhelm Ostwald: Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. Leipzig  1895, S. 35. 6  Ebd., S. 26. 7  Ebd., S. 29. 8  Felix Auerbach: Die Weltherrin und ihr Schatten. Ein Vortrag über Energie und Entropie. Jena 1903, S. 2. 9  Ebd., S. 25.

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Kraft“.10 Mit der Erfindung des Dynamos konnte Starkstrom gepeichert und über große Strecken transportiert werden. „Der Technik sind gegenwärtig die Mittel gegeben electrische Ströme von unbegrenzter Stärke auf billige und bequeme Weise überall da zu erzeugen, wo Arbeitskraft disponibel ist“,11 schwärmte Werner von Siemens in einem Vortrag vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Die unsichtbare Energie wurde nicht nur industriell genutzt, sie veränderte schon bald das Alltagsleben. Der Erfinder Thomas Alva Edison malte eine damals noch phantastisch anmutende Wirklichkeit aus: „Die Kabel werden durch alle Straßen und alle Häuser führen und sollen nicht nur Licht bringen, sondern auch Motorenergie und Heizung. Mit Elektrizität wird man Nähmaschinen, Waschmaschinen und Schuhputzmaschinen betreiben können, ja sogar kochen“.12 Eugen Diesel, Sohn des Erfinders Rudolf Diesel, sprach mit Blick auf die Jahrhundertwende davon, dass „die wachsende Kunst, Kraftquellen zu erschließen, eine Zwangshypnose“13 ausgelöst habe, immer mehr Kraft und immer neue Kraftquellen zu erschließen. In einer solchen Welt nicht genug Energie zu haben, erschöpft zu sein, war eigentlich nicht legitim, war eine Kränkung des gesellschaftlichen Selbstbewusstseins, war ein Skandal. Nicht von ungefähr betrachteten zahlreiche Mediziner Neurasthenie und Hysterie als ein Krankheitsbild, mit dem sich wenig anfangen ließ. Die Symptome waren schwer einzugrenzen und eine Therapie hatte, wenn überhaupt, nur kurzfristig Erfolg. Häufig vermutete man hinter den Krankheiten Hypochondrie, Simulation und Täuschung. Es waren vornehmlich die Exoten, Randfiguren und genialen Künstler, die sich auf diesem Gebiet profilierten. Zu den genialen Künstlern gehörte der Neurologe Jean-Martin Charcot, er galt als der Magier der Hysterie, seine Dienstagsvorlesungen waren ein theatralisches Spektakel, an dem nicht nur Ärzte, sondern vor allem auch Literaten, Künstler und Gelehrte regen Anteil nahmen. Freud – auch er gehörte damals bekanntlich zu den Randfiguren – war von seinem Lehrer Charcot tief beeindruckt, faszinierend wirkte auf ihn schon die äußere Gestalt. Im Oktober 1885 schreibt er aus Paris an seine Verlobte Martha Bernays:

10  11  12  13 

Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Gießen 1984, S. 110. Zit. n. ebd., S. 114. Zit. n. ebd., S. 115. Eugen Diesel: Jahrhundertwende. Gesehen im Schicksal meines Vaters. Stuttgart  1949, S. 137.

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Wolfgang Martynkewicz [E]in großer Mann von achtundfünfzig Jahren, Zylinder auf dem Kopfe, mit dunkeln, eigentümlich weichen Augen (das heißt einem, das [andere] ist ausdruckslos und schielt nach innen), langen, hinter die Ohren gesteckten Haarresten, im Gesicht rasiert, sehr ausdrucksvollen Zügen, vollen, abstehenden Lippen, kurz wie ein Weltgeistlicher, von dem man sich viel Witz und Verständnis für gutes Leben erwartet.14

Mit Hypnose und fotografischer Aufzeichnung versuchte Charcot eine Krankheit zu ergründen, die es für viele Mediziner nicht gab – und die es gesellschaftlich nicht geben durfte. Schon gar nicht eine männliche Hysterie, die Charcot damals entdeckt zu haben glaubte und die er zunehmend diagnostizierte. Hysterie war mit Weiblichkeit, Schwäche, Passivität konnotiert, aber auch, denken wir an den hysterischen Anfall, mit energiegeladenen, abnormen Zuständen, mit Pathos und Ekstase. In den Studien über Hysterie stellt Freud fest, dass sich das Krankheitsbild auf der Grundlage einer Pathologie der Energie entwickelt. Sichtbar würde die Hysterie in körperlichen Schmerzen, die aber nur Ausdruck einer Verschiebung sind. Freud spricht vom Mechanismus einer „Konversion“, seelische Schmerzen werden in körperliche umgewandelt, „die Kranke“, so Freud, entzieht sich damit „einem unerträglichen psychischen Zustand“.15 Hysterie, so Georges Didi-Huberman, „bietet alle Symptome an, eine außerordentliche Fülle von Symptomen – aber diese Symptome beziehen sich auf nichts (sie haben keinerlei organische Basis).“16 Der naturwissenschaftlich orientierten Medizin im ausgehenden 19. Jahrhundert war eine Krankheit, die in Ausbrüchen, Erschöpfungszuständen und Maskeraden zum Vorschein kam, somit zutiefst suspekt. Nicht weniger suspekt erschien den Medizinern die Leitkrankheit Neurasthenie. Ihr Entdecker, der amerikanische Arzt George  M.  Beard, sah in der Nervenschwäche ein Phänomen, das alle möglichen Formen annehmen kann. Nach seiner Beobachtung äußerte sich das Leiden in einer Vielzahl von Symptomen: Rastlosigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche, Reizbarkeit, Hitze, Schwindel, schwere Glieder, schmerzende Füße und Gelenke, Kopf- und Rückenschmerzen, Angstzustände, Verdauungsstörungen, Ohrengeräusche. Bisweilen trete die Neurasthenie sogar „unter dem täuschenden Bilde“ einer anderen Krankheit hervor, sie sei dann etwa von 14  15  16 

Sigmund Freud an Martha Bernays, 21. Oktober 1885. In: Sigmund Freud: Briefe 1873-1939. Ausgewählt u. hg. v. Ernst L. Freud. Frankfurt a.M. 1960, S. 169-170. Sigmund Freud: Beobachtung V. Frl. Elisabeth v. R … In: Josef Breuer / Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Einleitung v. Stavros Mentzos. Frankfurt a.M. 1991, S. 153-202, hier S. 186. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von JeanMartin Charcot. München 1997, S. 88.

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„einer gewöhnlichen Erkältung“17 nicht zu unterscheiden. Die Symptome entspringen Beard zufolge jedoch nicht endogenen Ursachen oder organischen Läsionen, sie sind vielmehr das Ergebnis von – man würde heute sagen – krankmachendem ‚Stress‘, einer Überforderung des Körpers, der sich gegen die Ansprüche und Zumutungen der modernen Lebenswelt wehrt. Die Nervenschwäche, darin lag ihre Symbolkraft, wurde zum Gegenspieler einer Gesellschaft, die in die Kraft verliebt war und sich den Körper als „thermodynamische Maschine“18 wünschte. Für Beard markierten Erschöpfung und Ermüdung die Grenzen der physischen und psychischen Belastung. Er verglich den Menschen mit einer Batterie, die nur begrenzte Energiereserven hat und sich bei großen Anstrengungen erschöpft. Mit dem Voranschreiten der Zivilisation, so seine Annahme, steigen die äußeren Reize stetig an und um sie zu verarbeiten, müsse immer mehr Energie und Nervenkraft aufgewandt werden. Der Körper stößt an seine Grenzen, reagiert mit Ermüdung und schützt sich so vor den schädlichen Einflüssen der Außenwelt. Beard ging davon aus, dass der krankmachende Stress ein Faktum bleibe, während eine Therapie darin bestehe, den Menschen zu stärken, ihn widerstandsfähiger zu machen. Daran knüpften um 1900 Konzepte an, die eine Erziehung des Willens forderten. In der Nervenschwäche sah man nicht eine Pathologie der Energie, sondern vielmehr eine Erkrankung des Willens. In zahlreichen Veröffentlichungen war von einer zeittypischen „Paralyse des Willens“ als Folge „einer physiologischen Erschöpfung oder einer mangelnden Nervenkraft“19 die Rede. Théodule Ribot schrieb in seiner grundlegenden Untersuchung über den Willen, dass man ihn zu einem Bollwerk machen müsse, zu einer Halt gebenden Macht, die es verhindert, dass der Mensch sich in die Neurasthenie flüchtet.20 Die Erschöpfungszustände seien nicht auf einen prinzipiellen Mangel an Energie zurückzuführen, sondern durch „Bewusstseinszustände“21 bedingt wie krankhafte Unentschlossenheit und eine pessimistische Lebenshaltung. Ribot spricht von Abulie, von einer pathologischen Willenlosigkeit und Willensschwäche des modernen Menschen.

17  18  19  20  21 

George  M.  Beard: Die Nervenschwäche (Neurasthenia). Ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung. Mit einem Anhang: Die Seelenkrankheit und der Gebrauch der Brommittel. 2. Aufl. Leipzig 1883, S. 90. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien 2001, S. 62. Ebd., S. 199. Zu Ribots Der Wille. Pathologisch-psychologische Studien vgl. Rabinbach: Motor Mensch, S. 196-197. Rabinbach: Motor Mensch, S. 197.

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Nicht der krankmachende Stress, sondern der krankmachende Wille steht auch in den heutigen Konzepten, die sich mit Burnout beschäftigen, im Fokus der Aufmerksamkeit. Das Zauberwort heißt gegenwärtig ‚Resilienz‘.22 Der Begriff ist vom lateinischen resilire abgeleitet und meint so viel wie ‚zurückspringen‘, ‚abprallen‘. Ursprünglich stammt der Terminus aus der Materialkunde und bezeichnet die Fähigkeit eines Stoffes, in die ursprüngliche Form zurückzuspringen. Dem resilienten Menschen werden ganz ähnliche Kompetenzen zugeschrieben, er kann mit hohem Stress umgehen und geht aus Existenzkrisen und Schicksalsschlägen gestärkt hervor. Lange Zeit nahm man an, dass Resilienz genetisch bedingt sei, dass es Menschen gibt, die sich trotz schlechter Bedingungen (Armut, schwere Krankheiten) als resilient erweisen und allen Risikofaktoren trotzen. Heute ist man davon überzeugt, dass man Resilienz erlernen und trainieren kann. Die Botschaft ist klar, der krankmachende Stress lässt sich therapeutisch nicht bearbeiten, sondern nur die Fähigkeit, mit Stress umzugehen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Konzepte und Auffassungen nicht von denen, die man schon im 19. Jahrhundert favorisierte: Der Mensch muss härter, widerstandsfähiger werden, wenn er in einer bedrohlichen Umwelt überleben will. Heute ist Burnout kein Skandal mehr. Die Pathologie der Energie, das Ausgebranntsein, ist mehr oder weniger gesellschaftsfähig geworden und gehört, jedenfalls in gewissen Kreisen der urbanen Elite, schon fast zum guten Ton. Das Syndrom wird als Metapher benutzt, die mit hoher Symbolkraft das Leiden an einer beschleunigten Moderne ausdrückt. Burnout ist eine Form der Erschöpfung, der Verausgabung, die geradezu danach ruft, das eigene Selbst zu optimieren, damit man Belastungen besser aushält. Gleichwohl, da sind sich die populären Diagnosen einig, haben sich die Stressoren deutlich verändert. Toxischer Stress wird heute weniger durch die Intensität der Arbeit und das Arbeitstempo ausgelöst, sondern durch Unsicherheiten und mangelnde Handlungsoptionen.23 Stress, so meinen die Forscher, sei ein Wahrnehmungsphänomen und entstehe immer dann, wenn wir keine Möglichkeit sehen, etwas an unserer Situation zu ändern. Je eingeschränkter wir in unserem Handeln sind, desto größer sei der Stress. Das beschreibt ziemlich exakt die Welt, in der wir leben, in der nichts wirklich sicher erscheint und in der es immer weniger Alternativen gibt. 22  23 

Vgl. u.a. Birgit Eberle: Resilienz ist erlernbar: Wie Sie durch den Aufbau der inneren Stärke Stress bewältigen, widerstandsfähiger werden und Depressionen vorbeugen. epubli. Berlin 2019. Vgl. Achim Peters: Unsicherheit. Das Gefühl unserer Zeit – Und was uns gegen Stress und gezielte Verunsicherung hilft. München 2018.

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Die Narrative der Ratgeberliteratur zur Nervosität und Neurasthenie um 1900 Spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts wird das Phänomen der Erschöpfung vollends in den Index der medizinischen Entitäten aufgenommen. Die Neurasthenie, die von den Ärzten abwechselnd als „nervöse Erschöpfung“ oder „Erschöpfungsneurose“ bezeichnet wird, gibt den Erscheinungen der pathologischen Ermüdung und der abnormen Schwäche erstmals einen klinischen Namen. Wachsamen Zeitgenossen ist deshalb schnell klar: „Der Name ist neu, das Ding ist alt.“1 Aber unabhängig von der vieldiskutierten Frage, ob die Neurasthenie, als deren unbestrittener Namensgeber George Miller Beard gilt, tatsächlich eine neue Krankheit ist oder altbekannte Leiden einfach neu benennt, die Erschöpfung bildet eines ihrer Hauptmerkmale.2 „Die Kranken klagen über allgemeine Abspannung, ewige Müdigkeit“,3 heißt es dazu in der einschlägigen Literatur, und weiter: „Sie fühlen sich nicht so frisch wie früher und spüren ein Nachlassen ihrer […] Leistungsfähigkeit.“4 Selbst geringfügige Anstrengungen führen bei Neurasthenikern demnach zu einer schnellen Ermüdung und einem übersteigerten Gefühl der Kraftlosigkeit.5 Daher kommt es, dass sie schon bei kurzen Spaziergängen in den Beinen zu schwanken beginnen, dass sie „keine fünf Minuten lesen“6 können oder dass sie in Konversationen Halt suchen müssen, weil sie „glauben das Gleichgewicht zu verlieren.“7 Dieser pathologische Mangel an Ausdauer ist nicht nur der Grund, weshalb Neurastheniker anstrengende Tätigkeiten meiden und viel Zeit mit 1  Anonym: Nervosität und Nervenleiden. Wesen, Verhütung und Heilung. Ein Rat- und Mahnwort für Gebildete. Goslar 1900, S. 14. 2  Siehe zur zeitgenössischen Debatte um den neu eingeführten Begriff der Neurasthenie und seine Stellung im nosologischen System der Nervenkrankheiten Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München, Wien 1998, S. 49-62. 3  Marburg [Vorname unbekannt]: Sichere Heilung von Nervenleiden (Nervenschwäche, Nervosität), nervösen Magenleiden, Schlaflosigkeit. Berlin 1899, S. 7. 4  Richard Kapferer: Die Nervosität und ihre Heilung durch naturgemäße Behandlung. Berlin 1921, S. 6. 5  Vgl. Rudolph von Hösslin: Wesen der Neurasthenie. In: Handbuch der Neurasthenie. Hg. v. Franz Carl Müller. Leipzig 1893, S. 51-61, hier S. 60f. 6  Otto Wirz: Die Nervenschwäche und ihre Behandlung. 3. Aufl. Freiburg 1928, S. 35. 7  Ernst Maienfisch: Nervosität und Nervenschwäche. Eine gemeinverständliche Abhandlung für Gebildete aller Stände. Basel 1886, S. 25.

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Liegen verbringen, sondern auch, weshalb sie an schweren Depressionen, extremer Reizbarkeit und mangelnder Selbstbeherrschung leiden.8 Vor allem das Nachlassen der Verstandesleistungen, das sich im abnehmenden Gedächtnis wie auch in der Unfähigkeit zur anhaltenden Konzentration zeigt, belastet die Betroffenen schwer und lässt sie verzweifeln.9 Für den bekannten Nervenarzt Paul Julius Möbius steht deshalb fest, dass die Mutlosigkeit des Neurasthenikers „ein instinktiver Ausdruck der Erschöpfung“10 ist. Im Folgenden sollen die mit der Neurasthenie aufkommenden Erschöpfungszustände als Kehrseite und Kontrapunkt der Moderne ins Auge gefasst werden. Schon lange besteht in der Forschung der Konsens, dass die Neurasthenie „in einem engen Zusammenhang mit der ökonomischen und sozialen Veränderungsdynamik des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu sehen“11 ist. Demnach verdankt sie ihr heuristisches Potential vor allem dem Umstand, dass sie „die Malaisen des Zeitalters am Körper des Patienten gleichsam mikrokosmisch zum Ausdruck bringt“12 und damit ein plausibles Erklärungsangebot für die teils verstörenden Modernisierungserfahrungen bereitstellt. Im Gegensatz zu anderen literatur- bzw. kulturwissenschaftlichen Studien, die sich mit dieser Thematik befassen, sollen hier allerdings nicht die Wechselbeziehungen zwischen dem nervenmedizinischen Wissen und der Kunst oder Literatur untersucht werden.13 Stattdessen wird mit der Ratgeberliteratur eine Gattung in den Mittelpunkt gestellt, die maßgeblich den Diskurs um die nervöse Erschöpfung bestimmt und, was die Darstellungs- und Vermittlungsebene desselben betrifft, eigenen Produktions- und Distributionsbedingungen unterliegt.14 Dass hierbei die in der Erzähltheorie noch recht unerforschte Kategorie 8  9  10  11  12  13 

14 

Vgl. Oskar Kohnstamm: Die Nervenschwäche, ihre Ursachen und ihre Verhütung. Berlin o.J., S. 18-20. Vgl. ebd. Paul Julius Möbius: Die Nervosität. Leipzig 1882, S. 107. Hans-Georg Hofer: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880-1920). Wien, Köln, Weimar 2004, S. 19. Maximilian Bergengruen / Klaus Müller-Wille / Caroline Pross: Nerven – Zur literarischen Produktivität eines ‚Modeworts‘. In: Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur. Hg. v. dens. Freiburg, Berlin, Wien 2010, S. 9-21, hier S. 11. Siehe hierzu etwa Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Gießen 1989; Michael Cowan: Cult of the Will. Nervousness and German Modernity. Pennsylvania 2008; Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur. Hg. v. Maximilian Bergengruen / Klaus Müller-Wille / Caroline Pross. Freiburg, Berlin, Wien  2010; Caroline Pross: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen 2013. Zur Bedeutung der Ratgeberliteratur im Kontext des zeitgenössischen Nervendiskurses siehe Horst Gruner: Typisch nervös. Der Nervenkranke im populären Gesundheitsbuch um 1900. In: Fallgeschichten. Text- und Wissensformen exemplarischer Narrative in der

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des Narrativs, aber auch der Raum und die Theorie des gesteigerten Kräfteverbrauchs eine wichtige Rolle spielen, soll im Folgenden näher erläutert werden. Eine implizite Erzählperspektive: Die Theorie des gesteigerten Kräfteverbrauchs Was der Arzt Max Baum in seinem Ratgeber Wie beseitige ich meine Nervosität? aus dem Jahr  1903 schildert, dürfte dem zeitgenössischen Leser nur allzu vertraut gewesen sein. Gleich im ersten Satz der Einleitung wird dort der desaströse Befund erhoben, dass die nervösen Störungen „zu den verbreitetsten Leiden der Jetztzeit gehören.“15 Mehr noch: Laut Baum ist „fast jeder Mensch, vom Kind bis zum Greise, vom Bettler bis zum Fürsten“16 nervös. Die Klage über die ubiquitäre Verbreitung der Nervosität, die sich über die gesamte Gesellschaft legt, ist um 1900 allgegenwärtig und lässt unter Ärzten die bedrohliche Diagnose einer Zivilisationskrankheit aufkommen.17 „Der Begriff der Zivilisationskrankheit beinhaltet“ nach Volker Roelcke die Vorstellung, daß das Resultat des Zivilisationsprozesses, nämlich der jeweils aktuelle Zustand der Gesellschaft, die Entstehung von Krankheiten begünstigt oder verursacht. Die Verwendung des Begriffs setzt also einerseits eine explizite oder implizite Theorie vom Verlauf der Geschichte voraus, ist aber andererseits auch verbunden mit einer Bewertung des aktuellen Zustands der Gesellschaft.18

Auch bei Baum wird die allgemein verbreitete Nervosität, die ihm zufolge ja fast alle Menschen ungeachtet ihres Alters oder ihrer sozialen Stellung betrifft, als aktueller Zustand der Gesellschaft aus dem Zivilisationsprozess abgeleitet. Im Kapitel mit dem sinnfälligen Titel „Woher kommen Nervenleiden?“ listet er entsprechend einige der Faktoren auf, die seines Erachtens dafür verantwortlich sind, dass die nervösen Störungen im 19. Jahrhundert gegenüber vorherigen Jahrhunderten signifikant zugenommen haben. Zu ihnen zählt er den

15  16  17  18 

Kultur der Moderne. Hg. v. Lucia Aschauer / Horst Gruner / Tobias Gutmann. Würzburg 2015, S. 87-110; Hofer: Nervenschwäche und Krieg, S. 154-157. Max Baum: Wie beseitige ich meine Nervosität? Erprobte ärztliche Ratschläge für nervöse Menschen. Leipzig 1903, S. 1. Ebd. Vgl. Volker Roelcke: Psychiatrische Kulturkritik um 1900 und Umrisse ihrer Rezeption im Frühwerk Thomas Manns. In: Literatur und Krankheit im Fin-de-Siècle (1890-1914). Hg. v. Thomas Sprecher. Frankfurt a.M. 2002, S. 95-114, hier S. 96. Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914). Frankfurt a.M., New York 1999, S. 13.

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erschwerten ‚Kampf ums Dasein‘, die vermehrte Arbeitslast, den technischen Fortschritt, die beständige Aufregung durch neue Medien wie dem Telefon oder der Zeitung, das Reisen mit dem Zug und die Sucht nach übermäßigem Genuss und sinnlichem Vergnügen.19 Allerdings ist damit, legt man Roelckes Definition der Zivilisationskrankheit zugrunde, lediglich eine implizite Theorie über den nervenschädigenden Zivilisationsprozess der Moderne formuliert. Eine explizite Theorie, wie die nervösen Erschöpfungszustände nun genau aus dem so entworfenen Verlauf der Geschichte entstehen, findet sich hingegen an anderer Stelle. Gemeint ist die Theorie vom gesteigerten Kräfteverbrauch, wie sie etwa Otto Binswanger 1896 in seinen Vorlesungen zur Pathologie und Therapie der Neurasthenie entwirft. Demzufolge resultieren die nervösen Erschöpfungszustände aus einer Dauerermüdung des Nervensystems. Diese besteht, so Binswanger, in einem verringerten Kraftvorrat, der durch eine zusätzliche Kraftleistung zu einer Fehlfunktion oder gar zu einem Versagen der Nerven führen kann.20 „Diesen Zustand“, konstatiert er, „nennen wir Erschöpfung.“21 Der Grad der Erschöpfung sowie die daraus resultierenden funktionellen Störungen hängen schlussendlich von drei Faktoren ab: Erstens vom Grad des Kräftevorrats, zweitens vom Grad der eingeforderten Kraftleistung und drittens von den betroffenen Arealen im zentralen oder peripheren Nervensystem.22 Die Vorstellung eines bestimmten Kraftvorrats, der durch einen übermäßigen Verbrauch aus dem Gleichgewicht gerät und zu einer verminderten Leistungsfähigkeit der Nerven führt, knüpft an das Gesetz der Energieerhaltung an und bildet so etwas wie das nervenmedizinische Paradigma um 1900.23 Entsprechend kann Binswanger ganz im Einklang mit der gängigen Lehrmeinung behaupten, dass die affektiven, körperlichen und intellektuellen Belastungen unter der modernen Kulturentwicklung zugenommen haben und einen gesteigerten Kraftverbrauch bedingen, der sowohl bei Gesunden als auch bei erblich Vorbelasteten mit anhaltender Dauer neuropathische Schäden hervorruft.24 Die Theorie vom gesteigerten Kräfteverbrauch liefert so gesehen ein pathogenetisches Erklärungsmodell für die kulturell bedingte Zunahme der nervösen Erschöpfungszustände. Aber das ist nicht alles. Schon Roelckes 19  20  21  22  23  24 

Vgl. Baum: Wie beseitige ich meine Nervosität?, S. 6f. Vgl. Otto Binswanger: Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Vorlesungen für Studierende und Aerzte. Jena 1896, S. 20f. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 26f. Vgl. Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, S. 114f. Binswanger: Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie, S. 48-61.

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Begriff der Zivilisationskrankheit legt ja nahe, dass eine derartige Theorie eine retrospektive Bezugnahme auf einen historisch vorausliegenden Zustand beinhaltet, von dem aus die nervenschädigende Entwicklung des Zivilisationsprozesses medizinisch bewertbar wird. Wenn es also, nachdem der Kausalnexus zwischen dem gesteigerten Kräfteverbrauch in der Moderne und dem Anstieg der Nervosität erst einmal hergestellt ist, eine implizite Erkenntnisebene in dieser Theorie gibt, dann die, dass sie immer schon eine erzählerische Perspektive einschließt. Man kann das sehr deutlich an einer Passage aus einem weiteren Ratgeber sehen, wo es mit einem fast schon wehmütigen Ton heißt: „Wie anders ist’s gegen früher geworden, was stürmt nicht täglich auf uns ein.“25 Was sich genau gegen früher geändert hat, macht im Anschluss die folgende Schilderung klar: Schon beim Lesen der Morgenzeitung nehmen wir heute in einer Viertelstunde mehr seelische Eindrücke in uns auf, als vor 50 und 100 Jahren in einem Monat. Eisenbahnunglücke, Kriegsgeschichten, aufregende Gerichtsverhandlungen, Mordberichte erregen unser Bewußtsein kaum Minuten lang. Wir lesen gleichgültig darüber hin und doch beschäftigt sich, ohne daß es uns zum Bewußtsein kommt, unser Vorstellungsleben mit diesen Eindrücken; es muß sie gleichsam verdauen. Zur Erholung bleibt dem arbeitenden Geiste keine Zeit. Ein neuer Eindruck jagt den anderen, Einnahme und Ausgabe können sich nicht mehr das Gleichgewicht halten, die Harmonie wird zerstört, und das, was wir bei den Nervösen Gedankenflucht nennen, geradezu gezüchtet.26

Es geht hier nicht um die historische Richtigkeit des Geschilderten. Ob es zutrifft, dass die Zeitungen um 1900 ein Vielfaches an affektiven Impulsen lieferten als das gewöhnliche Leben 50 oder 100 Jahre zuvor, lässt sich nur schwer überprüfen. Immerhin gilt es in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die Zeitung schon im 18. Jahrhundert ein Medium von gesamtgesellschaftlicher Relevanz war, das verstärkt auf das Aufmerksamkeitskalkül einer aktuellen und spektakulären Informationsvermittlung setzte.27 Hingegen steht fest, dass die postulierte Veränderung zwischen einem überschaubaren Früher, wo sich die 25  26  27 

Reinhold Gerling: Meine Nervosität: Wie sie entstand und wie ich sie heilte. Ein neuer Weg zur dauernden Heilung krankhafter nervöser Zustände, besonders der sexuellen Neurasthenie. Oranienburg o.J., S. 20. Ebd. Vgl. hierzu Werner Faulstich: Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (18301900). Göttingen 2004, S. 28; Jürgen Wilke: Die Zeitung. In: Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800. Hg. v. Ernst Fischer / Wilhelm Haefs / York-Gothart Mix. München 1993, S.  388-402, hier S.  388-393; Hedwig Pompe: Famas Medium. Zur Theorie der Zeitung in Deutschland zwischen dem 17. und dem mittleren 19. Jahrhundert. Berlin, Boston 2012, S. 211-238.

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Perzeption in einem Gleichgewicht mit der Außenwelt befand, und einem von Sinnesreizen überströmenden Heute eine narrative Darstellungsform evoziert. Denn „die Minimaldefinition der Narrativität ist“, folgt man der Bestimmung Wolf Schmids, „dass mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird.“28 Dabei spielt es keine Rolle, ob die Zustandsveränderung und ihre Bedingungen explizit dargestellt werden. Vielmehr genügen eine temporale Beziehung zwischen einem Anfangs- und einem Endzustand, eine differentielle Äquivalenz dieser Zustände hinsichtlich der erfolgten Transformation sowie eine Identität des darin involvierten Subjekts.29 Aus diesen Grundmerkmalen der Narrativität ergeben sich für die zitierte Passage von Gerling einige interessante Beobachtungen. Zunächst einmal ist da das Subjekt der dargestellten Veränderung. Schon die mehrfache Bezugnahme auf die Pluralformen „wir“ oder „uns“ legt nahe, dass hier kein Einzelsubjekt gemeint ist, sondern ein kollektives. Das bedeutet zugleich, dass von den veränderten Perzeptionsvorgängen beim Zeitungslesen potentiell alle Menschen betroffen sind, wodurch letztlich die Gesellschaft in die Position einer passiven Handlungsinstanz rückt, die an den äußeren Verhältnissen leidet. Entsprechend erscheint die skizzierte „Gedankenflucht“ nicht nur als eine allgemeine mentale Disposition der Moderne, in der sich ein zunehmender Kontrollverlust über das Bewusstsein artikuliert, sondern wird zu einem aktantiellen Marker der Narration. Oder anders gesagt: Die innere Zerstreutheit deutet als Kollektivzustand auf die Entwicklung eines überindividuellen Protagonisten innerhalb eines spezifischen historischen Handlungsverlaufs. Zudem fällt natürlich auf, dass sich die Darstellung der Veränderung auf den Endzustand konzentriert, während der Anfangszustand nur als ungefähre zeitliche Datierung vermerkt wird. Das hat zur Folge, dass der Modus der Narration nicht eigentlich narrativ, sondern deskriptiv ist.30 Allerdings macht sich der Text, wenn er beschreibt, wie das Zeitungslesen durch die Überfülle der seelischen Eindrücke das Perzeptionsvermögen überfordert, ein grundlegend narratives Verfahren zu eigen: den Iterativ. Gemäß der Definition iterativen 28  29  30 

Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2. Aufl. Berlin, New York 2008, S. 4; Herv. i. Orig. Vgl. ebd. Bei Schmid wird der Unterschied zwischen narrativ und deskriptiv wie folgt definiert: „Deskriptive Texte repräsentieren statische Situationen, beschreiben Zustände, zeichnen Bilder oder Porträts, stellen soziale Milieus dar oder typologisieren natürliche wie soziale Phänomene“ (ebd., S.  7). Allerdings ist eine eindeutige Zuordnung zu dem einen oder anderen Repräsentationsmodus nicht immer möglich. In diesem Fall müssen die betreffenden Passagen hinsichtlich ihrer Funktion im Gesamtkontext eines Werks betrachtet werden (vgl. ebd. 7f.).

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Erzählens ist die gesamte Passage so angelegt, dass hier ein Vorgang einmal geschildert wird, der sich bei vielen Menschen täglich wiederholt.31 Diese Tendenz zu einer iterativen Darstellungsweise deckt sich mit der Tendenz der Ratgeberliteratur zu verallgemeinernden oder pauschalisierenden Aussagen über die Welt und ihre Beschaffenheit. Im vorliegenden Fall dient der Iterativ aber vor allem dazu, den medienbedingten Mechanismus der Überforderung als einen sich permanent wiederholenden Vorgang zu veranschaulichen und damit die narrativ implizierte Veränderung gegenüber dem nur grob vorausdatierten Anfangszustand zu profilieren. Zusammengefasst kann man sagen, dass die Einsetzung der Gesellschaft als kollektive Handlungsinstanz wie auch der iterative Beschreibungsmodus der Überforderung eine kontrastierende Darstellung zwischen einem Heute und einem Früher vornehmen, die implizit erzählend ist. Man hat es hierbei nicht nur mit einer speziellen Form des Erzählens zu tun, sondern auch mit einem äußerst wirkmächtigen Instrument der Wirklichkeitserfassung und Weltdeutung. Gerade das Früher-Heute-Schema bildet ein konstantes Muster von Moderne-Erzählungen in unterschiedlichen diskursiven Kontexten und Disziplinen der kulturellen Wissensproduktion.32 So kann es auch nicht verwundern, dass Karl Lamprecht in seiner sozialpsychologischen Studie zur deutschen Geschichte ein ähnliches narratives Schema bemüht und über das pathogenetische Erklärungsmodell der nervösen Erschöpfung bzw. des gesteigerten Kraftverbrauchs an den Nervendiskurs seiner Zeit anknüpft. Vor allem der freie Unternehmer, der, so Lamprecht, anders als der Großkaufmann des 18. Jahrhunderts „von einem bis zum Unerträglichen gesteigerten Verantwortungsgefühle“33 geplagt wird, weist demnach einen „besondere[n] nervöse[n] Habitus, eine ausnehmend starke Empfindlichkeit für Reize“34 auf. Auch Georg Simmel folgt in Die Großstädte und das Geistesleben der Narration einer durch die vermehrten Belastungen abnehmenden nervösen Leistungsfähigkeit, wenn er „die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht,“35 31  32  33  34  35 

Bei Genette lautet die Formel iterativen Erzählens: „Einmal erzählen […], was n-mal passiert ist“ (Gérard Genette: Die Erzählung. 3. Aufl. Paderborn 1998, S. 74). Vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012, S. 262-266. Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit. Erster Band: Geschichte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den siebziger bis neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Berlin 1912, S. 272. Ebd., S. 269. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M. 1995, Bd. 7, S. 116-131, hier S. 116.

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zur maßgeblichen psychologischen Einflussgröße der modernen Großstadt erklärt. Hieran wird erkenntlich, dass die Theorie vom gesteigerten Kräfteverbrauch sowie der daran gekoppelte Darstellungsmodus des impliziten Erzählens ein gängiges Verfahren darstellt, mit dessen Hilfe unterschiedliche Disziplinen wie die Medizin, die Historiographie oder die Soziologie um 1900 die Transformationsprozesse der Modernisierung beschreiben. In der neueren Erzählforschung hat sich für diese Art der diskursübergreifenden Erzählstruktur der Terminus des Narrativs durchgesetzt, der nun näher betrachtet und in Bezug auf seine Verwendung in der populärmedizinischen Ratgeberliteratur zur Nervosität und Neurasthenie diskutiert werden soll. Das Narrativ vom nervösen Zeitalter Der Begriff des Narrativs taucht – wenn auch nicht ausnahmslos, so doch schwerpunktmäßig – im Umfeld der kulturwissenschaftlichen Narratologie auf.36 Er stellt damit eine spezifische heuristische Kategorie in den interdisziplinären narratologischen Forschungsansätzen dar, die das Erzählen als kulturell bedingte Form verstehen, die maßgeblich an der Erzeugung von Kultur teilhat.37 So hebt Wolfgang Müller-Funk ganz allgemein „die konstitutive Bedeutung von Narrativen für Kulturen“38 hervor, allerdings nicht ohne zu bemerken, dass diese Einsicht trotz ihrer offensichtlichen Evidenz aus forschungsgeschichtlicher Sicht keineswegs selbstverständlich ist. Obwohl es nämlich auf der Hand zu liegen scheint, dass das Erzählen – in welcher Form auch immer – „zentral für die Darstellung von Identität, für das individuelle Erinnern, für die kollektive Befindlichkeit von Gruppen, Regionen, Nationen, für ethnische und geschlechtliche Identität“39 ist, gibt es bislang nur wenige Versuche einer narratologisch fundierten Kulturtheorie.40 Angesichts dessen verwundert es nicht, dass der Begriff des Narrativs trotz seiner anhaltenden 36 

37 

38  39  40 

Siehe etwa Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New York 2008; Arne Höcker / Jeannie Moser / Phillipe Weber (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld  2006; Uta Fenske / Walburga Hülk / Gregor Schuhen (Hg.): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Bielefeld 2013. Vgl. Ansgar Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In: Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Hg. v. Alexandra Strohmaier. Bielefeld 2013, S. 15-53, hier S. 26-33. Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, S. 17. Ebd. Vgl. ebd.

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Konjunktur in den unterschiedlichen Fachdiskursen der interdisziplinären Erzählforschung eine gewisse terminologische Unschärfe aufweist.41 In seinem Aufsatz Was ist ein Narrativ? unternimmt der Literaturwissenschaftler Norman Ächtler den Versuch einer Begriffsbestimmung, indem er „eine Synthese von bereits vorliegenden Konzeptionen zur Begriffsbildung aus Psychologie und Geschichtsphilosophie mit Ergebnissen der narratologischen Grundlagenforschung“42 vornimmt. Dieser Ansatz scheint insofern berechtigt, als mit der Psychologie und Geschichtsphilosophie zwei Fachdiskurse benannt sind, in denen Narrative, ob sie nun die Sublimation von irritierenden persönlichen Erlebnissen oder die kollektive Erinnerungskultur einer Nation betreffen, ein wichtiges methodologisches Instrumentarium zur Herausbildung von Identität und Identitätsbewusstsein darstellen.43 Für das hier in Frage stehende Narrativ, das man in Anlehnung an Richard von Krafft-Ebings berühmter Epochenformel am treffendsten als Narrativ vom ‚nervösen Zeitalter‘ bezeichnen kann, ist dieser disziplinäre Zuschnitt deshalb sinnvoll, weil sich der historische Prozess der Modernisierung immer auch in psychischen Störungsphänomenen wie der Zerstreuung und des Kontrollverlusts widerspiegelt und dadurch sowohl die kollektive wie auch die individuelle Ebene der Identitätsbildung betrifft.44 Doch bevor dieser Zusammenhang weiter vertieft wird, gilt es zunächst einmal zu erörtern, was Ächtler unter einem Narrativ versteht: Das Narrativ ist eine integrative diskursive Kategorie von variierendem quantitativem Umfang und qualitativer Reichweite, deren stabilisierende Funktion darin besteht, kontingent erscheinenden Phänomenen oder Sachverhalten eine intelligible narrative Gestalt zu geben. Genauer gesagt, handelt es sich bei einem Narrativ um eine komplexere intentionale und evaluative, in sich sinnvoll abgeschlossene narrative Einheit von zeitweilig überindividueller identifikatorischer Relevanz, deren spezifische Konfiguration diskursiven Formationen innerhalb eines bestimmten Zeit-Raums eine konsistente Aussagestruktur und eine legitimatorische wie sinnstiftende Teleologie verleiht.45

Zweifelsohne ist das Narrativ vom nervösen Zeitalter eine „integrative diskursive Kategorie“. In zahllosen öffentlichen Vorträgen, wissenschaftlichen 41  42  43  44  45 

Vgl. Norman Ächtler: Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte. In: KulturPoetik 14/2 (2014), S. 244-268, hier S. 246. Ebd., S. 248. Vgl. ebd., S. 250-253, 253-257. Zur Rede vom nervösen Zeitalter siehe die Einleitung in Richard von Krafft-Ebing: Über gesunde und kranke Nerven. Tübingen 1885. Ächtler: Was ist ein Narrativ?, S. 258.

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Publikationen und natürlich einer ganzen Reihe an populärmedizinischen Ratgebern wird die Annahme einer epochalen Nervenkrise von Ärzten, Laien und Heilpraktikern immer wieder aufgegriffen und weiter kolportiert.46 Die hieraus erwachsende diskursive Überpräsenz führt dazu, dass das Narrativ vom nervösen Zeitalter nicht nur über die Grenzen der Medizin hinaus wirksam, sondern zu einer regelrechten nationalen Obsession wird: Nachdem die Ärzte durch Reden, Aufsätze, Zeitungsartikel, Broschüren die Existenz einer nervösen Zeitkrankheit in allen Winkeln des Landes verkündet haben, ergreift auch die Literatur, die Geschichtswissenschaft und die Sozialpolitik von ihr Besitz. Die „Nervosität“ wird zum Decknamen für alles mögliche, sie wird zum Kampfmittel, sie wird zum Wahn eines ganzen Volkes.47

Gerade in der großen Resonanz, die das Narrativ vom nervösen Zeitalter in der deutschen Öffentlichkeit hervorruft, kann man das vermuten, was Ächtler unter „qualitativer Reichweite“ versteht. Neben der Zirkulation zwischen den einzelnen Diskursen – man denke an die fachspezifischen Auseinandersetzungen bei Lamprecht und Simmel – sind damit wohl auch die unterschiedlichen Wirkungsdimensionen in den unterschiedlichen Kulturräumen gemeint. Schon Beard, der die These von der nervenschädigenden Moderne mit seinem Buch American Nervousness (1881) in die Welt setzte, war der kaum zu haltenden Meinung, dass die krankhafte Nervenschwäche oder Neurasthenie eine dezidiert amerikanische Krankheit sei.48 Mit der Kritik an dieser hegemonialen Ausrichtung der Neurasthenielehre entstanden in Folge verschiedene nationale Auslegungstraditionen. Gerade im europäischen Kontext, wo die Schriften Beards großen Anklang fanden, kann man deshalb von Cultures of Neurasthenia sprechen.49 Was das Narrativ vom nervösen Zeitalter hingegen zu einer genuin narratologischen Kategorie macht, ist, dass es, mit Ächtler, „kontingent erscheinenden Phänomenen oder Sachverhalten eine intelligible narrative Gestalt“ verleiht. Zweifelsohne ist die These, dass der Modernisierungsprozess zu 46 

47  48  49 

Vgl. hierzu Andreas Steiner: „Das nervöse Zeitalter“. Der Begriff der Nervosität bei Laien und Ärzten in Deutschland und Österreich um 1900. Zürich 1964, S. 114f.; Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, S. 124f.; selbst in den Ratgebern wird auf die „massenhafte Literatur“ hingewiesen, die zum Thema der wachsenden Nervosität erscheint (August Kühner: Neuer Ratgeber zur Erkenntnis und neue Mittel zur Heilung von Nervenleiden. Leipzig 1913, S. 3). Steiner: „Das nervöse Zeitalter“, S. 115. Vgl. Hofer: Nervenschwäche und Krieg, S. 73-82. Siehe hierzu den gleichnamigen Sammelband: Marijke Gijswijt-Hofstra / Roy Porter (Hg.): Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War. Amsterdam, New York 2001.

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einem Anstieg der Belastungen und in Folge zu einem Anstieg der nervösen Erschöpfungszustände geführt hat, eine Form der narrativen Rekonstruktion von Geschichte, die den kontingenten historischen Ereignissen im 19. Jahrhundert nachträglich einen Sinn gibt. Auf diese Weise werden die Erfahrungen mit dem rapiden gesellschaftlichen Wandel, der sich im schnellen Anwachsen der Großstädte, der zunehmenden Mobilität und der explosionsartigen Expansion der Industrieproduktion niederschlug, einer medizinischen Erklärung zugänglich.50 Damit eröffnete das Narrativ vom nervösen Zeitalter ein ganzes Feld an möglichen Sinnzuschreibungen, die sich ebenso auf die emotionale Verarbeitung von „verstörenden Sinneseindrücken und Körpererfahrungen“51 wie auf die Konstruktion der geschlechtlichen Identität richten ließen. Gerade für Männer war die durch den technischen Fortschritt und die steigende berufliche Konkurrenz verursachte Neurasthenie ein attraktives Krankheitskonzept, da es mit der positiven Vorstellung des hart arbeitenden Mannes korrespondierte und aus klinischer Sicht das „Gegenstück zur weiblichen Hysterie“52 bildete. Dass die narrative Rekonstruktion von Geschichte eine semantisierende und identitätsstiftende Funktion in Bezug auf historische Erfahrungen übernimmt, haben – auch darauf weist Ächtler hin – vor allem die metahistorischen Studien von Hayden White gezeigt.53 Diese gründen auf der Einsicht, dass die erklärende Darstellung von Geschichte auf sogenannten archetypischen Erzählformen bzw. kulturell vorgeprägten Plotstrukturen beruht.54 Im Anschluss an White, der unter Berufung auf Northrop Frye mit der Romanze, der Tragödie, der Komödie und der Satire vier mythische Grundmuster identifiziert, ließe sich die Zunahme der nervösen Erschöpfung unter dem Einfluss des zivilisatorischen Fortschritts nicht nur als tragisches Geschehen begreifen, sondern auch als moderne Wiederauflage des PandoraMythos. So hat die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger anhand der Eisenbahnkrankheiten im 19. Jahrhundert gezeigt, dass gesundheitliche Schäden, die auf das Zugfahren zurückgeführt wurden, als göttliche Strafe für den menschlichen Fortschritt gedeutet wurden.55 Von diesem mythologisch 50  51  52  53  54  55 

Vgl. Hofer: Nervenschwäche und Krieg, S. 15-22. Ebd., S. 19. Edward Shorter: Moderne Leiden. Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 376. Vgl. Ächtler: Was ist ein Narrativ?, S. 255f. Vgl. ebd., S. 256; Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M. 1991, S. 21f. Vgl. Esther Fischer-Homberger: Die Büchse der Pandora. Der mythische Hintergrund der Eisenbahnkrankheiten des 19. Jahrhunderts. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 56 (1972), S. 297-317, hier S. 301-305, 312-314.

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verankerten Irrglauben zeugt auch die Ratgeberliteratur, wenn dort die steigende Nervosität mit den Worten kommentiert wird: „Bekanntlich schädigt jeder technische Fortschritt die Menschheit in irgend einer Beziehung.“56 An derartigen sentenziösen Bekundungen, von denen die Ratgeberliteratur zur Nervosität und Neurasthenie nur so strotzt, zeigt sich, dass der Mythos vom gottgestraften Fortschritt tief im kollektiven Bewusstsein der Zeit verwurzelt ist und, indem er das Narrativ vom nervösen Zeitalter mit einer urförmigen semantischen Schicht ausstattet, zu dessen Akzeptanz und Plausibilisierung beiträgt. Diese Form der narrativen Bedeutungs- und Wahrheitsproduktion durch kulturell präfigurierte Plots ist es, die dem Narrativ, wie Ächtler sagt, eine „legitimatorische wie sinnstiftende Teleologie verleiht“. Allerdings, und das muss man mit Rücksicht auf die vorangegangene Diskussion zur sprachlichen Erscheinungsform des Narrativs ergänzen, genügt schon die metaphorische Verweisung durch ein entsprechendes Signalwort, um das dahinterstehende Erzählmuster zu aktivieren und als kognitives Schema der Weltwahrnehmung und Weltdeutung in Gebrauch zu nehmen.57 Fasst man zusammen, ist das Narrativ eine narratologische Kategorie, die nicht mit dem Begriff der Erzählung gleichzusetzen ist, wenngleich sie an der Kohärenzbildung von erzählerischen Handlungsstrukturen und ihrer Semantisierung als einer sinnhaften Struktur beteiligt ist.58 Narrative speisen sich nicht nur aus einem Repertoire an kulturell verfügbaren Plots, die archetypische Erzählmuster wie Mythen oder Grundformen der literarischen Gattungspoetik (Tragödie, Komödie, Satire etc.) bereitstellen, sie wirken auch an der Erzeugung von Kultur mit, indem sie in unterschiedlichen Diskursen die Aussagemöglichkeiten über Geschichte, Gesellschaft, Nation, Geschlecht und andere kulturell geprägte Entitäten bestimmen.59 Angesichts ihrer ebenso intelligiblen wie bedeutungsstiftenden Gestalt lassen sich Narrative als schematische Ordnungen „von einem mittleren Härtegrad“60 beschreiben, die zwar die semantische, auf ein bestimmtes Aussageziel (Erklärung, Wertung, Sublimation etc.) gerichtete Konfiguration von kontingenten Ereignissen und Sachverhalten vorgeben, „aber nicht bis ins Letzte festschreiben.“61 Entsprechend steuern Narrative auch den Selektionsprozess, mit dem Erzählungen, 56  57  58  59  60  61 

Baum: Wie beseitige ich meine Nervosität?, S. 6. Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, S.  37; Nünning spricht in diesem Zusammenhang von „zu Metaphern verdichteten Mini-Narrative[n]“ (ebd.). Vgl. Ächtler: Was ist ein Narrativ?, S. 247f. Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, S. 34-40; Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, S. 12f. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 30. Ebd.

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aber auch andere Darstellungsformen, die keinen explizit erzählenden Redemodus aufweisen, die Elemente des ihnen zugrunde liegenden narrativen Schemas auswählen. Das können neben Akteuren und Schauplätzen auch Dinge und soziale Körperschaften wie Unternehmen oder Institutionen sein. Beim Narrativ vom nervösen Zeitalter sind es eben topische Elemente wie die Großstadt, die gesteigerte ökonomische Konkurrenz im ‚Kampf ums Dasein‘, die Beschleunigung durch den technischen Fortschritt, der überreizte Geschäftsmann oder der zerstreute und willensschwache Nervöse, der die Kontrolle über sich und seine Gedanken verloren hat, die den Bezug zum historiographischen Erzählschema der ‚krankmachenden Moderne‘ herstellen. Dass der bloße Verweis auf eines dieser Elemente bereits das dahinterstehende Narrativ aktivieren kann und damit ein vertrautes kognitives Muster der Weltwahrnehmung aufruft, hat nicht zuletzt mit der diskursiven Präsenz zu tun, die das Narrativ vom nervösen Zeitalter um 1900 besitzt und die es zu einem geradezu obsessiv thematisierten Objekt im öffentlichen Bewusstsein macht. Die Räume der Ratgeberliteratur und die heilsame Transformation des Nervösen Diese Referentialisierungsleistung zwischen einem einfachen Signifikanten und einer komplexen Erzählstruktur führt in der literaturwissenschaftlichen Debatte über das Narrativ auch zu einer, wenn man so will, Reanimierung der klassischen strukturalistischen Sprach- und Erzähltheorie.62 Insbesondere die auf Ferdinand de Saussure zurückgehende und in der Nachfolge unter anderem von Roland Barthes auf die tiefenstrukturelle Dimension von Erzählungen übertragene Unterscheidung einer paradigmatischen und syntagmatischen Achse wird dabei immer wieder aufgegriffen.63 Während, vereinfacht gesagt, die paradigmatische Achse den soeben beschriebenen Prozess der Selektion meint, umfasst die syntagmatische Achse die Achse der Kombination, wie sie im Zusammenhang mit der semantisierenden Konfiguration der archetypischen Plotstrukturen diskutiert wurde.64 Weil aufgrund der „integrativen Perspektive“,65 unter der die verschiedenen Sinnebenen der Erzählung als funktionale Einheiten begriffen werden, die paradigmatische und 62  63  64  65 

Vgl. Ächtler: Was ist ein Narrativ?, S. 251. Vgl. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. 1988, S. 102-143, hier S. 111-121. Vgl. Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, S. 34-38. Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, S. 109.

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syntagmatische Achse untrennbar miteinander verstrebt sind, kann man sagen, dass die für ein Narrativ topischen Elemente, auch wenn es sich um einfache Signifikanten handelt, die sich aus einem gemeinsamen metaphorischen Bezugsfeld (Großstadt, Technik, Fortschritt etc.) speisen, stets das Gesetz ihrer kompositorischen Verkettung enthalten. Narrative liefern so gesehen die strukturelle Matrix für die erzählerische oder deskriptive Modellierung von Wirklichkeit und bilden auf diese Weise die kognitiven Schemata, in denen sich eine Kultur selbst beobachtet und beschreibt. In diesem Zusammenhang werden auch wieder vermehrt Jurij M. Lotmans Überlegungen zur räumlichen Struktur von Erzähltexten aufgegriffen.66 Denn, so stellt Ansgar Nünning fest: „Ebenso wie der Rückgriff auf kulturell verfügbare Plots kann auch die Gestaltung von Raummodellen in kulturellen Narrativen in vielfältiger Weise Aufschluss über Werte, Normen und Weltbilder geben.“67 In der Ratgeberliteratur zur Nervosität und Neurasthenie spielt der räumliche Gegensatz zwischen Stadt und Land sowohl für die Ätiologie als auch für die Therapie der nervösen Erschöpfung eine wichtige Rolle. So kann man dort einerseits nachlesen, dass „die meisten Menschen, die sich längere Zeit im Getriebe der Großstädte aufgehalten haben, mehr oder weniger nervös“68 sind, und andererseits, dass „ein Kranker […] schon durch einen kurzen Aufenthalt auf dem Lande die im modernen Getriebe erworbenen Krankheitsgefühle verliert“.69 Mit Lotman lässt sich entsprechend resümieren, dass die topographische Grenze zwischen Stadt und Land semantisch codiert ist und mit der normativ bestimmten Grenze zwischen krank und gesund zusammenfällt.70 Auf diese Weise bildet die Ratgeberliteratur zur Nervosität und Neurasthenie ein Raummodell aus, das insofern eine wirklichkeitsbildende Funktion hat, als es eine medizinisch fundierte Einteilung der Lebenswelt in zwei terminologisch getrennte Weltenteile vornimmt. Zu einem narrativen Modell der Wirklichkeitsdarstellung wird es aber erst dadurch, dass die Grenzüberschreitung zwischen Stadt und Land ein Ereignis darstellt. Ein Ereignis ist nach Lotman die „kleinste unzerlegbare Einheit des Sujetaufbaus“71 und wird im Text durch „die Versetzung einer

66  67  68  69  70  71 

Vgl. Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, S. 38; vgl. auch Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 119. Nünning: Wie Erzählungen Kulturen erzeugen, S. 38. Wilhelm Wilke: Nervosität und Neurasthenie und deren Heilung. Hildesheim 1902, S. 36. Kapferer: Die Nervosität und ihre Heilung durch naturgemäße Behandlung, S. 35f. Vgl. Jurij Michailowitsch Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, S. 332-340. Ebd., S. 330.

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Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“72 markiert. In diesem Sinn gewinnt das Ereignis etwa in Laien-Ratgebern, in denen die Autoren über ihren eigenen Fall von nervöser Erschöpfung berichten, an Bedeutung.73 Nicht nur werden darin die räumlichen Oppositionen Stadt/Land oder Geschäft/Sanatorium genutzt, um das Krankheitsereignis und Heilungsereignis zu inszenieren. Sie dienen auch als Kritik an der Schulmedizin und weisen den alternativen Heilverfahren einen faktischen Ort in der erzählten Welt der autobiographischen Fälle zu.74 Aus der gattungsbedingten Werkintention der Ratgeberliteratur, Probleme zu definieren und praktische Lösungen anzubieten, kann man letztlich auch folgern, dass die Darstellung der Raumstrukturen zwar einerseits das Narrativ vom nervösen Zeitalter stützen, diesem aber andererseits immer ein positives Narrativ von der Überwindbarkeit der nervösen Erschöpfungszustände entgegensetzen.75 In Emil Peters Arbeit, Kraft und Erfolg. Wege zur Steigerung der Leistungsfähigkeit in körperlichem und geistigem Schaffen (o.J.) findet sich ein Ratgeber, an dem sich zeigen lässt, wie die Raumdarstellung den Prozess der Heilung als ein Erzählgeschehen im Sinne der diachronen Zustandsveränderung realisiert. 72  73  74 

75 

Ebd., S. 332. Vgl. Horst Gruner / Wim Peeters: „Meine Nervosität“. Der autobiographische Fall in Nervenheilratgebern um 1900. In: DIEGESIS.  Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 6/2 (2017), S. 71-90, hier S. 73-75. Vgl. ebd., S.  79-83. Tatsächlich handelt es sich hier um ein Textkonvolut, das komplett von männlichen Autoren dominiert wird. Über die Gründe lässt sich aufgrund der schlechten Quellenlage nur spekulieren. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die Neurasthenie mit ihrer ätiologischen Fundierung in den Sphären der Technik und Ökonomie in der zeitgenössischen Wahrnehmung eher männlich konnotiert war (vgl. Hofer: Nervenschwäche und Krieg, S. 20f.). Umgekehrt könnte man dann in den laienmedizinischen Ratgebern, in denen Männer ihre Schwäche im Sinne ihrer versagenden Leistungsfähigkeit öffentlich bekennen, auch ein Medium sehen, mit dem stereotype Geschlechterrollen vom starken und leistungsfähigen Mann ausgehebelt werden (vgl. ebd., 21). Zur Problemdefinition und Problemlösung als bestimmendes Kriterium ratgebender Texte siehe die Ausführungen bei Walter Hömberg / Christoph Neuberger: Experten des Alltags. Ratgeberjournalismus und Rechercheanzeigen. Eichstätt 1995, 9-14; vgl. dazu auch die Überlegungen zu einer „Poetik des Ratgebers“ bei Georg Kessler: Der Buchverlag als Marke. Typik und Herausforderungen des markengeprägten Publizierens am Beispiel der Ratgeberliteratur. Wiesbaden 2013; vgl. insbesondere das dritte Kapitel. Kessler spricht in diesem Zusammenhang und unter Verweis auf Philippe Lejeunes vertragstheoretische Überlegungen zur Autobiographie auch von einem „Problemlösungs-Pakt“ (ebd., S. 55). Entsprechend sieht er im Realitätsbezug und in der Gebrauchsfunktion der Problemlösung eine lektüresteuernde Konvention, die gattungsbestimmend für die Ratgeberliteratur ist.

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Peters nimmt hierfür, ganz nach Lotmans Ereignisbegriff, welcher die grenzüberschreitende Bewegung eines Helden vorsieht, eine räumlich modellierte Veränderung des Nervösen vor, die man als heilsame Transformation bezeichnen kann. Bei dem Nervösen handelt es sich, was nicht ganz unwichtig ist, um einen typisierten Held, der viele der charakteristischen Krankheitszeichen eines Nervenleidens wie Zerstreutheit, Reizbarkeit oder Übellaunigkeit besitzt und der wegen fehlender persönlicher Eigenschaften eine breitentaugliche Identifikationsfigur darstellt.76 Letzteres dürfte auch der Grund sein, dass der Typus des Nervösen oder Neurasthenikers viel häufiger in der Ratgeberliteratur auftaucht als der einzelne Nervenkranke, der durch die besonderen Umstände seines Leidens weniger Verallgemeinerungspotential bietet.77 Auch für Peters geht es darum, dass die heilsame Transformation des Nervösen von möglichst vielen Rezipienten adaptiert und auf ihre eigene Leidenssituation übertragen werden kann. So ist er nicht nur in der Lage, die allgemeine Regel auszugeben, dass „ein nervös erschöpfter Mensch“,78 um wieder zu Kräften zu kommen, Ruhe und „absolutes Ausspannen“79 braucht, sondern kann auch das grobe Verlaufsschema der damit einhergehenden persönlichen Wandlung vorskizzieren. „Aus Schwanken, Zweifeln, Überlegen, Grübeln heraus soll er [der Nervöse] zu Beherrschtheit, zu Sammlung und Entschluß kommen.“80 Was die so illustrierte Wandlung des Nervösen nicht zeigt, ist, dass die heilsame Transformation nur durch einen „Wechsel des Ortes“ und das Herausreißen des Kranken aus seinem gewohnten Lebensumfeld erfolgen kann. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass der Raum bei Peters einerseits als eine lebensweltliche Einflussgröße gedacht wird, die das Verhalten des Nervösen maßgeblich konditioniert und entsprechend an der Ausbildung seines zerstreuten und flatterhaften Charakters teilhat. Andererseits gehört es zu dieser Konditionierung, dass sich der Nervöse der therapeutisch indizierten Entfernung aus seiner gewohnten Umgebung widersetzt. Oft […] sträubt sich der Nervöse mit Händen und Füßen dagegen, aus seinem Geschäft, seiner Arbeit herausgerissen zu werden. Denn dieses Jagen, dieses immerwährende Angespanntsein, dies Sorgen, Anordnen und Erledigen – das

76  77  78  79  80 

Vgl. Emil Peters: Arbeit, Kraft und Erfolg. Wege zur Steigerung der Leistungsfähigkeit in körperlichem und geistigem Schaffen. Berlin o.J., S. 84f. Zum Typus des Nervösen und dessen Darstellung in der nervenmedizinischen Ratgeberliteratur um 1900 siehe Gruner: Typisch nervös. Peters: Arbeit, Kraft und Erfolg, S. 85. Ebd. Ebd.

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alles ist ihm Bedürfnis geworden, Manie, Leidenschaft, Laster, wie einem andern russische Zigaretten, Absynth oder Opium.81

Das wahre Verhängnis des Nervösen ist es also, dass er durch die dauernde Belastung im Geschäft und bei der Arbeit so konditioniert ist, dass er gar nicht mehr anders kann, als sich immerfort dieser Belastung auszusetzen. Gleich einer Manie oder einer Rauschmittelsucht übernehmen die Nerven die Kontrolle über sein Handeln und bilden zusammen mit den Funktionsgesetzen der Arbeitswelt einen unentrinnbaren Zirkel. Allerdings dient diese tragisch anmutende Ausgangslage vor allem dramaturgischen Zwecken. Denn je größer der Widerstand ist, um dem fatalen Zirkel der Arbeitswelt zu entfliehen, desto dynamischer erscheint die heilsame Transformation des Nervösen. Das wird auch daran erkenntlich, dass dessen Nerven auch nach Ausbruch aus der krankmachenden Arbeitswelt wie eine „selber laufende ruhelose Höllenmaschine“82 fortagieren. Demzufolge genügt es auch nicht, so ließe sich die Lehre dieses Narrativs formulieren, nur eine kurze Auszeit von wenigen Tagen zu nehmen, wie es selbstverständlich geboten ist, diese „auf einem Dorf oder wandernd durch Wälder und Auen“83 zu verbringen. Indem Peters den ländlichen Raum als einen Raum präsentiert, in dem der Nervöse neu konditioniert wird und die Nerven wieder ihre normale Leistungsfähigkeit erlangen, ohne die manischen Reaktionen der Daueranspannung und Erschöpfung zu äußern, präsentiert er dessen heilsame Transformationsbewegung als in sich kohärente und abgeschlossene Episode. Noch wichtiger aber ist, zumindest hinsichtlich der ratgeberischen Funktion der Problemlösung, dass diese Episode anhand der dargestellten Raumstrukturen dem Leser zugleich ein praktisches Wissen vermittelt, was er tun muss, um den Erschöpfungszustand der Nerven zu überwinden und zu einem selbstbeherrschten Ich voll Energie und Entschlusskraft zurückzufinden. Dass Peters versucht, diese Reflexionsebene der Autor-LeserKommunikation zu erreichen, wird an Stellen wie der folgenden klar, an der er in spekulativer Manier die Sicht der Leser antizipiert: „Wer in einen Zustand von Erschöpfung hineingeraten ist, wird fast immer rückblickend finden, daß er vorher eine Periode geistiger Höchstleistung oder irgendwelcher anderer Erregung durchlebte.“84 Man kann hierin einen indirekten Appell an den Leser sehen, es dem Nervösen gleichzutun, was zeigt, dass der räumlich inszenierte Heilungsprozess ein narratives Schema bereitstellt, das sein Wirkungspotential 81  82  83  84 

Ebd., S. 85f. Ebd., S. 86. Ebd. Ebd., S. 88.

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aus einer identifikatorischen Lektüre mit dem Helden und der Möglichkeit bezieht, die Folgen der nervösen Erschöpfung in der Abgeschiedenheit der ländlichen Idylle zu überwinden. Die Ratgeberliteratur zur Nervosität und Neurasthenie verbindet, so kann man abschließend festhalten, das tragische Narrativ vom nervösen Zeitalter mit dem Gegennarrativ von der heilsamen Transformation des Nervösen. Für sie ist das Narrativ eine zentrale narratologische Kategorie, mit deren Hilfe sie die gattungsbedingte Werkintention der Problemdefinition und Problemlösung in einen implizit erzählenden Darstellungsmodus einbindet. Dieser Modus findet im Raum eine strukturale Einheit, die die oppositionellen Weltenteile aus Stadt/Land mit den semantischen Normcodes gesund/krank koppelt. Dabei hat sich gezeigt, und das ist im Kontext des vorliegenden Bandes hervorzuheben, dass die nervöse Erschöpfung und mit ihr der Mechanismus des gesteigerten Kräfteverbrauchs um 1900 einen festen Ort in der narrativen Matrix der mit der Neurasthenie aufkommenden Moderne-Erzählung erhält.

Eva Stubenrauch

Kontrapunkt moderner Historizität

Erschöpfung als Gegenwartsdiagnose bei Görres, Nietzsche und Gumbrecht Vor mehr als einem Jahrzehnt war das Internationale Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Plattform einer Debatte um die adäquate literaturwissenschaftliche Moderneforschung. Ausgangspunkt der disziplinären Auseinandersetzung bildete Anke-Marie Lohmeiers zweiteilige Kritik am zeitgenössischen Umgang ihrer Fachdisziplin mit der literarischen Moderne: Ihr erster Kritikpunkt zielt auf die „erkenntnislogische Problematik“1 der Verwobenheit von Meta- und Objektsprache. Die literaturwissenschaftliche Moderneforschung übernehme unreflektiert das Modernenarrativ ihres Untersuchungsmaterials und schreibe damit eine einseitige Erzählung der Moderne fort. Der zweite Kritikpunkt zielt gegen die literaturwissenschaftliche Eingrenzung der ästhetischen Moderne auf antimoderne Texte – und gegen die antimodernen Texte selbst. Deren sentimentalisches Verlustnarrativ – „Formzertrümmerung und Dekonstruktion, Fragmentierung und Auflösung, Dezentrierung und Verfremdung, Provokation, Schock, das Häßliche (usw.)“2 – sei nicht typisch modern, sondern wende sich vielmehr gegen die gesellschaftliche Moderne „(Wahrheitspluralismus, Individualismus, Subjektfreiheit)“3 und unterlaufe damit deren eigene Voraussetzungen. Insofern die Literaturwissenschaft in sprachlicher Übereinstimmung mit ihrem Material stehe, könne sie das konfliktive Verhältnis zwischen ästhetischer und gesellschaftlicher Moderne nicht differenziert erfassen. Lohmeier verbindet ihre Vorwürfe mit dem Vorschlag, Moderneterminologien aus der Geschichts- und Sozialwissenschaft zu entlehnen, um das einseitige Narrativ der Literaturwissenschaft um Aspekte wie gesellschaftliche Pluralität und Ausdifferenzierung, Wandel der Lebensweisen in Form von Urbanisierung und steigender Mobilität sowie Bewusstseinswandel (Rationalisierung, Selbstreflexivität, Kontingenzdenken) zu bereichern.4 In seiner Reaktion auf Lohmeiers Artikel verteidigt Thomas Anz die ästhetische Moderne gegen den Vorwurf der Antimodernität. Diese Ver1  Anke-Marie Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe. In: IASL 32, H. 1 (2007), S. 1-15, hier S. 3. 2  Ebd., S. 13. 3  Ebd., S. 10. 4  Vgl. ebd., S. 6-9.

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teidigung ist in großen Teilen eine Verteidigung „in eigener Sache“,5 hatte Lohmeier doch Thomas Anz’ Literatur des Expressionismus (2002) an einigen Stellen als Negativbeispiel zur Untermauerung ihrer Thesen herangezogen. Anz richtet sein Augenmerk damit verstärkt auf den zweiten Kritikpunkt Lohmeiers. Ganz anders Ingo Stöckmann, der in dem Hinweis auf das methodologische Problem der konsensualen Übereinstimmung von Objektund Beschreibungssprache in der Moderneforschung ein „Anregungspotential“6 sieht, an das er weitere Überlegungen anschließt: Lohmeiers Einschätzung, die Literaturwissenschaft bestätige die Semantik ihres Untersuchungsgegenstandes, sei zuzustimmen, ihr Vorschlag, auf geschichts- oder sozialwissenschaftliche Theorien zurückzugreifen, hingegen abzulehnen, da dieser „das diagnostische Ausgangsproblem nicht bewältigt, sondern vielmehr reproduziert“.7 Auch die sozialwissenschaftliche Theoriebildung sei nicht frei von sentimentalischen Narrativen, denn sowohl die frühe Soziologie als auch etwa die jüngere Systemtheorie fassten Moderne als Prozess der Ausdifferenzierung. Die Theorie setze funktional und strukturell äquivalent zur Literatur eine vormoderne Einheit voraus bzw. setze sie nachträglich als Ausgangspunkt der Narration ein, um moderne Veränderung erzählerisch ins Bild zu setzen: In diesem Sinne ist jede Moderne, die sich als Ergebnis eines vormodernen Ursprungs imaginiert, auf eine Gestaltung von Zeit bezogen, die nicht anders als narrativ verfahren kann, und in diesem Sinn ist die Art und Weise, in der sich die Moderne Rechenschaft über ihre Struktur und ihr Gewordensein verschafft, unweigerlich ästhetisch.8

Stöckmanns Einsatz zielt nun darauf ab, der Einsicht in die unhintergehbare Reproduktion „elegische[r] Erzählmuster[ ]“ durch literarische wie theoretische 5  Thomas Anz: Über einige Missverständnisse und andere Fragwürdigkeiten in Anke-Marie Lohmeiers Aufsatz „Was ist eigentlich modern?“. In: IASL 33, H. 1 (2008), S. 227-232. 6  Ingo Stöckmann: Erkenntnislogik und Narrativik der Moderne. Einige Bemerkungen zu Anke-Marie Lohmeiers Aufsatz „Was ist eigentlich modern?“ und Thomas Anz’ Kritik. In: IASL 34, H. 1 (2009), S. 224-231, hier S. 225. Bei aller Nachvollziehbarkeit der Anz’schen Kritik an Lohmeiers – wiederum – vereinseitigendem Verständnis der ästhetischen Moderne, die auch Stöckmann sieht (vgl. ebd., S. 224), sind Anz’ Kritikpunkte im Einzelnen für mich an dieser Stelle wenig relevant, weshalb meine Skizzierung der Debatte Lohmeiers und Stöckmanns Beiträge ins Zentrum rückt. Vgl. zur Zusammenfassung der drei Ansätze Walter Erhart: Editorial – Stichworte zu einer literaturwissenschaftlichen Moderne-Debatte. Ausgangspunkte: Ästhetische und gesellschaftliche Moderne. Anke-Marie Lohmeiers Infragestellung der germanistischen Moderne-Forschung. In: IASL 34, H. 2 (2009), S. 176-194. 7  Stöckmann: Erkenntnislogik und Narrativik der Moderne, S. 225. 8  Ebd., S. 226.

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und wissenschaftliche Modernekonzepte die Schärfe zu nehmen und eine „narratologische Wendung des Problems“ zu erproben.9 Das literaturwissenschaftliche Instrumentarium könne genutzt werden, um narrative Figuren und Textverfahren in all diesen Texturen zu untersuchen. So fungiere etwa die soziologische Theorie nicht als metasprachliche Perspektive, sondern als Material neben literarischen Texten, das seinerseits mit textuellen Figuren operiere und mithin auf seine Ästhetik hin untersucht werden könne.10 Für die Beobachtung der Zusammenhänge von Zeit- und Erschöpfungssemantik sind zwei wichtige Erkenntnisse aus der skizzierten Debatte zu ziehen: Erstens markieren die angeführten Beiträge mit der ausgewiesenen Nähe von theoretischer und literarischer Semantik der Moderne das epistemologische Hamsterrad, in das der Versuch, eine terminologische Metaperspektive auf Modernenarrative einzunehmen, zwangsläufig hineinführt. Das hier gewählte Textkorpus versammelt mit Joseph Görres’ Wachstum der Historie (1807), Friedrich Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung (1874) und Hans Ulrich Gumbrechts Unsere breite Gegenwart (2010) keine fiktionalen Texte, sondern faktuale, die sich der sozialen Zeitdiagnose verschreiben. Obwohl nicht literarisch im engeren Sinne, schreiben solche essayistischen und geschichtstheoretischen Texte doch an der Erzählung der Moderne mit und werden gleichzeitig, wie etwa der Erfolg von Gumbrechts Präsenzkonzept in der Literaturwissenschaft verdeutlicht, als theoretische Metasprache zur Analyse von literarischen Texten herangezogen. Im Folgenden soll eine Textverfahrensanalyse geleistet werden, die die ästhetische ‚Gemachtheit‘ der zeitdiagnostischen Texte fokussiert und sie in diesem Sinne auf derselben epistemologischen Höhe wie literarische Texte verortet. Zweitens vollzieht die angeführte literaturwissenschaftliche Debatte zugleich eine zeitliche Konturierung der Moderne als lange Epoche, die bis heute andauert, und nennt als epochenkonstitutives Merkmal das geteilte zeitliche Narrativ, das mit der Setzung eines Ausgangspunkt ‚Einheit‘ und eines historisch davon abgegrenzten Entwicklungsgeschehens ‚Ausdifferenzierung‘ 9  10 

Ebd., S. 229. Gleich zu Beginn muss eingeräumt werden, dass auch der vorliegende Text gängige Topoi der Moderne aufnimmt, um die Zeitdiagnostik als modernes Phänomen vorzustellen und semantische Wiederholungsfiguren im diachronen Vergleich als typisch modern auszuweisen. So bestätigt dieser Aufsatz allein in seiner Textauswahl tradierte zeitliche Einteilungen der Makroepoche, insofern der erste hier untersuchte Text 1807 und der letzte 2010 erschienen ist und mit Nietzsche der oftmals ausgerufene Umschlagspunkt in die Klassische Moderne als mikroepochale Zeitspanne bestätigt wird. Die von Stöckmann vorgeschlagene narratologische Wendung des Problems ist also auch auf meine folgenden Ausführungen zu beziehen, die das Problem der Verhaftung im modernen Paradigma nicht lösen, sondern nur reflektieren können.

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eine erzählbare Prozesslogik installiert und so ‚die Moderne‘ allererst darstellbar macht. Entsprechend wird Erschöpfung hier primär als Zeiterzählung der Moderne gefasst, der im Sinne des nicht mehr Schöpferischen eine grammatikalische Konstruktion der Abgrenzung von einer schöpferischen Vergangenheit inhärent ist. Die Nicht-mehr-Konstruktion ist in den ausgewählten Texten damit weniger die Kehrseite eines modernen Produktivitätsund Leistungsprinzips, sondern – auf einer basaleren Ebene – Kontrapunkt zum Prinzip der Historizität, dem die Moderne aufsitzt. Erschöpfung stellt sich immer dann ein, wenn die Zeit nicht fortschreitet; insofern impliziert die elegische Prozesslogik als zeitliche Erzählung eine geschichtsphilosophische Dimension,11 die Zeitzusammenhänge mit Sinn auflädt. So unterschiedliche Texte wie die von Görres, Nietzsche und Gumbrecht sind aufgrund ihrer inhärenten geschichtsphilosophischen Perspektive miteinander vergleichbar. Methodisch beziehen sich die folgenden Ausführungen auf die Beobachtung sich diachron überlagernder Zeitschichten,12 die auch längere Zeiträume durch eine semantische Wiederholungsstruktur miteinander verbinden.13 Die moderne Gegenwartsdiagnostik vollzieht, so meine These, mit Erschöpfungserzählungen eine leitmotivische Ordnungsleistung, die ‚die Moderne‘ als Großepoche konturiert, sie innerhalb ihres Verlaufs strukturiert und sich dadurch der historischen Verfasstheit ihrer Erzählung (selbst-)versichert. Erschöpfung wird in den hier gewählten Zeitdiagnosen zum zeitlichen Konzept, das als Gegenbewegung zur progressiven Tendenz der modernen Zeitauffassung Stagnationserscheinungen erklärbar macht. Die Zeitdiagnostik bewegt sich über solche narrativen Verfahren im Spannungsverhältnis zwischen ihrem konstitutiven Anspruch auf Aktualität und der Einordnung in Darstellungsstrategien moderner Zeiterfahrung. Die jeweiligen historisch bedingten Unterschiede der Textverfahren sollen hier nicht nivelliert werden, vielmehr geht es darum, einzelne sich überschneidende Darstellungsstränge hervorzuheben, um die Verbindung von Zeit- und Erschöpfungssemantik als ein Merkmal der Systematik von Modernenarrativen zu konturieren. Die im Folgenden vorzustellenden zeitdiagnostischen Texte fokussieren mit der Erschöpfung der Zeit daher nicht die Erschöpfung in der Zeit. Texte, die Erschöpfung als Zivilisationskrankheit innerhalb ihrer Gegenwart konturieren 11  12  13 

So auch Lohmeier: Was ist eigentlich modern?, S. 10. Vgl. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2000, S. 19-25. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Konturen von „Ordnung“ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts. In: Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Hg. v. Thomas Etzemüller. Bielefeld 2009, S. 41-64; hier besonders die methodologischen Bemerkungen: S. 41-43.

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(zu nennen ist beispielhaft Alain Ehrenbergs Das erschöpfte Selbst von 2004) werden hier zugunsten von Texten, die der Zeit selbst als Handlungssubjekt Erschöpfungszustände attestieren, ausgespart. Begriff und Konzept der Zeitdiagnostik Es überrascht nicht, dass der soziologischen Forschung zur Zeitdiagnose die begriffliche Anleihe ihres Gegenstands aus der medizinischen Fachsprache aufgefallen ist: „Auch wenn der Begriff vorwiegend über den medizinischen Jargon in die Alltagssprache eingesickert ist, verstehen wir diagnostisches Handeln als eng mit wissenschaftlichem Handeln verbunden – zumindest wenn es sich um eine empirische Wissenschaft handelt.“14 Mit Blick auf die Begriffsgeschichte der Zeitdiagnose lässt sich einer solchen Annahme entgegnen, dass eine Identifikation von diagnostischer mit wissenschaftlicher Tätigkeit zu kurz greift und die etymologischen Verweiszusammenhänge der Glieder ‚Zeit‘ und ‚Diagnose‘ verkennt. Aus diesem Grund erscheint eine kurze Rekonstruktion der Begriffsbildung und -entwicklung von ‚Zeitdiagnose‘ ratsam, nicht zuletzt, weil sie wichtige Impulse für eine Untersuchung von Erschöpfungssemantiken in ihrer Funktion der Pathologisierung von Gegenwart geben kann. Der Begriff ‚Diagnose‘ ist im Deutschen seit dem frühen 18. Jahrhundert als Entlehnung aus dem Französischen (‚diagnose‘), das sich wiederum aus dem Griechischen ‚diagnosis‘ = „Erkenntnis eines Gegenstandes durch Unterscheidung von anderen, Erkennung, Beurteilung (einer Krankheit durch den Arzt)“15 gebildet hat, zu finden. Zedlers Universallexikon definiert ‚Diagnosis‘ 1734 als Terminus, der „bey denen Medicis die Erkänntniß, da man aus denen gegenwärtigen Zeichen und Zufällen die Beschaffenheit der Kranckheit erkennet“,16 bezeichnet. Etymologisch impliziert die Begriffssemantik also eine detailgenaue Untersuchung und anschließende Urteilsfindung einer autorisierten Person im medizinischen Kontext. Dabei sind zwei Auffälligkeiten herauszustellen: Zum einen findet sich bereits bei Zedler der zeitliche Index der Diagnose, die sich auf die „gegenwärtigen Zeichen und Zufälle[ ]“ richten solle. Die Zeitlichkeit der Terminologie ist hier vorerst eine einfache, 14  15  16 

Oliver Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik. Paderborn 2016, S. 25. Art. Diagnose. In: Deutsches Fremdwörterbuch. Bearb. v. Gerhard Strauß / Heidrun Kämper / Isolde Nortmeyer / Oda Vietze. 2. Aufl. Berlin, New York 1999, Bd. 4, S. 478-484, hier S. 478. Art. Diagnosis. In: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle 1734, Bd. 7, Sp. 734.

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reihenartige Anordnung eines ‚Jetzt‘ im Unterschied zu einem ‚Später‘.17 Zum anderen fehlt trotz dieser augenscheinlichen Nähe der medizinischen Terminologie zu Zeitverhältnissen vom Kompositum ‚Zeitdiagnose‘ im 18. Jahrhundert jede Spur. Und das, obwohl in der Sattelzeit eine Vielzahl an Komposita mit dem Erstglied ‚Zeit‘ entsteht,18 das als metonymisches Abstraktum für all das einsteht, „was sich als gleichzeitige und interdependente Phänomene oder auch Tendenzen der eigenen Zeit, der eigenen Gegenwart“,19 ausmachen lässt. Die Diagnose ist zunächst nur auf kranke Individuen bezogen und kennt begrifflich weder den Bezug auf Sozialsysteme noch den Zusammenschluss mit Kollektivsingularen wie ‚Zeit‘ oder ‚Gegenwart‘. Das ändert sich erst im späten 19. Jahrhundert. Hier lassen sich vereinzelte Nachweise einer Ausweitung der Begriffssemantik auf andere gesellschaftliche Felder entdecken. Die breitere Anwendung geht mit einer Verallgemeinerung der Wortbedeutung zu ‚Beobachtung‘ oder ‚analysierender Feststellung‘20 einher, wobei die Begriffsverwendung nach wie vor allerdings eine deutliche Analogie zur ärztlichen Tätigkeit erkennen lässt. 1873 findet sich z.B. in Wilhelm Heinrich Riehls Freien Vorträgen die Genitivkonstruktion „Diagnose des Staates und der Gesellschaft“,21 die – im Sinne einer objektiven Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Veränderungen – mit Verweis auf das Diagnostizieren des Arztes und in Abgrenzung zum pejorativ besetzten ‚Rezepteschreiben‘ eingeführt wird. Bei Riehl ist das krisengeschüttelte Gemeinwesen wie das kranke Individuum auf einen stillen und objektiven Beobachter angewiesen, der ungeliebt im Hintergrund diagnostiziert und von den vorschnellen ‚Heilkünstlern‘ stetig in Aufmerksamkeitserregung und Sympathie übertrumpft wird: „Wer flugs Recepte schreibt, die der Schule oder Partei behagen, der gilt für einen eminenten Geist, aber wer seinen ganzen Scharfsinn auf die objective Diagnose beschränkt, den beobachtet man selten und schätzt ihn noch seltener, weil er jeder Partei unangenehme Tatsachen enthüllt.“22 ‚Diagnose‘ wird erst seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf das Lemma ‚Zeit‘ bezogen. 1929 ist in der Zeitung Arnholds Wochenbericht zu lesen, 17  18  19  20  21  22 

Vgl. Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Hg. v. Michael Schröter. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1987, bes. S. 44-46. Vgl. Reinhart Koselleck: Stetigkeit und Wandel aller Zeitgeschichten. In: Ders.: Zeitschichten, S. 246-264, hier S. 256. Johannes  F.  Lehmann: Gegenwart und Moderne – zum Begriff der Zeitgenossenschaft und seiner Geschichte. In: Eigenzeiten der Moderne. Regime, Logiken, Strukturen. Hg. v. Helmut Hühn / Sabine Schneider. Hannover 2020 S. 355-369. Vgl. Art. Diagnose. In: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 479. Wilhelm Heinrich Riehl: Freie Vorträge. Stuttgart 1873, S. 442. Ebd.

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dass „aus der kritischen Betrachtung des hinter uns liegenden Zeitabschnitts die Bilanz zu ziehen, die Diagnose und Prognose, also Erkenntnis der gegenwärtigen Lage wie Voraussage der erwarteten Entwicklungslinien, ermöglichen soll“.23 Ebenfalls 1929 postuliert Karl Mannheim dann die „soziologische Zeitdiagnostik“ als „Disziplin“, die er mit seiner Schrift gleichsam umzusetzen beansprucht: Um eine solche [soziologische Zeitdiagnostik] bemühten sich bereits die bisherigen Ausführungen, wenn sie zu zeigen versuchten, wie der Ideologiebegriff selbst bei der Diagnose der gegenwärtigen Denklage verwertet werden kann, und wenn unsere Typologie nicht einfach Fälle nebeneinander gestellt hat, sondern in der Abfolge des Bedeutungswandels dieses (allenfalls äußerst symptomatischen Begriffes) unsere gesamte Seins- und Denklage im Querschnitt erfaßt werden sollte.24

Die Zeitdiagnostik leistet also keine Fallstudien, sondern eine systematische Untersuchung der „gegenwärtigen Denklage“, wobei, wie Mannheim weiter ausführt, sie immer mit einer Bewertung derselben verbunden ist. Um die normative Beurteilung der Gegenwart komme die Diagnose nicht herum, weil „man keine Artikulation in die Geschichte hineinzutragen imstande ist, wenn man nicht Akzente verteilt“.25 Die Zeitdiagnostik entsteht damit unter dem Begriff ausgewiesen als Subdisziplin erst nach der wissenschaftlichen Etablierung der Soziologie,26 wobei das zeitdiagnostische Verfahren der Analyse der ‚gesamten Seins- und Denklage im Querschnitt‘ und der Wertung von Gegenwart im Angesicht der „Geschichte“ bereits um 1800 zu beobachten ist.27 Der Zeitpunkt der Begriffsprägung kann als Folge der diskursiven Pathologisierung der Moderne im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gedeutet werden, in der ganzen Kollektiven Degenerationstendenzen zugeschrieben wurden.28 Sozial- und kulturwissenschaftliche Überlegungen griffen somit verstärkt auf Deutungsangebote der Naturwissenschaften und

23  24  25  26  27  28 

Arnholds Wochenbericht, Nr. 52. Zit. n. Art. Diagnose. In: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 481. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Bonn 1929, S. 49. Ebd. Vgl. Fran Osrecki: Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität. Bielefeld 2011, S. 17. Vgl. Klaus Lichtblau: Zwischen Klassik und Moderne. Die Modernität der klassischen deutschen Soziologie. Wiesbaden 2017, S. 62f. Vgl. Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914). Frankfurt a.M. 1999, S. 141.

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besonders der Medizin zurück, um ihre Gegenstände zu benennen.29 Diese Tendenz mag dazu beigetragen haben, dass die gemeinsame Zeit als behandlungsnotwendig angesehen wurde und der Fachterminus der ‚Diagnose‘ in den allgemeinen Sprachgebrauch einging, ohne jedoch seine medizinische Konnotation einzubüßen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich eine entsprechende Redegewohnheit ausgebildet, sodass Zeitdiagnosen unter dem Titel der Zeitdiagnose erscheinen: So etwa Karl Mannheims Diagnose unserer Zeit (1943/51)30 oder Dolf Müller-Armacks Diagnose unserer Gegenwart von 1949. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, besonders seit den 1980er Jahren, ist ‚zeitdiagnostisch‘ dann eine weit verbreitete Attribuierung für eine Gesellschaftsbeobachtung der Gegenwart.31 In den 1980er Jahren setzte dann auch mit Ulrich Becks vielbeachteter Risikogesellschaft (1986) die Konjunktur der Zeitdiagnostik ein, die in den 1990er Jahren das ‚Labeling‘ westlicher Gesellschaften zu einer regelrechten Praktik der Sozialwissenschaften machte,32 die bis heute andauert. Der begriffsgeschichtliche Befund lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Kompositum ‚Zeitdiagnose‘ bzw. ‚Zeitdiagnostik‘ und die damit verbundene Adjektivkonstruktion ‚zeitdiagnostisch‘ sind Prägungen des 20. Jahrhunderts. In seiner sprachpragmatischen Entwicklung bleibt der semantische Kopf des Kompositums, das Zweitglied ‚Diagnose‘, mit der ärztlichen Tätigkeit als Analogie verknüpft. Die im Begriff verdichtete Vorstellung, sich der jeweils eigenen Zeit diagnostisch zu nähern, legt mit Blick auf die Etymologie also nahe, dass sich eine ‚Zeit‘ ebenso wie ein Individuum in einem Zustand der Krankheit befinden kann. Der textuelle Anspruch, 29 

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31 

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Vgl. Wolfgang Eckart: „Die wachsende Nervosität unserer Zeit“. Medizin und Kultur um 1900 am Beispiel einer Modekrankheit. In: Kultur- und Kulturwissenschaften um 1900. Hg. v. Gangolf Hübinger / Rüdiger vom Bruch / Friedrich Wilhelm Graf. Stuttgart 1997, Bd. 2, S. 207-226, hier v.a. S. 207f. Mannheim bewegt sich in der Auswahl seines Vokabulars ganz in Analogie zur medizinischen Tätigkeit, wenn er seine Schrift folgendermaßen eröffnet: „Nehmen wir die Haltung eines Arztes an, der versucht, eine wissenschaftliche Diagnose der Krankheit zu geben, an der wir alle leiden. Daß die menschliche Gesellschaft krank ist, steht außer Zweifel. Worin besteht diese Krankheit und wie kann man sie heilen?“ (Karl Mannheim: Diagnose unserer Zeit. In: Ders.: Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen. Zürich u.a. 1951, S. 9-23, hier S. 9). Vgl. Google NGram-Viewer (https://books.google.com/ngrams/graph?content=zeitdiagn ostisch&year_start=1800&year_end=2019&corpus=20&smoothing=3&share=&direct_ur l=t1%3B%2Czeitdiagnostisch%3B%2Cc0#t1%3B%2Czeitdiagnostisch%3B%2Cc0, zuletzt geprüft am 24.5.2019). Vgl. dazu bspw. die Aufzählung von Zeitdiagnosen in Manfred Prisching: Die Etikettengesellschaft. In: Modelle der Gegenwartsgesellschaft. Hg. v. dems. Wien 2003, S. 13-32.

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zeitdiagnostisch zu verfahren, ist semantisch vielschichtig und meint nicht bloß eine ausgewiesene allgemeine Wissenschaftlichkeit der Darstellung. Mitgeführt werden vielmehr Positionierungen zum ‚erkrankten‘ Diagnoseobjekt, die damit verbundene Relevanz des Eingreifens sowie die Frage nach adäquaten Heilmitteln zur Behebung des Defekts. War ‚Diagnose‘ bereits im 18. Jahrhundert mit einem zeitlichen Index versehen, so ist die spätere Zusammensetzung mit dem metonymischen Erstglied ‚Zeit‘ gleichzeitig Ausdruck einer zunehmenden Verallgemeinerung und Kollektivierung des diagnostischen Anwendungsbereichs wie semantische Möglichkeit der Pathologisierung einer ganzen Gesellschaft. Das Zweitglied ‚Diagnose‘ bringt dabei mindestens zwei Instanzen in ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit zueinander: Den defizitären Gesundheitszustand eines Objekts sowie den detailgenauen Blick des autorisierten Subjekts. Die ‚Zeit‘ der Zeitdiagnose ist die Gegenwart, die als zusammenhängender Relevanzrahmen für gleichzeitig lebende Menschen mittels Etikettierung einer Gesellschaft oder einer Generation33 sprachlich aufgerufen wird. Als Reifizierung der gemeinsamen Zeit kann die Zeitdiagnose als gattungsübergreifendes Genre beschrieben werden, das – neben dem augenscheinlich präferierten Modus der Zeitkritik – etwas per se Undarstellbares wie die eigene Gegenwart zur Darstellung bringen möchte.34 Der stimmige Bezug zur Gegenwart in einer passgenau verdichteten Metaphorik ist dann auch erfolgsentscheidend für ihre diskursive Modellbildung: Die Zeitdiagnose bietet ein kollektives Identifikationsangebot, das angenommen oder abgelehnt werden kann; durch die Rezeptionssignale der medialen Aufmerksamkeit und des reproduzierenden Zitats wird die Zeitdiagnose zum „Selbstläufer“35 und entfaltet im Umlauf allererst ihr deiktisches Potenzial für die Gegenwart. Konträr zu Textanspruch wie Rezeptionshaltung, den ‚Nerv der Zeit‘ zu treffen, verhält sich die Beobachtung, dass Zeitdiagnosen bestimmte Topoi ausbilden und sich damit intertextuell zueinander verhalten. Das mag dann kohärent sein, wenn Zeitdiagnosen mehr oder weniger zeitgleich deckungsgleiche Narrative entfalten, wie etwa bei den zahlreichen bloß graduell unterschiedlichen Beobachtungen postpolitischer Stagnation (etwa bei Colin Crouch, Jacques Rancière, Chantal Mouffe, Ernesto Laclau, Slavoj Žižek) zu 33  34 

35 

Dimbath: Soziologische Zeitdiagnostik, S. 17f. Siehe dazu auch Manfred Prisching: „Zeitdiagnosen verwenden Deutungsschemata, die zahlreiche einzelne Ereignisse oder Phänomene in größere Strukturen oder Gesamtzusammenhänge verknüpfen.“ (Manfred Prisching: Zeitdiagnose. Methoden, Modelle, Motive. Weinheim 2018, S. 25). Matthias Junge: Einleitung. In: Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Hg. v. dems. Wiesbaden 2016, S. 1-3, hier S. 1.

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sehen ist, die sich alle auf neoliberale Gesellschaftsmodelle seit den späten 1980er Jahren bis heute beziehen.36 Wenn die zeitdiagnostische Semantik jedoch in diachrone Wiederholungsschleifen verfällt,37 dann ergibt sich ein (produktives) Spannungsverhältnis zwischen Originalität und Zitat. Eigentlich eine deiktische Zeigegeste,38 die nur für die gerade jetzt Lebenden eine überzeugende Stellungnahme zum gemeinsamen zeitlichen Rahmen bildet, weist die Zeitdiagnose über längere Zeiträume hinweg ähnliche narrative Strukturen auf. Dieser im Folgenden zu belegende Befund lässt darauf schließen, dass Pathologisierung und Diagnostik der Gegenwart als erschöpfte Zeit eine wichtige Funktionsstelle im narrativen Paradigma der Moderne einnehmen. An der Schwelle zur Pathologisierung: Wachstum der Historie „Schlaftrunken, und immer doch von neuem wieder aufgepeitscht, taumelt dies Geschlecht daher; besinnungslos will die kleinste Anstrengung ihm nicht mehr gelingen“,39 schreibt der Publizist Joseph Görres 1807 in seiner geschichtsphilosophischen Schrift Wachstum der Historie. Görres spricht seinen ZeitgenossInnen damit jene produktive Tatkraft ab, die er im vergangenen ‚Geschlecht‘ zu beobachten glaubt; die Zeitlichkeit des Narrativs kommt in der Nicht-mehr-Konstruktion zum Ausdruck, die ein ‚Jetzt‘ in Abgrenzung zu einem ‚Vorher‘ umreißt. Die rekonstruktive Beobachtung wird vom Autor selbst reflektiert, indem dieser einräumt, die Vergangenheit aus Sicht der Gegenwart – und entsprechend die Gegenwart primär als Blickpunkt 36 

37  38 

39 

Es kann nur angedeutet werden, dass die ‚Gegenwart‘ der Zeitdiagnose – wie am Beispiel der ‚Postpolitik‘ verdeutlicht – oftmals zeitlich ausgedehnt ist und mehrere Jahrzehnte umfassen kann. Auch hier greift wieder die Annahme, dass Zeitdiagnosen auf einem zeitlichen Narrativ beruhen, das den Ausgangspunkt der Veränderung setzt – im Beispiel bildet diesen Ausgangspunkt die konservative Revolution durch Reagan und Thatcher. Der Ausgangspunkt wird wiederum von einem noch vorher liegenden Ursprungszeitpunkt abgegrenzt und leitet als Zäsurmoment eine beschreibbare Entwicklung ein, die in sichtbaren sozialen ‚Anormalitäten‘ kulminiert. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Walter Reese-Schäfer: Zu einer vergleichenden Ideengeschichte der Zeitdiagnostik an zwei Jahrhundertwenden. In: Modelle der Gegenwartsgesellschaft. Hg. v. Manfred Prisching. Wien 2003, S. 121-151. Vgl. zur Zusammenführung von Zeitdiagnostik und Deixis Uwe Krähnke: Die Zeitdiagnose als Fingerzeig der Sozialwissenschaftler. Zur Heuristik metaphorischer Gesellschaftsbeschreibungen. In: Metaphern soziologischer Zeitdiagnostik. Hg. v. Matthias Junge. Wiesbaden 2016, S. 7-19, hier bes. S. 8f. Joseph Görres: Wachstum der Historie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Günther Müller. Köln 1926, Bd.  3, S.  363-440, hier S.  368. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle WH und Seitenzahl nachgewiesen.

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zwischen Vergangenheit und Zukunft – zu erklären.40 Weiterhin versucht er, seine eigene Zeit sprachlich genauer zu fassen und beschreibt „die Gegenwart [als] gewissermaßen nur ein einzig großes Gähnen […], wo die erschöpfte, überwachte Natur gewaltsam ihre Rechte fordert“ (WH  368). Das Erschöpfungsnarrativ formt hier ein zyklisches Modell, in dem verschiedene Zeitalter nach Ausprägung ihrer Kraftausfuhr beurteilt und voneinander abgegrenzt werden. Geschichtsverlauf bedeutet nach Görres einen „beständige[n] Wechsel von Aufflammen und in sich Zusammenbrennen“, ein „Schwanken zwischen wildem Kraftausbruch und dumpfer Ermattung“ (ebd.). Voraussetzung einer Darstellung des Geschichtsverlaufs als Wechsel von An- und Entspannung ist für Görres, das Zeitalter als Organismus zu diskursivieren. Er konturiert den Staat im Wandel der Zeit in stetiger Analogie zum menschlichen Körper als Zusammenhang von Muskel- und Nervensystem (vgl. WH  375), in dem, je nach Phase des Geschichtsverlaufs, das Lebensblut „warm, gesättigt, nahrhaft“ (WH  377) pulsiert. Die OrganismusMetaphorik erlaubt zum einen, Staat und Geschichte sprachlich als Einheiten zu präsentieren, die kein hinzugefügtes Bindungselement benötigen, um zusammenzuhalten, sondern deren einzelne Elemente miteinander verwachsen sind.41 Zum anderen kann so die Zeit, wie der menschliche Organismus, krank oder gesund sein; komplementär zum beständigen Wechselspiel von Produktivität und Erschöpfung sei dann auch „die Geschichte der Nation […] ein fieberhaft fortdauernd Oscilliren von absolutem Despotism zu anarchischer Ungebundenheit“ (WH 376).42 Erschöpfung – des Individuums, des Staats, des Zeitalters – ist demnach eine notwendige Folge vorhergehender (Über-)Anstrengung. Erschöpfung folgt dem vormals Schöpferischen als verdiente Entspannung nach großem Kraftaufwand und physischer Überreizung. In diesem Aspekt bewegt sich 40 

41  42 

Görres weist im Vorwort seine Schreibmotivation aus, die darin bestehe, eine „Chronik des Allgemeinen“ zu schreiben und den Geschichtsverlauf vom Altertum bis zur Gegenwart als „Kreislauf“ mit alternierenden „Perioden“ und „Phasen“ darzustellen (WH 365). Die Abgrenzung seiner Gegenwart von der Vergangenheit begründet er folgendermaßen: „Von Nachahmung der Formen kann hier nicht die Rede seyn. Nur um sie scharf zu scheiden von dem entgegengesetzten Extrem, haben wir sie gegen das Andere hingerückt.“ (Ebd.). Vgl. dafür die einschlägige Studie von Christian Strub: Weltzusammenhänge. Kettenkonzepte in der europäischen Philosophie. Würzburg 2011, S. 19f. Wie hier deutlich wird, bindet Görres die unterschiedlichen energetischen Phasen an Prinzipien staatlicher Organisation (sowie auch hier: an die Organisation des menschlichen Körpers), wobei er das republikanische Prinzip als „erregend, begeistigend, erhebend“ und das despotische Prinzip als „beruhigend, sänftigend, abspannend, erfrischend“ deklariert (WH 374).

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Görres’ Schrift noch ganz im Paradigma des aufklärerischen Leistungsgedankens, in dem Phasen der Arbeit und Ermüdung alternieren und letztere „ein Grenzzeichen, ein Zeichen des Erholungspunktes und sogar des geistigen Erwachens“43 darstellt. Die Phase der Erschöpfung, in der Görres seine Gegenwart verortet, ist demnach weniger produktiv als reflexiv und bietet daher den idealen Standpunkt der Beobachtung: Ist das nicht so recht bedeutsam in unsern Tagen auf uns angedrungen, wo erst jene große Gährung in der Zeit gewesen, die alle Geister in sich eingeschlungen und gewaltsam und rastlos sie in ihren Wirbeln umgetrieben, und nun nachdem sie durch Ueberreiz zahm geworden […], nun von allen Seiten sich’s zu Ruhe neigt […]. (WH 368)

– genau jetzt also sei die Zeit, die ihrer Beobachtung eine privilegierte Sichtposition auf sich selbst sowie auf das Vorhergegangene und Nachkommende erlaube. Görres’ Zeitdiagnose verortet sich damit gezielt im ‚kranken Zeitalter‘, das viel mehr als das gesunde und kräftige Zeitalter der Vergangenheit (und Zukunft) Auskunft über die Bewegungsfiguren der Geschichte geben kann. In der erschöpften Gegenwart finden sich damit produktive Elemente, die zwar nicht zu Kraft und Tat aufrufen, dafür aber den epistemologischen Nährboden für die Zeitdiagnose bereitstellen.44 Auf der Darstellungsebene wird die Bewegung aus Tatkraft und Ermattung mythologisch übercodiert: Es ist das gleiche Regen des Menschengeistes, der ungeduldig weiter will, was alle größeren Catastrophen der Geschichte herbeygeführt; auch die verworrene, zerrissene, übereinandergestürzte Gegenwart ist sein Werk gewesen; convulsivisch hat er in der alten Hülle sich bewegt, endlich ist sie zerrissen, er ist herausgeschlüpft, und eine leere, geschwundene Haut liegen die alten Formen da. (WH 408)45 43  44 

45 

Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien 2001, S. 52f. Die zur Klassifizierung der Zeitphasen eingesetzte Metaphorik reproduziert das Differenzprinzip von Kraft und Erschöpfung, indem der ersten Zeitphase der Tag und die Helligkeit, der zweiten die Nacht und die Dunkelheit zugeteilt werden. Nacht und Dunkelheit sind – hier kommt die Nähe zur Heidelberger Romantik zum Vorschein – erkenntnisaffine Umstände, die die Geheimnisse des Naturwaltens offenbaren (vgl. WH 371). Diese Textstelle steht exemplarisch für die Wortgewalt, mit der Görres Natur- und Geschichtsphilosophie verbindet. Aufgrund der hier gebotenen Kürze kann nur darauf hingewiesen werden, dass die Zusammenführung von Botanik, Zoologie, Mythologie, Physiologie, Energetik und Magnetismus im Text eine Fülle an narrativen Verfahren und metaphorischen Verweisstrukturen installiert und als Darstellungsstrategie der Ordnung von Unordnung gelesen werden kann. Die geschichtsphilosophische These, dass alles mit

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Hier mischen sich organologische und physiologische Semantik, die durch die Konvulsion des „Menschengeistes“ in der alten Haut sowie der Häutung als Symbolik für fortschrittlichen Zeitverlauf die Assoziation einer Schlange aufrufen, die sich konfliktiv durch die Geschichte schlängelt und Geschichte als Einheit damit allererst hervorbringt. Im Bild der sukzessiv ausgedehnten Hülle, die nach einem Zuviel der Ausdehnung reißt und die Gegenwart gleichermaßen zur chaotischen Situation wie zum Ausgangspunkt der Analyse der Überreste macht, kommt die sprachliche Codierung des Geschichtsverlaufs als Übergang von Fülle zu Überfülle zum Ausdruck. Der Text narrativiert Fortschritt mit der Verfahrensfigur des Auffüllens leerer Formen mit „derbem Fleisch“ (WH 408), bis ein Übermaß erreicht ist, das eine geschichtliche Zäsur zur Folge hat und eine Zeitphase der Erschöpfung einleitet. Die Figur der Fülle gibt Aufschluss über die Grenzposition, die Görres’ Text für die jeweiligen Erschöpfungsparadigmen im 18. und 19. Jahrhundert einnimmt: Ist Erschöpfung hier (noch) kausal mit vorhergehender Überanstrengung verknüpft und als notwendige Erholungsphase ausgewiesen, auf die erneute Kraftausübung folgen kann und soll, so deutet sich (bereits) an, dass der Wechsel von Kraft und Ermattung phasenweise ein prekäres Ausmaß erreicht, das gesundheitliche Defekte herbeiführt. Wenn Reiz zum Überreiz wird und Geschichte sich gewaltsam des Alten entledigt, dann steht die Gegenwart ‚verworren‘, ‚zerrissen‘ und ‚übereinandergestürzt‘ da und markiert ein krisenhaftes Moment der Erschöpfung. Während die Vormoderne kein Zuviel der Fülle kannte, entsteht um 1800 die Möglichkeit der Überfülle: „Das wachsende Bewusstsein für Zeitlichkeit und zeitliche Kontingenz beendet die Annahme eines vernünftigen und alle Seinsmöglichkeiten ausschöpfenden […] Kosmos. Die Fülle überschreitet dann die Grenze zum Übermaß und zum Chaos.“46 Wachstum der Historie weist mithin Züge moderner Erschöpfungssemantik auf, die ein Zuviel der Produktivität implizieren und Phasen der Ermüdung als krankhaft aufrufen können. Als Geschichtsphilosophie identifiziert der Text die wechselseitig in der Zeit sichtbaren physischen Zustände mit der

46 

allem systemisch zusammenhängt, wird performativ durch die aufgeladene Semantik umgesetzt, weshalb der Text in seiner poetischen Funktion dazu aufruft, als disziplinäre Grenzform gelesen zu werden. Vgl. Annette Graczyk: Das Tableau als Antwort auf den Erfahrungsdruck und die Ausweitung des Wissens um 1800. Louis Sébastien Merciers Tableau von Paris und Alexander von Humboldts Naturgemälde. In: Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000. Hg. v. Inge Münz-Koenen / Wolfgang Schäffner. Berlin  2002, S.  41-59, hier S.  41f., die einen Problemaufriss der Wissensstrukturierung um 1800 entwirft, der neue Komprimierungsverfahren des als unüberschaubar empfundenen Datenmaterials erfordert. Victoria Niehle: Die Poetik der Fülle. Bewältigungsstrategien ästhetischer Überschüsse 1750-1810. Göttingen 2018, S. 10.

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Zeit selbst; Erschöpfung wird daher nicht primär als Kehrseite von Arbeit in Szene gesetzt, sondern Kraft und Niedersinken vielmehr als Bewegung der Geschichte verstanden, die selbst einen physischen Code aufweist. Zeit- und Erschöpfungserzählungen reagieren ebenso wie das Ordnungsbestreben der Geschichtsphilosophie auf die moderne Zeiterfahrung: Die Kulminationssemantik, die Görres’ Text beherrscht, rückt seine Gegenwart in einen prekären Stand und macht Gegenwartsdeutung im diagnostischen Modus erforderlich. Dabei situiert sich die Geschichtsphilosophie in einem Spannungsverhältnis zur Zeitdiagnostik, da sie einerseits die Gegenwart exponieren will, um sie analysieren zu können, und sie andererseits ‚lediglich‘ als epistemologisches Sprungbrett nutzt, um aus den in ihr sichtbaren Zeichen Rückschlüsse über den Geschichtsverlauf als Ganzen zu ziehen. Dieses Spannungsverhältnis macht der Text selbst an seinem Anfang transparent: Das Allgemeine in seiner wechselseitigen Beziehung wieder in allen Besonderheiten aufzufassen, verbot schon der Zweck dieser Fragmente: unsre Zeit als eine Besonderheit sich selbst verständlich zu machen. Alle Momente der Untersuchung mußten dadurch schon der Form nach eine gewissermaßen künstliche Richtung auf das Ziel hin bekommen. (WH 365)

Um 1800 wird die Gegenwart selbst „zum Gegenstand einer ‚epochalen‘ Selbstbeschreibung, die sich formal nicht mehr von der Beschreibung großer Zeiträume der Vergangenheit unterscheiden soll“;47 mit genau dieser Forderung und dem daraus erwachsenden Darstellungsparadox befasst sich die Geschichtsphilosophie eines Joseph Görres, die hier deshalb als Frühform der Zeitdiagnose avant la lettre klassifiziert werden soll. Die semantische Breite von ‚Erschöpfung‘ als Erholung und Dysfunktion soll die Gegenwart erklären und rückt sie gleichermaßen in die Stellung einer krisenhaften Übergangsphase, in der das Nicht-mehr-Schöpferische und das Noch-nichtSchöpferische aufeinandertreffen. Das Alternieren physischer Zustände weist den nachfolgenden Zustand bereits in der Erschöpfung als erahnbar produktiv aus. Das geschichtsphilosophische Modell kombiniert also den zyklischen Zeitverlauf mit einem linearen, insofern jeder Umschlag von Kraft in Erschöpfung neue Beobachtungsstandorte exponiert und damit eine immer höhere Reflexionsstufe gewinnt.48 Der Text an der Schwelle zur Moderne dient hier als frühes Beispiel für die Verbindung von progressiven und stagnierenden Zeitphasen in ästhetischen Ordnungsbestrebungen und belegt, dass die 47  48 

Lichtblau: Zwischen Klassik und Moderne, S. 63. „Jede Monade der neuen Zeit, mögte man sagen, hat ihr Bewußtseyn um einen Grad gesteigert, und hat eine klarere Weltanschauung sich gewonnen.“ (WH 409).

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Erschöpfungssemantik als Folge der Verzeitlichung von Gegenwart um 180049 zeitliche Umschlagsbewegungen artikulieren soll. Im Unterschied zu späteren Zeitdiagnosen, die auf diese Ordnungsleistung zurückgreifen, ist Erschöpfung hier jedoch als notwendig ausgewiesen. Obwohl die Geschichtsphilosophie erschöpfte Zeit pathologisiert, stellen solche Zeitphasen keine Ausnahmezustände dar, sondern sind im Geschichtsmodell ‚eingeplant‘ als notwendige Übergangsphase zu einer produktiveren Zukunft. Historiität als Paradox: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben Explizit gegen eine Abstraktion der Gegenwart zugunsten ihrer Eingemeindung in den allgemeinen Geschichtsverlauf wendet sich Friedrich Nietzsche in seinem zweiten Stück der Unzeitgemässen Betrachtungen, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Aufgrund der Orientierung des 19. Jahrhunderts am „Weltprozess“ in Folge der diskursbildenden Studien Georg Wilhelm Friedrich Hegels leide seine Gegenwart, so Nietzsche, an der „Unendlichkeit des Horizontes“50 historischen Wissens. Mit der Metapher des Horizonts verbindet Nietzsche Annahmen über gesunde und kranke Verhältnisse der ZeitgenossInnen zu ihrer Vergangenheit. Gesund leben – oder vielmehr, im emphatischen Sinne: leben überhaupt – könne nur derjenige, der seine horizontale Perspektive eng um die Gegenwart herum begrenze; „fortwährendes Verschieben der Horizont-Perspektiven“ (ebd.) führe hingegen zu einem krankhaften Dasein, ausgelöst durch die „Uebersättigung einer Zeit in Historie“ (UB 279). Die horizontale Achse des Werdens im historischen Verlauf wird im Text mehrfach als vertikale Achse umcodiert, auf der das Übermaß an Vergangenem die gegenwärtige Zeit und die in ihr lebenden Menschen niederdrücke. In Ausführung der bekannten Herden-Analogie unterscheidet Nietzsche das unhistorische und in der Gegenwart aufgehende Tier vom historischen Menschen, der „sich gegen die grosse und immer grössere Last des Vergangenen [stemmt]: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang 49 

50 

Vgl. Johannes  F.  Lehmann: Gegenwartsliteratur. Begriffsgeschichtliche Befunde zur Kopplung von ‚Gegenwart‘ und ‚Literatur‘. In: Aktualität. Zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. v. dems. / Stefan Geyer. Hannover 2018, S. 37-60. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari. 2. Aufl. München 1988, Bd. 1, S. 243-334, hier S. 323f.; im Folgenden im Haupttext mit der Sigle UB und Seitenzahl nachgewiesen.

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als eine unsichtbare und dunkle Bürde“ (UB 249). Im selben Wortfeld bewegen sich seine Thesen, dass sich die Vergangenheit der Gegenwart „hemmend, täuschend, dämpfend, erstickend in den Weg“ (UB 259) wirft, sie „die Gegenwart verwüstet und alle Ruhe, alles friedfertige Wachsen und Reifwerden fast unmöglich macht“, oder das Leben „zu Fall bringt“ (UB  295). Die Semantik bedient hier die Darstellung von Erschöpfung als gravitatives Niedersinken oder Zusammenbrechen unter einer Schwere, die von oben nach unten drückt und den Erschöpften sowohl am Aufrechtstehen als auch am Vorwärtsgehen hindert.51 Die Vergangenheit wird zum gewaltsamen Akteur, der als „überreichlich sich Aufdrängende[r]“ (UB  274) die Chronologie der Zeitabfolge stört, indem er nicht in die Gegenwart übergeht, sondern diese heimsucht und ihr eine Progression in die Zukunft hinein verwehrt. Das Krankhafte – von Nietzsche im Dreischritt Mensch, Volk, „Cultur“ (UB 250) kollektiviert und auf „unsere Zeit“ (UB 271) bezogen – äußert sich in Stagnation und einer kupierten Richtungskontinuität. Zeit wird in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung dann zur Erschöpfungserfahrung, wenn die Zeit der Gegenwart verhindert wird: Zeit verläuft hingegen dann gesund, wenn der Augenblick sich selbst durch Aneignung des Vorherigen konstituiert und das Vorherige in diesem Aneignungsverfahren seines vergangenen Status beraubt und in den gegenwärtigen eingesetzt wird. Ebenso solle es dem Augenblick selbst ergehen, der sich in demselben Verfahren in Zukünftiges auflöse, „im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts“ (UB 248).52 Dem liegt das Verständnis einer temporalen Linearität zugrunde und damit eine implizite Fortschrittskonzeption;53 konsequent wird die eigene Gegenwart, in der ein Fortschreiten des Augenblicks durch nicht-aufgerufene Überfülle des Vergangenen verhindert werde, dagegen als krisenhafte Phase gefasst und mit Erschöpfungssemantik dargestellt. Nietzsches Ausführungen stehen in einem komplexen Verhältnis zur Konzeption des Fortschritts. In seiner starken Angriffshaltung gegenüber der 51 

52  53 

Vgl. zur Semantik von Erschöpfung Hartmut Böhme: Das Gefühl der Schwere. Historische und phänomenologische Ansichten der Müdigkeit, Erschöpfung und verwandter Emotionen. In: figurationen 16, H.  1: Erschöpfung / Épuisement (2015), S.  26-49, hier S. 39-41. Vgl. dazu auch Ingo Christians: Zeit. In: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Henning Ottmann. Stuttgart, Weimar 2000, S. 358-360, hier S. 358. Siehe zu ‚Fortschritt‘ als linearem Richtungsbegriff Reinhart Koselleck: Fortschritt. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. dems / Otto Brunner / Werner Conze. Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 351-423, hier bes. S. 352.

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Hegelianischen Geschichtsnarration verwehrt er sich einem Prozessdenken, das die Gegenwart zur Legitimation eines übergeordneten Zeitverlaufs absorbiert und zur bloßen Phase innerhalb einer notwendigen Stufenfolge reduziert. Gleichwohl offenbaren die zeitfiguralen Verfahren in seiner Schrift eine implizite Prozesslogik, in der die Zeit, die sich in darauffolgende Zeit auflöst, als gesund bewertet wird, und ein Stagnieren dieses Prozesses als krank. Ebenso verhält es sich bei der Konzeptualisierung von Vergangenheit: Die Phrase „es war einmal“ stilisiert Nietzsche einerseits zum Leitspruch der Geschichte und besetzt sie entsprechend pejorativ (vgl. UB 310). Andererseits führt der Text selbst die diagnostizierte Gegenwart durch ein Verlustnarrativ ein und vollzieht in seiner Verfahrensweise selbst eine Es-war-einmal-Konstruktion (in Form eines Nicht-mehr): Hatte die zweite Unzeitgemässe Betrachtung zuvor mit der monumentalischen, antiquarischen und kritischen Historie drei Beziehungsgefüge exponiert, in denen der Mensch sich auf gesunde Weise der Vergangenheit nähern könne, so leitet er die Analyse seiner Gegenwart mit folgenden Worten ein: „Und nun schnell einen Blick auf unsere Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig fluthet jetzt dies Problem vor unseren Augen!“ (UB 271, Herv. E.S.)54 Die tatsächliche oder geglaubte Existenz eines solchen vergangenen Idealzustands ist nicht relevant, denn er fungiert hier lediglich als Ausgangspunkt, von dem aus ein elegisches Narrativ der Moderne erzählt werden kann. Performativ setzt der Text diese Darstellungsstrategie in seinem Aufbau um, indem zuerst die ‚reinen Formen‘ der Verbindung von Historie und Leben und danach ihre „Entartung“ (UB  257) angeführt werden. Auf semantischer Ebene wird Erschöpfung als zeitlicher Verlustprozess mit dem Wortfeld des Auseinanderfallens einer vormaligen Einheit beschrieben: „Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente“, „Auflösung in ein immer fliessendes und zerfliessendes Werden“, „unermüdliche[s] Zerspinnen“ (UB 313). Parallel zum Auseinanderfallen diskursiviert der Text zeitliche Ermüdungserscheinungen mit Semantiken des Zusammenfallens, die nicht nur eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, sondern auch eine Gleichzeitigkeit des Ungleichen versprachlichen sollen. Das Übermaß des Historischen verwandele das Dasein in „ein ununterbrochenes Gewesenes“, in „ein Ding, das davon 54 

Dieselbe narrative Konstruktion findet sich auch an vielen anderen Stellen, an denen die Gegenwart mit einem vorherigen Zustand verbunden wird: „Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit“ (UB 271, Herv. E.S.), fährt der Text fort und richtet sich in derselben narrativen Struktur direkt an seine ZeitgenossInnen: „Es gelingt euch nicht mehr das Erhabene festzuhalten, eure Thaten sind plötzliche Schläge, keine rollenden Donner.“ (UB 280, Herv. E.S.).

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lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen“ (UB  249). Wenn chronologische Zeit als Anschauungskategorie die auf den ausgedehnten zeitlichen Horizont folgende Zunahme an Datenmaterial nicht mehr ordnen kann, so die Narrationsfigur, dann kann auch keine sinnhafte Konstruktion von Handlung im Sinne eines ‚Nacheinanders‘ geleistet werden. Das Widersprüchliche besteht dann simultan und verhindert die Darstellung kohärenter Zusammenhänge, die für eine Bewältigung moderner Unübersichtlichkeit nötig wären. Im Überfluss des Historischen in der Gegenwart – Nietzsche schreibt an einer Stelle vom „Uebermass ohne Hunger“ (UB  272) – findet sich die semantische Verknüpfung von Überfülle und Krankheit wieder, mit der auch schon Görres erschöpfte Zeiten beschrieb. Anders jedoch als bei Görres formen die Textverfahren bei Nietzsche Zeit nicht als progressive Kreislaufbewegung, in der Phasen der Ermüdung notwendig aus Phasen des Kraftaufwands resultieren und für das erneute zukünftige Erstarken einstehen. Vielmehr wird Erschöpfung hier als sukzessiv zunehmende Schwundstufe begriffen, die eine immer weiter ausgreifende „Ueberwucherung des Lebens durch das Historische“ (UB 331) nach sich zieht. Indem der Text die zeitliche Phase der Erschöpfung in eine lineare Prozesslogik überführt, beansprucht das zeitdiagnostische Narrativ eine andere Funktion. Denn während Görres die Zeitdiagnostik vor allem als Kategorie der Beobachtung und Deutung vorliegender historischer Abläufe einführt und der Diagnostiker damit primär epistemologische Interessen verfolgt, so wird sie in der Unzeitgemässen Betrachtung zur Intervention in eine Gegenwart der temporären Krise, die es baldmöglichst zu überwinden gilt. Und so stellt Nietzsche zum Abschluss seiner Ausführungen, verbunden mit einem Appell an die Jugend zu Kraft und Überwindung des Bestehenden, eine „Gesundheitslehre des Lebens“ vor, die gegen die „historische Krankheit“ (ebd.) ins Feld geführt werden soll. Reproduktion des modernen Zeitparadigmas: Unsere breite Gegenwart Zum Abschluss möchte ich anhand einer aktuelleren Zeitdiagnose einige zentrale Linien des Zusammenspiels von Erschöpfungs- und Zeitsemantik in den besprochenen Texten zusammenführen. Hans Ulrich Gumbrechts Unsere breite Gegenwart, erstmals erschienen im Jahr  2010, ist nur ein Beispiel für eine Vielzahl an zeitdiagnostischen Texten, die unsere Zeit als Zeitalter der ‚Posthistoire‘ deklarieren und sich darin einig sind, dass lineare Richtungskontinuität seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und durch ein „Verblassen

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der Zukunft seit der Postmoderne“55 unmöglich geworden sei. Gumbrecht definiert ‚unsere breite Gegenwart‘ dieser kollektiv geteilten Annahme folgend so: „Heute beschleicht uns zunehmend das Gefühl, daß unsere Gegenwart sich verbreitert hat, da sie nun von einer Zukunft, die wir nicht mehr sehen, erreichen oder wählen und einer Vergangenheit, die wir nicht mehr hinter uns lassen können, umgeben ist.“56 Diese Zeitkonzeption wird gegen das ‚historische Denken‘ (BG 14) abgegrenzt, dessen Ursprung Gumbrecht – unter Rückgriff auf Koselleck – in der Sattelzeit verortet. Seit knapp einem halben Jahrhundert sei dieser Denkrahmen ausgelaufen und abgelöst worden von einer „verbreiternden Dimension der Simultaneitäten“ (BG  16). An dieser Stelle tritt der Begriffsrahmen, den Gumbrecht mit überwunden geglaubten Modernetheoretikern um 1900 teilt, klar zutage. Wie Nietzsches Ausführungen exemplarisch zeigen konnten, diente die diagnostizierte Auflösung der linearen Zeitstruktur auch dem ‚historischen Denken‘ als Markierung von zeitlichen Erschöpfungserfahrungen. Diesem Verlustnarrativ wird ein zweites zur Seite gestellt: Der Mensch der Neuzeit – bezeichnet als „cartesianisches Subjekt“ (BG 15) – habe ältere Formen des präsentischen Weltzugangs eingebüßt zugunsten einer sinnvermittelten und distanziert-selbstreflexiven Haltung zu den Dingen. Das cartesianische Subjekt leide demnach an einem Mangel an Präsenz, der den Verlust von „Situationen des ‚Erlebens‘“ (BG 46) sowie von Gefühlen der Zugehörigkeit bedinge. Die Zäsuren, die die Prozesse der ‚Abkehr‘ erzählbar machen, liegen demnach für Gumbrecht in der Frühen Neuzeit sowie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in dem die Epoche des historischen Denkens seit der Sattelzeit von einer neuen Zeitkonfiguration abgelöst worden sei, „für die wir noch keinen Namen haben“ (BG 14). Die Erschöpfungssemantik, mit der der Text dieses neue Zeitempfinden darstellbar macht, bedient die bereits ausgeführten Topoi der Überfülle des Vergangenen, des Fehlens von Energie, gleichgesetzt mit dem Fehlen von Handlungsmacht sowie der unübersehbaren, lähmenden Menge an widersprüchlichen Tendenzen, die der Mensch der Gegenwart nicht zu bewältigen vermag: Die „subdepressive Stimmung der Stagnation“ (BG  68) führt der Text auf eine „Überschwemmung der Gegenwart mit Vergangenheit“ (BG 67) zurück, wodurch den ZeitgenossInnen ihr „historisch spezifischer Rahmen abhandengekommen“ (BG  71) sei; „ineffiziente Zirkularität“ (BG  133) werde 55  56 

Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? München 2013, S. 13. Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. 2. Aufl. Berlin 2015, S. 49. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle BG und Seitenzahl nachgewiesen.

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bedingt durch die gegenwartsspezifische „Form der Oszillation“ (BG  132) zwischen distanziertem (cartesianischem) Weltzugang und Kompensationsbestrebungen der Präsenz. Die zunehmende Komplexität der globalisierten Welt lasse klare Konturen und vormals deutliche Interaktionsmuster verschwimmen (vgl. BG 55), führe eine „ruhelose, intransitive Bewegung“ (BG, 60) herbei und tilge sukzessive das Wissen, „wohin wir fortschreiten sollen“ (BG 67). Wie an der Wortwahl deutlich wird, operiert die Diagnose der erschöpften Zeit mit ähnlichen Figuren der Bewegung bzw. Bewegungslosigkeit, die auch schon bei Görres und Nietzsche den Zustand der jeweils eigenen Zeit im Kontext der Geschichte verdeutlichen sollten. Die Textverfahren zeigen Zeit immer dann als ‚erschöpft‘, wenn die Relationsbestimmung des Fortschritts ihre temporale Komponente einbüßt. Die Metapher des Fortschreitens impliziert dabei eine räumliche, eine physische und eine zeitliche Komponente.57 Zeitund Erschöpfungssemantik treten in den ausgewählten Zeitdiagnosen immer dann in ein Näheverhältnis, wenn sprachlich auf die physische und räumliche Komponente in Dominanz über die zeitliche referiert wird. Die Zeit erhält dann den Status des Krankhaften, sie erhält eine Physis, die diagnostizierbar ist, und eine räumliche Ausdehnung, die durch die Gegenwartsbeschreibung umrissen werden soll. Erschöpfungssemantik greift hierbei als Naturalisierungsstrategie, weil sie der Zeit eine anormale (weil atemporale) Konstitution beimisst und ihren Zustand dadurch erklärbar macht. Gumbrecht verortet seine Zeitdiagnose nun entschieden außerhalb des historischen Denkens, in einer diesem nachkommenden Phase: Heute freilich gibt es Gründe für die Vermutung, daß der Chronotop des Fortschritts vor Jahrzehnten schon implodiert sein könnte, so sehr wir ihn auch in den Diskursen unserer Selbstverständigung fortschreiben. […] Hinter der implodierten Prämisse des Historismus, so glaube ich, hat sich auch die historische Topik der menschlichen Bewegung durch die Zeit zu einer anderen Topik von zeitlicher Statik und Simultaneität verschoben. (BG 66)

Dieser Gedanke Gumbrechts zeigt, dass die Legitimationsstrategie der Gegenwart als Phase, die anders ist als die vorherige, einem modernen Narrativ verhaftet bleibt. Gumbrecht reflektiert hier sehr wohl, dass auch seine Gegenwart die Fortschrittstopoi „zur Selbstverständigung“ fortschreibt; in seiner Schlussfolgerung, mit „Statik und Simultaneität“ sei eine ‚andere Topik‘ angebrochen, vollzieht er jedoch einen performativen Widerspruch. Denn gerade die Topoi des Statischen und Stagnierenden finden sich auch innerhalb des historischen 57 

Vgl. Koselleck: Fortschritt, S. 351.

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Denkens verortet in Form eines Analyseinstrumentariums einer als krisenhaft erlebten Gegenwart und damit als kontrapunktisches Narrativ zum modernen Fortschrittsparadigma. Das Narrativ der Stagnation setzt als Gegennarrativ zu dem des Fortschritts letzteres voraus, anstatt es abzulösen. Mark Fishers Einsatz, in Referenz auf Frederic Jamesons Konzept des ‚nostalgia mode‘ eine Differenzierung zwischen moderner und postmoderner Nostalgie einzuziehen, greift daher nicht: Das Unterscheidungsmerkmal ist nach Fisher darin auszumachen, dass die moderne Nostalgie sich auf eine konkrete historische Epoche bezieht, während die postmoderne – ahistorisch – nach einer Form für den Ausdruck des Verlorenen sucht.58 Unter der Perspektive auf Erschöpfungserzählungen erscheinen jedoch all diese diskursivierten Ursprungszustände als diffuse Differenzpunkte, deren narrative Funktion es ist, der Gegenwart eine Form zu geben. Das ‚Vorher‘ der jetzigen Erschöpfung wird in all diesen Erzählungen nicht konkret-temporär verortet, sondern dient – narratologisch gewendet – als Struktur der Ordnung unterschiedlicher Zeitphasen, in der die Ermüdungserfahrung der jetzigen legitimiert werden kann.59 Die Semantiken der ‚historischen‘ und ‚statisch-simultanen‘ Zeit bewegen sich zumindest in ihrer Konfigurierung von Zeitnarrationen als Erschöpfungsnarrationen im selben erzählerischen Paradigma; die Grenze der Differenz von einem ‚Vorher‘ verschiebt sich lediglich nach vorn, sodass den narrativen Ausgangspunkt für Gumbrecht nun das historische Denken der Moderne markiert. Die Überschneidungen der drei Texte sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie historisch bedingte semantische und funktionale Unterschiede aufweisen. So wird die physische Codierung von Zeit in den jeweiligen Zeitdiagnosen unter Rückgriff auf verschiedene Topoi der Kraft umgesetzt, die mal als magnetische oder energetische, mal als plastische, mal phänomenologisch inspiriert als Erfahrungsintensität zum Ausdruck kommt. Auch die rhetorische Emphase, mit der alle drei Texte ihr Narrativ entfalten, zielt mit unterschiedlichen Erkenntnissen auf unterschiedliche Einsatzpunkte: Bei Görres auf den systemischen Zusammenhang des geschichtlichen Zeitverlaufs, bei Nietzsche auf die Überwindungsstrategien der Gesundheitslehre, bei Gumbrecht auf die Kompensationsquelle der Präsenz. Entsprechend ändern sich auch die 58  59 

Vgl. Mark Fisher: Ghosts of my Life. Writings on Depression, Hauntology, and lost Futures. Winchester 2014, S. 13. Siehe dazu Stöckmann: Erkenntnislogik und Narrativik der Moderne, S.  230, der in einer Spitze gegen die Dekonstruktion deren Veruneigentlichung moderner Ursprungserfahrung „solange unproduktiv“ nennt, „wie sie ihre Analysen nicht auf die kulturelle, und d.h. eben narrative Funktionsweise des Moderneschemas richtet.“ Diese narrative Funktionsweise ist laut Stöckmann „allemal wirkungsmächtiger als die Dekonstruktion ontologischer Fundamente, an die ohnehin niemand glaubt.“ (Ebd.).

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Verfahren der Selbstautorisierung des jeweiligen Diagnostikers, die vom Primat der Deutung über das der Intervention bis hin zu dem der Inszenierung reichen.60 Das Genre der Zeitdiagnostik erweist sich daher als produktiver Zugriff nicht nur auf die Funktion eines Erschöpfungsnarrativs, das die pathologisierte Gegenwart in Abgrenzung vom gesunden ‚Vorher‘ zur Darstellung bringt. Der Zugriff macht weiterhin Verweiszusammenhänge innerhalb des modernen Erzählparadigmas sichtbar, indem er die metonymische und narrative Verfasstheit von ‚Zeit‘ fokussiert. Darüber hinaus exponiert die Zeitdiagnostik aufgrund ihrer etymologischen Verwandtschaft mit dem medizinischen Kontext Funktionsstellen wie die des diagnostizierenden Subjekts, die weitere Überlegungen anregen können.

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Die Selbstinszenierung Gumbrechts als unzeitgemäßer Intellektueller ist beachtenswert und verdiente eine eigene Untersuchung. So dient ihm die ‚breite Gegenwart‘ auch dazu, seine Veröffentlichungen als Werk zu konstituieren, über anekdotisches Erzählen Näheverhältnisse auszuloten und so der cartesianischen Weltdistanz performativ entgegenzuwirken. Die Zeitdiagnose dient ihm zudem zur Autorisierung seines Blickpunkts durch wiederholten Verweis auf sein fortgeschrittenes Alter, das ihn das historische wie das neue Denken (er-)kennen lässt.

ERSCHÖPFUNG, KAPITAL UND ARBEIT

Jan C. Watzlawik

Dinge, die ausbrennen

Über Materialermüdung und Sachschaden Es brennt! Ab-, an-, ausbrennen – wir befinden uns noch immer bei A im Alphabet – ist oftmals negativ konnotiert. Diesen Eindruck vermittelt etwa ein Blick in Grimms Deutsches Wörterbuch. Unter dem entsprechenden Lemma brennt so einiges aus: das Licht und der Lichtfunke, das Feuer und die Pfeife, das Haus und das Haus Gottes, die Bibliothek und der Palast, der Hof und die Städte, der Staat Ai und die Stadt Gibeon, die Seen, die Liebe, das Herz und nicht zuletzt das verglaste Krankenauge.1 Zumeist handelt es sich hierbei um immobile und mobile Phänomene materieller Kultur. Als Hinweis auf die gegenwärtige Vielfalt und Bandbreite solch brennender Dinge lässt sich die Kontrastierung des Sängers Faber in seinem gleichnamigen Lied anbringen – „In Paris brennen Autos und in Zürich mein Kamin“.2 Damit äußert er, was sich einige vielleicht schon dachten: Einerseits gibt es Sachen, die originär dafür produziert wurden, um zu brennen oder dass in ihnen etwas brennt. Dazu gehören etwa Wachskerzen, Gasöfen oder Verbrennungsmotoren. Denn Licht, Wärme sowie Bewegung konturieren soziale Gemeinschaften. Die modernen Gesellschaften entwickelten dahingehend eine Vielzahl an Inventionen und Innovationen des Ausbrennens als basalem Bestandteil ihrer Existenz. Andererseits gibt es kulturell bedeutsame Dinge, die eigentlich nicht brennen sollten, es aber gelegentlich tun. Auch in solchen Fällen, so die These dieses Beitrags, kann sich die pyrische Destruktion als eine der Treibkräfte moderner Gesellschaften entpuppen. Damit offenbart sich das Ausbrennen nicht nur als eine ‚Gegengeschichte der Moderne‘,3 sondern zugleich als eine ihrer großen Erzählungen.

1  Vgl. Art. Ausbrennen. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig  1854-1961, Bd. 1, Sp. 837f. 2  Faber: In Paris brennen Autos. In: Ders.: Sei ein Faber im Wind. Universal Music Group 2017. 3  Vgl. hierzu den einleitenden Beitrag zu diesem Band von Julian Osthues und Jan Gerstner.

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Basis dieser Überlegungen bilden einander bedingende Gegenstände und Widerstände.4 Etymologisch sind diese Begriffe verwandt und wurden im 16. Jahrhundert noch synonym verwendet.5 So geht es im Folgenden um Analysen materieller Kultur und deren gegenständliche Widerständigkeit. Einerseits werden Dinge widerständig gegen andere Dinge, Menschen oder Sachverhalte genutzt („In Paris brennen Autos“). Anderseits können Gegenstände ein kontrastives Verhältnis von kulturellem Objekt und sozialem Subjekt markieren, das einen Anstoß zur Analyse geben kann („in Zürich mein Kamin“). Diese künden dabei von soziokulturellen Aspekten der Identitätskonstruktion sowie der Kollektivitätskonstituierung. Auf diesem weiten Feld gilt, was Juli Zeh die Protagonistin Ada in ihrem Roman Spieltrieb sagen lässt: „Ein Gegenstand erwächst aus der Vereinigung von Gegenwehr und Widerstand. Sie sollten vorsichtig sein.“6 Hierzu gehören auch Dinge, die ausbrennen. Skizziert wird dies in zwei dinganalytischen Forschungsminiaturen: Erstens zur Glühlampe im Kontext von Materialermüdung und zweitens zum Automobil im Kontext von Sachschaden. Der Schluss reflektiert das sich hier zeigende Zusammenkommen von Konsum sowie Kritik und stellt am Beispiel des Ausbrennens die produktiven Energien dekonstruktiven Konsums zur Diskussion. Zur Sache: Die Glühlampe Kerze, Gaslaterne und Glühlampe – am Ende dieser scheinbar positivistischen Reihung steht ein Produkt, das nicht mehr brennt, sondern eben glüht. Basis dieser Invention ist die Durchsetzung der Elektrizität. Tristan Garcia konstatiert: „Die Moderne ist die Domestikation des elektrischen Stroms“7 und Wolfgang Schivelbusch hält fest, dass „der elektrische Strom als das Medium und die Energie der Moderne schlechthin“8 gesehen werden muss. Der Historiker führt dahingehend an anderer Stelle weiter aus:

4  Vgl. Jan C. Watzlawik: Gegenstände. Zur materiellen Kultur des Protests. Berlin 2018, S. 72. 5  Vgl. Art. Gegenstand. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Elmar Seebold. 24. Aufl. Berlin, New York 2002, S. 338. 6  Juli Zeh: Spieltrieb. Frankfurt a.M. 2006, S. 545. 7  Tristan Garcia: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Berlin 2017, S. 33. 8  Wolfgang Schivelbusch: Energie der Moderne. In: Der Spiegel, H.  17 (1999), S.  116-128, hier S. 116.

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Die Elektrizität war nicht nur nicht gesundheitsschädlich oder gar lebensgefährlich, sondern sie wurde im Gegenteil als ausgesprochen heilsam, fast als eine Art Vitamin betrachtet. Für das Jahrhundert von Hermann von Helmholtz waren Elektrizität, Energie und Leben Synonyme. Die Elektrizität wurde als ein Mittel betrachtet und angewandt, erschöpfte Energien wiederherzustellen.9

Die neuartige Energie erweist sich dabei als Mittel der Moderne gegen die materielle, maschinelle und menschliche Ermüdung. „Es werde Licht!“10 – so beginnt nicht nur die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte, sondern auch die durch Säkularisation geprägte frühe Moderne der Aufklärung. Das Enlightenment ist nicht nur charakterisiert durch Erleuchtung, sondern auch durch Beleuchtung. Dabei folgte auf Wachsund Gasbeleuchtung eine durchbrechende Erfindung. Diese beruht auf einem Faden, der im Vakuum eines Glasbehälters von Strom zum Glühen gebracht wird. Das klassische, elektrische Glühlicht des 19. Jahrhunderts funktioniert auf ausgeklügelte Art und Weise, indem als Quelle des Lichts ein Kohlenfaden dient, der durch einen hindurchfließenden elektrischen Strom infolge von dessen Wärmewirkung weißglühend wird und den man zum Schutze gegen Verbrennen, das sonst infolge des Sauerstoffgehalts der Luft sofort stattfinden würde, in ein möglichst luftleeres, meist birnförmiges Glasgefäß einschmilzt.11

Dieser lexikalische Eintrag, noch aus der frühen Phase der Glühlampe, verdeutlicht die Gleichzeitigkeit von Einfachheit und Komplexität der Konstruktion. Die umgangssprachlich „Glühbirne“ genannte Innovation avancierte schnell zu einem der Symbole modernen Fortschritts und Glaubens. Anschaulich vermittelt dies die Werbepostkarte der Firma Osram mit einer Grafik von Hermann Frenz, die die Aufschrift „Die Verehrung der Sonne ‚OSRAM‘“ trägt (Abb. 4.1).12

9  10  11  12 

Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2004, S. 74. 1. Mose 1,3. Art. Glühlicht. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon.  14. Aufl. Leipzig, Berlin, Wien  1894, Bd. 8, S. 91-92, hier S. 91. Vgl. „Hier wirkt Elektrizität“. Werbung für Strom  1890 bis 2010. Ausstellungskatalog Umspannwerk Recklinghausen – Museum Strom und Leben 14. März bis 5. September  2010. Hg. v. Theo Horstmann / Regina Weber. Essen 2010, S. 34.

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Abb. 4.1

Osram [Herm[ann] Frenz]: Glühender Glaube. Postkarte, Deutschland um 1911. Umspannwerk Recklinghausen – Museum Strom und Leben.

Verbildlichte Vergötterung des elektrischen Lichts mit diversen ikonografischen Verweisen sind schon vor der Jahrhundertwende zu finden. Dahingehend bemerkt der Europäische Ethnologe Rolf Lindner: Freilich ist gerade in den 1880/90er Jahren eine bemerkenswerte Ungleichzeitigkeit zwischen der sprunghaften technologischen Entwicklung und ihrer ikonografischen (Re-)Präsentation festzustellen. Allenthalben wird die sachlichste aller Industrien, die elektrotechnische Industrie, durch mythologische Anleihen aus der antiken Götterwelt und durch allegorische Figuren repräsentiert – Ausdruck einer kulturellen Verzögerung, bei der die weiterhin vorindustrielle Ästhetik der technologischen Entwicklung hinterherhinkt. Besonders augenfällig wird dies an dem von Louis Schmidt 1888 für die Allgemeine ElectricitätsGesellschaft gestalteten Werbeplakat mit der „Göttin des Lichts“, die mit Glühbirne in der Hand auf einem geflügelten Rad als Symbol des technischen Fortschritts über der Weltkugel thront.13

Was unter anderem so revolutionär an dieser Erfindung war, verdeutlicht das sogenannte Gelbe Flugblatt der Geschäftsstelle für Elektrizitätsverwertung (Gefelek) aus dem Jahre  1913: „nur bei gefahrlosen elektr. Licht können Sie 13 

Rolf Lindner: Berlin, absolute Stadt. Eine kleine Anthropologie der großen Stadt. Berlin 2016, S. 60.

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Ihre Kinder unbesorgt ohne Aufsicht in der Wohnung zurück lassen, wenn Sie Besorgungen zu machen haben.“ Und weiter wird geworben: „Das bedeutet für jede Hausfrau eine grosse Erleichterung. Dabei ist das elektrische Licht sogar nur halb so teuer, wie Petroleumbeleuchtung.“14 Diese technische Erfindung geht einher mit einem einschneidenden kulturellen und ökonomischen Wandel. Schivelbusch führt dahingehend aus: „Die Transformation des liberalen Konkurrenz- in den korporativen Monopolkapitalismus besiegelt ökonomisch, was die Elektrifizierung technisch vorweggenommen hat: das Ende des individuellen Unternehmertums bzw. der autarken Energieversorgung.“15 Mit der Zeit entwickelten sich aber auch neue wirtschaftliche und politische Gesellschaftsformen, wie lokale Zentralversorger und Genossenschaften. Elektrizität und Glühlampe setzen sich dabei systemunabhängig als vermeintliche Heilsbringer durch: im Kapitalismus ebenso wie im Sozialismus. Wladimir Iljitsch Lenin beschreibt Idee und Wirkung elektrischen Lichts für die Sowjetunion in einem beachtenswerten Bericht: Kürzlich bot sich mir Gelegenheit, in einer entlegenen Gegend des Moskauer Gouvernements, im Kreis Wolokolamsk, einem Bauernfest beizuwohnen. Dort hatten die Bauern elektrische Beleuchtung erhalten. Es wurde eine Kundgebung im Freien veranstaltet, und ein Bauer trat auf und hielt eine Rede, in der er dieses neue Ereignis im Leben der Bauern begrüßte. Er sagte: Wir Bauern leben in Finsternis, und nun ist bei uns ein Licht aufgegangen, ein „unnatürliches Licht, das unsere bäuerliche Finsternis erhellen wird“. Ich wunderte mich nicht über diese Worte. Gewiß, für die parteilose Bauernmasse ist das elektrische Licht ein „unnatürliches“ Licht, für uns aber ist es unnatürlich, daß die Bauern und Arbeiter jahrhunderte-, jahrtausendelang in solcher Finsternis, in Elend, in Unterdrückung durch die Gutsbesitzer und Kapitalisten leben konnten.16

Folgerichtig kommt Lenin kurze Zeit später zu der einfachen Formel für einen wirtschaftlichen und politischen Aufbauplan: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“17 und sorgt für die massenhafte und landesweite Verbreitung von Glühbirnen. Zeugnis dessen ist das Bild des sowjetischen 14  15  16 

17 

Gefelek: Gelbes Flugblatt, 1913. Umspannwerk Recklinghausen – Museum Strom und Leben; vgl. „Hier wirkt Elektrizität“, S. 39. Schivelbusch: Lichtblicke, S. 76f. Wladimir Iljitsch Lenin: Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare (22. Dezember). In: Ders.: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1972, Bd. 31, S. 483-515, hier S. 514; vgl. Boris Galin: In Gewitter und Sturm. In: Das Glühbirnenbuch. Hg. v. Peter Berz / Helmut Höge / Markus Krajewski. Wien 2011, S. 447-484, hier S. 447. Wladimir Iljitsch Lenin: Unsere aussen- und innenpolitische Lage und die Aufgaben der Partei (Rede auf der Moskauer Gouverneurskonferenz der KPR(B), 21. November 1920). In: Ders.: Werke, Bd. 31, S. 402-422, hier S. 414; vgl. Galin: In Gewitter und Sturm, S. 475.

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Fotografen Arkadi Samoilowitsch Schaichet „‚Die Iljitsch Birne‘, die nach Lenin benannte Glühbirne wird bei einem Bauern installiert“,18 das einen Bauern zeigt, der die Innovation in eine blanke Fassung an der Decke seines Hauses dreht und dabei von seiner Frau beobachtet wird (Abb. 4.2). Lenins Plan ins Bild übersetzte auch der Dichter Wladimir Wladimirowitsch Majakowski auf seinem ROSTA-Fenster Nr.  742. Dieses zeigt unter anderem Lampen sowie Birnen und propagiert „Möge dieses Feuer Russland beleuchten!“19

Abb. 4.2 Arkadi Samoilowitsch Schaichet: Bauern mit Birne. Fotografie (Silbergelatineabzug), Sowjetunion 1925. Museum Ludwig, Köln.

Und auch im China nach der Revolution wurde die Glühbirne schnell zu einem Symbol derselben. So stellt Helmut Höge, einer der eifrigsten GlühlampenForscher, mit Verweis auf einen Vortrag von Alfred Sohn-Rethel fest: „Es gibt kaum ein Plakat oder Bild von einer Familie, einer Parteiversammlung, eines Festes, auf dem keine Glühbirne leuchtet, sie ist geradezu ein Symbol des sozialistischen Fortschritts in China.“20 Diese leichte Übertreibung scheint dem wirkmächtigen Symbol Glühbirne gerecht zu werden. Doch wird der Fortschrittsglaube im Falle des Leuchtmittels immer wieder von Ernüchterung begleitet. Erich Fried, selbst mit der technischen Optimierung von Glühbirnen beschäftigt, hält eine ewigleuchtende Version für denkbar, aber für unerwünscht: „Leider nicht mal im Sozialismus“.21 So 18  19 

20  21 

Arkadi Samoilowitsch Schaichet: Fotografie (Silbergelatineabzug), 1925. Museum Ludwig, Köln, Inv.-Nr. ML/F 2008/0010. Wladimir Wladimirowitsch Majakowski: ROSTA-Fenster Nr.  742 (Farblithographie), 1920. Sammlung Ne Boltai, Prag; vgl. Silver Age. Russische Kunst in Wien um 1900. Ausstellungskatalog Unteres Belvedere, Wien. Hg. v. Agnes Husslein-Arco / Alfred Weidinger. Wien 2014, S. 258. Helmut Höge: Interview mit einem Verbesserer. In: Das Glühbirnenbuch, S. 297-314, hier S. 304. Helmut Höge: Eckdaten einer bestimmten Glühbirnensforschung. In: DIE ZEIT, 20.11.1992 (https://www.zeit.de/1992/48/eckdaten-einer-bestimmten-gluehbirnensforschung/ seite-5, zuletzt geprüft am 23.4.2019).

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steht die Glühbirne wie nur wenige andere Dinge für geplante Obsoleszenz, also menschengemachte Materialermüdung. Dieser Begriff und Prozess wurde durch Bernard London bereits Anfang der 1930er Jahren geprägt und durch Vance Packard seit den frühen 1960er Jahren popularisiert.22 Literarische Bearbeitung fand das Thema in Thomas Pynchons Roman Gravity’s Rainbow von 1973.23 Hier kämpft Byron the Bulb, eine Glühbirne mit überdurchschnittlich langer Lebensdauer, gegen das Phoebuskartell, das die Lebensdauer von Glühlampen auf 1.000 Stunden festgelegt hat und gegen länger brennende Exemplare vorgeht. Vorbild für Byron war die heute noch immer glühende Lampe der Feuerwache in Livermore/Kalifornien, welche seit 1901 leuchtet und unter dem Namen Centennial Bulb Bekanntheit erlangte.24 Vorbild für das Phoebuskartell war – das Phoebuskartell, ein Zusammenschluss internationaler Glühbirnenproduzenten, die von 1924 bis 1939 die Brenndauer ihrer Produkte limitierten. Hierzu gehörten unter anderem Osram, International General Electric, Philips und Tungsram. Auch nach seiner Auflösung verstand es die Wirtschaft immer wieder, auf Neuentwicklungen einzuwirken. So hatte etwa die 150.000 Stunden brennende „Langlebensdauerglühlampe“ von Dieter Binninger keine Chance, sich durchzusetzen.25 Die europäische Energiepolitik tat ihr übriges: Die sukzessive Angleichung der Stromspannung von 220 auf 230 Volt führte seit 1987 zu einer Herabsetzung der Brenndauer von 1.000 auf 700 Stunden.26 Und das letzte Kapitel der klassischen Glühlampe wurde 2009 durch die EU-Verordnung zu Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung von Haushaltslampen27 beschlossen und bis 2012 durchgeführt. Die ökologisch begründete Maßnahme – die großen Leuchtmittelhersteller arbeiteten 22  23 

24  25  26  27 

Vgl. Bernard London: Ending the Depression Through Planned Obsolescence. New York  1932; Vance Packard: The Waste Makers. New York  1960 (deutsch: Die große Verschwendung. Düsseldorf 1961). Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow. New York  1973 (deutsch: Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981). Vgl. Markus Krajewski: Im Schlagschatten des Kartells. Anmerkungen zu Byron der Birne. In: Thomas Pynchon. Archiv – Verschwörung – Geschichte. Hg. v. Bernhard Siegert / dems. Weimar 2003, S. 73-107. Vgl. http://www.centennialbulb.org, zuletzt geprüft am 14.3.2019. Vgl. Helmut Höge: Interview mit einem neuerlichen Glühbirnenerfinder. In: Das Glühbirnenbuch, S. 315-328, hier S. 316f. Vgl. Helmut Höge: Sollbruchstellen. Über „höhere Gewalt“ und die „Lebensdauer“ unbeseelter Objekte. In: Das Glühbirnenbuch, S. 405-427, hier S. 406. VERORDNUNG (EG) Nr.  244/2009 DER KOMMISSION vom 18. März 2009 zur Durchführung der Richtlinie  2005/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung von Haushaltslampen mit ungebündeltem Licht (Text von Bedeutung für den EWR). In: Amtsblatt der Europäischen Union L76 vom 24.3.2009 [DE], S. 3-16 (http://data.europa. eu/eli/reg/2009/244/oj, zuletzt geprüft am 14.3.2019).

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hier scheinbar auch mit Greenpeace zusammen28 – stieß auf zahlreiche Proteste, nicht nur wegen des Quecksilbergehalts der nun zu nutzenden Energiesparlampen, sondern auch wegen der damit verbundenen Teuerung der Leuchtmittel. Das reale und metaphorische Ausbrennen der Glühbirne widerspricht damit scheinbar dem positivistischen Fortschrittsglauben der Moderne. Zugleich führt die geplante Obsoleszenz aber auch zu einer anhaltenden Erneuerung. Die moderne Grundhaltung der Moden, der ewige Wechsel und die konsumzentrierte Kultur des Neuen führen zu einem Systemerhalt und somit wiederum zu einem Fortschreiten von Gesellschaft. Zur Sache: Das Automobil Dampf, Benzin, Elektrizität – seit dem 18. Jahrhundert entwickelt sich mit neuartigen Fahrzeugantrieben die gesellschaftsprägendste Invention moderner Mobilität. An deren nicht erkennbarem Ende steht das noch heute gebräuchliche Automobil. Henri Lefèbvre sieht in ihm das „Leitobjekt in der ‚Welt der Objekte‘“.29 Dieses Objekt ist Instrument individueller und gemeinschaftlicher Beweglichkeit. Die soziale Technik geht dabei scheinbar eine Synthese mit dem kulturellen Körper ein. „Auto-Mobilität garantiert Integration und Partizipation in der modernen Gesellschaft, und zwar eine Integration, die auf Technik basiert“, konstatiert der Sozialwissenschaftler Klaus Kuhm und fährt fort: Den Protagonisten der Automobilisierung freilich war der technische Charakter des Automobils wohlbewußt. Sie ließen keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, daß die Reise des Automobils in ein technisches Zeitalter hineinführen mußte, aus dem es kein Zurück mehr würde geben können.30

Eben dies führt von Anbeginn der Motorisierung zu einem Technikskeptizismus, der sich divers äußert. Der Historiker Uwe Fraunholz arbeitet in seiner lesenswerten Untersuchung Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik ein beachtliches Protestrepertoire gegen das Automobil und seine Fahrer heraus: Bedrohung des Fahrers; Gewalt durch 28  29  30 

Vgl. Moritz Gieselmann: Bulb Fiction. Geschichten rund um das Ende der Glühlampe und wie daraus ein Film wurde. In: Das Glühbirnenbuch, S. 7-45, hier S. 15, 43. Henri Lefèbvre: Metaphilosophie – Prolegomena. Frankfurt a.M. 1975, S. 12. Klaus Kuhm: Moderne und Asphalt. Die Automobilisierung als Prozeß technologischer Integration und sozialer Vernetzung. Pfaffenweiler 1997, S. 4.

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Steinwürfe und Bespritzen, etwa mit Jauche; Blockaden durch Barrikaden, Bäume, Nägel, Drahtseile sowie Glasscherben; Vor-das-Auto-Springen; Verprügeln, Peitschenhiebe und Beschießen von Autofahrern; Sachbeschädigungen wie Zerstörung von Verkehrsschildern und das Beschädigen parkender oder fahrender Kfz. Zu diesen Sachbeschädigungen zählen auch solche durch Feuer.31 Als Beispiel bringt er hier die Ausfahrt eines rheinländischen Fabrikanten im Jahr 1913 an, dessen Fahrzeug samt Insassen von alkoholisierten Fabrikarbeitern mit Fackeln angegangen wurde, sodass das Fahrzeug ausbrannte.32 Hierbei handelt es sich nicht nur um klassenkämpferisches Gebaren: In diesen Kontroversen über die Motorisierung wird die Ambivalenz des Modernisierungsprozesses deutlich, da die Innovation nicht nur zu einer Erweiterung gesellschaftlicher und persönlicher Möglichkeiten führte. Die neue Technik ließ in einer Phase, in der sie nur wenigen zur Verfügung stand, auch zahlreiche Modernisierungsgeschädigte zurück, die gegen die Beschneidung ihrer eigenen Möglichkeiten revoltierten.33

Solche Übersprunghandlungen als Bewältigungsstrategien in der Anfangszeit des Automobilismus lassen sich durch die Konfrontation mit dem unbekannten Neuen begründen. Jedoch bleibt das Anzünden von Fahrzeugen keine auf diese Zeit limitierte Praxis, sondern findet spätestens ab Ende der 1960er Jahre dauerhaften Einzug ins Protestrepertoire. Dieses Vorgehen lässt sich 1968 in verschiedenen Ländern beobachten, so beispielsweise in Frankreich34 und der Tschechoslowakei.35 Dieses Jahr ist nur eines unter vielen. Davor und danach finden sich ebenfalls brennende Autos bei Demonstrationen, doch stellt es hier einen „Kulminationspunkt […] revolutionärer und demonstrativer Protestereignisse“36 dar. Eine erste Hochphase serieller Brandstiftung in der Bundesrepublik wurde ebenfalls 1968 durch die Schüsse auf den SDS-Vorsitzenden Rudi Dutschke im April jenes Jahres initiiert. Der folgende Sturm auf den Springer-Verlag, dessen Zeitungen mitverantwortlich gemacht wurden, gipfelte im Umstoßen zahlreicher und Anzünden von sechs Lieferwagen. Bilder von diesem Ereignis fanden schnell mediale Verbreitung. So auch die des 31  32  33  34  35  36 

Vgl. Uwe Fraunholz: Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen 2002, S. 102-106. Vgl. ebd., S. 145-148. Ebd., S. 11. Vgl. u.a. Volkhard Brandes: Paris, Mai ’68. Plakate, Karikaturen und Fotos der Revolte. Frankfurt a.M. 2008, S. 33. Vgl. u.a. Václav Svoboda [Jindřich Marco]: Genosse Aggressor. Prag im August 1968. Wien, Frankfurt a.M., Zürich 1968, S. 26. Watzlawik: Gegenstände, S. 72.

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Kreuzberg-Chronisten Jürgen Henschel, dem Pressefotografen der Zeitung Die Wahrheit der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins,37 die eindrucksvoll das Geschehen dokumentieren. Wie sich erst später herausstellen sollte, konnte für die Eskalation eine Quelle ausgemacht werden. Wie unter anderem Stefan Aust in seinem Baader-Meinhof-Komplex darlegt, konnte einem V-Mann des Verfassungsschutzes nachgewiesen werden, dass er die Demonstrierenden mit Molotow-Cocktails versorgte und Techniken des Umkippens und Abbrennens von Kraftfahrzeugen vermittelte: „An diesem 11. April 1968 hatte der Verfassungsschutzagent Peter Urbach einen großen geflochtenen Weidenkorb dabei, vollgepackt mit zündfertigen Molotowcocktails. Er fand unter den Demonstranten bereitwillige Abnehmer für seine heiße Ware.“38 Mit dieser Aktion und den Bildern von der Aktion wurde wiederum mannigfaltig Politik betrieben: „Die Fotos der lodernden Lastwagen gingen als Beleg für die Gewalttätigkeit der Berliner Studenten durch die Zeitungen“ und Ulrike Meinhof erklärte einen Tag später auf einem Teach-in im Audimax der Technischen Universität: „Wirft man einen Stein, so ist das eine strafbare Handlung. Werden tausend Steine geworfen, ist das eine politische Aktion. Zündet man ein Auto an, ist das eine strafbare Handlung, werden Hunderte Autos angezündet, ist das eine politische Aktion.“39

Solche Aktionen richten sich in der Folge gegen diverse Institutionen und Personen. Vermehrt stehen dabei Dienstwagen der Polizei,40 des Militärs41 oder etwa der Deutschen Bahn42 im Fokus von Brandstiftungen. Meistens werden jedoch PKW von Privatleuten angezündet. Für großes Aufsehen sorgen etwa die Brandserien seit 2007 in Berlin, in denen hunderte Autos in 37 

38  39  40 

41  42 

Jürgen Henschel: Angezündete Lieferfahrzeuge vor dem Axel-Springer-Verlagshaus in der Kochstraße, 14. April  1968 (Kleinbildnegativ). FXHB Friedrichshain-Kreuzberg Museum. Henschel-Fotobestand; vgl. Jürgen Henschel: Der Fotograf der Wahrheit. Bilder aus Kreuzberg 1967-1988. Ausstellungskatalog Kreuzberg Museum. Berlin 2006, S. 34. Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. Neuausg. Hamburg 2017, S. 126. Ebd. Vgl. u.a. Franziska Höhnl / dpa: Unbekannte Brandstifter zerstören 15 fabrikneue Polizeifahrzeuge in Erfurter Autohaus. In: Leipziger Volkszeitung, 29.9.2013 (http://www.lvz. de/Region/Polizeiticker/Unbekannte-Brandstifter-zerstoeren-15-fabrikneue-Polizeifahr zeuge-in-Erfurter-Autohaus, zuletzt geprüft am 14.3.2019). Vgl. u.a. Florian Flade: Krieg gegen die Bundeswehr im eigenen Land. In: investigativ. de. Investigation und Reportage@welt, 4.8.2013 (https://investigativ.welt.de/2013/08/04/ krieg-gegen-die-bundeswehr-im-eigenen-land/, zuletzt geprüft am 14.3.2019). Vgl. dazu den Online-Beitrag beim MDR Sachsen vom 5.2.2019: Eine Million Euro Schaden nach jüngstem Anschlag auf Deutsche Bahn in Leipzig (https://www.mdr.de/sachsen/ leipzig/anschlaege-bahn-leipzig-ptaz-ermittelt-100.html, zuletzt geprüft am 14.3.2019).

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Flammen aufgingen. Die Website www.brennende-autos.de listet hier in einer „Chronologie der Brandanschläge“ allein bis zum 6. Oktober  2010 633 Fälle auf.43 In den Folgejahren vervielfachten sich diese Zahlen eher noch. Einige von ihnen werden mit Protestereignissen in Verbindung gebracht und oft der linken Szene oder einzelnen Aktivisten zugerechnet. Seitens der Politik wurde dies gerne aufgenommen und für den Wahlkampf instrumentalisiert. Zugleich hat Jörg Ziercke, damaliger Präsident des Bundeskriminalamts, geschätzt, dass nur etwa 20 bis 30% der Brandanschläge der linken Szene zuzurechnen sind. So geht ein guter Teil auf das Konto zweier Einzeltäter ohne politischen Hintergrund. Ziercke sieht oftmals „Chaoten, notorische Randalierer, Pyromanen, andere Trittbrettfahrer und vereinzelt auch Versicherungsbetrüger“44 am Werk. Die Hunderten von Autos, welche vor und während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg angezündet wurden, werden verständlicherweise mit diesem politischen Anlass in Verbindung gebracht. Doch auch hier schien nicht nur Politik, sondern ebenso Zerstörungswut oder Ohnmacht zum Anzünden zu führen. So wird zumindest erklärbar, warum nicht nur Behördenfahrzeuge oder Luxuskarossen betroffen waren, sondern ebenso Kleinwagen von unbeteiligten Anwohnern. Dieses Gebaren ist nicht nur Ausdruck der Diskussion um Gewalt gegen Sachen als legitimes Instrument des Protests, wie dies etwa schon für den Beginn des 20. Jahrhunderts von Fraunholz beschrieben wurde. Hier ging es nicht um eine Modernisierungsangst, sondern vielmehr auch um die utopische Hoffnung, den Gang der Dinge umkehren oder gar stoppen zu können. Slavoj Žižek sieht dabei historische Unterschiede zwischen den 1960ern und 2010ern, etwa bezüglich der Auseinandersetzungen „in französischen Vorstädten im Herbst 2005, als Tausende Autos brannten und es zu heftigen öffentlichen Gewaltausbrüchen kam.“45 Was bei diesen Protesten ins Auge fällt, ist das völlige Fehlen jeder positiven utopischen Aussicht unter den Protestierenden. Während die Proteste im Mai 1968 vorwiegend von Studenten und Arbeitern mit einer utopischen Vision angeführt wurden, handelte es sich bei den Aufständen in den Pariser Vorstädten von 2005 um Ausbrüche in ghettoisierten Einwanderergemeinschaften ohne jeden Anspruch auf eine gemeinsame Vision.46 43  44  45  46 

Vgl. http://www.brennende-autos.de, zuletzt geprüft am 14.3.2019. Brandanschläge. BKA-Chef hält Autozündler nicht für Terroristen. In: Spiegel online, 2.9.2011 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/brandanschlaege-bka-chef-haeltautozuendler-nicht-fuer-terroristen-a-784025.html, zuletzt geprüft am 14.3.2019). Slavoj Žižek: Der Mut der Hoffnungslosigkeit. Frankfurt a.M. 2018, S. 15. Ebd.

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Das Anzünden der Automobile kann als Zeichen von Überforderung gesehen werden und als Bewältigungsstrategie im Umgang mit dem Fremd-/ Neu-/Anders-Empfundenen. Diese wirkt nicht nur destruktiv, sondern auch systemerhaltend und konsumfördernd. So sollten 2017 in Hamburg seitens der Bundesregierung 40 Millionen Euro Kompensationszahlungen für nichtversicherte Betroffene zur Verfügung gestellt werden.47 Die Autoverkäufer mag es gefreut haben. Brennend in die Zukunft: Materielle Kultur und Konsum Die skizzierten Schlaglichter einer ausschnitthaften Dinggeschichte des Ausbrennens von Glühlampe und Automobil führen unweigerlich auf das Feld des Konsums. So soll ausleitend der Ort der Dinge in den Blick genommen werden, der in seiner Materialität selbst als Ding analysiert werden kann: das Warenhaus. Es gilt, wie die Konsum- und Dinganalytikerin Gudrun M. König herausarbeitet, „als Symbol für den Wechsel von einer produktions- zu einer konsumorientierten Gesellschaft“48 und ist „archetypischer Ort der Moderne“.49 Konsumkultur inkludiert auch immer ihre Kritik. Dazu gehört etwa destruktiver Protest. Nicht ganz ohne Grund lässt sich das lateinische consumere unter anderem als „(v. Feuer) verzehren, (durch Feuer) vernichten, zerstören“ übersetzen.50 Nachdem am 22. Mai 1967 das Brüsseler Kaufhaus À l’innovation abbrannte und 251 Personen starben, ging man aufgrund einer dort gezeigten amerikanischen Konsumgüterausstellung zunächst von politischer Brandstiftung aus. Die Kommune 1 kommentierte den Vorfall zwei Tage später in ihrem Flugblatt Nr.  7 mit dem Titel Warum brennst du, Konsument?: „Ein 47 

48 

49  50 

Vgl. G20 in Hamburg. Opfer von Ausschreitungen sollen bis zu 40 Millionen Euro erhalten. In: Spiegel online, 19.7.2017 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/g20-krawalle40-millionen-euro-entschaedigung-fuer-opfer-der-ausschreitungen-a-1158789.html, zuletzt geprüft am 14.3.2019). Gudrun  M.  König: Konsumkultur um 1900. Wien, Köln, Weimar  2009, S.  92; vgl. Dies.: Zum Warenhausdiebstahl um 1900. Über juristische Definitionen, medizinische Interpretamente und die Geschlechterforschung. In: Geschlecht und materielle Kultur. Frauen-Sachen, Männer-Sachen, Sach-Kulturen. Hg. v. Gabriele Mentges / RuthE.  Mohrmann / Cornelia Foerster. Münster, München, Berlin  2000, S.  49-66, hier S.  51. König verweist hier auf Rudi Laermans: Learning to Consume. Early Department Stores and the Shaping of the Modern Consumer Culture (1860-1914). In: Theory, Culture & Society 10, H. 4 (1993), S. 79-102, hier S. 81. König: Konsumkultur, S. 101. Art. Consumo. In: Pons Wörterbuch für Schule und Studium Latein-Deutsch. Stuttgart 2007, S. 191.

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brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Grossstadt jenes knisternde Vietnamgefühl dabeizusein und mitzubrennen, das wir in Berlin bislang noch missen müssen.“51 Ganz in diesem Sinne wurde das darauffolgende Flugblatt Nr.  8 mit der Frage Wann brennen die Berliner Kaufhäuser? betitelt und mit der Parole beschlossen „burn, warehouse, burn!“52 Es sollte kein ganzes Jahr andauern, bis Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein ein solches Vorhaben am 3. April 1968 in die Tat umsetzten und die Frankfurter Kaufhäuser M. Schneider und Kaufhof an der Zeil tatsächlich in Brand setzten. Dies war die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion. Ulrike Meinhof – wenig später ebenfalls Mitglied der RAF – nahm dazu in der Zeitschrift konkret kritisch Stellung: Gegen Warenhausbrandstiftung im besonderen [sic] spricht, daß dieser Angriff auf die kapitalistische Konsumwelt […] eben diese Konsumwelt nicht aus den Angeln hebt, sie nicht einmal verletzt, das, was sie treibt, selbst treibt, denen, die daran verdienen, Verdienste ermöglicht. […] Denn denen, die an der Produktion und dem Verkauf der in den Warenhäusern massenhaft angebotenen Güter verdienen, kann möglicherweise und gelegentlich kein größerer Gefallen getan werden als die kostenlose Vernichtung dieser Güter. Den Schaden – sprich Profit – zahlt die Versicherung. […] So gesehen, ist Warenhausbrandstiftung keine antikapitalistische Aktion, [sondern] eher systemerhaltend, konterrevolutionär.53

Der Kommunarde Fritz Teufel sagt diesbezüglich: „Es ist immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben.“54 Was passiert aber, wenn beides eins wird, wenn der Betreiber zum Anzünder wird, wenn produzentengenerierte Obsoleszenz und konsumorientiertes Verbrennen zusammenkommen? Schon  2017 und nochmals 2018 geriet der angeschlagene Textilhandelskonzern H&M unter Beschuss. Es wurde bekannt, dass in Dänemark und Schweden jährlich tonnenweise Kleidungsstücke – wortwörtlich – verheizt, 51 

52  53  54 

„Warum brennst du, Konsument?“ – Flugblatt Nr. 7 der Kommune 1 (24. Mai 1967), 2. Aufl., Original, Archiv „APO und soziale Bewegungen“ im Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin, Ordner K1, l4-5-67; vgl. dazu: Silke Mende: „Warum brennst du, Konsument?“ – Flugblatt Nr. 7 der Kommune 1 (24. Mai 1967). In: historicum.net (https://www. historicum.net/purl/b7z145/, zuletzt geprüft am 14.3.2019). Vgl. ebd. Ulrike Marie Meinhof: Warenhausbrandstiftung. In: konkret, H. 14 (1968), S. 5. In ihrem Text geht Meinhof explizit auf Packard und den „eingebauten Verschleiß“ ein. Vgl. Detlef Siegfried: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 2006, S.  514; Silke Mende: „Warum brennst du, Konsument?“

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Jan C. Watzlawik

also in Energiekraftwerken verbrannt werden. Hierbei handelt es sich wohlgemerkt um ungetragene Kleidung, die den Konsumenten nie gesehen hat. Aus Materialermüdung und Sachschaden wird Materialvergeudung und Dachschaden. Eine derartige künstliche Verknappung von Mode war bisher eher eine Praktik des Luxusgütersegments. In der Fast Fashion, die auf schnelle Produktion und schnellen Absatz von Massen von Kleidungsstücken gründet, ist dies eher ungewöhnlich. Aber H&M sitzt, wie ein interner Bericht vermittelt, auf zig Tonnen unverkaufter Ware.55 Das Unternehmen selbst wiegelt ab, dass es sich hierbei um Kleidung handele, die nicht funktional sei, Wasserund Schimmelschäden während des Transports erlitten habe oder eine zu hohe und unzulässige Chemiebelastung aufweise. Kirsten Brodde, Textilexpertin von Greenpeace, kommentiert dies: „Das Geschäftsmodell von Fast Fashion […] hat offenbar seinen Zenit überschritten. […] Niemand animiert H&M dazu, mangelhafte Ware rund um die Welt zu schippern und dann hier in Rauch aufgehen zu lassen.“56 Da kommt die Frage auf, wozu überhaupt untragbare Kleidung produziert werden muss. Die beiden dinganalytischen Forschungsminiaturen zeigen, dass die Moderne ganz eigene, produktive Energien dekonstruktiven Dinghandelns entwickelte. Materialermüdung als Konsumanreiz und Sachbeschädigung als Bewältigungsstrategie begleiten und prägen dabei das Alltagsleben moderner Konsumgesellschaften. So auch H&Ms Selbstverbrennungen. In diesem Sinne betont der Modekonzern, dass diese Maßnahme Teil eines alternativen Energiekonzepts zur Einsparung fossiler Brennstoffe bei der Elektrizitätsgewinnung sei.57 Konsumwaren sollen erschöpfte Ressourcen ersetzen? Somit eröffnet sich noch ein ganz anderer Gegen- und Widerstandsbereich des Ausbrennens, der immer brennender wird: unser Umgang mit Rohstoffen, Umwelt und Klima. Doch das ist ein anderes Thema. Wie schrieb doch Juli Zeh: „Sie sollten vorsichtig sein“. 55 

56 

57 

Henryk Hielscher / Jacqueline Goebel / Mario Brück: H&M kämpft mit hohem Warenbestand. In: WirtschaftsWoche, 18./20.9.2018 (https://www.wiwo.de/unternehmen/ handel/kleidung-wird-vernichtet-hundm-kaempft-mit-hohem-warenbestand/23078440. html, zuletzt geprüft am 14.3.2019). Vgl. Henryk Hielscher: „Jedes Stück, das H&M verbrennt, ist eines zu viel“. In: WirtschaftsWoche, 18.9.2018 (https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/billigmodejedes-stueck-das-hundm-verbrennt-ist-eins-zu-viel/23082372.html, zuletzt geprüft am 14.3.2019). Vgl. Jesper Starn: A Power Plant Is Burning H&M Clothes Instead of Coal. In: Bloomberg Businessweek Magazin, 24.11.2017 (https://www.bloomberg.com/news/articles/ 2017-11-24/burning-h-m-rags-is-new-black-as-swedish-plant-ditches-coal, zuletzt geprüft am 14.3.2019).

Jörn Etzold

Steigerung und Erschöpfung

Zu Walter Benjamins Kapitalismus als Religion Das Gegenstück der Erschöpfungsgeschichten sind die Schöpfungsgeschichten. Oder, um gleich ins theologische Register zu wechseln: Es ist die Schöpfungsgeschichte. So verstanden, bekäme der Titel dieses Bandes eine eschatologische und planetarische Dimension: Was geschöpft wurde, erschöpft sich. Der Brunnen, aus dem geschöpft wird, ist ausgeschöpft. Die endlichen Ressourcen sind bald abgeschöpft. Dass die Ressourcen des je Einzelnen in einer durchökonomisierten Gegenwart immer wieder ausgeschöpft werden, ist offensichtlich, aber jeder Einzelne ist ersetzbar. Doch auch in einem planetarischen Sinne sind die Ressourcen endlich: jene des Bodens und jene unter Tage, die in der eigentlich sehr kurzen Epoche, die Gilbert Simondon das „Zeitalter der Thermodynamik“1 nennt – die aber wohl noch nicht vorüber ist –, ans Tageslicht befördert und verbrannt oder anderweitig genutzt werden. Es sind dies die fossilen Reste prähistorischer Meerestiere, Algen, Wälder und anderer Lebensformen, in Jahrmillionen zusammengepresst, Metalle, Mineralien: Ressourcen, die extrahiert werden können und extrahiert werden. Und wenn sich auch diese erschöpfen, dann geht es nicht mehr um die Befindlichkeit Einzelner, sondern um den Planeten oder (weil dem Planeten so etwas ja egal ist) um alle Menschen auf ihm. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Max Weber in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus plötzlich ins Register prophetischer Rede wechselt, wenn er von einem „Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung“ spricht, „der heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomischen Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“2 Und mit dem Verglühen spricht Weber auch gleich an, was aus der Extraktion und Verfeuerung des fossilen Brennstoffs folgt: die Erwärmung. So wird in den gegenwärtigen Diskussionen um die globale 1  Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte. Zürich 2011, S. 118. 2  Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders.: Die protestantische Ethik  I.  Eine  Aufsatzsammlung. Hg. v. Johannes Winckelmann. Gütersloh 2000, S. 27-277, hier S. 188.

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Überhitzung und um die Grenzen der Extraktion die planetarische Dimension der Erschöpfung allgemein spürbar. Was sich erschöpft, vor allem in den Augen der jungen Generationen – von denen doch erwartet wird, mit immer neuer Energie das Bestehende zu vitalisieren –, ist das Konzept der Zukunft selbst, nicht auf individueller, nicht auf sozialer oder politischer, sondern auf planetarischer Ebene. Die Zukunft ist dann nicht mehr jene, von der Karl Marx im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte sprach – jenes unerschöpfliche Reservoir, aus dem die „soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts“ ihre „Poesie […] schöpfen“3 sollte. Die Zukunft ist selbst von Erschöpfung gekennzeichnet: Hitzewellen, Trockenheit, ausgelaugte Böden, Verteilungskämpfe. Der verschuldende Kultus Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden, ausgehend von Walter Benjamins frühem Fragment Kapitalismus als Religion,4 einige Anmerkungen zu den Erschöpfungsgeschichten beitragen: Ich werde die Erschöpfung der Steigerung gegenüberstellen und dadurch vielleicht ermöglichen, das Verhältnis von Schöpfung und Erschöpfung auf besondere Weise in den Blick zu nehmen. Das Fragment, das ich hier abermals lesen möchte – eingedenk der wichtigen Lektüre von Werner Hamacher, der ich wohl gar nicht viel Neues hinzufügen kann –,5 entstand Mitte  1921 und es steht in einem Zusammenhang mit anderen Texten, die dem Verhältnis von Politik, Religion und dem Kapitalismus gewidmet sind und aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg stammen: mit dem Fragment Welt und Zeit von 1919,6 mit Schicksal und Charakter von 1919,7 der größeren Arbeit Zur Kritik der Gewalt von 1919/19208 und dem Theologisch-politischen Fragment,9 wahrscheinlich von 1920/21. Früher noch, schon 1916, entstand der Text Über Sprache überhaupt und über

3  Karl Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Ders. / Friedrich Engels: Werke. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1960, Bd. 8, S. 112-207, hier S. 117. 4  Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann / Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, Bd. VI, S. 100-103. 5  Werner Hamacher: Schuldgeschichte. Benjamins Skizze „Kapitalismus als Religion“. In: Kapitalismus als Religion. Hg. v. Dirk Baecker. Berlin 2003, S. 77-119. 6  Walter Benjamin: Welt und Zeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 98-100. 7  Walter Benjamin: Schicksal und Charakter. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 171-179. 8  Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: Ebd., S. 179-203. 9  Walter Benjamin: Theologisch-politisches Fragment. In: Ebd., S. 203f.

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die Sprache des Menschen.10 Angeregt durch Diskussionen mit dem Dadaisten Hugo Ball und mit Ernst Bloch versucht Benjamin in diesen Texten die Grundlegung einer Art apolitischer Theologie, die den Geltungsbereich des Politischen einschränkt, die es aber ebenso dem Theologischen untersagt, unmittelbar politisch zu werden. Der Schock des Ersten Weltkriegs war für die Formulierung dieser apolitischen Theologie sehr wichtig. Benjamin hat ihn später, Anfang der dreißiger Jahre, im Aufsatz Der Erzähler in die Worte gefasst: Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.11

Ein solches „Kraftfeld zerstörender Ströme“ ist auch im Fragment Kapitalismus als Religion wirksam. Und in Der Erzähler wie auch im Aufsatz Erfahrungsarmut von etwa 1933 (ediert als Erfahrung und Armut12) konstatiert Benjamin als Folge der traumatischen Erlebnisse auf den Schlachtfeldern einen Ausfall der Erfahrung: Was hier erlebt wurde, kann nicht mehr erzählt werden. Wie Freud bereits im 1920 erschienenen Text Jenseits des Lustprinzips betont, unterliegt das Trauma vielmehr dem Wiederholungszwang. Benjamin diagnostiziert die eigene historische Situation also als eine, in der Erfahrungen nicht mehr erworben und vermittelt werden können, sodass die Alten den Jungen nichts mehr über den gegenwärtigen Zustand der Welt erzählen können. Der Erste Weltkrieg aber brachte vielerorts eine Ernüchterung in Bezug auf eine Figur, die in den Jahren, die ihm vorausgingen, aber auch danach noch vielfach propagiert wurde. Es ist die – meist aus Nietzsche-Lektüren abgeleitete – Figur des ‚Neuen Menschen‘, wie sie von Filippo Tommaso Marinetti über Oskar Schlemmer bis zu Ernst Jünger durch die ineinander verflochtenen Diskurse von Kunst und Politik geisterte. Der Neue Mensch hat sich selbst neu geschaffen; er schafft sich auch seine Zukunft, mit eigener oder erworbener Energie; kennt er dann noch Erschöpfung? Ganz neu ist die Idee des Neuen Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings nicht, sie geht mindestens auf Paulus zurück, der im Brief an die Epheser schreibt: „Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. / Erneuert euch aber in 10  11  12 

Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ebd., S. 140-157. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ebd., S. 438-465, hier S. 439. Walter Benjamin: Erfahrung und Armut. In: Ebd., S. 213-219.

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eurem Geist und Sinn / und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“13 In der Zeit um den Ersten Weltkrieg bekam diese Idee eine neue Aktualität; und doch erschien sie in vielen Fällen weniger als eine Verheißung, sondern eher als eine Reaktion – auf eine Welt, die in diesen Jahren ein anderes Gesicht bekam. Die technische Entwicklung ging schneller voran, als die Menschen es verstehen konnten, große Städte wuchsen, die alten Gesellschaftsordnungen erodierten. Spekulation ließ große Vermögen in kürzester Zeit entstehen und wieder verschwinden. In der Verwendung des Wortes „Neuer Mensch“ klang zwar noch eine Hoffnung auf das Zukünftige an, doch viel häufiger konnte man aus den Texten eine drängende Notwendigkeit heraushören, die uns Heutigen recht vertraut ist: Um mit der technischen Entwicklung Schritt halten zu können, musste der Mensch sich erneuern. Gerade Marinettis futuristische Manifeste bespielen weniger die Register des Messianischen als vielmehr jene der schieren Notwendigkeit oder, wie man bis vor kurzem gesagt hätte: der Alternativlosigkeit. Der ursprünglich symbolistische Dichter Marinetti antwortete auf die Erfahrungen der Moderne mit einer Art von Überkompensation. Denn eines freilich lässt sich mit seinem Begriff des Neuen Menschen in keinem Fall verbinden: Es ist die Idee der Freiheit. Der Neue Mensch bekommt vielmehr zwanghafte Züge. Er muss sich immer wieder neu erschaffen, für eine, in Marinettis Worten, „passatistische“ Rast ist keine Zeit: „Die Ältesten von uns sind dreißig Jahre alt: trotzdem haben wir bereits Schätze verschleudert, tausend Schätze an Kraft, Liebe, Kühnheit, List und rauhem Willen; ungeduldig haben wir sie weggeworfen, in Hast, ohne zu zählen, ohne je zu zögern, ohne uns je auszuruhen, ohne Atem zu schöpfen  …“,14 heißt es im ersten Manifest des Futurismus. Erfahrungen helfen dem Neuen Menschen nicht, ihn treibt allein die Energie, die entsteht, wenn er seine Ressourcen verbrennt und dadurch irreversibel verwertet, „ohne Atem zu schöpfen“. Seine permanente Neuschöpfung aber ist zugleich und paradoxerweise in ihrem zwanghaften Charakter, allem Kampf gegen das Überlieferte zum Trotz, vorhersehbar, die ständige Wiederholung von Gesten der Auflösung und Neukombination. Ein solcher Druck zur unabsehbaren Steigerung aber ist für Walter Benjamin eben das Kennzeichen der „Religion“ Kapitalismus: Jene bezeichnet er als den Kultus einer ununterbrochenen und unumkehrbaren 13  14 

Epheser 4,22-24. Die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985. Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 75-80, hier S. 80.

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Steigerung, also als Form irreversibler, thermodynamischer Verausgabung von Energie. Doch fügt er eine besondere theologische Kennzeichnung hinzu: Es handelt sich bei dieser Steigerung um eine Steigerung von Schuld. Kapitalismus ist nicht nur ein energetisches, sondern – vor allem – ein quasi-religiöses Modell, das um das Konzept der Schuld und der Schulden organisiert ist. Das Fragment beginnt mit dem unvergesslichen Satz: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“15 Mit „Kapitalismus“ ist also nicht allein eine bestimmte Wirtschaftsordnung gemeint, sondern die gesamte Kultur der Moderne, die ihr eigene Art zu leben, zu denken, zu fühlen. Die „Sorgen, Qualen, Unruhen“, auf die der Kapitalismus antwortet, sind, so lässt sich vermuten, die Ängste, die mit der Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen in Verbindung stehen; mit der Kreatur, die sich nach Benjamin auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs mit ihrem gebrechlichen Körper allein fand, ohne Gott. Auf jene Ängste der Kreatur gibt der Kapitalismus indes eine andere Antwort als die bisherigen „so genannten Religionen“: die Steigerung. Wenn der Kapitalismus eine Religion ist, dann ist er als solche aber nicht vollkommen neu: Er entstammt dem Christentum. Unter Bezugnahme auf Max Webers These, der zufolge die protestantische Arbeitsethik den Kapitalismus ermöglicht habe, schreibt Benjamin: „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt.“16 „Das Christentum“, ergänzt Hamacher, „hätte sich nicht in Kapitalismus umgewandelt, wenn es nicht schon strukturell Kapitalismus, das heißt aber: wenn es nicht ein wie dieser um ein Defizit, ein Fehlen, eine Verfehlung, eine Schuld konstruiertes System gewesen wäre. […] Christlich am Kapitalismus, kapitalistisch am Christentum ist ihr parasitäres Verhältnis zur Schuld.“17 Auch im Christentum wird der Mensch als schuldig verstanden; was aber bei der Umwandlung in den Kapitalismus zur Reformationszeit verloren geht, ist der entscheidende Gedanke der Entschuldung, der Sühne und der „Umkehr“. Dies wird Benjamin wenig später im Traktat Ursprung des deutschen Trauerspiels wiederholen und verdeutlichen. Denn dort verweist er auf Martin Luthers Dogma des sola fide, das Erlösung und Gnade nicht durch gute Werke, sondern einzig – vielleicht – durch den Glauben verspricht: Somit werden, wie Samuel Weber 15  16  17 

Benjamin: Kapitalismus als Religion, S. 100. Ebd., S. 102. Hamacher: Schuldgeschichte, S. 87f.

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herausgearbeitet hat, die durch wiederholbare, ritualisierte Handlungen geknüpften Bande zwischen der Immanenz der Welt und der Transzendenz Gottes gekappt.18 Gott kümmert das menschliche Tun nicht mehr; es ist irrelevant für das Seelenheil geworden. „Ein Stück germanischen Heidentums und finsteren Glaubens an die Schicksalsverfallenheit sprach sich in jener überladnen Reaktion aus, die zuletzt das gute Werk schlechthin, nicht seinen Verdienst- und Bußcharakter allein, aus dem Felde schlug.“19 Es gibt keine guten Werke mehr, sondern nur noch den Einzelnen mit seinem Glauben, und jeder Versuch, sich mit den anderen Menschen zu verbinden, wird nun auch ein Akt des Glaubens sein müssen: Es entsteht eine Gemeinschaft des Kredits, in allen Spielarten: „Jeder Wert war den menschlichen Handlungen genommen. Etwas Neues entstand: eine leere Welt.“20 Diese „leere Welt“ ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihr „die Menschenhandlungen sich nicht unterscheiden“:21 Sie sind einander äquivalent, sie sind, mit Marx, Verausgabung homogener Arbeitskraft, flüssiger Energie. Benjamin hatte sich 1925 noch nicht sehr intensiv mit der Marx’schen Werttheorie beschäftigt, aber er las während der Abfassung des Trauerspielbuchs Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein,22 wo dieser die Theorie der Verdinglichung entwirft – als eine Ontologie des Kapitalismus, in dem die menschlichen Verhältnisse, vermittelt einzig durch homogen messbare Arbeitsleistung, nur in Waren ihre Darstellung finden, in Dingen, in denen sich die flüssige Arbeit kristallisiert. Für Benjamin wird im barocken Theater die „leere Welt“ von der Trauer „maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben.“23 Das Trauerspiel stiftet somit eine Form von temporärem Trost in der leeren Welt. Vier Jahre vorher, im Fragment Kapitalismus als Religion, beschreibt Benjamin einen anderen, aber verwandten Verlauf. Es gibt hier keine traurigen Zuschauer, die sich mit wiederholten Aufführungen trösten. Vielmehr wird, weil es keine Umkehr und keine Entschuldung mehr gibt, die unumkehrbare Steigerung des Menschen zum wesentlichen Kennzeichen der Religion Kapitalismus – und diese Steigerung muss ständig zelebriert werden. 18  19  20  21  22  23 

Vgl. Samuel Weber: Genealogy of Modernity. History, Myth and Allegory in Benjamin’s Origin of the German Mourning Play. In: MLN 106 (1991), S. 465-500. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 203-430, hier S. 317. Ebd. Ebd., S. 318. Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Briefe II. 1919-1924. Hg. v. Christoph Gödde / Henri Lonitz. Frankfurt a.M. 1996, S. 482f. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 318.

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Benjamin nennt nun vier „Züge“ jener Religion: „Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat.“ Der Kapitalismus kennt kein Dogma, bedeutsam ist einzig, dass der Kult gefeiert wird. Es geht nicht um den Text, sondern einzig um die Performance. Als zweiten Zug bestimmt er „die permanente Dauer des Kultus. […] Es gibt da keinen ‚Wochentag‘“ – der Kultus muss ununterbrochen zelebriert werden. Benjamin beklagt also nicht den Ausfall von Feiertagen, sondern, ganz umgekehrt, den Ausfall ganz gewöhnlicher Tage: Jeder Tag ist ein Hochamt des Kultus. „Dieser Kultus aber ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“24 Je mehr der Kult gefeiert wird, desto größer werden Schuld und Schulden. Auch ökonomisch beruht der Kapitalismus auf allgemeiner Verschuldung. Marx spricht im berühmten Kapitel über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ im ersten Band des Kapitals vom „Schlag mit der Wünschelrute“,25 durch den das Geld zu Kredit und somit selbst mit „Zeugungskraft“ ausgestattet wurde: Je mehr es verliehen wird, je mehr es sich gibt, desto größer wird es, es wächst, gedeiht und brütet – das Kapital ist „Geld heckendes Geld“.26 Im „Wesen“ des Kapitalismus als Schuldreligion liegt, so Benjamin weiter, „das Aushalten bis ans Ende bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist.“27 Und daher wird – so der vierte Zug, der Benjamin offenbar beim Schreiben einfiel, denn er kündigt zunächst nur drei Züge an – der Kultus auch von einer „ungereiften Gottheit zelebriert; jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife.“28 Gott selbst wird also in den Verschuldungsprozess hineingezogen: Indem Gott reift, unterliegt auch er der Zeit, der Endlichkeit. Schöpfung, Urteil und Sprengung des Himmels Der Kapitalismus also ist für Benjamin eine Kultreligion der irreversiblen Steigerung von Schuld, aus der es keinen Ausweg gibt: „Ein Zustand der so 24  25  26  27  28 

Alle Zitate: Benjamin: Kapitalismus als Religion, S. 100. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin 1962, S. 782. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1964, S. 405. Benjamin: Kapitalismus als Religion, S. 101. Ebd., vgl. dazu auch: Samuel Weber: The Web and the Carpets. In: Ders: Targets of Opportunity. On the Militarization of Thinking. New York 2005, S. 109-133.

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ausweglos ist, ist verschuldend.“29 Benjamin spielt auf die „dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs“30 an, der zum einen rechtlich und theologisch, zum anderen aber ökonomisch bestimmt ist, als Schulden und als Kredit. Die Herleitung von Schuldverhältnissen ist bei Benjamin sehr eng mit der Schöpfungsgeschichte verbunden, also der Genesis, und genauer: mit der urteilenden Sprache, die dem menschlichen Recht zugrunde liegt. Mehrmals wird in den frühen Texten Benjamins auf die Genesis angespielt, die wichtigste Lektüre aber findet sich im frühen Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Benjamin stellt dort – wenn man den sehr komplexen Text stark vereinfacht – zwei verschiedene Sprachen einander gegenüber: die Namenssprache, die zugleich die paradiesische Sprache ist, und die Sprache nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis. Diese Sprache, die Benjamin mit Kierkegaard als „Geschwätz“31 bezeichnet, ist die Sprache, die urteilt. Und weil sie urteilt, dekretiert sie Schuld. Die Namenssprache aber urteilt nicht. In ihr wird erkannt oder gesehen, dass die Schöpfung gut ist – und das heißt auch und vor allem, dass sie frei ist von Schuld. Diese Erkenntnis aber ist kein Urteil; ein solches bildet sich erst mit dem „Geschwätz“: „Im Sündenfall, da die ewige Reinheit des Namens angetastet wurde, erhob sich die strengere Reinheit des richtenden Wortes, des Urteils.“32 Über dieses Urteil aber – über seine sprachliche Form – spricht Benjamin auch im Text Schicksal und Charakter, von dem er später Auszüge in Ursprung des deutschen Trauerspiels einbaut. Dort heißt es: „Das Recht verurteilt nicht zur Strafe, sondern zur Schuld. Schicksal ist der Schuldzusammenhang des Lebendigen.“33 Das Recht verurteilt zur Schuld; schuldig ist, über den geurteilt wurde. Aus einem solchen „Schuldzusammenhang“ tritt nach Benjamin der Held der griechischen Tragödie heraus – wobei er offenbar an die Eumeniden des Aischylos denkt –, und dieser Schuldzusammenhang ist in Benjamins idiosynkratischem Sprachgebrauch „heidnisch“: „Eine Ordnung aber, deren einzig konstitutive Begriffe Unglück und Schuld sind und innerhalb derer es keine denkbare Straße der Befreiung gibt […] kann nicht religiös sein, so sehr auch der missverstandene Schuldbegriff darauf zu verweisen scheint.“34 Und wenig später wird dies noch einmal wiederholt: „Dem Dogma von der natürlichen Schuld des Menschenlebens, von der Urschuld, deren prinzipielle Unlösbarkeit die Lehre, und deren gelegentliche Lösung den Kultus des 29  30  31  32  33  34 

Benjamin: Kapitalismus als Religion, S. 102. Ebd. Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, S. 153. Ebd., S. 153f. Benjamin: Schicksal und Charakter, S. 175. Ebd., S. 174.

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Heidentums bildet, stellt der Genius die Vision von der natürlichen Unschuld des Menschen entgegen.“35 Es gibt nach Benjamin also eine paradiesische Namenssprache, die in einem Zusammenhang mit der natürlichen Unschuld des Menschen steht. Und es gibt eine urteilende Sprache, und diese steht in Verbindung mit dem Schicksal und der Schuld, sie erzeugt einen „Schuldzusammenhang“. Der Kapitalismus ist nun die Religion der ständigen Steigerung dieser Schuld – einer Schuld, die mit dem Austritt aus dem Paradies, mit dem Urteilen und dem „Geschwätz“ untrennbar verbunden ist. Im weiteren Fortgang des Fragments Kapitalismus als Religion benennt Benjamin drei Priester dieser Kultreligion Kapitalismus, deren Kultus eben nicht die Befreiung von der Schuld – die Freiheit – verspricht, sondern nur ihre unendliche Steigerung bewirkt. Auch die Wahl dieser Priester ist überraschend: Es sind Freud, Nietzsche und Marx. Benjamin behauptet, dass die Gemeinsamkeit ihrer Lehren darin liege, dass sie die Bewegung der Religion Kapitalismus nachvollziehen, also die unendliche Steigerung der Schuld, welche aber letztlich – allen drei Lehren zufolge – zu einem Umschlag führen solle. Die Steigerung, so ihr Versprechen, wird sich irgendwann auszahlen. Zu Freud heißt es zunächst, seine Theorie sei „ganz kapitalistisch gedacht“: „Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten verzinst.“36 Die verdrängten Begierden sind dem Bewusstsein nicht als solche zugänglich, und dennoch sind sie wirksam. Sie vermehren sich aus eigenem Antrieb, wie das Kapital, und sie prägen das Schuldbewusstsein des Ich. Die Therapie kann nur erfolgreich sein, wenn sie das im Unbewussten akkumulierte Schuldkapital durcharbeitet. Sie ist nicht einfach eine Abkehr von der Schuld, sondern vielmehr ihr Ertrag, ihr Zins, wenn es ihr am Ende gelingt, dass die Schuld als eine solche erkannt und akzeptiert wird und – vielleicht – in eine erzählbare Erfahrung verwandelt werden kann. Noch bedeutsamer für das Thema der Erschöpfung ist die kurze Analyse Nietzsches, denn hier wird die Steigerung des historischen Menschen ausbuchstabiert: Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen ‚Sprung‘ nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung. […] Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch. Diese 35  36 

Ebd., S. 178. Benjamin: Kapitalismus als Religion, S. 101.

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Jörn Etzold Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt, hat Nietzsche präjudiziert.37

Die ebenfalls atemberaubende Fortsetzung lautet: „Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus.“38 Der Sozialismus kommt dann über die Menschheit, wenn das Kapital sich – qua Verschuldung bei sich selbst – dermaßen akkumuliert hat, dass es ihn als Zinseszins seiner Akkumulation auszahlt: Aber auch dieser Logik des Sozialismus als Zinseszins ist eine Idee der Steigerung immanent. Der Kapitalismus ist also für Benjamin eine Religion und zwar: eine Kultreligion, die aus dem Christentum entstanden ist, in die sich das Christentum zur Reformationszeit umgewandelt oder als das es sich gezeigt hat. Der Kultus dient der unendlichen Steigerung der Schuld, nicht der Umkehr, der Sühne, der Läuterung. Am Ende jener Steigerung sehen die drei Hohepriester dieser Religion (Freud, Nietzsche, Marx) eine letzte, diskontinuierliche Stufe. In Bezug auf Freud ist diese in Benjamins Text nicht formuliert: Wir können vermuten, dass sie in der Gewinnung eines seiner selbst bewussten Ichs im Durchgang durch das Verdrängte liegt. Klar wird Benjamin in Bezug auf Nietzsche und Marx. Für Nietzsche wird der Himmel gesprengt durch „gesteigerte Menschhaftigkeit“. Der Mensch bleibt sich gleich, er bleibt auch als Übermensch bloß der „historische Mensch“ der kapitalistischen Moderne: Aber als ein solcher, nicht als ein Wesen, das über den Menschen hinausgegangen wäre, sprengt er den Himmel, erlangt er planetarische, kosmische Dimensionen. Und so ist auch der Sozialismus der „ohne Umkehr“ angelangte Kapitalismus, der Kapitalismus mit Zins und Zinseszins, nicht die Erlösung von ihm, sondern sein Ertrag. Zeit und Verzeihung Der Übermensch kennt also keine „Umkehr“ – ebenso keine Sühne, keine Reinigung (kátharsis) und keine Buße. Diese Begriffe entstammen alle einem christlichen Vokabular sowie der hauptsächlich christlichen – manchmal auch medizinischen – Übersetzung eines griechischen Terminus aus Aristoteles’ Poetik. Es gibt aber Gründe zu vermuten, dass Benjamin insbesondere beim Begriff der „Umkehr“ an Hölderlins Anmerkungen zu seinen Übersetzungen 37  38 

Ebd. Ebd., S. 101f.

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von Oedipus, der Tyrann und Antigonä von Sophokles dachte. Benjamin widmete Hölderlin seine „erste[] größere[] Arbeit“,39 den Aufsatz Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin von 1914/15;40 in der Dissertation zur romantischen Kunstkritik, entstanden 1918/1919, spielt Hölderlins „Satz von der Nüchternheit der Kunst“41 eine entscheidende Rolle; in Goethes Wahlverwandtschaften, entstanden zwischen 1919 und 1922, spricht er den Stellen zur „Cäsur“ aus den Anmerkungen zum Oedipus eine für die „Theorie […] der Kunst schlechthin grundlegende[] Bedeutung“42 zu. „Umkehr“ wiederum ist ein wesentlicher Begriff in den Anmerkungen, um die Zeitstruktur der Tragödie zu beschreiben. In den Anmerkungen zur Antigonä bestimmt Hölderlin die „vaterländische Umkehr“ – also die Revolution, die in der Tragödie zur Darstellung kommt – als „die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen.“43 Dasjenige, was nach Kant die Einheit und Konsistenz von Raum und Zeit konstituiert – der Raum als „Form aller Erscheinungen äußerer Sinne“44 und die Zeit als „Form des innern Sinnes“45 –, kehrt sich um. In den Anmerkungen zum Ödipus beschreibt Hölderlin Antigones Verlobten und Kreons Sohn Hämon in Antigonä – ebenso wie Ödipus selbst in Ödipus, der Tyrann – als Menschen, der „der kategorischen Umkehr folgen muß, hiermit im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann.“46 Diese Bestimmung der „Umkehr“ kann helfen, die unumkehrbare Steigerung zu verstehen, die ihr gegenübergestellt wird: Dem Menschen, den die drei Priester der Religion Kapitalismus verkünden, widerfährt keine „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen“; sie bleiben diskret und kontinuierlich, bleiben jene des historischen Menschen. Dieser gleicht auch im Folgenden weiterhin dem Anfänglichen; er ist menschlich, allzu menschlich, doch wird eben seine Menschhaftigkeit unabsehbar gesteigert. Auch die letzte, diskontinuierliche 39  40  41  42  43  44  45  46 

Zit. n. Anmerkungen zu Walter Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 921-924, hier S. 921. Walter Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 105-126. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 7-122, hier S. 103. Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 123-202, hier S. 181. Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonä. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp. München 1992, Bd. 2, S. 369-376, hier S. 375. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil. In: Ders.: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1995, Bd. 3, S. 75. Herv. J.E. Ebd., S. 80. Herv. J.E. Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 309-316, hier S. 316.

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Etappe seiner Steigerung ist nichts weiter als ein Durchbruch, der aus der Steigerung selbst erfolgen soll: Der Mensch steigert sich zum bewussten Ich, zum Übermenschen, zum Arbeiter im Sozialismus, doch ändert er sich in der Steigerung nicht, sondern wächst nur durch den Himmel hindurch, in einer kontinuierlichen Zeit. Diesem Konzept unumkehrbarer Steigerung aber stellt Benjamin im Fragment Welt und Zeit seine „Definition von Politik“ entgegen. Jene lautet: „die Erfüllung der ungesteigerten Menschhaftigkeit“.47 Offenbar versucht Benjamin, Begriffe wie ‚Menschsein‘, ‚Menschheit‘ oder auch ‚Menschlichkeit‘ zu umgehen; vielleicht, weil in ihnen bereits jenes Denken impliziert ist, das den Menschen zum Maß aller Dinge macht. „Menschhaftigkeit“ ist weniger eine Essenz des Menschen als ein Bündel von Eigenschaften und Eigenheiten, die den Menschen zukommen und sie ausmachen. In der Erfüllung wird der Himmel nicht gesprengt. Der historische Mensch wächst nicht unverändert durch den Himmel. Er steigert sich nicht in ein Ausmaß hinein, das vielleicht mit Heidegger als „riesenhaft“ bezeichnet werden kann.48 Benjamin versteht Politik in jenen Jahren als jene irdische Tätigkeit, die nicht glauben darf, sie selbst sei die Manifestation göttlicher Gewalt auf Erden – auch hier folgt er übrigens Hölderlins Anmerkungen, in denen dieser Ödipus vorwirft, an der für ihn entscheidenden Stelle des Stückes (im Moment, als Ödipus den von Kreon überbrachten Spruch des Orakels deutet) „priesterlich“49 über das Gemeinwesen zu sprechen.50 Dennoch aber soll Politik eine „Erfüllung“ sein, die sich auf die Vorstellung einer in diskrete Einheiten unterteilten, kontinuierlichen und irreversibel ablaufenden Zeit der Steigerung von Schuld nur negativ beziehen kann.51 Hamacher verfolgt ein 47  48 

49  50 

51 

Benjamin: Welt und Zeit, S. 97. Vgl. u.a. Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbilds. In: Ders: Holzwege. Gesamtausgabe. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, Bd. I/5, S. 75-113, hier S. 95. Für Heidegger ist dieses „Riesenhafte“ allerdings dem Amerikanismus, dem Bolschewismus und letztlich dem Judentum eigen, wie nicht erst aus den „Schwarzen Heften“ hervorgeht. Nach Benjamin geht die Dynamik der Steigerung hingegen aus dem deutschen Protestantismus hervor. Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus, S. 311. „Das Problem des Katholizismus ist das der (falschen, irdischen) Theokratie. Der Grundsatz ist hier: echte göttliche Gewalt kann anders als zerstörend nur in der kommenden Welt (der Erfülltheit) sich manifestieren. Wo dagegen göttliche Gewalt in die irdische Welt eintritt, atmet sie Zerstörung.“ (Benjamin: Welt und Zeit, S. 99). Ein solches Denken wird noch in Benjamins letztem Text, Über den Begriff der Geschichte, kritisiert, wo es heißt: „Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders. Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 691-704, hier S. 701).

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solches Denken bis zum Fragment des Anaximander zurück, in dem es heißt: „denn sie [wahrscheinlich: die Seienden; J.E.] schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“52 So wäre Zeit selbst Buße, die die Seienden aneinander zahlen; jene sind sterblich, um ihre Schuld aneinander zu begleichen. Zeit selbst wäre ein Schuldzusammenhang; Generationenverhältnisse wären Schuldverhältnisse, denen auch die Dynamik von Werden und Vergehen, Vernichtung und Neuschaffung unterliegt: „In diesem Sinne heißt Schuld Herkunft, Ursache, Erzeugung, Veranlassung. Causa ist culpa.“53 Der globale Schuldzusammenhang der Kreditökonomie des Kapitalismus beruht nach Hamacher auf dieser Vorstellung von Zeit als Verschuldung. Er spricht daher von „Kapitalzeit“: „Kapitalzeit ist die Zeit des toten Jetzt als Wiedergänger und Surplus, als Wieder-Jetzt und Über-Jetzt.“54 Es ist eine Zeit, die aus homogenen Einheiten der Verschuldung aneinander besteht; sie geht voran, aber sie ist entwicklungslos, weil sie keine Freiheit zulässt: „Erst durch den resoluten Abbruch des Tauschhandels zwischen Verschuldung und Vergeltung betritt der Mensch den Bereich seiner Freiheit.“55 Diesem Zeitbegriff aber steht bei Benjamin ein anderes Denken von Zeit gegenüber, das an verschiedenen Stellen seines Schreibens auf je andere Weise formuliert wird; seine Begriffe sind nicht nur die Umkehr, sondern auch die Unterbrechung, der Aufschub, die Vergebung, die göttliche Gewalt, der Generalstreik oder auch der „Tigersprung ins Vergangene“.56 All diese Begriffe sind natürlich sehr unterschiedlich bestimmt, aber dennoch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Hier soll nur der Einspruch gegen das Denken von Zeit als Verschuldung betrachtet werden, den Benjamin im Fragment Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt erhebt: Er versteht Zeit dort als Vergebung. Über die Idee der Vergeltung, die dem Recht, also der urteilenden Sprache, zugrunde liegt, schreibt Benjamin: Die Vergeltung steht im Grunde indifferent der Zeit gegenüber, sofern sie durch die Jahrhunderte unvermindert in Kraft bleibt und noch heute wird eine eigentlich heidnische Vorstellung sich in diesem Sinne das jüngste Gericht zurechtlegen: als den Termin, an welchem allem Aufschub Einhalt, aller Vergeltung Einbruch geboten wird.57 52  53  54  55  56  57 

Zit. n. Christof Rapp: Die Vorsokratiker. München 1997, S. 45. Hamacher: Schuldgeschichte, S. 108. Ebd., S. 93. Ebd., S. 83. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 701. Walter Benjamin: Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 97-98, hier S. 97f.

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Er lehnt ein solches Denken, das „des Aufschubs gleich als leeren Säumens“ spottet, ab. Zeit als Verschuldungszusammenhang ist nicht eigentlich zeitlich, denn es gibt keine Möglichkeit zur Entwicklung oder zur Freiheit. Im Aufschub aber zeigt sich etwas anderes, was nicht dem Recht, sondern der moralischen Ordnung angehöre; es ist die Vergebung: „Diese aber findet, um gegen die Vergeltung zu streiten, ihre mächtige Gestaltung in der Zeit.“58 Oder, wie Hamacher schreibt: „Die Zeit verzeiht und ist nichts als Verzeihung.“59 So „braust“ – dies ist wieder Benjamin – „Gottes Zorn im Sturm der Vergebung durch die Geschichte“.60 Zeit verzögert, verschleppt, verhindert die Vergeltung, welche die Zeit aufheben will. Sie behindert und stört einen universellen Schuldzusammenhang, der Freiheit unmöglich macht, sie eröffnet Zwischenzeiten. Diese auf eigentümliche Weise messianische Zeitvorstellung bezieht sich aber ebenfalls auf Hölderlins Begriff der „Umkehr“ aus dessen Anmerkungen. Denn für Hölderlin zeigt sich im Moment der „göttliche[n] Untreue“, in dem „der Mensch“ – Hämon wie Ödipus – „der kategorischen Umkehr folgen muß“, dass auch „Gott […] nichts als Zeit ist“, sodass auch die Zeit „untreu“ wird, „weil sie in solchem Momente sich kategorisch wendet“.61 Gott selbst ist also Zeit: Dies ist auch Benjamins Einspruch gegen das „heidnische“ Konzept der Zeit als Verschuldung. Zeit der Erschöpfung Wie aber lassen sich diese verschiedenen Konzepte der Zeit – Zeit als Verschuldungszusammenhang, der keine Entwicklung zulässt, als Akkumulation identischer Einheiten, als Kapitalzeit auf der einen und Zeit als Verzeihung, Verschleppung, Aufschub und Umkehr auf der anderen Seite – auf die Erschöpfung beziehen? Für Benjamin spielt dieser Begriff keine große Rolle, er taucht nur ein paar Mal in den autobiographischen Schriften auf, in eher konventioneller Bedeutung, wenn Benjamin selbst sich als erschöpft bezeichnet. Aber die Erschöpfung kann, so möchte ich abschließend behaupten, mit den Begriffen der Unterbrechung, der Umkehr, des Aufschubs verknüpft werden. Die Bewegung der Religion Kapitalismus, die gesamte Menschheit – und letztlich auch Gott – durch Steigerung (und somit: durch Kredit und thermodynamische Verausgabung) in die Verschuldung einzubeziehen, wird durch 58  59  60  61 

Ebd., S. 98. Hamacher: Schuldgeschichte, S. 119. Benjamin: Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt, S. 98. Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus, S. 316.

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die Erschöpfung vielleicht nicht verhindert, aber sie wird verschleppt und verlangsamt. Schöpfung und Erschöpfung scheinen dann in einem besonderen Verhältnis zu stehen: In der Erschöpfung wird vielleicht ein Zustand vor Urteil und Schuld spürbar. Auch die Erschöpfung verschleppt, verzögert, sie verhindert, bremst aus, vielleicht korrumpiert sie auch die genaue Exekution des Urteils, welche die Zeit austilgen will. Benjamin schreibt über die Zeit, dass sie „auf ganz geheimnisvolle Art zur Vergebung hilft, wenn auch nie zur Versöhnung.“62 Erschöpfung ist kein theologisch aufgeladener Begriff – anders als Verzeihung. Er hat weniger eine moralische als vielmehr selbst eine energetische, thermodynamische Bedeutung: Wer zu erschöpft ist, um die Exekution des Urteils herbeizuführen, ist ebenfalls nicht versöhnt, aber er vergibt auch nicht. Auf gewisse Weise setzt die Rede von der Erschöpfung auch ihr theologisches Gegenstück, die Schöpfung, in einen thermodynamischen Zusammenhang: Die Schöpfung wird dann inwertgesetzt als Abschöpfung, Ausschöpfung, aber auch als Regeneration, Neuschöpfung, Renaturierung. In der Erschöpfung aber wird dieser Prozess eine Weile ausgesetzt. In Theater und bildende Kunst ist die Erschöpfung auf verschiedene Weise eingezogen: Als Georg Büchners müder Revolutionär Georges Danton; in den Anwälten und Beamten Kafkas, die ihrer verschleppenden Tätigkeit oft vom Bett aus nachgehen; in den Ermüdungsstrategien von frühen Arbeiten der Performance Art, so in Marina Abramovićs Wiederholungsschleifen. In der Durational Performance Sun and Sea, mit der die Gruppe Marina  2019 den litauischen Pavillon der Venedig Art Biennale bespielte und für die sie mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, sehen wir eine reiselustige, aber auch reisemüde Versammlung weißer – oder leicht rötlicher – Menschen an einem artifiziellen Strand: von der Hitze niedergedrückt, auf Handtüchern oder in Liegestühlen, singen sie von den Belastungen ihres Arbeitslebens. Eine Flugpassagierin verkündet, dass sie mit ihrer Familie bald die Strände aller sieben Meere angesteuert haben wird. Es ertönt auch der Song of Exhaustion. Workaholic’s Song: Der Sänger singt, ausgelaugt in einem Liegestuhl hängend, neben seiner Frau und seinem Sohn, der mit dem Smartphone beschäftigt ist: It feels so bad when I can’t control myself, And I loose my cool in public. Then I feel sorry for myself, guilty, I feel ashamed … Like lava, like lava, like lava … Exhaustion, exhaustion, exhaustion, exhaustion, It’s like a mammoth – 62 

Benjamin: Die Bedeutung der Zeit in der moralischen Welt, S. 98.

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Und dann heißt es: Vacation is what killed the mammoth […]. After vacation, your hair shines, Your eyes glitter, Everything is fine.

Die Erschöpfung ermöglicht hier eine kurze Pause, die aber auch ein Teil von übergreifenden Verwertungszusammenhängen ist: Sie soll der Erholung dienen. Immer wieder aber bekommt die Erschöpfung eine planetarische Dimension: Der Chor der einzelnen Badenden besingt die Eutrophierung der Ozeane, und die globale Erwärmung ist die gesamte Performance über präsent. Die Erschöpfung wird hier im Rahmen des internationalen Kunst-Jetsets besungen, sie wird zu einem handelbaren Wert. Und doch ermöglicht die Arbeit von Marina, für eine Weile – solange die Zuschauenden auf der Empore über der Sandfläche bleiben – die erschöpften Körper zu sehen und zu hören, ausgelaugt von der Überhitzung, niedergedrückt und müde wie am ersten Tag.

Jennifer Pavlik

Der Weltverlust des animal laborans, seine Suche nach dem konsumierbaren Glück und die Widerständigkeit des Ästhetischen Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit.1

Hannah Arendt versteht sich selber als politische Theoretikerin, die in ihren Arbeiten um zentrale Fragen des menschlichen Zusammenlebens kreist und unter Bezug auf klassische Positionen der politischen Philosophie Reflexionsfolien liefert, um darüber nachzudenken, wie Menschen in Freiheit und Gleichheit zusammenleben können. Der zentrale Grundansatz ihres Denkens – ihre Referenz auf die antike Philosophie – führt dabei bis heute disziplinübergreifend zu kritischen Diskussionen ihrer Texte, in denen ihr zum Teil abgesprochen wird, für gegenwärtige Fragestellungen überhaupt sinnvolle Anregungen liefern zu können. Umso interessanter ist es, zu beobachten, dass Arendts Werk seit einigen Jahren einen wahren Rezeptionsboom erfährt und ihre Ausführungen in nahezu allen Disziplinen der Geisteswissenschaften Gehör finden.2 Die Rezeption ihrer Arbeiten hat auch Einzug in Diskurse der Müdigkeitsforschung gehalten, wie im Folgenden vor dem Hintergrund einiger zentraler Veröffentlichungen aus diesem Feld gezeigt werden soll. Dabei gilt mein Interesse der Frage, welche Arendt’schen Denkansätze mit Blick auf dieses Forschungsfeld aufgegriffen werden und was die genannten Autoren bei ihrer Rezeption übersehen, wenn sie Erschöpfungszustände vor dem Hintergrund von Arendts Werk interpretieren.

1  Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München 2007, S. 325; im Folgenden im Haupttext mit der Sigle VA und Seitenzahl nachgewiesen. Für eine Reflexion des vorliegenden Themenkomplexes vor dem Hintergrund eines Vergleichs zwischen Arendt und Marx siehe Christian Höhner: Arbeit, Weltentfremdung und eliminierte Pluralität; online abrufbar unter: https://www.streifzuege.org/2015/arbeit-weltentfremdung-und-eliminiertepluralitaet/?print=pdf; zuletzt geprüft am 1.8.2019. 2  Vgl. Ulrich Baer / Amir Eshel (Hg.): Hannah Arendt zwischen den Disziplinen. Göttingen 2014.

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Bestandsaufnahme: Arendt und die Müdigkeitsforschung In einem ersten, allgemeinen Zugriff kann konstatiert werden, dass Arendts Werke für die Müdigkeitsforschung Referenzpunkte sind, weil sie in ihren Schriften eine phänomenologische Betrachtung dessen vornimmt, was Menschen tun, wenn sie tätig sind: Sie arbeiten, sie stellen etwas her oder sie handeln, wie Arendt in Vita activa ausführt. Auch wenn diese Differenzierung in einer derart apodiktischen Form realiter nicht vorzufinden ist, liefern Arendts Unterscheidungen Einblicke in das jeweilige Selbst- und Weltverständnis, das Menschen durch unterschiedliche Tätigkeitsformen ausbilden können. So führt sie mit Blick auf das Arbeiten aus, dass es sich hierbei um eine Tätigkeit handelt, die dem „biologischen Prozeß des menschlichen Körpers“ (VA 16) entspricht und die sich selber im Vollzug verzehrt, sodass der Mensch keine Spuren in der Welt hinterlässt, sondern das bloße Überleben besorgt. Das Herstellen erschafft dagegen eine „künstliche Welt von Dingen“ (ebd.), die sich insofern von der Natur unterscheidet, als ihr Dauerhaftigkeit zukommt. Erst in dieser hergestellten Dingwelt kann der Mensch nach Arendt ein Zuhause finden, da er hierfür eine ihm widerstehende, objektiv-gegenständliche Referenzfolie braucht. Unter ‚Dingwelt‘ versteht Arendt all jene Gegenstände, die das Werk des Menschen sind und die ganz allgemein als kulturelle Artefakte bezeichnet werden können, wobei sowohl Kunst- und Kulturwerke als auch Nutzgegenstände gemeint sind, die sich von der naturgegebenen Umwelt durch ihre Artifizialität unterscheiden. Die dritte menschliche Tätigkeitsform der Vita activa, das Handeln, findet zwischen Menschen statt und entspricht dem menschlichen „Faktum der Pluralität“, d.h. der Tatsache, dass „nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“ (VA 17). Arendt zufolge ist Pluralität dabei mehr als eine schiere Gegebenheit des Daseins; sie stellt eine Grundbedingung des menschlichen Lebens dar, das sich selber in der Isolation nicht zugänglich wäre: Für Menschen heißt Leben – wie das Lateinische, also die Sprache des vielleicht zutiefst politischen unter den uns bekannten Völkern, sagt – soviel wie ‚unter Menschen weilen‘ (inter homines esse) und Sterben soviel wie ‚aufhören unter Menschen zu weilen‘ (desinere inter homines esse). (Ebd.)

Diese drei Grundtätigkeiten erfüllen mit Blick auf das menschliche Leben jeweils unterschiedliche Zwecke: Während Arbeiten das reine Am-LebenBleiben des Individuums und der Gattung sichert, wird durch Herstellen eine identitätsstiftende Kulturwelt errichtet. Handeln schließlich ist die

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Grundlage der menschlichen Selbsterfahrung und des Zusammenlebens in einer politischen Gemeinschaft. Es ist die Form, in der Menschen miteinander interagieren und die Welt auf ihren Sinn befragen. Bereits auf der Grundlage dieser wenigen Ausführungen wird deutlich, dass sich die Tätigkeitsformen gegenseitig bedingen, wobei eine klare Hierarchie zu erkennen ist, die sich wie ein roter Faden durch Arendts Werk zieht. Es ist kein Geheimnis, dass Arendt das Handeln als die politische und daher als die menschlichste Tätigkeit hervorhebt, da der sprachliche Austausch über die gemeinsame Welt die Grundbedingung für das freiheitliche und gleichberechtigte Zusammenleben ist – und zwar sowohl mit Blick auf andere als auch auf sich selbst. Ihr zufolge hat Handeln, das sie im Sinne des aristotelischen praxisBegriffs interpretiert, kein konkretes, individuelles, subjektives Ziel, keinen Zweck, der im Sinne eines utilitaristischen Verständnisses erreicht werden könnte. Vielmehr geht es immer dann, wenn Menschen versuchen, durch ihre Aktionen etwas für sie als Individuen oder Gruppe Vorteilhaftes umzusetzen, in eine herstellende Tätigkeit (poiesis) über, die sich durch eine klare ZweckMittel-Relation vom Handeln unterscheidet. Der idealisierende Kern von Arendts Handlungsbegriff leuchtet bereits an dieser Stelle auf und sie wird nicht müde, mit Blick auf die antike Polis daran zu erinnern, dass die freien Männer dereinst auf dem Marktplatz zusammengekommen sind, um sich über die Ausgestaltung ihrer Gemeinschaft zu unterhalten, was vor allem bedeutete, sich über aktuelle und vergangene Geschehnisse und die divergierenden Perspektiven auszutauschen, die ihnen zukommen können. Auch wenn diese Idealkonstruktion ein verzerrtes Bild auf die Antike wirft und ganz offensichtlich ausgeklammert wird, dass nur wenige Männer überhaupt die Freiheit besaßen, in mußevoller Beschäftigung über die Welt zu parlieren, lenkt Arendts Unterscheidung den Blick darauf, dass die Formen, in denen Menschen tätig sind, die Qualität ihres Welt- und Selbstbezuges bedingen. Diese Phänomenologie der menschlichen Tätigkeitsformen wird von einigen Autoren, die sich unlängst und in unterschiedlicher Weise mit dem Thema Müdigkeit befasst haben (beispielhaft seien Byung-Chul Han, Wolfgang Martynkewicz und Hartmut Rosa genannt), aufgegriffen, um über Gründe zu reflektieren, die den modernen Menschen zu einem erschöpften Subjekt haben werden lassen. Den Autoren ist vor allem jene These Arendts von Bedeutung, nach der die moderne Gesellschaft zu einer Arbeitsgesellschaft geworden ist (vgl. VA  410). Der Mensch, so Arendt, wird dabei in seinem Tun „auf sich selbst zurückgeworfen […], wenn auch in einer aktiv-tätigen und nicht einer passiv-leidenden Weise“, was letztlich dazu führt, dass er in seinem

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„schieren Lebendigsein gefangen“ (VA 134) bleibt. Dabei ist weder die Arbeit an sich noch die damit einhergehende zunehmende Aktivität als problematisch anzusehen, sondern vielmehr die aus der Arbeit resultierende Veränderung der menschlichen Haltung sich und der Welt gegenüber. Denn Arbeit ist, wie Arendt ausführt, die „einzige Tätigkeit, die der Weltlosigkeit, oder besser dem in der Schmerzempfindung stattfindenden Weltverlust, genau entspricht“ (ebd.), da während dieser Tätigkeit „das nur der Selbstreflexion zugängliche Bewusstsein“ (VA 408) als Resonanzraum erfahren wird. Erschöpfung ist – so die an Arendt anschließenden Thesen von Han, Martynkewicz und vor allem auch von Rosa – daher letztlich Ausdruck der menschlichen Weltentfremdung bzw. der fehlenden Resonanzbeziehung zwischen Individuum und Welt. So schreibt etwa Martynkewicz ganz im Sinne Arendts, dass „[n]icht die ‚ungeheure Aktivität‘ […] den Menschen ermatten“ lasse, „sondern der Verlust an Welt“.3 Rosa bezieht sich auf Arendt, wenn er das von ihr so hochgeschätzte Handeln als „Art der kollektiven politischen Resonanzerzeugung“ bezeichnet und ihm nicht nur eine „welttransformierende, sondern sogar eine welterzeugende Qualität“4 zuspricht, die einen Weg aus der kollektiven Erschöpfung zu weisen vermag. Und auch Han folgt letztlich Arendts These von der Weltentfremdung des animal laborans und sieht darin eine zentrale Ursache von Erschöpfung, wenngleich er seine Ausführungen über die schöpferische Kraft der Müdigkeit auf einer haarspalterischen Kritik an Arendt aufbaut und ihrer Argumentation nichts Neues hinzuzufügen hat.5

3  Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin 2013, S. 349. 4  Hartmut Rosa: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2018, S. 368. Herv. i. Orig. 5  So ist etwa sein Vorwurf, Arendts Beschreibung des modernen animal laborans halte einer Überprüfung anhand gegenwärtiger Beispiele aus der Leistungsgesellschaft nicht stand, ein Scheinwiderspruch. Wenn er schreibt, das moderne Subjekt sei nicht – wie Arendt annehme – passiv, habe seine Individualität nicht aufgegeben, dann missversteht er, was Arendt unter ‚Passivität‘ versteht und was die Identität eines Menschen ihr zufolge auszeichnet. Denn nur, weil sich spätmoderne Menschen in sozialen Netzwerken ausstellen oder im beruflichen Leben ein Image verkörpern, ist diese Form von Ichheit keineswegs mit dem zu vergleichen, was Arendt unter Individualität versteht: Die Ausbildung einer Identität geht bei Arendt immer mit dem Austausch von Perspektiven einher und damit mit einem Wechseln von Denken und Handeln, von Aktion und Kontemplation. Vgl. Hans Aussage: „Das spätmoderne animal laborans ist mit dem Ego bis knapp zum Zerreißen ausgestattet. Und es ist alles andere als passiv. Wenn man seine Individualität aufgäbe und im Gattungsprozess ganz aufginge, hätte man die Gelassenheit eines Tieres. Das spätmoderne animal laborans ist, genau genommen, alles andere als animalisch. Es ist hyperaktiv und hyperneurotisch.“ (Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Um die Essays Burnoutgesellschaft und Hoch-Zeit erweiterte Neuausgabe. Berlin 2016, S. 35).

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Doch was heißt Weltverlust bei Arendt eigentlich genau und warum hat der Welt- bzw. Resonanzverlust so großen Anteil daran, dass Menschen erschöpfen? Diese Antwort bleiben die Autoren bei genauerer Betrachtung schuldig, sodass ihr Bezug auf Arendts Werk undifferenziert erscheint und den Blick für ihre eigentliche These verstellt. Der Weltverlust des modernen Menschen und seine Suche nach dem konsumierbaren Glück In Vita activa spekulierte Arendt schon vor rund 60 Jahren darüber, dass die Neuzeit, „die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.“ (VA 411) Die Gründe für die Zunahme der Passivität der neuzeitlichen Menschen sind vielfältig – für Arendts Argumentation ist jedoch unbestreitbar, dass einer ihrer wesentlichen Faktoren in der zunehmenden „Sehnsucht nach Arbeit“6 begründet liegt, die sich im 20. Jahrhundert in einem bis dato unbekannten Maß entwickelt hat: In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzig aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ‚beruhigt‘ desto besser und reibungsloser ‚funktionieren‘ zu können. (VA 410f.)

Während es sich bei ‚Arbeit‘ noch in der Antike um ein notwendiges Übel gehandelt hatte, das erledigt werden musste, um das Überleben zu sichern und einen gewissen Lebensstandard zu erhalten, wird sie spätestens in der Moderne zum Inbegriff einer neuen Lebensweise, die über die reine Zeit der Erwerbstätigkeit hinausreicht und Einzug in die menschlichen Denk- und Handlungsweisen hält. So schreibt Arendt, dass das große Problem der modernen Arbeitswelt in der mit ihr zusammenhängenden konsumorientierten Haltung liegt, die auch nach Arbeitsschluss nicht abgelegt werden kann, da die überschüssige Zeit des animal laborans von ihm für nichts anderes als den Konsum 6  Michael  S.  Aßländer / Bernd Wagner: Moderne. Einleitung. In: Philosophie der Arbeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. dens. Berlin 2017, S. 331-333, hier S. 332.

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benutzt wird, „und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit“ (VA  157). Unter ‚Konsum‘ versteht Arendt einen prinzipiell unendlichen Prozess, der auf steten Wiederholungen basiert und keine Möglichkeiten bietet, die natürliche Unterbrechung, den Wechsel zwischen Ruhe und Anspannung, zwischen Erschöpfung und Arbeit, wahrnehmen oder gar genießen zu können: Woran sie [die modernen Massen, J.P.] leiden, ist einfach das zutiefst gestörte Gleichgewicht zwischen Arbeit und Verzehr, zwischen Tätigsein und Ruhe, und dies Leiden verschärft sich dadurch, daß gerade das Animal laborans auf dem besteht, was es „Glück“ nennt und was in Wahrheit der Segen ist, der im Leben selbst liegt, in dem natürlichen Wechseln von Erschöpfung und Ruhe, von Mühsal und Erholung, in der man das Abklingen der Mühsal genießen kann, kurz in dem sich immer erneuernden Gleichgewicht von Unlust und Lust, das nur dem Kreislauf der Natur eigen ist. (VA 158)

Arbeit, Erschöpfung und Ruhe bilden nach diesem Verständnis eine organische Trias, die zur Bedingung wahren Glückes wird. Das Glück jedoch, nach dem das animal laborans strebt, kann als stetig produzierte und verzehrte Prozesserfahrung den Augenblick nie überdauern. Man kann das Dilemma des arbeitenden Menschen mit den Worten von Arendts erstem Ehemann Günther Anders beschreiben, nach dem das animal laborans auch nach Arbeitsschluss ein Angestellter bleibt, der prozess- und konsumorientiert auf die Freizeitindustrie zugreift, um sich zu vergnügen.7 Anders als ihr Mann, und im Übrigen auch anders als Theodor W. Adorno, verabsolutiert Arendt ihre Kritik an der Konsum- und Vergnügungsindustrie jedoch nicht, sondern betont: „Ich bin keineswegs gegen das Vergnügen und nicht gegen die Vergnügungsindustrie, wenn sie einen nur vergnügt.“8 Problematisch ist vielmehr, dass Ruhe nicht mehr als „bewusste Enthaltung von allen Tätigkeiten“ (VA 450) verstanden wird und sich das tätige Ich sowohl in der Arbeits- als auch in der Freizeit verzehrt. Diese Veränderung des menschlichen Welt- und Selbstbezuges wird von Arendt an zahlreichen Stellen ihres Werkes aufgegriffen und reflektiert. Auch wenn der Tätigkeit des Arbeitens im Zuge dieser Entwicklung eine wesentliche Rolle zukommt, wird sie von Arendt nicht als Ursache betrachtet, sondern vielmehr als bedingender Faktor, der eigens Ausdruck von Veränderungsprozessen ist. So haben in ihren Beschreibungen insbesondere die modernen Naturwissenschaften großen Anteil daran gehabt, dass sich das Verhältnis zwischen Mensch und Welt grundlegend veränderte. Im Zuge der 7  Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. München 1981, Bd. 2, S. 102f. 8  Vgl. Hannah Arendt: Kultur und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. v. Ursula Ludz. München 1994, S. 277-303, hier S. 303.

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wissenschaftlichen Revolutionen sind neue Wahrnehmungsmöglichkeiten entstanden, die es dem Menschen ermöglicht haben, gänzlich neue Perspektiven einzunehmen. In diesem Zusammenhang hat in Arendts Augen die Suche nach ‚wahrer Wirklichkeit‘ dazu geführt, dass das Vertrauen des Menschen in die Erscheinungen, in die Phänomene, wie sie sich von sich aus den menschlichen Sinnen enthüllen, verloren gegangen ist, und die Menschen Instrumente hergestellt haben, um die eigenen Sinnesfähigkeiten transzendieren zu können.9 Der Preis, der dafür gezahlt werden musste, bestand in einer grundlegenden Verunsicherung bezüglich der eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten, wie sich Arendt zufolge beispielhaft anhand der Philosophie von Descartes beobachten lässt. Hier zeigt sich die Veränderung, die die menschliche Vernunft im Lauf der Zeit erfahren hat. Sie wird fortan nicht mehr als Vermögen der Kontemplation verstanden, sondern als Fähigkeit des Schlussfolgerns: Die Vernunft ist bei Descartes genau wie bei Hobbes letztlich eine Fähigkeit des Schlußfolgerns, des „reckoning with consequences“, des Induzierens, Deduzierens und Schließens, d.h. sie ist das Vermögen, durch das der Mensch jederzeit bestimmte Prozesse in sich selbst veranlassen und loslassen kann. (VA 360)

Der Mensch, der in diesem Sinne auf die Welt zugreift, wird zu einem teilnahmslosen Beobachter des Universums, der den natürlichen Bezug zu seiner Umgebung verloren hat, weil er nicht mehr sinnstiftend auf seine Umwelt blickt und darum bemüht ist, die verschiedenen Sinneseindrücke zu sammeln und zu prüfen. Was hier passiert, ist die klare Distinktion zwischen Sein und Erscheinung und die klare Präferenz dafür, dass Wahrheit nur im Denken erfahren werden kann, was zugleich bedeutet, dass sie nicht mehr in Erscheinung treten kann (vgl. VA 369). „Der Philosoph der Neuzeit“, so führt Arendt aus, „kehrt sich nicht mehr von der trügerischen, vergänglichen Sinnenwelt ab und einer anderen Welt ewiger Wahrheiten zu, sondern er zieht sich von beiden Welten […] auf sein eigenes Inneres zurück“ (VA 373). Ausdruck dieses veränderten Selbstverständnisses ist insbesondere die Bedeutung des Prozessbegriffes, der von der neuzeitlichen Philosophie an die Stelle des Seinsbegriffs gerückt bzw. „Sein […] überhaupt nur noch als Prozeß erfahren“ wird (VA 377f.). Damit zusammenhängend fokussiert das Denken nicht mehr die Frage nach dem Warum der Dinge, sondern nach dem Wie, sodass auch die Gegenstände der Erkenntnis als „Entstehungsprozesse“ aufgefasst werden, und 9  Vgl. Hannah Arendt: Die Eroberung des Weltalls und die Struktur des Menschen. In: Dies.: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II. Hg. v. Ursula Ludz. München 2000, S. 373-389, hier S. 380.

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nicht mehr als „Dinge oder ewige Bewegungsvorgänge“ (ebd.). Das, was Arendt hier beschreibt, ist der Einzug des Entwicklungsbegriffs (‚Historismus‘) in das geschichts- und naturwissenschaftliche Denken, das dazu geführt hat, dass das Interesse an den Dingen – daran, wie sie wirklich erscheinen – verschwunden und der Erforschung ihrer Eingebundenheit in historische Zusammenhänge gewichen ist. Problematisch ist an dieser Entwicklung insbesondere der Glaube an Kausalität, der jedwede Form von Freiheit im Keim ersticke: Wer immer in den Geschichtswissenschaften wirklich an Kausalität glaubt, verleugnet im Grunde den Gegenstand seiner eigenen Wissenschaft. […] Verallgemeinerungen und Kategorisierungen dieser Art löschen das „natürliche“, von der Geschichte selbst angebotene Licht aus und zerstören gleichzeitig die tatsächliche Geschichte [„story“], die jede geschichtliche Epoche uns zu erzählen hat, in ihrer Einmaligkeit, ihrer Unterschiedenheit und ihrem ewigen Sinn.10

Die zunehmende Bedeutung von kausalen Erklärungsmustern sowie von Erfahrungen, die in Form von Prozessen verarbeitet werden, steht im Zentrum ihrer Reflexion dessen, was sie als neuzeitliche Weltentfremdung beschreibt und für das das Arbeiten zur beispielhaften und bedingenden Tätigkeit wird. Die Gesellschaft der Jobholder ist letztlich der Inbegriff einer Lebensform, die nicht mehr gewohnt ist, innezuhalten und die Dinge auf ihren Wesenskern hin zu befragen, was nach Arendt mit dem „Verlust der Frage nach dem Sinn und des Bedürfnisses zu verstehen“11 einhergeht. Damit verfehlt das animal laborans zugleich die Möglichkeit, eine wahrhaftige Form von Glück zu erfahren, die nach Arendt an das gemeinsame Handeln im öffentlichen Raum gebunden ist, da sich Menschen erst hier eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz eröffnet, die ihnen sonst verschlossen bleibt und die Arendt in Anlehnung an die Founding Fathers der Declaration of Independence als „public happiness“12 bezeichnet. „Public Happiness“: Öffentlichkeiten als Räume der (Er-)Schöpfung Die Erfahrung ‚wahren‘ Glücks ist für Arendt an das gemeinsame Handeln in öffentlichen Räumen gebunden. Darunter versteht sie performative Sphären, 10  11  12 

Hannah Arendt: Verstehen und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 110-127, hier S. 123 (Hinzufügung i. Orig.). Ebd., S. 120. Hannah Arendt: Action and the „Pursuit of Happiness“. In: Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag. Hg. v. ders. / Alois Dempf / Friedrich Engel-Janosi. München 1962, S. 1-16, hier S. 11.

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die immer dann entstehen, wenn Menschen in Gesprächen die gemeinsame Welt reflektieren und ihrem Grundbedürfnis nachgehen, das darin besteht – wie Arendt in den Worten von John Adams betont –, „to be seen, heard, talked of, approved and respected“.13 Durch diesen Austausch lösen sich Menschen aus ihrer individuellen Perspektive und werden mit anderen Sichtweisen konfrontiert, um mehr über die Welt zu erfahren und im Austausch mit anderen ihr individuelles Sein bestätigt zu fühlen. Erst handelnd und sprechend offenbaren Menschen Arendt zufolge, „wer sie sind“, da sich im Vollzug dieser Tätigkeitsformen „die personale Einzigartigkeit ihres Wesens“ zeigt, indem sie auf der „Bühne der Welt“ (VA 219) auftreten, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren. Eine der zentralen Bedingungen der Aushandlung der personalen Einzigartigkeit ist für Arendt – neben der schon genannten Pluralität – die Annahme der prinzipiellen Alterität allen Daseins, die bereits im Denken des einzelnen Menschen vorzufinden ist: Für mich selbst bin ich, wenn ich dieses Mit-mir-selbst-bewußt-Sein artikuliere, unvermeidlich Zwei-in-Einem, was im übrigen der Grund dafür ist, weshalb die modische Suche nach der Identität vergeblich ist und unsere moderne Identitätskrise nur durch Verlust des Bewußtseins gelöst werden könnte.14

Die Annahme, dass Alterität die Grundlage der Lebenswelt sowie des eigenen Ichs ist, hat Arendts Verständnis des Menschen und der Menschlichkeit geprägt. Statt über die Dinge nachzudenken, geht es Arendt darum, an sie zu denken und so in einen Dialog mit ihnen einzutreten: Denke ich im Modus des an, so entferne ich alles so Gedachte von mir, selbst wenn es präsent ist. Denke ich im Modus des über, selbst über Entferntes, so indiziere ich immer, dass ich mich des Gegenstandes bemächtigen will. Abendländisches Denken strebte immer, die Fremdheit der Welt, ihr Anderssein aufzuheben; als gedachte war die Welt mein Eigentum.15

Arendt versucht in diesem Sinne, ein Denken anzustreben, das sich darauf konzentriert, den Anderen, nicht nur im Denken, in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren. Über diese Haltung, die sie bei ihrem Lehrer und späteren Freund Karl Jaspers kennenlernte, sagt sie, sie sei manchmal versucht gewesen, „[s]ie nachzuahmen bis in den Gestus des Sprechens hinein, weil dieser Gestus 13  14  15 

Hannah Arendt: Über die Revolution. München 1965, S. 169. Hannah Arendt: Über den Zusammenhang von Denken und Moral. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 128-155, hier S. 151. Hannah Arendt: Denktagebuch  1950-1973. Erster Band. Hg. v. Ursula Ludz / Ingeborg Nordmann. München 2002, S. 279. Herv. i. Orig.

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für mich symbolisch geworden war für einen sich unmittelbar verhaltenden Menschen, für einen Menschen ohne Hintergedanken“.16 Hinter Arendts Überzeugung und ihrer Bewunderung für einen Menschen, der mit einer „dauernden zur Kritik bereiten Toleranz“17 sein Leben führte, steckt die Überzeugung, dass die Menschen, wie verschieden sie in ihrer aktualen Lebensform auch immer sein mögen, grundsätzlich ihre Menschlichkeit teilen. Diese Menschlichkeit geht jedoch dann verloren, wenn Menschen sich nicht mehr als Individuen erfahren und nur noch konsumierend auf die Welt zugreifen: Sie leben zwar in der Gegenwart anderer und in gewissem Sinn mit ihnen zusammen, aber dieses Zusammenleben ist von keinem Merkmal echter Pluralität geprägt. Die konsumierende Haltung, die dem Arbeitsprozess eigen ist, und die im Zuge der Neuzeit auch auf das übergeht, was einst Sphäre des gemeinsamen Handelns war, wird so nicht nur zum Signum einer erschöpften Menschheit – sie wird zugleich zum Zeichen für die Bedrohung des gemeinsamen politischen Raumes, wie ihn Arendt vor dem Hintergrund der antiken Polis imaginiert. Die abnehmende Bedeutung des Handelns führt nach Arendt daher zum Verfall des öffentlichen Raumes, eines Raumes, den sie auch als die gemeinsame Welt bezeichnet.18 Arendts Weltbegriff ist äußerst facettenreich, da sie damit die Natur, die Dingwelt, also die von homo faber errichtete, gegenständliche Welt, aber auch und insbesondere die performative Sphäre bezeichnet, die immer dann entsteht, wenn Menschen interagieren. Wenn Arendt von Weltverlust spricht, dann meint sie damit den Verlust des gemeinsamen Sinnhorizontes, der im Zuge des Handelns entstehen kann und der nur so lange besteht, wie ein „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ gesponnen wird: Der Bereich, in dem die menschlichen Angelegenheiten vor sich gehen, besteht in einem Bezugssystem, das sich überall bildet, wo Menschen zusammenleben. Da Menschen nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugssystem menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, so daß die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in 16  17  18 

Hannah Arendt: Zueignung an Karl Jaspers. In: Dies.: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a.M. 1976, S. 7-12, hier S. 8f. Ebd. Vgl. Rahel Jaeggi: Welt/Weltentfremdung. In: Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Wolfgang Heuer / Bernd Heiter / Stefanie Rosenmüller. Stuttgart 2011, S. 333-335.

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Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren. Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar. (VA 226)

Erst wenn Menschen Teil des Bezugsgewebes sind, können sie sich selber erfahren, indem sie von sich erzählen und in narrativer Form über ihre Erfahrungen reflektieren – darin besteht letztlich die Form von Glück, die nach Arendt an die Öffentlichkeit gebunden ist, und die weder allein noch im Konsum erfahren werden kann. Wenn einige der Autoren, die sich jüngst intensiv mit dem Thema Müdigkeit beschäftigt haben, auf Arendts These der Weltentfremdung zurückgreifen, um die moderne Erschöpfung des Menschen zu reflektieren, dann übersehen sie dabei folglich, dass ‚Weltverlust‘ bei Arendt vor allem ein Symptom des politischen Verfalls ist: Erschöpfung wird von ihr als Signum einer Lebensweise verstanden, in deren Zuge das gemeinschaftliche Zusammenleben gefährdet ist, da die mußevollen Pausen, in denen die Menschen ihre prozessorientierten Tätigkeiten ruhen lassen, sich von der Arbeit abwenden und dem Öffentlichen, der gemeinsamen Welt, zuwenden, an Gewicht verlieren. Dabei ist im eigentlichen Sinn nicht einmal die Erschöpfung das primäre Übel, das zum Weltverlust führen kann, sondern vielmehr die Unfähigkeit, zu erschöpfen und das Schöpferische der Erschöpfung zu genießen, um die individuellen Erfahrungen von vergangenen Tätigkeiten auszutauschen. Diese Unfähigkeit, die auch Han als zentrale Ursache der modernen Erschöpfung ausmacht,19 ist es letztlich, die zur Passivität der so emsig-aktiven Arbeitergemeinschaft führt. Er missversteht Arendt jedoch, wenn er gegen sie einwendet, dass sich die Arbeitsgesellschaft längst in eine Aktivgesellschaft transformiert habe, die keineswegs als passiv bezeichnet werden könne,20 und er übersieht, dass Arendt das Arbeiten als eine Betätigung versteht, die aktiv und passiv zugleich ist: Sie ist aktiv, indem sie den Menschen dazu anhält, zu funktionieren, ihn aber in seinem sinnstiftenden Denken der Passivität überführt. Das Schicksal des animal laborans besteht letztlich darin, dass es danach strebt, den erfahrenen Mangel zu kompensieren, indem es versucht, sich so zu verhalten, wie alle anderen – auch das kann als Signum einer Konsumgesellschaft verstanden werden.

19  20 

Vgl. Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 7. Vgl. ebd., S. 35.

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Leben als Konsum und der Widerstand des Literarischen Wohl am deutlichsten, und auch streitbarsten, hat diesen Zusammenhang der italienische Dichter, Regisseur und Publizist Pier Paolo Pasolini formuliert, wenn er betont, dass kein faschistischer Zentralismus das geschafft hat, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft vollbracht habe: [A]uf den Straßen der westlichen Welt – wobei ich vor allem über Italien reden will – springt einem die Gleichförmigkeit der Menge ins Auge. […] Der Zwang zum Konsum ist ein Zwang zum Gehorsam gegenüber einem unausgesprochenen Befehl. Jeder in Italien steht unter dem entwürdigenden Zwang, so zu sein, wie die andern: im Konsumieren, im Glücklichsein, im Freisein; denn das ist der Befehl, den er unbewußt empfangen hat und dem er gehorchen „muß“, will er sich nicht als Außenseiter fühlen. Nie zuvor war das Anderssein ein so schweres Vergehen wie in unserer Zeit der Toleranz. Denn die Gleichheit ist hier nicht erkämpft worden, sie ist eine „falsche“, eine geschenkte Gleichheit.21

Resonanz – also die individuelle menschliche Weltverbindung, wie Rosa sagt – hängt nach Arendt gerade davon ab, dass Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven sprechen: [D]ie Wirklichkeit des öffentlichen Raums [erwächst, J.P.] aus der gleichzeitigen Anwesenheit zahlloser Aspekte und Perspektiven, in denen ein Gemeinsames sich präsentiert und für die es keinen gemeinsamen Maßstab und keinen Generalnenner je geben kann. Denn wiewohl die gemeinsame Welt den allen gemeinsamen Versammlungsort bereitstellt, so nehmen doch alle, die hier zusammenkommen, jeweils verschiedene Plätze in ihr ein, und die Position des einen kann mit der eines anderen in ihr so wenig zusammenfallen wie die Position zweier Gegenstände. (VA 71)

Entgegen Hans Position22 lassen sich vor dem Hintergrund dieser Diagnose in Arendts Werk durchaus Anregungen ausmachen, die der totalen Erschöpfung entgegenwirken können und die unmittelbar mit der menschlichen Resonanzbildung zusammenhängen. Ihr zufolge hat der Mensch zu keiner Zeit seine natürlichen Fähigkeiten, Welt- und Selbstbeziehungen zu entwickeln, verloren, er greift nur nicht darauf zurück bzw. wird von der Welt nicht darin geübt, sie zu kultivieren. Arendt führt diesen Zusammenhang am Ende ihres Lebens nur fragmentarisch aus, wenn sie Kants Kritik der Urteilskraft aus einer 21  22 

Pier Paolo Pasolini: Nachtrag über die anthropologische Revolution. In: Ders.: Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Hg. v. Agathe Haag. Berlin 1979, S. 36-39, hier S. 37. Vgl. Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 38.

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politischen Perspektive interpretiert und die Bedeutung einer ästhetischen Betrachtungsweise betont, die eine Haltung ermöglicht, die den Gegenständen der Wahrnehmung – und das heißt im öffentlichem Raum vor allem: anderen Menschen – ihren Freiheitsraum zugesteht, sie also als selbstzweckhafte Entitäten bestehen lässt: Im Geschmack entscheidet sich, wie die Welt qua Welt, unabhängig von ihrer Nützlichkeit und unseren Daseinsinteressen in ihr, aussehen und ertönen, wie sie sich ansehen und anhören soll. Der Geschmack beurteilt die Welt in ihrer Weltlichkeit; ihn interessieren weder das sinnliche Leben noch das moralische Selbst, denen er ein reines, ‚uninteressiertes‘ Weltinteresse entgegensetzt.23

Das ‚interesselose Wohlgefallen‘, das nach Kant Inbegriff des Geschmacks ist, wird von Arendt in ein ‚uninteressiertes Weltinteresse‘ transformiert und dadurch mit einem dezidiert politischen Akzent belegt. Der Geschmack bzw. die ästhetische Urteilskraft bilden für sie die Grundlage für eine Form des distanzierten Reflektierens, das sich jeder Art von Logik widersetzt, die Denkbewegungen Zwangscharakter verleihen können. Geschmacksurteile erlauben es dagegen, die Welt und unsere Mitmenschen möglichst unabhängig von subjektiven Eindrücken wahrzunehmen und zu beurteilen. Ästhetische Wahrnehmungsarten können Menschen also dazu verhelfen, Notwendigkeitsbeziehungen im Denken aufzulösen und Kausalketten zu durchbrechen. Diesen Zusammenhang hat insbesondere Jacques Rancière aufgegriffen, der in seinen Schriften um ganz ähnliche Themen kreist wie Arendt. Beide argumentieren dafür, dass der Bereich des Ästhetischen dazu beitragen kann, prozesshafte, konsumorientierte Denkbewegungen aufzubrechen und Resonanzräume zu stiften. Wie Arendt, so versteht auch Rancière unter Politik keine Parteiendemokratie, sondern eine öffentliche Sphäre, die nur dann entund besteht, wenn sich Menschen Sichtbarkeit erstreiten, indem sie aus der Masse heraustreten und individuell wahrnehmbar werden. Auch Rancière nimmt Bezug auf Kants Kritik der Urteilskraft, wenn er sein Politikverständnis anhand von Arbeitsgesellschaften veranschaulicht. Seinem gleichnamigen Werk entsprechend geht es ihm um die Aufteilung des Sinnlichen,24 um die Teilhabe am sinnlich erfahrbaren Leben, um die gleichwertige Betonung der menschlichen Sinnesvermögen und um die Bedeutung des menschlichen Blicks. Anhand des Tischlers Gauny beschreibt Rancière, dass dieser in einem Moment, in dem er von seiner Arbeit Abstand nimmt und aus dem Fenster 23  24 

Arendt: Kultur und Politik, S. 300. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. v. Maria Muhle. Berlin 2006.

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schaut, beginnt, die Welt ästhetisch – „mit Kants interesselosem Blick“, wie er sagt – zu betrachten und damit Politik zu betreiben: In gewisser Weise beginnt der Klassenkampf mit der Fähigkeit des Blicks, sich von den Händen zu trennen, das heißt, der Arbeiter macht sich materiell, konkret, ästhetisch zum Eigentümer dieser Welt, in der er seine Arbeitskraft verkauft. Mein Gedanke ist, dass die Emanzipation hier stattfindet. Diese Art der Besitznahme setzt voraus, dass man seinen Blick verändert, dass der Blick nicht mehr bloß da ist, um die Arbeit der Hände zu begleiten, sondern dass er in eine andere Richtung geht als sie.25

Entscheidend ist für Rancière, dass der Arbeiter sich von seiner Arbeit distanziert und den „Blick eines Ästheten“ einnimmt, „das Denken eines Ästheten“ annimmt: „Das bedeutet auch, dass die Hand schließlich ihre Funktion verändern wird, sie wird damit beginnen, zu schreiben, Gedichte zu schreiben, Texte zu schreiben.“26 Rancière geht im weiteren Verlauf – ganz ähnlich wie Arendt – ausführlich auf Kants Bestimmung des Schönen ein und argumentiert gegen Bourdieu, dass die Entwicklung eines ästhetischen Blicks kein Privileg des bürgerlichen Geschmacks ist, sondern eine „Haltung“, die jeder Mensch entwickeln kann: „Für mich ist Bourdieus These im Grunde die These Platons, dass nämlich jeder mit seiner Art und Weise, zu sein, auf der Seite bleiben solle, die ihm aufgrund seiner Bedingungen eigen ist. Also beginnt die Emanzipation da, wo die Leute beschließen, nicht mehr auf ihrer Seite zu bleiben.“27 Dem Bereich des Ästhetisch-Kulturellen kommt für die Emanzipation und die Transzendenz des eigenen Standpunktes hier insofern eine besondere Bedeutung zu, als ihm ein Potenzial innewohnt, das die Menschen als Handelnde darin übt, aus ihrem gewohnten Denken auszubrechen und Teil einer demokratischen Gemeinschaft zu werden. Für Rancière ist die Ausbildung einer „ästhetischen Haltung“ daher die „Grundlage der Möglichkeit gesellschaftlichen Umsturzes […], weil es der Beginn des Ausgangs aus der sinnlichen Situation ist, in die die Leute eingesperrt sind“.28 Unter Ästhetik versteht Rancière entsprechend nicht eine Theorie des Schönen oder der Kunst, sondern eine „Weise der Erfahrung eines Sinneszustandes, der die Hierarchien, die die Sinneserfahrungen normalerweise organisieren, aufgegeben hat, etwa die Hierarchie zwischen der Sinnlichkeit, die empfängt, und des Verstandes, der organisiert, oder der Intelligenz, die 25  26  27  28 

Jacques Rancière: Politik und Ästhetik. Im Gespräch mit Peter Engelmann. Wien 2016, S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., S. 35f. Ebd., S. 36.

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bestimmt, und den Händen, die gehorchen“.29 Er bezeichnet das Ästhetische daher als „Regime der Erfahrung“,30 das seinem Politikverständnis insofern zugrunde liegt, als es einen Raum zur Verfügung stellt, in dem jedermann jederzeit sein Wort erheben kann. Die Auseinandersetzung mit Kunst ermöglicht daher die Verteilung und Neuverteilung dieser Räume und Zeiten, der Plätze und Identitäten, des Sichtbaren und Unsichtbaren. Daher sind Kunstformen in besonderer Weise dazu geeignet, der menschlichen Alterität bzw. Gleichheit Ausdruck zu verleihen, ja sie überhaupt denkbar zu machen. Ästhetische Formen sind sowohl bei Arendt als auch bei Rancière eng mit dem Bereich des Politischen verknüpft und können als Grundlagen und Gegenstände, als Spielräume politischer Praxis verstanden werden, da sie in beiden Theorien dazu beitragen, eine Öffentlichkeit (Arendt) bzw. Sichtbarkeit (Rancière) zu konstituieren, die den politisch handelnden Menschen Freiheitsräume eröffnen und damit eine individuelle Existenzsphäre erfahrbar machen. Dem Bereich des Ästhetischen wohnt folglich das Potenzial inne, Erschöpfungszustände wahrzunehmen, sie zu genießen und neue Resonanzräume zu stiften. Für den vorliegenden Sammelband ist in diesem Zusammenhang insbesondere von Bedeutung, dass Arendt gerade den Dichtern und Geschichtsschreibern eine besondere Bedeutung zuspricht, wenn es darum geht, der Tätigkeit des Handelns im öffentlichen Raum wieder mehr Stellenwert zukommen zu lassen und Wege aus der Erschöpfung zu eröffnen. So portraitiert sie z.B. in Menschen in finsteren Zeiten unter anderem G.E. Lessing als Beispiel eines Dichters, dessen Werk im Wesentlichen „Handlung“31 sei: Der heimliche Bezug, den sein Selbstdenken mit dem Handeln verband, lag gerade darin, daß er sein Denken nie an Resultate band, ja, daß er auf Resultate, sofern sie die endgültige Auflösung von Schwierigkeiten bringen sollten, die das Denken sich selbst macht, ausdrücklich verzichtete, und zwar sogar um den Preis der Wahrheit, weil ja jede Wahrheit notwendigerweise das Denken als reine Tätigkeit zum Stillstand bringen muß. Die Fermenta cognitionis, die Lessing in die Welt streute, sollten keine Erkenntnisse mitteilen, sondern andere zum Selbstdenken anregen, und dies eigentlich für keinen anderen Zweck, als um ein Gespräch zwischen Denkenden in Gang zu bringen. Das Lessingsche Denken ist nicht ein Sprechen mit sich selbst, sondern ein vorweggenommenes Sprechen mit anderen.32 29  30  31  32 

Ebd., S. 37. Ebd., S. 38. Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz. München 1975, S. 11-42, hier S. 18. Ebd., S. 15.

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Die Auseinandersetzung mit Dichtung, worunter Arendt ganz undifferenziert literarische Formen im Allgemeinen versteht, kann Menschen dazu anregen, andere Perspektiven einzunehmen und an öffentlichen Diskursen teilzunehmen – zumindest dann, wenn Dichtung nicht darauf abzielt, zu unterhalten oder zu belehren, sondern wenn sie die Einbildungskraft affiziert und die routinierte Wahrnehmung der Lesenden bricht.

SCHREIBWEISEN DER ERSCHÖPFUNG

Dieter Heimböckel

Lieber nicht

Genosse Bartleby – Genosse Idiot Der Idiot ist klug genug, sich nicht erschöpfen zu lassen. Das Gefühl, nicht so stark zu sein, wie man gerne sein möchte, hat bei ihm keine Chance. ‚Bleib mir vom Leibe‘, könnte eher eines seiner Leitmotive lauten, und wenn es sich doch seiner zu bemächtigen sucht, wendet er alle Energien auf, um es in seine Schranken zu weisen. Behaupten lässt sich jedoch nicht, dass diese und andere Formen der Distanznahme keinen Einfluss auf ihn genommen hätten, er schadlos daraus hervorgegangen wäre. Es ist ihm auf lange Sicht nicht gut bekommen, dass in Zeiten der griechischen Polis zunächst als Idiot galt, wer kein öffentliches Amt innehatte noch sich am politischen Leben beteiligte. Der Idiot ist seinem Ursprung nach eine Privatperson, jemand also, der es vorzieht, es sich abseits von Gemeinschaft und Gesellschaft einzurichten, und dem man nachsagt, er gehe eigene Wege und neige dazu, sich in „abweichendem Verhalten, Eigentümlichkeit und Eigenart“1 zu ergehen. Dass er sich so recht in keine Ordnung fügen will, ist jedoch in Zeiten begrifflich-konzeptioneller Ausdifferenzierung nichts, was man auf sich beruhen lassen konnte. In Medizin und Psychopathologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat die Idiotie jedenfalls als Diagnose bestimmter Formen geistiger Einschränkung eine steile Karriere gemacht. Auch wenn der Begriff inzwischen aus der medizinischen Nomenklatur verschwunden ist, so ist die Bezeichnung ‚Idiot‘ in der Alltagssprache auch heute noch kaum dazu geneigt, Freudensprünge bei dem so Bezeichneten auszulösen. Es sei denn, man hält es mit Botho Strauß, der in Lichter des Toren die wohl aktuellste Vision des Idioten, d.h. von sich in seiner Zeit, entwirft: PRIVATMANN. SCHLECHTES WORT. Idiot ist besser. Idiotes. Er hat sich der öffentlichen Verpflichtungen entschlagen. Für ihn wird das Öffentliche von einer Vernunft bewegt, die ihn verlassen hat. Öffentliche Angelegenheiten erreichen in ihrem Zusammenwirken einen Grad an verflochtener Klugheit, die der Einzelne, Vereinzelte selbst niemals besitzen oder auch nur nachvollziehen kann. Es heißt doch: Die Strukturen sind allemal klüger als wir, die sie hervorbrachten. Dem erweist der Idiot seinen Respekt und mißt sich nicht mit dem Betriebsgeist der Dinge. Diese Enthaltung gewährt ihm eine gewisse Unabhängigkeit, deren 1  Dunja Brötz: Dostojewskis „Der Idiot“ im Spielfilm. Analogien bei Akira Kurosawa, Saša Gedeon und Wim Wenders. Bielefeld 2008, S. 23.

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Dieter Heimböckel radikalste Steigerung zugleich den Zusammenbruch jeglicher Kommunikation riskiert.2

Darauf, sich nicht mit dem „Betriebsgeist der Dinge“ messen zu wollen, und wozu Enthaltung – man könnte auch stattdessen von Verweigerung sprechen – führen kann, wenn sie sich radikal in der Aufkündigung jeglicher Kommunikation vollzieht, darauf werde ich nachfolgend zu sprechen kommen. Auch auf Botho Strauß komme ich noch einmal, wenn auch nur en passant, zurück. Wer schreibt, der bleibt: von Bartleby und anderen Idioten Ich möchte zunächst das literarische Idiotentum vermessen, um einen Ausblick darüber zu geben, von welcher Reichweite hier die Rede ist. Und Robert Walser, für den ich in meinen Ausführungen eine zentrale Rolle vorgesehen habe, wird mir dabei behilflich sein. Denn wer, wie Walser, der „Blödigkeit […] etwas Faszinierendes“3 abzugewinnen vermag und dennoch behauptet, „absolut nicht idiotisch, vielmehr für alles Vernünftige empfänglich zu sein“,4 der erstellt eine Kartographie des literarischen Idiotentums, bei der sich die Frage stellt, was von der europäischen Literatur bliebe, wenn es in ihr nicht eingezeichnet wäre. Dazu ein etwas längeres Zitat aus Walsers Prosastück Über eine Art von Duell aus dem Jahre 1925: Unternimmt man eine Reise von Toledo nach Pontarlier, wandert man von da nach Bayreuth, und beendet man die literarische Wanderschaft in Petrograd, so ist man zweifellos den Spuren der großen Romane und Romandichter nachgegangen. Man wird sich erinnern, wie Fürst Myschkin im Salon der Generalin Epantschin infolge einer ungeschickten Bewegung eine japanische Vase umwirft. Eine ganz ähnliche Vasenumwerferei findet auch in „Rouge et Noire“ statt, nur statt in Petersburg zu Paris im Hotel de la Mole, und statt des „Idioten“ ist hier Julien Sorel der Sünder, womit ich doch wohl einwandfrei feststelle, daß Dostojewski den Stendhalschen Roman gekannt hat, daß sich da der Russe sozusagen an den Franzosen „anlas“, was ich ihm natürlich keineswegs etwa zum Vorwurf mache. Und was ist denn der „Idiot“ anderes als ein Bruder zum Don Quichotte? Auch der Idiot begeht ja in einem fort ideale Dummheiten, auch ihn schmücken Fehler schöner Art, und was die Fallsucht oder Epilepsie betrifft, woran der Idiot 2  Botho Strauß: Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit. München 2013, S. 27. 3  Robert Walser: Das Kind (III). In: Ders.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Frankfurt a.M. 1986, Bd. 8, S. 74-79, hier S. 77. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Sigle SW und Band- und Seitenzahl zitiert. 4  SW 8, S. 18 (Der Idiot von Dostojewski).

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leidet, so kniet dafür Don Quichotte mit Vorliebe vor Bauernmägden nieder, die er für Herrinnen hält, was man ja auch als Fallsucht anschauen kann.5

Ist das nicht ein reizendes Wort, dass man, um ein Idiot zu sein, sich die Auszeichnung verdiene, von „Fehlern schöner Art“ geschmückt zu werden? Man erhält hier abermals einen Eindruck davon, dass, wie zwei eindrucksvolle Literaturgeschichten zum Idioten dokumentiert haben,6 es zur Figur des Idioten keine simplifizierende Lektüre gibt, er ist vielmehr semantisch überdeterminiert, ohne eine transhistorische stabile Bedeutung, im besten Sinne unfassbar. Vermutlich hatte Walser selbst einen Charakter wie Jakob von Gunten vor Augen, dessen Wunsch sich darin erfüllen sollte, „eine reizende, kugelrunde Null“ zu werden,7 oder er dachte an Simon Tanner, seines Zeichens Schreiber und Kalligraph wie Fürst Myschkin und ein Mensch, der „etwas Blödes“ und „Unzurechnungsfähiges“, etwas „Unbekümmert-Läppisches“ an sich habe,8 wie seine Schwester Hedwig meint. Walser galt jedoch als zu bescheiden, um Biel und damit sich selbst in die literarische Landkarte seiner verehrten Sonderlinge einzutragen, die, wäre sein Text nach 1925 entstanden, mit großer Wahrscheinlichkeit durch Hašeks Prag (sein Švejk wurde erst 1926 ins Deutsche übersetzt) topographisch angereichert worden wäre, so selbstverständlich wurden schon seinerzeit und werden bis heute mit guten Gründen der Ritter der traurigen Gestalt, der arglose Fürst und der brave Soldat in einem Atemzug genannt. Dass es sich bei dieser Idioten-Phalanx um einen schieren Eurozentrismus handelt, sei ebenso konzediert wie die Vernachlässigung einer ganzen Reihe von Figuren, die, wie Simplicius Simplicissimus oder Karl Roßmann, für sich durchaus den Anspruch geltend machen dürften, in das Pantheon der Idioten aufgenommen zu werden. Wir müssen uns dieses Pantheon allerdings als einen Ausstellungsraum mit unterschiedlichen Abteilungen vorstellen, weil, wie schon angedeutet, Idiot und Idiot nicht einfach kompatibel sind und wir in diesem Feld vielmehr mit einer beträchtlichen Ausdifferenzierung zu rechnen haben. Bei Don Quichotte haben wir es diesbezüglich bereits mit einem Spartenphänomen zu tun, und es wird keines weiteren Nachweises dafür bedürfen, dass Cervantes’ Idiot jene Gewitztheit 5  SW 17, S. 166-171, hier S. 168. 6  Vgl. Martin Halliwell: Images of Idiocy. The Idiot Figure in Modern Fiction and Film. Aldershot 2004; Paolo Febbraro: L’idiota. Una storia letteraria. Firenze 2011. Auf literarische Quellen zu dem hier in Rede stehenden Thema greift auch die erst jüngst erschienene Arbeit Idiocracy. Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten (Zürich 2020) von Zoran Terzić zurück. Robert Walser spielt bei ihm allerdings keine Rolle. 7  SW 11, S. 8. 8  SW 9, S. 176.

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fehlt, die beispielsweise für den braven Švejk so charakteristisch ist. Ein anderer Befund stellt sich wiederum ein, wenn wir von dem Idiotenwesen die Eigenschaft abziehen, die Walser für es in Anschlag bringt, und wir damit auf die Dummheit in ihrer unverbesserlichen Ausprägung gestoßen werden, die Flaubert mit Bouvard und Pécuchet so gnadenlos als Epos des menschlichen Stumpfsinns in Szene setzt. Sollte es dann allerdings noch jemandem einfallen, von den Figuren eventuell auf ihren Erfinder zu schließen, wie es Sartre im Falle Flauberts in extenso betrieben hat, dann wären wir auf einmal mit einer Inversionslogik des Idiotischen konfrontiert, indem es gleichsam wie ein Virus auf den Produzenten übergeht, ohne dass wir solchermaßen davon ausgehen dürfen, die Spezies des schriftstellernden Idioten vollumfänglich erfasst zu haben. Denn mit dem Idioten der Familie sind die aktuellen Selbstprofilierungen des Schriftstellers als eines Idioten, der wie Botho Strauß kraft der Absonderung und ihrer Pflege seinen Lorbeerkranz flicht, nicht zu vergleichen bzw. eher dem Typus zuzurechnen, wie ihn einst die Literatur hervorgebracht hatte. Man könnte insofern fast meinen, dass es sich hier um eine Art rückwärtsgewandte Metamorphose handeln würde, bei der sich die Schriftsteller ihren literarischen Vorbildfiguren anverwandeln oder sie ihnen gewissermaßen anverwandelt werden. Oder umgekehrt: Im Schriftsteller als Idioten west der Idiot als Schriftsteller in dem Sinne, in dem dieser als „concipient“9 ursprünglich für andere Schriften verfasste, fort. Zumindest ist frappant, wie häufig uns in den Quellen Idioten begegnen, die einer Schreibertätigkeit nachgehen. Von Tanner und seiner Nähe zu Myschkin war bereits die Rede, Bouvard und Pécuchet sind Kopisten, wenn auch solche, denen man seine Schreibanliegen am besten nicht anvertraut. Und schließlich (was hier nicht mit ‚abschließend‘ bzw. ‚ausschließend‘ verwechselt werden sollte) wäre da noch der ungekrönte König aller Schreiber, oder sagen wir besser: ihr primus inter pares. In Herman Melvilles Bartleby, dem Schrecken aller Disziplinfanatiker, diesem Monstrum kindlich-naiver Verweigerung, verkörpert sich der Einspruch gegen den idiotischen Eurozentrismus aufs Schärfste (auch wenn Angelsachen das ebenso wie im Fall von William Faulkners Benjamin Compson anders sehen mögen), ihm alleine würde eine eigene Abteilung im Pantheon der Idioten gebühren, und dies nicht nur aus Gründen interkultureller Parität, sondern weil seine ‚stupide Heiligkeit‘ sich an keiner Aktivität festmachen lässt,10 es sei denn, sein wiederholtes ‚I would prefer not to‘ ließe sich darunter fassen. 9  10 

Art. Schriftsteller. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig  1854-1961., Bd. 15, Sp. 1748. Vgl. Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel. Berlin 1994, S. 35.

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Aber selbst diese wird im sprachlichen Vollzug wieder zurückgenommen und so mehr in der Schwebe gehalten als zu Ende geführt. Bartleby steht für das Unfassbare des Idioten, in ihm kommt es zu einer Verabsolutierung der Außenseiterschaft, weil sie selbst von sich absieht. Wer sich auf ihn einlässt, wird – ob er will oder nicht – ein anderer Mensch. Das Sicheinlassen ist dafür allerdings eine elementare Voraussetzung, wie die Geschichte in dem Moment vor Augen führt, als der Nachmieter des Anwalts (und Ich-Erzählers) – weniger von Skrupel erfüllt als dieser – Bartleby von der Polizei abführen lässt und damit dessen Schicksal besiegelt. Aber was heißt Skrupel? So recht weiß man es nicht. Empfindet der Anwalt die Sonderbarkeit Bartlebys nach, als wenn er selbst von ihr betroffen sein würde? Verfolgt er, wie Wilhelm Genazino sagt, das „Projekt einer erfolgreich vorgestellten Nächstenliebe“,11 sodass in ihm der Idiot, gleichsam als seine andere Seite, ein kongeniales Organ findet? Oder ist seine Nächstenliebe bei ihm nicht Ausdruck einer gespreizten Selbstgefälligkeit, die nicht das Ausmaß des von ihm zu verantwortenden Ausbeutungssystems übersieht, übersehen will? Wie auch immer. Bartleby helfen konnte er nicht. Denn dem ehemaligen Angestellten im Amt für unzustellbare Briefe – „Unzustellbare Briefe. Klingt das nicht nach Verstorbenen?“12 – war einfach nicht, auch nicht unter Aufbietung eines unausdenkbaren Altruismus, zu helfen. Das ist die bittere Konsequenz des sich kompromisslos vollziehenden ‚I would prefer not to‘ bzw. „Ich möchte lieber nicht“,13 seine sonderbare Schönheit ebenso wie seine in der Unabänderlichkeit liegende Eigenheit, „von Natur aus versteinert“14 zu sein. Wer Trost sucht, lese daher Bartleby nicht, und wer glaubt, aus dem Text die Energie für eine produktive Haltung der Verweigerung zu beziehen, der hat den in ihr liegenden Pessimismus idealistisch umsortiert. Ohnehin sind Idioten- in der Regel keine Trostbücher, das ist Don Quichotte nicht, das sind Der Idiot und der Švejk nicht, und das ist auch Bartleby nicht. Er bleibt bis zum Schluss, wenn mir diese Anspielung auf Joseph Roths Hiob-Roman und seine Menuchim-Figur, einen Idioten ganz anderer Art, gestattet ist, ein Symbol, „das keine Antwort gibt“.15 Als ein solches Symbol hat Bartleby zahllose Interpreten herausgefordert, und dabei nicht nur solche der Philologie, sondern auch der Philosophie. Gilles Deleuze beispielsweise, Giorgio Agamben und jüngst Byung-Chul Han, der Bartleby in seinem Essay zur Müdigkeitsgesellschaft, und anders 11  12  13  14  15 

Wilhelm Genazino: Die lächerliche Wahrheit. In: Hermann Melville: Bartleby der Schreiber. 2. Aufl. München, S. 83-90, hier S. 87. Melville: Bartleby, S. 79. Ebd., S. 25. Deleuze: Bartleby, S. 35. Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. 13. Aufl. München 2013, S. 48.

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etwa als Agamben, nicht als eine „Geschichte der ‚Ent-Schöpfung‘“, sondern als eine „Geschichte der Erschöpfung“16 liest. Man könnte meinen eine Steilvorlage für jemanden, der das Idiotentum mit dem Phänomen der Erschöpfung zusammenbringen will. Aber glücklich bin ich mit ihr nicht. Mir gefällt der affirmative Gestus des Buches von Han nicht, die in jedem Satz stehende und von keinem Zweifel genährte Überzeugtheit, die Abwesenheit eines aus noch so großer Ferne herüberwispernden Staunens, das doch schließlich am Anfang eines jeden Philosophierens stehen sollte. Nichts dergleichen. Dagegen wird auf die Unausweichlichkeit einer „pathologische[n] Lektüre“17 gesetzt, die die Krankheit – überraschend bringt Han dafür den heute in Psychotherapie und Psychiatrie diagnostisch kaum noch geläufigen Begriff der Neurasthenie ins Spiel – aus einer inhumanen Arbeitswelt herleitet und Bartlebys ‚I would prefer not to‘ dadurch als Ausdruck für seine ihn schließlich zugrunderichtende Antriebslosigkeit und Apathie ausgelöst sieht. Wir hätten damit zwar einen klaren Fall von Erschöpfung, zu klar aber für meinen Geschmack, sollte sich der Sinn der Erzählung ausgerechnet in der Erschöpfung erschöpfen.18 Ich halte es dagegen lieber mit Enrique Vila-Matas und seinem Roman Bartleby & Co., im spanischen Original  2000 unter dem Titel Bartleby y Compañia erschienen; nicht deshalb freilich, weil er einen Schlüssel zum Verständnis der Erzählung Melvilles bereithielte, gerade das nicht, sondern weil sich in ihm das Bartleby-Phänomen gewissermaßen in die Literatur selbst verschiebt und sie damit zu dessen Potenzierung beiträgt, als eine Idee, wie der Erzähler schreibt, „die Literatur der Verweigerung frei nach Bartleby und Co. zu ergründen.“ Denn schon seit langem erforsche er „die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Bartleby-Syndroms in der Literatur“, untersuche ich, führt der Erzähler weiter aus, diese Krankheit, das endemische Leiden der zeitgenössischen Literatur, den negativen Unterton, die Faszination für das Nichts mit der Folge, dass manch ein schöpferischer Geist mit ausgeprägter literarischer Neigung (vielleicht auch 16  17  18 

Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Um die Essays Burnoutgesellschaft und HochZeit erweiterte Neuausgabe. Berlin 2016, S. 55; vgl. auch Giorgio Agamben: Bartleby oder die Kontingenz. Gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin 1998. Han: Müdigkeitsgesellschaft, S. 48. So auch Hartmut Böhme, der mit Blick auf Bartleby von einer „grenzenlosen Erschöpfung“ spricht: „Bartlebys Sprache schrumpft zu einer leeren Negation, welche die totale Erschöpfung anzeigt und zwanghaft wiederholt, bis Bartleby schließlich als Human-Abfall entsorgt wird: Welt und Ich enden in ihrer Nicht-Möglichkeit.“ Hartmut Böhme: Das Gefühl der Schwere. Historische und phänomenologische Ansichten der Müdigkeit, Erschöpfung und verwandter Emotionen. In: figurationen 16, H. 1 (2015), S. 26-49, hier S. 37.

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gerade deshalb) entweder nie zum Schreiben kommt oder nach ein oder zwei Büchern dem Schreiben für immer entsagt, oder irgendwann, nachdem er erst problemlos ein Werk begonnen hat, urplötzlich wie gelähmt ist, und zwar endgültig.19

Um einen Roman handelt es sich also, wenn man diese aus 86 vignettenähnlichen Einträgen bestehende Montage so bezeichnen will (der Paratext tut es zumindest), in dem der Erzähler Marcelo, der selbst vom Bartleby-Syndrom heimgesucht wurde, dem Schreiben bis zu dem Tag entsagt, an dem er sich daran macht, die spektakulärsten Fälle literarischer Verweigerung und ihre letzten Geheimnisse zu erkunden. Spektakulär sind die Fälle nicht nur wegen der Vielzahl der Motive, die den Ausschlag für das zwischenzeitliche oder gänzliche Verstummen der Schriftsteller gegeben hat – diese Art der Literaturgeschichte ist im Übrigen ebenso viril wie das literarische Idiotentum männlich dominiert ist. Imponierend ist auch die Phalanx der Namen, die einem hier begegnet: Neben weniger oder nur dem nationalphilologisch bewanderten Connaisseur Bekanntem stößt man auch auf Repräsentanten der literarischen Hochkultur, die man für sich und in ihren Eigenarten zwar kennt, die man aber eher nicht in der Genossenschaft der Bartlebys vermutet. Keats und Rimbaud gehören ihr an, aber auch Kafka, Maupassant, Rilke, J.D.  Salinger, B.  Traven und Hofmannsthal – natürlich Hofmannsthal, möchte man dann doch wie selbstverständlich sagen, weil man es, durch die Brille von Vila-Matas, nun besser oder sagen wir: anders, und die Sprachkrise um 1900 unversehens in die Nähe der Erschöpfungsthematik gerückt sieht. Der Prinzipal der Compañía ist aber eindeutig Robert Walser, wobei es mit Walser für Vila-Matas eine besondere Bewandtnis hat. Denn Walsers Leben und Werk liefern ihm über Bartleby & Co. hinaus das Material für die dann vor allem in seinem Roman Doktor Pasavento ausgetragene Frage, wie man von Walser und anderen Schriftstellern das Verschwinden lernen könne.20 Mag es sich dabei auch um einen „zurechtgebogenen Walser“21 handeln, wie die Walser-Forschung argwöhnt, so mache ich die Biegung gerade im Lichte 19  20 

21 

Enrique Vila-Matas: Bartleby & Co. Roman. Frankfurt a.M. 2009, S. 10. Eine zentrale Anregung für meine an Walser und Vila-Matas ausgerichtete BartlebyLektüre in dem vorliegenden Beitrag ging vom Robert Walser-Handbuch aus. Vgl. Bernhard Malkmus: Jakob von Gunten (1909). In: Robert Walser Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Lucas Marco Gisi. Stuttgart 2015, S. 116-129, hier S. 116f. Irene Weber Henking: Walser übersetzen. Ein Gespräch mit Susan Bernofsky, Marion Graf, Fuminari Niimoto und Teresa Vinardell Puig. Mit englischen, französischen, japanischen und katalanischen Übersetzungsbeispielen von Robert Walsers Prosastück Watteau und einer Darstellung der Walser-Rezeption in den jeweiligen Sprachräumen durch den Übersetzer. In: Robert Walsers ‚Ferne Nähe‘. Neue Beiträge zur Forschung.

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meines Themas gerne mit, weil im Verschwinden der Idiot gerade nicht als Opfer der Erschöpfung, sondern als ihr Antipode zurückzubleiben scheint. Im „Land der Nullen“ oder so tun als ob In der Miszelle Der Idiot von Dostojewski hatte Walser bedauert, „kein Romanheld zu sein“.22 Bei Vila-Matas wurde er es, posthum und vielleicht ein wenig zurechtgebogen, in gewisser Weise nun doch. Ein Zeichen für dessen Befreundung gerade für den Verfasser von Jakob von Gunten. Ihm läuft der Tagebuchroman ebenso nach wie Walser Dostojewskis Idiot. Man stelle sich das bildlich vor: ein Buch auf zwei Beinen. Ein surrealistisches Bild womöglich. Aber im Körperlichwerden der Literatur eröffnet sich, weniger bildlich als vielmehr wörtlich genommen, die Möglichkeit ihrer Inkorporierung. Die Möglichkeit – wohlgemerkt. Denn in Nachlaufen ist immer noch eine Distanz vermittelt, die auch Walser in späteren Jahren betonte, als er, angesprochen auf das Potential, einmal ein Dostojewski werden zu können, auf seiner Eigenständigkeit insistierte, insofern es „durchaus nicht nötig oder wünschenswert“ sei, „irgendeinem anderen Schriftsteller ähnlich zu sehen […], sondern es sei hier das Gesündeste und Dringlichste, ruhig ich selbst zu sein.“23 Doch die Geister, die man rief, wird man, wenn überhaupt, so schnell nicht los, warum auch, wenn es die eigene Schreibhaltung bestärkt und mit ihr ein Blick auf die Welt ganz eigener Prägung entsteht. Schimmert allerdings durch die unterschiedlichen und womöglich zeitlich und räumlich mehr oder weniger weit auseinanderliegenden Stilübungen etwas Gemeinsames durch, dann ließe sich daraus durchaus ein übergreifender Befund herleiten – in meinem Fall so etwas wie der Basso continuo des „Lieber nicht“. Mit dem „Lieber nicht“ geht aus Walsers Befreundung für Dostojewskis Idiot die „‚Idiotie‘ als ein ‚Ideal‘“24 hervor, bei der sich die Dummheit durch „Fehler schöner Art“25 nobilitiert sieht. „Fehler schöner Art“ sind vorzugsweise solche, die nicht nur, aber vor allem Kindern unterlaufen. Und wenn ein Erwachsener Kind geblieben ist und sich durch ein besonderes Verhältnis zu Kindern auszeichnet, wie Fürst Myschkin, so neigt man womöglich dazu (und wenn man

22  23  24  25 

Hg. v. Wolfram Groddeck / Reto Sorg / Peter Utz / Karl Wagner. 2. Aufl. München 2008, S. 277-301, hier S. 298. SW 8, S. 18. Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren  1924-1933. Hg. v. Bernhard Echte / Werner Morlang. Frankfurt a.M. 2003, Bd. 1, S. 225. Peter Utz: Die Kalligrafie des „Idioten“. In: text + kritik 12/12a (2004), S. 106-119, hier S. 113. SW 17, S. 166-171, hier S. 168 (Über eine Art Duell).

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dazu gewillt ist), ihm seine Fehler umso mehr nachzusehen. Die Gesellschaft, die den Fürsten umgibt, hat dazu aber gerade diese Neigung nicht. Darum nennt sie ihn einen Idioten, und sie meint damit aber nur, dass es sich bei diesem merkwürdigen, auf keinen Nenner zu bringenden Menschen eigentlich um einen „Feind der Ordnung“26 handelt. Es ist genau seine „erwachsene Kindlichkeit, die sich weigert, die Normen des Erwachsenenlebens zu akzeptieren“,27 aus der heraus Myschkin auf Ablehnung stößt. „Es halten mich auch alle, ich weiß nicht warum, für einen Idioten, und ich war tatsächlich einmal so krank, daß ich damals mit einem Idioten Ähnlichkeit hatte; aber wie kann ich jetzt ein Idiot sein, da ich doch selbst begreife, daß man mich für einen Idioten hält?“28 Das, was ihn zu einem Idioten hätte machen können, liegt aus Myschkins Sicht in der Vergangenheit, in der Zeit seines Schweizer Asyls, als seine häufigen epileptischen Anfälle dazu beigetragen haben, dass er regelmäßig in „vollständigen Stumpfsinn“29 verfallen sei. Nun aber werden dafür seine charakterliche Disposition, seine eher einem Kind gleichkommende Einfalt und Offenheit zum Anlass genommen, ihn für einen ebenso bedauernswerten wie „klägliche[n] Idiot[en]“30 zu halten. Am Ende des Romans kommt es daher fast folgerichtig nicht zur vollständigen Heilung des Protagonisten, sondern zu seiner vollständigen Zerrüttung,31 sodass Myschkin schließlich wieder der ‚Idiot‘ ist, „den die anderen von Anfang an in ihm sehen wollten.“32 Mehr noch: Seine Krankheit wird zum manifesten Ausdruck einer Exterritorialität,33 die Jakob von Gunten am Ende mit Herrn Benjamenta in die Wüste ziehen lässt. Einer solchen eindrücklichen Ortsveränderung bedürfen die Romanfiguren Walsers im Grunde aber nicht, um als exterritorial zu gelten. Sie sind es schon, obwohl sie mitten in der Gesellschaft leben und sich vergleichsweise selbstverständlich in ihr bewegen. Dabei tragen zur Exterritorialität von Simon Tanner, Joseph Marti und Jakob von Gunten in einem nicht geringen Maße ihre mit 26  27  28  29  30  31  32  33 

Hermann Hesse: Gedanken zu Dostojewskis Idiot (1919). In: Ders.: Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Hg. v. Volker Michels. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1982, S. 307-315, hier S. 313. Utz: Kalligrafie des Idioten, S. 109. Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Der Idiot. Frankfurt a.M. 1983, S. 118. Ebd., S. 87. Ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 948. Achim Geisenhanslüke: Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens. München 2011, S. 292. Horst-Jürgen Gerigk sieht in Myschkin eine „exterritoriale Unperson“ (Horst-Jürgen Gerigk: Dostojewskis Entwicklung als Schriftsteller. Vom „Toten Haus“ zu den „Brüdern Karamasow“. Frankfurt a.M. 2013, S. 130).

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dem kindlichen Erwachsensein gepaarte Affinität zur Unwissenheit, Naivität und Ignoranz bei. Diese Affinität, so Mareike Schildmann, „die den Vorwurf der Blödigkeit und Dummheit nach sich zieht, wird von äußeren Instanzen (z.B. Arbeitgebern und Geschwistern) beanstandet, von den Protagonisten selbst jedoch programmatisch affirmiert.“34 Daher unterscheide Walser von seinen literarischen Zeitgenossen, „dass die Abwesenheit bzw. Unverfügbarkeit eines stabilen Wissens nicht als krisenhaft verhandelt wird, sondern sich im Gegenteil mit einer emphatischen Apologie des Nicht-Wissens verbindet.“35 Während Simon Tanner von unterschiedlicher Seite nachgesagt wird, „etwas Schüchternes, Dummes, Tief-Kindliches“, ja „etwas Blödes“, „Unzurechnungsfähiges“ und geradezu „Unbekümmert-Läppisches“ an sich zu haben,36 und der Gehilfe Joseph Marti sich im Hause der Toblers ausnehmend wohlfühlt, weil er dort „so hübsch Dummheiten begehen“37 kann, schwärmt Jakob von Gunten nicht nur für die Dummen – „Ich hasse das alles verstehenwollende, mit Wissen und Witz glänzende und sich breitmachende Wesen“ –, er selbst stellt all sein Sinnen auf nichts Geringeres ab, als „eine reizende, kugelrunde Null“ zu werden: „Ich bleibe vielleicht als irgendwo im Leben verlorener und verschollener Mensch ein echterer, stolzerer Gunten“.38 Nun wurde dem Roman immer wieder als Paradoxie ausgelegt, dass das sich in dem Wunsch nach einer kugelrunden Null ausdrückende Autonomieund Souveränitätsbegehren gekoppelt ist an sein vorgebliches Gegenteil, und zwar an die in der Dienerschule eingeübten Praktiken des Gehorsams und der Unterdrückung. Man kann es so stehen lassen und damit an der Rätselhaftigkeit fortschreiben, die diesem Roman seit seinem Erscheinen nachgeht. Auflösenswert scheint mir die Paradoxie aber deshalb nicht zu sein, weil man sie dann als Denkfigur ernstnähme. Und das verdient sie im literarischen Feld eigentlich nicht, insofern man dahinter eine oppositive Anlage vermuten zu dürfen meint. Mit einer derartigen Konstellation hat man es aber offensichtlich nicht zu tun, um ein Abwägen, Konfrontieren, Gegenüberstellen etc. scheint es bei Walser grundsätzlich nicht zu gehen, eher um eine mäandernde, mitunter Volten schlagende Bewegung, die sich gerade nicht für Fixierungen nach einem dichotomen Muster interessiert, sondern eher zur allmählichen Auflösung tendiert, in dem Sinne, in dem die Walser-Forschung immer wieder von Vorgängen der Verkleinerung oder gar des Verschwindens in seinem Werk 34  35  36  37  38 

Mareike Schildmann: Wissen – Nicht-Wissen – Dummheit. In: Robert Walser-Handbuch, S. 340-344, hier S. 340. Ebd., S. 341. SW 9, S. 9, 73, 176. SW 10, S. 239. SW 11, S. 41, 8, 114.

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spricht und sie namhaft zu machen sucht. Besonders einschlägig hierfür ist die häufig zitierte, aber nichtsdestoweniger auch für mein Anliegen weiterführende Selbstbeschreibung Jakob von Guntens gegen Ende des Romans: Klein sein und bleiben. Und höbe und trüge mich eine Hand, ein Umstand, eine Welle bis hinauf, wo Macht und Einfluß gebieten, ich würde die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen, und mich selber würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur in den untern Regionen atmen.39

„Klein sein und bleiben“ – die Perspektive des Kindes schwingt hier mit und damit auch die Abwehr von Normen der Erwachsenenwelt, wie sie in Dostojewskis Der Idiot begegnet. Abgesehen davon, dass Kleinsein und Kindlichkeit einen anderen, womöglich noch unverstellteren Blick auf die Welt erlauben, bedeutet für denjenigen, der klein ist und bleiben möchte, dass er nicht auffällt, leichter übersehen wird und sich insofern nicht den Anforderungen zu stellen hat, mit denen er sich ansonsten gesellschaftlich konfrontiert sähe. Er läuft aber vor allem nicht Gefahr, sich Situationen aussetzen zu müssen, denen er nicht gewachsen ist oder nicht gewachsen zu sein meint, in Abwandlung eines Wortes von Freud, auf das sich auch Alain Ehrenberg in seiner Abhandlung über das Erschöpfte Selbst häufiger bezieht: „Die Erfahrung lehrt, daß es für die meisten Menschen eine Grenze gibt, über die hinaus ihre Konstitution der Kulturanforderung nicht folgen kann. Alle, die edler sein wollen, als ihre Konstitution es ihnen gestattet, verfallen der Neurose; sie hätten sich wohler befunden, wenn es ihnen möglich geblieben wäre, schlechter zu sein.“40 Es ist das Thema, das Freud in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) entwickelt und das Ehrenberg in abgewandelter Form in seiner Arbeit La Sociéte du malaise (2010; dt.: Das Unbehagen in der Gesellschaft (2011)) wieder aufgreift und fortschreibt. Das Unbehagen, selbst Quelle unterschiedlicher Pathologien in der Moderne, wurde und wird mithin auch produktiv: als Folie für eine Kultur- und Sozialdiagnose wie auch als Modus, der zur Distanzierung und/ oder seiner Überschreitung herausfordert, sei es nun sozial, psychisch oder ästhetisch. Mir will dabei scheinen, dass sich im Falle Walsers alle drei Ebenen überlappen, derart, wie es von Enrique Vila-Matas in seinem Roman Doktor Pasavento unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Walser und der Widerspiegelung seiner Person in Jakob von Gunten angesprochen wird: 39  40 

SW 11, S. 145. Sigmund Freud: Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908). In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey. Frankfurt a.M. 1974, Bd. 9, S. 9-32, hier S. 21f. Vgl. auch Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2015, S. 74.

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Dieter Heimböckel Man hat von ihm behauptet, er sei von allen der rätselhafteste Dichter, und das kommt vermutlich der Wahrheit sehr nahe, denn für Walser kehrte sich immer alles ins Außen der Natur, und was ihm ureigen war, sein Innerstes, negierte er sein Leben lang. Er negierte das Wesentliche, das Tiefste: seine Angst. Wie er selbst in Jakob von Gunten sagt, verdrängte er seine Unruhe, indem er sich hinabsehnte „ins niedrige, nichtssagende Dunkel“.41

Die Negation der Angst ist in diesem Fall nicht der Auslöser einer in die Megalomanie führenden Selbstüberschätzung, sondern genau das Gegenteil: das Vehikel zur Abwehr der in der Verkleinerung potentiell angelegten Scham, die, wenn man sie ungezügelt zuließe, Erschöpfung und Depression als Kompensationseffekte für das Gefühl der Unzulänglichkeit zeitigen würde. Nun ist es nicht mein Anliegen, Leben und Werk bei Walser zur Deckung zu bringen, was im Übrigen auch nicht Vila-Matas’ Intention zu sein scheint. Dafür liegt ihm gerade das Spiel mit dem Verhältnis von Realität und Fiktion am Herzen und nicht dessen Klärung. Die in Doktor Pasavento exponierte Besessenheit von der Idee, verschwinden zu wollen, und der konkrete Bezug auf Jakob von Gunten bindet aber das Walser-Thema an den Bartleby-Komplex seines Vorgängerromans, wobei beide dort enggeführt werden, indem VilaMatas mit Roberto Calasso Walser als invertierten Widergänger der BartlebyFigur Melvilles deutet: Walsers Gehorsam setzt, ebenso wie der Ungehorsam Bartlebys, eine völlige Annullierung voraus. Ein Urmangel entzieht sie der Gemeinde der Kommunikation – und dieser Mangel ist ihr Reichtum. In ihrer Souveränität unternehmen sie nichts, um ihm abzuhelfen oder auch nur ein Wort zu verlieren. Sie kopieren und transkribieren Briefe, die durch sie hindurchgehen wie durch eine durchsichtige Scheibe. Sie verkünden nichts Eigenes, sie wollen keine Veränderungen. „Ich entwickle mich nicht“, sagt Jakob im Institut; „Ich will keine Veränderungen“, sagt Bartleby. An ihrer Verwandtschaft erkennt man die Gleichwertigkeit des Schweigens mit einem bestimmten ornamentalen Gebrauch der Sprache. In den Tausenden von Seiten, die Walser geschrieben hat – in diesem unbegrenzt erweiterbaren, dehnbaren Werk ohne Skelett, dieser fortwährenden Plauderei zur Verhüllung des Fehlens jeglichen Fortschreitens im Diskurs –, hallen ständig, ohne je ausgesprochen zu werden, die Worte Bartlebys nach: „Lieber nicht.“42

Nicht die Übereinstimmung von Leben und Werk, sondern die Überlappung des Psychosozialen und Ästhetischen scheint mir im „Lieber nicht“ vermittelt 41  42 

Enrique Vila-Matas: Doktor Pasavento. Roman. München 2007, S. 14. Roberto Calasso: Der Schlaf des Kalligraphen. In: Ders.: Die neunundvierzig Stufen. München 2005, S.  61-84, hier S.  84 (ich zitiere hier nach Calasso und ausführlicher als Vila-Matas).

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zu sein. Andernfalls wäre jede Form der Verallgemeinerung verfehlt. „Lieber nicht“ heißt, sich dem Drang nach sozialem Aufstieg und Erfolg (mit den für die Moderne bekannten psychosozialen Folgen) entziehen zu wollen, und es heißt auch, ästhetische Wege des Abseitigen und Unzugänglichen zu beschreiten (womit wir uns freilich wiederum mitten in der Moderne und ihrer Überbietungspraxis bewegen). Für den Idioten kann es zuweilen bedeuten, dass er sich dümmer stellt, als er in Wirklichkeit ist, ein Verhalten, das Walser selbst für ein Raffinement und eine Kunst hielt, „das und die nur wenigen gelingt.“43 Womöglich haben wir es fallweise mit einer Qualität zu tun, die das Idiotentum erst begründet. Als regulative und zugleich subversive Verbergungsstrategie, „die Unsicherheit und Unberechenbarkeit über Aussagen, Intentionen und Standpunkte“ streut und damit die „eigene Person dem Wissen der Mitmenschen“44 entzieht, hat sie es bei Walser sogar zur poetologischen Prominenz gebracht. „Daß mich einige für geistig arm halten, kommt zweifellos nur daher, weil ich geistreich bin, ich wenigstens glaube es“,45 heißt es in dem 1924 veröffentlichten Prosastück Tagebuchblatt (II). Es liegt freilich in der Eigenheit dieser Verbergung bzw. Verschleierung begründet, dass es sich hierbei genauso gut um ein Vexierspiel bzw. um eine Camouflage handeln könnte. Nur: Wer weiß das schon? Entsprechend dreht sich im Verwirrspiel, das Vila-Matas in Doktor Pasavento um das Verhältnis von Realität und Fiktion inszeniert, alles um das ‚So tun als ob‘, damit es in den Dienst des Verschwindens gestellt werden kann. Im „Land der runden Nullen“, das erst einmal vermessen werden muss, ehe sich das Ziel, „eines Tages ganz und gar zu verschwinden“,46 realisieren lässt, weiß sich Doktor Pasavento in sachverständiger Begleitung. Sein Vergil ist Robert Walser, einer seiner Erfüllungs-Gehilfen, was nicht großartig verwundert, ist Franz Kafka. Kafka und Walser sind, literarästhetisch, aus ähnlichem, wenn nicht sogar aus einem Holz geschnitzt, und Spezialisten in Sachen Verschwinden gleichermaßen. Das Thema des Verschwindens, liest man in Doktor Pasavento, habe Kafka „mehr als jeden anderen“ beschäftigt, vorzugsweise in seinem Amerika-Roman, wobei dieser Fragment gebliebene Text, wie der in editionsphilologischen Dingen bewanderte Ich-Erzähler zu verstehen gibt, eigentlich Der Verschollene hätte heißen sollen „oder, um es etwas literarischer auszudrücken: ‚Der Verschollene, der nur so tut‘.“47 Mit diesem zurechtgebogenen 43  44  45  46  47 

Robert Walser: Briefe. Hg. v. Jörg Schäfer unter Mitarb. v. Robert Mächler. Frankfurt a.M. 1979, S. 285. Schildmann: Wissen – Nicht-Wissen – Dummheit, S. 343. SW 8, S. 86-88, hier S. 87. Vila-Matas: Doktor Pasavento, S. 142f. Ebd., S. 94.

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Kafka-Titel legt Doktor Pasavento dann auch ein Viertel seiner Romanstrecke zurück. Ob er dabei mit seiner Vermutung richtig liegt, dass Karl Roßmann nur ‚so tue als ob‘, sei zunächst einmal (und kurz nur) dahingestellt, es ist auch vorderhand für meine Erzählung nicht entscheidend, weil Karl so oder so dem Club der Idioten zugerechnet werden müsste. Für diese Zugehörigkeit hatte schon Kurt Tucholsky ein untrügerisches Empfinden gehabt, als er in seiner dem Roman gewidmeten Rezension Karl in einem Atemzug mit Dostojewskis Fürst Myschkin und Hašeks Švejk nannte,48 mit jenen großen Naiven der Weltliteratur, die sich wie Roßmann in keine Ordnung einfügen lassen und daher von ihr abgestoßen, zumindest aber von ihr nicht ernst genommen und daher fallweise den Idioten zugerechnet werden. Freilich haben wir es mit einem jungen Mann zu tun, knapp sechzehn- oder schon siebzehnjährig, wer weiß das schon, und da kann es schon einmal passieren, dass Normen verletzt und Grenzen überschritten werden. Aber auf das Alter kommt es eigentlich nur insoweit an, als damit bestimmte Abhängigkeiten – familiäre, soziale und geschlechtliche – plausibilisiert werden können. Im Grunde ist Karl wie Myschkin und Švejk alterslos, ein Kind in Erwachsenenschuhen oder sagen wir ausgestattet mit Eigenschaften, die man vorzugsweise Kindern zuspricht, für die es aber keine Altersbeschränkung gäbe, wenn Welt sie zulassen würde. Welt allerdings lässt solche Eigenschaften mit und jenseits der Adoleszenz nun einmal nicht zu oder sorgt dafür, dass sie den Betroffenen ausgetrieben werden – oder treibt diese, wenn auch das nicht hilft, selbst aus. Doch Karl ist wehrhaft in seiner Naivität, ihn ficht so schnell nichts an, so wenig mitunter, dass es den Leser schmerzt, wenn er zusehen muss, wie Karl, das mehrfach gebrannte Kind, dennoch das Feuer zum wiederholten Male nicht scheut und schließlich erst hinter dem angenommenen Namen „Negro“ und danach ganz aus dem Text verschwindet.49 Weil er verschwindet, muss er aber noch längst nicht der Genossenschaft der Bartlebys angehören. Ihr ‚Lieber nicht‘ ist jedenfalls nicht das Credo, dem sein Handeln folgt, eher ist es sein Umfeld, das so auf ihn reagiert: erst die Eltern, dann der Onkel und die Hotel-Oberen und schließlich Brunelda und ihre Entourage. Sie alle wollen mit Karl lieber nicht, während Karl sich endloser, fast bis zur Selbstverleugnung reichender Mühen hingibt, sich mit ihnen zu arrangieren. Oder ist Karl am Ende klüger, als es den Anschein hat, weil 48  49 

Vgl. Kurt Tucholsky: Auf dem Nachttisch (1929). In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. v. Mary Gerold Tucholsky / Fritz  J.  Raddatz. Reinbek bei Hamburg  1975, Bd. 7, S. 43-49, hier S. 44. Franz Kafka: Der Verschollene. Roman. In der Fassung der Handschrift. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der kritischen Ausgabe. Hg. v. Hans-Gerd Koch.  2. Aufl. Frankfurt a.M. 2013, S. 306.

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er im Sinne von Vila-Matas mit seinem ‚Lieber doch‘ nur so tut als ob? Das wäre idiotensicher, so sicher wie im Falle Gregor Samsas, der ganz anders zwar, aber mit nämlichem Effekt, Nägel mit Köpfen macht und sich allen Ansprüchen und Zumutungen des Alltags durch seine tierische Metamorphose entzieht. Und so sicher womöglich wie im Falle Bartlebys, der mit seinem ‚Lieber nicht‘ die Wirkung der Scham aus Unzulänglichkeit konsequent außer Kraft setzt. Mögen Turkey, Nippers, Ginger Nut, der Anwalt oder wer auch immer mutmaßen, dass er „einen kleinen Sparren“ habe und sein womöglich aus einem angeborenen Defekt entsprungenes Verhalten den „Gespinste[n] eines kranken und törichten Geistes“50 zuzuschreiben sei: Das alles tangiert seine radikale Haltung der Negation ebenso wenig wie die Inhaftierung im Gefängnis. ‚Lieber nicht‘ könnte daher heißen: Es ist ausgestanden. Was mir auch immer das Leben auferlegt, ich habe keine Angst (mehr), mich ihm zu entziehen, und sollte ich sterben: who cares? Hans Magnus Enzensberger: Genosse Bartleby Wen kümmerst es! Ein Triumph der Freiheit, möchte man meinen, drückt sich darin aus. Und warum auch nicht? Dem Idioten fällt das aber nicht so einfach in den Schoß. Er muss dafür etwas (und nicht wenig) tun – auch Bartleby tut ja etwas, indem und weil er es lieber nicht tut –, und verausgabt sich im wahrsten Sinne des Wortes dabei. Zumindest wartet das Dasein mit Unbilden auf, die als solche von den Betroffenen entweder so empfunden oder auf sie projiziert werden. Myschkin lebt schließlich hin, wie Büchners Lenz sein Leben fristet, und Bartleby wird in seiner Entschlossenheit und Selbstbeherrschung ausdrückenden Gleichgültigkeit von dem Anwalt als „Einsamste[r] unter den Menschen“51 wahrgenommen. Das ist fallweise der Preis, den zu zahlen hat, wer sich, mit und nach Botho Strauß, nicht „mit dem Betriebsgeist der Dinge“ misst und damit zugleich „den Zusammenbruch jeglicher Kommunikation riskiert“.52 Es bedarf schon eines Gemütes, wie es den Figuren Robert Walsers eigen zu sein scheint, um aus dieser Not, die nicht einmal als solche empfunden werden muss, eine Tugend zu machen und die Einsamkeit als Einfallstor für das Verschwinden im „Land der runden Nullen“53 auszuloben. Ansonsten – und wenn man von biographischen 50  51  52  53 

Melville: Bartleby, S. 30, 41. Ebd., S. 46. Strauß: Lichter des Toren, S. 27. Vila-Matas: Doktor Pasavento, S. 142f.

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Analogisierungen einmal absehen möchte – muss vermutet werden, dass im Lob des Idioten das Lob einer Dummheit fortwirkt, das nicht vor Abgründe übertünchenden Idealisierungen gefeit ist. Bei dieser Idealisierung haben wir es mit einer beachtlichen, mindesten bis Erasmus von Rotterdam zurückreichenden Tradition zu tun,54 die noch Hans Magnus Enzensberger in seinem erstmals 2007 veröffentlichten Idiotenführer durch den Irrgarten der Intelligenz aufgreift, indem er seine Ausführungen mit einer Hymne an die Dummheit beschließt. „Dummheit“, heißt es dort unter anderem: oft Verleumdete, die du dich in deiner Schlauheit dümmer stellst als du bist, Beschützerin aller Hinfälligen, nur den Auserwählten läßt du zukommen deine seltenste Gabe, die gebenedeite Einfalt des Einfältigen.55

Seine dem Topos der sancta simplicitas verpflichtete Hymne an die Dummheit wäre keiner weiteren, zumindest für den vorliegenden Kontext einschlägigen Rede wert,56 wenn sie nicht ihren Ursprung in Enzensbergers  1995 veröffentlichtem Gedichtband Kiosk hätte,57 wo ihr hymnischer Ton in einem bemerkenswerten Kontrast zu jenem Typus Gedicht steht, den er in einem Interview mit Alexander Kluge als „Jedermannsgedicht“ charakterisiert hat. „Das ist eine Einladung zur Projektion“, lautet Enzensbergers Erklärung dazu, „das heißt es funktioniert wie eine Falle. Der Leser gerät in die Falle, indem er es nicht so lesen kann, als wenn es von jemand anderem handeln würde. Es bezieht sich auf ihn selbst.“58 Das Gedicht, auf das er seine Charakterisierung konkret bezieht, macht deutlich, was es mit dem ‚Jedermann‘ auf sich hat. Denn was hier zur Darstellung kommt, könnte anders als bei den Auserwählten, die mit der „Einfalt der Einfältigen“ gebenedeit sind, jedem passieren – konkret, dass er „einfach mal nicht mehr möchte. Er“, so 54  55  56 

57  58 

Vgl. Lob der Dummheit. Hg. v. Lutz Walther. Leipzig 2000. Hans Magnus Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2015, S. 57. Zur Dimension des Religiösen in Enzensbergers Gedichtband vgl. Henning Ziebritzki: Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn. Bemerkungen zur religiösen Thematik in Hans Magnus Enzensbergers Gedichtband „Kiosk“. In: Neue Rundschau 108, H. 4 (1997), S. 53-66. Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt a.M. 1995, S. 25-27. Hans Magnus Enzensberger: Ich bin der Saboteur meiner Depression. Hans Magnus Enzensberger über: Maulwürfe, Störche und Dichtkunst. In: Alexander Kluge: Kulturgeschichte im Dialog (https://kluge.library.cornell.edu/de/conversations/enzensberger/ film/1969/transcript, zuletzt geprüft am 30.3.2019).

Lieber nicht

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Enzensberger mit der uns inzwischen vertrauten Formel, „möchte lieber nicht“.59 Und so entstand, ein halbes Dezennium bevor Enrique Vila-Matas mit seinem Roman Bartleby y Compañia Furore machte, ein Gedicht, das den Titel Genosse Bartleby trägt: „Ich möchte lieber nicht.“ So fängt es an, unscheinbar, eines Morgens. Es ist ja nur die Krawatte, was würgt, der Kontoauszug; was stört, ist, daß das einzige Tier, das sich immerzu wäscht, sich immerzu waschen muß; auch die unermüdliche Dummheit da draußen ist es, der unbesiegbare Krach, was es zermürbt, das einzige Tier, das sich feiern läßt, nicht dafür, daß es geboren ist, einmal im Jahr, nein, dafür, daß es Tag für Tag wieder aufsteht, rätselhaft, bis zur Rente. Es bleibt nicht liegen. Gegen die größeren Nackenschläge sträubt es sich, meutert gegen den Hunger. Der Hunger möchte, möchte. Er macht die Knochen leicht. Nein, die Erleuchtung kommt nach dem Essen. Apathische Anfälle, die wiederkehren mit siebzehn, wie die Grippe, mit siebenunddreißig, mit achtzig, immer von neuem: „Ich möchte lieber nicht.“ Zu müde, um das Messer in die Hand zu nehmen. Ein paar Tage lang mit dem Kopf zur Wand, oder drei Wochen, dann, 59 

Ebd.

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Dieter Heimböckel mit wankenden Knien der erste Gang zum Waschbecken, zum Kleiderschrank, zurück zu den ewigen Werbespots für Mord und Totschlag.60

Enzensbergers Bartleby ist kein Auserwählter im Sinne der Hymne an die Dummheit. Die Dummheit ist anderswo, „da draußen“, wo und was genau dieses ‚draußen‘ ist, sagt der Text ausdrücklich nicht. Man kann es sich aber denken, wenn man andere Gedichte aus dem Zyklus mitliest wie Stoßverkehr,61 in dem Körper umherirren, „die zu tun haben“, und man kann es sich denken, weil das „da draußen“ nicht ‚draußen‘ bleibt, sondern weil das ‚draußen‘ im ‚drinnen‘ seine Spuren hinterlässt, unmerklich zunächst, als die Routinen des Alltags auf einmal lästig zu werden beginnen, sie aber Zug um Zug zermürbend wirken: Das Ich weiß erst nicht, warum es ‚lieber nicht möchte‘, es kann sich nicht einfach über seine natürlichen Bedürfnisse hinwegsetzen, der Hunger fordert doch seinen Tribut – so lange, bis der Körper, unfähig, die einfachste Verrichtung vorzunehmen, nicht einmal mehr imstande ist, seine Grundversorgung zu gewährleisten, oder, wie man die ersten beiden Verse der letzten Strophe auch lesen könnte, sich zur Wehr zu setzen („Zu müde, um das Messer / in die Hand zu nehmen“). Was solchermaßen in dem Gedicht vorgeführt wird, ist ein für das Zeitalter der Erschöpfung symptomatischer Krankheitsverlauf,62 der, durchwoben von der anthropologischen Konstante der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Züge von Apathie und Erschöpfung zeitigt, wie sie in aktuellen soziologischen Publikationen zum Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft oder in Byung-Chul Hans Essay zur Müdigkeitsgesellschaft in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden.63 Als Gegenmittel dazu propagiert Enzensberger in seinen Gedichten der Kiosk-Sammlung ein selbstgenügsames Dasein, ein Dasein der Immobilität, dass sich in der mit Bartlebys „Ich möchte lieber nicht“ wahlverwandten Formel eines „Ich rühre mich nicht“ in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Sitzstreik erfüllt.64 In ihm setzt „der Sprecher der allgegenwärtigen Unruhe, die als apokalyptischer Todestrieb die moderne Zivilisation erfasst zu haben scheint, die eigene Unbeweglichkeit als unbestimmte Negation einer verhängnisvollen 60  61  62  63  64 

Enzensberger: Kiosk, S. 42f. Ebd., S. 56f. Vgl. Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin 2013. Vgl. Sighard Neckel / Greta Wagner (Hg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2014. Enzensberger: Kiosk, S. 51.

Lieber nicht

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Dialektik des Fortschritts“65 entgegen. Enzensbergers Bartleby aber steht dem Bartleby von Han ungleich näher als etwa der Bartleby-Vision von Deleuze, bei dem der Kopist zu einer Art Gegen-Ahab mutiert und damit einer Gruppe von Figuren im Werk Melvilles zugerechnet wird, die, wie Billy Budd, eine Engelsähnlichkeit und fast stupide Heiligkeit auszeichnet.66 Von einer solchen Glorifizierung ist Enzensberger weit entfernt. Sein Bartleby ist ein ‚Jedermann‘, d.h. einer, der das ‚Lieber nicht‘ zwar wie ein Selbstversprechen im Munde führt, der aber die fatale „Zusammenwirkung von Belastung, Anpassung und Krankheit“67 weder durchschaut noch durchbricht, sondern der tendenziell dazu neigt, sie zu reproduzieren bzw. unaufhörlich in die gleiche Falle zu tappen. Darum geht er auch, nachdem er allmählich wieder Boden unter den Füßen bekommt, „zurück / zu den ewigen Werbespots / für Mord und Totschlag.“ Es ist seine Anpassung, die ihn zu einem ‚Genossen‘ macht, d.h. zu einer Art Phänotyp der modernen Leistungsgesellschaft, während Melvilles Bartleby als der „Einsamst[e] unter den Menschen“,68 wie die Roman-Nullen Walsers und dieser selbst, ihr widersteht. Mein Fazit lautet daher: Ein Idiot müsste man sein – aber nur, wenn es keiner merkt!

65 

66  67  68 

Rainer Barbey: Enzensberger, Hans Magnus: Kiosk. Neue Gedichte (Frankfurt/M.: Suhrkamp). In: Wendejahr 1995. Transformationen der deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Heribert Tommek / Matteo Galli / Achim Geisenhanslüke. Berlin 2015, S. 373-378, hier S. 375. Vgl. Deleuze: Bartleby, S. 35. Patrick Kury: Von der Neurasthenie zum Burnout – eine kurze Geschichte von Belastung und Anpassung. In: Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Hg. v. Sighard Neckel / Greta Wagner. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, S. 107-128, hier S. 107f. Melville: Bartleby, S. 46.

Iulia-Karin Patrut

„Seine große Erschöpfung machte es begreiflich.“

Spielarten und Funktionen von Erschöpfung in Franz Kafkas Das Schloß K. war schon müde, als er, sei es die Welt erkundend, nach einer Arbeit suchend oder notgedrungen auf der Flucht – „[e]s war spät abend“1 – das winterlich verschneite Dorf erreicht, von dem wir nicht erfahren, ob er es gesucht oder zufällig gefunden hat. Weder die Gründe seines Unterwegs-Seins, noch seine Vorgeschichte oder seine Ziele werden uns mitgeteilt. Eines wird aber bereits auf der ersten Seite gesagt: Er kann die Bauern in der Wirtsstube, in der er auf einem Strohsack übernachten darf, „nur noch mit den müden Augen“ mustern, „dann schlief er ein“ (DS 7). Dies scheint er vor allem anderen zu begehren: einzuschlafen. Am Ende des Fragments ist es immer noch Winter, und K., erschöpft, hat immer noch kein festes Quartier, in dem er den Winter überstehen könnte – ein Winter, von dem er gerade erfahren hat, dass er in jener Gegend fast das ganze Jahr über herrscht. Lässt sich der Roman als Zeitdiagnose einer ‚erschöpften Gesellschaft‘ lesen, einer Gesellschaft, in der allen „die Zukunft in gleicher Weise versperrt“ (DS 486) scheint, und in der alle sich nach einem „dunklen engen Mädchenzimmer unten“ (DS 479) sehnen, nach einer Schlafstätte? Warum sollte man sich „in den großen fremden Räumen mit großen fremden Menschen […] herumschlagen“, „zu keinem anderen Zweck, als um das Leben zu fristen“ (DS 487), das man doch auch in einer warmen Kammer im Untergrund führen könnte? Dort, in einer solchen dunklen Kammer, „warm und eng“ (DS 486), könnte K. auf ein „Bett“ (DS  485) hoffen, in dem sich allerdings schon drei Mädchen aneinanderdrücken. So begehrt wie die Schlafplätze sind, erlangt man sie offenbar nur unter – ermüdenden – Anstrengungen. Besteht das gesellschaftliche Leben am Ende aus den „Ausgeburten jenes Dunkels und jener Betten“ (DS 479), deren Urgrund und Endpunkt gleichermaßen die Erschöpfung ist? Oder kommen der Erschöpfung in Kafkas Romanfragment noch ganz andere Funktionen zu?

1  Franz Kafka: Das Schloß. In: Ders.: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born / Gerhard Neumann / Malcolm Pasley / Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 2002, S. 7. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle DS und Seitenzahl nachgewiesen.

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Iulia-Karin Patrut

Kafka ist zweifelsohne einer der „bekanntesten Schlaflosen der Weltliteratur“,2 wie ihn Carolin Duttlinger treffend bezeichnet hat, und dazu tragen die vielen verstreuten, aber markanten Szenen einer ganz ‚ungelösten‘, die Oberhand über das Geschehen gewinnenden Müdigkeit in Erzählungen wie Romanfragmenten bei. Erschöpfung hat Kafka als persönliches literarischästhetisches Problem durch alle Schaffensphasen begleitet. Damit befasste er sich mit einem Zustand, dem auch in der heutigen Forschung in Kulturwissenschaften, Soziologie, Psychologie und Neurologie vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wird. Arbeiten auf diesen Gebieten haben in den letzten Jahren aufgezeigt, dass Schlaf und Schlaflosigkeit, Endlichkeit der Kräfte, Fragwürdigkeit von Zielen und damit verbundene Antriebsschwäche zum Selbstverständnis der Moderne und unserer Zeit gehören.3 Programme von aufklärerischer Askese bis zur neurotischen Nervosität hätten sich als gesellschaftliche Antwort darauf herausgebildet. Solche ‚Lösungsmodalitäten‘ enthalten Kafkas literarische Texte kaum, wohl aber finden sich tatsächlich sehr anschauliche Beispiele für Versuche, die eigene Erschöpfung durch Selbstüberwachung und Zeitmanagement zu regulieren, in der Korrespondenz und in den Tagebüchern. Am Anfang des Bestsellers Müdigkeitsgesellschaft greift Byung-Chul Han Kafkas Variation des Prometheus-Mythos auf: Dieses Subjekt der Selbstausbeutung sei, so Han, schon bei Kafka von endloser Müdigkeit befallen, er sei daher die Gründungsfigur der Müdigkeitsgesellschaft: „Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.“4 Han interpretiert dies in Sinne einer „heilsamen Müdigkeit“, einer Müdigkeit, „die nicht Wunden aufreißt, sondern sie schließt“.5 Die ‚Wunden‘-Metaphorik hat jedoch noch weitere Implikationen, die in Kafkas Fragment im anschließenden Satz anklingen, bei Han hingegen nicht zitiert werden: „Blieb das unerklärliche Felsgebirge“.6 Neben der Erschöpfung gibt es noch etwas Anderes. Sei es die Welt, die Materie, ein Du – ein ‚fremdes‘ und unerschlossenes Gegenüber. Richtet es Ansprüche an die Erschöpften? Fordern die Welt, das Felsgebirge ein, bearbeitet, 2  Carolin Duttlinger: Schlaflosigkeit. Kafkas Schloss zwischen Müdigkeit und Wachen. In: Schloß-Topographien. Lektüren zu Kafkas Roman-Fragment. Hg. v. Malte Kleinwort / Joseph Vogl. Bielefeld 2013, S. 219-244, hier S. 221. 3  Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Um die Essays Burnoutgesellschaft und Hoch-Zeit erweiterte Neuausgabe. Berlin 2016. 4  Ebd., S. 7. 5  Ebd., S. 7. 6  Kafka, Franz: [Prometheus]. In: Ders.: Schriften und Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Born / Gerhard Neumann / Malcolm Pasley / Jost Schillemeit. Bd. Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M. 2002, S. 69-70, hier S. 70.

Spielarten und Funktionen von Erschöpfung

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erkundet, erschlossen werden? Jedenfalls ist das Felsengebirge ein Stachel im Fleisch der Erschöpfung: es reißt die Wunde wieder auf. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung Gerhard Neumanns, dass ein „Erwachen des Bewußtseins aus der Selbstversunkenheit, aus dem Schlaf oder Halbschlaf, gefolgt von der überraschenden Begegnung mit dem ganz Anderen, schlechthin Fremden“7 zu den wiederkehrenden Mustern in Kafkas Texten zählt – so beispielsweise im Fragment Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Dort flüchtet sich der Protagonist in eine wohltuende Müdigkeit, in der er sich selbst – und damit vielleicht die unliebsame Hochzeit – vergisst, aber jäh erwacht und seiner selbst gewahr wird, als ein Chinese vor ihm steht und Aufmerksamkeit beansprucht. Die ‚unbekannte Welt‘ meldet sich und stellt Ansprüche an den Erschöpften, der gezwungen wird, seine Müdigkeit abzustreifen. Von Geist-Leib-Verschaltungen und unterbrochener Erschöpfung Der Tagesablauf Kafkas war – glaubt man der minutiösen Darstellung in einem der bekanntesten Briefe an Felice Bauer – von schlechtem Gewissen geprägt und begleitet, von der Befürchtung, zu wenig und dies zu langsam getan zu haben, genauer gesagt zu viel Zeit in der Kanzlei vergeudet und für die körperliche Regeneration gebraucht zu haben, um dann nur in einer ‚schwachen‘ Verfassung literarisch zu schreiben, um dann bloß ‚erschöpft‘ sich der höheren Aufgabe, der Kunst, widmen zu können. Doch dies ist nur eine unter vielen Facetten der Erschöpfung. Eine andere, geradezu entgegengesetzte, lässt die Erschöpfung als geistige – wenn nicht sogar geistliche – Pflicht erscheinen: „Dann alle möglichen Versuche einzuschlafen, d. h. Unmögliches zu erreichen, denn man kann nicht schlafen (der Herr verlangt sogar traumlosen Schlaf)“.8 Im Gilgamesch-Epos, das Kafka kannte, verpasst der Held das ewige Leben und den Übergang in die Götterwelt, weil er einschläft. Vor dem ‚Herrn‘, von dem Kafka spricht, versündigt man sich dagegen, wenn man nicht einschläft. Auch in den täglichen Zeitplänen Kafkas zeigen sich die einander widersprechenden Wünsche, einzuschlafen und nicht einzuschlafen. Davon ausgehend wird zu fragen sein, ob die ‚Poetik der Erschöpfung‘ im Schloß nicht erheblich darüber hinaus geht, bloß den Umgang mit einem Mangel, mit 7  Gerhard Neumann: Kafka-Lektüren. Berlin 2013, S. 87. 8  Franz Kafka: Brief an Felice Bauer, 1. November 1912. In: Ders.: Briefe an Felice Bauer und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 2015, S. 33-37, hier S. 33.

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der Begrenzung menschlicher Kräfte zu kartieren. Entspringt dem Fort- und Weiterschreiben des Müdigkeits-Paradoxons, das bereits in der PrometheusVariation aufscheint, nicht auch etwas Produktives? Ist K. im Schloß der Erschöpfung haltlos ausgeliefert oder geht er mit ihr um, nutzt sie womöglich zu seinen Zwecken? Zuvor jedoch noch zu dem berühmten, vor allem für das Thema zentralen und deshalb eingehender dargelegten Brief an Felice vom 9. November 1912: Von einer Poetik der Erschöpfung zu sprechen, erscheint zum einen gerechtfertigt angesichts des Eingeständnisses Kafkas, „daß jede Ermüdung sich in dem Geschriebenen viel besser und klarer aufzeichnet als das, was man eigentlich aufschreiben wollte“,9 zum anderen, weil sich Kafka ein zwiespältiges und zweischneidiges Zeitkorsett erstellte, das so beschaffen war, dass er nur auf Messers Schneide zwischen Einschlafen und Wachen, zwischen lebensbedrohlicher Erkrankung und gesundheitsfördernder Körperertüchtigung schreiben konnte: Von 8 bis 2 oder 2 1/3 Bureau, bis 3 oder 1/2 4 Mittagessen, von da ab Schlafen in Bett (meist nur Versuche, eine Woche lang habe ich in diesem Schlaf nur Montenegriner gesehn mit einer äußerst widerlichen, Kopfschmerzen verursachenden Deutlichkeit jedes Details ihrer komplizierten Kleidung) bis 1/2 8, dann 10 Minuten Turnen, nackt bei offenem Fenster, dann eine Stunde Spazierengehn allein oder mit Max oder mit noch einem andern Freund, dann Nachtmahl innerhalb der Familie […] dann um 1/2 11 (oft wird es aber auch sogar 1/2 12) Niedersetzen zum Schreiben und dabeibleiben je nach Kraft, Lust und Glück bis 1, 2, 3 Uhr, einmal auch schon bis 6 Uhr früh. Dann wieder Turnen, wie oben, nur natürlich mit Vermeidung jeder Anstrengung, abwaschen und meist mit leichten Herzschmerzen und zuckender Bauchmuskulatur ins Bett.10

Auf die meist erfolglosen und von sonderbar lebhaften Imaginationen durchkreuzten Versuche, einzuschlafen, folgt dann wieder der Gang ins Büro. Freilich belegen diese Vorstellungen an der Schwelle des Schlafs die potentielle Produktivität der Erschöpfung – eine Produktivität, die dann allerdings wieder neue Ermüdung nach sich zieht: „eine Woche lang habe ich in diesem Schlaf nur Montenegriner gesehn mit einer äußerst widerlichen, Kopfschmerzen verursachenden Deutlichkeit jedes Details ihrer komplizierten Kleidung“.11 Die Montenegriner haben mit dem oben erwähnten Chinesen, der die selbstvergessene Ermüdung unterbricht, ihre Fremdartigkeit gemein, und im Schwellenzustand, das wird hier ganz deutlich, ist die Aufmerksamkeit 9  10  11 

Ebd. Ebd., S. 33f. Ebd.

Spielarten und Funktionen von Erschöpfung

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gegenüber dem Unbekannten, dem Anderen, der Welt, groß. Die Welt erscheint vor dem erschöpften inneren Auge in aller Deutlichkeit und Unverständlichkeit, sie drängt sich – widerlicherweise – auf, man kann ihr Dasein gerade aufgrund der Klarheit der Details nicht in Abrede stellen, begreifen kann man sie aber nicht. Die ‚fremde Welt‘ unterbricht den wohltuenden Schlaf und stellt, am Übergang zwischen Ermüdung und Wachzustand, das Imaginationsvermögen scharf. Wunde und Erschöpfung, Verbluten und ‚Einschlafen‘ sind in Kafkas Prometheus-Fragment aufeinander bezogen: Ein Zuviel an Müdigkeit würde die Wunde ganz schließen. Die unendliche Materialität der Welt bliebe unerfahren, nicht bearbeitet, einsam und unbeantwortet zurück, wenn sich das ‚Ich‘ verabschiedete, weil es schliefe, ‚geheilt‘, verblutet oder tot wäre. Auf der einen Seite das erschöpfte, verwundete Subjekt im Kreislauf von Erfahrung/ Verwundung und Niederschrift/Erschöpfung – auf der anderen das ewige Schweigen des Felsengebirges. Zur Poetik der Erschöpfung Kafkas gehören noch einige Kontexte, die gerade mit Blick auf das Schloß aufschlussreich sind und deshalb hier nicht unerwähnt bleiben sollen. Zu den wichtigsten zählt die Monographie des Turiner Professors Angelo Mosso, Die Ermüdung, die 1892 in deutscher Übersetzung erschien und sich im deutschsprachigen Raum – wie in Europa allgemein – einer regen Rezeption erfreute. Sie ist unter anderem deswegen von Belang, weil sie nachzuweisen versucht, Ermüdung könne man nur als Verschaltung zwischen Geist und Leib begreifen, als automatische Übertragung eines psychisch-mentalen Zustands auf den Körper. Duttlinger hat die Poetik der Müdigkeit im Schloß umgekehrt als eine (auch die Form und die Struktur des Romans durchziehende) Widerständigkeit des Körperlichen in Bezug auf den Verstand interpretiert: „Der müde Leib unterläuft die Intention“.12 Für beide, einander widersprechenden Gedanken lassen sich leicht Belegstellen im Romanfragment finden; darüber hinaus lässt sich fragen, ob nicht eine dritte Möglichkeit des bewussten Umgangs mit dem Hase-und-Igel-Spiel zwischen Geist und Leib im Roman gegeben ist. Die mäandrierende Topographie der Schloss-Dorf-Welt mit ihren verschlungenen Wegen, die scheinbar endlosen Schleifen der Handlungsführung, die K. auf unbestimmte Zeit gefangen halten, da auch der Schreibprozess zu keinem Ende gelangen kann – all dies scheint sich zum Erschließungswillen K.s so zu verhalten, wie der Leib zur Intention und wie die Materie zum Geist: widerständig. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass K.s Intention alles andere als leicht auszumachen ist; seine Intention scheint vielmehr eins zu sein mit dem Handlungs- und 12 

Duttlinger: Schlaflosigkeit, S. 238.

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Formverlauf selbst, denn Verstand, Gefühl und Leib tun das Gleiche: sie bewegen sich ins Unbekannte hinein, ohne zu wissen, ob und inwiefern dort überhaupt eine Ordnung besteht und falls ja, wie sie beschaffen ist. K. gewinnt die Informationen, die ihm die Entscheidungen über seine jeweils nächsten Schritte ermöglichen, immer erst aufgrund kleiner Vorstöße; er spricht oder agiert ‚auf Risiko‘ und leitet aus den Reaktionen der Anderen ab, was er als nächstes zu tun intendiert. Fest steht nur die Absicht K.s, im Dorf/Schloss zu bleiben und weiter vorzudringen, dorthin, wo sich möglicherweise ein Machtzentrum befindet. Da dieses aber im Dunkeln bleibt, lässt sich nur schwer bestimmen, worin eigentlich die Hindernisse bestehen. In Mossos Die Ermüdung wird die These aufgestellt, körperliche Vitalität oder aber Erschöpfung, Gesundheit und Krankheit verliehen lediglich den Intentionen und Stimmungen des Geistes Ausdruck. Mosso war der (schon zeitgenössisch umstrittenen, gerade deshalb aber populär gewordenen) Auffassung, was auch immer mit dem Leib geschähe, sei vom Geist gewollt, selbst die Atmung und die Kontraktionen des Herzens: „Die Bewegung des Herzens vollzieht sich demnach mittels einer gefühl- und lustweckenden Kraft, nicht durch eine unbewusste, organische Nothwendigkeit.“13 Der Ermüdung kommt bei Mosso die Funktion eines Lackmustests zu: Verstünde man das physiologische Phänomen muskulärer Ermüdung bei Menschen und Tieren (viele seiner Beobachtungen gelten Vögeln), sei auch der Verschaltungsmechanismus zwischen Geist und Leib geklärt. Mosso vermutete auch die Existenz einer Substanz, die in den Nerven produziert und an die Muskeln weitergegeben werde, wo sie den Willen in Muskelkontraktionen umsetzen könne. Als kritischer Wendepunkt fungierten dabei Erschöpfungszustände, die mit einer „Schwächung des Gehirns durch übermäßiges Arbeiten“14 einhergehen, was eine ganze Reihe degenerativer physiologischer Prozesse nach sich zöge. In Kafkas Poetik scheinen beide angesprochenen Aspekte auf: die körperliche Ermüdung wirkt sich auf den geistigen Prozess des Schreibens aus (im Sinne der Widerständigkeit des Leibes) und die geistige Erschöpfung wirkt sich auf den Körper aus; so schläft K. als Gehilfe des Lehrers meist noch, wenn der Schulunterricht beginnen soll. Diese Zustände scheinen sich aber wechselseitig zu unterbrechen, ja zu sistieren, sodass genau an ihrer Schnittstelle Kreativität und die Subjekt-Eigenschaft des schreibenden Ich möglich werden.

13  14 

A[ngelo] Mosso: Die Ermüdung. Leipzig 1892, S. 64. Ebd., S. 332.

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Erschöpfung als Trotz, Subversion und Zeiterkrankung: Nietzsches Also sprach Zarathustra und weitere zeitgenössische Verhandlungen von Ermüdung Kafkas Poetik der Erschöpfung hatte ihrerseits Vorläufer, deren bedeutendster neben Mosso Friedrich Nietzsche gewesen ist; auch zeugen neben der facettenreichen Erschöpfungsdiskussion in der jüdischen Publizistik der 1910er Jahre zahlreiche Stellen in Kafkas Tagebüchern von der damaligen Gegenwärtigkeit der Thematik. Schon  1884 sah Nietzsche in seinem Also sprach Zarathustra Müdigkeit als Gegenbegriff zum Leben-Wollen; nicht Müdigkeit als Folge reger Aktivität war gemeint, sondern eine Erschöpfung, die infolge falscher Lernprozesse und gesellschaftlicher Abläufe eintrete: Denjenigen, die „Alles zu früh und Alles zu geschwind“ gelernt haben, „und das Beste nicht“, riete ihr Geist, der einem verdorbenen Magen gliche, „zum Tode“.15 Ein bis zur totalen Erschöpfung gesteigertes Gefühl, „Welt-Müde“16 zu sein, sei Symptom dieser Verfassung, der alle ‚schwachen Menschen‘ anheimfielen. „Und zuletzt fragt noch ihre [der schwachen Menschen] Müdigkeit: ‚wozu giengen wir jemals Wege! Es ist Alles gleich!‘“17 Synchronisation mit Wissens-Diskursen und ihren Praktiken – ‚Lernen‘ also – ginge mit einer Fremdbestimmung einher, die in letzter Konsequenz die Lebenskraft des ‚Ich‘ ganz aushebele. Die „Tapferen“ und „Helden“ bei Nietzsche akzeptieren ihre Erschöpfung gleich einer Auszeichnung – im Unterschied zu den ‚schwachen Menschen‘, die sich ihrer Welt-Müdigkeit und ihren Todes-Träumen ergeben, ohne sich zu vergegenwärtigen, wie sehr sie dabei den Tod fürchten, wie Nietzsches NachenSzene zeigt. Die „Tapferen“ und „Helden“ tragen ihre Erschöpfung nahezu als Akt des Widerstandes und des Protestes gegen die fehlende eigene Welt-Wirksamkeit zur Schau. Die erschöpften Helden haben sich „trotzig hier in den Staub gelegt.“ „Vor Müdigkeit gähnt er [der Tapfere] Weg und Erde und Ziel und sich selber an […]. Nun glüht die Sonne auf ihn, und die Hunde lecken nach seinem Schweisse: aber er liegt da in seinem Trotze und will lieber verschmachten.“18 Zur-Schau-Stellen von Erschöpfung gilt, in einer Ästhetik des Absurden, die Nietzsche hier lange vor Beckett und Ionesco inauguriert, als mutiger Akt des Trotzes. Die Tapferen erkennt man daran, dass sie nach außen exponieren, 15  16  17  18 

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Chemnitz 1884, Bd. 3, S. 78. Ebd., S. 79. Ebd. Ebd., S. 81.

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was die anderen als dumpfe Gewalt verinnerlichen und auf sich wirken lassen. Bewusstes An-Gähnen der Welt, trotziges Sich-Hinlegen werden zur widerständigen Antwort auf die Entmachtung des Einzelnen. Nietzsches ‚schwache Menschen‘ ähneln dagegen Simmels ‚Blasierten‘, die in der Großstadt gegen die „Unterschiede der Dinge“ abstumpfen, „so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.“19 Während die von Simmel 1903 so Beschriebenen ihren Zustand – gleich den ‚schwachen Menschen‘ – nicht reflektieren, agieren Nietzsches ‚Tapfere‘ von 1884 subversiv. Sie begnügen sich nicht damit, mit dem späteren Begriff Baudrillards gesagt, am Simulakrum zu partizipieren. Freilich hielt Nietzsche die allgemeine Welt-Erschöpfung grundsätzlich für überwindbar, und die trotzigen ‚Tapferen‘ für erste Vorboten größeren Widerstands, während die Theorieansätze hundert Jahre später diesbezüglich skeptisch sind. In Kafkas Poetik der Ermüdung hat Erschöpfung zwei Facetten: zum einen ist sie gesellschaftlicher Allgemeinzustand, zum anderen vielleicht doch individuell beherrschbar und zum Widerstandsakt umzufunktionieren. In Kafkas Schloß zeigt sich den Lesern eine durch und durch erschöpfte Gesellschaft. Keinerlei Auswege aus dieser Erschöpfung werden in Aussicht gestellt. Wenn das Ausbleiben der Frage nach Auswegen als Signum der Postmoderne gelten soll, dürfte in dieser Hinsicht die Unterscheidung von diesem zentralen Text der Klassischen Moderne schwerfallen. An dieser Stelle sei eine Anmerkung zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Müdigkeit und Erschöpfung in der jüdischen Publizistik gestattet, die Kafka bekanntlich mit Gewissenhaftigkeit zur Kenntnis nahm. In der Zeitschrift Ost und West prognostiziert bereits 1916 der Artikel Kriegspsychose und öffentliche Meinung, dass „nach dem Kriege“ eine „allgemeine Erschöpfung“20 in Europa auftreten würde. „Noch dazu in der ungeheuren Erschöpfung, die nach dem Kriege eintreten wird […]“21 – so wörtlich auch ein Artikel zur Zukunft der Juden in Osteuropa im selben Jahr. Im Wiener Morgenblatt, das auch in Prag viel gelesen wurde, ist im Oktober 1919 von einer „allgemeinen Erschöpfung und Desorganisation“22 die Rede, die sich in Russland verbreitet habe. Und ein Jahr später, 1920, leitet in Ost und West der Artikel, der die Gründung der Akademie für die Wissenschaft des Judentums bekannt gibt, den feierlichen 19  20  21  22 

Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden. Hg. v. Th. Petermann. Dresden 1903, Bd. 9, S. 185-206, hier S. 193-194. Paul Ehrlich: Kriegspsychose und öffentliche Meinung. In: Ost und West 16, H. 1 (1916), Sp. 9. Die Ostjudenfrage. In: Ost und West 16, H. 2-3 (1916), Sp. 109. Politische Rundschau. In: Wiener Morgenblatt Nr. 261 (11. Oktober 1919), S. 2.

Spielarten und Funktionen von Erschöpfung

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Initialakt mit folgenden Worten ein: „[…] neuerdings, in diesen Jahren tiefster Erschöpfung“.23 In ganz anderem Zusammenhang wird in mehreren jüdischen Zeitungen und Zeitschriften von Erschöpfung als ästhetischer Kategorie jüdischer Kunst gesprochen, beispielsweise in Menorah, wo der Rundtanz „Hora“ beschrieben wird, in dem Männer und Frauen, die mit ausgebreiteten Armen einander die Schultern fassend, sich im Kreise drehen […]. Erschöpfte scheiden aus […]. Diese Hora ist Ausdruck der Verbundenheit dieser Menschen; der Ausdruck dessen, daß sie zusammengehören in ihrem Wollen und daß sie nicht aufhören werden in diesem Wollen, solange sie leben; es gibt keine Auflösung, nur das plötzliche Ende des Erschöpfungstodes.24

Dem Individualisten Kafka werden wohl solche Formen kollektiver, ritualisierter Kunst, die Exklusion Einzelner in Kauf nehmen, suspekt vorgekommen sein. Wenngleich das Oszillieren zwischen Ermüdung als Selbstentwurf und Selbstauslöschung für Kafka (und allgemein) künstlerisch interessant ist – jegliche Art von Opfertod für eine Gemeinschaft, die ihn billigend in Kauf nimmt, stünde für Kafka jenseits des Hinnehmbaren. Im Schloß geht es nicht zufällig um einen langwierigen Prozess der Exklusion durch Erschöpfung; so betrachtet, ist der Roman auch lesbar als Kritik an einer Gesellschaft, die letztlich den ‚Erschöpfungstod‘ Einzelner in Kauf nimmt. Am Fall der Familie Amalias, deren Eltern infolge der gesellschaftlichen Stigmatisierung an einer schnell voranschreitenden und sich zur Paralyse steigernden Erschöpfung leiden, wird das Spiel der Mächtigen mit dem sozialen Erschöpfungstod jener, die Widerstand leisten, besonders deutlich. Wäre nicht dann, scheint sich K. gegen Ende zu fragen, die subversive Wendung der Erschöpfung eine mächtige Waffe? – Damit klingt im Roman auch Nietzsches oben diskutierte Perspektive an. In Kafkas Tagebuch zeugt folgende Eintragung von einer mindestens skeptischen Auseinandersetzung mit ‚Ermüdungs-Gemeinschaften‘: „Du sagte ich […] schlaf nicht ein. / ‚Ich schlafe nicht ein‘, sagte er rasch und schüttelte während des Augenaufschlagens den Kopf. Wenn ich einschliefe, wie könnte ich Dich dann bewachen?“25 Dieses Tagebuch-Fragment von 1910 variiert möglicherweise das Schlafverbot als Bewährungsprobe im Gilgamesch-Mythos. Die Befreiung vom Tod 23  24  25 

Die Akademie fuer die Wissenschaft des Judentums und ihre Aufgaben. Die Akademie als Fuehrerin des geistigen Lebens. In: Ost und West 20, H. 9-10 (1920), o.S. Musik in Palästina. In: Menorah 2, H. 11 (1924), S. 18. Franz Kafka: Tagebücher. Hg. v. Hans-Gerd Koch / Michael Müller / Malcolm Pasley. In: Ders.: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born / Gerhard Neumann / Malcolm Pasley / Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1990, S. 128.

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scheint aber nicht mehr in Reichweite zu sein, weil der Gott kein ewiges Leben zu verschenken hat; der Geprüfte will ihn dennoch beobachten, offenbar, um etwas über ihn zu lernen. Die Leserinnen und Leser dürften ahnen, dass er dennoch wie im Mythos bald einschlafen wird. Das Unvermögen, den eigenen Schlaf zu beobachten oder gar zu kontrollieren, steht dabei im Gegensatz zum selbstgesteckten Ziel, genau zu beobachten. Genau beobachten – das nimmt sich auch K. im Schloß-Fragment wiederholt vor. Kafka reflektiert die wechselseitige Bedingtheit von Schreib-Tat und deren Beobachtung in einer späteren Eintragung im Tagebuch, die nichts von der existentiellen Dringlichkeit des 1904 verfassten Briefs an Felice eingebüßt hat. Das Bemühen um einen höheren Standpunkt treibt aber bloß die Erschöpfung weiter voran. Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat-Beobachtung, Tat-Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der „Reihe“ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg.26

Poetik der Erschöpfung in Kafkas Schloß Das Schloß, der Titel des Fragments, bezeichnet nur die eine unsichtbare Hälfte des Raums, in dem die Handlung stattfindet. Sichtbar und erfahrbar ist hingegen die andere Hälfte, das Dorf, dessen Verhältnisse jedoch ausnahmslos auf das schemenhafte Schloss bezogen sind. Das Schloss schläft nie, so die allgemeine Überzeugung, und beobachtet das Geschehen im Dorf ununterbrochen, insbesondere die im Dorf zu verrichtenden Arbeiten. Der Brief, den K. aus dem Schloss von dem hohen Beamten Klamm erhält, spricht ausschließlich von Arbeiten und deren Überwachung: Die landvermesserischen Arbeiten, die Sie bisher ausgeführt haben, finden meine Anerkennung. Auch die Arbeiten der Gehilfen sind lobenswert; Sie wissen sie gut zur Arbeit anzuhalten. Lassen Sie nicht nach in Ihrem Eifer! Führen Sie die Arbeiten zu einem guten Ende! Eine Unterbrechung würde mich erbittern. Im Übrigen seien Sie getrost, die Entlohnungsfrage wird nächstens entschieden werden. Ich behalte Sie im Auge. (DS 187)

26 

Ebd., S. 892.

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Dieser Brief liest sich angesichts seiner medialen Verfasstheit wie ein geradezu frenetisches Bekenntnis zum Prinzip des Simulakrums, denn die Leserinnen und Leser wissen bereits zu dem Zeitpunkt, zu dem K. das Schreiben Klamms erhält, dass K. kein Landvermesser ist, sondern dies nur vorgegeben hat. Sie wissen auch, dass die Gehilfen, die er am Abend seiner ersten Übernachtung im Dorf ankündigt, und deren Erscheinen auch seinen Beruf als Landvermesser mittels der Instrumente, die sie mitbringen, authentifizieren sollten, eben nicht nachgekommen sind. Dafür wurden zwei Schloss-Angestellte angewiesen, sich als K.s Gehilfen bei ihm zu melden; er akzeptiert diese, weil er keine andere Möglichkeit sieht, seine Identität als Landvermesser zu entproblematisieren – es handelt sich aber gleich vom zweiten Tag an um ein zwischen K. und dem Schloss einvernehmlich praktiziertes Simulakrum: Er tut, als seien ihm die Fremden vertraut; das Schloss gibt vor, Einheimische nicht zu kennen. Die Arbeit ist erschöpfend, auch wenn sie nicht stattfindet; das Land wird zu keinem Zeitpunkt vermessen. Bei denjenigen, die ihm zur Hand gehen, handelt es sich also um allen im Dorf bekannte Einheimische, die vom Schloss beauftragt wurden, die Rolle der Gehilfen des Landvermessers zu spielen. Wahr und wirkmächtig ist dagegen die Deutungshoheit, die der Schlossbeamte über die gesellschaftlichen Prozesse im Dorf für sich geltend macht. Die Divergenz zwischen den Aussagen aus dem Schloss und K.s Erfahrungswelt führt zu dessen erlebter Ohnmacht. Das Schloss stellt seine Wirkungsmacht her, indem es die fehlende gesellschaftliche Wirksamkeit K.s in ihr Gegenteil verkehrt und ihm Anerkennung zollt. Tatenlosigkeit wird als gesellschaftlich wirksame Arbeit umgedeutet: Er kann nicht einmal mehr behaupten, dass er nichts tut, und dies erschöpft ihn immer stärker. Mehrfach steht K. kurz vor dem Erfrieren; auch am Ende des Romanfragments geht es wieder darum, ob er einen Platz zum Überwintern findet, sei es im Kleiderschrank eines Kammermädchens (der an einen Sarg erinnert) oder im wenig wirtlichen Stall Gerstäckers. Das ganze Streben  K.s lässt sich als ein ‚tapferes‘ – im Sinne Nietzsches – Vorgehen angesichts einer in die Erschöpfung treibenden Obrigkeits- und Verwaltungsgewalt auffassen, deren faktische und epistemische Allmacht er nicht anerkennen will. Sich vom Schloss und dessen mutmaßlichen Wünschen her zu denken, gehört zu den Identitätsentwürfen aller im Dorf, mit einer einzigen Ausnahme – Amalia, die weibliche Variante des Heldenmuts. Das Machtgefälle zwischen Schloss und Dorf wurde von allen internalisiert; keiner von diesen ‚schwachen Menschen‘ stellt es infrage, dafür verspüren aber alle ausnahmslos eine erdrückende Müdigkeit bis hin zur Erschöpfung, die sich auch in ihre Gesichtszüge eingeschrieben hat. Den Helden wider Willen geht es noch schlechter.

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Das Machtgefälle zwischen Schloss und Dorf nimmt in der Verwaltung Gestalt an, in einem Beamtenapparat, der als Beobachtungs-, Überwachungsund Deutungsregime fungiert. Nur die zum Dorf hin gekehrte Seite der Verwaltung wird sichtbar (etwa indem Funktionäre „Verhöre“ durchführen oder Anordnungen erteilen). Diese strukturelle Gewalt schränkt die Handlungsmacht des Einzelnen in einer Weise ein, die von den einen dumpf hingenommen, von den anderen als schmerzvoller Ausnahmezustand empfunden wird – es mag nicht abwegig sein, hier Nietzsches Typologie zugrunde zu legen, weil Kafka nachweislich den Zarathustra kannte und Nietzsche außerdem Max Brod gegenüber dezidiert verteidigte. Auf der einen Seite die in Müdigkeit und Machtlosigkeit Ergebenen also, auf der anderen die Erschöpfungs-Helden, die ihre Paralyse wie eine Wunde zur Schau stellen und auf deren Überwindung bestehen, wie Amalias Eltern, die am stärksten von Erschöpfung betroffen sind. Anfangs geht K. sogar offen gegen die angemaßte Deutungshoheit des Schlosses vor, etwa indem er Barnabas, den Boten, darum bittet, dem Kanzleileiter Klamm auszurichten, dieser habe wohl seinen Brief aufgrund einer falschen Unterrichtung verfasst, denn in Wahrheit verrichte K. gar keine Arbeiten. Auch gegenüber dem Gemeindevorsteher äußert sich K. offen widerständig: „ich will keine Gnadengeschenke vom Schloß, sondern mein Recht.“ (DS 119) K.s Weigerung, die Unterwerfung zu akzeptieren, macht ihn in erster Linie zum Fremden, mit dem alle den Kontakt scheuen, weil sie fürchten, die Ungnade, in die er bald fallen könnte, würde sich auch auf sie übertragen. K. akzeptiert weder die Inaktivität und Nutzlosigkeit, zu der er verdammt scheint, noch die Kommunikationssperre mit den Entscheidungsträgern im Schloss. So versucht er, mit Klamm und anderen Schlossbeamten ins Gespräch zu kommen, während er den Austausch mit den niederen Verbindungs- und Unter-Sekretären meidet, insbesondere nachdem er erfahren hat, dass diese jegliches Gespräch als „Verhör“ auffassen und darüber nachträglich ein Protokoll verfassen, das sie möglicherweise dem Schloss zukommen lassen. „‚Gute Nacht‘, sagte K., ‚ich habe eine Abneigung gegen jedes Verhör‘ und er ging nun wirklich durch die Tür“ (DS 184) – zur Verwunderung des Sekretärs Momus, der, von einer Routine-Tätigkeit ausgehend, gerade eine Salzbrezel über seinem Verhörprotokoll gebrochen hatte. K. versucht also, sich der sinnleeren Untätigkeit, die unweigerlich zur Erschöpfung führen würde, zu entziehen, indem er erstens die Deutungshoheit über seine eigene Lage zurückgewinnt und zweitens indem er sein „Recht“ geltend macht, eine Tätigkeit auszuüben, die es erlaubt, dass die Gesellschaft „seine Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit“ (DS  260) sieht und ihm ein angemessenes Auskommen bietet. Stattdessen wird ihm abverlangt, sich in den gleichen sinnentleerten Paralysezustand zu begeben, wie alle anderen im Ort,

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die sich von vagen Vorstellungen über Verbindungen zum Schloss leiten lassen. Ob dabei an übergriffige oder totalitäre Staaten, deren Verwaltungs- und Bespitzelungsapparate gedacht wird, an christliche oder auch orthodox-jüdische religiöse Systeme, an die bedingungslos eingeforderte Obrigkeitstreue im deutschen Kaiserreich und der österreichischen Monarchie, an Plutokratie oder autoritäre Herrschaft jeder Art: Der Text verhandelt Spielarten der Subjektivierung/Entsubjektivierung angesichts der Ermüdung und Erschöpfung durch strukturelle Gewalt, Sinndefizite und intransparente Machtasymmetrien. Erschöpfung ist allen Figuren gemeinsam. Sie hängt offenbar mit Simulakren zusammen. Angefangen bei den Gehilfen, die – eine schöne ironische Pointe des Textes – mit Wissen der gesamten Dorfgemeinschaft wie auch K.s simulieren, Fremde zu sein; infolgedessen schwanken sie zwischen eifriger, lästiger Hyperaktivität (um zu demonstrieren, dass sie ihre Rolle gut erfüllen) und totaler Müdigkeit bis hin zur Erschöpfung: „Alle waren sehr müde, ein Gehilfe war sogar über dem Essen eingeschlafen“ (DS 200). K. sieht „einen der Gehilfen totmüde sich festhalten“ (DS 254), er sieht, wie er sich am Gitter des Schulgeländes mit letzter Kraft bemüht, seine Rolle aufrecht zu erhalten. K. versucht, das Simulakrum zu zerstören, die „Ausdauer“ (DS 254) der beiden zu brechen, was erst gegen Ende gelingt. Es zeigt sich aber, dass außerhalb des Simulakrums keine Inklusionsmöglichkeit für K. in die Gesellschaft besteht: Indem er an der Enttarnung der Illusion von Sinnhaftigkeit arbeitet – in der Hoffnung, einen Ausweg aus der allgemeinen Erschöpfung zu finden –, wirkt er seiner Inklusion in die Gesellschaft entgegen. Auch läuft er Gefahr, Stillstand herbeizuführen. Auch alle Beamten wirken bis zur Erschöpfung müde. Der Gemeindevorsteher führt seine Geschäfte und Verhöre vom Bett aus, er ist „sehr müde und krank“. Bürgel und weitere höhere Schlossbeamte verhören die Parteien in einer Gaststätte, dem Herrenhof, ebenfalls vom Bett aus zur nächtlichen Stunde und setzen darauf, dass die Erschöpfung der Dorfbewohner größer sei als ihre eigene, was fast immer zutrifft. Unübersehbar hängt Erschöpfung mit Machtasymmetrien zusammen. Als es K. nach tagelangem Warten, schlaflosen Nächten und wiederholten Müdigkeitsanfällen endlich gelingt, in das Zimmer eines hohen Beamten – Bürgel – im Herrenhof zu treten, geht es von Anfang an darum, wer wohl als Erster einschlafen wird. Bürgel jedenfalls lobt die Vorzüge des Betts, das das ganze Zimmer ausfüllt und eine ungewohnte Intimität mit den Parteien herstellt, die in eine scheinbare Erschöpfungsgemeinschaft mit den Schlossbeamten, die sie verhören, hineingelockt werden. Das „Bett müßte für einen guten Schläfer wahrhaft köstlich sein. Aber auch mir, der ich immerfort müde bin ohne schlafen zu können, tut es wohl“ (DS 406), so Bürgel.

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An dieser Stelle möchte ich noch einmal Bezug nehmen auf das Tagebuchfragment. Wie dort der Kampf gegen den Schlaf in eine wechselseitige Überwachungssituation übergeht, geschieht es auch hier, nur verkehren beide, K.  und  Bürgel, die Situation rhetorisch ins Gegenteil dessen, was sie sich gerade wünschen: Bürgel wünscht, trotz seiner Erschöpfung wach zu bleiben, um K. zu verhören, klagt K. gegenüber aber über Müdigkeit und tut die Befürchtung kund, während des Gesprächs einzuschlafen; K. ist so erschöpft, dass er zu schlafen wünscht, versichert Bürgel aber, über ihn zu wachen, falls er einnicken sollte. Am Anfang des Romans spricht K. von einem ‚Kampf‘ mit dem Schloss – er kann als Kampf um die Überwindung von Erschöpfung aufgefasst werden. Das Angebot des Egalität und Machtbalance suggerierenden Betts wirkt auf K. so verlockend, dass er tatsächlich das „totmüde[], Wachen[]“ (DS 415) aufgibt, einschläft und in einen Traum sinkt, der ihm die Erfüllung seiner Wünsche vorspielt. Im Schlaf meint K, es „sei ihm ein großer Sieg gelungen“ (DS 415). Stattdessen hat er die Chance verpasst, Bürgel gegenüber sein Anliegen zur Sprache zu bringen – vielleicht ist ihm jedoch gerade dadurch ein Akt des trotzigen Widerstands gegen die totale Macht des Schlosses gelungen. Jedenfalls gelangt K. zu weitreichenden Einsichten: Er stellt fest, dass unter den Beamten „vielmehr jeder und immerfort müde war, ohne daß dies aber die Arbeit schädigte, ja es schien sie vielmehr zu fördern“ (DS 429). Die besonders großen „Aktenbündel“ sind „Gegenstand fortwährender Reizung“ (DS 432) und Begehrlichkeit, man fühlt sich „fast wohl inmitten des Getriebes“ (DS 432) – wenngleich freilich Protokolle nie gelesen werden: „Klamm kann doch nicht alle Protokolle lesen, er liest sogar überhaupt keines, ‚Bleibt mir vom Leib mit Eueren Protokollen!‘, pflegt er zu sagen“ (DS 182), so Momus. Die Übermüdung der Beamten hängt damit zusammen, dass sie nur so tun können, als würden sie ihre Akten sorgfältig bearbeiten. Bei aller vorzüglichen Organisation ist es „unmöglich fertig zu werden, es bleibt immer viel Unerledigtes zurück, das ist dort in jenem Kasten gesammelt“ (DS 98), so der Gemeindevorsteher. K. folgert, dass die Arten der Müdigkeit und Erschöpfung in der Schloss-DorfGesellschaft durchaus verschieden sind: „Daraus war zu schließen, daß es in ihrer Art eine ganz andere Müdigkeit war als jene K.s.“ (DS 430) Diejenigen, die auf der Inklusionsseite der Macht stehen, legen eine Erschöpfungsart an den Tag, die Simmels Vorstellung von der ‚Blasiertheit‘ insofern ähnelt, als die Beamten süffisant annehmen können, im Zentrum des Getriebes, das auch sie überfordert, zu stehen. Etwas Wichtigeres als die Arbeit und die Organisationsformen, die sie beschäftigen, gibt es ebenso wenig, wie nirgendwo andere Menschen stehen, die jene „Gegenstände des Reizes“ zu

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bearbeiten haben, welche sie, die Beamten, vor Erschöpfung vor der Tür liegen lassen oder in Schränke sperren. K. hingegen befindet sich auf der Exklusionsseite der Macht, gemeinsam mit all den Figuren, die in Nietzsches Typologie die ‚Tapferen‘ sind, also Amalia, teilweise auch Frieda sowie schließlich das namenlose schöne Mädchen aus dem Schloss, das K.  im  Haus des Gerbermeisters Lasemann trifft. Die junge Frau mit einem Säugling im Arm fällt K. trotz dessen eigener Erschöpfung sofort auf, als er Lasemanns Haus an einem schneereichen kalten Tag betritt, wie sie „tief in der Ecke in einem hohen Lehnstuhl müde fast lag“, in einer Weise, die sie „fein“ machte, so wie „bleiches Schneelicht“ „einen Schein wie von Seide“ (DS 23) auf ihr Kleid legte. „‚Wer bist Du?‘ fragte K. – Wegwerfend, es war undeutlich ob die Verächtlichkeit K. oder ihrer eigenen Antwort galt, sagte sie: ‚Ein Mädchen aus dem Schloß.‘“ (DS 25) Dem bewusst ‚wegwerfenden‘ Gestus wohnt ein Erhaben-Sein über die Situation inne – in der Stube tummeln sich nackte Bauernkinder, hässliche alte Männer baden, Wäsche wird gewaschen – und auch ein Moment des Trotzes gegen die Schloss-Dorf-Machtasymmetrie. Ihr gilt die „Verächtlichkeit“ eigentlich, und deshalb zählt die Frau, die das Schloss offenbar freiwillig verlassen hat, ebenfalls zu den widerständigen Figuren, die ihre Erschöpfung mit einem fast demonstrativen Gestus zur Schau stellen und die Gewalt in der MachtOrdnung damit offenlegen. Sie alle unterliegen, wie K., gleichsam einer Erschöpfung zweiten Grades, die mit Einsicht einhergeht. Frieda, die sich als Geliebte von Klamm abwendet und K. zuwendet – eine in der Schloss-Dorf-Gesellschaft ungeheure Tat –, verzichtet bewusst darauf, dass Klamm weiterhin als Vertreter des Macht-Zentrums wie ein Magnet und zugleich eine Kraftquelle auf sie wirkt; sie hatte „Frische und Entschlossenheit“ (DS  214) entwickelt, solange sie die Erlaubnis hatte, Klamm durch ein Guckloch zu beobachten und somit selbst zur Überwacherin eines Überwachers zu werden. Nachdem sie diesen elektrisierenden Platz aufgibt, fallen ihre „müden Bewegungen“ (ebd.) bald auf, nur „müde lächelnd“ (DS 222) geht sie schon nach ein paar Tagen des Zusammenlebens mit K. an die Arbeit, beteuert jedoch, dass sie diese Art, erschöpft zu sein, selbst gewählt habe. Als einzige Figur wäre Frieda – anders als K. – bereit, diese Gesellschaft, deren imaginäres Zentrum gerade wegen der Machtasymmetrie enorme Zentripetalkräfte zu besitzen scheint, zu verlassen und in die Welt zu gehen; dies ist Folge der Selbstermächtigung durch die Loslösung von Klamm. Die beiden weiteren ‚Tapferen‘, die Widerstand leisten, sind K. und Amalia. Amalia kennt keine Angst – „nicht für sich, nicht für andere“ (DS 303), wie ihre Schwester angesichts der Weigerung Amalias, die Geliebte Sordinis zu werden,

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beteuert. Amalia hatte dem Boten den Zettel mit den Androhungen Sordinis zerrissen ins Gesicht geworfen, woraufhin ihre Verwandten wie Aussätzige von allen gemieden wurden; Amalia blieb „auf der Fensterbank und sah hinaus, als erwarte sie noch weitere Boten und sei bereit, jeden genau so zu behandeln wie den ersten“ (DS 303). Ihre vormals angesehenen und noch jungen Eltern fallen nun im Exklusionsbereich der Schloss-Dorf-Gesellschaft einer totalen Erschöpfung anheim, sodass sie vergreisen und sich weder selbständig bewegen noch essen können. Amalia „fütterte […] die Mutter“ (DS 298), als K. sie einmal besuchen kam, und der Vater scheiterte daran, den Löffel zum Mund zu führen. Die Erschöpfung der Eltern wird von ihnen nicht reflektiert und ähnelt jener der anderen Dorfbewohner, sie ist bloß intensiver infolge der Ächtung, die die Familie – anders als Amalia – nicht willentlich und bewusst auf sich gezogen hat. Olga, die Schwester, liebt Amalia immer dann am meisten, wenn auch sie einem Erschöpfungsanfall anheimfällt, weil Amalia dann den anderen Dorfbewohnern ähnlicher scheint: „wie liebte ich sie immer wenn sie so müde war“ (DS 302). Freilich ist die Erschöpfung Amalias wie jene K.s und Friedas eine andere, reflektierte, denn alle drei wissen, dass sie eine Folge der Ablehnung struktureller Gewalt in der im Namen einer numinosen Schloss-Macht verwalteten Gesellschaft ist. Frieda entfernt sich willentlich aus einem Zentrum der Macht, Amalia weigert sich, dorthin zu gehen, weil sie den Grund ihrer Einberufung als entwürdigend empfindet, und K. möchte in die Gesellschaft inkludiert werden, aber zu den Bedingungen eines Menschenrechts, das es nicht gibt – er möchte Vergesellschaftung in Anspruch nehmen, ohne sich von einem intransparenten Machtzentrum her zu denken. Die Unmöglichkeit dieses Unterfangens bekommt er zu spüren – in Form einer Erschöpfung, die, wie er selbst feststellt, eben von anderer Art ist: von anderer Art sowohl als jene der Beamten, die an Blasiertheit infolge von Reizüberflutung erinnert, von anderer Art als jene der Dorfbewohner, die infolge einer strukturellen Machtasymmetrie hin zum staatlichen Verwaltungsapparat einen tiefgreifenden Mangel an Sinnhaftigkeit verspüren und all ihre Handlungen als Simulakren durchführen. K.s Erschöpfung unterscheidet sich auch von jener, die sich als Reaktion auf die Ächtung vonseiten der Machtzentren einstellt, wenn Figuren wie Amalias Eltern plötzlich in den gesellschaftlichen Exklusionsbereich verbannt werden und Lähmungserscheinungen aufweisen. Sobald K. sich seiner voranschreitenden Ermattung bewusst wird, versucht er, die Erschöpfung trotzig wieder gegen das Schloss zu wenden. Vor allem scheinen die Erschöpfungsmomente nach den Regeln der Paradoxie einzutreten, nämlich immer dann, wenn K. ein Inklusionsangebot

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erhält. Dadurch wird die Erschöpfung zum Ausdrucksmittel für K.s Ablehnung des Dorf-Schloss-Systems. Er ist ihr nicht, wie alle anderen Erschöpften, letztlich ausgeliefert, sondern sie ist zu einer Funktion von K.s Subjekt-Eigenschaft geworden. Statt Objekt der Schloss-Dorf-Welt zu bleiben, subjektiviert sich K. gerade in seiner paradoxen Erschöpfung und tritt mit der vorgefundenen Ordnung nach seinen Regeln in Beziehung – wenn auch diese Regeln weniger von seiner Ratio als von seinem Leib ausgehen. Am Ende vollzieht K. eine ironische Volte: Er hatte es aus Müdigkeit versäumt, dem Beamten Bürgel, in dessen Zimmer er bei Nacht eingedrungen war, sein Anliegen zu vermitteln, und stattdessen – nicht ohne gewissen Trotz – „Klappere Mühle klappere […] du klapperst nur für mich“ (DS 419) gedacht und war dabei eingeschlafen. Danach stellt ihn das Wirtspaar im Herrenhof wegen der nächtlichen Ruhestörung der Beamten zur Rede. K. beteuert, daß alles nur aus übergroßer Müdigkeit geschehen sei. […] Nur Müdigkeit und nichts anderes sei daran schuld gewesen. Diese Müdigkeit aber stamme daher, daß er an die Anstrengung der Verhöre noch nicht gewöhnt sei. Er sei ja noch nicht lange hier. […] Er habe zwei Verhöre kurz nacheinander durchzumachen gehabt, eines bei Bürgel und das zweite bei Erlanger, besonders das erste habe ihn sehr erschöpft, […] beide zusammen seien mehr als er auf einmal ertragen könne. (DS 448)

K. erzählt hier eine falsche Erschöpfungsgeschichte. Sie verschiebt das Geschehen und instauriert K. wiederum als Miturheber seiner Subjektivierung und als Herr über seine eigene Erschöpfung. Sein ‚Fremd-Sein‘ schiebt K. vor, um seinen offenen Widerstand zu verbergen; denn sein Schlaf ist in Wahrheit ein selbst gewählter – ein Zeichen seiner Ablehnung der Gewalt in dieser Gesellschaft. Von der „Möglichkeit, diese nächtliche Schwäche der Sekretäre auszunützen“ (DS 416) – nämlich die Müdigkeit, die sie etwas empathischer für die Anliegen der Bittsteller stimmt –, will K. nicht Gebrauch machen, wie er auch schon gegenüber dem Gemeindevorsteher geäußert hatte, nur auf seinem Recht zu bestehen. Zur Erschöpfung der Beamten gehört immer noch die Macht, willkürlich über das zum ‚Fall‘ gemachte Leben Anderer zu entscheiden. Während  K. nachts auf den Fluren des Herrenhofs nach einem Zugang zur Beamtenschaft sucht, wird er Zeuge, wie ein niedriger Beamter die Akten verteilt und dabei „ein Papierchen, ein[en] Zettel von einem Notizblock“ (DS 438) in die Hand nimmt. K. hat die Eingebung, dass es sich dabei um seine Akte handeln könnte, die mehrfach als „allerkleinster Fall“ bezeichnet wurde. Nach einiger „harter Arbeit“ ist der Beamte

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Iulia-Karin Patrut gleichgültiger geworden, seine große Erschöpfung machte das begreiflich, auch mit dem Zettel gab er sich nicht viel Mühe, er las ihn vielleicht gar nicht durch, er tat nur so und trotzdem er hier auf dem Gang wahrscheinlich jedem Zimmerherrn mit der Zuteilung des Zettels eine Freude gemacht hätte, entschloß er sich anders, er war des Verteilens schon satt, mit dem Zeigefinger an den Lippen gab er seinem Begleiter ein Zeichen zu schweigen, zerriß – K. war noch lange nicht bei ihm – den Zettel in kleine Stücke und steckte sie in die Tasche. (DS 439)

In dieser Szene, auf die sich der Titel des Beitrags bezieht, wird deutlich, dass es im Roman tatsächlich um die Kontrastierung unterschiedlicher Arten von Erschöpfung in einer von Müdigkeit, aber auch von erheblichen Machtunterschieden gekennzeichneten Gesellschaft geht. K. setzt jedenfalls die Erschöpfungsgeschichte, die er dem Wirtspaar erzählt, und in der er sich als fremdes Opfer der Verhöre gibt, nun bewusst als widerständiges Moment ein, um ein Stück Selbstermächtigung und Urheberschaft wiederzugewinnen. Damit tut er das Gegenteil von dem Beamten, der Erschöpfung gleichsam als Entschuldigung einsetzt, um mit einer vielleicht unliebsamen Akte aufzuräumen. Und damit entgeht K. den fatalen zentripetalen Bewegungen, die immer weiter in den inneren Zirkel des Schlosses hineinführen, ohne zum Ziel zu kommen. Auch topographisch zieht K. in der DorfSchloss-Welt zuvor etliche Kreise im Raum, ohne in seinem Anliegen vom Fleck zu kommen, und gräbt sich auch im Wortsinn immer tiefer in den Schnee ein. Bereits bald nach seiner Ankunft unternimmt K. einen Erkundungsweg, auf dem er zum Schloss gelangen will, das sich allerdings aus der Nähe betrachtet als gewöhnliche Ansammlung von Häusern erweist, die sich allein dadurch auszeichnet, dass sie unmöglich zu erreichen ist. Wachsende Erschöpfung stellt sich ein. Die Straße, die den Schlossberg hinaufzuführen scheint, biegt immer wieder ab. K. kommt zum Stillstand, es sinkt immer „noch tieferer Schnee, das Herausziehen der einsinkenden Füße war eine schwere Arbeit, Schweiß brach ihm aus, plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter“ (DS 22). „Darf ich ein wenig zu Euch kommen?“, fragt K. schließlich die Bewohner eines beliebigen Hauses, nachdem er etliche Kreise gezogen hat und zu erfrieren droht, „ich bin sehr müde“ (ebd.). In diesem Haus trifft er auf das Mädchen mit der ‚wegwerfenden‘ Geste und bekommt die erste Anregung zur Widerständigkeit, die gerade darin besteht, aus dem Kreislauf – sinnbildlich für das Räderwerk der strukturellen Gewalt – auszutreten, statt sich in Erschöpfung der Lähmung auszusetzen, Erschöpfungsgeschichten zu erzählen. Zurückbezogen auf Kunst, Tanz und Erschöpfung in der Zeitschrift Menorah zeichnet Kafka hier ein Gegenbild: Es kommt nicht darauf an, den Reigen der Hora bis zur Erschöpfung zu drehen, sondern darauf,

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ihn als Erschöpfungs- und in schlimmster Konsequenz tödlicher Maschinerie kenntlich zu machen – etwa durch Erschöpfungsgeschichten. Zur Relevanz von Kafkas Poetik für heutige Erschöpfungsdiagnosen Erschöpfung ist in den Diagnosen der Mediengesellschaft seit den 1970er Jahren als ein neuer, besorgniserregender Normalzustand beschrieben worden, im Rückgriff auf inzwischen geradezu klassisch gewordene, verkappte Theorien der Erschöpfung. Lyotards Begriff der ‚Posthistoire‘, Fukuyamas Vorstellung vom ‚Ende der Geschichte‘ und schließlich auch Gumbrechts Begriff der ‚flachen Gegenwart‘ sind nur einige Beispiele für Theorieansätze, die nicht nur die Sinnlosigkeit, sondern vor allem die Unmöglichkeit individuellen wie gesellschaftlichen Handelns sowie die Zusammenhänge zwischen der (vermeintlichen?) Entmachtung des Subjekts und den Krisen der Demokratie herausstellen. Ursachen werden im Rückgriff auf Simmels Thesen zur Großstadt gesucht – in der „Steigerung des Nervenlebens“ angesichts immer rascherer „Eindrücke“,27 die aber gar nicht mehr verarbeitet werden, und im Komplexitätsgefälle zwischen dem, was Einzelne bewältigen können, und den globalen ökonomischen, multimedialen, politischen und kulturellen Abläufen. Dieses Komplexitätsgefälle führt zum Eindruck ausbleibender gesellschaftlicher Wirksamkeit des Einzelnen: Folgen des eigenen Handelns scheinen unzureichend mit gesamtgesellschaftlichen Kausal- und Konsekutivzusammenhängen rückgekoppelt, zumal global betrachtet ein immer undurchsichtigeres Geflecht aus Interessenslagen, Kapitalbewegungen und Machteinflüssen das Geschehen bestimmt – statt nachvollziehbarer Logiken wie jener der Professionalisierung, der funktionalen Differenzierung und der Demokratie. Angesichts intransparenter Wechselbeziehungen und der Unmöglichkeit, sein Verhalten darauf abzustimmen, erfährt der Einzelne Sinndefizite und Ohnmacht – alles Indizien, die heute für die ‚erschöpfte Gesellschaft‘ sprechen. In den letzten Jahren entstanden soziographischkulturwissenschaftliche Arbeiten, die wie Wolfgang Martynkewiczs Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne argumentierten, dass die Moderne um 1900 ein Menschenbild entworfen habe, in dem die Verantwortung für die Selbstoptimierung, Leistungsbereitschaft und Bekämpfung der Müdigkeit beim Einzelnen liege, was unweigerlich zur 27 

Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 186.

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heutigen erschöpften Gesellschaft führen musste.28 Im Zuge der Konstruktion der heutigen Erschöpfungskrise (als einem Modus gesellschaftlicher Selbstbeschreibung) darf nicht vergessen werden, dass schon um 1900 Müdigkeit und Erschöpfung als durchaus schillernde Phänomene, denen mitunter auch kreative und widerständige Momente innewohnen können, galten. Auch aktuellere Ansätze greifen immer wieder eine wichtige Beobachtung Baudrillards auf, laut der die Kehrseite der Erschöpfung in hypertropher Aktivität bestünde: „Weil es keine Ursachen mehr gibt, muß man Effekte ohne Unterbrechung herstellen. Weil nichts mehr Sinn hat, muß alles reibungslos funktionieren.“29 Folgebefunde sprechen von der Aushebelung von Subjektivität, ja des Menschen schlechthin, insofern, als das Maß des Menschenmöglichen im Zeitalter der elektronischen und digitalen Medien nicht mehr gelte und individuelle Handlungsmacht/Agency bedeutungslos wird. Durch immer regsameres Kommunizieren und Agieren werde der Mangel an Sinn überdeckt und stets neu verschoben – in der Diktion Baudrillards entstünde so eine Gesellschaft, die darauf beruht, dass wissentlich, aber unausgesprochen simuliert würde, d.h. die Einzelnen seien unermüdlich bestrebt, ein „Simulacrum als Faktum vorzuspiegeln“.30 Das Wissen um die Doppelbödigkeit (v.a. eigentlicher Sinnlosigkeit) allen Handelns führe die allgemein beklagte, generalisierte Symptomatik der Erschöpfung herbei, die auf der fast vollständigen Entmachtung des Einzelnen basiere. Während die genannten Herangehensweisen Erschöpfung auf den medialen Wandel, den globalen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg und auf das Ende des Staatssozialismus in Europa zurückführen, verfasst Kafka mit Das Schloß schon Anfang der 1920er Jahre – vor nunmehr einem Jahrhundert – ein Romanfragment, das in mancherlei Hinsicht differenzierter ist und sich nicht in diese Ansätze einordnen lässt. Die dort formulierten Einsichten und Verdichtungen halten einem Vergleich mit heutigen Theorien zu Erschöpfung durchaus stand.

28  29  30 

Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin 2013. Jean Baudrillard: Cool Memories. München, Berlin 1989, S. 45. Sybille Krämer: Vom Trugbild zum Topos. Über fiktive Realitäten. In: Illusion und Simulation. Begegnungen mit der Realität. Hg. v. Stefan Iglhaut / Florian Rötzer / Elisabeth Schweeger. Ostfildern 1995, S. 130-137, hier S. 134.

Georges Felten

Grauzone Erschöpfung

Utopische Kippfiguren und deren Arretierung in Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen Wie Anna Seghers’ Roman Transit artikuliert auch ihre 1943/44 im mexikanischen Exil entstandene Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen eine intrikate Poetik der Erschöpfung.1 Unübersehbar ist deren visionäre Binnengeschichte einem extremen Erschöpfungszustand des von Flucht und Exil sowie monatelanger Krankheit gezeichneten Ich nicht nur abgerungen, sondern wird überhaupt erst aus dieser abgrundtiefen Müdigkeit heraus generiert. „Trotz Schwäche und Müdigkeit“2 und „obwohl [ihm] die Augen vor Hitze und Müdigkeit“ (A 121f.) brennen, macht sich das Ich so zum Auftakt der in der lebensfeindlichen mexikanischen Gebirgsödnis spielenden Rahmengeschichte zu einem abgelegenen Gehöft, einem „Rancho“, auf, wo es in der Nacht davor ein Licht zu sehen vermeint hat. Dabei wird sein Blick, je näher es seinem Zielort kommt, desto stärker in einen „flimmrigen Dunst“ (A 122) gehüllt. Dieser erweist sich als paradoxes Schau-Dispositiv, in dessen Zug „die Nähe entw[e] ich[t] und die Ferne sich klärt[ ], wie eine Fata Morgana“ (ebd.). Im Modus einer quasi-filmischen Überblendung wird die mexikanische Exillandschaft so allmählich abgelöst durch das Setting der sowohl in geographischer als zeitlicher „Ferne“ situierten Binnengeschichte. Diese handelt von einem Ausflug, den das Ich einst, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit seinen seither allesamt ums Leben gekommenen Mitschülerinnen in eine am Rhein gelegene Gartenwirtschaft unternommen hatte. Zumindest imaginär scheint damit für das Ich „die Heimfahrt“, die einzige „Reiselust“ (ebd.), die ihm im Exil noch geblieben ist, in Erfüllung zu gehen. Müdigkeit meint in der Erzählung selber also von Beginn an nicht nur ein körperliches wie psychisches Phänomen, sondern

1  Zu Transit vgl. Georges Felten: Aus der Erschöpfung heraus erzählen. Anna Seghers’ Prosa der Exilzeit. In: figurationen 16, H. 1: Erschöpfung / Épuisement (2015), S. 70-82. Der vorliegende Aufsatz wäre nicht denkbar ohne das Erschöpfungs-Seminar, das ich im Frühjahrssemester 2018 zusammen mit Stéphane Boutin unterrichtet habe. Ihm ebenso wie den Studierenden gebührt auf diesem Wege noch einmal herzlichster Dank. 2  Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. In: Dies.: Werkausgabe. Hg. v. Helen Fehervary / Bernhard Spies. Berlin 2011, Bd. II.2, S. 121-151, hier S. 122. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle A und Seitenzahl nachgewiesen.

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fungiert auch als Medium des Erzählens bzw. für den halluzinativ klarsichtigen Blick, den das Ich auf diesen Ausschnitt seiner Vergangenheit wirft.3 Dieser Eingangsbefund lässt sich im Sinn einer umfassenderen Poetik der Erschöpfung ausdehnen. So wird die Erzählung auch deswegen von Erschöpfung grundiert, weil ihr – wie ich im ersten Teil meines Beitrags ausführen möchte – mit dem Genre der Erinnerungsnovelle ein Erzählmodell zugrunde liegt, dessen Unzulänglichkeiten angesichts der verhandelten katastrophischen Ereignisse von ihr selber bloßgelegt werden. Anstatt mithin für eine modernistisch-avantgardistische Schreibweise zu optieren, für etwas vorgeblich ganz und gar Neues also, vertraut Seghers’ Erzählung – analog zu dem, was auf der Geschehensebene zu beobachten ist – darauf, aus dem Erschöpfungszustand einer bestimmten literarischen Gattung heraus bislang unabgegoltene Möglichkeiten zu entbinden für ein utopisches Erzählen, das im Zeichen von Solidarität und Präsenz steht. Wie Transit entwirft Der Ausflug der toten Mädchen damit ein Modell, das „im doppelten Wortsinn“ aus der Erschöpfung heraus operiert, indem der Text „die Erschöpfung zur Grundlage des eigenen Erzählens“ macht und „über sie hinaus zu neuen, angemesseneren Erzählformen zu gelangen“ versucht.4 Hervorzuheben ist in der Hinsicht insbesondere, wie die Erzählung das, was der späte Tieck wirkmächtig als gattungskonstitutives Merkmal der Novelle bestimmt hatte – den sogenannten Wendepunkt5 –, in Gestalt unterschiedlichster utopischer Kippfiguren refunktionalisiert. So bürstet die Binnengeschichte denn auch sinnigerweise den biblischen Schöpfungsbericht gegen den Strich, schreibt diesen von seinem katastrophalen Ausgang her um. Im zweiten Teil des Beitrags werde ich demgegenüber auf die Störmomente eingehen, auf die zahlreichen Leerstellen und den Affekt des Grauens – beides vermittelt über die grau-weiße Chromatik des Textes –, die das utopische Umschlagen zwar nicht grundsätzlich außer Kraft setzen, es aber doch in eine ungleich langwierigere und prekärere Temporalität einschreiben, als die aufgesetzt optimistischen Schlusssätze der Erzählung suggerieren.

3  Ich übernehme hier in großen Teilen die Interpretation von Frank Schlossbauer, die freilich weniger am Stellenwert der Müdigkeit interessiert ist als an den Paradoxien mystischer Provenienz, die für den divinatorischen Blick des Ich kennzeichnend sind. Vgl. Frank Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, Sehen als Schau. Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen zwischen Requiem und Utopie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 13 (1994), S. 578-597, hier S. 594f. 4  Felten: Aus der Erschöpfung heraus erzählen, S. 71. 5  Vgl. Ludwig Tieck: Vorbericht [1829]. In: Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil. Hg. v. Karl Konrad Polheim. Tübingen 1970, S. 74-77, hier S. 75 .

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Er/schöpfungsbericht Das für Seghers’ Erzählung kennzeichnende Moment des Kippens findet sein Emblem in genau dem Gegenstand, den das Ich im Übergang von der Rahmenzur Binnenhandlung als erstes eindeutig dem Schulausflug-Setting zuordnet: in der „Wipp-Schaukel“ (A 124), auf der seine zwei besten Schulfreundinnen, Marianne und Leni, reiten. Nichts wäre indes irriger, als dieses Umschlagmoment auf seine Kontrastfunktion zu reduzieren: hier der locus horribilis des Exils, dort der in einer unbeschwerten Vergangenheit angesiedelte locus amœnus. Zwar gedeiht dem Ich „[b]ei dem bloßen Anblick des weichen, hügeligen Landes […] die Lebensfreude und Heiterkeit statt der Schwermut aus dem Blut selbst, wie ein bestimmtes Korn aus einer bestimmten Luft und Erde.“ (A 128) Anders als in einer ‚klassischen‘ Erinnerungsnovelle à la Immensee ist mit dieser naturhaften All-„Verbundenheit“ (A 143) jedoch kein sentimentales Schwelgen in den Bildern einer realiter zwar verlorenen, in der Erinnerung aber unversehrt aufgehobenen Vergangenheit gemeint.6 Wäre dem so, begäbe sich die Erzählung auf das gleiche Niveau wie die nationalsozialistische Propagandatechnik, von der es im Text selber in Zusammenhang mit den verheerenden Luftangriffen der Alliierten auf die Heimatstadt des Ich heißt, sie sei imstande, „eine Scheinstadt“ aufzubauen, um „über das Ausmaß der Angriffe zu täuschen“ (A 145). Statt ein solches (Selbst-)Täuschungsmanöver vorzunehmen und sich in eine vorgeblich heile Vergangenheit zu versenken, sprengt das Ich die raumzeitliche Kontinuität des Ausflugsidylls – sinnbildhaft verkörpert im episch fließenden Rhein, an dessen Ufer der hortus conclusus liegt, in dem die Ausflüglerinnen eine Kaffeepause einlegen – ebenso wie dessen identifikatorisches Nacherleben immer wieder mit seinem Wissen darüber auf, was in den Jahren danach geschah: „Jetzt kam Otto Fresenius“, heißt es an einer Stelle, die diesen Riss durch einen syntaktischen Einschub auch sprachlich realisiert, „dem ein Geschoß im ersten Weltkrieg den Bauch zerreißen sollte, von seiner Liebe angespornt, als Erster über den Landungssteg auf den Wirtsgarten zu.“ (A 134f.) Geht die klassische Novelle von der einmaligen dramatischen Wendung eines Einzelschicksals aus, kippt das Idyll bei Seghers immer und immer wieder

6  Dass sich Storms Novelle ihrerseits nicht in dieser gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierenden Lesart erschöpft, habe ich andernorts zu zeigen versucht. Vgl. Georges Felten: Summen, Wühlen. Bienen und Idyllik in Theodor Storms Immensee. In: Prekäre Idyllen in der Erzählliteratur des deutschsprachigen Realismus. Hg. v. Sabine Schneider / Marie Drath. Stuttgart 2017, S. 182-202.

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durch harten Schnitt in eine Katastrophe, die durch die Repetition eben dieses Umschlaggestus als kollektive ausgewiesen wird. Zu den Rissen im Idyll gehören nicht allein die gewaltsamen Todesumstände der Ausflüglerinnen und ihrer späteren Ehemänner, von denen ein Teil im Verlauf der Binnengeschichte ebenfalls in der Gartenwirtschaft anlegt. Maßgeblich zu ihnen zählen zudem die vielen biographischen Brüche, für die das Ich auch im Rückblick keine Erklärung parat hat: „Wie konnte […] später“, fragt sich das Ich etwa bezüglich seiner besten Freundin Marianne, „ein Betrug, ein Wahn in ihre Gedanken eindringen, daß sie und ihr Mann allein die Liebe zu diesem Land gepachtet hätten und deshalb mit gutem Recht das Mädchen [d.h. Leni, G.F.], an das sie sich jetzt anlehnte, verachteten und anzeigten.“ (A 143) Anders als von der Novellentheorie des 19. Jahrhunderts gefordert, der zufolge die entscheidende Wendung „wunderbar und doch natürlich“7 zu sein habe, vermag das Ich den entscheidenden Wendepunkt in den Lebensgeschichten seiner ehemaligen Mitschülerinnen also nicht schlüssig zu motivieren. „Verschwunden“, schreibt Robert Cohen dazu mit Bezug auf eine berühmte Fallgeschichte von Schiller, „jener aufklärerische Optimismus, dem es möglich schien, die Entwicklung eines durchschnittlichen Menschen zu einem Verbrecher aus verlorener Ehre einsehbar zu machen.“8 All diesen Rissen wirkt freilich wiederum das Ausflugsidyll selber entgegen: in erster Linie die Szene, in der die drei Schulfreundinnen grazienhaft ihre „Arme ineinander verschränkt“ halten, „in einer Verbundenheit, die einfach zu der großen Verbundenheit alles Irdischen unter der Sonne gehörte“ (ebd.). Erneut sollte man das Tableau nicht vorschnell als rückwärtsgewandte Beschwörung einer heilen Vergangenheit abtun. Indem die Mädchen „stromaufwärts“ (A 144, Herv. G.F.) blicken, vollziehen sie vielmehr eine „Bewegung der Progression, die zugleich gegen den Strom der Geschichte sich richtet“.9 Das Tableau wird damit lesbar als pikturale Konkretion eines unabgegoltenen, über die historische Katastrophe hinweg latent weiterhin wirksamen utopischen Heimat-Begriffs: Ausdrücklich nennt der Text diesen beim Namen (vgl. A 144, 7  Tieck: Vorbericht, S. 75 (Herv. G.F.). 8  Robert Cohen: Die befohlene Aufgabe machen. Anna Seghers’ Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, Sprache und Literatur  79, H.  2 (1987), S. 186-198, hier S. 191. Hochinteressant auch, wie Cohen hinsichtlich der in der Binnengeschichte beobachtbaren Fokalisierungsverfahren permanent Kippeffekte am Werk sieht (vgl. ebd., S. 189). Allerdings unterlässt er es, die von ihm herausgearbeiteten Phänomene unter einen, in Seghers’ Text selber reflektierten Begriff – eben den des Kippens – zusammenzufassen. Hugo Aust attestiert dem Ausflug seinerseits eine „Wendepunkt-Dramaturgie“, bleibt aber jedweden Beleg für diese These schuldig (Hugo Aust: Novelle. 4. Aufl. Stuttgart, Weimar 2006, S. 180). 9  Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, Sehen als Schau, S. 586.

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136) und bringt ihn so in Stellung gegen dessen Vereinnahmung durch die NS-Propaganda.10 Gleichsam naturhistorisch bekräftigt wird dieses Moment einer unverlierbaren Verbundenheit, als das Ich seine Heimatstadt nach dem Ausflug entgegen seiner Befürchtungen unversehrt wiederfindet und „wie immer [s]einen Lieblingsweg heimgehen [kann], unter den beiden großen Eschen, die sich von der rechten und linken Seite der Straße wie ein Triumphbogen spannten, sich gegenseitig berührend, unzerstört, unzerstörbar.“ (A 148) Der vom heimkehrenden Ich gezogene Triumphbogen-Vergleich steht nicht für militärische Siege, huldigt mithin keinem Freund-Feind-Schema – rechts vs. links –, sondern stellt eben jene Szene auf Dauer, in der Marianne während der Rückfahrt auf dem Rhein „den Kopf an Lenis Kopf [  ]lehnt“ (A 143). So grenzt sich die auf Verbundenheit bedachte Gedächtnispolitik des Textes auch von einer ebenso parteiischen wie selektiven Erinnerungskultur ab, für die in der Erzählung selber wiederum die später mit einem SS-Sturmbannführer verheiratete Marianne steht (vgl. A 129, 133f.).11 Der Befund gilt dabei nicht allein für die Ebene des Erzählten, sondern ebenso sehr auch für die des Erzählens: Performativ werden im Akt des Erzählens die abgerissenen Lebensfäden der toten Mädchen zu einem Text verwoben, als Flechtwerk eben jenen Zöpfen strukturell vergleichbar, die Leni, Marianne und das Ich während des Ausflugs tragen (vgl. A 124f.). Aus dieser Gedächtnispolitik ergibt sich zugleich der spezifische AppellCharakter von Der Ausflug der toten Mädchen: Gerade weil die Rückerinnerung des Ich für seine Schulkameradinnen zu spät kommt – „Nie hat uns jemand, als noch Zeit dazu war, an diese gemeinsame Fahrt erinnert“ (A 143f.) –, vermag sie in Bezug auf die LeserInnen als auf die Zukunft ausgerichtetes „Wahrzeichen“ (A 128) zu fungieren: Für diese ist eben sehr wohl noch Zeit, sich ähnlicher gemeinsamer Fahrten aus dem eigenen Leben zu erinnern und so ihrerseits, wie sich mit Benjamin sagen lässt, „mit Jetztzeit geladene Vergangenheit“ aus dem vorgeblichen „Kontinuum“ ihrer Lebensgeschichte herauszusprengen.12 10  11  12 

So auch bspw. Cohen: Die befohlene Aufgabe machen, S. 193f. Dass die Frage eines angemessenen Erinnerns insbesendere über das Verhalten der ehemaligen Klassenkameradinnen des Ich verhandelt wird, betont auch Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, Sehen als Schau, S. 582f. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, Bd. I.2, S. 691-704, hier S.  701. Nur oberflächliche Berührungspunkte gibt es zwischen der von mir vorgenommenen Engführung Seghers / Benjamin und der von Birgit Maier-Katkin: Debris and Remembrance. Anna Seghers’s Ausflug and Walter Benjamin’s „Engel der Geschichte“. In: The German Quarterly 79 (2006), S. 90-108.

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Tatsächlich bilden die Settings von Rahmen- und Binnengeschichte bei Seghers eine geradezu Benjamin’sche „Konstellation“.13 Psychophysiologisch begründet durch den „Heimfahrt“-Wunsch des zutiefst erschöpften Ich, führt der „[S]prung ins Vergangene“14 nicht einfach zu einer Begebenheit, die der jetzigen Lage des Ich schroff entgegensteht – ganz im Gegenteil entspricht sie dieser auch in vielerlei Punkten aufs Genaueste. So wie sich das exilierte Ich dem eigenen Bekunden nach am „äußerste[n] westliche[n] Punkt“ befindet, „an den [es] jemals geraten war“ (A 122), so setzt die Rahmengeschichte nicht etwa mit dem Beginn des Ausflugs (der Ausfahrt aus der Heimatstadt) ein, sondern mit dessen äußerstem Punkt (mit der Kaffeepause in der Gartenwirtschaft), von wo aus die Klasse dann im letzten Drittel der Binnengeschichte die Rückfahrt antritt. Erst diese Kongruenz, erst dieser Einstieg über den geographischen Wendepunkt des Ausflugs – poetologisch lesbar als Reflexion darauf, wo Seghers’ Erzählung gattungshistorisch einsetzt – ermöglicht es dem exilierten Ich, seinen Heimkehrwunsch realiter (im Modus des Halluzinativen) in Erfüllung gehen zu sehen. Bei der Ankunft überlappen sich dementsprechend die Zeitebenen: „Als jetzt der Dampfer seinen Anlegebogen machte, […] schienen wir nicht nach dem Ausflug, sondern nach jahrelanger Reise heimzukehren.“ (A 144) In dieses Verweisungsnetz eingewoben ist auch das rheinische Ausflugslokal: Bevor sich das Ich in der Rahmenhandlung auf den Weg zum Rancho macht, kehrt es nämlich in eine „Pulqueria“ (A 122) ein, in eine mexikanische Schenke also, während die mehrfach erwähnte „weiße[ ] Mauer“ (A 122, 123) des Rancho wiederum auf die „weiße[ ] Mauer der Ausflugswirtschaft“ (A 138, vgl. 140) am Rhein verweist. Wortwörtlich als Konstellation markiert sind all diese Bezüge durch den Text selber (und nicht etwa durch die Willkür des Interpreten), insofern es vom Licht, welches das Ich „vom Dach seiner Herberge“ aus gesehen zu haben meint und das seine Neugier überhaupt erst anfacht, heißt, es sei „vom Nachthimmel gefallen[ ]“ (A 122): wie eine vorbeihuschende Sternschnuppe also – erneut könnte man hier ohne weiteres Benjamins geschichtsphilosophische Thesen als Hintergrundfolie heranziehen15 –, deren eigentlich ‚Gemeintes‘ die Binnengeschichte dann ausbuchstabiert. Zugleich ist die Sternschnuppe selbstredend eine biblische Referenz auf das Himmelszeichen, das die Geburt des (christlichen) Messias anzeigt. In erster Linie wird dieser messianische Charakter von Seghers’ Erzählung durch

13  14  15 

Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 704. Ebd., S. 701. Vgl. ebd., S. 695.

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Anspielungen auf die Vertreibung aus dem Paradies unterstrichen.16 Gegen den Strich gebürstet bzw. in einer gleichsam wörtlichen Auslegung der berühmten Stelle aus Kleists Über das Marionettentheater, der zufolge „wir […] die Reise um die Welt machen [müssen], und sehen, ob es [das Paradies, G.F.] vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“,17 wird das katastrophische Ende des Schöpfungsberichts zu einem Wiedereintritt ins Paradies umfunktioniert, dem die Katastrophe gleichwohl eingeschrieben bleibt. Die „Neugierde“ (A 122) mag Eva einst ins Verderben geführt haben, dem exilierten Ich weist sie überhaupt erst den Weg: „Trotz Schwäche und Müdigkeit“ – beides lesbar als Korrelate des nach dem Sündenfall ausgesprochenen göttlichen Fluchs, der Mensch habe sein Brot fortan im Schweiße seines Angesichts zu verdienen18 – „mußte ich selbst herausfinden, was es mit dem Haus auf sich hatte.“ (Ebd.) Im rheinischen Garten Eden, der sich dahinter verbirgt, wird indes überraschenderweise ausgerechnet die unter dem NS-Regime als Widerständlerin aktive Leni mehrmals mit dem in der Genesis so unheilschwangeren Attribut des Apfels in Verbindung gebracht (vgl. A 124f.), während die später stramm nationalsozialistische Marianne leitmotivisch mit dem ikonographischen Passionssymbol der Nelke ausgestattet wird (vgl. A 125, 145). Da man davon ausgehen kann, dass Anna Seghers als promovierte Kunsthistorikerin mit solchen Valenzen vertraut war,19 weist die Wippe, auf der die zwei besten 16 

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Zur spezifischen Ausprägung von Seghers’ Messianismus vgl. insbesondere Erika Haas’ Überlegungen, die den Ausflug der toten Mädchen freilich völlig ausklammern (Erika Haas: Anna Seghers und der Messianismus Ernst Blochs. Ein Denktypus und seine literarische Erscheinungsweise. In: Argonautenschiff 6 (1997), S. 275-289). Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. v. Ilse-Marie Barth / Klaus Müller-Salget / Stefan Ormanns / Hinrich C. Seeba. Frankfurt a.M. 1990, Bd. 3, S. 555-563, hier S. 559, Herv. G.F. Wiederholt hat Anna Seghers auf die Bedeutung hingewiesen, die Kleist für ihr eigenes Schreiben besaß. Vgl. etwa Anna Seghers: Ansprache in Weimar. Rede auf dem internationalen Schriftstellertreffen [1965]. In: Dies.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Berlin, Weimar 1980, Bd. XIV, S. 299-310, hier S. 303. En passant sei auch daran erinnert, dass ihr 1928 als erster Frau der Kleist-Preis, die renommierteste Literaturauszeichnung der Weimarer Republik, zugesprochen wurde. Am Ende der Erzählung, im Übergang von der Rahmen- zur Binnengeschichte, als das Ich endgültig aus seinem Paradies verstoßen wird, hört es bezeichnenderweise, wie etwas gebacken wird: Anders als in der Genesis handelt es sich dabei zwar nicht um Brot, sondern um „Pfannkuchen“ (A 150). Genau dieses Gericht aber ermöglicht es, den Übergang von Deutschland nach Mexiko – zur Tortilla – auch kulinarisch zu vollziehen (vgl. A 149f.). Zur Streichung des als unverständlich eingestuften Ausdrucks ‚Tortilla‘ durch Seghers’ Verleger vgl. Anna Seghers / Wieland Herzfelde: Ein Briefwechsel. 1939-1946. Hg. v. Ursula Emmerich / Erika Pick. Berlin, Weimar 1985, S. 81 (Brief vom 27. 3. 1946). Zu Seghers’ ikonographischem Sachwissen vgl. allgemein Sonja Hilzinger: Anna Seghers. Stuttgart 2000, S. 30f., 38.

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Schulfreundinnen des Ich Platz genommen haben, auch auf die Kontingenz der späteren Lebensläufe hin, die – wenn etwa Mariannes Verlobter nicht im Ersten Weltkrieg gefallen wäre – durchaus anders hätten verlaufen können. Obgleich sich der Wolkenschleier vor den Augen des Ich mit dessen Eintritt in die rheinische Gartenwirtschaft auf wundersame Weise gehoben hat, ist deren paradiesische Idyllik also auch in der Hinsicht keine ungetrübte. Hochgradig poetologisch und medienreflexiv aufgeladen ist ihrerseits die zunächst keiner bestimmten Sprechinstanz zugeschriebene Anrufung „Netty!“, die just in dem Augenblick ertönt, als das Ich auf die Wippe zurennen will: Mit diesem Namen hatte mich seit der Schulzeit niemand mehr gerufen. Ich hatte gelernt, auf alle die guten und bösen Namen zu hören, mit denen mich Freunde und Feinde zu rufen pflegten, die Namen, die man mir in vielen Jahren in Straßen, Versammlungen, Festen, nächtlichen Zimmern, Polizeiverhören, Büchertiteln, Zeitungsberichten, Protokollen und Pässen beigelegt hatte. Ich hatte sogar, als ich krank und besinnungslos lag, manchmal auf jenen alten frühen Namen gehofft, doch der Name blieb verloren […]. (A 123f.)

Jenseits aller gesellschaftlichen Vermittlungen, Entstellungen und Maskierungen klingt dem Ich aus dem, was sich als paradieshafter Ausschnitt aus der eigenen Jugendzeit erweisen wird, mithin sein ‚wahrer‘, sein ‚eigentlicher‘ Name entgegen und ruft es ins Setting der Binnengeschichte hinein. Mehr noch: Dieser Anrufung eignet analog zur performativen Kraft des göttlichen Schöpferworts die Macht, das exilierte und erschöpfte Ich auch leibhaft in das Mädchen zu verwandeln, das es einst war: „Beim Klang meines alten Namens packte ich […] mit beiden Fäusten nach meinen Zöpfen. Ich wunderte mich, daß ich die zwei dicken Zöpfe anpacken konnte: man hatte sie also doch nicht im Krankenhaus abgeschnitten.“ (A 124) Zu dieser Lesart passt, dass sich direkte Rede in der Binnengeschichte auch sonst fast immer in Gestalt von Benennungsgesten präsentiert: „Alle Mädchen riefen miteinander: ‚Das ist das Realgymnasium! Das ist die Unterprima!‘“ (A 133) Die Ausflüglerinnen und ihre Lehrerinnen wirken so gesehen in einem re-enactment eben jenes Teils des biblischen Schöpfungsberichts mit, in dem Adam, noch in Einklang mit dem göttlichen Willen, jedem Lebewesen um ihn herum „seinen Namen“20 gibt. Freilich kommt dieser Effekt nur dank eines erzähltechnischen Kunstgriffs zustande: Wenn die Ausflüglerinnen und ihre Lehrerinnen auf ganz gewöhnliche Weise miteinander reden, wird dies in indirekter Form oder als geraffter Erzählerbericht wiedergegeben. Der vorgeblich ursprüngliche Sprachgestus ist mithin Ergebnis einer nachträglichen Konstruktion. Als ähnlich illusionär 20 

1 Mose 2,20.

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erweist sich auch die magische Qualität der Anrufung „Netty!“, die mit der Nennung des Eigennamens zunächst ein Moment unverlierbarer Präsenz heraufzubeschwören scheint. Ein paar Seiten später nämlich stellt sich heraus, dass der vorgebliche „vocatif absolu“21 von Beginn an in ein System sozialer Differenzen und Klassifikationen eingeschrieben war: Auf eben jene Weise nämlich ruft Fräulein Mees, eine der beiden Lehrerinnen, die die Schülerinnen auf ihrem Ausflug begleiten, das Ich und seine beiden Freundinnen, weil sich diese unerlaubterweise von der Kaffeeterrasse auf den hinter einer niedrigen Mauer gelegenen Spielplatz davongestohlen haben: „Leni! Marianne! Netty!“ (A 126).22 Keine Analogie mit dem göttlichen Schöpferwort also, sondern eine Reminiszenz an jene Genesis-Stelle, in der Gott Adam ruft, der sich, nachdem er verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, mit Eva in die Büsche geschlagen hat. Sinnigerweise dient der Schaukel denn auch ein „Baumstumpf“ (A 124) als Untersatz, also der Überrest eines gefällten Baums: Was einen Zustand vor dem Sündenfall zu verheißen schien, erweist sich damit näher besehen erneut als ein Danach. Nichtsdestoweniger geht mit der Anrufung „Netty!“ eine utopische Autorschaftskonzeption einher.23 Grundsätzlich stellt sie zunächst klar, dass das Ich mit der Verfasserin von Der Ausflug der toten Mädchen neben einer Vielzahl anderer lebensgeschichtlicher Daten auch den Vornamen teilt: Netty Reiling lautete bekanntlich Anna Seghers’ Mädchenname. Mehr als ein bloßer nom de plume war die, wie es bei Bernhard Greiner heißt, „Autorschaft ‚Anna Seghers‘“ 21 

22 

23 

In äußerst verknappter Form mache ich mir hier Derridas Lektüre eines Kapitels der Tristes Tropiques zu eigen (vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, S. 152168, hier S. 160). Wie es der Zufall so will, konnte Anna Seghers Marseille im März 1941 mit demselben Frachtschiff verlassen wie Claude Lévi-Strauss. Vgl. Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie. 1900-1947. Berlin 2000, S. 368f. Mit Nettys Freundinnen Marianne und Leni bringt Heike A. Doane beiläufig nochmals eine andere mögliche Rufinstanz ins Spiel (Heike  A.  Doane: Die wiedergewonnene Identität. Zur Funktion der Erinnerung in Anna Seghers’ Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen. In: Ästhetiken des Exils. Hg. v. Helga Schreckenberger. Amsterdam 2003, S. 287300, hier S. 295). In diesem Abschnitt übernehme ich weitgehend die Argumentation von Bernhard Greiner: ‚Sujet barré‘ und Sprache des Begehrens. Die Autorschaft ‚Anna Seghers‘. In: Literaturpsychologische Studien und Analysen. Hg. v. Walter Schönau. Amsterdam 1983, S.  319-351, hier S.  320-322, 349-351; sowie, mit etwas verändertem Akzent, ders.: RePräsentation. Exil als Zeichenpraxis bei Anna Seghers. In: Placeless Topographies. Jewish Perspectives on the Literature of Exile. Hg. v. dems. Tübingen 2003, S. 161-174, hier S. 168f., 172-174. Von der Tendenz her ähnlich unterlegt Sonja Hilzinger der Erzählung das „Grundmuster Krise – Bewältigung im Erzählen – Identitätsfindung“ (vgl. Sonja Hilzinger: Im Spannungsfeld zwischen Exil und Heimkehr. Funktionen des Schreibens in der Novelle Der Ausflug der toten Mädchen. In: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 1572-1581, hier S. 1574).

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einst in der Erstpublikation der Autorin – Die Toten auf der Insel Djal (1924) – aus einer Grabesinschrift heraus begründet worden, als virtuoser Texteffekt, als Existenz in der Schrift.24 Indem das erschöpfte Ich aus Der Ausflug der toten Mädchen – der Exil-Text klingt bereits vom Titel her an den Erstling an – den visionären Binnenteil der Erzählung über das Schibboleth „Netty!“ betritt, gelangt es mithin in einen Zustand, welcher der auf Schrift gegründeten Autorschaft vorausliegt und diese im Zeichen von Mündlichkeit, „Verbundenheit“ und „Heimat“ neu begründet: „[G]leich morgen oder noch heute abend“, beschließt das Ich in den letzten Sätzen der Erzählung, „den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben“ (A 151) – also den Text, den wir die ganze Zeit über gelesen haben und als dessen Autorin der Paratext eben ‚Anna Seghers‘ angibt. Eine solch kathartische Lesart der (Niederschrift der) Erzählung legen insbesondere der Name und die Charakterisierung der letzten Mitschülerin nahe, die das Ich auf dem Nachhauseweg sieht. Nicht nur vermag diese in späteren Jahren, während der Luftangriffe, bei denen sie selber zu Tode kommt, auf ihre Mitmenschen kraft ihres Glaubens eine geradezu heilsame Wirkung auszuüben: So werden „die rabiatesten Naziweiber, die tückischsten, spöttischsten Nachbarn sanft und mild, als sie beim Fliegerangriff um [sie] herum im Keller“ (A 147) sitzen.25 Darüber hinaus ist sie allein schon aufgrund ihres sprechenden Namens zu einer Allegorie der Lektüre von Der Ausflug der toten Mädchen prädestiniert: „Liese Möbius“ (A 146) heißt sie, sodass der Text gleichsam durch sie hindurch zu einem Lektüremodus auffordert (‚lies!‘), der das in sich gewendete Möbiusband mitvollzieht, als das er selber durch die paradoxe Verknüpfung von Ende und Anfang angelegt ist. Die regenerative Potenz, die der Niederschrift des Textes (und deren Mitvollzug in der Lektüre) damit zugeschrieben wird, reflektiert die Binnengeschichte wiederum immanent in einer Leseszene: „Obwohl er weit abtrieb“, vermag das Ich „den Namen“ eines vom Rhein her tutenden Dampfers „mit [s]einen kranken Augen glatt [zu] entziffern“: „Auf seinem weißen Rumpf stand in goldener Schrift ‚Remagen.‘“ (A 133, Herv. G.F.)26 Regeneration verheißt der Name ‚Remagen‘ auch noch in anderer Hinsicht, steht er doch wie kein anderes rheinisches Toponym für die militärische Niederlage Hitlerdeutschlands: Über

24  25  26 

Vgl. Anna Seghers: Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen nacherzählt von Antje Seghers. In: Dies.: Werkausgabe, Bd. II.1, S. 5-10, hier S. 9f. Zur spezifischen Ausprägung eines Glaubens auch beim Ich vgl. Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, Sehen als Schau, S. 589-592. Zu einer ungebrochen auratischen Lesart dieser Szene vgl. ebd., S. 593f.

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die dortige Brücke nämlich gelang es am 7. März 1945 den Alliierten, erstmals den Rhein zu überqueren.27 Nun ist Rheingold aber bekanntlich trügerisch, zumal wenn man, mit dem Finger auf der Landkarte lesend, bedenkt, dass der Ausflug die Schulmädchen in die Richtung des berüchtigten Lorelei-Felsens geführt haben muss, der im Text selber zwar unerwähnt bleibt, aber gleichwohl diskret im Namen einer der Ausflüglerinnen – Lore – anklingt. So ist denn auch der auf weißem Grund aufscheinende goldene Schriftzug aus Seghers’ Erzählung nicht von ungebrochen auratischer Faktur. Mindestens genauso weist er auf den Inszenierungscharakter des ihm eigenen Zaubers hin, als dass er diesen vorbehaltlos beglaubigte: ‚Remagen‘ trägt eben nicht nur die ‚Magie‘ im Namen, sondern auch das Wiederholungspräfix ‚re-‘. Auch wird die Unterlage, auf der der goldene Schriftzug aufscheint, durchaus mehrdeutig als „Rumpf“ bezeichnet, sie konnotiert mithin Fragment, Ruine, Torso. Erneut also kommt – zumal der Dampfer kurz darauf „eine Drehung“ (A 134) macht – die Kippfigur ins Spiel, die für die Überlegungen des gesamten ersten Teils meines Beitrags bestimmend ist: Das in der Binnengeschichte beschworene goldene Zeitalter ist als in die Zukunft gerichtetes Versprechen zu lesen, auf Grund der seither passierten Katastrophe – und nicht etwa als kitschig verklärendes Idyll, das diese schlichtweg überschriebe. Am Ende der Binnengeschichte kommt dieses Kippverfahren jedoch ins Stocken. So sieht sich das Ich nach seinem Weg durch die „unzerstört[en], unzerstörbar[en]“ (A 148) Straßen seiner Heimatstadt außerstande, zur Wohnung seiner Eltern hochzusteigen, wo bereits die Mutter wartet: „Ich war plötzlich viel zu müde, rasch hochzusteigen, wie ich noch eben gewollt hatte.“ (A 149) Unversehens klagt so der Erschöpfungszustand aus dem mexikanischen Exil seine Rechte im Universum der Binnengeschichte ein – und zwar 27 

Mein Argument ist zwar insofern anachronistisch, als Seghers bei der Niederschrift der Erzählung noch nichts von diesem Ereignis wissen konnte. Ausgeschlossen ist auch, dass Seghers den Namen nachträglich zu ‚Remagen‘ abgeändert hätte: Bereits in der spanischen Erstpublikation in der Zeitschrift Cuadernos Americanos, datiert auf November/Dezember  1944, heißt der Dampfer so (vgl. Anna Seghers: La Excursión de las Muchachas Muertas. In: Cuadernos Americanos 6 (1944), S. 228-256, hier S. 239). Als sich später die Möglichkeit einer Publikation auf Deutsch abzeichnete, hat Seghers die Assoziation mit dem Datum aus dem Zweiten Weltkrieg durch ihr Nicht-Eingreifen aber eben auch stillschweigend in Kauf genommen. Die pure Evokativkraft des Signifikanten ‚Remagen‘ hat den französischen Theaterregisseur Jacques Lassalle seinerseits dazu bewogen, seiner Bühnenadaption von Der Ausflug der toten Mädchen eben diesen Namen zu geben (vgl. Catherine Naugrette-Christophe: Épiphanie et chambre claire. Entretien avec Jacques Lassalle à propos de Remagen. In: Europe. Revue littéraire mensuelle 854855 (2000), S. 251-257, hier S. 256).

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ausgerechnet dann, als dem Ich die spätere Deportation der Mutter in den Sinn kommt. Auch ist der Nebel der Ausgangssituation plötzlich wieder da. Folgerichtig blendet die Erzählung daraufhin allmählich zurück zum Schauplatz der Rahmengeschichte. Was hat es damit auf sich, dass sich die utopische Kippfigur genau an dieser Stelle erschöpft, dass also die Vereinigung mit der Mutter anders als die mit den Klassenkameradinnen misslingt? Sicherlich bietet sich der Passus deswegen als Schnittstelle an, weil die ‚natürliche‘, ‚gute‘ Müdigkeit des vom Ausflug heimkehrenden Ich – „Ich war durch und durch müde, sodaß ich froh war, endlich vor dem Haus zu stehen“ (A 148f.) – ohnehin in einem Entsprechungsverhältnis zum Erschöpfungszustand des exilierten Ich steht. Nur hätte die Überblendung auch etwas früher oder später ansetzen können, ohne dass die Mutter überhaupt erwähnt worden wäre bzw. nach der Vereinigung mit ihr. Die Frage bleibt also virulent: Warum beharrt die Katastrophe ausgerechnet hier auf der ihr eigenen Abgründigkeit – so, wie sich dem Ich das Treppenhaus der Eltern ausdrücklich zu einem „Abgrund“ (A 150) weitet?28 Warum lässt sie sich just hier nicht länger auf ein – wenngleich entscheidendes – Moment einer triadisch angelegten, utopischen Geschichtskonzeption reduzieren? Eben dieses Insistieren der Negativität möchte ich deswegen im zweiten Teil meines Beitrags etwas genauer untersuchen. Blankes Grauen und feingescheuerte Kieselsteine Aus meinen bisherigen Überlegungen ausgeklammert habe ich, dass sich das Ich am Ende der Rahmengeschichte nicht aus einer spontanen Eingebung heraus dazu entscheidet, „den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben“ (A 151). Vielmehr befolgt es damit einen „Auftrag“ (ebd.), den ihm in der Binnengeschichte die jüdische Lehrerin Fräulein Sichel erteilt hatte (vgl. A 142, 144). Die Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen kommt mithin dem Abtragen einer jahrzehntealten Schreibschuld gleich, die nachträglich, angesichts dessen was seither passiert ist, plötzlich unerhörte Ausmaße annimmt: Wie es bezeichnenderweise an der Stelle heißt, an der das Ich zum ersten Mal des vom 28 

Eine ähnlich zentrale Rolle spielt diese alptraumhafte Szene bei Anthony Grenville: Anna Seghers confronts the Holocaust. The Jewish Dimension to Der Ausflug der toten Mädchen. In: Anna Seghers in Perspective. Hg. v. Ian Wallace. Amsterdam, Atlanta 1998, S. 117-133, hier S. 127. Wie der zweite von mir vorgeschlagene Lektüreansatz bricht auch der von Grenville mit dem Optimismus, den das Gros der Seghers-Forschung an den Tag legt; sein allzu autobiographisches Argumentieren geht indes wiederholt zu Lasten einer genaueren Arbeit am Text.

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Ausflugsidyll ausgehenden Erinnerungsimperativs gewahr wird, ist aus der Bagatelle eines nicht geschriebenen Schulaufsatzes nunmehr ein „schweres Versäumnis“ (A 129) geworden. So betrachtet sind die „weiße[ ] Mauer“ des Rancho, die dem Ich „bereits vom Dach [s]einer [mexikanischen] Herberge […] in den Augen gelegen hatte“ (A 122), ebenso wie der zu dieser Mauer führende „Weg“, der „so weiß“ ist, „daß er in die Innenseiten der Augenlider geritzt schien, sobald ich die Augen schloß“ (ebd.), Analoga der weißen Seiten, die das Ich einst zu füllen versäumt hat und die ihm die gleißende Sonne des mexikanischen Exils nun als schmerzhafte Leerstelle ins Gedächtnis brennt: „Die Sonne brannte noch immer stark, ihr Licht brannte nie schneidender, wie wenn es schräg gerichtet war.“ (A 150) Wegen dieses Wortfelds von Brutalität und Gewalt – ritzen, schneiden, brennen –, aber auch wegen der Verknüpfung von Schuld und Gedächtnis lässt sich dementsprechend im Sinne Nietzsches sagen, dass dem Ich im mexikanischen Exil „ein Gedächtniss gemacht“29 wird. Für diese These – also dass Der Ausflug der toten Mädchen nicht nur autobiographische Erinnerungsarbeit leistet, sondern sich intensiv mit Grundlagentexten der Mnemotechnik auseinandersetzt, mithin Gedächtniskunst im doppelten Sinn praktiziert –, spricht weiterhin, dass die gesamte Anlage der Binnengeschichte ihrerseits auffällige Parallelen zum Ursprungsnarrativ der antiken ars memoriae aufweist. Wie folgt begründet dieses die Lehre von den sogenannten Gedächtnisorten: Auf mirakulöse Weise einem Unglück entkommen, dem sämtliche Teilnehmer eines Banketts durch einen Deckeneinsturz zum Opfer gefallen sind, vermag Simonides von Keos die zur Unkenntlichkeit entstellten Leichen zu identifizieren, weil er sich vorher eingeprägt hatte, wer an welcher Stelle gesessen hatte.30 Als einzige Überlebende rekonstruiert in der Binnengeschichte von Der Ausflug der toten Mädchen auch 29  30 

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887]. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari. 2. Aufl. Berlin, New York 1988, Bd. 5, S. 245-412, hier S. 295. Vgl. etwa Cicero: De oratore / Über den Redner. Hg. v. Harald Merklin. Stuttgart  1976, S. 430-433 (= 2,351-354). Einschlägig dazu nach wie vor Frances Yates: The Art of Memory [1966]. London  2014, S.  17-41. Als eine der wenigen Arbeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich überhaupt mit der antiken Gedächtniskunst und deren Überlieferung beschäftigt hätten, nennt Yates übrigens die 1936 auf Deutsch erschienene Studie Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters der ungarischstämmigen Sprachwissenschaftlerin Helga Hajdu. Ob Seghers von dieser Studie über das Umfeld ihres ebenfalls aus Ungarn stammenden Ehemanns wusste, muss dahingestellt bleiben. Genauso gut können sich ihre Kenntnisse dem (mündlichen) Austausch mit dem Gedächtnisforscher Walter Benjamin verdanken – oder der Lektüre von Jean de la Fontaines Fabeln, wo Simonides’ Geschick an prominenter Stelle figuriert.

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das Ich – wie Simonides ist es Dichterin – die gewaltsamen Todesumstände seiner ehemaligen Mitschülerinnen, indem es von einer Art festlichem Anlass ausgeht: einer Kaffeepause während eines Schulausflugs auf dem Rhein. Um diese Zusammenhänge von Gewalt, Schuld und Gedächtnis herzustellen, ist der Umweg über Nietzsche und Simonides indes nicht unbedingt vonnöten. Immanent werden sie auch in der Erzählung selber nahegelegt. Einen Hauch von Gewalt strahlt bereits der – übrigens realhistorisch verbürgte31 – Name von Fräulein Sichel aus; auch nimmt diese eine geradezu bedrohliche Positur ein, als sie das Ich gleich nach der Abfahrt aus der Gartenwirtschaft wie aus heiterem Himmel mit seiner Schreibaufgabe betraut: „Da stellte sich plötzlich Fräulein Sichel vor mich.“ (A 142, Herv. G.F.) Mehr noch: In der Szene unmittelbar davor beobachtet das Ich die vom Dampfer gezogene Schaumspur und nimmt dies – in markantem Rückgriff auf das aus der Rahmengeschichte vertraute Wortfeld des Ritzens ebenso wie auf deren weiße Chromatik – zum Anlass für grundsätzliche Überlegungen über den Nexus von flüchtiger Ereignishaftigkeit und dauerhafter Erinnerungsspur: Ich sprang aufs Verdeck, um nahe am Steuerrad zu sitzen. Das Schiffsglöckchen läutete, das Seil wurde eingeholt, der Dampfer drehte. Sein weißer glitzernder Bogen von Schaum grub sich in den Fluß ein. Mir fielen alle weißen Schaumritzen ein, die alle möglichen Schiffe unter allen möglichen Breitengraden in die Meere gefurcht hatten. Die Flüchtigkeit und die Unverrückbarkeit einer Fahrt, die Bodenlosigkeit und die Erreichbarkeit des Wassers hatten sich mir nie mehr so stark einprägen können. Da stellte sich plötzlich Fräulein Sichel vor mich. (Ebd., Herv. G.F.)

Das Ablegen vom Landesteg am Rhein mag sich dem Ich mit beispielloser Intensität eingeprägt haben; aber erst die in der brennenden mexikanischen Sonne erblickte weiße Mauer ruft ihm die Szene wieder in Erinnerung bzw. bringt sie ihm überhaupt zu Bewusstsein. Dass dieser Moment aufgrund der Semantik des Ritzens, Grabens, Furchens und Einprägens sowie des insistierenden Weiß die Züge einer Versehrung, einer traumatisierenden Leerstelle trägt, lässt sich nicht einfach damit erklären, dass das Ich hier unwiderruflich Abschied nimmt vom idyllischen Gartenlokal. Ähnlich gestaltet sich nämlich bereits die Szene, in der es sich ins Binnengeschehen versetzt sieht. Dort greift es „[b]eim Klang [s]eines alten Namens […] vor Bestürzung“ – und nicht etwa vor freudiger Überraschung oder Verwunderung – „mit beiden Fäusten nach [s]einen Zöpfen“ (A 124). 31 

Vgl. Fritz Pohle: Vorbereitung für die nächste Deutschstunde und mehr: Der Ausflug der toten Mädchen (1943/44). In: Argonautenschiff 1 (1992), S. 41-49, hier S. 47.

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Schlüssig deutbar werden diese Irritationsmomente erst, wenn man mit der bekanntlich auch für die Trauma-Theorie des frühen Freud zentralen Kategorie der Nachträglichkeit operiert:32 Angesichts eines für sich genommen banalen späteren Ereignisses – dem Anblick einer weißen Mauer im mexikanischen Exil – wird der in der Jugendzeit nicht erfüllte und seither in Vergessenheit geratene Schreibauftrag im Lichte all des Grauens, das sich seither ereignet hat, zu einer traumatischen Leerstelle, insofern das Ich damit das im Ausflug angelegte – aber selber erst im Nachhinein als solches erkennbare – utopische allgemeine „Verbundenheit[s]“-Versprechen (A 143) zu formulieren unterlassen hat.33 Wenn ich vom „Lichte all des Grauens, das sich seither ereignet hat“, spreche, dann spielt das nicht nur auf das in der Nacht erscheinende Licht an, welches das exilierte Ich ein erstes Mal auf die weiße Mauer des Rancho aufmerksam macht, sondern auch auf die Art und Weise, wie sich dem Ich das Augenlicht seiner jüdischen Lehrerin darbietet, als diese ihm den Schreibauftrag erteilt: „Sie sagte zu mir mit blanken grauen Augen“ (A 142). Aus diesen Augen spricht buchstäblich das blanke Grauen.34 Bei näherem Hinsehen erweist sich, dass die implizit mit dem Affekt des Entsetzens aufgeladene Farbe Grau im Verlauf der Erzählung nachgerade leitmotivartig mit Fräulein Sichel verbunden ist: So stellt das Ich, just bevor es die Deportation der Lehrerin nach Polen erwähnt, in deren Haar „verwundert ein Gemisch grauer Strähnen fest[ ]“ (A 141). Und als es zum ersten Mal die von ihm zu leistende Erinnerungsarbeit artikuliert (noch bevor ihm der Schreibauftrag der Lehrerin erteilt wird), fungiert als unmittelbarer Auslöser dafür zwar die Kontrastmontage einer harmonischen Ausflugsszene und eines Zwischenfalls aus der NS-Zeit, bei dem Nora ihre ehemalige Lehrerin von einer „judenfreien Bank“ (A 129) jagt; erneut kommt dabei aber eben auch der Haarfarbe von Fräulein Sichel eine zentrale Rolle zu: „Mich

32  33 

34 

Vgl. Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie [1897]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud u.a. Frankfurt a.M. 1987, Nachtragsband, S. 387-477, hier S. 444-448. Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Leidens- und Glückserinnerungen als eines ‚Vergangenen, das nie gegenwärtig war‘, vgl. die grundsätzlichen Überlegungen bei Emil Angehrn: Das Vergangene, das nie gegenwärtig war. Zwischen Leidenserinnerung und Glücksversprechen. In: Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der Erinnerung. Hg. v. dems. / Joachim Küchenhoff. Weilerswist 2015, S. 175-205, hier v.a. S. 193, 200-203. Zur Überblendung von Chromatik und Affekt im Grau(en) vgl. die Sandmann-Lektüre von Inka Mülder-Bach: Das Grau(en) der Prosa oder: Hoffmans Aufklärungen. Zur Chromatik des Sandmann. In: „Hoffmanneske Geschichte“. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Hg. v. Gerhard Neumann. Würzburg 2005, S. 199-221. Dass Seghers’ Text auch sonst in vielerlei Hinsicht von spätromantischen Erzählverfahren zehrt, muss nicht eigens betont werden.

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selbst durchfuhr plötzlich“ – man beachte wiederum das Moment des schockhaft Hereinbrechenden –, da ich dicht neben ihr saß, wie ein schweres Versäumnis in meinem Gedächtnis, als ob ich die höhere Pflicht hätte, mir auch die winzigsten Einzelheiten für immer zu merken, daß das Haar von Fräulein Sichel keineswegs von jeher schneeweiß war, sondern in der Zeit unseres Schulausfluges duftig braun, bis auf ein paar weiße Strähnen an ihren Schläfen. (A 129f.)

Diese Haarbeschreibungen gehen weit über die für eine klassische Erinnerungsnovelle typische Funktion hinaus, das Vergehen der Zeit zu indizieren;35 vielmehr materialisiert sich in den mal als ‚grau‘, mal als ‚weiß‘ bezeichneten Strähnen eben das Grauen, das die Nicht-Erinnerung an den Ausflug überhaupt erst zu einer traumatischen Leerstelle hat werden lassen. Eine ähnliche Haarbeschreibung findet sich denn auch in der misslingenden Wiedersehensszene mit der Mutter (vgl. A 149), die mit Fräulein Sichel nicht nur die Erzieherinnen-Rolle, sondern auch das Schicksal der Deportation teilt.36 Indem das Ich dieses als „qualvolle[s], grausame[s] Ende“ (ebd., Herv. G.F.) bezeichnet, legt es hier zudem die bis anhin implizit gebliebene semantische Mehrfachkodierung der Farbe Grau offen. Ein erstes Mal war diese bereits vorher angeklungen – als das Ich durch die Innenstadt nach Hause spaziert –, damals aber noch unter ganz anderen Vorzeichen: „Ich hatte mich […] umsonst gegraut, auf diesem Weg heimzugehen, weil sich mir im Gedächtnis festgehakt hatte, dieser mittlere Stadtstreifen sei völlig von Bomben zerstört. […] Doch die Häuser, die Treppen, der Brunnen standen wie immer.“ (A 145f.) Wird der Affekt des Grauens bei seiner ersten ausdrücklichen Erwähnung also noch im Namen einer als restitutio ad integrum begriffenen Erinnerung zurückgewiesen und für nichtig erklärt, so gelingt dies beim zweiten Mal gerade nicht mehr: Auf der Ebene des visionären Heimkehrplots bleibt dem Ich die Vereinigung mit der Mutter verwehrt. Dafür ergibt sich aufgrund der Charakterisierung des Orts, an den die Mutter später deportiert wird – „ein[ ] abgelegene[s] Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war“ (A 149) –, eine eigentümliche Parallele zum Exilort des Ich in einem genauso abgelegenen Dorf in Mexiko.37 Nicht im Modus des Idyllischen, sondern in dem des Grauens sind Mutter und Tochter am Ende vereint und doch auf 35  36  37 

Zu diesem Topos vgl., am Beispiel von Immensee, Felten: Summen, Wühlen, S. 199f. Diese zwei Gemeinsamkeiten unterstreicht auch Grenville: Anna Seghers confronts the Holocaust, S. 125f. Dazu passt die (m.E. freilich etwas textferne) Assoziation von Grenville, die denkbar unwirtliche mexikanische Landschaft sei wie ein „gateway to that alternative universe, the ‚univers concentrationnaire‘ (David Rousset), where death holds sway“ (ebd., S. 128).

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immer voneinander getrennt. Genau das Gleiche lässt sich auch in Bezug auf Fräulein Sichel zeigen: So ruht sich das Ich auf seinem Weg zum Rancho auf einer „Bank“ (A 122) aus, auf einer Sitzgelegenheit mithin, die in der Binnengeschichte wie gesagt mehrfach mit der jüdischen Lehrerin assoziiert wird. Diese, wie man mit Adorno sagen könnte, Angleichung ans Tote – Negativ der für die utopische Lesart bestimmenden „Verbundenheit“ (A 143) im Zeichen des Lebendigen – bleibt nicht auf die zwei jüdischen Mutter-Figuren beschränkt. Auf aus heutiger Sicht vielleicht schwer nachvollziehbare Weise umgreift die Identifikation im Zeichen des Grauens auch die, die sich mit dem NS-Regime gemein gemacht haben. Den wohl eindrücklichsten Beleg dafür liefert Nettys Klassenkameradin Ida. Schon bei der ersten Erwähnung von deren späterem Lebensweg (wie in Mariannes Fall stirbt auch Idas Bräutigam auf einem der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs) ist die Haarfarbe Thema: „[I]hre Löckchen waren schon ein wenig grau, wie mit Asche bestreut, als sie Funktionärin bei den nationalsozialistischen Krankenschwestern wurde“ (A 131). Vor allem aber halluziniert das Ich Idas gewaltsame Todesumstände als implizites Spiegelbild der eigenen Situation im mexikanischen Exil: Nicht nur, weil Ida am östlichsten Punkt der erzählten Welt – im fernen Russland – ums Leben kommt und damit das Pendant abgibt zum „äußerste[n] westliche[n] Punkt“ (A 122), an dem sich das Ich dem eigenen Bekunden nach zum Auftakt der Rahmengeschichte befindet. Bei der Schilderung von Idas Todesumständen – schon der Gebrauch des prophetischen Futurs weist auf deren visionären Charakter hin – nimmt das Ich darüber hinaus auch unmittelbar die Perspektive der früheren Klassenkameradin ein (ein absolutes Unikum im Rahmen der Erzählung) und schreibt ihr dabei eben jene Erinnerung zu, die es selber gerade halluzinativ durchlebt: Einmal im russischen Winter  1943, wenn ihr Spital unerwartet unter dem Bombardement liegt, wird sie genau so klar wie ich jetzt an das weiße Samtbändchen in ihrem Haar denken und an das weiße, sonnige Wirtshaus und den Garten am Rhein und an die ankommenden Knaben und die abfahrenden Mädchen. (A 140)

Von diesem im Zeichen des Grauens stehenden Eingedenken ist nicht zuletzt auch der temporale Fluchtpunkt der Erzählung affiziert, indem an die Stelle des triadischen Geschichtsmodells und von dessen Umschlagspunkten eine als „unermeßlich[ ]“ empfundene longue durée tritt: „[I]ch spürte jetzt“, heißt es am Ende der Rahmengeschichte, als das ins mexikanische Wirtshaus zurückgekehrte Ich nach Luft ringt, „einen unermeßlichen Strom von Zeit, unbezwingbar wie die Luft.“ (A 151) Der unmittelbare Kontext mag dieses Zeitempfinden in erster Linie auf die Untätigkeit zurückführen, zu der sich das

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Ich im Exil verurteilt sieht: „Ich fragte mich, wie ich die Zeit verbringen sollte, heute und morgen, hier und dort […]. Man hat uns nun einmal von klein auf angewöhnt, statt uns der Zeit demütig zu ergeben, sie auf irgend eine Weise zu bewältigen.“ (Ebd.) So mag Fräulein Sichels Schreibauftrag, an den sich das Ich unmittelbar darauf erinnert, eben eine solche Möglichkeit in Aussicht stellen, die scheinbar „unbezwingbar[e]“ Zeit doch „auf irgend eine Weise zu bewältigen“, und dem Ich im Schlusssatz den zuversichtlichen Entschluss eingeben: „Ich wollte gleich morgen oder noch heute abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen.“ (Ebd.) Nur macht sich eine solche Lesart nolens volens die zutiefst problematische stillschweigende Voraussetzung des Ich zu eigen, bei seiner Müdigkeit handle es sich um einen ganz gewöhnlichen, nach einem kurzen Ausruhen wieder der ‚Vergangenheit‘ angehörenden Zustand („gleich morgen oder noch heute abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war“, Herv. G.F.) – und nicht etwa, wie doch der Auftakt der Erzählung aufs Eindringlichste nahelegt, um eine sehr viel grundlegendere Erschöpfung, die gerade nicht einfach so ‚vergehen‘ will, in der das ‚Vergangene‘ vielmehr insistiert. Ebenso überhört diese Lesart, dass in der Rede von der „unermeßlichen“ Zeit das „unerträglich“ Schwere, das „[U]nübersehbar[e]“, das „unerreichbar“ Hohe und „unbezwingbar“ Steile (A 149), die „unbezwingbare[  ] Tiefe“ und der „unbezwingliche[  ] Abgrund“ (A 150) nachhallen, denen sich das Ich im Übergang von der Binnenzur Rahmengeschichte ausgesetzt fühlt. Angesichts dieser „nightmare atmosphere“38 kommt auch der zirkulären Anlage der Erzählung eine etwas andere Bedeutung zu als in der utopischen Lesart, die ich im ersten Teil meines Beitrags vorgeschlagen habe: Sie verweist nunmehr auf eine im Zeichen des Wieder-Holens stehende Schreib- und Trauerarbeit, die selber „einen unermeßlichen Strom von Zeit“ benötigt.39 Ähnliches besagen bezeichnenderweise einmal mehr die „grauen Augen“ (A 144) von Fräulein Sichel. So heißt es von diesen, als die jüdische Lehrerin das Ich beim Anlegen in Mainz noch einmal an den Aufsatz erinnert, sie „blinkten wie fein gescheuerte Kieselsteine“ (ebd.). Der Vergleich spricht ihnen mithin eben die Qualität zu, die Gebirgsgeröll eignet, wenn es von einem „unermeßlichen Strom von Zeit“ bearbeitet wurde (‚Strom‘ wäre in diesem Zusammenhang nicht nur metaphorisch, sondern auch in seiner 38  39 

Ebd., S. 127. Von einer „Trauerarbeit als work in progress“ spricht mit Bezug auf die Verknüpfung von Ende und Anfang auch Susanne Komfort-Hein: ‚Inzwischenzeit‘ – Erzählen im Exil. Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen und Peter Weiss’ Der Schatten des Körpers des Kutschers. In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Hg. v. ders. / Werner Frick / Marion Schmaus / Michael Voges. Tübingen 2003, S. 343-356, hier S. 348.

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eigentlichen Wortbedeutung als ‚Flusslauf‘ zu begreifen), und knüpft über diesen geologischen Gewaltakt einen metonymischen Bezug zwischen der (mexikanischen) Gebirgslandschaft der Rahmen- und der (rheinischen) Flusslandschaft der Binnengeschichte:40 diskreter Hinweis auf die eigentliche Schreibszene von Seghers’ Erzählung, also darauf, wieviel Zeit wirklich vonnöten war – und welches Ausmaß an Gewalt –, um sie zu Papier zu bringen, um aus dem ‚blanken Grauen‘, das in der ersten Erwähnung von Fräulein Sichels Augen mitschwingt, einen Text zu formen, dessen formale Brillanz ihn selber wie einen rundgeschliffenen Kieselstein blinken lässt und dessen Substanz gleichwohl das Graue(n) bleibt.41 Zwiebelmuster Für schlichtweg falsch hielte ich es, zwischen der einen oder der anderen Lesart von Seghers’ Erzählung entscheiden zu wollen. Sicherlich ist die erste, die utopische, im Text selber dominanter – nicht zuletzt aufgrund ihres diskursivprogrammatischen Status – und lässt sich dementsprechend leichter mit dem Common Sense der Seghers-Forschung in Einklang bringen. Kontrapunktisch dazu rückt die zweite Seghers’ Prosa in die Nähe der „‚grauere[n]‘ Sprache“,42 die Celan fünfzehn Jahre später als Schlüsselbegriff einer Dichtung nach Auschwitz einführen wird.43 Der Komplexität von Seghers’ Erzählung angemessener scheint mir deswegen die Einschätzung, dass sich das für die utopische Lesart konstitutive Kippen auf einer übergeordneten Ebene noch einmal wiederholt: Ohne ein stabiles Zentrum, ohne einen festen Kern zu besitzen, kippt der Text immer wieder von der einen Lesart in die andere. So liegt es an der Bewegung 40 

41 

42  43 

Den Bezug zwischen Kieselstein-Vergleich und Rhein knüpft punktuell bereits Pohle: Vorbereitung für die nächste Deutschstunde, S. 46f.; und den von „Strom“ und Rhein, wenngleich mit alleinigem Fokus auf dem visionären Moment Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, Sehen als Schau, S. 594f. Wie die bereits zitierte Ansprache in Weimar zeigt, ist Seghers die in Der Ausflug der toten Mädchen implizit bleibende poetologische Aufladung des Kieselsteins als Denkfigur durchaus vertraut: „[I]ch lernte […] viel von Heines Prosa und besonders von Büchner und Kleist. Ihre Worte erschienen mir glatt und klar wie Kieselsteine.“ (Seghers: Ansprache in Weimar, S. 303). Paul Celan: [Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris] [1958]. In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Beda Allemann / Stefan Reichert unter Mitwirkung v. Rolf Bücher. Frankfurt a.M. 1983, Bd. 3, S. 167-168, hier S. 167. Bezeichnenderweise weist auch Celans Werk der Steinwelt einen zentralen Stellenwert zu. Vgl. dazu insbesondere Uta Werner: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik. München 1998.

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des Textes selber, wenn mein erster, eigentlich im Zeichen des Utopischen stehender Lektüredurchgang einen pessimistischeren Fluchtpunkt aufweist als der zweite, der vom Insistieren der Negativität her argumentiert. Noch für dieses Strukturmoment wartet der Text mit einem poetologischen Bild auf: in Gestalt des „Zwiebelmuster[s]“ (A 131, 139), welches das Geschirr der rheinischen Gartenwirtschaft ziert. Zur inneren Stringenz dieses Bildes gehört, dass das Häuten einer Zwiebel genau den gleichen physiologischen Prozess auslöst wie die Trauerarbeit. Was Günter Grass in einem berühmten Kapitel der Blechtrommel mit satirischer Verve wortgewaltig ausführen wird, bleibt bei Seghers ungesagt, entzifferbar nur als ebenso stumme wie untrügliche Spur.

Axel Dunker

„Jetzt merk ich erst, wie müd ich bin!“

Der erschöpfte Erzähler in Peter Kurzecks Das alte Jahrhundert und Das schwarze Buch Als Gast. Alle Abende mit meinem Leben unter dem Oberlichtfenster oder im leeren schweigenden Nebenzimmer. Am Anfang des Abends. Immer der gleiche Moment. Noch eben hell. März, eine Amsel singt. Du bist müde und spürst, wie die Zeit an dir zieht. Wer bin ich? Und warum hier?1

Mit diesen Worten beginnt Peter Kurzecks  2004 erschienener Roman Ein Kirschkern im März, im Nachhinein gekennzeichnet als Band 3 des auf zehn Bände angelegten Zyklus Das alte Jahrhundert, von dem bis zu Kurzecks Tod  2013 fünf Bände erscheinen konnten. Bisher ist ein weiterer, fragmentarischer Band aus dem Nachlass publiziert worden, ein zweiter Nachlassband ist angekündigt. Ich werde im Folgenden Ein Kirschkern im März stellvertretend für den ganzen Zyklus heranziehen. In allen Bänden erzählt autofiktional ein durch Namensidentität mit dem Autor verbundener homodiegetischer Erzähler Teile seiner Lebensgeschichte, zentriert auf die Jahre 1983/84, in denen er mit seiner vierjährigen Tochter Carina in Frankfurt a.M. lebt und sie allmorgendlich zum Kinderladen bringt. Seine Frau Sibylle trennt sich von ihm und er muss – als Gast – in wechselnden Wohnungen zunächst bei Freunden unterkommen. Miterzählt wird die schriftstellerische Arbeit an einem Buch (Kein Frühling) über die Jugendjahre in Staufenberg im Kreis Gießen,2 wo Kurzeck nach der Flucht aus der damaligen Tschechoslowakei aufgewachsen ist. Die Müdigkeit des Ich-Erzählers ist eines der Leitmotive in Ein Kirschkern im März. Der Begriff ‚müde‘ mit seinen Abwandlungen taucht ca. 70 Mal auf den 282 Seiten des Buches auf, an einigen Stellen zu Clustern verdichtet. Hinzu kommt noch einige Male die Vokabel ‚erschöpft‘ mit ihren Abwandlungen. Die Häufung gerade in diesem Band des Alten Jahrhunderts scheint etwas mit der schon im Titel angesprochenen Jahreszeit, von der erzählt wird, zu tun zu haben:

1  Peter Kurzeck: Ein Kirschkern im März. Frankfurt a.M., Basel 2004, S. 7. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle K und Seitenzahl nachgewiesen. 2  Vgl. Peter Kurzeck: Kein Frühling. 2. Aufl. Frankfurt a.M., Basel 2007.

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Axel Dunker Und du liegst schlaflos. Herz müde. Vor Tag aufgewacht, im ersten grauen Vortageslicht. […] Im Morgengrauen, wenn wir erschöpft sind und ruhelos und uns vorkommen will, daß wir keinen Ausweg wissen. Nicht genug Luft! Zum Ersticken! Wie alter Schnee ist die Stille vor Tag, wie kalte Asche. Als ob dich dein Leben erdrückt. Und nirgends ein Ausweg, du kannst keinen Ausweg finden – nicht nur für dich nicht, für keinen – weil es keine Auswege gibt! Immer zum Ende des Winters hin am meisten erschöpft. […] Lang vor Tag und du spürst es am Herz. Wie aufgebahrt liegst du und spürst, wie dein Herz klopft. Behörden, Papiere, kein Geld! Nur nicht krankwerden! (K 25f.)

Es deutet sich hier eine durch die sozialen Umstände hervorgerufene oder verstärkte existentielle Müdigkeit an, die sich gesteigert als Erschöpfung äußert: „Rauchen, husten, Wasser trinken. Erschöpft. Umzingelt. Kettenraucher. Wie lang noch die Wohnung und was wird dann?“ (K 27) „Müdigkeit. Aller Tage Abend“ (K 13), heißt es an anderer Stelle auf einer der ersten Seiten des Romans. Diese Müdigkeit äußert sich als organische Erschöpfung, was wiederum auf andere Gegenstände übergeht.3 Deutlich wird das an der Schilderung einer Telefonzelle, aus der der arbeitslose Erzähler immer wieder eine Liste mit möglichen Arbeitgebern – vergeblich – abtelefoniert: Mit aller Kraft jetzt die Tür! Eine alte westdeutsche Telefonzellentür mit Eisenrahmen und Schließmechanismus. Und als ob meine Sorgen von außen dagegendrücken und wollen sie zuhalten. Wollen mich nicht rauslassen. Hera, sagt die Tür. Sie geht nicht nur schwer, sie geht auch nicht ganz auf. Nur ein schmaler Winkel. Und wird, sooft du dran denkst, immer schmaler, der Winkel. Jetzt jeden Tag quälst du dich mit deinen Sorgen, mit dir und der Tür. Und in zehnzwanzig Jahren hast du als Zukunft einen Herzklappenfehler. Sie schleift dann, die Klappe, geht schwer, geht nicht mehr ganz zu. Schleift und knarrt. Das Blut will vorbei. Muß hier durch, das Blut, staut sich und sie ist im Weg und knarrt und geht immer schwerer. Will nicht mehr so recht, will schon länger nicht. Ist müd und erschöpft, genau wie jetzt die Tür. (K 52)

Deutlich wird hier auch der enge Konnex zwischen dem Erzähler, seinen Gedanken und den ihn/sie umgebenden Gegenständen, hier zwischen der ‚westdeutschen Telefonzellentür‘ und der (zukünftigen) Herzklappe des Erzählers, die Reaktionen aufeinander zu zeigen scheinen, und zugleich die gleichsam archäologische Rekonstruktion des ‚alten Jahrhunderts‘ – Telefonzellen dieser Art existieren (wie auch Westdeutschland) bekanntlich schon längst nicht mehr. Es ist die Hinwendung des Erzählers, die sie buchstäblich am Leben erhält, denn nur als lebendige Wesen können sie ‚müd und erschöpft‘ sein.

3  Zum Stichwort Materialermüdung vgl. den Beitrag von Jan C. Watzlawik in diesem Band.

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Entsprechend müde und erschöpft können in Ein Kirschkern im März dann auch Betten (vgl. K 23) oder ein Regenschirm sein: Wo ist der Regenschirm? Du hast ihn mitgehabt, aber wo ist er jetzt? Mit meinem Schreck gleich zurück den Weg (Autos hupen!) und den Schirm in der Telefonzelle finden. Da liegt er, ein kleines Elend. Sogar wenn er trocken ist, sieht er naß und erschöpft aus. Liegt bei dem vollzählig auswendig gelernten Abfall am Boden der Telefonzelle. Unverlierbar. So schwer die Tür, du spürst es am Herz. (K 55)

Unverlierbar ist der erschöpfte Schirm durch die übergenaue Wahrnehmung des Erzählers, der noch den Abfall am Boden einer Telefonzelle ‚auswendig lernt‘. Das gilt ebenso für Hemden (K 263), ja das Meer (K 27) und die Sterne: Immer im Abendlicht fährt man an den Vogesen entlang. Und dann weiß man wieder, man ist schon oft in diesem Licht hier an den Vogesen entlang gefahren. Schon dunkel die Berge. Und einsame Autolichter langsam die Hänge hinauf und hinab. Wie müde Sterne. Sterne auf Wanderschaft. Und ich? Müdigkeit. Selbstgespräche. (K 280)

Mit der Wanderschaft wird ein weiteres Leitmotiv des Alten Jahrhunderts aufgerufen: Das Gehen, dem Beate Tröger eine „zentrale Funktion“ für Kurzecks autofiktionale Romane zugesprochen hat: „Es ist nicht nur als Aktion mit dem Schreibprozess verbunden, dem es auch immer zugrunde liegt, sondern motiviert die Bewegungen des Schreibens, wie es sie auch assimiliert“.4 Gehen, die Zeit ruckt! Auf jedem Weg mir mein Leben erklären. Emser Brücke, Güterbahnhof, Gallus- und Gutleutviertel. Lang nach Mitternacht. Müd immer weiter. Weit und breit der einzige Fußgänger. Der einzige Mensch. Das einzig sichtbare Lebewesen. Nacht und kein Stern zu sehen. Braun und dunstig ein schwerer Frankfurter Nachthimmel, ein Rhein-Main-Himmel. Und kannst noch lang nicht heim. (K 16)

Die Wege durch Frankfurt sind konstitutiver Bestandteil von Peter Kurzecks Erzählprojekt. Sie sind die Voraussetzung für die angesprochene Wahrnehmungsintensität für das Detail, zugleich wird auf ihnen im Sinne des 4  Beate Tröger: Gehen, um zu schreiben. Peter Kurzecks autobiographisches Romanprojekt. In: Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans Richard Brittnacher / Magnus Klaue. Köln, Weimar, Wien  2008, S.  261-276, hier S.  263. Vgl. auch Christian Riedel: „Sowieso verlauf ich mich gern!“ – Gehen, Fehl-Gehen und Umwege als strukturgebendes Element bei Peter Kurzeck. In: Irrwege. Zu Ästhetik und Hermeneutik des Fehlgehens. Hg. v. Matthias Däumer / Maren Lickhardt / Christian Riedel / Christine Waldschmidt. Heidelberg 2010, S. 233-249.

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„[a]uf jedem Weg mir mein Leben erklären“ die Vergangenheit aufgerufen. Die Wege durch die Stadt machen diese zur „Semiosphäre“, wie Karlheinz Stierle es für die Paris-Literatur beschrieben hat: „In der Stadt verwandelt sich der physische in einen symbolischen Raum, in dem prinzipiell das Abwesende das Anwesende dominiert.“5 Wie ein inverser Poe’scher ‚Man of the Crowd‘ legt der Erzähler an der zitierten Stelle seine Wege durch ein nächtliches, menschenleeres Frankfurt zurück. Die damit einhergehende Müdigkeit ist zum einen physische Folge dieses Gehens: Du gehst und sobald du nur anfängst zu gehen, gleich kommt bei jedem Schritt die Welt dir entgegen. Wo denn hin? Nie müde geworden! Immer auf den Horizont zu und immer auch auf dem Weg zu mir selbst. Auf den Abend zu aus der Stadt heim, als fast die Sonne durchkam und ich mußte an Staufenberg denken. Heimwege. Einen Umweg als Heimweg. Und dann auf einmal so müde, daß du stehenbleiben mußt, um dich auszuruhen! So müde, du stehst und denkst, du kannst nicht mehr weiter! (K 38)6

Zugleich erscheint die Müdigkeit aber als untrennbar von der spezifischen Wahrnehmungsform Kurzecks: Erst mit Carina in die Jordanstraße, dann lang noch allein durch Bockenheim jeden Nachmittag. Mit meiner Müdigkeit. Auf den Abend zu. Zittern die Häuser? […] Und jetzt hier mit meiner Müdigkeit. Adalbertstraße, Seestraße, Leipziger Straße. Weingarten, Falkstraße, Hessenplatz. Müd, immer müder. An den Büdchen die Säufer. Säufer, Penner, Obdachlose. Bier, Korn, Weinbrand, Rumverschnitt, jeder erstbeste Fusel. […] Du siehst sie, du hörst ihre Stimmen. Als ob du immer noch bei ihnen stehst und kannst sie denken hören. Sie stehen an den Büdchen und leben noch. Jetzt hier im späten Nachwinternachmittagslicht, wenn die Tage schon wieder länger werden und dann auf einmal, dann ist es still. Ein Zug abgefahren? Auch in dir drin still – als ob du etwas vergessen hättest. Und in deiner Müdigkeit und in diesem stillen zaghaften Tagesverlängerungslicht will dir gleich vorkommen, es könnte sein, du warst selbst lang krank und nicht bei dir. Und weißt noch nicht, ob das nun der Anfang der Genesung ist oder nur ein einziger trügerischer Augenblick, damit du merkst, daß du etwas vergessen hast. Und damit du dir das Licht merkst, das Licht und wie es vergeht. (K 223)

Der Zustand der Müdigkeit wird zum Anlass und Ausgangspunkt für die Aufmerksamkeit auf die Vergänglichkeit des Augenblicks und als Konsequenz daraus für die Programmatik und Poetik des Erinnerns. 5  Karlheinz Stierle: Pariser Prismen. Zeichen und Bilder einer Stadt. München 2016, S. 13. 6  Zum (romantischen) Topos des Heimwegs vgl. Christian Riedel: Peter Kurzecks Erzählkosmos. Idylle – Romantik – Blues. Bielefeld 2017, S. 225-228.

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Es verwundert daher nicht, dass das Motiv der Müdigkeit auch im Zusammenhang mit der Thematisierung des Schreibens auftaucht. Hier ist die Müdigkeit ebenfalls zunächst physiologisch begründet. Der Erzähler erinnert sich an seine Zeit als Lehrling: Sechstagewoche. Nicht genug Luft! Morgens kurz nach sechs aus dem Haus und am Abend nicht vor halb acht daheim. […] Jeden Abend den Wecker schon für den nächsten Morgen gestellt und ab jetzt in die Nacht hinein schreiben. Ab jetzt geht das Schreiben vom Schlaf ab! Drei Jahre Lehrzeit. Nie müde geworden! (K 71)

Doch für den zum Schriftsteller gewordenen Erzähler der Gegenwart gilt diese Feststellung des ‚Nie müde geworden‘ nicht mehr, im Gegenteil, die Müdigkeit ist mit dem Schreiben verbunden: Beim Schreiben mich ausstrecken und die Augen zu, damit die Bilder deutlicher. […] Hätten einschlafen können, Carina und ich. Doch ich muß im Liegen jäh zucken, weil mir die Welt einfällt und mein Leben. (K 80) Meistens müde. Nachts schreiben. Morgens Geld verdienen. Und wenn du dann mittags hier gehst – erst noch als ob du träumst und dann schläfst du im Gehen ein. […] Als ob du dich selbst träumst und der Tag und die Welt immerfort sacht dir entgegen. Dann siehst du die Kinder kommen! Als sei die Zeit angehalten. Als ob sie all die Jahre schon auf dich zukommen. (K 123)

Das Stillstellen der Zeit, die Bewegung durch den Raum, die zugleich eine Bewegung durch die Zeit ist, hat den Zustand der tiefen Müdigkeit zur Voraussetzung. Diese führt mehr und mehr zu einem traumartigen Bewusstseinszustand. Das kann so weit gehen, dass selbst die Müdigkeit noch wie geträumt erscheint: „Mit unserer Nachwinternachmittagsmüdigkeit die Bockenheimer Landstraße entlang, Carina und ich. Ihre in meiner Hand. Kann man Müdigkeit träumen? Müssen alles ansehen, damit wir wissen, uns gibt es.“ (K 78) Die Müdigkeit scheint dabei auch ein reflexiver Zustand zu sein: Du wachst auf und eben noch grün und jetzt blau die Dämmerung und wie buntes Glas, wie ein Kirchenfenster. Bin ich jetzt wach? Niemand da? So müd, daß du lang brauchst, bis dir dein eigener Name wieder einfällt und wer du bist und wie es dazu gekommen ist. Jetzt merk ich erst, wie müd ich bin! (K 64f.)

Was hier noch wie ein zufälliger Anklang erscheinen mag, wird eine Seite später kursiv gesetzt und damit eindeutig als Zitat markiert: „Erschöpft und ein paarmal einschlafen. Jetzt merk ich erst, wie müd ich bin! Lesen, schlafen, lesen und dazwischen immer wieder einmal auf und nach dem Tag und der Zeit sehen.“ (K 65) Es handelt sich natürlich um ein Zitat aus Wilhelm Müllers

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von Franz Schubert vertontem Liederzyklus Die Winterreise, genauer gesagt um den leicht veränderten Anfang des Gedichts Rast: Nun merk ich erst, wie müd ich bin, Da ich zur Ruh mich lege; Das Wandern hielt mich munter hin auf unwirtbarem Wege.7

Christian Riedel hat in seiner grundlegenden Studie zu Peter Kurzecks Erzählkosmos gezeigt, dass bereits in Kurzecks zweitem Roman Das schwarze Buch (1982) eine „Motivkette“ beginnt, „die sich später im Alten Jahrhundert fortsetzen wird, indem Fragmente aus Franz Schuberts romantischem Liedzyklus Die Winterreise in die Texte montiert werden, die die Stimmung des Protagonisten spiegeln.“8 Bereits in Das schwarze Buch ist dabei das Müller/ Schubert-Zitat mit den Motiven Gehen und Müdigkeit verflochten: Dann eine lange krumme Gasse geht er entlang zwischen niedrigen alten Häusern, die stehen ganz schief. Jedes Haus hat ein Gesicht; jedes Haus ist mindestens dreihundert Jahre alt. Es ist die Kelsterbacher Straße in Niederrad […]. Längst bin ich müde bis auf den Tod, soll ich mit dir gehn? Fremd bin ich eingezogen. Fremd zieh ich wieder aus! Die ganze Zeit gingen die Schubert-Lieder von Wilhelm Müller mir im Kopf herum. Die Winterreise. Und ob sein früher Tod, gerätst du gehörig ins Grübeln, eine Niederlage war oder nicht.9

Die Kursivierung markiert wiederum das Zitat, wobei das an dieser Stelle nicht kursivierte „soll ich mit dir gehn?“ bereits ebenfalls ein Zitat aus der Winterreise darstellt, nämlich die letzte Zeile aus dem Schlussgedicht des Zyklus, Der Leiermann.10 Die Zitate aus der Winterreise setzen sich auf den folgenden Seiten des Schwarzen Buchs fort: Ich war mir selbst wie ein unbehaustes Gespenst, so verlassen, als ob ich schon gar nicht mehr auf der Welt sei. […] ohne es gleich zu merken sprach ich Worte vor mich hin in der vorgeschrittenen Stille, in meiner Kammer, mich friert, Worte und ganze Sätze – und dann (unterm Dach, mir ist kalt) erschrak ich über meine eigene Stimme, so fremd. Habe ja doch nichts begangen, daß ich Menschen sollte scheun! 11

7  8  9  10  11 

Wilhelm Müller: Die Winterreise und andere Gedichte. Hg. v. Hans-Rüdiger Schwab. Frankfurt a.M. 1986, S. 58. Riedel: Erzählkosmos, S. 150. Peter Kurzeck: Das schwarze Buch. 2. Aufl. Frankfurt a.M., Basel 2003, S. 237f. Müller: Winterreise, S. 62. Kurzeck: Buch, S. 239f.; vgl. Müller: Winterreise, S. 55 (Der Wegweiser).

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Thomas Mann schreibt in Doktor Faustus seinem einen Pakt mit dem Teufel schließenden Komponisten Adrian Leverkühn eine Vorliebe für gerade diese letzten Verse (Habe ja doch nichts begangen, daß ich Menschen sollte scheun) in der Schubert’schen Vertonung zu, weil in ihnen einem „nur halb definierte[n], aber unabwendbare[n] Einsamkeitsverhängnis zu höchstem Ausdruck“12 verholfen werde. In Entsprechung zum Protagonisten im Schwarzen Buch hört Serenus Zeitblom, der philiströse Erzähler in Manns Roman, zu seiner Überraschung seinen Freund Leverkühn genau diese Verse, „die melodische Diktion andeutend, vor sich hin sprechen“ und dabei treten „zu meiner unvergessenen Bestürzung, Tränen in seine Augen“.13 Diese intertextuelle Übereinstimmung ist, nebenbei bemerkt, ein weiterer Beleg dafür, dass Kurzecks Texte keineswegs so naiv und unreflektiert sind, wie sie einem bei einem ersten, oberflächlichen Blick vielleicht erscheinen könnten. Wenn Kurzecks Erzähler im Schwarzen Buch die gleichen Verse vor sich hin spricht wie Thomas Manns Künstlerfigur, so wird er damit auf eine Stufe gestellt mit Manns paradigmatischem auf die Romantik verweisenden Künstler der Moderne. Kurzecks Erzähler, autofiktionale Alter Egos des Autors, sind im ganz wörtlichen Sinne unbehaust, leiden an ihrer (nicht nur, aber auch) transzendentalen Obdachlosigkeit. Bei Kurzeck kommt dann auch das in Ein Kirschkern im März mehrfach wiederholte „Jetzt merk ich erst, wie müd ich bin“ ins Spiel, wobei zugleich das Motiv des Schreibens aufgerufen wird: Nachts saß ich am Fenster und schrieb; es war kalt im Zimmer. Ich schrieb um mein Leben. Von Zeit zu Zeit bebte der Fußboden […] und mir war, als hätte mich jemand gerufen (doch nur die Toten zogen durch die Gassen). Nichts, niemand, nur das Licht zittert und die Scheiben dröhnten leise in ihren Rahmen. Soll ich mit dir gehn? Besser schlafen. Schneefelder, kahle Bäume die sich gestikulierend zusammenrotten in der Dämmerung; was wollt ihr von mir? Jetzt merk ich erst, wie müd ich bin! Ferne Welt, da neigt sich mein Tal; kann sein, daß er so erfror, bloß ein Traum.14

Christian Riedel kennzeichnet die Verweise auf die Winterreise im Alten Jahrhundert durchaus zutreffend „als zuweilen ins Spiel gebrachte Beispiele eines im Wesentlichen identifizierenden Zuhörens, das sich in den Stimmungen der vereinsamten Protagonisten der Winterreise wiederfindet“.15 Im schon über den Titel die Stimmung der Winterreise aufrufenden Roman Übers Eis (1997), 12  13  14  15 

Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. 14. Aufl. Frankfurt a.M. 1982, S. 80. Ebd. Kurzeck: Buch, S. 240f. Die Zitate aus der Winterreise setzen sich auf S. 241 noch fort. Riedel: Erzählkosmos, S. 151.

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der später zum ersten Band des Alten Jahrhunderts erklärt wird, erläutert der Erzähler, dass er immer wieder die gleiche Musik hört, die häufig auch sein Schreiben begleitet: Die Musik schreit hinter mir her. Immer die gleichen Schallplatten. Beim Schreiben. Nur höchstens fünf oder sechs und so durch die Jahre. Joan Baez, Bob Dylan, Janis Joplin, die Beatles, Mahalia Jackson. Wir hatten immer nur diese fünf oder sechs. Beim Schreiben auch gegen die Müdigkeit die Musik. Jahrelang in die Nacht hinein. Und für wenn ich nicht schrieb, Vivaldi und die Winterreise. Schnell gehen. In der Dämmerung ankommen.16

Natürlich sind die Verse der Winterreise vor allem gewissermaßen als Teil der Musik Franz Schuberts, von der Jochen Hörisch gesagt hat, sie bewahre die Verse davor, „zum konventionellen Ausdruck melancholischer Befindlichkeiten über Sinndefizite herabzusinken“,17 bekannt und berühmt. Als solche gehören sie „zu den weltweit vielleicht bekanntesten Gedichten deutscher Sprache“,18 doch nennt Kurzeck in Das schwarze Buch ausdrücklich den Namen Wilhelm Müller. Bis auf Vivaldi spielen auch bei den anderen genannten Schallplatten (Baez, Dylan, Joplin usw.) die jeweiligen Texte eine bedeutende Rolle. In Ein Kirschkern im März findet das Schubert/Müller-Zitat zwei weitere Male Verwendung. Allabendlich besucht der Erzähler seine Tochter und seine Frau in der früheren gemeinsamen Wohnung: Müd im Sessel. Sibylle näht und ich will schon gehen, will die ganze Zeit gehen, will gehen und kann nicht heim. Jetzt merk ich erst, wie müd ich bin! Die Winterreise. Ich hätte gern die Winterreise gehört. Zwei Schallplatten, die Sibylle mir in Staufenberg einmal zum Geburtstag. Unser zweiter Sommer oder das Jahr darauf. Ein Junimorgen und wir sind im ersten Licht aufgewacht. Jetzt merk ich erst …, den ganzen Tag schon summt der Satz dir durch deine Gedanken. Nicht auch gestern schon? Aus der Winterreise! Endlich kommst du darauf. Muß nun heißen: Nun merk ich erst. (K 73f.)

Der Reflexionsprozess, der nach der Herkunft des Musikfragments fragt und diese schließlich erkennt, führt zu einer Veränderung der vorherigen Formel vom ‚Jetzt merk ich erst‘ zurück zur Wörtlichkeit der Müller’schen Vorlage des „Nun merk ich erst“, das hier als sich auf die eigene Reflexion selbst beziehend gänzlich angeeignet wird. 16  17  18 

Peter Kurzeck: Übers Eis. Frankfurt a.M. 2001, S. 169. Jochen Hörisch: Die Erfahrung des Fremden und die fremde Erfahrung – Eine Interpretation von Wilhelm Müllers und Franz Schuberts Winterreise. In: Ders.: Das Wissen der Literatur. München 2007, S. 195-216, hier S. 215. Hans-Rüdiger Schwab: Nachwort. In: Müller: Winterreise, S. 160-175, hier S. 161.

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Die letzte Assimilationsstufe des Zitats wird dann noch einmal ein paar Seiten später erreicht, wieder ausgehend von einer Beschreibung eines Gangs durch Frankfurt-Bockenheim: „Und vor uns der Kurfürstenplatz. Der Brunnen abgestellt. Kinder mit Fahrrädern – jetzt merkst du, wie müde du bist. Dann an der Straßenecke im Licht vor der Apotheke.“ (K 82) Dabei bleiben die Bezüge zur Winterreise insgesamt aber nicht schmückendes, gleichsam autobiographisch belegtes, nur eine Stimmung evozierendes Beiwerk, sondern die Struktur dieses Liederzyklus „setzt die Idee des Zyklischen um, indem sie den wandernden Protagonisten im Kreis gehen läßt und auch musikalisch durch ‚„Rückblicke“, Entsprechungen, Wiederholungen‘19 […] in die Irre führt“.20 Damit entspricht sie der reiterativen, mit Redundanzen arbeitenden Poetik Kurzecks im Alten Jahrhundert. Wenn man davon gesprochen hat, dass die in der Winterreise „artikulierten Gefühle der Fremdheit und Verlorenheit […] auch Reflex einer Gesellschaft auf dem Weg zur Moderne“21 sind, so stellt sich die Frage, ob dies bei Kurzeck auch für den Rückbezug auf das ‚alte‘, also das 20. Jahrhundert gelten kann. Nicht zu unterschätzen ist nämlich die politisch-soziale Dimension von Müllers Winterreise. In ihrem Zentrum steht „der Fremde“, „der immer fort muß, und das unterstreicht, daß die permanente Ortsveränderung als solche – das Prinzip des Wanderns also – zum Ausdruck sozialer Devianz oder Dissidenz geworden ist; ein Vorgriff auf kommendes Migrantentum im Industrialisierungsschub des 19. Jahrhunderts“.22 Kurzecks Erzähler unternimmt seine unsteten Wanderungen in der modernen Großstadt Frankfurt a.M., aber auch er ist – wie sein Autor, der nach eigenem Bekunden von einem Tag zum anderen seine gut bezahlte Stelle als Personalchef aufgegeben hat, um sich nur noch dem Schreiben zu widmen23 – ein Dissident, der sich dem ökonomischen Betrieb verweigert. Im Alten Jahrhundert wird immer wieder erwähnt, was auch schon auf der ersten Seite des Kirschkerns im März angesprochen wird: „Vorher fristgerecht meine Arbeit verloren, eine unersetzliche Halbtagsstelle in einem Antiquariat. Kein Geld, keine Wohnung, kein 19  20  21  22 

23 

Walther Dürr: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zu Sprache und Musik. Wilhelmshaven u.a. 1984, S. 269. Detlef Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar 2001, S. 316. Erika von Borries: Wilhelm Müller. Der Dichter der „Winterreise“. Eine Biographie. München 2007, S. 151. Alexander Honold: Lied-Wandel. Zu Franz Schuberts Liederzyklen Die schöne Müllerin und Winterreise. In: Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Hg. v. Axel Gellhaus / Christian Moser / Helmut  J.  Schneider. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 161-184, hier S. 178. Vgl. Achim Stanislawski: Der Bibliotheksbus, ein eigenartiges Bett, die RAF. Interview mit Peter Kurzeck. Zit. n. Riedel: Erzählkosmos, S. 29.

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Einkommen. Schriftsteller.“ (K 7) Was in Müllers Winterreise erst in der letzten Strophe des letzten Gedichts (Der Leiermann: „Wunderlicher Alter, / Soll ich mit dir gehn? / Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“24) für das lyrische Ich deutlich markiert wird, ist bei Kurzeck Ausgangspunkt: Schriftsteller, Dichter zu sein, dessen Existenz von der Position am Rand der Gesellschaft gekennzeichnet ist. Kurzecks Erzähler ist ein ruheloser Vagant in der Stadt, dessen rastloses Unterwegssein auf den immer gleichen Wegen nicht von seinem Dichtertum zu trennen ist. Das mit Müdigkeit behaftete ‚Pflastertreten‘ ist ein ästhetischer Modus, zugleich einer spezifischen Wahrnehmungsform wie der Existenz. Der mit der Winterreise einen zentralen Textzusammenhang der Spätromantik aufrufende Müdigkeitstopos ist der Feststellung Christian Riedels an die Seite zu stellen, nach der im Alten Jahrhundert „das romantische Postulat der permanenten Selbstreflexivität durch das stetige Verweisen auf die Schreibsituation und auf in der Vergangenheit vom Ich-Erzähler verfasste Texte“25 konsequent erfüllt ist, was natürlich stärker auf die Frühromantik und Friedrich Schlegels progressive Universalpoesie als auf die Spätromantik Müllers/Schuberts verweist.26 Vor allem am Roman Vorabend, dem letzten noch zu Lebzeiten Kurzecks erschienenen Band, macht Riedel das „permanent erfolgende Changieren zwischen einem erstrebten utopischen Ideal und einer defizitären Realität“27 fest, das er ebenfalls vor allem mit dem Roman der Romantik verbindet. Kurzeck gibt das Schreiben ‚nach Feierabend‘ – „aber dir bleibt nur immer die schlechteste Zeit des Tages. Abends wenn du müde bist“28 – auf, doch er entkommt nicht der Müdigkeit, die einerseits der sozial dissidenten Existenz des brotlosen Schriftstellers geschuldet ist, der ‚als Gast‘ dazu verurteilt ist, ein fragiles Leben zu führen. Doch sie wird andererseits gewissermaßen zu einer selbstbestimmten Müdigkeit, die nicht zuletzt durch den intertextuellen Verweis auf Müller/Schubert und im Schwarzen Buch auf Thomas Manns Adrian Leverkühn zu einem Bestandteil eines ästhetischen und Literarizität stiftenden Zusammenhangs gemacht wird. Entsprechend ist der Schluss des Romans Ein Kirschkern im März, bei dem aus März April geworden ist, programmatisch:

24  25  26  27  28 

Müller: Winterreise, S. 62. Riedel: Erzählkosmos, S. 175. Vgl. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Wolfdietrich Rasch. 2. Aufl. München 1985, S. 25-83, hier S. 37f. Riedel: Erzählkosmos, S. 177. Stanislawski: Bibliotheksbus. Zit. n. Riedel: Erzählkosmos, S. 29.

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Ein altes Haus. Noch einmal von Fenster zu Fenster. Und jetzt kommt zu meiner Müdigkeit eine große Ruhe. April. Nachtwolken. Wind im Hof. Die Vögel? Wo schlafen die Vögel? Einen Zug hörst du fahren. Wird vielleicht regnen heut Nacht. Allein in der späten Stille und an alle Flüsse jetzt denken, die dir in deinem Leben begegnet sind. Nacht, Wind, du weißt nicht, wie spät es ist und mußt Sibylle anrufen. Wie sollst du sonst wissen, ob das Telefon geht? Gleich elf, sagt sie. Schläfst du nie? Zwei Minuten vor elf. Der müde alte Elektrowecker mit Schnur. Sollst du ihn ab jetzt fünf Minuten vorgehen lassen? Und hättest fortan beim Schicksal noch fünf Minuten gut? Nacht. Die Fenster offen. April. Schon April? Bald Ostern! Morgen Carina abholen und mit ihr in den Kinderladen, also ist morgen auch noch ein Tag! (K 282)

Jakob Christoph Heller

Erosive Poetik als Antwort auf die Erschöpfungen der Spätmoderne Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän

Erschöpfungsgeschichten der Moderne sind voraussetzungsreich; sie partizipieren ex negativo an der – unter anderem – ökonomischen, politischen, anthropologischen Erzählung der Moderne. Sie sind damit, in Aufnahme des Sammelbandkonzepts, nur als Kehrseite der Fortschritts- und Leistungserzählung konzipierbar.1 Ein zentrales Charakteristikum dieser Erzählung ist die Vorstellung eines Subjekts, das sich zu einem Anderen, zum Objekt, verhält. Dieses hier noch verhalten-vage ‚Verhalten‘ kann mit Blick auf den Artikel ‚Mensch‘ des Großen Brockhaus – etwa in der 16. Auflage von 1953 – wie folgt konkretisiert werden: [Der Mensch] ist sich selbst unausschöpfliches Thema kraft seiner Fähigkeit, sich (als das ‚Subjekt‘) der Welt, in der er lebt (den ‚Objekten‘) gegenüberzustellen […]. Dieses Abstandnehmen zu der Welt ist die Voraussetzung dafür, sich ihrer zu bemächtigen und damit für die Sonderleistung des M[enschen]. […] Der M[ensch] lebt nicht eingepaßt in eine artbesondere natürliche Umwelt, in der er sich instinktiv orientieren könnte, sondern er ist zur Zurichtung und Veränderung beliebiger Naturumstände durch seine Intelligenz, seine Handlungen und seine Arbeit fähig. […] Weite Gebiete der Erdoberfläche hat er für seine Lebensbedürfnisse gestaltet; der Anteil der Kulturlandschaft nimmt ständig zu.2

Zentrale Motive der (nicht nur, aber auch) modernen Vorstellung des Menschen als tätiges Wesen finden sich in diesem kurzen Ausschnitt versammelt. Der Mensch ist nicht Teil einer natürlichen Umwelt, sondern kann sich dieser gegenüberstellen. Er kann sie bearbeiten und zurichten, er muss dies sogar aufgrund seiner gattungskonstitutiven Abständigkeit zur Natur. Dieses im Brockhaus behauptete Verhältnis hat, so scheint es, keinen Abschluss im Sinne eines im Prozess der Bearbeitung erreichten und gehaltenen Niveaus der ‚Einpassung‘ in die Natur – zwar kann der Mensch sich wohl aufgrund seiner 1  Vgl. den einleitenden Beitrag zu diesem Band von Julian Osthues und Jan Gerstner. 2  Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung. In: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Hg. v. Hans Mayer / Walter Schmitz. Frankfurt a.M. 1986, Bd. 7, S. 205-300, hier 249f. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle MH und Seitenzahl nachgewiesen.

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Jakob Christoph Heller

Abständigkeit erschöpfen, sich selbst bleibt er dennoch „unausschöpfliches Thema“. Geschichtlichkeit ist, so eine Implikation dieser Definition, Ergebnis der Handlungen und der Arbeit des Menschen: Geschichte ist Menschheitsgeschichte. Sie kann sich als Fortschritts- oder als Erschöpfungsgeschichte aktualisieren, in beiden Fällen aber basiert sie auf dem einen Konzept des tätigen, Geschichte machenden ‚Menschen‘. Der Artikel aus dem Großen Brockhaus ist, ausgestellt in seiner fremden Materialität, exakt in die Mitte von Max Frischs später Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän (1979) collagiert. In einem abgelegenen Dörfchen im Tessin spielend erzählt der Text vom altersbedingten Gedächtnisverfall – und schließlich Schlaganfall – des Protagonisten, Herr Geiser, und verbindet dies mit Reflexionen über die Eigenzeitlichkeit der Natur: die Veränderlichkeit der Erdoberfläche und das Aussterben von Arten. Herr Geiser beobachtet den ununterbrochenen Regen, der das Tal von der Außenwelt abgetrennt hat, lauscht dem Donner, liest in Enzyklopädien, Wörterbüchern, Reiseführern. Ästhetisch knüpft Der Mensch erscheint im Holozän an Collagetechniken der klassischen Avantgarden an: „Werkfremdes Material wird nicht nur zitiert, sondern in seiner ‚typographischen Originalform‘ belassen und in seiner Ikonizität und Materialität in das Werk eingefügt: durch Ausschneiden und Einkleben.“3 Diegetisch motiviert wird das faksimilierte Material durch Herrn Geisers rastlosen Versuch, enzyklopädisches Wissen vor dem Verschwinden zu bewahren: Es genügt nicht, daß Herr Geiser in diesem oder jenem Buch mit seinem Kugelschreiber anstreicht, was wissenswert ist; schon eine Stunde später erinnert man sich nur noch ungenau; […] Herr Geiser muß es eigenhändig auf einen Zettel schreiben, was er nicht vergessen will, und die Zettel an die Wand heften, (MH 221)

heißt es früh in der Erzählung, wenig später dann: „Was schon gedruckt ist, nochmals abzuschreiben mit eigener Hand […] ist idiotisch. Warum nicht mit der Schere ausschneiden, was wissenswert ist und an die Wand gehört?“ (MH 234) Diese „Zettel“ werden dem Rezipienten im Buch kommentarlos präsentiert. Ein expliziter thematischer Bezug zwischen den Ausschnitten und der Handlung besteht in der Regel nicht, die interpretative Herstellung von solchen Bezügen ist dem Leser anheimgestellt. Offensichtlich wird dabei, dass

3  Robert Cohen: Zumutungen der Spätmoderne. Max Frischs „Der Mensch erscheint im Holozän“. In: Weimarer Beiträge 54, H. 4 (2008), S. 541-556, hier S. 544.

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‚Erzählen‘ – verstanden als Kulturtechnik, die Sequenzen motiviert miteinander verknüpft4 – dieser Erzählung zum Problem wird. So bezeichnet Georg Braungart Der Mensch erscheint im Holozän treffend als „Fundamentalkritik des Romans der Moderne“, die zugleich „Fundamentalkritik des Menschen“5 sei. Als paradigmatisch für den Gegenstand dieser doppelten Fundamentalkritik kann die oben zitierte enzyklopädische Definition des Menschen und ihre Integration in die Erzählung gelten. Nach dem Brockhaus-Zitat – „[w]eite Gebiete der Erdoberfläche hat er [der Mensch] für seine Lebensbedürfnisse gestaltet; der Anteil der Kulturlandschaft nimmt ständig zu“ (MH 250) – fährt der Erzähler lapidar mit der Beschreibung der Wetterfolgen am Handlungsort fort: „Es sind Hänge gerutscht, aber nicht hier, sondern hinten im Tal. Es sehe wüst aus. Der Bach habe sein Bett jetzt anderswo, der ganze Birkenwald sei weg, einfach weg, der ganze Talboden voll Geschiebe“ (MH 250). Das Zusammentreffen der „Kulturlandschaft“ mit den rutschenden Hängen dient nicht nur dem ironischen Effekt, sondern figuriert ein zentrales Thema des Romans: die Gegenüberstellung von menschlicher Lebenszeit und geologischer Tiefenzeit.6 „Intelligenz, […] Handlungen und […] Arbeit“ (MH 250) spielen im Angesicht ‚natürlicher‘ Vorgänge – regenbedingte Erdrutsche und Überschwemmungen – eine zu vernachlässigende Rolle; mit der Kulturlandschaft kommt die Erosion allemal zurande. Unter Erosion versteht die Geologie Abtragungsprozesse an Gesteinen. Unterschieden wird – je nach Ursache der Abtragung – zwischen fluvialer, glazialer, mariner und äolischer Erosion. Entscheidend für die Erosion ist die Zeit; sie ist im Regelfall nicht in lebenszeitlichen, sondern nur erdgeschichtlichen Maßstäben messbar. Die Konfrontation von menschlicher Lebenszeit und geologischer Tiefenzeit 4  Vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012, S. 74-84. 5  Georg Braungart: „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt“. Max Frisch, Peter Handke und die Geologie. In: Figurationen der literarischen Moderne. Hg. v. Carsten Dutt / Helmuth Kiesel. Heidelberg 2007, S. 23-41, hier S. 30. 6  Auch Timothy Attanucci und Georg Braungart sehen in der Einbeziehung der geologischen Tiefenzeit in den Prozess des Erzählens ein zentrales Charakteristikum des Romans. Vgl. Timothy Attanucci: Wer hat Angst vor der Geologie? Zum Schicksal der ‚geologischen Kränkung‘ in der Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Willem Frederik Hermans, Max Frisch und Peter Handke. In: literatur für leser 39, H. 1 (2016), S. 9-24, hier S. 16; Braungart: Katastrophen; zur geologischen Tiefenzeit vgl. aus wissenshistorischer Perspektive Stephen Jay Gould: Time’s Arrow, Time’s Cycle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time. Cambridge, Mass.  1987; zur literarischen Auseinandersetzung mit dieser ‚vierten Kränkung‘ des menschlichen Narzissmus vgl. Georg Braungart: Apokalypse in der Urzeit. Die Entdeckung der Tiefenzeit in der Geologie um 1800 und ihre literarischen Nachbeben. In: Zeit – Zeitenwechsel – Endzeit. Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen. Hg. v. Ulrich G. Leinsle / Jochen Mecke. Regensburg 2000, S. 107-120.

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wird im Roman möglich durch die Konzentration auf die vom Regenfall verursachten Massenbewegungen. Diese sind in einem individualmenschlichen Zeitmaßstab beobachtbar;7 Regen wird in der zitierten Sequenz somit zur Synekdoche für erdgeschichtliche Erosionsprozesse, die auf der Ebene der histoire nicht darstellbar sind. Die Gegenüberstellung von naturhistorischen und menschheitsgeschichtlichen Prozessen ist Ausgangspunkt meiner folgenden Interpretation. Meine These: Nicht nur die Kulturlandschaft ist der Erosion ausgeliefert, sondern ebenso die Erzählung als Form. Der Mensch erscheint im Holozän ist nicht nur auf Ebene der histoire ein Text, der sich der geologischen Tiefenzeit widmet, auch auf den Ebenen des discours und des Textmaterials stellt Erosion das Formprinzip der Erzählung dar. Sie ist eine poetologische Mimesis von Erosion. Der Text nimmt somit als „Fundamentalkritik des Romans der Moderne“ und „Fundamentalkritik des Menschen“8 in Hinblick auf den Themenkomplex ‚Erschöpfung und Moderne‘, so meine Erweiterung von Braungarts These, eine doppelte Revision vor: Insofern der Text ein geologisches Konzept zur Metapher des individuell-menschlichen Verfallsprozesses ausgestaltet, formuliert er eine Alternative zur Erschöpfungsgeschichte; und insofern die Form der Erzählung sich dem geologischen Konzept mimetisch anschmiegt und damit eine auf das subjektive Erleben zentrierte Poetologie überschreitet, formuliert der Text eine Alternative zur Erschöpfungsgeschichte.9 Anders gesagt: Nicht Erschöpfung – als Kehrseite von Leistung und Fortschritt – dient dazu, das Selbst- und Fremdverhältnis des Menschen zu beschreiben. Sondern ein geologischer Prozess wird einerseits auf den Menschen übertragen (Erosion statt Erschöpfung) und 7  Zur Definition und Abgrenzung vgl. Hans Murawski / Wilhelm Meyer: Geologisches Wörterbuch. 12. Aufl. Berlin, Heidelberg 2010, S. 42; John Grotzinger / Thomas Jordan: Press/Siever. Allgemeine Geologie. 7. Aufl. Berlin, Heidelberg 2017, S. 429-466 sowie S. 511-516. 8  Braungart: Katastrophen, S. 30. 9  Matthias Preuss unterscheidet in seiner inspirierenden Analyse zwischen ecopoetics und zoopoetics als zwei Polen der Erzählung; die Erosion sei ‚Effekt‘ des ersten Pols und führe zu „the reframing of carving, not as a destructive but as a creative process that allows for a circumscription of life by taking the figure of the human out of the picture“ (Matthias Preuss: How to Disappear Completely. Poetics of Extinction in Max Frisch’s Man in the Holocene. In: Texts, Animals, Environments. Zoopoetics and Ecopoetics. Hg. v. Frederike Middelhoff / Sebastian Schönbeck / Roland Borgards. Freiburg 2019, S. 253-268, hier S. 258). Zoopoetics, der zweite Pol, komplettiere den blinden Fleck abstrakter erdgeschichtlicher Prozesse mittels Prosopopoiia: „Animals embody particular poetic practices and thus break down the anonymous formative force. Another effect is the embedding and inscription of humans in the environment via anthropomorphism.“ (Ebd., S. 263-264) Dagegen argumentiere ich, dass das ‚zoopoetische‘ Supplement insofern überflüssig ist, als Erosion auf der Ebene des Textmaterials zur Darstellung gebracht wird. Ich werde das im letzten Kapitel noch ausführlicher begründen.

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andererseits zum Modell für die Selbstbeschreibung gemacht (Erdgeschichte statt Lebensgeschichte). Dass Der Mensch erscheint im Holozän zugleich „Fundamentalkritik des Romans der Moderne“ und „Fundamentalkritik des Menschen“ ist, kann kaum überraschen: Die enge Verbundenheit von individuell-menschlichem Leben und zusammenhängender Narration ist seit Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman ein stehender Topos der (modernen) Romantheorie.10 Der Roman orientiert sich am Sonderfall des Bildungsromans, dessen „Wesentliche[s] und Eigenthümliche[s]“ die „innre Geschichte“11 des Protagonisten (mit Blanckenburg: des „Charakters“) darstellt. Nicht der Protagonisten „äußer[es] Geschick[  ]“, sondern die „Ausbildung, oder vielmehr die Geschichte ihrer Denkungs- und Empfindungskräfte“12 ist der Gegenstand des Romans. Die „innre Geschichte“ wird sichtbar – und wirkt auf den Rezipienten – nicht in der Nennung von Empfindungen, sondern in der Darstellung von Handlungen, die ebendiesen inneren ‚Geschichten‘ entspringen, durch diese motiviert sind – und damit ihre Wirklichkeit verbürgen.13 Rüdiger Campe brachte diese Struktur thetisch auf die Formel: Lebhaft ist der Roman, weil das, was vergegenwärtigt wird, geprägtes Leben ist: vita. Andererseits ist er lebendig, weil sich die vita in der Aktualität von bestimmten Zügen und Handlungen vergegenwärtigt. […] In der lebendigen und lebhaften Schilderung oder Erzählung, die rhetorisch evidentia heißt, hängt die Qualität des Präsentierens am Präsentierten, die Lebhaftigkeit des einen an der Lebhaftigkeit des andern.14

Der Knoten, den Roman- und Lebensform bilden, ist nicht aufzulösen. Entscheidend für meinen Zusammenhang ist, dass Roman- wie Lebensform eine 10 

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Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin 1920, S. 75-78. Kritisch gegenüber Lukács, den Zusammenhang als Topos jedoch aufgreifend argumentiert Gerhart von Graevenitz: Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie. Tübingen 1973. Für Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart  1973 ist der Zusammenhang von Roman und individuellem Leben bereits vor Blanckenburg theoretisiert, nichtdestotrotz läuft der Roman auch bei Voßkamp auf die Darstellung eines individuellen Lebens hinaus. Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig, Liegnitz 1774, S. 392. Ebd., S. 395. Vgl. ebd., S. 493-499. Rüdiger Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans. In: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Hg. v. Armen Avanessian / Winfried Menninghaus / Jan Völker. Zürich 2009, S. 193-211, hier S. 201.

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bestimmte Vorstellung von motivierter menschlicher Handlung und verknüpfter Handlungsfolge zugrunde liegt. Diese Vorstellung bestimmt den Zeithorizont der modernen Erzählung, und sie ist gleichsam Bedingung der Möglichkeit, nicht nur die Arbeits-, Leistungs- und Handlungsgeschichten der Modernen, sondern auch ihre Kehrseite – Erschöpfungsgeschichten – zu schreiben. Dagegen überschreite Der Mensch erscheint im Holozän, so Braungart, in seinem Protagonisten „die Perspektive des Menschen […], er geht über […] zu einer transhumanen Perspektive.“15 Braungart einerseits zustimmend, ihn andererseits korrigierend würde ich von einer ‚posthumanen Perspektive‘ sprechen und damit die Fokussierung auf den Protagonisten verwerfen. Mit dem Begriff ‚Posthuman(-ismus)‘ knüpfe ich an eine seit etwa Anfang der 1990er-Jahre laufende Debatte an, die – beeinflusst von Bruno Latours AkteurNetzwerk-Theorie und Donna Haraways Cyborg Manifesto – die Revision des cartesianischen Subjektkonzepts, der Aufklärung und der humanities diskutiert.16 Posthumanismus dezentriert den individuellen Menschen, das Gattungswesen ‚Mensch‘ und die Sphäre kultureller Produktion und denkt diese als nur im Rahmen einer Ökologie zu verstehende Entitäten bzw. Strukturen.17 Ich möchte diesen theoretischen Rahmen hier als Orientierung für die folgende Analyse nur andeuten. Entsprechend der dreifachen Dezentrierung – von Individuum, Gattungswesen und kultureller Produktion – will ich meine 15 

16 

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Braungart: Katastrophen, S.  32. Bernhard Malkmus schlägt eine ähnliche Perspektive vor: „Man in the Holocene can be read as a gradual undoing of the fabric of humanness, defined by the ability to perceive oneself historically and work toward a future.“ (Bernhard Malkmus: „Man in the Anthropocene“. Max Frisch’s Environmental History. In: PMLA 132, H. 1 (2017), S. 71-85, hier S. 78). Vgl. N.  Katherine  Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Information. Chicago u.a. 1999; Cary Wolfe: What is Posthumanism? 3. Aufl. Minneapolis  2010. Hayles und Wolfe unterscheiden innerhalb des posthumanen Diskurses zwischen einem die Materialität des Lebens negierenden Transhumanismus, der populäre Phantasien des vom Körper losgelösten Geistes mit technologischen Mitteln zu verwirklichen trachtet, und einem kritischen Posthumanismus, der (auch) ebendiese Phantasie als Erbe des Cartesianismus dekonstruiert. In meiner Begriffsverwendung von ‚Posthumanismus‘ schließe ich mich letzterer Perspektive an. Diese Nivellierung der menschlichen Position hat schematisch gesprochen zwei Richtungen: Nach ‚innen‘ orientiert vermittelt sie Geist/Ratio mit der Unhintergehbarkeit körperlicher Materialität und biologischer Prozesse (Situiertheit des Denkens, des Wissens, des Fühlens). Nach ‚außen‘ orientiert sieht sie menschliche Akteure als Teil eines Ökosystems, dessen nicht-menschliche Aktanten ebenso Anteil an der und Anrecht auf die Welt haben. Vgl. auch Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010, S. 9. Darin trifft sich der Posthumanismus mit dem ecocriticism, vgl. Helena Feder: Ecocriticism, Posthumanism, and the Biological Idea of Culture. In: The Oxford Handbook of Ecocriticism. Hg. v. Greg Garrard. Oxford, New York 2014, S. 225-240.

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Interpretation gliedern. Im ersten Teil steht die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von geologischer Tiefenzeit (Erosion) und menschlicher Zeit (Identität und Erinnerung) im Mittelpunkt. In der Erzählung wird Erosion nicht nur zur Metapher für die ‚Erschöpfung‘ der Subjektidentität, sie dient darüber hinaus auch als Metapher für die Zersetzung von Wissensordnungen, wie sie die Bestimmung von Gattungen überhaupt erst ermöglichen. Diesem Verhältnis widmet sich der zweite Teil meines Aufsatzes. Der abschließende dritte Teil zielt auf die fundamentale Ebene des Textmaterials; als eine Variante der Dezentrierung kultureller Produktion steht dabei die poetologische Mimesis von Erosion im Mittelpunkt meines Interesses. Der Mensch erscheint im Holozän soll so sichtbar werden als ein Text, der den Erschöpfungsgeschichten der Moderne eine ‚posthumane‘ Alternative gegenüberstellt, die auf den Ebenen i) der individuellen Biographie, ii) der menschlichen Wissensordnungen und iii) der Poetologie operiert. „Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses –“ Das titelgebende Zitat ist die implizite Fortsetzung eines Satzbruchstücks, das sich zwei Seiten zuvor findet: „Schlimm ist nicht das Unwetter –“ (MH 208). Beide Zeilen bilden in der Erzählung je eigene Absätze, wie überhaupt Der Mensch erscheint im Holozän aus zahlreichen, nur bedingt miteinander verbundenen Absätzen besteht. Der Umfang dieser Absätze reicht dabei von wenigen Worten, elliptisch oder aufzählend,18 bis hin zu mehreren Seiten, die ‚erzählender‘ sind.19 Alle Absätze – mit Ausnahme des abschließenden – sind intern fokalisiert und der erlebten Rede ähnlich.20 Der Wahrnehmungshorizont von Herrn Geiser wird durch den Erzähler an keiner Stelle überschritten. Die Funktion von Erzählerkommentaren übernehmen dafür, zumindest partiell und implizit, die faksimilierten Fremdtexte aus Enzyklopädien und anderen Werken.21 18  19  20  21 

Etwa „Pfützen auch hier –“ (MH  230), „Höhenunterschied noch 313 Meter.“ (MH  270), „Kein Vieh –“ (MH 266). Die Erinnerung Herrn Geisers an eine gemeinsame und katastrophal endende Bergwanderung mit seinem Bruder (vgl. MH 291-293) ist dabei die längste zusammenhängend erzählende Passage. Vgl. Jürgen H. Petersen: Max Frisch. 2. Aufl. Stuttgart 1989, S. 175-178; dort auch zu den Schwierigkeiten der eindeutigen Klassifikation, die zwischen erlebter Rede und innerem Monolog schwankt. Am deutlichsten wird dies am Ende der Erzählung, die mit sieben aufeinanderfolgenden ‚Ausschnitten‘ die Themen des Werks aufruft und dabei auch Herrn Geisers Schlaganfall

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Der in den beiden Bruchstücken zum Ausdruck kommende Vorrang der Sorge um die eigene Identität, die durch Gedächtnisverlust bedroht sei, wird wenige Seiten später in Zweifel gezogen. Herrn Geiser bleibe, in einem durch die Regenfälle von der Außenwelt abgetrennten Tal sitzend, „nichts als Lesen“ (MH 211) übrig, jedoch: Romane eignen sich in diesen Tagen überhaupt nicht, da geht es um Menschen in ihrem Verhältnis zu sich und zu andern, um Väter und Mütter und Töchter beziehungsweise Söhne und Geliebte usw., um Seelen, hauptsächlich unglückliche, und um Gesellschaft usw., als sei das Gelände dafür gesichert, die Erde ein für allemal Erde, die Höhe des Meeresspiegels geregelt ein für allemal. (MH 211-212)

Da die „Höhe des Meeresspiegels“ eben nicht „ein für allemal“ geregelt ist, steht das Lesen von Belletristik22 unter Eitelkeitsverdacht. Anstelle von schöner Literatur liest Geiser die Bibel, genauer: Gen  1, 1-2, doch auch diese Lektüre ist den Umständen nicht angemessen: „Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer denken kann, fragt sich Herr Geiser.“ (MH  212) Unter dem Eindruck der ununterbrochenen Regenfälle verschiebt sich der räumliche und zeitliche Horizont: Nicht mehr biographisch (wie in den von Familien erzählenden Romanen), nicht religiös-kulturell (wie in der Bibel) darf er bleiben, sondern er muss diese Limitationen ‚disanthropisch‘23 überwinden. Verworfen wird die Bibel, ersetzt durch die Auseinandersetzung mit erdgeschichtlichen Abhandlungen über das Tessin – und, abstrakter, mit der geologischen und biologischen Tiefenzeit: „Wie Flut und Ebbe entstehen, wie Vulkane, wie Gebirge usw., hat Herr Geiser einmal gewußt. Wann sind die ersten Säugetiere entstanden? Stattdessen weiß man, wieviel Liter der Heizöltank fasst und wann der erste Post-Bus fährt“ (MH  220). Kurz: Die menschliche Lebenswelt als Orientierungspunkt ist ungenügend im Angesicht der zu beobachtenden (oder eben nicht zu beobachtenden) geologischen und klimatischen Prozesse.

22  23 

mittels eines Faksimiles des Lemmas ‚Schlaganfall‘ aus dem Großen Brockhaus explizit ‚benennt‘ (vgl. MH 298). Die genannten generischen Themen („Väter und Mütter und Töchter […] Söhne und Geliebte“) legen es zusammen mit der Anna-Karenina-Anspielung nahe, den realistischen Roman russischer Provenienz als abgelehnten Lesestoff zu identifizieren. Zum Begriff, der die Imagination einer Welt ohne Menschen meint, vgl. Greg Garrard: Worlds Without Us. Some Types of Disanthropy. In: SubStance 41, H. 1 (2012), S. 40-60. Zur disanthropischen Imagination in der Literatur vgl. Jakob Christoph Heller: „Die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“. Disanthropische Imagination und ästhetische Landschaft bei D.H. Lawrence und Judith Schalansky. In: Unwirtliche Landschaften. Imaginationen der Ödnis in Literatur und Medien. Hg. v. Sabine Eickenrodt / Katarína Motyková. Frankfurt a.M. 2016, S. 73-87.

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Das Ungenügen – und der potenzielle Verlust – der anthropozentrischen Wahrnehmung werden somit bereits früh in der Erzählung zu bestimmenden Motiven. Auf der anderen Seite aber – so kann und muss man einwenden – ist Herrn Geisers Angstphantasie geradezu paradigmatisch auto- und anthropozentrisch, übersteigert sie doch einen den Alltag einschränkenden Regenfall zur Sintflut (vgl. MH 218-219, 231) bzw. zur die Gattung Mensch bedrohenden Veränderung der Erdoberfläche (vgl. MH 222, 231-232).24 Selbst der letzte offensichtlich über Herrn Geiser fokalisierte Monolog – „Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht“ (MH 296) – überhöht die Auslöschung der eigenen Identität ins Erhabene und macht sie damit ästhetisch genießbar. Man könnte damit zuspitzen: Die Geltung des individuell Erfahrenen wird narzisstisch übersteigert. Zwischen beiden Positionen, der anthropo- und autozentrischen einerseits, der geologisch-posthumanen andererseits, kann eine Interpretation, die ausschließlich auf der thematischen Ebene die Konfrontation von individueller Biographie und geologischer Tiefenzeit verhandelt, nicht entscheiden. Interessanter zur Beantwortung dieser Konfrontation ist der Blick auf die Ebene des discours. Der potenzielle Verlust des Gedächtnisses und damit der Identität – als kohärent sich in der Zeit mit sich selbst identisch wissende – ist aus dieser Perspektive nicht drohende Gefahr, sondern von Beginn der Erzählung an gegeben. Dies zeigt sich in der Auflösung bzw. dem Fragwürdig-Werden eindeutiger Koordinaten: „Heute ist Mittwoch. // (Oder ist Donnerstag?)“25 (MH 212). Diese Desorientierung betrifft, noch bevor explizit Fragen der Erinnerung thematisch werden – etwa der Name von Herrn Geisers Tochter –, bereits die chronologische Ordnung der Handlung. Mit wenigen Ausnahmen durchgehend im Präsens erzählt, dienen Temporaladverben und -adjektive (heute, soeben, neulich, plötzlich) sowie Zeitangaben („[E]s ist immer noch Vormittag“ (MH 228), „Es ist vier Uhr nachmittags.“ (MH 253)) im Text nicht der Setzung einer bestimmten Chronologie, sondern verunsichern diese im Gegenteil. Hinsichtlich der räumlichen Ordnung besorgt der fehlende Zusammenhang zwischen den einzelnen Absätzen einen vergleichbar destabilisierenden Effekt.26 Die stakkatohaft dargebrachten Impressionen aus Herrn Geisers Bewusstsein machen – die ohnehin häufigen – Wiederholungen 24  25  26 

Für eine entsprechende Interpretation, die Endzeit und individuelle Lebenszeit verknüpft, vgl. Claus Erhart: „Herr Geiser ist kein Lurch“. Apokalyptisches bei Max Frisch. In: Cahiers d’études germaniques 51 (2006). S. 159-171. Hier und im Folgenden adaptiere ich zur platzsparenden Zitation eine Konvention aus der Gedichtzitation: Einfache Querstriche zeigen Zeilenumbrüche, doppelte Querstriche neue Absätze an. Für ein Extrembeispiel vgl. etwa MH 252-256.

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von Textmaterial zu Orientierungspunkten des Rezipienten: „Es müßte möglich sein, eine Pagode zu türmen aus Knäckebrot“ (MH 207) lautet der erste Satz der Erzählung, die letzten Seiten greifen das Motiv auf: „Es wird nie eine Pagode – // Das weiß Herr Geiser. // Aber Knäckebrot ist noch da.“ (MH 295) Diese und vergleichbare Wiederholungen und Variationen sorgen dafür, dass sich die Erzählung der Achronie annähert. Die vollständige Gebundenheit der Erzählperspektive an das Bewusstsein von Herrn Geiser wird nicht zuletzt nutzbar gemacht, um die Identifikation von Objekten in der erzählten Welt zu problematisieren: Ein Feuersalamander, dessen Auftauchen in der Wohnung, in die er „durch das offene Fenster hereingefallen sein [muss]“ (MH 254), als Eindringen der Natur in die Kultur gelten kann, wird mit Herrn Geisers Hauskatze Kitty assoziiert. In einem Zustand der Desorientierung entfernt Herr Geiser den Feuersalamander aus der Wohnung, zugleich verändert sich – für den Leser kausal nicht nachvollziehbar – der Ort der Hauskatze: „Später am Tag liegt der Feuer-Salamander auf dem Teppich im Wohnzimmer, was ekelhaft ist. Herr Geiser nimmt ihn mit der kleinen Schaufel und wirft ihn in den Garten hinaus […]. // Kitty jault noch immer vor der Haustüre.“ (MH 254-255) Ein weiterer (oder derselbe?) Feuersalamander taucht in der Wohnung auf bzw. war bereits anwesend: „Der Feuer-Salamander auf dem Teppich im Wohnzimmer muß ein anderer gewesen sein; der andere liegt noch immer im Bad“ (MH  255-256). Für Herrn Geiser ist dies Anlass, einige Enzyklopädie-Lemmata zu studieren (Salamander, Molasse, Molche und Salamander, Amphibien, vgl. MH  256-257). Der Salamander – oder die Hauskatze – wird (erneut?) rabiat entfernt: „Der Feuer-Salamander ist nicht mehr im Bad. // Herr Geiser hat ihn ins Kamin geworfen. // […] Seit gestern, als er [Herr Geiser] die Katze im Kamin gebraten und dann nicht hat verspeisen können […]“ (MH 286-287). Der oder ein Feuersalamander, ein oder mehrere Feuersalamander, schließlich der Feuersalamander oder die eine, mit einem Eigennamen ausgezeichnete, Hauskatze: Das Verhältnis von Repräsentamen, Interpretant und Objekt wird hier brüchig.27 Der Feuersalamander mag als Lemma (vgl. MH  256) aus dem Brockhaus im Text faksimilier- und zitierbar sein, für die in der diegetischen Welt auftauchenden Feuersalamander gilt dies nicht. Der Text verunsichert – unabhängig von jeder thematischen Verhandlung – die Möglichkeiten einer stabilen menschlichen Perspektive: Raum, Zeit und Identität bilden keine sicheren Rahmenbedingungen der Wahrnehmung. 27 

Komplementär dazu verhalten sich die von Herrn Geiser angelegten Listen zu Anfang der Erzählung (vgl. MH  208-209, 210-211, 221): Mit Abzählbarkeit versprechen sie notwendig auch Identifizierbarkeit, die im Lauf des Textes verloren geht.

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„Die Auskünfte im Dorf sind widersprüchlich“ Aber auch die Sicherheit der enzyklopädischen Wissensordnung ist in der Erzählung nicht garantiert. Nichts als die Lektüre bleibt Herrn Geiser übrig, und diese Lektüre widmet sich Sachtexten, um der Unordnung der Außenund Innenwelt etwas entgegenzusetzen: Sachtexte versprechen, das macht der Text deutlich, Orientierung, insofern sie ein begriffliches und konzeptuelles Instrumentarium zur Verfügung stellen, mit dem den Phänomenen der Außenwelt begegnet werden kann. In Der Mensch erscheint im Holozän wird diese Orientierungsfunktion in drei Schritten vorgeführt und destruiert, die sich – schematisch – über den zunehmenden Informationsverlust sortieren lassen.28 Erstens: Individuelle Klassifikationsakte mit Anspruch auf Verallgemeinerung. Herrn Geisers zweite Handlung in der Erzählung – nach dem versuchten Türmen der Knäckebrotpagode – ist die Klassifikation des Donners (vgl. MH  208-209). Knall-Donner, Koller-Donner, Hall-Donner und andere Formen des Geräuschs werden aufgezählt und in relativ abstrakten, intersubjektiv nachvollziehbaren Metaphern beschrieben: Der „Spreng-Donner“ klinge, als werde „eine ungeheure Masse […] entzwei gesprengt“, der „PolterDonner […] läßt an rollende Fässer denken, die gegeneinander poltern“ (MH 209). Der Versuch einer intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung wird offensichtlich als Parodie sichtbar in der späteren Fortsetzung der Klassifikationsakte: Weitere Arten von Donner: // […] 11. / der Plapper-Donner. // 12. / der KissenDonner hat genau den Ton, der zu hören ist, wenn eine Hausfrau mit der flachen Hand auf die Kissen klopft. // […] 13. der kreischende oder Flaschen-Donner, oft erschreckender als der Spreng-Donner, obschon er die Fensterscheiben nicht erzittern läßt, gehört zu den unerwarteten Donnern, man hat keinerlei Blitz gesehen, plötzlich ein schrilles Geklirr, wie wenn eine Kiste voll leerer Flaschen über eine Treppe hinunterstürzt. // 16. / der munkelnde Donner. / usw.“ (MH 225-226)

Aus einem sachtextnahen Stil kippen die Klassifikationen in einen umgangssprachlich-privaten, mal reich an Anakoluthen, mal arm an Erläuterung.

28 

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Gabriele Dürbeck – „[t]he dispersed cutouts also have a poetic function: systematic knowledge erodes into fragmented, disconnected pieces of information.“ (Gabriele Dürbeck: Ambivalent Characters and Fragmented Poetics in Anthropocene Literature. Max Frisch and Ilija Trojanow. In: Minnesota Review 83 (2014), S. 112-121, hier S. 115) –, führt die These allerdings nicht weiter aus.

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Zweitens: Rezeption bereits kanonisierten Wissens. Hier begegnen wir den schon beschriebenen faksimilierten Zetteln, die der Erzählung ihre spezifische Form geben und über Herr Geisers Angst vor dem Gedächtnisverlust motiviert sind: „Es genügt nicht, daß Herr Geiser in diesem oder jenem Buch mit seinem Kugelschreiber anstreicht, was wissenswert ist; schon eine Stunde später erinnert man sich nur noch ungenau“ (MH 221), stattdessen sei das Kopieren der Inhalte auf eigene Zettel vonnöten. Diese Form des Lernens durch Abschreiben und Wiederholen wird in der Erzählung bald zugunsten des Ausschneidens aus den Büchern verworfen, die Lektüre der Zettel durch den zeitweiligen Verlust der Lesebrille erschwert. Zusätzlich verlegt sich Herr Geiser zunehmend auf das Ausschneiden von Illustrationen (vgl. MH 279-283). An die Stelle der Rezeption von sprachlich vermittelter Information tritt die Betrachtung von Bildern, deren Zusammenhang und Bedeutung verschwindet. Drittens: Selektion und Anordnung von Informationen. Indem er Wissensbruchstücke aus ihren Quellen (Reiseführern, Enzyklopädien, Geschichtsbüchern) herausschneidet, löst Herr Geiser sie aus ihrem Kontext. Bei der Auswahl der Zettel kommt notwendig ein Selektions- und Ordnungsprinzip – und sei es noch so subjektiv – zum Einsatz. Dieses wird zu Beginn der Erzählung benannt: Es gilt, Wissen anzusammeln, das die erdgeschichtlichen und klimatischen Prozesse verständlich macht. Dies scheint im Verlauf der Erzählung immer mehr in den Hintergrund zu rücken (vgl. MH  277), auch Herr Geiser bemerkt den zweifelhaften Wert der gesammelten Informationen: „Manchmal fragt sich Herr Geiser, was er denn eigentlich wissen will, was er sich vom Wissen überhaupt verspricht.“ (MH 281) Aber nicht nur das Prinzip der Selektion wird prekär, ebenso wird der Akt der Anordnung vergessen: „Auf dem Tisch liegen […] etliche Zettel, lauter Gedrucktes, was Herr Geiser schon ausgeschnitten hat, aber noch nicht an die Wand geklebt.“ (MH 285) Was auf Herrn Geisers Tisch liegt, sind eben nicht Artikel aus Sachtexten, es ist – die materielle Dimension betonend – nur „lauter Gedrucktes“: Bruchstücke aus Wissensordnungen, ihrem ursprünglichen Ort entrissen und auf der Fläche sedimentiert. Die materielle Dimension dieses Erosionsprozesses, den das Subjekt mehr automatisch denn intentional ausführt, wird von der Erzählung ausdrücklich betont: Was Herr Geiser nicht bedacht hat: der Text auf der Rückseite, den Herr Geiser erst bemerkt, nachdem er die Illustration auf der Vorderseite sorgsam ausgeschnitten hat, wäre vielleicht nicht minder aufschlußreich gewesen; nun ist dieser Text zerstückelt, unbrauchbar für die Zettelwand. (MH 280)

Anstelle der Semiose der Schriftzeichen rückt die materielle Eigenart des Trägermaterials in den Vordergrund; Information wird auf den Informationsträger

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reduziert, dessen Verarbeitung mit ihrer Zerstörung einhergeht. Herrn Geisers Versuch, eine Ordnung in seine Welt zu bringen, führt zur Erosion von kulturellen Wissensordnungen. Damit reflektiert die Erzählung ihr eigenes poetologisches Prinzip. „Alles in allem ein stilles Tal“ ‚Erosion‘ kann man mit den in Der Mensch erscheint als Holozän enthaltenen Faksimiles als „ausfurchende u. einschneidende Arbeit des fließenden Wassers“ (MH 296) definieren, die die gegebene – natürliche wie menschengemachte – Ordnung der Erdoberfläche verändert, insbesondere nivelliert, und dabei Unmengen an Geröll – bezogen etwa auf den Fluss „Maggia im Jahr durchschnittlich 550.000 Kubikmeter“ (MH  231) – transportiert. Aktuelle geologische Lehrbücher aufgreifend kann Erosion genereller als Sammelbegriff für „Prozesse bezeichnet [werden], bei denen das verwitterte Material gewissermaßen Korn für Korn in der Regel durch strömende Medien abtransportiert wird.“29 Eine poetologische Mimesis von Erosion kann auf ein – metaphorisch gesprochen – ‚strömendes Medium‘, den linear fortschreitenden Text, zurückgreifen, muss darüber hinaus aber erstens die Nivellierung von Formationen auf materialer Ebene und über einen langen Zeitraum zur Darstellung bringen; nicht Katastrophe, nicht Sintflut, sondern langwieriges Nagen am Material. Und zweitens müsste sie den Transport des ‚abgetragenen‘ Materials in ihrem Medium zur Darstellung bringen. Bezogen auf die Wissensordnungen habe ich versucht, diese Motive im vorhergehenden Kapitel auszuarbeiten: Kulturelle Wissensordnungen werden nicht hinsichtlich der zugrundeliegenden Zeichen und Bedeutungen, sondern hinsichtlich ihrer materialen Träger rearrangiert, wobei dieses Rearrangement mit ihrer Destruktion einhergeht. Dieser Prozess läuft – soweit eine Erzählung dies simulieren kann – nicht intentional, sondern unbewusst: Herrn Geisers Handlungen zielen darauf ab, Wissen vor dem Vergessen zu bewahren, zerstören im Prozess der Selektion und Kombination der Informationen jedoch ebendiese. Am Ende sammelt sich das herausgelöste Material vergessen auf einem Tisch. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass darüber hinaus die Erzählung ihr eigenes Sprachmaterial in Anlehnung an den Erosionsprozess behandelt. Konkret lässt sich das, so meine These, am Schlussabsatz der Erzählung (vgl. MH 298-299) belegen. Bereits vor dem Absatz ist festzustellen, dass offenbar zwei widerstrebende Eigenzeiten im Text zusammenwirken. Einerseits die 29 

Grotzinger / Jordan: Allgemeine Geologie, S. 430.

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Zeit des Protagonisten, seiner Handlungen, ihrer Situierung in Raum und Zeit. Andererseits die ‚Zeit‘ der Materialanordnung. Damit ist nicht nur die Abfolge der einzelnen Absätze gemeint, die – wie ich in Kapitel I zu zeigen versucht habe – sich einer eindeutigen Chronologie (oder auch nur der Identifikation von Pro- und Analepsen) entzieht, sondern auch die Asynchronizität von Collage und Handlung: Ein Zettel wird wiederholt abgedruckt (vgl. MH 225, 251). In der erlebten Rede wird behauptet, die Entscheidung gegen das handschriftliche Abschreiben von Lexikoneinträgen sei erst zu einem bestimmten Zeitpunkt gefallen – allerdings sind ‚ausgeschnittene‘ und ‚handschriftliche‘ Faksimiles vom Erzählanfang an in den Text hineinmontiert. Die Erzählung ist nicht treue Chronologie von Herrn Geisers geistigem Verfall, von dem die Erzählung handelt – das collagierte Material folgt einer eigenen Zeitlichkeit. Dieser Verdacht erhärtet sich durch einen Blick auf den Finalabsatz. Er zeigt zwei Besonderheiten. Zum einen ist Herr Geiser aus dem Text ‚verschwunden‘; alle Hinweise darauf, dass die Erzählung über ihn perspektiviert ist und eine erlebte Rede darstellt, sind getilgt.30 Zum anderen ist dem Rezipienten das verwendete Textmaterial größtenteils wohlbekannt. Der Absatz besteht zu großen Teilen aus Sätzen, die zuvor als über Herrn Geiser perspektiviert präsentiert und rezipiert wurden: „Bund und Kantone, so wird angenommen, tun alles, um die Straße wiederherzustellen“ (MH 207), heißt es am Anfang mit deutlichem Bezug auf die Wirkung der Regenfälle, generalisiert und variiert wird in der Mitte – „Bund und Kanton tun alles, damit das Tal nicht ausstirbt; Post-Bus drei Mal täglich“ (MH 242) –, wiederholt zum Abschluss: „Bund und Kanton tun alles, damit das Tal nicht ausstirbt; Post-Bus drei Mal täglich“ (MH 299). Andere Passagen werden bei der Wiederholung reduziert: Aus „Zwei Mal in der Woche fährt eine blonde Metzgerin das ganze Tal hinauf, sie ist deutscher Abstammung, Tessinerin durch Heirat, und verkauft Fleischwaren aus ihrem Volkswagen“ (MH 246) wird in der Finalabbreviatur „Zwei Mal in der Woche fährt die blonde Metzgerin das ganze Tal hinauf und verkauft Fleisch und Würste aus ihrem Volkswagen.“ (MH 299) Die Aussage „Wenn es nicht schneit, kann man oft ohne Mantel gehen, so warm ist es über Mittag“ (MH 240) wird erweitert zu: „Wo die Sonne hinkommt, kann man im Winter, wenn es nicht

30 

Ähnlich Gerhard Kaiser: Endspiel im Tessin. Max Frischs unentdeckte Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. In: Schweizer Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur 82/83, H. 12/1 (2002/2003), S. 46-52, hier S. 49f. Dagegen spricht Petersen von einem „eindeutigen und niemals aufgegebenen Perspektivismus“ (Petersen: Max Frisch, S. 176) in der Erzählung.

Erosive Poetik

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schneit, oft ohne Mantel gehen, so warm wird es über Mittag“ (MH 299), wobei die Phrase „Wo die Sonne hinkommt“ leicht modifiziert als „wo die Sonne kaum hinkommt“ (MH  240) ebenfalls zu finden ist. Aus „Die Gletscher, die sich einmal bis Mailand erstreckt haben, sind überall im Rückzug“ (MH 240) wird „Die Gletscher befinden sich seit Jahrhunderten im Rückzug“ (MH 244) und schließlich „Die Gletscher, die sich einmal bis Mailand erstreckt haben, sind im Rückzug.“ (MH 299) „Die Goldwäscherei in den Bächen hat sich nie gelohnt“ (MH 246, 299), „Sommer wie eh und je“ (MH 219, 298) – die Beispiele lassen sich nahezu beliebig fortsetzen, bis hin zu Teilwiederholungen im Abschlussabsatz selbst: „Alles in allem ein stilles Tal“ (MH  244, 298), „Alles in allem kein totes Tal“ (MH 242, 299), „Alles in allem ein grünes Tal“ (MH 241, 299) – in der finalen Wiederholung erweitert um den Zusatz „waldig wie zur Steinzeit“, damit den prä- oder posthistorischen Zustand des Tals betonend. Der Schlussabsatz ist eine Abbreviatur der Erzählung, eine verkürzende und variierende Wiederholung ihrer Beschreibungen des Tessiner Tals. Gerhard Kaiser spricht davon, dass Herr Geiser ein Dinosaurier ist in seinem qualvollen und vergeblichen und von der Zeit überholten Bemühen, das menschheitliche Bewusstsein, und sei es nur in den Reduktionsformen von Collage, Gedächtnis und Wissen, in sich festzuhalten und an seinen Wohnungswänden zu dokumentieren.31

Die Gegenläufigkeit von – wenn man möchte: tragischem – Aufbäumen menschlicher Bewusstseinsordnung und einer dem bewusstlos begegnenden zeitlichen Eigenlogik des Materials kommt im Schlussabsatz zu einem Halt. Nicht aufgrund der Erschöpfung des Subjekts als Kehrseite der modernen Fortschrittserzählungen – diese Erschöpfung ist, wie die Arbeitswissenschaft des 19. Jahrhunderts schon wusste und die zeitgenössische Psychologie weiß, ein durch Energiezufuhr bzw. systemischen Ausgleich zu behebender Zustand, sodass intentionale Tätigkeit und Produktion fortgesetzt werden kann. Sondern aufgrund einer Mimesis von Erosion, die erstens die Auflösung der am individuellen Leben orientierten Erzählung durch die Auflösung des individuellen Bewusstseins aufzeigt, zweitens dem Ansammeln und Anordnen von Wissen dessen Derangement entgegenhält, drittens die Übertragung der individuellen Bildungs- und Entwicklungsstruktur auf die Ordnung des Erzähltextes verneint. Statt von Erschöpfungsgeschichte und Erschöpfungsgeschichte

31 

Kaiser: Endspiel im Tessin, S. 52.

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kann von einer ‚Erosionsgeschichte‘ gesprochen werden, die einen hinsichtlich Zeitlichkeit und Intentionalität dem Menschen denkbar fremden Prozess zum Modell nimmt. Die Erzählung endet folgerichtig mit einem (Zwischen-) Ergebnis der Bewegung der Worte und Sätze: ein sedimentierter Haufen an Textmaterial, abgeschliffen, abgebrochen und gleichgültig.

ERSCHÖPFUNGSPATHOLOGIE UND DIE WIEDERKEHR DER MELANCHOLIE

Till Huber, Immanuel Nover

Von der Erschöpfung zur Depression

Überlegungen zu einer Ästhetik des Depressiven anhand von Lars von Triers Melancholia „Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen“.1 In diesem Statement verknüpft der Soziologe Alain Ehrenberg die Bereiche Depression und Erschöpfung und ordnet diesen Komplex zeitlich in einer Phase nach der autoritären Disziplinargesellschaft ein. Das ideale Individuum werde nun „nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen“,2 die depressive Erschöpfung resultiere vielmehr aus einer Norm, die „jeden zu persönlicher Initiative auffordert“.3 Die Veröffentlichung von Ehrenbergs richtungsweisender Studie Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart läutete eine Konjunktur der Depressionsdiskurse in vielen sozialwissenschaftlichen Arbeiten ein. In ihnen wird Depression bzw. das Burnout-Syndrom in Verbindung mit einer neoliberalen Arbeitswelt verhandelt, die vom arbeitenden Individuum Selbstoptimierung, Eigenverantwortung und ständige Neuerfindung verlangt. Im Sinne eines „singularistischen Lebensstils“ spricht Andreas Reckwitz jüngst von der Depression als „charakteristische[m] Krankheitsbild der spätmodernen Kultur“.4 Wo dieser Lebensstil primär auf erfolgreiche Selbstverwirklichung abziele, potenziere er „nicht nur neue Chancen auf hohe Befriedigung, sondern gleichzeitig vielfältige Enttäuschungen, für deren Bewältigung er […] kaum kulturelle Mittel an die Hand gibt.“5 Ähnlich wie Ehrenberg, der Depression als „Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl von Minderwertigkeit vorherrscht“,6 fasst, sieht Reckwitz darin eine Erkrankung, die als „affektive (Über-)Reaktion auf einzelne, gegebenenfalls auch länger andauernde Enttäuschungserfahrungen einsetzt, die nicht bewältigt wurden“. Reckwitz stellt insbesondere den Zustand eines „subjektiven Ungenügens“ heraus, der 1  Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2008, S. 15. 2  Ebd., S. 19. 3  Ebd., S. 15. 4  Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne.  2. Aufl. Berlin 2017, S. 348. 5  Ebd., S. 349. 6  Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. S. 15.

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„die Gefühls- und Handlungsfähigkeit kurzschlussartig ganz ausschaltet, das Subjekt also in einen Zustand der Passivität und Emotionslosigkeit bringt.“7 Es lässt sich somit konstatieren, dass Depression Anfang des 21. Jahrhunderts einerseits durch ihre Symptomatik8 in Erschöpfung bzw. einen Zustand der Nicht-Produktivität mündet (was sie immer schon getan hat), dass andererseits eine historisch spezifische Form der Erschöpfung (oder mit Reckwitz: Enttäuschung) – als Ergebnis des SelbstverwirklichungsDiskurses – die Krankheit erst hervorruft. Den letzteren Aspekt verdeutlichen die Psychiater Martin Heinze und Samuel Thoma, wenn sie auf den „fehlerhafte[n] deutsche[n] Titel“ von Ehrenbergs Studie, die im Original La Fatigue d’être soi heißt, aufmerksam machen. Das erschöpfte Selbst lege nahe, dass es sich beim Selbst um „eine Art Ding mit bestimmten Energiereserven handele“. Erschöpfung meine dagegen „einen bestimmten Erfahrungszustand bzw. eine bestimmte psychische Funktionsweise“. Der französische Titel spreche so gesehen nicht von einem Selbst, sondern „lässt die Aufgabe und Belastung des Selbstseins anklingen.“9 Dieser Aufgabe sei die deprimierte Person, so Ehrenberg, „nicht gewachsen; sie zermürbt sie vielmehr“. Depression werde so zur „Begleiterscheinung der Forderung, nur man selbst zu sein, die unseren gegenwärtigen Begriff von Individualität wesentlich bestimmt.“10 Es erscheint somit naheliegend, Depression als Facette des Erschöpfungsdiskurses zu diskutieren. Ästhetik / Kino des Depressiven In Lars von Triers Film Melancholia ist die Hauptfigur Justine vielfach mit dem besagten Druck der Selbstwerdung konfrontiert und verhält sich diesbezüglich dysfunktional. Bewusst sabotiert sie, nachdem eine emphatische Kontaktaufnahme zu ihren Eltern scheitert, ihre Integrität als zukünftige 7  8 

9  10 

Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 349. Betroffene leiden unter Müdigkeit, gedrückter Stimmung, Schuldgefühlen, Schlaflosigkeit sowie einer Verminderung von Antrieb, Aktivität, Appetit, Freude, Konzentration und Selbstwertgefühl. Vgl. ICD-10. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Systematisches Verzeichnis. Hg. v. Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information DIMDI. Berlin, Heidelberg 1994, Bd I, S. 335. Martin Heinze / Samuel Thoma: Soziale Freiheit und Depressivität. In: Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Hg. v. Thomas Fuchs / Lukas Iwer / Stefan Micali. Berlin 2018, S. 344-367, hier S. 348. Alain Ehrenberg: Depression. Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hg. v. Christoph Menke / Juliane Rebentisch. Berlin 2012, S. 52-62, hier S. 54.

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Ehefrau und erfolgreiche, kreative Berufstätige. Überfordert von diesen Anforderungen und enttäuscht von ihrer Deprivationserfahrung verfällt sie in eine schwere Depression. Der Film verfährt recht suggestiv darin, Justines depressiven Zustand mit dem Planeten Melancholia zu identifizieren, der plötzlich am Himmel auftaucht und den Weltuntergang herbeiführen wird. Die „astronomisch-astrologische Konstellation“ lasse sich, so der Psychoanalytiker Gerhard Schneider, als „projektive[r] symbolische[r] Ausdruck für Justines inneren Zustand“11 verstehen. Lars von Triers Film ruft damit einerseits psychoanalytische Lesarten auf den Plan, andererseits handelt es sich bei Melancholia um ein ästhetisches Artefakt, in dem es zu einer Repräsentation der Krankheit Depression kommt, wie sie in medizinischen Diskursen definiert wird. Anhand der in der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) genannten Kriterien ließe sich bei Justine eine Depression ‚diagnostizieren‘. Wenn Melancholia im Folgenden als ein mögliches Modell einer ‚Ästhetik des Depressiven‘ diskutiert werden soll, heißt das aber nicht (nur), dass von Depression erzählt wird. Zu fragen wäre vielmehr, worin die Leistung der Kunst besteht, wie Depression und der Depressionsdiskurs auf spezifische Art und Weise ästhetisiert werden und was im Zusammenhang mit Depression im realweltlichen, klinischen Kontext nicht abgebildet werden kann. Zwei Thesen sollen anhand der Analyse des Films verfolgt werden; das Augenmerk liegt hierbei auf einer Analyse der ästhetischen Verfahren und auf der Beobachtung des spezifischen ‚Wissens der Kunst‘, das – so die Kernthese – nicht deckungsgleich mit dem psychologisch-medizinischen Wissen zur Depression ist. Zum Einen bietet der Film für die Analyse der Hauptfigur zwar die Möglichkeit einer psychologisch-medizinischen Anamnese und Diagnose, zeigt aber durch die spezifische Struktur der Figur und ihrer depressiven Episode, dass diese Anamnese und Diagnose nicht tragen, sondern von der ästhetischen Konstruktion der Figur unterlaufen werden. So zeigt Justine ein kreatives Potenzial, das bei einer schweren Depression nicht vorhanden wäre; denn ausgerechnet der depressiven Figur gelingt es angesichts der Katastrophe, ihrem Neffen Leo Halt zu geben.12 Die ästhetische Konstruktion des Depressiven in Melancholia, so die These, nimmt eine Engführung des Depressiven und der Melancholie vor, vereint also sich (bisweilen) widersprechende Konzepte 11  12 

Gerhard Schneider: Das Container-Contained-Modell als Zugang zu Lars von Triers Melancholia. In: Melancholia – Wege zur psychoanalytischen Interpretation des Films. Hg. v. Ralf Zwiebel / Dirk Blothner. Göttingen 2014, S. 43-71, hier S. 58. Vgl. ebd., S. 55.

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Till Huber, Immanuel Nover

und lässt sich psychologisch-medizinisch nicht abbilden.13 Die Mischung der Konzepte erweist sich aber auf ästhetischer Ebene als äußerst produktiv: Wie im Folgenden gezeigt wird, verkörpert die depressive Figur Melancholiediskurse mit langer Tradition. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Tatsache, dass Justine im Angesicht des Weltuntergangs einen symbolischen Schutzraum improvisiert und im Berufsleben als offenbar geniale Werbetexterin tätig ist, entspricht der in den Problemata XXX, 1 formulierten Frage: „Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?“14 Wenn Justine Zitate aus der Kulturgeschichte der Melancholie bündelt, geht die Figur doch nicht in den Melancholiediskursen auf. Die Figur Justine ist somit als Mischung aus Abstraktion und konkreter Darstellung einer depressiven Symptomatik konzipiert. Zum Anderen weist der Film spezifische ästhetische Verfahren auf, die ein Moment des Depressiven evozieren. Der Beitrag möchte die Ästhetik nebst den Verfahren identifizieren und zudem analysieren, welches Wissen für die Zuordnung der gezeigten Ästhetik zu einem Bereich des Depressiven aktualisiert wird. Wird das ästhetisch konstruierte Depressive als eine wirkmächtige und breit erzählte Komponente der Erschöpfung gefasst, so wird auch für die Ästhetik der Erschöpfung deutlich, dass das spezifische Wissen der Kunst in seiner Eigenlogik und seiner spezifischen Funktionsweise beschrieben werden muss. Dies gilt vor allem, wenn sich das Wissen der Kunst von dem psychologischmedizinischen Wissen grundlegend unterscheidet, aber gerade dadurch seine Produktivität gewinnen kann.

13  14 

Byung-Chul Han fasst Depression in seiner Interpretation von Melancholia dagegen, ohne dies zu spezifizieren, als „eine[ ] besondere[ ] Form der Melancholie“ (Byung-Chul Han: Agonie des Eros. 2. Aufl. Berlin 2015, S. 8). Pseudo-Aristoteles: Problemata XXX,1. Zit. n. Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und Kunst.  7. Aufl. Frankfurt a.M.  2013, S.  59. Melancholia installiert mit Justine eine weibliche Figur, die der Melancholie zugeordnet wird, und unterläuft somit die traditionell männliche Konnotation der Melancholie. Vgl. hierzu Eckart Goebel: Schwermut/Melancholie. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch. Hg. v. Karlheinz Barck u.a. Stuttgart, Weimar  2003, Bd.  5, S.  446-486, hier S. 449.

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Depressive Figuren Der Film beginnt nach der Aufblende mit einer Großaufnahme der Figur Justine. Die erste Szene zeigt – in Analogie zur Aufblende der Kamera und als selbstreferentielles Bild – lediglich das Öffnen der Augen der Figur in Slow Motion, während im Hintergrund tote Vögel vom Himmel fallen. Das zugrundeliegende ästhetische Verfahren, die Slow Motion, wird während der gesamten Eröffnungssequenz von gut 8 Minuten konsequent fortgeführt. Es dauere eine Weile, so die Literaturwissenschaftlerin Marta Figlerowicz, bis man merkt, dass sich die Figuren überhaupt bewegen.15 Der Film etabliert somit bereits in den ersten Minuten ein Verfahren, das eine ‚Ästhetik des Depressiven‘ umsetzt, indem die klinische Symptomatik aufgegriffen und filmisch transformiert wird. So ist im psychiatrischen Diskurs die Rede von der „langsame[n] Motorik“ des Depressiven sowie einer „Verlangsamung“16 im Denken und Erleben insgesamt. Mit dieser Ästhetisierung depressiver Symptome wird die in Slow-Motion-Großaufnahme gezeigte Justine als Kunstfigur und nicht als psychologisch zu füllende depressive Identifikationsfigur eingeführt. In Melancholia wird auch über den Paratext explizit auf das Thema Melancholie bzw. Depression hingewiesen. Im Epitext lässt sich die in der Figur Justine angelegte Kopplung des Depressiven mit der Produktivität des Melancholischen in der Figuration der Autor-Persona Lars von Trier finden, ein Autor, der sich bei öffentlichen Auftritten als Depressiver in Szene setzt und mit Antichrist (2009), Melancholia (2011) und Nymph()maniac (2013) einen Zyklus geschaffen hat, der als „Trilogie der Depression“17 geläufig ist.18

15  16  17 

18 

Marta Figlerowicz: Comedy of Abandon. Lars von Trier’s Melancholia. In: Film Quarterly 65, H. 4 (2012), S. 21-26, hier S. 21. Raymond Battegay: Depression. Psychophysische und soziale Dimension, Therapie.  3. Aufl. Bern 1991, S. 14, 33. Vgl. hierzu Sonja Lewandowski: Störungen im toten Winkel des Erlebens. Die Allegorie als Ausdrucksmittel des inneren und äußeren Untergangs in Lars von Triers Melancholia. In: Schlusspunkte. Poetiken des Endes. Hg. v. Markus Engelns / Kai Löser / Immanuel Nover. Würzburg 2017, S. 129-147, hier S. 143. Die neuere Forschung zur Autorfiguration oder Autorinszenierung betont die grundsätzliche Differenz zwischen dem (nicht fassbaren) empirischen Autor und seiner Selbstinszenierung. Somit ist hier eine mögliche Erkrankung des empirischen Autors nicht relevant, sondern lediglich seine (mediale) Inszenierung als Erkrankter. Vgl. hierzu https:// www.sueddeutsche.de/kultur/lars-von-trier-depression-laehmt-filmemacher-1.431840 (zuletzt geprüft am 25.10.2019).

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Im Peritext werden der Titel des Films und der Name Lars von Trier mit dem Finger in einen Asche- oder Kohleuntergrund gezeichnet; das Schreibmaterial ermöglicht nicht nur eine innovative ästhetische Form, sondern schlägt zugleich einen Bogen zu den im Vorspann gezeigten verbrannten Bildern und weckt durch die Farbgebung und das Material Assoziationen in Richtung des Depressiven – später wird die schwer depressive Justine feststellen, dass selbst ihr Lieblingsessen (Hackbraten) subjektiv nach Asche schmeckt. Die spezifische Ästhetik der Schrift und des Schreibens knüpft somit an die im Vorspann aufgerufene Ästhetisierung des depressiven Erlebens an. Der nach dem Vorspann einsetzende erste Teil des Films weist mit seinem Zwischentitel – „Part I Justine“ – auf die Fokussierung der Figur Justine hin und erzählt von dem Tag der Hochzeit, an dem Justine 1.) heiratet, 2.) von ihrem Chef von der Werbetexterin zur Art-Direktorin befördert, zugleich mit Arbeit belegt wird und sich schließlich mit ihm überwirft, 3.) ihren Ehemann betrügt und 4.) von diesem verlassen wird. Der skizzierte Plot des ersten Teils, der die Lösung der Figur Justine aus sämtlichen Kontexten – aus ihrer Ursprungsfamilie, aus ihrer Ehe und aus ihrer Arbeitsstelle – erzählt, korrespondiert mit der Darstellung der dysfunktionalen und hassgetränkten Familiensituation: Die geschiedenen Eltern beleidigen sich bei den Hochzeitsreden wechselseitig und ignorieren Justine vollkommen – abgesehen von dem ‚Ratschlag‘ der Mutter: „Enjoy it while it lasts. I myself hate marriages“. Der auf die Hochzeit und die damit einhergehenden Loslösungen folgende depressive Schub führt dann auch folgerichtig zu der Auflösung der Figur, die das sich andeutende Ende der Welt mit den Worten „The earth is evil. We don’t need to grieve for it“ begrüßt. Die These, dass Depressionen in der Gegenwart eng mit der Arbeitswelt und einer offensichtlich nicht tarierten Work-Life-Balance verknüpft sind, wird in Melancholia angedeutet: Das im Film angelegte dysfunktionale berufliche Setting – Justine bekommt auf ihrer Hochzeit von ihrem Chef mit ihrer Beförderung eine komplexe berufliche Aufgabe zugeteilt, die sie direkt am Hochzeitsabend lösen soll – wie auch die familiäre Dysfunktionalität ließen sich im Rahmen einer ‚Anamnese‘ als Faktor für die Depression fassen. Mehr noch: Die Figur ließe sich – insbesondere im zweiten Teil des Films, der die Depression und den Untergang der Welt erzählt – diagnostisch klassifizieren. F32.- Depressive Episode Bei den typischen […] Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. […]

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Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten ‚somatischen‘ Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust.19

Das Verständnis der Figur als depressiv im psychologisch-medizinischen oder im ästhetischen Sinne lässt sich folglich über zwei konträre Heuristiken absichern: Wird die ICD-10 in Anschlag gebracht, also das psychologischmedizinische diagnostische Instrumentarium nebst dem entsprechenden Wissen genutzt, behandeln wir zum einen die Figur im Film als zu analysierende Person20 und nicht als konstruierte (Kunst-)Figur und schaffen zum anderen Eindeutigkeit, indem wir die Polyvalenz der ästhetischen wie kreativen Fassung des Depressiven auflösen und dabei Verkürzungen in Kauf nehmen. Melancholia liefert ein Zeichensystem des Depressiven, in das die Figur Justine eingebunden ist. Wird das Verständnis der Figur als depressiv durch dieses Zeichensystem abgesichert – wobei der psychologisch-medizinische Diskurs im Sinne einer auf der ICD-10 basierenden Diagnostik abgeblendet werden kann – so wird der Blick nicht für die spezifische ästhetische Fassung des Depressiven verstellt. Unsere möglicherweise zunächst unscharf anmutende Formulierung, der Paratext von Melancholia verweise auf Melancholie bzw. Depression, gewinnt so erst ihre Berechtigung: Werden in der ICD-10 Depression (vor allem unter F32 codiert) und Melancholie (als merkwürdiger Restbestand bzw. als „früheres Konzept“21 noch in F33 erwähnt) deutlich unterschieden, so verortet Melancholia Depression und Melancholie in einer Figur und vermischt beide Konzepte. Justine erlebt im Film eine eindeutig depressive Episode, wird aber zugleich auch kreativ, um nicht zu sagen: genial handelnd produktiv und erschafft für das Kind ihrer verzweifelten Schwester Claire „kein[en] physische[n]“, aber dafür einen „metaphysische[n] Schutzraum.“22

19  20  21  22 

ICD-10, S. 335. So wird verfahren in: Frankenstein und Belle de Jour.  30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Hg. v. Stephan Doering / Heidi Möller. Heidelberg 2008. ICD-10, S. 336. Lewandowski: Störungen im toten Winkel des Erlebens, S. 130.

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Abb. 12.1

Justine, Claire und Leo in der „magic cave“. Melancholia. R.: Lars von Trier. Dänemark / Schweden / Frankreich / Deutschland 2011.

Die Reaktionen auf Justines „magic cave“ (Abb. 12.1) sind in den Gesichtern ablesbar: Claire sieht ihrem Namen entsprechend die unabwendbare Katastrophe und reagiert höchst emotional und verzweifelt. Ihr Sohn Leo dagegen vertraut Justines ‚Schutzraum‘; mit geschlossenen Augen und entspannten Gesichtszügen hält er die Hände der Schwestern. Justine selbst ist ebenfalls ruhig; sie hat die Augen geöffnet und scheint sich des Kommenden bewusst zu sein. Justine lässt sich hier klar dem Konzept des Melancholikers zuordnen, wie Hartmut Böhme es skizziert: Gewiß hält sich der Melancholiker in Distanz zur gesellschaftlichen Praxis. Aber er ist produktiv. Der Genius der Melancholie ist streng. Er duldet nicht den selbstmitleidigen Jammer oder die masochistische Faszination der Schwäche. Er fordert Mut für die Zeichen der Angst und Bedrohung, ein Wissen ohne Beschönigung, ein Gefühl ohne Verdrängung. Hierin läge vielleicht seine produktive Kraft: eine Form und eine Haltung im Blick des Todes zu finden.23

Genau in dieser Kopplung von zwei historisch und medizinisch sich ausschließenden Konzepten – also einer Kopplung zweier durch ihre Ungleichzeitigkeit zu definierender Konzepte – liegt das innovative Potential des Films24 und letztlich der Erzählung des Depressiven in der Kunst im Allgemeinen: Die Engführung des Depressiven und der Melancholie, die deutlich an vormalige, aber weiterhin wirkmächtige Melancholiekonzepte anknüpft, lässt sich psychologisch-medizinisch nicht abbilden, sondern wird erst im 23  24 

Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988, S. 272. Zur Kopplung von Melancholie und Depression vgl. auch: Lewandowski: Störungen im toten Winkel des Erlebens.

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ästhetischen Artefakt, in der Zeichnung der Figuren realisiert. Die Figur Justine kann nur durch das im Ästhetischen hergestellte und nur hier mögliche Hybrid von Melancholie und Depression ihre Funktion ausüben und ihre Rolle im Film einnehmen, d.h. eine produktive Kraft aus der depressiven Erstarrung entwickeln. Das vormalige und nun vermeintlich antiquierte Wissen der Medizin zur Melancholie wird im Medium der Kunst archiviert und aktualisiert, indem es in ein innovatives Konzept überführt wird. Dies lässt sich mit Hartmut Böhmes Überlegungen zum Bergbau veranschaulichen: Böhme zeigt, dass in den Erzählungen der Romantiker antiquierte Konzepte des Bergbaus aufgerufen werden, obwohl die Verfasser – allen voran Novalis – mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen Konzepten des Bergbaus bestens vertraut waren und im Tagesgeschäft mit diesen operierten. Die vormaligen natur-mystischen Konzepte verschwinden folglich nicht vollständig, wenn sie im System der Wissenschaft durch neue Konzepte als grundsätzlich falsifiziert gelten, sondern bleiben im System der Kunst erhalten.25 Wenn zuvor erwähnt wurde, dass Justine nicht als Identifikationsfigur eingeführt wird, so kommt es im Laufe der Hochzeits-Darstellung doch auch zu einer Psychologisierung dieser Figur. Der Film betreibt in Ansätzen gar eine Art Ursachenforschung in Bezug auf ihre Depression. Auf der Hochzeit berichtet Justine ihrer Mutter davon, dass sie Angst habe, woraufhin die Mutter sie mit den Worten „just forget it, get the hell out of here“ wegschickt. Auch ihren Vater bittet sie um ein Gespräch, das beim Frühstück am nächsten Morgen stattfinden soll. Diesem entzieht sich der Vater jedoch durch seine frühere Abreise. Sichtlich enttäuscht findet Justine im Morgengrauen einen Abschiedsbrief mit der wenig überzeugenden Ausrede: „I couldn’t find you and was offered a ride home I couldn’t refuse.“ Mit ihrer Hilfsbedürftigkeit bleibt Justine allein, es kommt kein emphatischer Kontakt zustande. Mit Ausnahme von Claire und ihrem Sohn Leo ist auch sonst niemand in Justines Umfeld fähig, ihr emotionalen Halt zu geben. Ihr Verhalten wird nun zerstörerisch. Als Reaktion auf die Zurückweisung durch die Eltern, die sie in eine passive und hilflose Lage bringen, nimmt Justine mehr und mehr eine aktive Position ein und sorgt ihrerseits für ein Nicht-Zustandekommen diverser Ereignisse: Die Ehe und ehelicher Sex kommen nicht zustande. Stattdessen schläft Justine vor Ort mit einem Arbeitskollegen. Auch die Beförderung zur Art-Direktorin kommt nicht zustande, da eine Hasstirade Justines gegenüber ihrem Chef 25 

„Gehört er [Novalis] als Montankundiger zur zweiten Revolution des Bergbaus, so greift er als Dichter auf die Legitimationsprobleme und die kulturelle Phantasmatik des Montanwesens zurück, die im 16. Jahrhundert unterzugehen begann.“ (Böhme: Natur und Subjekt, S. 57).

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folgt, die eine Kündigung impliziert. Der zuvor erteilte Arbeitsauftrag wird von ihr nie erfüllt, was zur Folge hat, dass ihrem Arbeitskollegen kein fester Job angeboten wird. Ebenso wird das Hochzeits-Rätsel, bei dem die Gäste die Anzahl mehrerer hundert Bohnen in einem Glas erraten müssen, nicht gelöst. Später behauptet Justine, dass sie die Lösung (678 Bohnen) gewusst habe. Es scheint, als würde sich Justine gegen jegliche – durchaus auch wohlwollende – Vereinnahmungsversuche wehren, sodass ihre Passivität als getarnte Aggressivität daherkommt und Depression als gefangener Wille gefasst werden kann. Als Ergebnis der psychologisierenden Hochzeits-Passage tauchen Justines Aggressionen nun gebündelt und in externalisierter Weise als Planet Melancholia auf. Mit diesem ‚Kunstgriff‘ gelangen wir von der Psychologisierung zur Ästhetisierung: Zur Darstellung von Justines aggressiver Depressivität greift Lars von Trier erneut auf altbekannte Melancholiediskurse zurück. Melancholia stellt einen prominenten Bezug zu Albrecht Dürers Werk her. So rückt Dürers Stich Melencolia I,26 der mit Martina WagnerEgelhaaf als das „Bild der Melancholie par excellence“27 verstanden werden kann, ebenfalls einen Himmelskörper ins Zentrum des Geschehens. Dieser ist räumlich mit einem Banner verbunden, das den Bildtitel trägt; Planet und Melancholie werden somit durch die Komposition des Bildes verknüpft. Der Vordergrund des Bildes wird von einer sinnierenden und damit untätigen Engelsgestalt eingenommen; zudem versammeln Vorder- und Mittelgrund eine Vielzahl von komplexen Symbolen, die mit dem Feld der Melancholie assoziiert werden können.28 Seit Dürer wird die Verbindung von Melancholie/ Depression mit einem Himmelskörper immer wieder hergestellt, etwa wenn Julia Kristeva in ihrer berühmten psychoanalytischen Studie zur Depression fragt: „Woher kommt diese schwarze Sonne? Von welcher sinnlosen Galaxie aus nageln mich ihre unsichtbaren und bleiernen Strahlen an den Boden, das Bett, die Stummheit, die Entsagung?“29 In David Foster Wallaces Erzählung Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache (1984) hingegen vergleicht die Erzählinstanz den Zustand unter der Einwirkung von Antidepressiva mit dem Leben auf einem anderen Planeten. Diese Medikamente seien eigentlich ganz okay, aber so, wie es okay wäre, auf einem anderen Planeten zu leben, wo es warm und gemütlich ist und Essen und frisches Wasser gibt: Es wäre 26  27  28  29 

Vgl. die Abb. im Beitrag von Hauke Kuhlmann im vorliegenden Band. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart, Weimar 1997, S. 62. Vgl. hierzu ebd., S. 63-65. Julia Kristeva: Schwarze Sonne. Depression und Melancholie. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2013, S. 11.

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okay, aber es wäre natürlich nicht die gute alte Erde. Ich war jetzt fast ein Jahr nicht mehr auf der Erde, weil es mir auf der Erde nicht besonders gut ging. Hier auf dem Planeten Trillaphon, wo ich jetzt bin, geht es mir etwas besser, und das dürfte für alle Beteiligten eine gute Nachricht sein.30

Gemäß der oben genannten These gilt in Bezug auf Melancholia, dass die Melancholie-Zitate strikt an die depressive Figur Justine gebunden bleiben, der Planet mit ihr identifiziert wird.

Abb. 12.2 Albrecht Dürer: Traumgesicht. Aquarell und Tinte auf Papier, 1525. Kunsthistorisches Museum Wien.

Als weiteren Topos einer Ästhetik des Depressiven greift Trier die Darstellung einer psychischen Krise als Apokalypse auf. Hier ließe sich Dürers Aquarell Traumgesicht anführen (Abb. 12.2), das der britische Schriftsteller und Keramikkünstler Edmund de Waal 2016 in den Mittelpunkt seiner Ausstellung During the Night im Kunsthistorischen Museum Wien stellte. Dürer selbst lieferte für sein Werk folgende Bildunterschrift: Im  1525 Jor nach dem pfinxstag zwischen dem Mitwoch und pfintzdag in der nacht im schlaff hab ich dis gesicht gesehen wy fill großer wassern vom himmell fillen Und das erst traff das erthrich ungefer 4 meill fan mir mit einer solchen grausamkeitt mit einem uber großem raüschn und zersprützn und ertrenckett das gannz lant In solchem erschrack ich so gar schwerlich das ich doran erwachett edan dy andern wasser filn Und dy wasser dy do filn dy waren fast gros und der fill ettliche weit etliche neher und sy kamen so hoch herab das sy im gedancken gleich langsam filn. aber do das erst wasser das das ertrich traff schir herbey kam do fill es mit einer solchen geschwindigkeit wynt und braüsen das 30 

David Foster Wallace: Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache. 2. Aufl. Köln 2015, S. 7f.

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Till Huber, Immanuel Nover ich also erschrack do ich erwacht das mir all mein leichnam zitrett und lang nit recht zu mir selbs kam Aber do ich am morgn auff stund molet ich hy oben wy ichs gesehen hett. Got wende alle ding zu besten31

De Waal beruft sich mit dem Titel der Ausstellung und dem Motiv der Apokalypse auf seine Erfahrung, nachts allein, machtlos und seiner Angst ausgeliefert zu sein: The volume of water makes the earth shake. The wind and the sound and the slowness of the deluge, the inevitability of this apocalypse is terrifying. I follow Dürer, his line of thinking, his moment of exposure. It is his aloneness that talks to me. He cannot control what is happening, only record what he remembers, what he sees, what he feels. This exactitude is not protection. It is a way of approaching what is happening when the world is unstable. During the night we are alone and vulnerable, the certainties disappear.32

Wo de Waal sich für Zustände interessiert, in denen, wie er formuliert, die Welt instabil wird, befasst sich auch Melancholia mit der Frage, was zu tun ist, wenn ein solcher Zustand eintritt. Das Szenario der sintflutartigen Katastrophe in Dürers Traumgesicht wird in der Bildunterschrift und in de Waals Kommentar mit einer psychischen Krise in Verbindung gebracht, die über das Individuum hereinbricht. De Waal nennt Dürers Erschrecken einen „moment of exposure“ und bezieht sich auf das Erleben des Instabil-Werdens aller vertrauten Zusammenhänge. Dürers Motive der Flut und des Fallens finden sich etwa auch in William Styrons  1990 erschienenem Werk Darkness Visible. A Memoir of Madness (deutscher Titel: Sturz in die Nacht. Die Geschichte einer Depression), mit dem Styron das Genre des ‚Depressions-Memoirs‘ prägte.33 Styron beschreibt den Beginn seiner Depression folgendermaßen: „Panik und Schwindel, das Gefühl, daß meine Gedankengänge von einer giftigen, nicht benennbaren Flut verschlungen wurden, durch die jegliche positive Reaktion auf die lebendige Welt ausgelöscht wurde.“34 Apokalypse oder Katastrophe werden also nicht nur von Dürer abstrahierend zur Darstellung von Depression gewählt. In Melancholia spiegelt die (externe) apokalyptische Katastrophe die (interne) psychische Krise des 31  32  33  34 

Albrecht Dürer: Traumgesicht [Bildunterschrift] (1525). Aquarell und Tinte auf Papier. Kunsthistorisches Museum Wien. Edmund de Waal: During the Night. (http://www.edmunddewaal.com/general-pages/ during-the-night, zuletzt geprüft am 27.08.2019). Vgl. etwa Sally Brampton: Shoot the Damn Dog. A Memoir of Depression. London 2008; Les Murray: Killing the Black Dog. A Memoir of Depression. New York 2011. William Styron: Sturz in die Nacht. Die Geschichte einer Depression. Köln 1991, S.  22, Herv. T.H. / I.N.

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Individuums; sowohl das Außen als auch das Innen werden instabil. Es kommt gewissermaßen zur inneren wie zur äußeren Apokalypse, realisiert im intertextuellen Bezug zu Dürer. Verfahren/Ästhetiken des Depressiven Die spezifische Ästhetik des Depressiven in Melancholia lässt sich bereits im Vorspann erkennen. Der Vorspann enthält nicht nur eine Art Kurzzusammenfassung des gesamten Films, sondern zeigt zudem bereits das Ende auf: Vorspann und Film enden mit der Kollision der Planeten und damit der Auslöschung der Erde. Den Zuschauenden ist somit schon zu Beginn klar, dass sie einen Film ohne Hoffnung auf ein Happy End sehen werden – die Hoffnungslosigkeit des Depressiven wird so performativ auf die Zuschauenden übertragen.35 Der Film weist eine Vielzahl von Verfahren auf, die sich einer Ästhetik des Depressiven zuordnen lassen. Drei Verfahren, Slow Motion, der Einsatz von Musik und die Montage der Bilder, werden im Folgenden genauer beleuchtet.36 Hier ist festzuhalten, dass diesen Verfahren nicht per se eine Ästhetik des Depressiven inhärent ist. So evoziert die im Vorspann genutzte Slow Motion ein Moment des Depressiven, indem Form (neben der Zeitlupe etwa die Einblendung eines ‚stillgestellten‘ Tableaus37) und Inhalt (verbrannte Bilder, reduzierte/sepiagetränkte Farbgebung, Musik von Wagner) gekoppelt werden. Slow Motion: Als erstes Verfahren, das die Ästhetik des Depressiven hervorbringt, lässt sich die reduzierte Geschwindigkeit des Vorspanns festhalten. Der Slow-Motion-Effekt in Melancholia lässt sich folgendermaßen überprüfen: Wird der Vorspann in normaler Geschwindigkeit betrachtet – die gut 8 Minuten Slow Motion reduzieren sich dann auf 19 Sekunden –, bleibt die ‚depressive‘ Wirkung aus. Als entscheidendes Moment dieser Slow Motion kann weniger die grundsätzliche Reduktion der Geschwindigkeit verstanden werden. Vielmehr entfacht die Verzögerung gerade in bestimmten Szenen eine besondere Wirkung. So wird insbesondere die Szene, in der Justine sich gegen einen Widerstand vorwärts zu kämpfen scheint, in der Verlangsamung besonders herausgestellt. 35  36  37 

Hierdurch unterscheidet sich Melancholia mit seiner Darstellung der Katastrophe vom „herkömmlichen Katastrophenfilm, [der] die Möglichkeit einer Rettung birgt.“ (Lewandowski: Störungen im toten Winkel des Erlebens, S. 135). Die drei beleuchteten Aspekte – Verlangsamung, Musik und Bilder – werden auch von Han in den Blick genommen. Vgl. Han: Agonie des Eros, S. 5-14. Vgl. hierzu Lewandowski: Störungen im toten Winkel des Erlebens, S. 135-137.

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Abb. 12.3

Till Huber, Immanuel Nover

Justine kämpft sich durch das ‚graue Garn‘.

Was zunächst wie eine Schlingpflanze aussieht, die Justine zurückhält und ihre Arme und Beine umklammert, wird von der Protagonistin später als graues Garn (Abb. 12.3) beschrieben: „I’m trudging through this grey, wooly yarn. It’s clinging to my legs. It’s really heavy to drag along.“ Mit diesem Bild beschreibt sie ihre Depression gegenüber ihrer Schwester mit verlangsamter Sprache und reduzierter Mimik, als sie sich vom Hochzeitsfest zurückzieht und fortan zusehends regrediert: Sie verlässt ihre Rolle als erwachsene Frau, legt ihr Brautkleid ab und nimmt ein Bad. Ähnlich wie in einer vorigen Szene, in der sich ihre Schwester Claire mit ihrem Sohn Leo auf dem Arm durch den morastigen Untergrund des Golfplatzes kämpfen muss, werden Elemente der Natur genutzt, um die kräftezehrende Bewegung gegen den Widerstand zu verdeutlichen. Die Slow Motion bewirkt, dass die Zuschauenden nun keinen hektischen und kraftvollen Kampf der Protagonistinnen erleben, vielmehr werden die Bewegungen zum einen ästhetisch überformt und zum anderen mit dem Anschein des Kraftlosen, Vergeblichen und Stagnierenden versehen. Hingegen wirkt Justines Kampf gegen die ‚Schlingpflanzen‘, wird die Szene in normaler Geschwindigkeit abgespielt, ganz anders: Hier scheint sich eine kraftvolle Frau erfolgreich vorwärts zu kämpfen. Überhaupt oszilliert Justine zwischen Erschöpfung und Potenz: Als starke Frau ist sie für ihren Neffen „Aunt steelbreaker“, posiert in der surrealistischen Anfangssequenz als Christus mit offenen Armen und entwickelt mit Blitzen in den Händen Superkräfte. Letzteres Motiv ließe sich allerdings auch als Anspielung auf die Behandlung von Depressiven mit Elektroschocks verstehen, womit Justine als psychisch versehrt gefasst wird und es abermals zu einer Ästhetisierung des medizinischen Diskurses kommt. Musik: Bereits der Vorspann wird von der Ouvertüre aus Richard Wagners Oper Tristan und Isolde (UA 1865) getragen. Wagners Musik, die in dem Film

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sehr prominent eingesetzt wird – neben Tristan und Isolde werden nur einige wenige andere Musikstücke zur Untermalung genutzt –, ist für die Diskussion der Ästhetik des Depressiven hauptsächlich aus zwei Gründen relevant: Zum einen nutzt der Film keine für ihn produzierte Musik, sondern greift auf das kanonische Stück von Wagner zurück. Im Sinne einer musikalischen Intertextualität ruft Melancholia durch die Musik das Thema der Oper auf, die Isoldes Liebestod erzählt; die Oper endet mit der letzten Regieanweisung: „Wie verklärt sinkt sie sanft in Brangäne’s Armen auf Tristans Leiche. – Große Rührung und Entrücktheit unter den Umstehenden. Marke segnet die Leichen. Der Vorhang fällt langsam.“38 Kurz zuvor hören wir die letzten Worte der sterbenden Isolde: In des Wonnenmeeres wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Duft-Wellen tönendem Schall, in des Welt-Athem’s wehendem All – ertrinken – versinken – unbewußt –, höchste Lust!39

Durch die intertextuelle Referenz wird ein Aspekt fokussiert, der in den bisherigen Überlegungen noch abgeblendet wurde: So wie Isolde in „höchte[r] Lust“ im „wehende[n] All“40 versinkt und sich selbst auslöscht, so gibt sich auch Justine der lustvollen Auslöschung hin und versinkt in der Melancholie, wenn sie nackt im Licht des die Erde zerstörenden Planeten Melancholia badet: „Diese Szene erweckt den Eindruck, als sehnte Justine den tödlichen Zusammenstoß mit dem atopischen Himmelskörper geradezu herbei. Die nahende Katastrophe erwartet sie wie eine beglückende Vereinigung mit dem Geliebten.“41 Die zuvor formulierte Frage, welche Handlungsoptionen in einer Situation bestehen, in der die äußere und die innere Welt instabil werden, wird von Claire und Justine konträr beantwortet: Die rationale Claire verzweifelt angesichts ihrer Ohnmacht, der Katastrophe produktiv zu begegnen. Justine hingegen, die die innere Instabilität nicht nur durch die äußere Katastrophe 38  39  40  41 

Richard Wagner: Tristan und Isolde. Leipzig 1859, S. 110. Ebd., S. 109f. Ebd., S. 110. Han: Agonie des Eros, S. 9.

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erlebt, sondern zudem eine bereits im Vorfeld grundsätzlich instabile Situation verkörpert, gelangt zum Handeln und sieht dem Einschlag des Planeten – und damit dem Ende der Welt – vollkommen gefasst entgegen. Sie vermag sogar aus ihrer depressiven Isolation42 auszubrechen und altruistisch tätig zu werden – die vormals instabile Familie erfährt im Moment der Katastrophe eine Heilung: „Befreit aus ihrer narzisstischen Gefangenschaft, wendet sich Justine auch fürsorglich Claire und ihrem Sohn zu. Die wirkliche Magie des Films ist Justines wundersame Verwandlung von einer Depressiven zur Liebenden.“43 Somit schlägt „[d]as desaströse Unheil […] unerwartet in Heil um.“44 Die Bedingung für den Umschlag ist aber die unmittelbar drohende Katastrophe. Mittels der im Film zu beobachtenden Intertextualität wird somit nicht nur auf ein anderes Kunstwerk – die Oper – verwiesen, sondern zudem die mögliche Lesart des Films um einen weiteren Aspekt bereichert: Der lustvolle Untergang ist zwar im Film angelegt, wird aber erst durch den intertextuellen Verweis herausgestellt.45 Die Musik aus Tristan und Isolde wirkt jedoch nicht nur durch das skizzierte intertextuelle Verfahren, sondern auch durch die Innovationskraft des sogenannten Tristan-Akkords. Der Akkord, den Ernst Kurth als „wunderbar beängstigende[n] Klang“46 bezeichnet und Altug Ünlü als „Kunststück innovativer Verfremdung“47 definiert, erweist sich musiktheoretisch bzw. funktionsharmonisch als komplex. Insbesondere die chromatischen Elemente und die Sprengung der harmonischen Ordnung weisen über die kompositorischen Verfahren zur Zeit Wagners hinaus: So wird etwa die Dissonanz nicht mehr aufgelöst, was auch für das Geschehen in Melancholia zutrifft. Die Musik 42  43  44  45 

46  47 

„Das narzisstisch-depressive Subjekt […] ist weltlos und verlassen vom Anderen.“ (Ebd., S. 7, Herv. i. Orig.). Ebd., S. 10. Ebd., S. 15. Als lustvoller Untergang ließe sich Melancholia auch mit Kristeva verstehen. Justines ‚Aufblühen‘ angesichts der Katastrophe könnte damit zu tun haben, dass sich ihre Depression endlich als Objekt begreifen lässt. Bei Kristeva heißt es über die Schwermut des Depressiven, sie sei „der archaischste Ausdruck einer nicht symbolisierbaren, unnennbaren und so frühen Verletzung, daß kein äußeres Agens (Subjekt oder Objekt) ihr zugewiesen werden kann.“ Die Schwermut selbst sei ein „Ersatzobjekt, an das er sich bindet, das er, mangels eines anderen, hegt und pflegt“. Der Suizid (oder in unserem Fall: die Freude über die Apokalypse) käme dann der „Vereinigung mit der Schwermut“ gleich „und, über sie hinaus, mit jener unmöglichen, niemals berührten Liebe, die gleich den Versprechen des Nichts, des Todes, immer anderswo ist.“ (Kristeva: Schwarze Sonne, S. 20). Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan. Bern 1920, S. 42. Altug Ünlü: Der ‚Tristan-Akkord‘ im Kontext einer tradierten Sequenzformel. In: Musiktheorie 2 (2003), S. 179-185, hier S. 179.

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wirkt somit auf zwei Ebenen, unmittelbar durch ihren Klang und vermittelt durch das intertextuelle Verfahren, das auf die Handlungsebene von Wagners Oper (Liebestod, lustvoller Untergang) verweist.

Abb. 12.4

Pieter Bruegel: Die Jäger im Schnee. Öl auf Eichenholz, 1565. Kunsthistorisches Museum Wien.

Bildmontage: Die mehrmalige und prominente Zitation von Pieter Bruegels Ölgemälde Die Jäger im Schnee (Abb. 12.4) folgt einem ähnlichen Verfahren wie die Zitation der Musik: Zum einen lässt sich das Bild ‚textimmanent‘ lesen; neben der kalten und unwirtlichen Schneelandschaft, die den heimkehrenden Jägern als Ausbeute der Jagd lediglich einen Fuchs zugesteht, fallen die eingeschneiten Häuser des Dorfes sowie die winterlichen Freizeitaktivitäten ins Auge. Wenngleich Armut, Kälte und Hunger drohen, so lassen sich dennoch positive Elemente wie Gemeinschaft und Heimat ausmachen. Die prominente Zitation des Bildes in Melancholia (sowohl durch die Tableaus des Vorspanns als auch in der Diegese des Films) findet in einem geradezu konträren Setting statt. Im ersten, mit „Justine“ betitelten Abschnitt zeigt der Film im Detail die zerrütteten Familienverhältnisse und das Scheitern der Hochzeit – hier kommt ein Gemeinschaftsgefühl gerade nicht zustande. Die Interaktion Justines mit ihrer Mutter lassen die Deprivation erahnen, die Justine erfahren musste. Umso erstaunlicher ist es, dass Justine im Angesicht der Katastrophe

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Till Huber, Immanuel Nover

in der Lage ist, mit ihrer ‚magischen Höhle‘ – im Sinne eines „transzendentale[n] Bewältigungsversuch[s]“48 – eine Art Gemeinschaft und Heimat zu erschaffen, als Antwort auf einen Zustand, in dem die Welt aus den Fugen gerät. Der symbolische Schutzraum lässt sich als heilsam in Bezug auf das Kindheitstrauma lesen und fungiert möglicherweise als versöhnendes Moment im Anblick einer aussichtslosen Situation, der eine deprimierende Sozialisation vorausging. Auf der zweiten Ebene lässt sich das Bild wie der Wagner-Verweis als Zitat eines Zitats verstehen.49 Auch im Science-Fiction-Film Solaris (1972, Regie: Andrej Tarkowskij), der auf dem gleichnamigen Roman von Stanisław Lem basiert, wird das Bild prominent platziert. Wie in Melancholia spielt auch in Solaris die Präsenz eines fremden und rätselhaften Planeten eine Rolle – der Planet Solaris bildet den Handlungsort. In der entsprechenden Szene wird Die Jäger im Schnee, das sich in einer Raumstation auf Solaris befindet, in ausschnitthaften Details mehrere Minuten lang gezeigt. Im sehnsüchtigen und melancholischen Blick erscheint die Erde so als „verlorenes Naturparadies“50 und wird mit sinnerfüllten Kindheitserinnerungen assoziiert. Korrespondierend mit Justines Erfahrung wurde das Bild, wie es in Solaris montiert ist, auch mit Einsamkeit und dem Nicht-Zustandekommen von Kommunikation in Verbindung gebracht: [T]he Bruegel, with its grey tonalities and its icy greens and whites, transmits a sense of cold, of solitude, of incommunicability. We see on the screen hunters (and their dogs), lugubrious and dark, men for whom the violent impulse which killing presupposes has nothing to do with a will to live, is not dictated by the necessity for survival; rather, they seem enclosed in an armor of ice which prevents contact with or comprehension of the Other.51

Daneben besteht eine Gemeinsamkeit der Filme Melancholia und Solaris darin, dass sie Erfahrungen von Verlust, Melancholie und Depression thematisieren, wobei in beiden Fällen Stilmittel wie Slow Motion bzw. Verlangsamung zum Einsatz kommen.52

48  49  50  51  52 

Lewandowski: Störungen im toten Winkel des Erlebens, S. 130. Vgl. ebd., S. 138. Lewandowski, an die hier angeschlossen wird, spricht von einer Zitation im „doppelten Sinne“. Oksana Bulgakowa: Soljaris (Solaris). In: Metzler Film Lexikon. Hg. v. Michael Töteberg. Stuttgart, Weimar 1995. S. 546-547, hier S. 546. Simonetta Salvestroni: The Science-Fiction Films of Andrei Tarkovsky. In: Science-Fiction Studies 14, H. 3 (1987), S. 294-306, hier S. 299. Vgl. hierzu in Solaris Bulgakowa: Soljaris, S. 547.

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Zur Konstruktion einer Ästhetik des Depressiven Ausgehend von der Beobachtung der in Melancholia eingesetzten Verfahren wurde eine Lesart entfaltet, die eine Ästhetik des Depressiven nicht durch medizinisch-psychologische Diagnostik, sondern durch ästhetische ‚Diagnostik‘ absichert. Das medizinisch-psychologische Wissen wurde folglich abgeblendet und ein ästhetisches Wissen in Anschlag gebracht. Am Beispiel von Melancholia lässt sich zeigen, wie diese Ästhetik des Depressiven konstruiert wird: Der Prolog setzt mit der Musik aus Wagners Tristan und Isolde ein, die Leinwand bleibt die ersten Sekunden schwarz. Eingangs wird mit maximaler Slow Motion das Augenöffnen der Protagonistin Justine gezeigt; diese Sequenz dauert ca. 45 Sekunden und wird mit den Bildern von dunklen Vögeln, die langsam vom Himmel fallen, beendet. Die gesamte Sequenz zeichnet sich durch eine dunkle Sepiafärbung aus. Der Film beginnt folglich mit Bildern und ästhetischen Verfahren, die in der Kombination von Slow Motion, Musik, Farbgebung und toten, vom Himmel fallenden Vögeln ein Bedeutungsparadigma öffnen, das ästhetisch und kulturell mit dem Bereich des Apokalyptischen und Depressiven verknüpft ist. Die folgenden Bilder bestätigen dieses Paradigma. Die initiale Lesart des Depressiven ergibt sich folglich nicht nur aus der syntagmatischen Bestätigung durch die folgenden Bilder, sondern auch aus einer paradigmatischen Verortung der Bilder im kulturellen Archiv – wir erkennen das Depressive (wieder), da wir das Depressive kennen.

Hauke Kuhlmann

Traurige Hunde

Beobachtungen zum Melancholiediskurs der Gegenwart in Marion Poschmanns Hundenovelle Die Melancholie ist alt geworden. Folgt man dem Sprachgebrauch der Psychologie (und dem anderer Diskurse, s.u.), dann ist mit ‚Melancholie‘ vor allem ein nunmehr historisch gewordener Begriff gemeint, der sich auf den der Depression reduzieren lässt.1 Unabhängig von der Frage, ob das Krankheitsbild der Depression mit jenem der Melancholie, soweit sich letzteres aus den historischen Quellen überhaupt genau rekonstruieren lässt, gleichzusetzen ist oder nicht, besteht ein entscheidender Unterschiede darin, dass beide Begriffe eine je eigene Geschichte besitzen, wodurch sie mit je anderen Erfahrungen und Wissensbeständen gesättigt sind. Das führt zu voneinander abweichenden 1  Der ICD zufolge gehört Melancholie zu jenen „früheren Konzepten“, mit denen die „schwereren Formen der rezidivierenden depressiven Störung“ viel gemeinsam haben (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme.  10. Revision. German Modification (ICD-10-GM). Version  2019; https://www. dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/block-f30f39.htm, zuletzt geprüft am 21.2.2020). Ähnliche Bestimmungen des Melancholiebegriffs und seiner Verwendung finden sich im Pschyrembel: Melancholie ist eine Bezeichnung für den „Zustand der Schwermut u. Traurigkeit, als Krankheitsbild im 20. Jahrhundert weitgehend durch den Begriff der Depression ersetzt“ (Jürgen Markgraf u.a. (Hg.): Pschyrembel. Psychiatrie, Klinische Psychologie, Psychotherapie. Berlin, New York  2009, S.  507). Im ‚Pschyrembel Online‘ wird Melancholie ohne Umschweife zu einem „[h]istorische[n] Begriff“ erklärt (https://www.pschyrembel.de/Melancholie/K0DWT/doc/, zuletzt geprüft am 21.2.2020). Auch Alain Ehrenberg geht in seinem Essay Das erschöpfte Selbst (1998) in dieser Weise vor, wenn er das Verhältnis der Begriffe ‚Melancholie‘ und ‚Depression‘ zu bestimmen versucht. Nach Ehrenberg geht das mit der Melancholie verbundene Leidensbild in das der Depression über, der Begriff ‚Melancholie‘ geht in die Begriffsbildung der Depression mit ein (vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. 2. Aufl. Frankfurt a.M., New York 2015, S. 42f., 55f.). Nunmehr als historische Kategorie betrachtet, zielte ‚Melancholie‘ auf den exzeptionellen Einzelnen, ‚Depression‘ hingegen zielt auf die Allgemeinheit: „Wenn die Melancholie eine Eigentümlichkeit des außergewöhnlichen Menschen war, dann ist die Depression Ausdruck einer Popularisierung des Außergewöhnlichen“ (ebd., S.  288). Die Verwendungsweise in der gegenwärtigen Psychologie ist allerdings nicht einheitlich, sodass vereinzelt weiterhin von ‚Melancholie‘ die Rede ist (vgl. etwa Hans Jürgen Möller / Gerd Laux / Hans-Peter Kapfhammer: Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie.  4. Aufl. Heidelberg  2011, Bd.  1, S.  369, 392, 395). Vgl. dazu grundsätzlich Stanley W. Jackson: Melancholia and Depression. From Hippocratic Times to Modern Times. New Haven, London 1986.

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Begriffshorizonten. Für den Melancholiebegriff und -diskurs sind insbesondere die griechische und arabisch-islamische Philosophie, Medizin und Wissenschaft der Antike und Neuzeit, die christliche Religion sowie unterschiedliche mediale Repräsentationsformen relevant.2 Ein solcher Traditionshintergrund trägt sicherlich zur Auratisierung dieses nummehr als historisch verstandenen Begriffes bei. Er darf sich, weil er vom streng definitorischen Gebrauch entpflichtet ist, jene Mehrdeutigkeit erlauben, die ihm seit jeher zukommt. Auch aufgrund ihrer Ausstrahlung und Ambivalenz ist der Melancholie ein Überleben wenigstens als Topos oder Topos-Arsenal gesichert, das zumal die Literatur für sich nutzen kann. Textliche Bezüge dieser Art zielen dann auf einen tradierten Diskurs, der selbst über ein „ausgeprägte[s] Traditionsbewußtsein“3 verfügt. Die Reihe der Melancholiedarstellungen zitierend, wird der Text selbst Teil dieser Reihe. Derartige Einschreibungen reichen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein und begegnen insbesondere in der neuen und neuesten Lyrik. So bezeichnet Durs Grünbein mit generalisierendem Gestus Melancholie als die „Grundtonart des Seins“4 und lässt sie im Gedicht Die Welt in der Streichholzschachtel als ein „inwendiges Echo / Auf die Statik der Dinge“ dafür eine „Lehre“ sein, diese Statik mithilfe der Kunst aufzulösen und hierdurch die Welt „erträglich“5 zu machen. Zu nennen sind auch AutorInnen wie Ulrich Zieger, dessen Gedicht anno domini 1514 auf das Entstehungsjahr von Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I verweist und sich dem „engel der melancholie“6 widmet, Marion Poschmann, die in ihrem Gedicht Geometrien der Melancholie u.a. auf wissenschaftsgeschichtliche Dimensionen der Melancholie (Geometrie) angespielt,7 Jürg Halters Ich bin ein schwarzer, in die Mitte des Denkens fliehender Punkt,8 Anne Seidels Hygiene der Angst I,9 2  Die Geschichte der Melancholie ist vielfach beforscht worden. Ich verweise an dieser Stelle lediglich auf Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst.  8. Aufl. Frankfurt a.M. 2015; Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart, Weimar 1997, bes. S. 8-11; siehe auch die sehr brauchbare Anthologie von Peter Sillem (Hg.): Melancholie oder Vom Glück, unglücklich zu sein. Ein Lesebuch. Frankfurt a.M. 2016. 3  Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 196. 4  Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001, S. 56. 5  Durs Grünbein: Koloss im Nebel. Gedichte. Berlin 2012, S. 84. 6  Ulrich Ziegler: Aufwartungen im Gehäus. Berlin, Hörby 2011, S. 25. 7  Marion Poschmann: Grund zu Schafen. Gedichte. Frankfurt a.M. 2004, S. 23. Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie, S. 468-472. 8  Jürg Halter: Ich habe die Welt berührt. Gedichte. Zürich 2005, S. 5-7. 9  Anna Seidel: Chlebnikov weint. Gedichte. Leipzig 2015, S. 25.

zum Melancholiediskurs der Gegenwart

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Norbert Hummelts Gedicht melancholie, das einen Zustand der Trauer beschreibt und dabei mit typischen Vergänglichkeitstopoi arbeitet („alte[r] friedhof“, „staub“),10 oder Steffen Popp, der in seinem Gedichtband Wie Alpen das Thema der Melancholie über die tradierte Saturnikonographie mit jenem Planeten in Verbindung bringt, auf dessen Einfluss melancholische Zustände immer wieder zurückgeführt wurden.11 Auch im Bereich der Prosa finden sich Anleihen,12 u.a. in Bodo Kirchhoffs Roman Verlangen und Melancholie oder in Marion Poschmanns Hundenovelle, die in bemerkenswert dichter Weise auf Topoi und historisches Wissen über Melancholie rekurriert. Poschmanns Erzählung soll im Folgenden im Zentrum stehen, weil hier unter Rückgriff auf das Konzept der Melancholie bzw. im Modus eines melancholischen Weltverhältnisses eine kritische Abkehr von der gesellschaftlichen Realität dargestellt wird. Das Konzept der Melancholie wird hier nutzbar gemacht, um einen Abstand zur Gegenwart zu gewinnen, was auch die Loslösung von der modernen Arbeitswelt mit einschließt. Poschmann schreibt sich so in aktuelle Diskurse, die sich kritisch mit der Gegenwartsgesellschaft auseinandersetzen, ein und reaktiviert zugleich den alten Topos von der ‚schöpferischen Melancholie‘, indem es gerade die melancholische Protagonistin ist, die den Text erzählend hervorbringt. Allerdings ist nicht nur die Erzählerin des Textes als melancholisch zu bezeichnen. Auch die vom Text, der selbst als eine Art Gedächtnis des Melancholiediskurses fungiert, nahegelegte Lektürehaltung lässt sich in gewisser Weise als melancholieaffin verstehen.13 10  11 

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Norbert Hummelt: Fegefeuer. Gedichte. Berlin 2015, S. 79. Steffen Popp: Wie Alpen. Gedichte. Idstein  2004. Vgl. Nora Sdun: Vorgebirge ikonografischer Ermittlung (http://www.textem.de/index.php?id=718, zuletzt geprüft am 21.2.2020). Zum Verhältnis von Melancholie und neuerer Lyrik vgl. auch Björn Hayer: Heilsame Schwermut. Melancholielyrik im Spannungsfeld zwischen Krisendiagnose und -therapie. In: Krise. Mediale, sprachliche und literarische Horizonte eines viel zitierten Begriffs. Hg. v. Laura Kohlrausch / Marie Schoeß / Marko Zejnelovic. Würzburg 2018, S. 151-168, hier S. 162-165. Vgl. zu solchen Aneignungen insbesondere Nerea Vöing: Arbeit und Melancholie. Kulturgeschichte und Narrative in der Gegenwartsliteratur. Bielefeld  2019; die (begrifflich etwas unscharfen) Ausführungen von Wolfgang-Michael Böttcher: Vom „Verschwinden“ des Ichs. Gegenwartsliteratur zwischen Melancholie und Sehnsucht. In: Das Lachen des Dionysos. Nietzsche und die literarische Moderne. Vorträge zur Literatur beim Heinrich-von-Veldeke-Kreis. Hg. v. Thomas Maier. Essen  2002, S.  144-166 und die Hinweise bei Claudia Gremler: Utopien, Epiphanien und Melancholie. Der Norden als Imaginationsraum in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien. Hg. v. Martin Huber u.a. Berlin 2012, S. 177-191. Poschmanns Erzählung wurde von Björn Hayer (Melancholische Kreativität. Marion Poschmann: Hundenovelle. In: Ders. / Gabriela Scherer: Vermessungen. Neuere Ten-

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Hauke Kuhlmann

Melancholie und Widerstand in Marion Poschmanns Hundenovelle „Melancholia balneum diaboli est.“14 – Melancholie ist das Bad des Teufels. Dieses in der Frühen Neuzeit gebräuchliche Sprichwort, in dem von christlicher Seite aus Melancholie als Problem gefasst wird,15 schreibt die namenlos bleibende Protagonistin in der Hundenovelle auf Postkarten, die sie an all jene schickt, mit denen sie einst im Kontakt stand. In Poschmanns Text berichtet die als Melancholikerin markierte Figur davon, wie sie sich nach dem Tod ihrer Mutter und dem Verlust ihrer Arbeitsstelle bewusst von ihrem Umfeld isoliert. In dieser selbstgewählten Einsamkeit läuft ihr ein schwarzer Hund zu, der sich, sehr zu ihrem Missfallen, nicht wieder von ihr trennen will. Der Text endet damit, dass der von der Protagonistin ausgesetzte Hund entkräftet zu ihr zurückkehrt und stirbt, woraufhin sie dann schließlich in einer Art Totalitätserfahrung in der sie umgebenden Landschaft aufgeht. Dass es sich bei der Erzählerin in Poschmanns Hundenovelle um eine Melancholikerin handelt bzw. dass sie auf das Modell der Melancholie bezogen wird, wird durch die vielen, im Text verwendeten Melancholie-Topoi ersichtlich. Eine solche Zuordnung ist allerdings allein von der Handlungsebene her betrachtet nicht zwingend. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Verweise auf Dürers Stich Melencolia I (Abb. 13.1), die den Beginn der Erzählung dominieren: Ich saß auf den Eingangsstufen einer verrammelten Baracke. Die Betontreppe strahlte die Wärme des Tages ab, es dämmerte. Unter den Baumkronen kreiste die erste Fledermaus. Ihr Zackenflug. […] Hier lagen 10-Zoll-Nägel, rollte eine schmutzige Spritze auf den Stufen, im Gras verrotteten alte Werkzeuge, Säge,

14  15 

denzen in der Gegenwartsliteratur. Konzepte für den Unterricht. Trier  2016, S.  27-37) und Vöing: Arbeit und Melancholie, S.  105-117, auf das Thema der Melancholie, ihre Topoi und auf kritische Impulse, die sich für die Hundenovelle aus diesem thematischen Bezug ergeben, hin befragt. Vöings Arbeit widmet sich im Besonderen der „Verbindung einer sich wandelnden Arbeitsrealität der Spätmoderne mit der Melancholie resp. einer melancholischen Ästhetik in der Literatur“ (ebd., S.  15); sie tut das in sehr viel ausgreifender Weise, als ich es hier leisten kann. Hayers und Vöings Überlegungen berühren sich stellenweise mit meinen, beispielsweise dann, wenn den Bezügen auf Dürers Melencolia I nachgegangen wird (vgl. Vöing: Arbeit und Melancholie, S. 106f.). Marion Poschmann: Hundenovelle. Frankfurt a.M. 2008, S. 120. Im Folgenden im Haupttext mit der Sigle H und Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. zu diesem Sprichwort  H.-Günter Schmitz: Das Melancholieproblem in Wissenschaft und Kunst der frühen Neuzeit. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 60 (1976), S. 135-162, hier S. 143.

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Hammer, Hobel, als hätte jemand seine Arbeit nur kurz unterbrechen wollen, aber dann war diese Unterbrechung angewachsen, das Gelände in einen dauernden Dämmerungszustand gefallen. Sollbruchstelle, die nachgab, durch die jahrelang Sand rann. Zeit verging mit einem kratzenden Geräusch. Ich hielt meinen Kopf auf die geballte Faust gestützt und starrte über die verwilderte Wiese. […] Mein Gesicht schwarz. Die Augen leuchteten. Ich wußte sie leuchten in der Dämmerung, ich spürte die riesigen Pupillen, den Widerschein, das menschliche Weiß. […] Ein schwarzes Tier stricht aus dem Gebüsch und rollte sich zu meinen Füßen ein. Ich achtete nicht darauf. Es war ein Hund unbestimmter Rasse. (H 5-7)

Abb. 13.1

Albrecht Dürer: Melencolia I. 1514. Kupferstichkabinett, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

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Wie jene Bildfigur in Dürers Stich sitzt die Protagonistin in Poschmanns Erzählung auf einer Stufe.16 Die Fledermaus und ihr „Zackenflug“, Nägel, Säge, Hammer und Hobel, der Sand und die vergehende Zeit, die charakteristische Kopf-Hand-Haltung des Melancholikers, das schwarze Gesicht und die hellen Augen, schließlich der Hund: Das alles lässt sich als Bildelement bereits bei Dürer finden. Wenn es wenige Seiten später über den Hund heißt, er „rollte sich zusammen und bettete den Kopf neben die Hinterläufe“ (H 13), dann wird hier der bildlichen Darstellung des Stichs ziemlich genau entsprochen. Weitere wichtige Toposreferenzen betreffen den Hund, der der Protagonistin zuläuft. Er galt als „typisches Saturntier“,17 d.h. als ein demjenigen Planeten zugeordnetes Tier, auf dessen Einfluss melancholische Zustände zurückgeführt wurden. In diesen Zusammenhang wichtig ist auch die Farbe ‚schwarz‘ (vgl. H 10 u.ö.), die zum Begriff der ‚schwarzen Galle‘ gehört, die seit der Antike für das Entstehen melancholischer Anfälle und Zustände verantwortlich gemacht wurde. Hinzu kommen Topoi wie Trägheit (H 6), der dem Melancholiker unterstellte Geiz (H 45 u.ö.), der „Trieb zur Einsamkeit“, der nach Johann Georg Zimmermann „das allgemeinste Symptom der Melankolie“18 sei (H 70 u.ö.), schlechter Geruch (H 44 u.ö.), Themen der Verdauung und Ausscheidungen (H 18 u.ö.), die immer wieder zum Gegenstand von Erörterungen über die Melancholie wurden, und die vier Säfte der Humoralpathologie und deren Qualitäten (kalttrocken, warm-feucht etc.) (H 23 u.ö.). Schließlich erinnert der Text an jener Stelle, an der sich die Protagonistin im Spiegel als einen Hund sieht („Aus dem Spiegel starrte mich ein Hundekopf an.“ (H 91)), an den seit der Spätantike beschriebenen Wahn des Melancholikers, sich in einen Wolf (Lykanthropie) oder in ein anderes Tier, wie einen Hund (Cynanthropie), verwandelt zu haben.19 Poschmanns Erzählung handelt von den Chancen einer Bewusstseinshaltung und eines Erfahrungsmodus, die hier mit dem tradierten Modell der Melancholie im Sinne eines „Deutungs-, Haltungs- und Identifikationsbegriff[s]“20 verknüpft sind. Diese Chancen liegen in einem Widerstands16  17  18  19  20 

Zur Beschreibung und Deutung von Dürers Stich vgl. Hartmut Böhme: Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt a.M. 1989. Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie, S. 455. Vgl. zu den im Folgenden aufgelisteten Topoi, die in der Hundenovelle aufgegriffen werden, die in Anm. 2 genannte Literatur. Johann Georg Zimmermann: Ueber die Einsamkeit. Leipzig  1784, Bd. II, S.  159; vgl. Sillem: Melancholie, S. 130. Zur Lykanthropie des Melancholikers vgl. Jackson: Melancholia and Depression, S. 345-351. Ludwig Völker: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie? Beispiele und Thesen aus literaturwissenschaftlicher Sicht. In: Melancholie. Spektrum Literatur. Literarische

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potential, das der Melancholie zugesprochen wird.21 Poschmann begreift sie in ihren poetologischen Texten als eine „Verweigerungshaltung“, die sich aus einem „übermäßigen Bewußtsein des unausweichlichen Todes“22 speist. Aus dieser Haltung heraus erteilt der Einzelne gängigen gesellschaftlichen Forderungen sowie Handlungs- und Rollenangeboten eine Absage: Dem Melancholiker bieten in einer radikal vergänglichen Welt die weltlichen Vergnügungen keinen Trost. Er ist infolgedessen nicht der geborene Konsument, er zeigt sich nicht anfällig für leere Versprechungen und fühlt sich nicht verpflichtet, sogenannten Sachzwängen Folge zu leisten. Er hält die politisch und auch ästhetisch präsentierten Lösungen für Angebote einer Scheinidentität, in der das Individuum mit sich selbst und der Welt in Übereinstimmung gebracht werden soll, auf Kosten der (Selbst-)Erkenntnis.23

Aus einer solchen kritischen Distanz zur gesellschaftlichen Realität entsteht sodann die Möglichkeit zu phasenweiser „Besinnung“.24 Melancholie sei des Weiteren ein kontemplativer, Passivität nahelegender Zustand: ein Zustand des „Grübelns und Sinnierens, der absoluten Handlungslosigkeit“, der „Sinnlosigkeit, in dem nichts passiert und nie wieder etwas passieren kann“.25 Einer solchen Haltung ist ein emphatischer Begriff von Tätigkeit, von absichtsvollem, zielgerichtetem und Macht beweisendem Handeln, zumindest aber jeder Aktionismus suspekt. Dem entsprechend erscheint der Protagonistin der Hundenovelle Handlungsfähigkeit denn auch als „imaginäre Struktur“; zu handeln ist vielmehr ein sinnloses Unterfangen, da die Dinge „von selbst“ (H 69) geschehen. Dem korrespondiert eine zunehmende Passivität und eine „eigenartige Trägheit“ (H 6) der Figur: „Ich tat nichts mehr.“

21 

22  23  24  25 

Abende zu menschlichen Themen  1. Hg. v. dem Prorektor für Forschung und Wissenschaftlichen Nachwuchs, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Münster 1998, S. 5-26, hier S. 18. Wolf Lepenies hat Melancholie – besonders mit Blick auf Utopieentwürfe – als Phänomen der Unordnung gefasst, das im Gegensatz zur sozialen Ordnung stehe (vgl. Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt a.M.  1998, S.  17).Vgl. zum kritischen Potential von Melancholie Hartmut Böhme: Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik. In: Ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988, S. 256-273 und Vöing: Melancholie und Arbeit, u.a. S. 21. Marion Poschmann: Über Unsichtbarkeit. In: Dies.: Mondbetrachtung in mondloser Nacht. Über Dichtung. Frankfurt a.M. 2016, S. 19-27, hier S. 23. Ebd. Ebd., S. 24. Marion Poschmann: Kunst der Überschreitung. In: Dies.: Mondbetrachtung in mondloser Nacht, S. 133-196, hier S. 174.

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(H 117) Wenn sie dann doch einmal versucht zu handeln, beispielsweise einen Schlafkorb für den Hund zu beschaffen, oder ihrer sterbenden Mutter Beistand zu leisten, dann gehen die Dinge immer wieder schief: Der Besuch des Einkaufszentrums ist ein Misserfolg, der Tod der Mutter wird verschlafen. Oder aber ihre Aktionen laufen ins Leere.26 Die Bedingungen für ein erfolgreiches Arbeitsleben gerade auch in einer Leistungsgesellschaft, nämlich „Enthusiasmus […], Ehrgeiz, Charisma“, gehen ihr so auch ab.27 Sie werden von der Protagonistin einem „falschen Aktivismus“ zugeordnet und sollen generell jener „Art von Handlungsmanie“ angehören, die im Text „starrköpfig“ und „brutal“ genannt wird, und die in der Sicht der Figur „die Welt regiert[] und kaputtmacht[]“ (H 27). Melancholisch zu sein bedeutet bei Poschmann und gerade in der Hundenovelle, sich nicht mehr auf die Anforderungen und Angebote der (Arbeits-) Welt handelnd einzulassen. Das betrifft wohlgemerkt äußere Handlungen, die jenen Anforderungen entsprechen, nicht aber die eigene Haltung und den eigenen Willen, dieser Haltung gemäß zu leben. Die Weigerung der Figur, im Sinne der Gesellschaft zu handeln, ist ein bewusster Entschluss; Einsamkeit und Anomie werden aktiv gesucht: „Ich arbeitete an dieser Abgeschiedenheit.“ (H 70) Die Anlage der Figur ist so durchaus widersprüchlich: Sie versucht aktiv, passiv zu werden.28 Seit der Antike wurde der Melancholie eine spezifische Ambivalenz zugeschrieben: Sie wurde einerseits als Krankheit und später, unter christlichen Prämissen, als Sünde bestimmt. Andererseits und daneben wurde Melancholie – in dem berühmten pseudo-aristotelischen Problem XXX, 1 – als Kennzeichen des herausragenden Menschen und, wie in Marsilio Ficinos De vita libri tres (1489), des Gelehrten, zumal des in tiefer Kontemplation geistig tätigen Philosophen, begriffen.29 Im Geniebegriff des 18. Jahrhunderts schreibt sich diese Kopplung von Exzeptionalität und Melancholie sodann fort. Für Johann Caspar Lavater wird die „erhabene, sanfte und tiefsinnige Melancholie“ geradewegs zur „Mutter des Genies“.30

26  27  28  29  30 

Vgl. dazu die ähnlichen Überlegungen in Poschmann: Über Unsichtbarkeit, S. 21. Vgl. dazu auch Vöing: Arbeit und Melancholie, S. 110, 115. Vgl. auch Poschmann: Kunst der Überschreitung, S. 175. Vgl. dazu die Ausführungen in Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie; Böhme: Kritik der Melancholie; Schmitz: Das Melancholieproblem, S. 147-156. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Vierter Versuch. Leipzig, Winterthur 1778, S. 95f. Vgl. Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. 2. Aufl. Königstein/ Ts. 1985, S. 43-46.

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Die der Melancholie zugeschriebene Ambivalenz wird in Poschmanns Erzählung auf die Weise ausgespielt, dass neben der positiv konnotierten Möglichkeit, kritische Distanz zur Welt zu gewinnen, auch destruktive Folgen der Melancholie an der Hauptfigur dargestellt werden: Ihre Trägheit erinnert an die christliche Sünde der acedia, der ‚Trägheit des Herzens‘, dem „‚state of non-caring‘ (specifically about divine matters)“.31 Sie verursacht in der Hundenovelle aber weniger Gottesferne,32 sondern setzt die Figur der Gefahr aus, sich bis zur Verwahrlosung33 aufzugeben, sich bewusst zu erschöpfen und sich schließlich ‚auszulöschen‘ (H 72, 112). Ihren Zustand versteht die Erzählerin allerdings nur sehr bedingt als eine Gefahr für sich. Ein Problembewusstsein deutet sich zwar in dem Moment an, in dem die Rede davon ist, dass sie „zuviel“ schlafe und dass das vom Arbeitsleben Abgedrängte, das sich dann aber auch tödlich auswirken könne (H 116), wiederkehre.34 Reflexionen dieser Art bleiben aber in der Erzählung punktuell. Die melancholische Hauptfigur und grundsätzlich Melancholie als eine Verweigerungshaltung gehören zu Poschmanns poetischem Programm eines dissidenten Bewusstseins, das sich dem Normalbewusstsein und seinen sozialen Ideologien, wie dem Arbeits- und Handlungsethos, dem sich die Protagonistin der Hundenovelle entzieht, sowie seinen (subjekt-)philosophischen Vorannahmen entgegenstellt. Letztere betreffen insbesondere Auffassungen von Raum, Zeit und Ich.35 So treten in der Hundenovelle neben die Erfahrung einer linear verlaufenden Zeit und deren genaue Bestimmbarkeit die einer zyklischen Wiederkehr („Ich wiederholte mich von Tag zu Tag.“ (H 48)) und die Schwierigkeit, Zeitverläufe nicht mehr gliedern zu können: „War es ein einziger Tag, waren es mehrere Wochen?“ (H 50). 31 

32 

33  34  35 

Anna Katharina Schaffner: Pre-Modern Exhaustion: On Melancholia and Acedia. In: Burnout, Fatigue, Exhaustion. An Interdisciplinary Perspective on a Modern Affliction. Hg. v. Sighard Neckel / Anna Katharina Schaffner / Greta Wagner. Cham 2017, S. 27-50, hier S. 34. Zur acedia vgl. Schmitz: Das Melancholieproblem, S.  141-144; Schaffner: Pre-Modern Exhaustion, S. 33-45, vgl. auch den von Herbert Schlögel verfassten Eintrag ‚Acedia‘ im Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. v. Walter Kasper u.a. Begründet von Michael Buchberger. 3. Aufl. Freiburg 1993, Bd. I, Sp. 109f. Vgl. auch Katrin Hillgruber: Marion Poschmann: Hundenovelle. In: Der Tagesspiegel, 11.10.2008 (https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/rezension-marion-poschmannhundenovelle/1342958.html, zuletzt geprüft am 21.2.2020). Vgl. Vöing: Arbeit, S. 114. Vgl. Poschmann: „Was ist der Erkenntnisgewinn, den die Dichtung ermöglicht? Sie kann verdeutlichen, daß es sich bei den Größen Raum, Zeit und Ich um Konstrukte, um Wahrnehmungsweisen handelt und nicht um Entitäten.“ (Poschmann: Kunst der Überschreitung, S. 135f.).

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Raum und Ich wiederum werden in der Erzählung nicht als kategorisch voneinander geschiedene Einheiten gedacht. In enger Anlehnung an das philosophische Grundproblem, ob und, wenn ja, wie Subjekt und Objekt, Ich und Welt miteinander zu vermitteln sind, geht es auch hier um die Frage, ob „Landschaft und Körper noch einmal zusammenzubringen“, ob „die Kluft […], die zwischen dem Subjekt und der Welt besteht“ (H 74), zu schließen sei. Die Protagonistin sucht nach Kontakt mit dem Raum, der hier insbesondere in Form von Landschaft dargestellt wird. Dieser Kontakt kann bis zur Aufhebung des Ichs gehen: Die Protagonistin will „im Raum verlorengehen“ (H 85), was am Ende des Textes dann auch geschieht.36 Weder wird das Ich als nach außen hin geschlossen noch als stabile und feste Einheit gedacht. Vielmehr wird im Text die Erfahrung einer Vervielfältigung und Dissoziation des Ichs ausgestaltet: „Glitzernde Tropfen, alles ich. Ich-Sprenkel, das Wir der Kaiser und Könige, das mir auf einmal für mich passend schien, warum auch nicht.“ (H 90)37 Glitzern, glänzen, funkeln und Trübung sind Wahrnehmungsinhalte und -modi, denen in der Hundenovelle eine zentrale Bedeutung zukommt: Die Objekte erscheinen anders als gewöhnlich. Sie treten aus den gängigen Wahrnehmungsmustern heraus und werden durch Lichtreflexe vervielfacht. Einer solchen ‚anderen Sicht‘ auf die Dinge korrespondiert die Sicht auf das Andere, d.h. hier: auf das Fremde und Verdrängte, aber auch auf das Eigene: auf das Fremde, wie die aus Osteuropa immigrierte Mutter der Protagonistin, deren Fremdartigkeit zu ihren Lebzeiten stets sichtbar blieb (H 61); auf das Eigene, das, wie der Körper der Protagonistin, plötzlich fremd wird (H 117); auf das Unterdrückte, das durch äußere Mittel zurückgehalten wird, aber virtuell vorhanden ist (H 119), oder schließlich auf die schlechte Vergangenheit, die verdeckt wird. Letzteres wird an ehemaligen Rieselfeldern gezeigt, die „beladen mit Vergangenheit“ sind, was konkret die im Boden weiterhin vorhandenen „Schwermetalle und Dioxine“ meint, die von dem darüber aufgebauten „Naturschutzgebiet“ aus dem Blick gerückt werden: Es „täuschte Intaktheit vor“ (H 30).38 Ein derartiges Wissen um Differenz, Heterogenität und Abgedrängtes 36 

37  38 

Vgl. auch Heinrich Detering: Lass uns Gassi gehen in der Queckensteppe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2008 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ rezensionen/belletristik/marion-poschmann-hundenovelle-lass-uns-gassi-gehenin-der-queckensteppe-1716345.html#void, zuletzt geprüft am 21.2.2020) und Hayer: Melancholische Kreativität, S. 34. Vgl. auch Dorothea Dieckmann: So kam der Mensch auf den Hund. Marion Poschmann auf den Spuren von Konrad Lorenz. In: literaturkritik.de, Nr. 11, November 2008 (https:// literaturkritik.de/id/12428, zuletzt geprüft am 21.2.2020). Vgl. auch Barbara Villiger Heilig: Zorn, Zweifel, Zärtlichkeit. In: Neue Zürcher Zeitung, 8.10.2008 (https://www.nzz.ch/zorn_zweifel_zaertlichkeit-1.1058438, zuletzt geprüft am 21.2.2020).

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entspricht dem Eindruck der Erzählerin, dass sich „hinter der sichtbaren diejenige Landschaft“ befindet, „um die es wirklich geht, auf die es eigentlich ankommt“ (H 54). Melancholie und Gegenwartsgesellschaft Poschmann schreibt sich mit ihrer Darstellung einer melancholischen Lebensführung und einer damit verknüpften Loslösung vom Normalbewusstsein sowie von den Bedingungen der modernen Leistungsgesellschaft in aktuelle Diskurse ein, in denen die Gegenwartsgesellschaft aus je unterschiedlicher Richtung kritisch analysiert und auch (z.T. implizit) über die Bedeutung der Melancholie in der Gegenwart reflektiert wird. Das geschieht, wie eingangs bereits angedeutet wurde, zumeist in Abgrenzung vom Begriff der Depression. So unterscheidet Byung-Chul Han in seinem Essay Burnoutgesellschaft unter Bezug auf Freud Melancholie von Depression dadurch, dass er ersterer einen konfliktären Bezug auf einen (internalisierten) Anderen zuschreibt, der Gegenstand einer Verlusterfahrung geworden sei. Für Depression gelte solches allerdings nicht. An ihr sei „keine Dimension des Anderen beteiligt“, wirksam sei hier vielmehr der „überspannte, übersteuerte narzisstische Selbstbezug, der destruktive Züge annimmt“.39 Der Bezug auf den Anderen bzw. das Fehlen eines solchen markiert dann auch für Han den historischen Ort der Melancholie bzw. Depression. Han ordnet die Melancholie implizit der nun historisch gewordenen „Disziplinargesellschaft“, die „Erschöpfungsdepression“ hingegen der „Leistungsgesellschaft“40 des 21. Jahrhunderts zu. Wurde die Disziplinargesellschaft noch von „Verbot, Gebot oder Gesetz“ bestimmt, so treten an deren Stelle nun „Projekt, Initiative, Motivation“, allgemein das „Können“.41 Wichtig werden damit gerade solche Anforderungen, von denen sich Poschmanns Erzählung im Zeichen der Melancholie abwendet. Auch wenn Han Melancholie als eine historisch gewordene Form von Leiden darstellt, lässt sie sich in ihrer produktiven Variante dort erahnen, wo er eine Gegenstrategie zur modernen Fragmentarisierung und Zerstreuung der Wahrnehmung erwägt, die ebenfalls Effekt der Leistungsgesellschaft seien: In der „tiefe[n], kontemplative[n] Aufmerksamkeit“, die im Verschwinden 39  40  41 

Byung-Chul Han: Burnoutgesellschaft. In: Ders.: Müdigkeitsgesellschaft. Um die Essays Burnoutgesellschaft und Hoch-Zeit erweiterte Neuausgabe. Berlin 2018, S. 65-88, hier S. 74. Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. In: Ders.: Müdigkeitsgesellschaft. Um die Essays Burnoutgesellschaft und Hoch-Zeit erweiterte Neuausgabe. Berlin 2018, S. 5-63, hier S. 22, 19. Han: Burnoutgesellschaft, S. 20.

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begriffen sei, die aber die „kulturellen Leistungen der Menschheit“42 überhaupt erst ermöglicht, schwingt der Topos der melancholia generosa mit, jener Art von Melancholie also, die dem geistig tätigen, sich der Kontemplation hingebenden Melancholiker eigen ist.43 Der Philosoph Wilhelm Schmid geht in seinem Essay Unglücklich sein. Eine Ermutigung von einer zwar anders gelagerten, aber nicht minder kritischen Diagnose der Gegenwart aus. Schmid behauptet eine gegenwärtige „Diktatur des Glücks“,44 die eine allgemeine Orientierung am Glück und an der Erfahrung des Glücklichseins kennzeichne. Dies gehe aber auf Kosten der Erfahrung von Unglück, das als Versagen ausgelegt werde.45 Eine solche Haltung sei u.a. deshalb problematisch, weil dauerhafte Zufriedenheit nach Schmid kritisches, auf die Veränderung schlechter Zustände zielendes Denken behindere.46 Unzufriedenheit dagegen – und hier kehrt der tradierte, auch bei Han zu beobachtende Melancholietopos unter Berufung auf das pseudoaristotelische Problem XXX, 1 wieder – sei womöglich die Voraussetzung für große Leistungen.47 Melancholie ist für Schmid eine bestimmte Art der Unzufriedenheit, die er von der Krankheit Depression unterschieden wissen will. Indem der Melancholiker das vermeintlich Gewisse und Selbstverständliche einer Prüfung unterzieht,48 ist seine Gestimmtheit als kritische Haltung gegenüber der gegenwärtigen Lage zu begreifen. Der Literaturwissenschaftler und Journalist Björn Hayer schließlich führt Positionen von Han und Schmid zusammen: Melancholie werde in der „Leistungsgesellschaft“, in der „nur noch das Ergebnis zählt“,49 als unzweckmäßig aufgefasst und pathologisiert. Ihre Bedeutung und ihr Wert liege darin, dass der Melancholiker über ein Sensorium für „Fehlentwicklungen“50 verfüge sowie in der Möglichkeit zur „Kontemplation“, in „unentwegter Nachdenklichkeit“, „Inspiration“51 und Kreativität, die allesamt auf Melancholie bezogen

42  43  44  45  46  47  48  49  50  51 

Ebd., S. 27. Vgl. auch Böhme: Kritik der Melancholie, S. 256f. Wilhelm Schmid: Unglücklich sein. Eine Ermutigung. Berlin 2013, S. 8. Vgl. ebd., S. 8, 10. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 39, 55. Vgl. ebd., S. 55, 97. Björn Hayer: Komm zu uns, Muse Melancholia! In: Ders.: Melancholie und Hoffnung. Essays zu Gesellschaft und Kultur. Baden-Baden 2017, S. 190-193, hier S. 193. Björn Hayer: Saturns neue Kinder. In: Ders.: Melancholie und Hoffnung, S. 121-124, hier S. 123. Ebd., S. 124.

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werden. Das Fehlen einer melancholischen Gestimmtheit wird dagegen als Verlust von Utopiefähigkeit verstanden.52 Poschmanns Aktualisierung des Melancholiekonzeptes ist, was die Verbindung von Melancholie und der Möglichkeit einer Distanz und kritischen Reflexion der Gegenwartsgesellschaft angeht, vor diesem Hintergrund zu verorten. Aber auch die Kopplung von Melancholie und kultureller bzw. künstlerischer Leistung ist für ihre Erzählung von Bedeutung. Melancholie meint hier nicht nur Widerstand, sondern auch künstlerisches Potential. Melancholie und Kunst Die eingangs aufgezählten Topoi und Bezüge zum Melancholiediskurs verdichten sich in Poschmanns Erzählung zu einem Motivstrang, der für die thematische und semantische Ebene des Textes entscheidend ist. Ab dem dritten Kapitel der Hundenovelle wird er allerdings von einem anderen, christlich-religiös bestimmten Motivstrang ergänzt: Es finden sich Hinweise auf das Konzept der Entsühnung (H 76), auf Heiligengeschichten (hier den Hl. Dominikus, den Ordensgründer der Dominikaner (H 94), und die Hl. Katharina von Genua (H 112), eine italienische Mystikerin) sowie auf christliche Symbolik, sofern man die Apothekennamen „Hirschapotheke“, „Löwenapotheke“ und „Adlerapotheke“ (H 124) auf ihren christlichen Symbolgehalt hin liest.53 Aus diesen Verweisen, die ganz andere Kontexte aufrufen, ergeben sich weitere Deutungsangebote für den Text: Er lässt sich nicht allein als ein Text über die Chancen und Gefahren der Melancholie lesen, sondern auch als ein Text über eine quasi-religiöse Erlösung, eine nicht ans Metaphysische rückgebundene Einheitserfahrung. Schließlich ist Die Hundenovelle auch als Feier rhetorischer Fähigkeiten verstehbar, worauf die Anspielungen auf eine Legende aus dem Leben des Heiligen Dominikus hinweist: Dessen Mutter habe vor der Geburt des Kindes „ein schwarz-weißes Hündlein“ gesehen, „das mit einer brennenden Fackel im Maul die ganze Welt erleuchtet; das Gesicht wird ihr auf die göttliche Redekunst des Knaben […] gedeutet.“54 Diese Legende wird in der Erzählung verändert wiedergegeben: Hier träumt Dominikus’ Mutter davon, „sie würde von einem kleinen schwarzweißen Hund entbunden, der mit einer Fackel 52  53  54 

Vgl. Hayer: Muse Melancholia, S. 193. Vgl. Wörterbuch der Symbolik. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftlicher hg. v. Manfred Lurker. 5. Aufl. Stuttgart 1991, S. 47f. Hiltgart  L.  Keller: Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst. Stuttgart 2013, S. 183.

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im Maul die Welt umkreiste. Ein Hund, nicht lockig, nicht glatthaarig, ein mystischer Himmelshund, von einem dunklen Leuchten umgeben.“ (H 94) An dieser Stelle kreuzen sich exzeptionelle Redekunst, Astronomie und Melancholie. Denn der „Himmelshund“, der mit der „Fackel im Maul die Welt umkreist“ und die Welt nicht mehr, wie im Prätext der Legende, erleuchtet, spielt auf das Sternbild des Großen Hundes (Canis major) und den hellsten Stern in diesem Sternbild, Sirius, an. Beide werden am Ende des Textes genannt und dort noch einmal in Bezug zur Dominikus-Legende gesetzt: Canis major „trägt den hellsten Stern des Himmels im Maul.“ (H 126) Das Thema der Melancholie wiederum wird hier von dem dem Sternbild seinen Namen gebenden Tier (Hund) aufgerufen. Ein solcher Bezug wird darüber hinaus noch in der Weise gestiftet, dass die an gleicher Stelle genannten „Hundstage“ (H 125f.), die Zeit des Hochsommers, in der der Große Hund am Sternenhimmel zu sehen ist, „in der Antike im Ruf [standen], eine Zeit der Melancholie zu sein.“55 Die Melancholie ist somit bis zum Ende des Textes präsent. Durch die Erinnerung an Dominikus’ große rhetorische Fähigkeiten entsteht hier eine Verbindung zwischen Melancholie und sprachlicher Versiertheit bzw. Kunst, die dem Text als Prämisse zugrunde liegt: Der Fiktion des Textes nach wird dieser gerade durch die Redefähigkeit der Hauptfigur ermöglicht; der erzählformalen Anlage nach erzeugt die aus der Ich-Perspektive erzählende Figur ihre Erzählung. Dass es sich bei der Hundenovelle um eine „Künstlernovelle“56 handele, beweist sich auch gerade in der (fiktiven) Produktion dieses mehrdeutigen Textes.57 Dessen poetologische Dimension, die sich aus dieser Verschränkung unterschiedlicher Bezugnahmen ergibt, ist womöglich selbst wieder als (weitere) Referenz auf Dürers im Text ohnehin ausgiebig zitierten Stich, genauer: auf den in der Kunstgeschichte unterschiedlich gedeuteten58 Putto zu verstehen. Der dort dargestellte Vorgang des Schreibens kehrt wieder in dem Erzählen eines literarischen Textes durch eine als melancholisch gekennzeichnete Figur. Melancholie und Lektüre Die bemerkenswerte Dichte an leitmotivisch organisierten Verweisstrukturen in Poschmanns Hundenovelle erinnert an jene „konzentrierende Leistung“, die in historischen novellentheoretischen Überlegungen und in der Novellen55  56  57  58 

Poschman: Kunst der Überschreitung, S. 174. Ebd., S. 175. Vgl. auch Hayer: Melancholische Kreativität, S. 37. Vgl. Böhme: Melencolia I, S. 16f., 20-24.

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forschung mit dem Genre der Novelle in Verbindung gebracht worden ist.59 Eine solche Bezugsdichte zeitigt unterschiedliche Effekte: Sie erzeugt zumal am Beginn des Textes mit den vielen Dürer-Anspielungen ein Bewusstsein für die Polyvalenz der im Text verwendeten Zeichen und legt so eine Lektürehaltung nahe, der es neben der primären Bedeutung, die der einzelne Ausdruck im Kontext der Handlung besitzt, noch um weitere Bedeutungen bzw. um andere Kontexte geht, auf die sich der Ausdruck noch bezieht. Dem korrespondiert das in der Erzählung verfolgte Programm, hinter dem unmittelbar Erfahrenen und Gewussten noch Weiteres und Anderes zu suchen. Durch die Vielfalt dieser Anspielungen und Zitate erscheint die Hundenovelle als eine Art Speicher und Gedächtnis (nicht nur, aber insbesondere) des Melancholiediskurses.60 Die Lektüre vollzieht das im und vom Text Gespeicherte gewissermaßen im Modus des Erinnerns nach. Auch das lässt sich noch mit der Geschichte des Melancholiebegriffs in Verbindung bringen, wurde dem Melancholiker doch ein gutes Gedächtnis nachgesagt: Er sei „[o]f memory reasonable good, if fancies deface it not“,61 wie es in Timothy Brights Treatise of Melancholy heißt. Der Melancholiker ist aber von „fancies“, von Phantasien und Einbildungen bedroht; seine imaginativen Fähigkeiten können überhand nehmen und sein gutes Gedächtnis kann in ein unkontrolliertes Erinnern umschlagen.62 In ähnlicher Weise sind Poschmanns Erzählung und jene Lektürehaltung zu beschreiben, die von dem die Erzählung prägenden System an Referenzen und Anspielungen nahegelegt wird: An vielen Stellen wird ein Gedächtnisraum geöffnet, der Assoziationen und Erinnerungen an tradierte Diskurse oder – auf der Ebene der Leitmotive gesprochen – an zurück- und vorausliegende Textstellen hervorruft. Nimmt man diese Lektüreangebote ernst und versucht man, an beliebiger Stelle Bezüge zu anderen Textstellen oder zu Melancholie- oder Heiligendiskursen herzustellen, dann erkennt man, dass dies nicht in jedem Fall etwas zur Deutung des Textes beiträgt. Ein Beispiel hierfür wäre der Versuch, die „hellgelbe“ Farbe eines im Text genannten „Hunde-Erziehungshalsband[s]“ und den Umstand, dass dieses als 59 

60  61  62 

Vgl. Hugo Aust: Novelle.  5. Aufl. Stuttgart, Weimar  2012, S.  15-17, 39 (das Zitat  S.  15). Poschmann selbst sieht als genrespezifische Aspekte ihres Textes dessen „klaren, ja zwingenden Ablauf“ sowie seinen „novellentypischen Höhe- und Wendepunkt“ an (vgl. Poschmann: Kunst der Überschreitung, S. 173, 175). Vgl. zum Verhältnis von Melancholie und Gedächtnis Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 202; Wagner-Egelhaaf nimmt auf Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1621) Bezug. Timothy Bright: A Treatise of Melancholy. Containing the Cavses thereof […]. London  1586, S. 124 (vgl. Sillem: Melancholie, S. 60). Vgl. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 34f., 202-204.

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ferngesteuerte „Wasserpistole“ funktioniert, die einen „kalten[n] Strahl“ (H 49) Wasser auf die Schnauze des Hundes spritzt, auf das antike und mittelalterliche humoralpathologische System und auf dessen Kombinationsmöglichkeiten von Körpersäften, Elementen und Qualitäten zu beziehen.63 Das würde an dieser Stelle nicht wirklich weit führen; man würde, um melancholiekritisch zu sprechen, von ‚fancies‘ geleitet, würde von einem unkontrollierten Erinnern betroffen werden, und strapazierte die für die gesamte Erzählung zweifellos geltende Text-Kontext-Relation an dieser Stelle allzu sehr über. Hermeneutischer Erfolg dürfte hier aber ohnehin kein relevantes Kriterium sein. Vielmehr kommt es darauf an, eine komplexe Bedeutungsstruktur zu erkennen, deren Analyse und Erkundung der Text aufgrund der ausgestellten Dichte seiner Verweise provoziert. Damit lässt sich sogar behaupten, dass diese Art der Lektüre selbst eine melancholische ist, wenn sie, in entfernter Verwandtschaft zu Benjamins Melancholiker bzw. ‚Trauerndem‘, der ein „Grübler über Zeichen“64 ist, den Gedächtnisraum, den der Text öffnet, auszumessen versucht, und den Erinnerungsspuren, die im Text gelegt sind, auch auf die Gefahr hin nachgeht, dass sie in einer Sackgasse enden.65 Es handelt sich bei diesen Verweisen um Bezüge in einem zweifachen Sinne: um Bezüge auf Texte und Bilder, die außerhalb der Erzählung liegen, und um textinterne Rück- und nach vorne gerichtete Verweise, die die besprochenen leitmotivischen Verknüpfungen und thematischen Zusammenhänge konstituieren. Dieses Verweissystem widersetzt sich in seinen Effekten tendenziell der gängigen Praxis des Lesens von links nach rechts, oben nach unten, von Seite zu Seite und provoziert vielmehr ein Zurück- und Seiten überspringendes Vorblättern. Auch ist von einer Spannung zwischen der nach vorne gerichteten Narration (dem linearen Informationsfluss) und den quer dazu verlaufenden semantischen Verknüpfungen zu sprechen. Auf die Ebene des Inhaltes zurückgewendet ist das als formale Entsprechung der Absage an ein ‚ehrgeiziges‘ (H 26), zielgerichtetes Handeln zu verstehen, das für 63  64 

65 

Vgl. das in Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn und Melancholie, S. 48 wiedergegebene Schema. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann / Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, Bd. I.1, S. 203430, hier S. 370. Vgl. dazu Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 175-195, bes. S. 186. Christoph Schröder versteht Poschmanns Erzählung treffend als „Sprachwerdung der melancholischen Geisteshaltung“, bezieht sich dabei aber v.a. auf thematische Aspekte (Christoph Schröder: Im Bad des Teufels. In: Frankfurter Rundschau, 20.9.2008 (https:// www.fr.de/kultur/literatur/teufels-11603110.html, zuletzt geprüft am 21.2.2020)).

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ein erfolgreiches Wirken in einer auf Leistung abzielenden Gesellschaft nötig wäre. Einem solchen stehen nicht nur die melancholische Protagonistin, sondern auch, auf formaler Ebene betrachtet, der Text und die Lesenden fern, die sich dem Nachvollzug der den Text prägenden Referenzen und Motivstrukturen widmen.

Register Abramović, Marina 99 Adams, John 109 Adorno, Theodor W. 106, 175 Agamben, Giorgio 123f. Aischylos 92 Anaximander 97 Anders, Günther 106 Anz, Thomas 47f. Arendt, Hannah 101-116 Aristoteles 94 Auerbach, Felix 24 Aust, Stefan 80 Baader, Andreas 83 Ball, Hugo 87 Barthes, Roland 17-19, 41 Baudrillard, Jean 146, 158 Bauer, Felice 141 Baum, Max 31f., 40 Beard, George M. 26f., 29, 38 Beck, Ulrich 54 Beckett, Samuel 15, 145 Benjamin, Walter 19, 85-99, 163f., 171, 244 Bergengruen, Maximilian 7, 30 Bernays, Martha 25f. Binninger, Dieter 77 Binswanger, Otto 32 Blanckenburg, Christian Friedrich von 195 Bloch, Ernst 87 Blumenberg, Hans 14f. Böhme, Hartmut 7f., 16, 62, 124, 216f., 234-236, 240, 242 Bourdieu, Pierre 114 Bright, Timothy 243 Brod, Max 150 Bruegel, Pieter 225f. Büchner, Georg 99, 133 Burton, Robert 243 Calasso, Roberto 130 Celan, Paul 177 Cervantes, Miguel de 121 Charcot, Jean-Martin 25f. Cicero 171 Crouch, Colin 55

Deleuze, Gilles 15-17, 122f., 137 Derrida, Jacques 167 Descartes, René 14, 107 Didi-Huberman, Georges 26 Diesel, Eugen 25 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 126f., 129, 132 Dürer, Albrecht 218-221, 230, 232-234, 242f. Dutschke, Rudi 79 Edison, Thomas Alva 25 Ehrenberg, Alain 1, 4f., 13, 51, 129, 209f., 229 Ehrlich, Paul 146 Elias, Norbert 52 Ensslin, Gudrun 83 Enzensberger, Hans Magnus 133-137 Erasmus von Rotterdam 134 Faber 71 Faulkner, William 122 Ficino, Marsilio 236 Fisher, Mark 67 Flaubert, Gustave 122 Fontaine, Jean de la 171 Foucault, Michel 18 Frenz, Hermann 73f. Freud, Sigmund 12, 25f., 87, 93f., 129, 173, 239 Fried, Erich 76 Frisch, Max 191-194, 196-206 Frye, Northrop 39 Fukuyama, Francis 157 Garcia, Tristan 72 Genazino, Wilhelm 123 Genette, Gérard 35 Görres, Joseph 49f., 56-60, 64, 66f. Grass, Günter 178 Grünbein, Durs 230 Gumbrecht, Hans Ulrich 49f., 64-68, 157 Halter, Jürg 230 Hamacher, Werner 86, 89, 96-98 Han, Byung-Chul 1, 4f., 11, 13, 15, 103f., 111f., 123f., 137, 140, 212, 221, 223, 239f. Haraway, Donna 196

248 Hašek, Jaroslav 121, 132 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 61, 63 Heidegger, Martin 96 Helmholtz, Hermann von 24 Henschel, Jürgen 80 Hesse, Hermann 127 Hofmannsthal, Hugo von 125 Hölderlin, Friedrich 94-98 Honneth, Axel 6, 13 Honold, Alexander 13, 187 Hörisch, Jochen 186 Hösslin, Rudolph von 29 Hummelt, Norbert 231 Ionesco, Eugène 145 Jaeggi, Rahel 6, 110 Jameson, Frederic 67 Jaspers, Karl 109 Jünger, Ernst 87 Kafka, Franz 99, 125, 131f., 139-158 Kant, Immanuel 95, 112-114 Kapferer, Richard 29, 42 Keats, John 125 Kierkegaard, Søren 92 Kirchhoff, Bodo 231 Kleist, Heinrich von 165 Klibansky, Raymond 230, 234, 236, 244 Kluge, Alexander 134 Koschorke, Albrecht 35, 40, 42, 199 Koselleck, Reinhart 50, 52, 62, 65f. Krafft-Ebing, Richard von 37 Kristeva, Julia 218, 224 Kury, Patrick 1, 137 Kurzeck, Peter 179-189 Laclau, Ernesto 55 Lassalle, Jacques 169 Latour, Bruno 196 Lavater, Johann Caspar 236 Lefèbvre, Henri 78 Lejeune, Philippe 43 Lem, Stanisław 226 Lenin, Wladimir Iljitsch 75f. Lepenies, Wolf 235 Lessing, Gotthold Ephraim 115 Lévi-Strauss, Claude 167

Register Lohmeier, Anke-Marie 47f., 50 London, Bernard 77 Lotman, Jurij M. 42, 44 Lukács, Georg 90, 195 Luther, Martin 89 Lyotard, Jean-François 157 Majakowski, Wladimir Wladimirowitsch 76 Mann, Thomas 185, 188 Mannheim, Karl 53f. Marina (Kollektiv) 99f. Marinetti, Filippo Tommaso 87f. Martynkewicz, Wolfgang 2, 9, 13, 103f., 136, 157f. Marx, Karl 86, 90f., 93f., 101 Maupassant, Guy de 125 Mayer, Julius Robert 24 Meinhof, Ulrike 83 Melville, Herman 13, 122-124, 130, 133, 137 Michelangelo Buonarroti 10, 19 Möbius, Paul Julius 30 Mosso, Angelo 143-145 Mouffe, Chantal 55 Müller, Wilhelm 183f., 186-188 Neckel, Sighard 1, 3f., 6f., 9, 136f., 237 Nietzsche, Friedrich 23, 49f., 61-67, 87, 93f., 145-147, 149f., 153, 171f. Novalis 217 Ostwald, Wilhelm 24 Packard, Vance 77, 83 Panofsky, Erwin 230, 234, 236, 244 Pasolini, Pier Paolo 112 Paulus 87 Peters, Emil 43-45 Platon 114 Popp, Steffen 231 Poschmann, Marion 229-245 Proll, Thorwald 83 Pseudo-Aristoteles 212, 236, 240 Pynchon, Thomas 77 Pyrrhon von Elis 19 Rabinbach, Anson 7f., 16, 27, 58 Rancière, Jacques 55, 113-115 Reagan, Ronald 56

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Register Reckwitz, Andreas 5, 13, 209f. Ribot, Théodule 27 Riehl, Wilhelm Heinrich 52 Rilke, Rainer Maria 125 Rimbaud, Arthur 125 Roelcke, Volker 31f., 38, 53 Rosa, Hartmut 4, 7-9, 13, 103f., 112 Roth, Joseph 123 Said, Edward 13 Salinger, J.D. 125 Sartre, Jean-Paul 122 Saussure, Ferdinand de 41 Saxl, Fritz 212, 230, 234, 236, 244 Schaffner, Anna Katharina 1-3, 7, 13, 59, 237 Schaichet, Arkadi Samoilowitsch 76 Schlegel, Friedrich 188 Schlemmer, Oskar 87 Schmid, Wilhelm 240 Schubert, Franz 184-188 Seghers, Anna 159-178 Seidel, Anna 230 Siemens, Werner von 25 Simmel, Georg 35, 38, 146, 152, 157 Simonides von Keos 171f. Söhnlein, Horst 83 Sontag, Susan 23 Sophokles 95 Stöckmann, Ingo 48f., 67 Storm, Theodor 161 Strauß, Botho 119f., 122, 133

Styron, William 220 Svoboda, Václav [Jindřich Marco] 79f. Tarkowskij, Andrej 226 Teufel, Fritz 83 Thatcher, Margaret 56 Tieck, Ludwig 160, 162 Traven, B. 125 Trier, Lars von 209-227 Tucholsky, Kurt 132 Urbach, Peter 80 Vila-Matas, Enrique 124-126, 129-131, 133, 135 Waal, Edmund de 219f. Wagner, Richard 221-227 Wallace, David Forster 218f. Walser, Robert 120-122, 125-131, 133, 137 Weber, Max 85, 89 Weber, Samuel 89-91 White, Hayden 39 Wirz, Otto 29 Yates, Frances 171 Zeh, Juli 72, 84 Zieger, Ulrich 230 Ziercke, Jörg 81 Zimmermann, Johann Georg 234 Žižek, Slavoj 55, 81

Autorinnen und Autoren Axel Dunker ist Professor für Neuere und neueste deutsche Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Bremen. Publikationen: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2008; Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Hg. zus. mit Gabriele Dürbeck. Bielefeld  2014; Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Hg. zus. mit Gabriele Dürbeck / Dirk Göttsche. Stuttgart 2017. Jörn Etzold ist Professor für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen: Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft. Paderborn 2020; Flucht. Kleiner Stimmungsatlas in Einzelbänden. Hamburg 2018; Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord. Zürich, Berlin 2009. Georges Felten ist Projektmitarbeiter an der Universität Zürich (nationales Qualifizierungsprogramm BNF). Publikationen: Explosionen auf weiter Flur. Narration, Deskription und ihre ästhetisch-politischen Implikationen in zwei Texten von Arno Schmidt und Peter Weiss. Bielefeld 2013; Aus der Erschöpfung heraus erzählen. Anna Seghers’ Prosa der Exilzeit. In: figurationen 16, H. 1: Erschöpfung / Épuisement (2015), S.  70-82; Diskrete Dissonanzen. Zum vielgestaltigen Verhältnis von Poesie und Prosa im literarischen Realismus (1850-1900). Vorauss. Göttingen 2021. Jan Gerstner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere und neueste Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Bremen. Publikationen: Das andere Gedächtnis. Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2013; Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart. Hg. zus. mit Christian Riedel. Bielefeld  2018; Idyllische Arbeit und tätige Muße. Transformationen um 1800. In: Muße und Moderne. Hg. v. Tobias Keiling / Robert Krause / Heidi Liedke. Tübingen 2018, S. 7-18. Horst Gruner war zuletzt wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Poetik des Erfolgs. Institutionelle und narrative Dimensionen von Erfolgsratgebern (1900-1933)“

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Autorinnen und Autoren

an der FernUniversität in Hagen. Publikationen: Gestank der Konformität. Industrialisierung, Umweltverschmutzung und Phantasie in Wilhelm Raabes Pfisters Mühle. In: Konformieren. FS Michael Niehaus. Hg. v. Jessica Güsken / Christian Lück / Wim Peeters / Peter Risthaus. Heidelberg  2019, S.  87-120; Erschöpfte Menschen. Zur populären Darstellung von Burnout-Fällen (19802000). In: Stress und Unbehagen. Glücks- und Erfolgspathologien des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Stephanie Kleiner / Robert Suter. Berlin  2018; zus. mit Wim Peeters: „Meine Nervosität“. Der autobiographische Fall in Nervenheilratgebern um 1900. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 6.2 (2017) (https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/ download/288/413). Dieter Heimböckel ist Professor für Literatur und Interkulturalität an der Universität Luxemburg. Publikationen:  Vorstellung Europa – Performing Europe. Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart. Hg. v. Natalie Bloch / Dieter Heimböckel / Elisabeth Tropper. Berlin  2017;  Krisenrhetorik und Legitimationsritual. Einsprüche gegen Deutungsmonopole (nicht nur) in der Germanistik. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10, H. 2 (2019), S. 2338; Flucht – Grenze – Integration. Beiträge zum Phänomen der Deplatzierung / Fuga – Confine – Integrazione.  Contributi al fenomeno dello spostamento. Hg. von Dieter Heimböckel / Nathalie Roelens / Christian Wille. Bielefeld 2020. Jakob Christoph Heller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Publikationen: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. Paderborn  2018; Maschinen des Lebens – Leben der Maschinen. Zur historischen Epistemologie und Metaphorologie von Maschine und Leben. Hg. zus. mit Patricia A. Gwozdz / Tim Sparenberg. Berlin  2018; „Die stillen Schatten fruchtbarer Bäume.“ Die Idylle als ökologisches Genre? In: Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Hg. v. Evi Zemanek. Göttingen 2018, S. 73-89. Till Huber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der  Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Publikationen: Ästhetik des Depressiven. Hg. zus. mit Immanuel Nover. Berlin, Boston 2020 (in Vorbereitung); Blumfeld und die Hamburger Schule. Sekundarität – Intertextualität – Diskurspop. Göttingen 2016; Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Hg. zus. mit Olaf Grabienski / Jan-Noël Thon. Berlin, Boston 2011.

Autorinnen und Autoren

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Hauke Kuhlmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Germanistik an der Universität Bremen. Publikationen: „Es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt doch eigentlich alles an.“ Zum Problem der Kohärenz in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bielefeld 2019; Tod und Treue. Conrad Ferdinand Meyers Die Versuchung des Pescara im Kontext des Renaissancismus. In: RenaissancismusDiskurs um 1900. Geschichte und ästhetische Praktiken einer Bezugnahme. Hg. v. Thomas Althaus / Markus Fauser. Bielefeld 2017, S. 117-140; Der Gegenwart eine Absage erteilen. Formen der Absage im literarischen und nichtliterarischen konservativen Diskurs. In: Leider nein! Die Absage als kulturelle Praktik. Hg. v. David-Christopher Assmann / Kevin Kempke / Nicola Menzel. Bielefeld 2020, S. 103-123. Wolfgang Martynkewicz ist freier Autor und Dozent für  Literaturwissenschaft. Publikationen: Salon Deutschland. Geist und Macht  1900-1945. Berlin  2009; Das Zeitalter der Erschöpfung: Die Überforderung des  Menschen durch die Moderne. Berlin 2013; 1920. Am Nullpunkt des Sinns. Berlin 2019. Immanuel Nover ist Akademischer Rat am Institut für Germanistik der Universität KoblenzLandau. Publikationen: Referenzbegehren. Sprache und Gewalt bei Bret Easton Ellis und Christian Kracht. Köln, Weimar, Wien 2012; Ästhetik des Depressiven in der Literatur der Moderne/Postmoderne. Hg. zus. mit Till Huber. Berlin, Boston 2020 (in Vorbereitung); Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Hg. zus. mit Stefan Neuhaus. Berlin, Boston 2019. Julian Osthues war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere und neueste Literaturgeschichte und Literaturtheorie an der Universität Bremen. Publikationen: Literatur als Palimpsest. Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Bielefeld 2017; Postkolonialismus und (Inter-)Medialität. Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film. Hg. zus. mit Laura Beck. Bielefeld 2016; Kindler Kompakt: Reiseliteratur. Hg. zus. mit Andreas Erb / Christof Hamann. Stuttgart 2017. Iulia-Karin Patrut ist Professorin für Neuere deutsche  Literaturwissenschaft im europäischen Kontext an der Europa-Universität Flensburg. Publikationen: Phantasma

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Autorinnen und Autoren

Nation. ‚Zigeuner‘ und Juden als Grenzfiguren des ‚Deutschen‘ (1770-1920). Würzburg 2014; Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne. Hg. zus. mit Wolfgang Johann / Reto Rössler. Bielefeld 2019; Ähnlichkeit um 1800. Konturen eines literatur- und kulturtheoretischen Paradigmas am Beginn der Moderne. Hg. zus. mit Reto Rössler. Bielefeld 2019. Jennifer Pavlik ist Assistenzprofessorin am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität sowie am Institut für Philosophie an der Universität Luxemburg. Publikationen: Öffentlichkeiten als Räume ästhetischer Praxis. Zur politischen Ästhetik Hannah Arendts. In: Öffentlichkeiten. Theorie und Geschichte ästhetisch-politischer Praxen. Hg. v. Urs Büttner / Sarah Michaelis. Frankfurt a. M., New York 2020; Literatur und / als Öffentlichkeit. In: The Ends of the Humanities. Hg. v. Georg Mein / Isabell Baumann. Luxemburg (im Erscheinen); Bildung ohne Geländer. Gattungs- und bildungstheoretische Reflexionen in Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick. In: ‚Germanistenscheiß‘. Zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs. Hg. v. Matthias N. Lorenz. Berlin 2019, S. 259-277. Eva Stubenrauch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg „Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses“ der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Publikationen: Deformierte Formen. Zur strukturellen Äquivalenz von Depression und Pornographie bei Marlene Streeruwitz, Lars von Trier und Elfriede Jelinek. In: Ästhetik des Depressiven in der Literatur der Moderne / Postmoderne. Hg. v. Immanuel Nover / Till Huber. Berlin, Boston 2020 (in Vorbereitung); Die eigene Zeit hassen. Zeitdiagnostik als Maßstab kollaborativer Wertung zwischen Gegenwart und Zukunft (Der Fall Tellkamp/Eisvogel). In: Zwischen Halbwertszeit und Überzeitlichkeit. Geschichte der Wertung literarischer Gegenwartsbezüge. Hg. v. Sven Bordach u.a. Hannover 2021 (in Vorbereitung); Das Politische der Präsenz. Ulrich Peltzers Bryant Park. In: Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Hg. v. Stefan Neuhaus / Immanuel Nover. Berlin, Boston 2019, S. 413-431. Jan C. Watzlawik ist Kulturanthropologe am Institut für Kunst und Materielle Kultur der Technischen Universität Dortmund. Publikationen: Gegenstände. Zur materiellen Kultur des Protests. Berlin 2018; zus. mit Viola Hofmann: An Dinge knüpfen.

Autorinnen und Autoren

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Netzwerke, Analysen und Ausstellungen materieller Kultur. In: Kultur erben. Objekte – Wege – Akteure. Hg. v. Katharina Schüppel / Barbara Welzel. Berlin  2019, S.  45-58; On „Casseroles“ and Cobblestones. Approaches to the Material Culture of Public Protest. In: On Display. Visual Politics, Material Culture, and Education. Hg. v. Karin Priem / Kerstin te Heesen. Münster, New York 2016, S. 69-82.