Ernst Wiechert im Gespräch: Begegnungen und Einblicke in sein Werk 9783110237757, 9783110200621

The East Prussian (Masurian) author Ernst Wiechert (1887‑1950), whose opposition against injustice and terror resulted i

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Ernst Wiechert im Gespräch: Begegnungen und Einblicke in sein Werk
 9783110237757, 9783110200621

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Ernst Wiechert in der Gegenwart
Thomas Mann und Ernst Wiechert
Ernst Wiecherts Verhältnis zu Schriftstellerkollegen seiner Zeit
Abschied vom Hufengymnasium
Katholisches an Ernst Wiechert?
Clemens August Graf von Galen und Ernst Wiechert – Augenzeugen ihrer Zeit
Ernst Wiechert und seine Illustratoren
Geisterreigen und Masurenschwermut
Leseproben aus Der Buchenhügel
Mahnung zur Menschlichkeit
Respektverweigerung und Entwurf einer Gegenwelt
Väter bei Ernst Wiechert
Das Kind in Ernst Wiecherts Novellen
Das Bild des Lehrers im Werk Ernst Wiecherts
Leiden und Erlösung in den Werken Ernst Wiecherts :Offenbarung und Eingang in eine andere Welt
Backmatter

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Ernst Wiechert im Gespräch

Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft Herausgegeben von Leonore Krenzlin Klaus Weigelt

Band 4

De Gruyter

Ernst Wiechert im Gespräch Begegnungen und Einblicke in sein Werk Herausgegeben von

Leonore Krenzlin Klaus Weigelt

De Gruyter

ISBN 978-3-11-020062-1 e-ISBN 978-3-11-023775-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Ernst Wiechert gehört heute zu den fast vergessenen Schriftstellern – doch von den zwanziger Jahren an bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein war er ein viel gelesener Autor, der Höchstauflagen erzielte. Dabei hat er als Schreiber wenig Zugeständnisse an den gängigen Publikumsgeschmack gemacht. Seine Leser mussten sich auf seinen Ton, die Menschen und Landschaften seiner Bücher einlassen. Der Landschaft seiner masurischen Heimat ist er zeitlebens verbunden geblieben – aber als einen ostpreußischen Heimatdichter hat er sich nicht gesehen. Man hat ihn einen Dichter der Stille genannt, und auch er selber hat sich so stilisiert: Mehrfach hat er ausgesprochen, dass der Dichter sich mit seinem Werk nicht in das lärmende Tagesgeschehen einmischen dürfe und über der Zeit zu stehen habe. Doch tatsächlich hat Wiechert im Verlaufe seines Lebens immer wieder zu den Ereignissen seiner Gegenwart Stellung genommen – sowohl mit seinem öffentlichen Auftreten als auch in seinen Werken. Seine Wirkung auf die Leser hing damit zusammen, dass er auf seine Art Zeitstimmungen und Zeiterfahrungen artikulierte und konterkarierte. In seiner Frühzeit wurde er bekannt als ein Autor, der politisch weit rechts stand – mit Büchern wie Der Wald (1922) und Der Totenwolf (1924), die noch heute erschrecken lassen. Er verarbeitete darin die Erfahrungen, die er im Ersten Weltkrieg und in der Revolution von 1918 gemacht hatte, und er stellte sich quer zur Weimarer Demokratie, die er attackierte. Als ein Sprecher der Kriegsgeneration hat er sich wohl lebenslang empfunden, und ein national-konservativer Autor ist er immer geblieben. Doch das Bemerkenswerte an Ernst Wiechert ist, dass er für neue Erfahrungen offen blieb und imstande war, sich zu korrigieren. In den zwanziger Jahren fand er – wohl auch unter dem Einfluss seines Lehrerberufs – zu einer humanistischen Position, die nach 1933 im Nazistaat der schärfsten Prüfung standhielt: Sein Auftreten gegen Rechtlosigkeit, Terror und nationalen Größenwahn brachte ihn ins Konzentrationslager. Seine späteren Bücher – Das einfache Leben (1939), Der Totenwald (1945), Die Jerominkinder (1945/47)und nicht zuletzt Missa sine nomine (1950) – enthielten seine Mahnung zur Umkehr und zur nationalen Selbstkritik. Das brachte ihm in den ersten Nach-

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Vorwort

kriegsjahren viel Feindschaft bei den Unbelehrbaren ein. Doch viele seiner Leser fanden bei ihm Zuspruch und Lebenshilfe. Die Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft will Sorge tragen, dass der Schriftsteller Wiechert nicht abgetan wird, weil seine Bücher sich dem Tempo des Computer-Zeitalters versagen. Sie will die wissenschaftliche Erschließung von Ernst Wiecherts Werk fördern, aber sie ist weder ein Verein von Fachwissenschaftlern noch von kritiklosen Wiechertverehrern. Sie versteht sich als ein Kreis von Lesern, die aufgeschlossen und kritisch fragen, was an Ernst Wiecherts Büchern anregend oder auch aufregend geblieben ist. Das Interesse der Mitglieder an gerade diesem Schriftsteller entspringt recht unterschiedlichen Motiven. Manche lieben Ernst Wiechert um der gemeinsamen ostpreußischen Herkunft willen, andere fühlen sich durch seinen ethischen Anspruch und seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Christentum und seinen amtlichen Vertretern herausgefordert. Wieder andere sehen in ihm vor allem den Bekenner zu politischer und sozialethischer Verantwortung. Die Vorträge, die auf den Tagungen der Internationalen ErnstWiechert-Gesellschaft gehalten wurden, sind in drei Bänden im R. G. Fischer Verlag Frankfurt/M. erschienen: Ernst Wiechert heute (1993), Zuspruch und Trçstung (1999) und Von bleibenden Dingen (2002). Auch der nunmehr vorliegende vierte Band ist von der verschiedenen Herangehensweise der einzelnen Verfasser geprägt: Die Annäherung an Ernst Wiechert erfolgt von divergierenden Gesichtspunkten her, von literaturwissenschaftlichen, biographischen, pädagogischen und theologischen. Diese verschiedenen Sichtweisen miteinander ins Gespräch gebracht zu haben, ist ein erfreuliches Ergebnis der gemeinsamen Arbeit in der Gesellschaft: Durch die gemeinsame Lektürediskussion wird die Auseinandersetzung mit dem eigenen Standpunkt und mit der Welt von heute befördert – und damit auch das wechselseitige Verstehen. Berlin und Regensburg im Februar 2010

Leonore Krenzlin und Klaus Weigelt

Inhalt

I. Zeit und Zeitgenossen klaus weigelt Ernst Wiechert in der Gegenwart. 20 Jahre Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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leonore krenzlin Thomas Mann und Ernst Wiechert. Eine Beziehung zwischen Animosität und Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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hans-martin plesske Ernst Wiecherts Verhältnis zu Schriftstellerkollegen seiner Zeit

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christian tilitzki Abschied vom Hufengymnasium. Ernst Wiechert in der Königsberger Schulpolitik gegen Ende der Weimarer Republik

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jrgen fangmeier Katholisches an Ernst Wiechert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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marcin gołaszewski Clemens August Graf von Galen und Ernst Wiechert – Augenzeugen ihrer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

werner kotte Ernst Wiechert und seine Illustratoren. Dokumentation . . . . .

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II. Einblicke in Wiecherts Werk leonore krenzlin Geisterreigen und Masurenschwermut. Ernst Wiecherts unveröffentlichter Romanerstling Der Buchenhgel . . . . . . . . . .

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Leseproben aus Der Buchenhgel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

matthias bttner Mahnung zur Menschlichkeit. Ernst Wiecherts Novelle „Die Gebärde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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leonore krenzlin Respektverweigerung und Entwurf einer Gegenwelt. Ernst Wiecherts Roman Der Exote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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brbel beutner Väter bei Ernst Wiechert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

jrgen fangmeier Das Kind in Ernst Wiecherts Novellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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brbel beutner Das Bild des Lehrers im Werk Ernst Wiecherts . . . . . . . . . . . .

239

walter t. rix Leiden und Erlösung in den Werken Ernst Wiecherts: Offenbarung und Eingang in eine andere Welt . . . . . . . . . . . .

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Zeit und Zeitgenossen

Ernst Wiechert in der Gegenwart 20 Jahre Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft e.V.

klaus weigelt Die Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft (IEWG) entstand auf Initiative und aus der Mitte der Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr). Bevor es zur Gründung kam, gab es erwähnenswerte Vorstufen. Die Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) war 1949 gegründet worden, 1951 übernahm Duisburg die Patenschaft für die Königsberger. Bei der feierlichen Verkündigung der Patenschaft im Herbst 1952 versprach Duisburg den Königsbergern ein „Haus Königsberg“. Es dauerte aber noch anderthalb Jahrzehnte, bis 1968 in der Mülheimer Straße das „Museum Haus Königsberg“ eröffnet werden konnte. Bereits 1969 hatten 1.500 Besucher die Ausstellungen gesehen. In dem Bericht heißt es: „Im Obergeschoß ist ein Raum zur Erinnerung an den Dichter Ernst Wiechert (1887 – 1950) geschaffen worden, ausgestattet mit Bildern, handschriftlichen Texten, seinem Gesamtwerk und Gegenständen aus seinem letzten Hause.“1 Diese Gegenstände waren nach einer Auskunft von Wilhelm Matull von Frau Lilje Wiechert, der Witwe des Dichters, über Gerhard Kamin in den Besitz des Museums Haus Königsberg gekommen.2 Von Gerhard Kamin ist ein Gedenkwort erhalten, das er 1970 zum 20. Todestag des Dichters geschrieben hat.3 Er beginnt mit einer eher skeptischen Beobachtung: Eine Zeit, in der Düsenjäger jede halbe Stunde mit ohrenbetäubendem Lärm über die letzten großen Wälder hinwegrasen dürfen, Raketen zu anderen Gestirnen fliegen, Städte immer weiter in das umliegende Land 1 2 3

Königsberger Bürgerbrief VI 1969, S. 6. Der Königsberger Bürgerbrief wird seit 1960 zunächst jährlich, seit 1984 zweimal jährlich von der Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) herausgegeben. Wilhelm Matull: Unser Haus Königsberg in Duisburg. In: Königsberger Bürgerbrief VI 1969, S. 4. Gerhard Kamin: Gedenkwort zu Ernst Wiecherts 20. Todestag. In: Königsberger Bürgerbrief VII 1970, S. 22 – 23.

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hineinwachsen und Millionen Autos von Jahr zu Jahr mehr auch die entlegensten Straßen heimsuchen – eine solche Zeit scheint nicht mehr Raum zu lassen für den Dichter des ,Einfachen Lebens‘ und für einen Buchtitel wie ,Wälder und Menschen‘.4

Kamin sagt „scheint“, er erinnert an die Zeitlosigkeit wahrer Dichtung und daran, dass „die Menschen heute längst unter dem Verlust der Stille leiden.“ Wiechert habe das immer gewusst, und ihm waren deswegen die Verse von Wilhelm Raabe eine „unzerstörbare Weisheit“: Das Ewige ist stille, laut die Vergänglichkeit. Schweigend geht Gottes Wille über den Erdenstreit.

Kamin schreibt, dass Wiechert „im Medium seiner eigenen dichterischen Sprache die tägliche Selbstbestätigung des Unvergänglichen“ erfahren habe – darin mit Kafka vergleichbar: Schreiben als Gebet – und dass er „Wahrheit und Wahrhaftigkeit bis an die Grenze des Möglichen und Ertragbaren“ gelebt habe. Daraus wiederum habe Reinhold Schneider die „Melodie des Leides“ aus Wiecherts Gesamtwerk herausgehört. Wiechert habe „das ganze harte Problem des Leidens in die Zeit gestellt – so wie es auch Käthe Kollwitz getan hat, mit der er nicht nur die Heimat gemeinsam hatte.“5 Kamin schließt seine Würdigung mit der Erkenntnis, „dass der Gott der Liebe für Ernst Wiechert unverändert lebte und für die Menschen existent blieb; nur dass die Menschen sein Antlitz erneut geschändet hatten, wie zur Zeit Christi.“6 Abschließend würdigt Kamin Wiecherts Lebenswerk: Das Lebenswerk eines Dichters wie Ernst Wiechert … ragt in seinem abwartenden Schweigen weit über das Gegenwärtige hinaus und könnte in einer wiederkehrenden Notzeit unseres Volkes das erfahren, was das Werk Hölderlins oder Kleists erfuhr, als deren Schöpfer (…) längst ruhmlos und leidgeprüft hingesunken waren.7

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Kamin, S. 22. Reinhold Schneider: Melodie des Leides. In: Ernst Wiechert. Der Mensch und das Werk. Eine Anthologie. München 1951. Zitiert von Gerhard Kamin, S. 23. „Er fühlte“, sagte Ernst Wiechert von seiner Ankunft in Buchenwald, „wie durch das Bild Gottes ein Sprung hindurchlief, der nicht mehr heilen würde.“ Reinhold Schneider, Melodie, zitiert bei Kamin, S. 23. Gerhard Kamin, S. 23.

Ernst Wiechert in der Gegenwart

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Außerdem würdigt er das „große Verdienst“ derjenigen, die dem Dichter im Museum Haus Königsberg eine Gedenkstätte errichtet haben. Es soll im Rahmen der Vorgeschichte nicht unerwähnt bleiben, dass der Königsberger Stadthistoriker Fritz Gause 1971 dem Thema „Ernst Wiechert als Soldat“8 einen kleinen Aufsatz widmete, der aber hier nicht eigens zu behandeln ist. – Am 12. August 1972 stirbt Lilje Wiechert. Gerhard Kamin widmet ihr einen Nachruf, in dem er berichtet, dass er Woche für Woche mit ihr telefoniert und sie in ihrem langen und qualvollen Leiden begleitet habe. Sie habe ihm gesagt: „Nun endlich weiß ich, wie Andreas (ihr Mann) auf dem Krankenbett in der Schweiz gelitten hat, und bin dankbar dafür.“ Dann folgt diese Hommage: Lilje Wiechert war eine Dichterin, Malerin und Modelliererin; sie hat den Kopf ihres Mannes in großartiger Vision nach seinem Tode aus dem Gedächtnis geformt. Vielleicht wird man einmal im Zusammenhang mit dem Werk und dem Leben ihres Mannes erkennen, was ihr schweres Leben uns hinterlassen hat.9

1973 taucht zum ersten Mal ein kurzer Hinweis von Guido Reiner auf seine Studien auf. Er berichtet vom ersten Band seiner Bibliographie und kündigt den zweiten Band an.10 Dieser Hinweis wurde über zehn Jahre später zur ersten Spur, Guido Reiner in Paris zu finden. Dem 25. Todestag des Dichters 1975 widmete die Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) eine Feierstunde und eine Ausstellung. Schließlich habe Wiechert 32 Jahre, mehr als eine Generation, in Königsberg verbracht. Auch wenn er der Stadt „keine sehr gute Erinnerung bewahrt hat“, schreibt Hanswerner Heincke, halte sich die Stadtgemeinschaft für verpflichtet, sein geistiges Erbe zu bewahren.11 Den Festvortrag während der Gedenkfeier hält Robert Utzinger aus Paris, der lebenslange „Mitstreiter“ Guido Reiners um Leben und Werk Ernst Wiecherts. Utzinger unterscheidet in seinem Vortrag zwei Phasen in Wiecherts Schaffen: diejenige, in der er sich „im Einklang mit den 8 Fritz Gause: Ernst Wiechert als Soldat. In: Königsberger Bürgerbrief VIII 1971, S. 12 – 13. 9 Gerhard Kamin über Lilje Wiechert. In: Königsberger Bürgerbrief IX 1972, S. 31. 10 Guido Reiner: Ernst-Wiechert-Studien. Französische Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. In: Königsberger Bürgerbrief X 1973, S. 10. 11 Hanswerner Heincke: Wiecherts Königsberger Zeit. In: Königsberger Bürgerbrief XII 1975, S. 6.

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Strömungen der Literatur der Zeit befunden hat“, mit den Romanen Die Flucht, Die blauen Schwingen und – wie Leonore Krenzlin gezeigt hat – Der Buchenhgel, und die Phase, die nach dem Ersten Weltkrieg beginnt: Als Wiechert nach dem Kriege wieder die Feder ergreift, ist er ein anderer Mensch geworden, und der Schriftsteller hat mit der Literatur seiner Zeit nichts mehr gemeinsam. Er ist weder mit Thomas Mann noch mit Wassermann, mit Döblin noch mit Jünger, mit Remarque noch mit Grimm in dieselbe Schule gegangen. Wohl haften ihm expressionistische Züge an, wohl macht sich eine immer stärkere Tendenz zum Symbol bemerkbar. Wiechert stellt jedoch eine Einzelfigur in der deutschen Literatur dar, ,aus keiner Schule kommend und keiner Schule angehörend‘, wie er selbst über sich geurteilt hat.12

Die Bücher Der Wald und Der Totenwolf nennt Utzinger „Werke eines Empörers“… „gegen das niederträchtige Verhalten eines Teils der deutschen Bevölkerung in der damaligen Zeit“, gegen das „ungerechte Urteilen und Verurteilen des deutschen Soldaten.“ – Dann befasst sich Utzinger mit der Klassischen Periode der literarischen Produktion Wiecherts: Wiechert hatte um 1925 in jeder Hinsicht die Reife seines Könnens erreicht, und im Laufe der ungefähr zehn kommenden Jahre erscheinen die Werke, die seine Berühmtheit endgültig gründen, eine Berühmtheit, die durch mehrere literarische Preise bestätigt wird.13

Im zweiten Teil seines Vortrags befasst sich Utzinger mit Geist und Gedanken in Wiecherts Werk: Ernst Wiechert ist ein Ostpreuße, und ich wäre versucht zu sagen, nun wissen Sie alles über ihn. Ostpreußen ist der Rahmen und der Hintergrund beinahe seiner sämtlichen Werke gewesen. Ostpreußen war der Gegenstand seiner unendlichen Heimattreue. … Mit dieser Liebe zur engeren Heimat verband Wiechert eine innige Liebe zu seinem Vaterland.14

Utzinger spricht dann von Wiecherts „Sinn für Gerechtigkeit“, seiner „Ehrfurcht vor der Menschenwürde“, seiner „Verwandlung zur Güte und zur höchsten Menschlichkeit“: „Gerechtigkeit, Freiheit, Recht zum freien Urteil und objektiven Beurteilen, Abneigung gegen jegliche Zwangsmaßnahme, die uns an eine Gemeinschaft – welchen Namen sie 12 Robert Utzinger: Ernst Wiecherts Lebenswerk. In: Königsberger Bürgerbrief XII 1975, S. 4. 13 Utzinger, Wiecherts Lebenswerk, S. 4. 14 Utzinger, Wiecherts Lebenswerk, S. 5.

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tragen mag – schmiedet, sind die Werte, für die Wiechert immer wieder eintrat.“15 Utzinger ist hier deswegen so ausführlich zu Wort gekommen, weil er Leitthemen formulierte, vor fast 35 Jahren, die auch heute noch im literarischen Gespräch in der IEWG erörtert werden. Am 19. März 1983 wurde in Wolfratshausen, in der Nähe der Loisachhalle, ein Gedenkstein für Ernst Wiechert enthüllt.16 Die Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) war bei diesem Festakt durch ihren Vorsitzenden Klaus Weigelt und seinen Vorgänger Arnold Bistrick vertreten, zu dem der Bürgermeister von Wolfratshausen, Brockard, eingeladen hatte. Auch hier hielt Robert Utzinger die Festrede; unter den zahlreichen Ehrengästen befanden sich Jutta Kalisch aus der Schweiz, die Stieftochter Ernst Wiecherts, und seine Stiefenkelin Michaela Rieger aus der Nähe von München. Über seine Ostpreußenreise nach Masuren, u. a. nach Sowirog am Niedersee 1984, hat der Verf. in seinem Bericht zum 10. Geburtstag der IEWG geschrieben.17 Diese Reise war der Durchbruch. Ohne diese Reise hätte es weder die Suche nach Guido Reiner noch eine Gründung der IEWG gegeben. Ein Aufarbeitung und Bewertung aller Ereignisse zum 100. Geburtstag des Dichters 1987 steht immer noch aus. Zahlreiche Ordner mit Materialien harren weiter der Auswertung. Allein über ein Dutzend seriöse Zeitungsartikel sind damals über Ernst Wiechert und sein Werk erschienen und beweisen, dass der Dichter ernst zu nehmen war und ist. Im engeren Umfeld gab es eine Reihe wichtiger Veranstaltungen. Die Zentralbibliothek Duisburg gab ein Heft zum 100. Geburtstag heraus.18 Veranstaltungen gab es am 17. Mai in Stäfa und in Oberschleißheim, am 18. Mai in Duisburg und in Wolfratshausen, am 1. Juni in Duisburg (mit der ersten Verleihung des von der Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) gestifteten Ernst-Wiechert-Preises an Guido Reiner), am 2. Juni in Bad Godesberg und am 13. Juni in Unna-Massen. 15 Utzinger, Wiecherts Lebenswerk, S. 6. 16 Klaus Weigelt: Gedenkstein für Ernst Wiechert in Wolfratshausen. In: Königsberger Bürgerbrief XXI 1983, S. 27. 17 Klaus Weigelt: Zehn Jahre Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft. In: Zuspruch und Tröstung. Beiträge über Ernst Wiechert und sein Werk. Hg. v. Hans-Martin Pleßke und Klaus Weigelt. Frankfurt a. M. 1999, S. 11 – 30. 18 Ernst Wiechert zum 100. Geburtstag. Herausgegeben zur Ausstellung „Ernst Wiechert zum 100. Geburtstag“ vom 9. – 31. 3. 1987 in der Zentralbibliothek Duisburg.

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Es war also schon über zwei Jahrzehnte lang seit 1968 immer wieder etwas geschehen, und zum 100. Geburtstag des Dichters 1987 sogar recht viel, ehe mit der Auslobung des Wiechert-Preises durch die Stadtgemeinschaft Königsberg auch der Gedanke reifte, eine eigene Gesellschaft für Ernst Wiechert ins Leben zu rufen. Es war vor allem die Erkenntnis, dass dieser Dichter eine Menge verborgener literarischer Schätze versprach, die zu heben sich lohnen würde. Das hatten 1987 und vorher neben Guido Reiner vor allem Hans-Martin Pleßke19, Helmut Motekat20, Jürgen Fangmeier21, Leonore Krenzlin,22 Gerda Hübert und Robert Utzinger aufgezeigt. 1989 war es schließlich soweit. Es muss aber eingeräumt werden, dass dem Ernst-Wiechert-Freundeskreis in Braunschweig der Vorrang gebührt, denn er wurde bereits 1988, wenn auch nicht als Verein, von Horst Radeck gegründet. Und diejenigen, die sich in Duisburg im Mai 1989 zur Gründung zusammenfanden, sind nicht die einzigen, die bereits 20 Jahre dabei sind. Noch im selben Jahr 1989 stießen viele Wiechertfreunde zur IEWG, die immer noch dabei sind. Man kann also sagen: die Gründung lag in der Luft, und schnell etablierte sich eine kleine, aber bis heute stabile internationale literarische Gemeinschaft. Als Kern der Arbeit der IEWG haben sich im Laufe der Zeit die alle zwei Jahre abgehaltenen wissenschaftlichen Arbeitstagungen bewährt. Die ersten beiden fanden 1991 und 1993 im Heinrich-Pesch-Haus in Ludwigshafen, die folgenden – bis zur 10. Tagung 2009 – in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim an der Ruhr statt,

19 Hans-Martin Pleßke: Ernst Wiechert. Reihe Christ in der Welt Heft 15. Berlin, 3. durchgesehene Auflage, 1965. Vgl. auch Hans-Martin Pleßke: Der die Herzen bewegt. Ernst Wiechert. Dichter und Zeitzeuge aus Ostpreußen. Hamburg 2005. 20 Helmut Motekat: Ostpreußische Literaturgeschichte. München 1977. Vgl. S. 384 – 390. Siehe auch: Helmut Motekat: Ernst Wiechert: „Ich weiß, woher ich stamme“. In: Der Dichter und die Zeit. Verantwortete Zeitgenossenschaft. Ernst Wiechert (1887-1950-1987). Mit Beiträgen von Helmut Motekat, Guido Reiner, Klaus Weigelt. Vorträge und Beiträge der Politischen Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Heft 6, Alfter-Oedekoven 1987, S. 7 – 17. 21 Jürgen Fangmeier: Ernst Wiechert. Ein theologisches Gespräch mit dem Dichter. Theologische Studien 117. Theologischer Verlag Zürich 1976. 22 Leonore Krenzlin: Suche nach einer veränderten Lebenshaltung. Ernst Wiecherts Das einfache Leben. In: Erfahrung Nazideutschland. Romane in Deutschland 1933 – 1945. Hg. v. Sigrid Bock und Manfred Hehn. Berlin und Weimar 1987, S. 384 – 411.

Ernst Wiechert in der Gegenwart

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mit einer Ausnahme: die fünfte Tagung fand 1999 im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin statt. Im Mittelpunkt der Tagungen stehen Vorträge mit Diskussionen, literarische Gespräche über Werke Ernst Wiecherts, Lesungen und kulturelle Programme. Die Vorträge wurden in den Schriften der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft herausgegeben, von denen bisher drei – 1993, 1999 und 2002 – erschienen sind.23 Andere Beiträge und Informationen erscheinen in den „Mitteilungen“, von denen bisher 12 publiziert wurden. Als neuestes Organ haben sich die „WiechertBriefe“ bewährt, von denen es bereits fünf Ausgaben gibt. Als unverzichtbarer Bestandteil der Tagungen haben sich, beginnend mit der zweiten Tagung 1993, die Gruppengespräche über einzelne Werke Wiecherts herausgestellt. Diese werden bereits in der vorhergehenden Tagung festgelegt, damit genügend Zeit für die vorbereitende Lektüre vorhanden ist, dann unter fachlich ausgewiesener Leitung durchgeführt und in einem abschließenden Plenum zusammengefasst. Auf diese Weise wurden schon die Jerominkinder (1993), Das einfache Leben (1995), Wlder und Menschen sowie Der weiße Bffel (1997), Die Magd des Jrgen Doskocil (1999), die Novellen „Tobias“, „Geschichte eines Knaben“ und die „Hirtennovelle“ (2005) und Der Exote (2007) intensiv bearbeitet und im Gedächtnis der Teilnehmer verankert. Als besonders nachhaltig und beeindruckend hat sich 2003 ein Vergleich der Bücher Der Knecht Gottes Andreas Nyland von Ernst Wiechert und Der Narr in Christo Emanuel Quint von Gerhart Hauptmann erwiesen. Während der Gründungs- und Konsolidierungsphase der Gesellschaft war der französische Jesuitenpater Guido Reiner Vorsitzender der IEWG. Nachdem dieser sich 1996 zurückgezogen und wieder seinen geistlichen Pflichten zugewandt hatte, übernahm 1997 Hans-Martin Pleßke die Leitung. In seine Amtszeit bis 2001 fallen eine Reihe bedeutender Ereignisse. So machte die IEWG 1998 eine 12 tägige Exkursion nach Masuren, wo alle wichtigen Wiechert-Stätten vom Geburtshaus in Kleinort über die Familiengräber bis zu den Städten und Seen der masurischen Umgebung besucht wurden. Ebenfalls im Jahre 1998 trat die IEWG der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften ALG bei, in der sich über 200 literarische Gesellschaften zusammengeschlossen haben. 23 Band 1: Ernst Wiechert heute, 1993. Band 2: Zuspruch und Tröstung, 1999. Band 3: Von bleibenden Dingen, 2002.

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Im Jahre 2000 gab es zum 50. Todestag des Dichters nicht nur ein Sonderpostwertzeichen der Deutschen Post, sondern auch ein sehr gelungenes Wiechert-Gedenken in Ambach und Wolfratshausen, das in zwei Sonderheften der Mitteilungen dokumentiert wurde. 2001 schloss die Amtszeit von Hans-Martin Pleßke mit der Verleihung des ErnstWiechert-Preises an die russische Germanistin Lidia Natjagan und den russischen Dichter Sem Simkin ab, die für ihre bahnbrechenden Übertragungen von Werken Wiecherts ins Russische geehrt wurden. Werke des Dichters in russischer Sprache hatte es zuvor nicht gegeben. Im Jahre 2001 übernahm Bärbel Beutner die Leitung der IEWG. Sie wurde 2009 für weitere vier Jahre wiedergewählt. Mit dem Theologen und Literaturwissenschaftler Guido Reiner, dem Bibliothekswissenschaftler und Germanisten Hans-Martin Pleßke und der Germanistin Bärbel Beutner ist es der IEWG bisher gelungen, immer ausgewiesene und promovierte Fachwissenschaftler für ihre Arbeit an der Spitze zu gewinnen. Das hat sich auf die Arbeit der Gesellschaft und ihre Ergebnisse vorteilhaft ausgewirkt. In Zukunft wird die IEWG ihre wichtigsten Arbeitsergebnisse bei einem wissenschaftlichen Verlag herausgeben, um so noch mehr auf die Fachdiskussion Einfluss nehmen zu können. Die Internationalität der Gesellschaft ist – zumindest im Rahmen der Mitgliedschaft – gegeben. Die IEWG hat Mitglieder in Australien, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Litauen, Luxemburg, Polen, der Russischen Föderation und der Schweiz, also in 10 Nationen. Am stärksten sind die Gruppen in Polen und der Russischen Föderation, dort im Kaliningrader Gebiet. Was die internationale Präsenz bei den Tagungen angeht, so wird noch einige Mühe notwendig sein, sicher auch finanzieller Aufwand, um diese wieder zu verstärken. Die Planungen sehen vor, dass im September 2010 anlässlich des 60. Todestages des Dichters eine Tagung in Süddeutschland und in der Schweiz stattfinden wird; für 2011 ist die 11. wissenschaftliche Arbeitstagung wieder in Mülheim geplant; und 2012 könnte zum 125. Geburtstag Ernst Wiecherts eine gemeinsame Tagung mit den russischen Wiechert-Freunden in Kaliningrad/Königsberg stattfinden. Außerdem sollen in der Zwischenzeit neue Mitglieder und um Spenden geworben werden. Nach diesem hier vorliegenden Band 4 der Schriften mit gesammelten Aufsätzen ist ein Band 5 mit ausgewählten Briefen Ernst Wiecherts geplant; das gilt auch für eine wissenschaftliche Ernst-Wiechert-Biografie, die für 2012 vorgesehen ist.

Ernst Wiechert in der Gegenwart

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Schaut man sich an, was in 20 Jahren in und mit der Ernst-Wiechert-Gesellschaft gewachsen ist, dann kann man erstaunt sein. Wenn damals nicht dieser Schritt in eine ungewisse Zukunft getan worden wäre, dann hätte alles das, was hier berichtet worden ist und was auch der vorliegende Band dokumentiert, nicht geschehen können. Als besondere Fügung darf es gesehen und verstanden werden, dass die Gründung der IEWG in eine Zeit fiel, in der die innerdeutsche Grenze sich öffnete und so Wiechert-Freunde aus den neuen Ländern dazu stießen. 1991 konnte so die deutsche Einheit – als Einheit der Wiechert-Freunde – glückhaft in Ludwigshafen erlebt werden. Dazu kam die internationale Öffnung. Frankreich war ja schon seit der Gründung dabei. Nun kamen die Schweiz, Polen, bald auch die Russische Föderation und andere Länder hinzu und bereicherten die Treffen und die Mitgliedschaft. Immer wieder haben die IEWG und eine breitere Öffentlichkeit es erleben können, dass Zeugnisse von Ernst Wiechert weiterleben und in der Kultur Deutschlands aufscheinen. Zu erinnern ist an die Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog zum 50. Jahrestag des Kriegsendes im Jahre 1995, in der er Ernst Wiechert zitierte. Zu denken ist an das Zeugnis von Ralph Giordano über Ernst Wiechert in seinem Buch Ostpreußen ade. 24 Die IEWG begrüßt jede Neuerscheinung von Wiechert-Werken, wie im Jahr 2008 die kommentierte Neuausgabe des Totenwald im Suhrkamp-Verlag.25 Die IEWG nimmt dankbar zur Kenntnis, wenn Wiecherts literarische Würdigung der Menschlichkeit des Kommunisten Johannes Becker im Totenwald, öffentlich, wie in Saarbrücken geschehen, beachtet wird.26 Abschließend sei ein Wort zur literarischen Entwicklung der IEWG in den letzten 20 Jahren gestattet. Drei Gedanken seien hier festgehalten:

24 Ralph Giordano: Ostpreußen ade. Reise durch ein melancholisches Land. Köln 1994. Vgl. S. 303 – 315. 25 Ernst Wiechert: Der Totenwald. Ein Bericht. Mit einem Essay von Klaus Briegleb. Frankfurt a. M. 2008. 26 Der aus einem Dorf bei Saarbrücken stammende Kommunist Johannes Becker war gleichzeitig mit Ernst Wiechert im KZ Buchenwald inhaftiert. Wiechert hat ihm im Totenwald in der Figur des Hans ein Denkmal der Menschlichkeit gesetzt. 2008 wurde Becker in dem Dokumentarfilm „Johannes Becker – Fragmente eines Lebens“ gewürdigt. In diesem Film spielen der Totenwald und Ernst Wiechert eine große Rolle.

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1. Im Zentrum der wissenschaftlichen Tagungen steht das literarische Gespräch. Dieses Gespräch wird von erfahrenen Experten geleitet, aber es ist ein offenes Gespräch, das deutlich macht: Literatur ist nicht nur etwas für Literaturexperten, sondern für jeden, der liest und sich an Literatur erfreut. Das Gespräch bereichert durch die Vielseitigkeit der Aspekte und öffnet dadurch neue Dimensionen. So ist immer wieder zu erkennen, dass Literatur nichts Statisches ist, sondern die Texte gewinnen in einer neuen Kontextualität, also einer neuen Zeit und Wirklichkeit, auch Bedeutungsveränderungen. – Auf Ernst Wiechert bezogen heißt das: im Gespräch begegnet der Dichter dem Leser immer wieder neu. Auch längst Bekanntes gewinnt oft ein neues Gesicht. Die IEWG hat in ihren zehn wissenschaftlichen Arbeitstagungen einen Beitrag zum dialogischen Literaturverständnis erbracht und den Mitgliedern, jedem für sich, dadurch auch neue Zugänge zu Ernst Wiechert erarbeitet. Das ist eine sehr wichtige Leistung der Internationalen ErnstWiechert-Gesellschaft. 2. Ein zweiter Aspekt ist der internationale. Ob nach dem Ableben der wichtigsten Zeitzeugen in der Schweiz dort wieder eine größere Anhängerschaft für das Werk Ernst Wiecherts aufgebaut werden kann, ist ungewiss. Vielleicht gibt die für das Jahr 2010, zum 60. Todestag des Dichters, geplante Tagung in Süddeutschland mit einem Besuch in der Schweiz einen neuen Anstoß, neue Schweizer Freunde zu finden. Die Arbeit in Polen hat der Wiechert-Freund Horst Radeck von Anfang an getragen und mit großem, auch finanziellem Engagement zu einem guten Erfolg geführt. Dabei kam ihm zugute, dass Wiechert in Polen bekannt und bereits ein großer Teil seines Werkes ins Polnische übersetzt ist. Es wird sich zeigen, wie die Polen zukünftig mit Wiecherts Erbe umgehen, wenn sie es selbständig weiterführen müssen. Horst Radeck wurde für seine unschätzbaren Verdienste zum Ehrenmitglied der Ernst-Wiechert-Gesellschaft ernannt. Mit Russland ist der IEWG ein bahnbrechender Erfolg gelungen. Dank Lidia Natjagan, die bereits 2001 – gemeinsam mit Sem Simkin – mit dem Ernst-Wiechert-Preis ausgezeichnet wurde, gibt es jetzt die beiden autobiographischen Werke des Dichters Wlder und Menschen und Jahre und Zeiten in einem Band erstmals in russischer Sprache. Am 18. Mai 2009 traf sich eine Reisegruppe von Königsbergern mit Kaliningradern vor dem früheren Hufengymnasium in Kaliningrad, das heute als Berufsschule dient. Die Gruppe war erstaunt, nicht nur die Germanistin Lidia Natjagan und den Dichter Sem Simkin, mit denen man sich verabredet hatte, sondern auch noch weitere, vor allem jün-

Ernst Wiechert in der Gegenwart

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gere Menschen und Studenten anzutreffen, die sich zum 122. Geburtstag Ernst Wiecherts eingefunden hatten; Blumen wurden an dem Gedenkstein niedergelegt, den Sem Simkin vor zehn Jahren rechts neben dem Eingang zur Schule hatte aufstellen lassen. Auf ihm wird in deutscher und russischer Sprache auf die Lehrertätigkeit Ernst Wiecherts am Hufengymnasium hingewiesen; Fotos wurden gemacht, Worte des Gedenkens gesprochen. Anschließend ging man ins Wiechert-Zimmer, gleich im Erdgeschoss der Schule; eine kleine Ausstellung war vorbereitet, Reden wurden gehalten: Die Direktorin der Schule begrüßte die deutschen und russischen Gäste und sprach mit Stolz von dem großen Dichter, der an dieser Schule unterrichtet habe. Lidia Natjagan berichtete von der Arbeit der russischen Wiechert-Freunde und zeigte ihr Buch, die erste russische Ausgabe der beiden autobiografischen Werke Wiecherts, Wlder und Menschen und Jahre und Zeiten. Sem Simkin sprach von seinen Nachdichtungen deutscher Lyrik ins Russische. Anschließend besichtigte man im ersten Stock einen größeren Raum, der wegen der zunehmenden Anzahl der Exponate als zukünftiger Wiechert-Raum zur Verfügung stehen soll. Die Kaliningrader Gruppe umfasst über 30 Wiechert-Interessenten und bespricht in monatlichen Treffen literarische Themen. Damit ist neben der polnischen Gruppe in der Region um den Geburtsort Ernst Wiecherts Kleinort herum, die schon seit vielen Jahren dank der Bemühungen von Horst Radeck besteht, nun auch eine russische Gruppe in Kaliningrad Bestandteil der IEWG. 3. Schließlich soll ein dritter und letzter Punkt von literarischem Gewicht genannt werden: Die IEWG ist weder ein Heimatverein geworden, noch eine Gesellschaft kritikloser Verehrer von Ernst Wiechert. Das hätte Ernst Wiechert auch nie gewollt. Vielmehr würde er den manchmal durchaus kritischen Diskussionen mit Interesse, vielleicht auch hier und da mit verschmitztem Lächeln folgen. Auf jeden Fall würde er sich darüber freuen, wie bereichernd auch 60 Jahre nach seinem Tod noch immer sein Werk ist. Die 10. wissenschaftliche Arbeitstagung hat gezeigt, dass ein kritisches Herangehen an das Werk Ernst Wiecherts, ja selbst ein Lächeln über erste Versuche wie den Roman des Zwanzigjährigen Der Buchenhgel, die Größe des Dichters nicht schmälert, sondern eher unterstreicht: die Vielseitigkeit und Tiefe, der Reichtum und die literarische Qualität seines Werkes werden betont. So soll zum Schluss noch einmal Robert Utzinger aus seiner Rede von 1975 zu Wort kommen:

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„Was sagt uns Wiechert heute? Nehmen wir getrost Wiecherts Werk zur Hand. Er stand am Scheideweg und hat seinen Weg gewählt. Keiner von uns entgeht dieser Wahl.“27

27 Utzinger, Wiecherts Lebenswerk, S. 6.

Thomas Mann und Ernst Wiechert Eine Beziehung zwischen Animosität und Einsicht1

leonore krenzlin Thomas Mann und Ernst Wiechert – aus der Sicht von heute wirkt die Kombination dieser beiden Namen verblüffend, ja sogar ein wenig unangemessen: Der eine, Thomas Mann, gilt bis zur Stunde als großer, womöglich als der größte deutsche Romancier. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode erreicht sein Werk in Deutschland noch immer ansehnliche Auflagen, und es gehört unbestritten zur Weltliteratur. Thomas Manns Romane und Novellen wurden mehrfach verfilmt, was ihnen neue Leser zuführte, und das öffentliche Interesse an der Familie Mann wurde durch eine dokumentarische Fernsehserie vor einigen Jahren aufs neue geweckt. Ernst Wiechert dagegen muss man gegenwärtig als einen von der Öffentlichkeit vergessenen Schriftsteller bezeichnen. Zwar war er in den dreißiger Jahren in Deutschland zu einem der beliebtesten – und demzufolge auch auflagenstärksten – Autoren aufgerückt, um den sich eine regelrechte Lesergemeinde gebildet hatte. Doch nachdem er in der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre hinein als Vorzeigeschriftsteller der „Inneren Emigration“ und als „Dichter der Stille“ verehrt wurde, verschwand er aus den Schullesebüchern und aus dem Bildungskanon, und selbst Germanisten kennen, falls sie jünger als fünfzig Jahre sind, kaum noch seinen Namen. Ein allgemeiner Umbruch des literarischen Geschmacks hat das Seine dazu getan, Wiecherts Texte als zu blumig, zu sentimental und zu weitschweifig, kurzum: als altmodisch abzutun. Dass sie im Buchhandel fast sechs Jahrzehnte nach seinem Tod nur noch selektiv erhältlich sind, ist die – als natürlich geltende – Folge dieser Situation. Im Rückblick erscheinen die beiden also als ein sehr ungleiches Paar, und bei flüchtiger Betrachtung des Materials entsteht der Ein1

Für den Druck erweitertes Referat, gehalten auf der Konferenz „,The golden Gate‘. Mutual Perceptions of Exile and ,Inner Emigration‘“, veranstaltet vom Institute of Germanic Studies and the Konrad-Adenauer-Foundation am 24. September 2003 in London.

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druck, es könne von einer ,Beziehung‘ zwischen beiden keine Rede sein. Belege für eine persönliche Begegnung zwischen ihnen gibt es – von einer späten Ausnahme abgesehen – nicht, und es hat auch kaum Gelegenheiten dazu gegeben. Von den Gremien, in denen Schriftsteller gewöhnlich aufeinandertreffen, hielt sich Ernst Wiechert den größten Teil seines Lebens fern. Nur in seinen drei Berliner Jahren war er geselliger: Er besuchte die Zusammenkünfte des christlich gestimmten literarischen „Eckart“-Kreises und der stockkonservativen, nationalistisch orientierten Fichte-Gesellschaft,2 die ebenfalls Schriftsteller um sich zu scharen suchte. Und für kurze Zeit war Wiechert in Berlin auch Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, der gewerkschaftlichen Organisation der schreibenden Zunft.3 Aber an diesen Orten war Thomas Mann nicht zu finden, und in die Abteilung Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, wo Thomas Mann und sein damals noch berühmterer Bruder Heinrich Mann als Mitglieder saßen, wurde Ernst Wiechert nicht gewählt. Auch einen brieflichen Kontakt – unter Schriftstellern ein beliebter Weg, um ranghöhere Kollegen auf sich aufmerksam zu machen – hat Wiechert offenbar nicht herzustellen versucht. Kann es demnach zwischen den beiden überhaupt Berührungspunkte gegeben haben? Sicherlich hatte Ernst Wiechert das eine oder andere Buch von Thomas Mann gelesen, auch wenn er sich dazu nie geäußert hat. Aber hat Thomas Mann den minder berühmten Außenseiter Ernst Wiechert jemals wahrgenommen? Wenn man ein wenig nachgräbt, lässt sich für die zwanziger Jahre immerhin eine indirekte Verbindung zwischen den beiden entdecken. Thomas Mann saß im Jahre 1929 in jenem Preisrichterkollegium, das Ernst Wiechert einen angesehenen Literaturpreis zusprach. Es handelte sich um den „Literaturpreis der europäischen Zeitschriften“, der von fünf Literaturzeitschriften gemeinsam vergeben wurde: der in Berlin erscheinenden Europischen Revue, der Pariser Nouvelle revue francaise, der italienischen Nuova antologia, der spanischen Revista de occidente und der

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Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. In: Ernst Wiechert: Sämtliche Werke. Wien/München/Basel 1957, Bd. 9, vgl. S. 619. Ernst Wiechert erwähnt in seinen Erinnerungen die Mitgliedschaft im SDS nicht. Sie ist jedoch durch eine Mitgliederliste des SDS für das Jahr 1932 nachgewiesen. Vgl. Ernst Fischer: Der „Schutzverband Deutscher Schriftsteller“ 1909 – 1933. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Band 21, Frankfurt am Main 1980, Spalte 246 – 248.

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britischen Zeitschrift The Criterion. 4 Ernst Wiechert erhielt den Preis für seine Novelle „Der Hauptmann von Kapernaum“,5 die ihren Stoff aus der damaligen Gegenwart – den Arbeiteraufständen im Deutschland der zwanziger Jahre – bezog. Ohne es zu wissen – denn die Namen der Einsender bleiben ja für die Jurymitglieder bis zur Entscheidung geheim – hat Thomas Mann jedenfalls in diesem einen Falle dem literarischen Schaffen Ernst Wiecherts seine Achtung bezeugt. Zwar erledigte gewöhnlich Katja Mann anstelle ihres Ehemanns die Fleißarbeit, bei Preisausschreiben die eingereichten Manuskripte zu lesen, die Masse der ungeeigneten Texte auszusortieren und eine Vorauswahl zu treffen. „Das verdammte Preisausschreiben“, stöhnt sie im Jahre 1924 in Briefen an ihre Tochter Erika und teilt mit: „Ich […] muß ja nun 35 Romane lesen, die die Kölnische Zeitung die Schamlosigkeit besaß zu schicken, ungelesen, weil die Herren keine Zeit dazu haben, aber Deutschlands erster Dichter, der hat Zeit!“6 Die Prozedur ist im Jahre 1929, als Ernst Wiechert ausgezeichnet wurde, sicherlich nicht viel anders gewesen. Aber die letzte Entscheidung über den auszuzeichnenden Text dürfte ja dann doch der Meister selber getroffen haben, und so kann man davon ausgehen, dass Thomas Mann die preisgekrönte Novelle von Ernst Wiechert zumindest gelesen und gebilligt hat. In einem anderen Fall findet man die beiden durch zwei Buchdeckel vereinigt. Jeder von ihnen hat nämlich einen Beitrag für eine Anthologie verfasst, die im Jahre 1931 im Eckart-Verlag erschienen ist. Unter dem Titel Dichterglaube werden darin die Antworten von zeitgenössischen Schriftstellern auf eine Umfrage nach ihrem „religiösen Erleben“ wiedergegeben.7 Ein wenig verblüfft kann man feststellen, dass Thomas Mann und Ernst Wiechert von verschiedenen Ausgangspunkten her und mit sehr verschiedenen Worten letzten Endes etwas Ähnliches sagen. Er wisse nicht, ob er zu glauben imstande sei, meint Thomas Mann. Er fühle sich freilich „vom ewigen Rätsel […] dicht bedrängt“, womit besonders das Wissen um den Tod gemeint sei. Doch könne er gegenüber einem „,Gott‘, der das Einsteinsche All erschaffen 4 5 6 7

Guido Reiner: Ernst Wiechert im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Paris 1974, vgl. S. 6 – 7. Ernst Wiechert: Der Hauptmann von Kapernaum. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 213 – 230. Katja Mann an Erika Mann, 8.12. u. 12. 8. 1924, zit. n.: Inge und Walter Jens: Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 143. Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens. Hg. v. Harald Braun, Berlin 1931.

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hat“, keine Unterwerfungsgefühle entwickeln, wie es die Religion fordere. Denn: „Ein ,Werk‘, eine ,Welt‘, einen äußerst komplizierten und in sich ruhenden Mechanismus mit irrationalen Einschlägen herstellen kann ich auch; das ist keine Kunst, vielmehr: es ist nichts weiter als Kunst und kein Grund, mit der Stirn den Boden zu schlagen.“8 Das Religiöse, so wie er es verstehe, sei „der Gegensatz […] des Ethischen, der Welt der Pflichten also“. Denn der Mensch sei „ein Wesen, welches am Geiste teilhat“, ein „geistig-fleischliches Doppelwesen“, und das Religiöse liege „in ihm, in seiner Zweiheit aus Natur und Geist beschlossen.“ Und so kommt Thomas Mann zu dem Schluss, dass das Religiöse ein für allemal ein Rätsel bleibe: „Die Stellung des Menschen im Kosmos, sein Anfang, seine Herkunft, sein Ziel, das ist das große Geheimnis, und das religiöse Problem ist das humane Problem, die Frage des Menschen nach sich selbst.“ In diesem Sinne sei sein Zauberberg-Roman „ein religiöses Buch“ zu nennen – „gerade wegen seiner Einschläge von Fleischesmystik“. Ein humanistisch akzentuierter Pantheismus ist hier also beschrieben, welcher eher unauffällig von der institutionalisierten christlichen Religion – „der Welt der Pflichten also“ – abgekoppelt wird: Geist und Fleisch sind untrennbar, der Mensch hat Teil am Geist, braucht also keine Vermittlung zu Gott und auch keine ethischen Anweisungen von Gott, denn er ist – zumal als Künstler – gottgleich. Ernst Wiechert dagegen scheint zunächst – mit blumigeren Worten und einer reichlich sprunghaften Syntax und Bilderlogik – das Gegenteil zu behaupten.9 Er beginnt mit der These, dass „der Dichter seine Wurzeln in Gott haben muß, um blühen zu können“, so wie „ein Baum seine Wurzeln im Dunklen haben muß, um blühen zu können“. Das klingt, als sei ihm – ganz im Gegensatz zu Thomas Mann – der Glaube an einen persönlichen Gott gar nicht fraglich: Gott ist der Urgrund für das Naturgeschehen, und der Gottesglaube die Bedingung für dichterisches Schaffen. Doch die Relativierung des Gottesbegriffes lässt nicht auf sich warten. Gott habe viele Kleider und Namen und Wohnungen in seinem Reich, so führt Wiechert aus – für den „Dichter der Psalmen“ sei er „der Bekannte“, für Nietzsche „der Unbekannte“ gewesen, für Dostojewski „der weiße Heiland“ und für Rilke „der Dunkle“, für den „Dichter des Krieges“ habe er „Vaterland“ und für den „Dichter der Revolution“ habe er „Freiheit“ geheißen. Wichtig sei 8 9

Thomas Mann, in: Dichterglaube, S. 199 – 200. Ernst Wiechert in: Dichterglaube, S. 341 – 344.

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jedoch weder die Benennung noch der Gegenstand der Verehrung. Wichtig sei allein der Glaube des Dichters an „etwas Unsichtbares, das im Dunklen war“ und das von Wiechert gleichgesetzt wird mit dem „Behüteten und Unzerstörbaren, wo ihre Mütter wohnten“. Nach einem personalen, außerweltlichen Gott sieht dieses von Müttern bewohnte Unzerstörbare, welches „die dunkle, kühle Erde ist“, ja nun nicht gerade aus – eher handelt es sich um eine gehörige Portion von dem, was Thomas Mann „Fleischesmystik“ nannte. Denn die Beziehung zwischen den Dichtern und dem Dunklen, das Gott ist, besteht bei Wiechert in einer seltsamen Unio mystica: Einerseits steigt das „Blut“ der Dichter aus dem „Dunklen“, somit aus Gott empor und gewährleistet deren Schöpfertum – aber andererseits bringen die Dichter Gott überhaupt erst mittels ihrer Dichtung ans Tageslicht. Sie bringen ihn in einer Schwebe zwischen Gebären und Enthüllen den Menschen nahe: „[…] sie gebaren ihn. Mit jedem Vers enthüllten sie das Verhüllte.“ Dabei fällt auf, dass Wiechert offenkundig das Dunkle nicht wie Thomas Mann für ein unlösbares Rätsel hält, sondern es als eine zumindest partiell lösbare Aufgabe auffasst: Den Dichtern fällt die Aufgabe zu, das Dunkle heller und sichtbarer zu machen. Natur, Gott und Mensch, Letzterer repräsentiert durch die Dichter, bilden demnach – ganz wie bei Thomas Mann – eine physisch-geistige Einheit, aus der Wiechert allerdings nicht eine unauffällige, sondern eine sehr nachdrückliche Relativierung der christlichen Religion und eine vehemente Ablehnung der Kirche ableitet: Für die Enthüllungstätigkeit der Dichter war es „nicht immer gut, daß Christus geboren wurde, und noch weniger gut, daß aus seiner Saat das Christentum entstand“, so teilt Wiechert mit. Denn Christus habe nicht von den Tieren und nicht von den Wäldern gewusst, von denen Gott doch wisse; und Christus habe von dem Gehorsam gegen die Obrigkeit gewusst, während Gott die von der Obrigkeit „Erniedrigten und Beleidigten“ kenne und ihnen ein „Recht des Ungehorsams“ gegenüber der Obrigkeit einräume. Die Kirche schließlich habe eben diese Defizite der christlichen Lehre institutionalisiert und die sozialen Unterschiede festgeschrieben: In ihren Räumen habe sie „Gestühl für die Reichen“ und „Bänke für die Armen“ aufgestellt, und sie verlange für Glockengeläut und Beerdigungen Geld. Ich kann in dieser Beschreibung religiösen Erlebens nichts anderes erkennen als einen sozial engagierten, antikirchlich akzentuierten Pantheismus, welcher humanzentrierte Weltbilder wie das von Thomas Mann im Namen eines Naturganzen unter Kritik stellt. Für Wiechert

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folgen daraus ethische Soll-Werte, auf welche sich die Dichter eingestellt haben: „Sie wollen die Tränen des Diesseits trocknen und nicht die des Jenseits weinen.“ Auch Ernst Wiechert entwickelt demnach nicht gerade „Unterwerfungsgefühle“. Allerdings lässt sich das bei ihm vereinbaren nicht nur mit einer Empörungs-, sondern auch mit einer Demutsmetaphorik: Die Dichter „beteten nicht an, sie knieten nicht“, aber sie sind zugleich „Gottes treueste und ärmste Knechte.“ Pantheismus – mit freilich ganz unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – ist jedenfalls bei beiden anzutreffen. Haben die zwei Schriftsteller seinerzeit ihre Statements wechselseitig gelesen, als sie die Belegexemplare der Braun’schen Anthologie in ihren Händen hielten – und haben sie die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede in ihrer Position bemerkt? Ob sie diese Möglichkeit zur gegenseitigen Wahrnehmung ergriffen haben, wissen wir nicht. Auf der Suche nach weiteren Gelegenheiten, bei denen die beiden Autoren sich gegenseitig zur Kenntnis hätten nehmen können oder müssen, scheint es mir sinnvoll, nach ihrer Rolle im öffentlichen Leben ihrer Zeit zu fragen. Denn schließlich sind beide mehrfach in politischen Zusammenhängen weithin sichtbar aufgetreten. Dabei weist ihr Verhalten ebenfalls einige unerwartete Ähnlichkeiten auf, wenn die Phasen auch bisweilen gegeneinander verschoben waren. Der 1887 geborene Ernst Wiechert trat in seine nationalistische Phase eben zu dem Zeitpunkt ein, als Thomas Mann die seine gerade überwunden hatte: Im Jahre 1922 hielt der zwölf Jahre ältere Thomas Mann seine „Rede von Deutscher Republik,“10 in der er seine Position korrigierte und die konservative Öffentlichkeit mit der Weltkriegsniederlage, dem Verlust des Kaiserhauses und der neuen Staatsform Deutschlands zu versöhnen trachtete. Im gleichen Jahre 1922 erschien Wiecherts hassvoll gegen die Weimarer Republik gerichtetes Buch Der Wald,11 und er schrieb bereits an seinem nächsten, deutsch-völkisch akzentuierten Weltkriegsroman. Unter dem Titel Der Totenwolf machte er Wiechert 1924 mit einem Schlage bekannt und brachte ihm – durchaus zu Recht – den Ruf eines rechtsradikalen Streiters ein.12 10 Thomas Mann: Von Deutscher Republik. In: Thomas Mann: Reden und Aufsätze. Bd. 3, Frankfurt a. M. 1990, S. 809 – 852. 11 Ernst Wiechert: Der Wald. Berlin 1922. 12 Ernst Wiechert: Der Totenwolf. Regensburg Leipzig 1924. – Zur Einschätzung des Romans vgl. Leonore Krenzlin: Heimkehrer des ersten Weltkriegs. Ein Motivvergleich von Friedrich Grieses „Feuer“ mit frühen Romanen Ernst

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Ende der zwanziger Jahre und verstärkt mit seiner 1930 erfolgten Übersiedelung nach Berlin kam bei Wiechert dann ebenfalls ein politisch-weltanschaulicher Wandel in Gang, der sich an der erwähnten preisgekrönten Novelle „Der Hauptmann von Kapernaum“ und seinem zu Beginn der dreißiger Jahre entstandenen, doch erst 1951 aus dem Nachlass veröffentlichten Roman Der Exote bereits ablesen lässt:13 Revolution und Republik werden von Wiechert jetzt akzeptiert, und die brennenden sozialen Fragen seiner Gegenwart werden von ihm zur Kenntnis genommen. Allerdings traf man Wiechert weiterhin in rechtskonservativen Kreisen an, und er behielt noch für mehrere Jahre das Image eines Sympathisanten der rechten Szene. Beide, Thomas Mann und Ernst Wiechert, machten also, wenn auch in verschiedenem Tempo und für die Öffentlichkeit unterschiedlich deutlich, eine Entwicklung vom Nationalkonservatismus hin zu demokratischen Positionen durch. Auch das Verhalten von Thomas Mann und Ernst Wiechert zum Machtantritt des Nationalsozialismus in Deutschland zeigt – von außen betrachtet – gewisse Ähnlichkeiten. Beide lehnen ab, was sich da zusammengebraut hatte, aber sie zögern mit einer öffentlichen Stellungnahme. Thomas Mann kehrte nach dem 30. Januar 1933 von einer Lesereise in der Schweiz nicht nach Deutschland zurück, konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, sich als Emigrant zu betrachten – was er in der Sache ja war. Er möchte sich zunächst eher der Inneren Emigration zurechnen – in seinem Tagebuch findet sich eine Bemerkung über „die innere Emigration, zu der ich im Grunde gehöre.“14 Er distanzierte sich sogar in Briefen vom „Emigrantengeist“15 – doch er wusste zugleich, dass er sich schon in einer „halben oder nicht ganz schroffen Emigration“ befand. An seinem „Abscheu vor den Zuständen“ in Deutschland lässt er gegenüber vertrauten Briefpartnern keinen Zweifel,16 und er denkt seit dem Frühjahr 1934 ernsthaft über „eine

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Wiecherts. In: Das Frühwerk Friedrich Grieses. Neubrandenburg 2002, S. 66 – 80. Ernst Wiechert: Der Exote. Roman. München 1951. Nachdruck in: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 539 – 717. Thomas Mann: Tagebücher 1933 – 1934. Hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1978, 7. 11. 1933, S. 243. Thomas Mann an Ernst Bertram, 9.1.1934. In: Thomas Mann: Briefe. 1889 – 1936. Hg. v. Erika Mann, Berlin Weimar 1965, Bd. 1, S. 384. Mann, Briefe, S. 394.

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buchförmige Auseinandersetzung höchst persönlicher und rücksichtsloser Art mit den deutschen Dingen“ nach.17 Thomas Mann sah sich in Wartestellung, denn er fühlte sich zwar bedroht, wollte aber seine Publikationsmöglichkeiten in Deutschland nicht gefährden und seine Leser nicht im Stich lassen. Aus diesem Grund gab er sich – auf Wunsch seines Verlegers – sogar dazu her, sich von der antifaschistischen Zeitschrift seines Sohnes Klaus zu distanzieren, als das erste Heft mit einer scharfen Polemik Heinrich Manns gegen das Naziregime erschien.18 Dass diese Absage – ohne Wissen Thomas Manns – in Deutschland veröffentlicht wurde, machte viel böses Blut unter seinen emigrierten Schriftsteller-Kollegen. Doch im Februar 1936 rechnet er in seinem Offenen Brief an Eduard Korrodi vehement mit dem nationalsozialistischen Regime ab und bekennt sich solidarisch mit dem literarischen Exil.19 Damit steigt Thomas Mann – als der berühmteste der exilierten deutschen Schriftsteller – zum Repräsentanten des „anderen“, eines nicht-nationalsozialistischen Deutschland auf – eine Rolle, die ihm Ehre einbringt, ihm aber auch Verantwortung und eine erhebliche Arbeitslast auferlegt. Ernst Wiechert handelt, äußerlich betrachtet, wie Thomas Mann zu Beginn der 1930er Jahre: Er blieb 1933 ebenfalls dort, wo er sich gerade befand, nämlich in Deutschland – und verhielt sich gegenüber Ereignissen wie beispielsweise der Bücherverbrennung zunächst recht diplomatisch, wie seine Rede vor Münchener Studenten im Juli 1933 deutlich zeigt.20 In einem Zeitungsartikel macht er im Dezember 1933 zwar kritische Bemerkungen zu Zwangsmaßnahmen wie den Bücherverboten und den kursierenden Schwarzen Listen. Doch im gleichen Atemzug bezeichnet er, ganz im Sinne der politischen Machthaber, die „übermäßige Verbreitung volksfremden Schrifttums in den letzten fünfzehn Jahren“ als ein Übel und nennt als Negativbeispiel die Namen

17 Mann, Briefe, S. 395. 18 Zu dem Vorgang vgl.: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891 – 1955. Hg. v. Klaus Schröter, Hamburg 1969, S. 206 – 214. 19 Thomas Mann: Offener Brief an Eduard Korrodi, 3.2.1936. In: Schröter, Thomas Mann, S. 269. 20 Ernst Wiechert: Der Dichter und die Jugend. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd.10, S. 349 – 367. – Bezüglich Wiecherts Haltung zur Bücherverbrennung vgl. Leonore Krenzlin: Nach dem Scheiterhaufen. Reaktionen von Schriftstellern im Deutschen Reich. In: Brennende Bücher. Erinnerungen an den 10. Mai 1933. Hg. v. Margrit Bircken u. Helmut Peitsch, Potsdam 2003.

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der exilierten Schriftsteller Remarque, Tucholsky und Glaeser, vor denen das deutsche Publikum bewahrt werden müsse.21 Wiecherts Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime wirkt nach außen hin unentschieden, und zunächst ist sie es wohl auch tatsächlich: Er grenzt sich von dem martialischen Treiben ab, das sich nicht übersehen ließ – aber er gibt auch immer wieder seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich die Wogen glätten werden. Im Dezember 1933 äußert er sich in Interviews während einer Skandinavien-Reise auf eine solche Art, dass er sowohl von der dänischen Presse als auch von den deutschen Behörden als ein Sendbote des nationalsozialistischen Deutschland angesehen wird.22 Es sind wohl erst die Röhm-Morde im Sommer 1934 gewesen,23 die eine grundsätzliche Haltungsänderung bei ihm einleiteten und ihn zu öffentlichen Protesthandlungen drängten. Wiecherts zweite Münchener Rede im April 1935, die Thomas Mann im Sommer 1936 in die Hand bekommen und im Tagebuch kommentieren wird, ist ein Schritt auf einem Wege, der Wiechert schließlich im Juni 1938 ins Konzentrationslager führte.24 Damit erlangt er für die Zeitgenossen ebenfalls den Rang eines Repräsentanten des „anderen“ Deutschland – er vertritt, wo nicht den aktiven politischen Widerstand, so doch zumindest die Widerständigkeit jener Deutschen, die sich dem Nationalsozialismus nicht unterwerfen wollten. Auf dieser Ebene standen sich also Thomas Mann und Ernst Wiechert Ende der dreißiger Jahre ebenbürtig gegenüber, und in dieser Rolle hat Thomas Mann zum ersten Mal nachweislich Ernst Wiechert zur Kenntnis genommen. In seiner Schweizer Zeit, im Sommer 1936, können wir in seinem Tagebuch Folgendes lesen: „Mit Beidlers auf der Terrasse gegessen. Er gab aus einer Abschrift größere Partien aus einer verbotenen Rede des Dichters Ernst Wiechert an Münchener Studen21 Ernst Wiechert: Vom Mittleramt des Buchhändlers. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Leipzig, Nr. 294, 19. 12. 1933, S. 978. 22 Leonore Krenzlin: Autobiografie als Standortbestimmung. Über Ernst Wiecherts „Wälder und Menschen“ im Kontext der Entstehungszeit. In: Zuspruch und Tröstung. Beiträge über Ernst Wiechert und sein Werk. Hg. v. HansMartin Pleßke und Klaus Weigelt, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1999, vgl. S. 137 – 142. 23 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, vgl. S. 654 – 656. 24 Vgl. Leonore Krenzlin: Erziehung hinter Stacheldraht. Wert und Dilemma von Ernst Wiecherts konservativer Opposition. In: Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus. Hg. v. Lothar Ehrlich, Jürgen John und Justus H. Ulbricht, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 149 – 161.

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ten zum Besten, die ein sehr würdiges Dokument darzustellen scheint, aus tiefem Leiden stammend. Eine moralische Blüte dieser Schandepoche in Deutschland, ergreifend und Gedenkens wert.“25 Und vierzehn Tage später, nachdem er den gesamten Text der Rede erhalten und in Ruhe durchgesehen hatte,26 ergänzt er: „Die verbotene Rede des deutschen Schriftstellers E. Wiechert, die ich durch Katzenstein erhielt. Schön zum Teil, oft verwaschen.“27 Thomas Manns Begeisterung ist also nach der vollständigen Lektüre der Rede ein wenig abgekühlt: Während er Wiechert zunächst noch einen „Dichter“ nannte, was im deutschen Sprachgebrauch bei Lesern und Autoren bekanntlich als eine Art Adelsprädikat gilt, stuft Thomas Mann ihn bei näherer Betrachtung als einen normalen „Schriftsteller“ ein, und er kritisiert die Verschwommenheit der Wiechert’schen Ausdrucksweise. Aber der Text bleibt nach seinem Urteil immer noch „schön zum Teil“, und an der moralischen Bewertung des „Dokuments“ sowie der Person Ernst Wiecherts macht er zu diesem Zeitpunkt keine Abstriche. Ein Blick in die Register der Thomas-Mann-Ausgaben zeigt, dass es in der Folge noch weitere Fälle von Bezugnahme gegeben hat. Dabei verblüfft, wie stark sie in ihrem Urteil voneinander abweichen. Ich greife aus den Tagebüchern zwei charakteristische Notate heraus, die zu einem anderen Zeitpunkt und demzufolge in einer anderen Situation niedergeschrieben worden sind. „Las gestern die ,Neue Schweizer Rundschau‘ mit einem lebendigen Artikel (…) über das zerstörte Deutschland (…) und Glossen zu den tragischen Ergüssen deutscher Dichter“, schreibt Thomas Mann im Juni 1946 im fernen Kalifornien. Und auf die – diesmal durchaus ironisch – als „deutsche Dichter“ titulierten Autoren im inzwischen besetzten Deutschland bezogen, fährt er fort: „verwaschen, nichtsnutzig gemüthaft, dünkelhaft und senti25 Eintragung vom 28. 6. 1936, in: Mann, Tagebücher 1935 – 1936, S. 322 – 323. 26 Vgl. Ernst Wiechert: Der Dichter und die Zeit. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 368 – 380. – In Bezug auf die Titel und Datierung von Wiecherts Reden herrscht in der Sekundärliteratur erhebliche Verwirrung. Als Hilfestellung für den Leser sei deshalb mitgeteilt, dass die Anmerkung zu dieser Tagebucheintragung den Titel der Rede ungenau mit „Der Dichter und seine Zeit“ und den Titel der Rede von 1933 falsch (als „Der Dichter und sein Volk“, recte: Der Dichter und die Jugend) wiedergibt. Mann, Tagebücher 1935 – 36, vgl. S. 610. Auch in: Mann, Tagebücher 1945 – 1948, S. 381 – 382, steht der ungenaue Redetitel sowie eine irrige Zeitangabe: Da Wiechert die Rede am 16. 4. 1935 hielt, lernte Thomas Mann sie 14 Monate später kennen. 27 Eintragung vom 13. 7. 1936, in: Mann, Tagebücher 1935 – 1936, S. 330.

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mental. Die ,Innere Emigration‘ mit Wiechert an der Spitze – unerträglich!“28 In dieser Notiz wird nicht nur die poetische Potenz und der Schreibstil der betreffenden Autorengruppe in Frage gestellt – auch ihre moralische Haltung wird mit den Attributen „nichtsnutzig“ und „dünkelhaft“ herabgewürdigt. Doch dann, nach einem weiteren halben Jahr, stimmt Thomas Mann in einer dritten Notiz plötzlich vorbehaltlos einer pessimistischen Formulierung zu, die Ernst Wiechert bezüglich des politisch-moralischen Zustands der Deutschen in einem Interview gegenüber einer schwedischen Zeitung geäußert haben soll:29 „Gelesen Tagesdinge in ,Nation‘ und ,Aufbau‘. Über den deutschen Antisemitismus“, so heißt es im Januar 1947, und dann weiter: „Wiechert über dies ,hoffnungslose‘ (zweideutiges Wort) Volk.“ Und er trägt im Tagebuch zustimmend den Ausspruch Ernst Wiecherts ein: „Käme Hitler wieder, 60 – 80 Prozent würden ihn mit offenen Armen empfangen.“30 Wiecherts Bitterkeit bezüglich der politischen Situation im Nachkriegsdeutschland macht es Thomas Mann in diesem Falle offenbar möglich, den ein halbes Jahr zuvor Verspotteten wieder akzeptabel zu finden.31 Neue Fakten über Ernst Wiechert, die sein Urteil hätten umstimmen können, konnten Thomas Mann zwischen 1936 und 1946 eigentlich gar nicht erreicht haben – das Wissen der Emigranten über die 28 Eintragung vom 22. 6. 1946, in: Mann, Tagebücher 1946 – 1948, S. 12. 29 Lennart Gothberg: Möte med Wiechert. In: Stockholms-Tidningen, Stockholm, 10.12.1946. Ernst Wiechert hat, nachdem dieses angebliche Interview einen Entrüstungssturm in den deutschen Zeitungen verursacht hatte, eine Erklärung abgegeben, dass er Stockholms-Tidningen kein Interview gewährt habe und dass die Zeitung seine Äußerungen in einem privaten Gespräch vergröbert wiedergegeben habe. Vgl. Guido Reiner: Ernst Wiechert im Urteil seiner Zeit. Eine Dokumentation. Paris 1976, S. 94 – 96. 30 Eintragung vom 7.1.47, in: Mann, Tagebücher 1946 – 1948, S. 85. 31 In der 1949 erschienenen Schrift zur Entstehung des Romans „Dr. Faustus“ kommt Thomas Mann auf diese Notiz zurück und akzentuiert seine Zustimmung noch einmal durch die Ergänzung: „daß dabei zwei Hoffnungslosigkeiten sich begegneten, nämlich die deutsche und die unserer Okkupationspolitik, blieb unausgesprochen“. Zugleich hält er es aber wieder für nötig, diese Zustimmung abwertend durch die sarkastische Bemerkung zu unterlaufen: „Wiechert aber ist seither zur ,Äußeren Emigration‘ übergegangen und hat seinen Wohnsitz in der Schweiz genommen, – aus akutem Unwillen darüber, daß man rücksichtslos genug war, ihm ,displaced persons‘ auf seinen Hof zu setzen.“ Thomas Mann: Die Entstehung des Dr. Faustus. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 11, Reden und Aufsätze 3, Frankfurt a. M. 1974, S. 299.

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Vorgänge in Deutschland war mit den Jahren immer spärlicher geworden. Allenfalls mochte an sein Ohr gedrungen sein, dass Wiechert 1938 für sein politisches Auftreten in Nazideutschland ins Konzentrationslager eingeliefert worden war. Carl Zuckmayer beispielsweise, dessen Direktkontakt mit Nazideutschland länger anhielt als der von Thomas Mann, wusste im Januar 1944 von Wiecherts Einlieferung in ein Lager und auch von der nach einiger Zeit erfolgten Entlassung. Aber die Formulierung der betreffenden Stelle in seinem Geheimreport und eine irrige Ortsangabe lassen darauf schließen, dass sich auch Zuckmayer in diesem Falle auf bloßes Hörensagen stützte32 – und die unsicheren Nachrichten mussten sich nicht unbedingt herumgesprochen haben. Thomas Manns missbilligende Aufwallung im Sommer 1946 wurde aus anderen Quellen denn aus Tatsachenkenntnis über das Auftreten Ernst Wiecherts gespeist: Aus dem Ärger nämlich angesichts eines anmaßenden Artikels von Frank Thieß über die angeblichen Verdienste der „inneren Emigration“ im August 1945;33 aber auch aus böswillig ausgestreuten Pressegerüchten über Wiecherts Auftreten im Jahre 1946 und gewiss auch – davon wird noch die Rede sein – aus der Voreingenommenheit seiner Tochter Erika, die Ernst Wiechert als einen konservativen Moralapostel einstufte und die es als engste Mitarbeiterin ihres Vaters sicherlich verstand, ihm diese Abneigung nahezubringen. Da kam der „lebendige Artikel“ aus der „Neuen Schweizer Rundschau“, den der junge Max Frisch verfasst hatte, gerade recht:34 Thomas 32 Zuckmayer formuliert, dass die Rede aus dem Jahr 1935 Wiechert „sogar eine Zeit in Dachau eingebracht haben soll“ – er ist sich also bezüglich der KZ-Haft gar nicht sicher, und er weiß auch nicht, dass Wiechert nicht in Dachau, sondern in Buchenwald inhaftiert war. Carl Zuckmayer: Geheimreport. Hg. v. Gunther Nickel und Johanna Schrön. Göttingen 2002, S. 22 u. S. 454. 33 Frank Thieß: Die innere Emigration. In: Münchner Zeitung, 18.8.1945. Nachdruck in: Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hg. v. J.F.G. Grosser. Hamburg Genf Paris 1963, S. 22 – 26. – Die erste Reaktion Thomas Manns auf diesen Artikel findet sich in: Mann, Tagebücher 1946 – 1948, Eintragung vom 19. 9. 1945, vgl. S. 254. – Vgl. Leonore Krenzlin: Große Kontroverse oder kleiner Dialog? Gesprächsversuche und Kontaktbruchstellen zwischen äußeren und inneren literarischen Emigranten. In: Galerie. Revue culturelle et pedagogique, Luxembourg, Heft 1, 1997, S. 7 – 25. 34 Max Frisch: Stimmen eines anderen Deutschland? Zu den Zeugnissen von Wiechert und Bergengruen. In: Neue Schweizer Rundschau, Heft 9, Januar 1946, vgl. S. 537 – 544. – Der Nachdruck des Artikels gibt irrig für den Erstdruck „Juni 1946“ an. Vgl. Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Band II (1944 – 1949), S. 768.

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Mann übernahm daraus nicht die Achtungsbezeugung Frischs vor der politisch-moralischen Standfestigkeit, die Wiechert in Nazideutschland an den Tag gelegt hatte – wohl aber übernahm er ungeprüft Frischs abfälliges (und zumindest in Bezug auf Wiecherts Buchenwald-Bericht ungerechtes) Urteil über die ästhetische Qualität der jüngsten Texte Wiecherts. Man kann zusammenfassen: Alles in allem hat Thomas Mann gegenüber Ernst Wiechert eine distanzierte Haltung an den Tag gelegt. In seinen Tagebuchnotizen bezieht er sich im Grunde nicht auf das Werk, sondern auf die politische Haltung, die Ernst Wiechert jeweils einnahm oder die ihm von anderen unterstellt wurde. Infolgedessen schwankt Thomas Manns Urteil über Wiechert je nach seiner eigenen politischen Gestimmtheit. Schwieriger wird es allerdings, wenn man versucht, die Frage umgekehrt zu stellen: Was hielt Ernst Wiechert denn von Thomas Mann? Zwar liegt es auf der Hand, dass Thomas Mann nicht zu den von Wiechert bevorzugten Schriftstellern gehören konnte – bereits die durchgehende Ironie in dessen großen Romanen musste ihn stören. Doch eine direkte Äußerung Wiecherts über Thomas Mann ist in dem Material, das der Forschung zur Verfügung steht, nicht überliefert. Das hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass es um den schriftlichen Nachlass schlecht bestellt ist, da große Teile davon verschollen sind. Vertrauliche Notizen oder Briefe für den entsprechenden Zeitraum fehlen weitgehend, und so weiß man nicht, ob Wiechert, wenn er in der Nazizeit heimlich im Radio die verbotenen Feindsender einstellte,35 die Rundfunkreden Thomas Manns gehört hat, die der englische Sender BBC während des Krieges nach Deutschland ausstrahlte.36 Jedoch: Die magere Quellenlage reicht nicht als Erklärung dafür aus, dass Ernst Wiechert auch in seinen gedruckten Texten über Thomas Mann geschwiegen hat. Auf welche Traditionslinien er sich zu berufen wünschte und welche zeitgenössischen Autoren ihm nahe standen, hat er in seinen Erinnerungen im Kapitel „Kleine Literaturgeschichte“ ausführlich beschrieben – doch eine direkte Bemerkung über Thomas Mann sucht man dort vergeblich.37 Zur Kenntnis gegeben hat er seine Meinung aber trotzdem – gut verpackt in eine abwertende Beschreibung jener Literatur, „die vor 35 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, vgl. S. 703. 36 Vgl. Thomas Mann: Deutsche Hörer. Radiosendungen nach Deutschland. In: Mann, Werke, Bd. 12, S. 603 – 745. 37 Vgl. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 734 – 763.

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1933 eine gleichsam tonangebende Literatur war und deren Schreibende fast alle ins Ausland gegangen sind“ – gegen die Literatur der Emigranten also.38 Diese Schriftsteller hätten eine „verfallene Epoche“ geschildert, hätten mit einem „kühlen, scharfen Intellekt“ deren Gebrechen seziert und sich insoweit auch darum verdient gemacht, „das Faulende“ zu vernichten – „die herkömmlichen und schon hohl gewordenen Begriffe etwa, das Vaterland etwa und mit ihm das ,Deutschland über alles‘, den Krieg und seine angebliche Ehre, den General und den Unteroffizier, die Ehe und mit ihr die Liebe, das Bürgertum und seine ethische Plüschgarnitur, Religion und Pietät, Götter und Götzen“.39 Doch hätten sie anschließend weder Verband noch Salbe zur Hand gehabt, um die bloßgelegten Wunden zu heilen, so dass der ratlose „ausgehöhlte und verstörte Bürger“, aller Leitbilder beraubt, den Pseudoidealen der faschistischen Ideologie in die Arme getrieben worden sei. Dass Wiechert auch Thomas Mann zu dieser Gruppe der kühlen Beobachter und nutzlosen Warner zählen möchte, deutet er durch eine Anspielung an: „Sie hatten nur vor dem Vergangenen gewarnt, nicht vor dem Kommenden. Sie hatten vor dem Zauberberg gesessen und über die Zeit philosophiert, aber im Zauberberg waren schon die Dämonen am Werk gewesen, und die Zeit hatte sich schon aufgetan, um die Philosophie zu verschlingen.“40 Die Absurdität dieses massiven Vorwurfs von Wiechert gegen die linksdemokratisch engagierte Literatur der Weimarer Republik springt gerade durch den Seitenhieb auf den Roman Der Zauberberg ins Auge: In diesem 1924 erschienenen Buch führt Thomas Mann immerhin eine beachtliche Auseinandersetzung mit faschistoiden Ideologien – während Wiecherts Roman Der Totenwolf, der im selben Jahr herauskam, vehement die „neuen Phrasen“41 rechtsradikaler Weltanschauung propagierte. Auch wenn man Wiecherts antimodernes Literaturkonzept in Rechnung stellt: Aus dieser Textpassage muss man schließen, dass Ernst Wiecherts Animosität gegenüber Thomas Mann beträchtlich war. Umso erstaunlicher ist es, dass er eine direkte Auseinandersetzung vermieden hat und seiner Meinung auf indirekte Weise Ausdruck gab. Er äußert sich nämlich in Jahre und Zeiten zwar nicht über Thomas Mann, wohl aber über das Verhalten von dessen Kindern – über Erika 38 39 40 41

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9,

S. 743. S. 744. S. 746. S. 746.

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und Golo Mann. Diese Aussparung des Vaters, die im Kontext sehr auffällt, ist gewissermaßen eine programmatische Auslassung: Wiechert akzentuiert gelegentlich der beiden Mann-Kinder zwei konträre Grundhaltungen, mit denen deutsche Emigranten den daheimgebliebenen Deutschen entgegengetreten sind – und welche beide, wechselweise, auch in den zitierten Tagebuchnotizen Thomas Manns abzulesen waren: Achtung und Gesprächsbereitschaft – oder aber Verachtung und Abweisung. Auf Erika Mann kommt Wiechert in seinen Erinnerungen zu sprechen, nachdem er erläutert hat, warum er sich auch nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager nicht zur Emigration entschließen konnte. Er schildert, wie prekär seine Lage geworden war, und er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Interviewäußerung Erika Manns gegenüber der New York Herald Tribune, die ihm – offenbar nach Kriegsende – hinterbracht worden war. Erika habe, so schreibt er, in abfälliger Weise davon gesprochen, dass Ernst Wiechert nach seiner „Entlassung aus dem Lager ein ,gehorsamer Junge‘ geworden sei“, weil er sich seither politisch unauffällig verhielt. „Aber ich weiß nicht,“ so fährt Wiechert fort, „ob Erika Mann, wenn sie damals aus einem deutschen Lager entlassen worden wäre, nicht ein ,gehorsames Mädchen‘ geworden wäre. Und ob sie etwas davon weiß, wie es ist, wenn man sieben Jahre lang jede Nacht auf jeden Wagen zu lauschen hat, der die Straße entlanggefahren kommt, und wenn man nach der Pistole tastet, ob sie auch gespannt ist.“42 Zwar ist eine Bemerkung von Erika Mann mit diesem Wortlaut bisher nicht nachgewiesen43 – es gibt aber genügend Belege dafür, dass sie eine derart rigorose Meinung von der Inneren Emigration tatsächlich vertrat. Eine gehörige Portion Ressentiment gegenüber den konservativen Kreisen, die aus ihren Erfahrungen in der Weimarer Republik herrührten, haben bei der politisch links engagierten Erika sicherlich eine Rolle gespielt. Hinzu kam, dass sie das Rechtfertigungsbedürfnis und Selbstmitleid der Deutschen hasste, dem sie auf ihren Reisen im besetzten Nachkriegsdeutschland häufig genug begegnet war und das in dem Offenen Brief, den Walter von Molo im Sommer 1945 an Thomas 42 Vgl. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 687 f. 43 Das von Wiechert erwähnte Interview Erika Manns konnte ich bisher nicht auffinden, auch das Thomas-Mann-Archiv wusste keine Auskunft über die Quelle zu geben.

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Mann gerichtet hatte, seinen öffentlichen Ausdruck fand.44 Dass irgendeiner von denen, die sich jetzt ,innere Emigranten‘ nannten, der Selbstkritik oder eines echten Gesinnungswandels fähig sei, hielt sie für ausgeschlossen – und so scheut sie sich 1946 nicht, Wiecherts KZAufenthalt in einem (zum Glück damals ungedruckt gebliebenen) Manuskript herablassend zu erwähnen und mit der Behauptung zu entwerten, Wiechert habe sich 1933 bei seinem Hauskauf an jüdischem Eigentum bereichert – ein Gerücht, das einer Überprüfung nicht im geringsten standhält.45 Erika Mann und ihr Vater haben übrigens bei ihren abschätzig getönten Urteilen in der Nachkriegszeit übersehen, dass Ernst Wiechert den Ausdruck ,Innere Emigration‘ nie für die eigene Person in Anspruch genommen hat. Er hatte es angesichts seiner KZ-Haft gar nicht nötig, nach einer solchen Kategorisierung zu haschen. Im Gegensatz zu seinen Ausführungen über Erika fällt Wiecherts Bezugnahme auf Golo Mann, so knapp sie sich auch ausnimmt, in der Sache äußerst freundlich aus: Ausführlich schildert er zunächst, wie erleichtert er die ersten Monate nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes erlebte, in denen amerikanische Soldaten und Offiziere zwar sein Haus besetzt hielten, sich ihm gegenüber jedoch ehrerbietig und hilfsbereit benahmen. In diesem Zusammenhang fällt dann der Satz: „Aus der Welt kamen die ersten Gäste. Captain Auden, einer der Schwiegersöhne von Thomas Mann, und der junge Golo Mann, der ein sehr liebenswerter Besuch war und die ersten Rundfunkansprachen für mich vermittelte.“46 Golo Mann wird somit als „sehr liebenswerter Besuch“ seiner Schwester nachdrücklich entgegengehalten – und es lässt sich gut vorstellen, dass der im Kern konservative Golo ein geeigneterer Gesprächspartner für Wiechert war als Erika Mann.

44 Walter von Molo an Thomas Mann. In: Münchner Zeitung, 4. 8. 1945, Nachdruck in: Grosser, Die große Kontroverse, S. 22 – 26. – Vgl. Krenzlin, Große Kontroverse oder kleiner Dialog. 45 Erika Mann: Die innere Emigration. In: Erika Mann: Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Hg. v. Irmela von der Lühe und Uwe Naumann, vgl. S. 385 – 306 u. S. 499. – Manfred Franke hat recherchiert, dass Erika Manns Behauptung nicht zutrifft. Nach Angaben des Stadtarchivs handelt es sich um ein völlig anderes Grundstück. Manfred Franke: Jenseits der Wälder. Der Schriftsteller Ernst Wiechert als politischer Redner und Autor. Köln 2003, vgl. S. 23 f. 46 Wiechert, Jahre und Zeiten, in: Werke, Bd. 9, S. S. 724.

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Allerdings ist kaum anzunehmen, dass Golo Mann aus eigener Initiative oder gar als Sendbote seines Vaters in Ernst Wiecherts Villa am Starnberger See auftauchte. Da der junge Kriegsfreiwillige im Dezember 1943 dem Office of Strategic Services – also dem amerikanischen Geheimdienst OSS – zugeteilt worden war und seit Spätherbst 1945 für die Radiostation „Voice of America“ in Bad Nauheim arbeitete,47 wird er sehr wahrscheinlich von seinem militärischen Auftraggeber zur Kontaktaufnahme delegiert worden sein – schließlich hatte ja Carl Zuckmayer schon 1944 Ernst Wiechert dem Geheimdienst als einen „der berufensten Sprecher und Vertreter der anständigen und wertvollen Deutschen“ empfohlen. Zuckmayer hatte vorgeschlagen, nach dem Sieg sofort die Zusammenarbeit mit Wiechert aufzunehmen, weil er vor allem „von der Jugend in Deutschland gehört werden“ würde.48 Golo Manns freundlicher Besuch dürfte demzufolge sehr zweckgerichtet gewesen sein. Ernst Wiechert verstand es auf diese Weise mitzuteilen, welchem Auftreten der Emigranten er den Vorzug gab. Thomas Manns bittere Entgegnung auf Walter von Molos Brief, dass „Bücher, die von 1933 – 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos“ seien und „eingestampft werden“ sollten,49 hat er gewiss als äußerst kränkend empfunden. Doch seine Zurückhaltung in Bezug auf die Person Thomas Manns lässt den Schluss zu, dass er die wechselseitige Polemik nicht erneuern und die Gräben zwischen den Emigranten und den Vertretern der Inneren Emigration nicht vertiefen wollte. In all der Drangsal persönlicher Entfremdung und welthistorischer Konflikte versuchten offenkundig beide Schriftsteller, sich zu einsichtigem Handeln durchzuringen. Das zeigte sich im Juni 1947, als sie in Zürich auf der zweiten Nachkriegstagung des Internationalen PEN-Clubs aufeinandertrafen – vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Ernst Wiechert gehörte jener kleinen Delegation aus Deutschland an, welche den dreihundert anwesenden Schriftstellern den Wunsch vortrug, eine Gruppe des PEN-Clubs in Deutschland zuzulassen. Es waren drei Vertreter der deutschen Literatur, die im Vorfeld ausgewählt 47 Urs Bitterli: Golo Mann. Instanz und Außenseiter. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2005, vgl. S. 105 – 111. 48 Zuckmayer, Geheimreport, vgl. S. 23. 49 Thomas Manns Antwort an Molo wurde unter der Überschrift „Warum ich nicht zurückkehre“ zuerst im „Aufbau“, New York, am 28. 9. 1945 veröffentlicht und anschließend von vielen deutschen Zeitungen nachgedruckt. – Nachdruck in: Grosser, Die große Kontroverse, S. 31.

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worden waren, diesen Anspruch vor den aus aller Welt Angereisten zu vertreten: Erich Kästner, Johannes R. Becher und Ernst Wiechert. In einer erregten Debatte ging es um die Frage, ob die Gründung einer innerdeutschen Gruppe des PEN-Clubs, welche nach dem Antritt des Naziregimes aufgelöst worden war, bereits zu diesem Zeitpunkt möglich sei – ein ganzer Verhandlungstag wurde dieser „deutschen Frage“ gewidmet.50 Insbesondere die Delegierten jener Länder, die von Deutschland angegriffen und besetzt worden waren, empfanden eine solche Entscheidung als noch zu früh, da man „den geistigen Zustand in Deutschland noch nicht überblicken könne“.51 Thomas Mann, der als Ehrenpräsident der Londoner PEN-Gruppe am ersten Konferenztag den Festvortrag – seinen berühmten Nietzsche-Essay – gehalten hatte,52 griff zu Gunsten der Deutschen ein. Einem Bericht zufolge „gab er in ernsten, von innerer Erregung getragenen Worten der Versammlung zu bedenken, dass zum mindesten ein Teil des deutschen Volkes zweifellos von tiefer Sehnsucht nach Anschluß an die Welt erfüllt sei und dass man Schriftsteller, die diesem Wunsch am besten zum Ausdruck zu geben imstande seien, nicht unter der Last eines ständigen Misstrauens ersticken solle.“53 Thomas Mann hatte ohne Zweifel seine Voreingenommenheiten gegen die Innere Emigration zugunsten einer künftigen Verständigung nunmehr beiseite gelegt. Am Nachmittag desselben Tages sprach dann Ernst Wiechert – und es war nicht zuletzt seine kurze, aber eindrucksvolle Rede, welche die bei vielen Delegierten gegen Deutschland gerichtete Stimmung ins Wanken brachte.54 Es lässt sich sagen, dass seine Rede bei aller Emotionalität klug durchdacht war. Er wies die Behauptung zurück, dass es während der Nazizeit in Deutschland keinerlei Widerstand gegeben habe, und dass „das deutsche Volk es nicht verdient habe in den PEN50 Friedrich Burschell: Bericht über den zweiten internationalen Nachkriegskongreß des PEN-Clubs in Zürich. In: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933 – 1948. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. 1980, S. 384. 51 Burschell, Bericht, S. 384. 52 Thomas Mann: Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. In: Mann, Werke, Bd. 11, Reden und Aufsätze 1, S. 675 – 712. 53 Burschell, Bericht, S. 384. 54 Rede Ernst Wiecherts auf der PEN-Tagung am 4. 6. 1947 in Zürich. Unveröffentlichtes Manuskript. Ernst-Wiechert-Archiv im Haus Königsberg, Duisburg. Für den Hinweis auf diesen Text und seine Übersetzung danke ich Klaus Hausmann. – Vgl. die Darstellung Wiecherts in: Wiechert, Sämtliche Werke, Band 9, S. 265 – 266.

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Club aufgenommen zu werden.“ Niemand habe beantragt – so stellte er sarkastisch fest – das deutsche Volk aufzunehmen. Es gehe vielmehr um eine sehr kleine Gruppe von Schriftstellern, die dem Terror widerstanden hätten. Und er erinnerte schließlich die Anwesenden an das Selbstverständnis des Internationalen PEN-Clubs, friedliche Beziehungen zwischen Menschen und Völkern stiften zu wollen – ein Anliegen, welches hinter dem Zorn und der Empörung über die Verbrechen Nazideutschlands zu verschwinden drohte. Ernst Wiechert trat der Versammlung nicht als Bittsteller gegenüber, sondern er berief sich auf den Anspruch derer, die auch unter dem Nationalsozialismus ihre Würde und Integrität bewahrt hatten und erwarten konnten, vor der Welt gehört und geachtet zu werden. Die Delegierten haben der Gründung eines PEN-Zentrums in Deutschland auf dieser Tagung zugestimmt – dass es bald zum Ort deutsch-deutschen Streites wurde, steht auf einem anderen Blatt. Auf einem Zeitungsfoto sieht man Ernst Wiechert und Thomas Mann beieinanderstehen – im Gespräch, so versichert die Bildunterschrift, und das scheint zu stimmen, denn die beiden lachen miteinander.55

55 Neue Zürcher Zeitung, 4. 6. 1947, Morgen-Ausgabe, S. 2. Für die Vermittlung des Fotos danke ich Werner Kotte.

Ernst Wiecherts Verhältnis zu Schriftstellerkollegen seiner Zeit1 hans-martin plesske Nachdem ich meine Recherchen für diesen Beitrag abgeschlossen hatte, war ich zunächst ein wenig ratlos und erschrocken angesichts der Themenfülle, vor der ich plötzlich stand. Die Namen von nahezu 60 Schriftstellern bieten sich für eine Erwähnung oder Behandlung an! Bereits diese Zahl zeigt deutlich: Ernst Wiechert war kein Autor, der abgekapselt im Elfenbeinturm agierte. Er gehörte zu den Dichtern, die Kontakt und Gedankenaustausch mit Vertretern des gleichen Standes suchten, was bei Schriftstellern keineswegs immer selbstverständlich ist. Wie in jeder anderen Berufssparte sonnen sich auch hier Erfolgreiche in ihren Eitelkeiten und machen es den Vertretern im so genannten „Mittelfeld“ nicht leicht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Dass dabei Herkunft, Alter und Lebensverlauf eine entscheidende Rolle spielen, werden wir später noch an einzelnen Beispielen sehen. Ernst Wiechert hat sich in seiner Autobiografie Jahre und Zeiten 2 mehrfach zu zeitgenössischen Autoren und literarischen Fragen geäußert, wobei auch das von ihm Verschwiegene für unsere Betrachtung keineswegs bedeutungslos ist. In den letzten Jahren erweiterten sich unsere Kenntnisse über noch vorhandene Wiechertbriefe. Darunter befindet sich auch Korrespondenz mit dem einen oder anderen Schriftsteller. Festzuhalten bleibt: Es ist auf diesem Gebiet sehr viel verschollen. Ob das Aussortieren in der Besatzungszeit 1945/46 erfolgte oder bei Wiecherts Übersiedlung in die Schweiz 1948, oder ob dann später Lilje Wiechert mit Hilfe von Gerhard Kamin wirksam wurde und ein vielleicht inhaltlich unliebsamer Rest nach Liljes Tod 1972 verschwand – wir werden es wohl kaum noch ergründen. Deshalb sind wir froh über alles, was in unseren Tagen da und dort noch auftaucht. Werner Kotte hat mir seit Jahren Einblick in manche bei ihm vor1 2

Überarbeiteter Vortrag, der im Mai 2003 auf der 7. Tagung der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft gehalten wurde. Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. Erlenbach/Zürich 1949.

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handene Korrespondenz ermöglicht. Ich bin ihm auch dankbar, dass ich bei ihm Fotos aus dem ehemaligen Familienbesitz Wiecherts betrachten konnte, die uns etwas über Schriftstellerbesuche in Ambach und auf dem Hof Gagert überliefern. Es findet sich bei Wiechert ein unfreundlicher Satz über Schriftsteller seiner Zeit, der mich bereits im Herbst 1949 stark berührte. Ich bekam damals Jahre und Zeiten in der Schweizer Ausgabe aus dem Giftschrank der Deutschen Bücherei Leipzig für einige Tage zum Lesen. Wiechert nennt in seinen Erinnerungen u. a. Namen wie Alverdes, Britting und Mechow, Hermann Stehr, Winnig, Frank Thiess und Kolbenheyer, Binding und Weinheber, Agnes Miegel und Ina Seidel und kommt zu dem Schluss: „Sie zogen auf wie die Sterne und versanken wie die Sterne. Manche leuchteten lange nach, und manche erloschen, wie Sternschnuppen erlöschen.“3 Diese damals für mich sehr überheblich klingende Formulierung entsetzte mich. Es handelte sich immerhin um die Generation meist noch lebender Autoren, die in jeder Literaturgeschichte standen. Mehrere von ihnen repräsentierten das an deutscher Gegenwartsliteratur, was man unter dem Begriff ,Innere Emigration’ zusammenfasste. Andere hatten sich in den Jahren der braunen Diktatur offen zum Nazi-Regime bekannt. Aber auch an deren Beurteilung musste man nach meiner Meinung differenziert herangehen und fragen, ob und in welchem Grade ihre politische Haltung auch ihr schriftstellerisches Werk durchdrungen hatte. Ihnen pauschal Versagen vorzuwerfen und sie durchweg für bedeutungslos zu erklären, war ungerechtfertigt. Ich möchte daran erinnern: Wir kennen Äußerungen von Wiechert aus den Jahren 1933/34 gegenüber dem Buchhandel und in Interviews, aus denen sich in manchen Passagen durchaus eine Zustimmung zur NS-Politik herauslesen lässt. Seine ausdrückliche Abwendung von ihr erfolgte schrittweise.4 Im 15. Kapitel von Jahre und Zeiten, überschrieben mit „Kleine Literaturgeschichte“, hat sich Wiechert zur tonangebenden Literatur vor 1933 geäußert, von deren Vertretern dann viele emigriert sind. Sie wurden schon in den zwanziger Jahren von den nationalkonservativen Schriftstellern als ,Asphaltliteraten’ bezeichnet, weil sie nach deren 3 4

Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 279. Vgl. Leonore Krenzlin: Autobiografie als Standortbestimmung. Ernst Wiecherts Wälder und Menschen im Kontext der Entstehungszeit. In: Zuspruch und Tröstung. Über Ernst Wiechert und sein Werk. Hg. v. Hans-Martin Pleßke und Klaus Weigelt. Frankfurt a. M. 1999, S. 133 – 148.

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Meinung einen Geist ohne Heimat vertraten, der nichts mit ,Deutschtum’ und ,Innerlichkeit’ gemein hatte. Ernst Wiechert teilte diese Abneigung der Nationalkonservativen. Er sprach sich mehrfach gegen den Intellektualismus jener aus, die mit ihren Werken eine zerfallende Epoche charakterisierten, aber stärker dem Hass als der Liebe verschrieben waren.5 Ernst Wiechert fühlte sich der Frontkämpfergeneration des Ersten Weltkriegs zugehörig. Die meisten von ihnen hatten die Weimarer Republik abgelehnt und auf eine autoritäre Zukunft gehofft, die dem Vielparteienstaat Deutschland und den damit verbundenen Streitigkeiten ein Ende bereiten würde. Nur so ließ sich, so glaubten sie, das Vermächtnis der im Ersten Weltkrieg gefallenen Kameraden erfüllen. Das Frühwerk Wiecherts spiegelt solche Ansichten deutlich wider. Erinnert sei hier nur an seine Romane Der Wald und Der Totenwolf. Paul Alverdes hat in einer Liebesgeschichte „Das Zwiegesicht“ (1937) etwas von dem festgehalten, was in diesen Männern vorging, wenn sich wie in der folgenden Szene beim Arzt Vring ehemalige Frontkameraden trafen: Wenn Vring einmal mit seinen Freunden, die alle dabeigewesen waren, von dem vergangenen Kriege sprach, so hatten sie zwar auch keine anderen Worte und eigentlich auch keine anderen Gegenstände, als es in Zeitungen und Büchern zu lesen war, wenn es auch freier und unbefangener erscheinen mochte. Auch wünschte sich keiner von ihnen in diese Jahre zurück, noch gar die Welt und sich selber in ein neues Abenteuer von solcher Art gezogen zu sehen. Und doch fühlte Juliane [die Frau des Arztes], daß bei alledem noch etwas war, von dem sie ausgeschlossen blieb und bleiben sollte. Es war ein Unsichtbares und wohl auch Unaussprechliches und vielleicht diesen Männern selber nicht bekannt oder bewußt, das aber ihre Herzen noch fort und fort nährte und stärkte. Es war, als säßen sie in einem Kreise zusammen, doch eher fröhlich als feierlich oder ergriffen und hielten einander fest bei den Händen. Sie aber wäre gerne eingedrungen in den Kreis, durch die verschränkten Hände hindurch, um auch ihren Teil zu haben. Aber sie ahnte zugleich, daß keine von den Händen sich würde lösen lassen.6

Ich habe diesen Gedanken deshalb herausgestellt, weil er uns verständlich macht, warum Ernst Wiechert Beziehungen vorwiegend mit solchen Literaten aufbaute, die gleich ihm durch das Erlebnis des Krieges geprägt worden waren und eine sehr nationalistische Gesinnung 5 6

Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 397 – 402. Paul Alverdes: Das Zwiegesicht. In: Die Pfeiferstube und andere Erzählungen. Hg. v. Martin Kießig, München 1978, S. 87.

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pflegten. Es waren Autoren wie Paul Averdes, Georg Britting, Karl Benno von Mechow und Edwin Erich Dwinger. Zu diesem Kreis traten im Laufe der Zeit regimekritische Autoren hinzu, mit denen Wiechert in freundschaftlicher Verbindung stand. Einige von ihnen zogen sich wie er selbst in die ,Innere Emigration’ zurück. Überschauen wir das Spektrum dieser Bekanntschaften, fehlten die Namen von Autoren der Emigrantengeneration völlig. Man kann zusammenfassen: Der konservative Ernst Wiechert stand vorwiegend im Kontakt mit Schriftstellern, die im ,Dritten Reich’ zu großen Ehren gelangten. Die Werke einiger von ihnen betreute in München der Verlag Langen-Müller. Manche von diesen Autoren entwickelten sich zu Anhängern des NS-Regimes – bis hin zum Verfassen von Jubelgedichten auf Adolf Hitler. Wir haben bereits früher in unseren Untersuchungen festgestellt, dass Wiechert den Krieg nie richtig überwunden hat. In ähnlicher Lage befanden sich auch solche Schriftstellerkollegen, zu denen er Beziehungen pflegte. Zu Wiecherts Leidenschaft gehörte es, sich Bücher zu kaufen oder schenken zu lassen. Seine Bibliothek soll etwa 13.000 Bände umfasst haben. Nach Lilje Wiecherts Tod 1972 wurde sie dann endgültig vom Winde verweht. Bei Antiquariatsangeboten fällt heute gelegentlich immer wieder einmal etwas an, das einst dem Dichter gehörte. Werner Kotte hat mich freundlicherweise auf solche Fälle hingewiesen. Hier zwei Beispiele: Bereits im Jahre 1921 hat der aus Rastenburg stammende Mitbegründer des Naturalismus Arno Holz „S(einem) l(ieben) Ernst Wiechert zum 18. Mai“ einen 1905 erschienenen Versband Der Heilige und die Tiere von Joseph Viktor Widmann geschenkt.7 Der Schriftsteller und Kritiker Widmann fungierte zu seiner Zeit als Literaturpapst der Schweiz; in Bern soll ein Brunnendenkmal an ihn erinnern. Das andere Beispiel ist Karl Röttger, ein westfälischer Dichter, zehn Jahre älter als Wiechert. Er schenkte ihm zu seinem 50. Geburtstag 1937 Die Religion des Kindes – ein bereits 1918 gedrucktes Werk, das bei Georg Müller in München erschien. Den Grundtenor von Röttgers vielfältigen Dichtungen bestimmen die Suche nach Gott und eine tiefe Verbundenheit mit der Mystik. Ohne diese Widmungsexemplare wüssten wir überhaupt nichts davon, dass es Beziehungen Wiecherts zu Holz und Röttger gab. Wir wollen uns nun mit den Arbeiten aus der Feder Wiecherts beschäftigen, die er im Verlauf von reichlich drei Schaffensjahrzehnten 7

Joseph Victor Widmann: Der Heilige und die Tiere. Frauenfeld 1905.

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einzelnen Schriftstellern gewidmet hat. In München lebte seit 1920 der vier Jahre jüngere Georg Britting, dessen Roman Lebenslauf eines dicken Mannes, der Hamlet hieß 8 1932 für literarischen Gesprächsstoff sorgte. Wiechert würdigte das Schaffen dieses Autors Ende Januar 1933 in der Berliner Sektion der Fichte-Gesellschaft.9 Diese stark nationalistisch orientierte Vereinigung bestand mit Sitz in Hamburg seit 1916, zählte mehr als 3.000 Mitglieder in ihren Reihen, war am Aufbau von Volkshochschulen beteiligt und widmete sich vorwiegend der Nationalerziehung mit Berufung auf Fichte. Beteiligt an der Herausgabe der Zeitschrift Deutsches Volkstum, hat die FichteGesellschaft auch national gesinnte Autoren zusammengeführt. Dazu hat sich Wiechert im 10. Kapitel von Jahre und Zeiten geäußert und auch Einblick geboten, wie der „Eckart-Kreis“ und die „Velhagen & Klasings Tafelrunde“ dazu beitrugen, in seinen ,Berliner Lehrjahren’ wichtige und manchmal tonangebende Schriftsteller kennen zu lernen.10 Bei Britting muss es sich um einen urwüchsigen Typ gehandelt haben, dem die Geselligkeit in Kneipen besonders behagte und der kein Blatt vor den Mund nahm. Curt Hohoff, einst namhafter LiteraturRedakteur der Sddeutschen Zeitung, hielt im Erinnerungsband Unter den Fischen Gespräche mit Britting fest. Der soll sich Mitte der 1930er Jahre einmal so geäußert haben: „Der einzige Mensch, mit dem ich, obwohl er Dichter ist, gern zusammen bin, ist Paul Alverdes. Mechow ist ein schwieriger Mann, […] und Ernst Wiechert ein Heuchler.“ Dieses Zitat wirft Fragen auf, die unbeantwortet bleiben. Ich füge eine weitere Äußerung von Britting an, der auf die Frage von Hohoff, warum Wiechert ungeheure Erfolge hat, so geantwortet haben soll: Weil man, um ihn zu verstehen, kein Wissen und keine Voraussetzung braucht. Er ist unterhaltsam. Wenn man ihn liest, zerstreut man sich, und wenn man das Buch am Ende zuklappt, kehrt man in den Alltag zurück, weil kein Eindruck bestehenbleibt. Es ist Poesie in Anführungsstrichen, für Leute, die ihre Waschschüssel für einen Ozean halten […].11

Das klingt schon mehr als bösartig. Britting, geschätzt als feinsinniger Lyriker und Erzähler der kleinen Form, zählte mit Alverdes und Me8 Georg Britting: Lebenslauf eines dicken Mannes, der Hamlet hieß. München 1932. 9 Vgl. Ernst Wiechert: Georg Britting. In: Ernst Wiechert, Sämtliche Werke, Wien/München/Basel 1957, Bd. 10, S. 863 – 870. 10 Vgl. Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 277 – 278. 11 Curt Hohoff: Unter den Fischen. Wiesbaden/München 1982, S. 66.

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chow wiederholt zu Wiecherts Gästen in Ambach, wo man in geselliger Runde im Park vor dem Waldschlössl saß. Diese drei Autoren sind auch am 3. Dezember 1936 auf Fotos von der Hausweihe Hof Gagerts zu finden. 1935 schrieb Britting sein Gedicht „Garten am See“ für Ernst Wiechert, der diesen Kollegen in seinen Erinnerungen jedoch ohne jegliche Charakterisierung nur zweimal namentlich erwähnte.12 Sehen wir einmal von Wiecherts Engagement für den Russen Iwan Schmeljow ab, der heute völlig vergessen ist, dann bleibt Britting der einzige Autor, der Wiechert eine Rede wert gewesen ist. (Seine berühmte Raab-Rede betraf ja keinen zeitgenössischen Autor.) Vermutlich hatten Charakter und Ausstrahlung Brittings später nicht mehr die Faszination für Wiechert, um ihm nach der überwundenen KZ-Haft verbunden zu bleiben. Zu drei namhaften Frauen der Literatengilde hat sich Wiechert verehrungsvoll geäußert: zu Agnes Miegels 60. Geburtstag 193913 sowie 1940 zum Gedenken an Selma Lagerlöf 14 und 1947 zur Erinnerung an Ricarda Huch.15 Manche Werke dieser Dichterinnen haben Ernst Wiechert nicht nur erschüttert, sondern ihm zugleich Besinnung und Trost geschenkt. Das liebevolle Gedicht, das Ricarda Huch in ihrem Todesjahr 1947 aus Jena an Ernst Wiechert sandte, strahlt für mich eine unübertroffen ganz persönlich geprägte Zuneigung aus: Für Ernst Wiechert Sechzig Jahre: der silberne Hauch des Herbstes umweht dich, Wie er dich gütig in seinen Feierabend geleitet. Purpurn und goldgelb sind Früchte und Blumen und Blätter; zuweilen Löst sich ein Blatt und schmilzt in die zärtlichere Luft. Voll Garben Stehn die Felder, die letzten Ähren sammelt ein Armer. Vögel singen nicht mehr. Aus dem verzauberten Schweigen Steigen Töne wie Duft, sonst keinem Ohre vernehmbar. Sinnend lausch’st du den Geisterstimmen 12 Georg Britting: Garten am See. Für Ernst Wiechert. In: Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben. 2. Jg. H. 4, München 1935. 13 Vgl. Ernst Wiechert: Liebe, verehrte Frau … In: Agnes Miegel. Stimmen der Freunde zum 60. Geburtstag der Dichterin. 9. März 1939. Jena 1939, nicht paginiert. – Der Text wurde in die Smtlichen Werke nicht aufgenommen. 14 Ernst Wiechert: Selma Lagerlöf zum Gedächtnis. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 916 – 921. 15 Ernst Wiechert: Ricarda Huch zum Gedächtnis. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 943 – 944.

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Ich habe bisher nicht ermitteln können, ob es vielleicht auch von Agnes Miegel ähnliche öffentliche Huldigungen an Ernst Wiechert gibt. Im 10. Band der 1957er Werkausgabe sind leider nur zehn Buchbesprechungen Wiecherts erhalten. Sie dokumentieren nur einen Bruchteil dessen, was der Dichter auf diesem Gebiet gleichsam ,nebenher’ geleistet hat. Hier klafft bibliographisch eine beträchtliche Lücke, und wir werden Mühe haben, erst wirklich einmal alle jene Zeitschriften und Zeitungen zu ermitteln, die von Wiechert mit Rezensionen versorgt worden sind. Ich will diesen Komplex nur erwähnt haben, weil er natürlich auch dazu beiträgt, uns Auskunft über des Dichters literarische Vorlieben zu geben. In den 1930er Jahren begegnen uns Arbeiten Wiecherts in zahlreichen Anthologien. Er befindet sich dort stets im Kreise jener Autoren, die damals das literarische Leben in Deutschland geprägt haben. Auch bei solchen Gelegenheiten sind Verbindungen zwischen den Schriftstellern geknüpft worden. In München gaben seit 1934 Paul Alverdes und Karl Benno von Mechow – beide zehn Jahre jünger als Wiechert – Das Innere Reich bei Langen-Müller heraus. Dieses der Dichtung, der Kunst und dem deutschen Leben verpflichtete Publikationsorgan konnte bis 1944 erscheinen. Es bewegte sich inhaltlich zwischen Anpassung und Konzession. Hier kam es nicht selten auf Nuancen an, ein Prozess, mit dem wir uns heute leider nicht beschäftigen können. Einige Arbeiten Wiecherts sind bis 1936 zunächst im Inneren Reich veröffentlicht worden, bevor die Buchausgabe vorlag. Verlagsleiter Pezold von Langen-Müller war wie Alverdes und Mechow Frontoffizier gewesen. Auch er ist auf Fotos im Umfeld der Wiechertfamilie zu finden. In diesem Kreis fühlte sich Leutnant d. R. Ernst Wiechert gut aufgehoben. Er hat Mechow z. B. im Juli 1932 in Kraiburg am Inn besucht, wie uns Fotos überliefern. Keinem anderen Autor muss sich Wiechert so verbunden gefühlt haben wie diesem Sohn eines preußischen Offiziers. Wiechert hat ihm seine „Hirtennovelle“ gewidmet.17 Mechows landschaftsgebundene Prosa und sein Reiterroman über Kriegserlebnisse von 1915 Das 16 Ricarda Huch: Für Ernst Wiechert. In: Bekenntnis zu Ernst Wiechert. Ein Gedenkbuch zum 60. Geburtstag des Dichters. München 1947, S. 81. 17 Ernst Wiechert: Hirtennovelle. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 493 – 551, vgl. S. 493.

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Abenteuer 18 lagen im Bereich der von Wiechert herbeigesehnten Vorstellungswelt vom einfachen Leben. Eine ausführliche Einschätzung, die auch die spätere Entfremdung zwischen Wiechert und Mechow nicht ausspart, ist im 11. Kapitel von Jahre und Zeiten erhalten. Bereits in anderem Zusammenhang habe ich früher einmal darauf hingewiesen, dass in der Schweizer Erstausgabe 1949 von Wiecherts Erinnerungen die Mechow-Passage Formulierungen enthält, die so bedrückend sind, dass man deren Veröffentlichung in Deutschland 1955 noch nicht gewagt hat.19 Mechow ist erst 1960 gestorben. Jahre vorher bereits hatte dieser einst beliebte Dichter „sein früheres Leben verloren“.20 1941 ließ Mechow bei seiner Begegnung in Berlin Wiechert wissen, dass „Frau und Kind einer der großen Irrtümer im Leben eines Dichters sei“.21 Und als Wiechert dann erfuhr, dass der Parteigenosse Mechow „noch gegen Ende des Krieges im SS-Kasino des Lagers Buchenwald aus seinen Werken vorgelesen hatte“22, wollte er nur schwer begreifen, welchen Verfallserscheinungen dieser einstige Weggefährte – „im innersten Kern ein Edelmann“ – anheimgefallen war.23 Vom Adel seines Herzens war nichts mehr geblieben. Mit Alverdes trübte sich das Verhältnis, als er 1938 einen Absagebrief wegen der Veröffentlichung des „Weißen Büffels“ im Inneren Reich an Wiechert schreiben musste.24 Im gleichen Jahr zog sich Mechow als Mitherausgeber der Zeitschrift zurück. Auch mit dem 1898 geborenen Edwin Erich Dwinger, der auf weißgardistischer Seite gegen die junge Sowjetmacht kämpfte und über diese Zeit mehrere Bücher mit Bestseller-Charakter schrieb, pflegte Wiechert zunächst mehr als nur freundliche Beziehungen. Dwinger gehörte mit zum Ambacher Besuchskreis der ehemaligen Frontkameraden, und es gibt Fotos vom Aufenthalt der Familie Wiechert auf dem

18 Karl Benno von Mechow: Das Abenteuer. Ein Reiterroman aus dem großen Krieg. München 1930. 19 Vgl. Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 308 – 311. In Wiecherts Smtliche Werke wurde diese Passage nur stark verkürzt übernommen. Vgl. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 652 – 653. 20 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 311. 21 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 310. 22 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 311. 23 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 311. 24 Vgl. Ernst Wiechert an Walter Bauer, 23.2.1938. Autograph im Besitz von Hans-Martin Pleßke.

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Erbhof Dwingers im Allgäu.25 Die Differenzen haben wohl begonnen, als Wiechert 1935 den neu erschienenen, im Baltikum spielenden Freikorps-Roman Die letzten Reiter distanzierend besprach26 und sich gegenüber Dritten brieflich abwertend über Dwinger ausließ. Letzteres muss diesem zugetragen worden sein. Sonst hätte Wiechert nicht am 23. Februar 1938 den in Halle (Saale) lebenden jungen Freund Walter Bauer Folgendes wissen lassen: Dwinger hat mich zur Rede gestellt, dass ich mich abfällig über ihn äusserte und mir bescheinigt, dass ich als Dichter der ,privaten Sphäre’ und mit meiner ,penetranten Betonung des Christentums’ kein Recht hätte, an so soldatischen Naturen wie ihm Kritik zu üben. Im Wiederholungsfalle werde er nicht ,auf weichliche Literatenweise’, sondern auf harte militärische Weise Genugtuung fordern.27

Dwinger hat sich auch nach dem Krieg als ein uneinsichtiger Antikommunist erwiesen. Bezüglich seiner Verstrickung mit dem Nationalsozialismus blieben nicht wenige Fragen offen, trotzdem wurde er nur als Mitläufer eingestuft. Zu seiner Rechtfertigung schrieb er 1966 Die 12 Gesprche, seine Betrachtung der Jahre 1933 bis 1945. Das Buch bleibt ein Beispiel dafür, wie man es vermag, sich trotz einer engen Bindung an den Nationalsozialismus nahezu als Widerstandskämpfer zu stilisieren. Wichtig für den hier dargestellten Zusammenhang ist, was Dwinger zu Wiechert festgehalten hat – und da lesen wir ganz unfreundliche Sätze: „Von meinen Freunden hat sich nach 1945 eigentlich nur einer schlecht benommen, das war Ernst Wiechert, der über uns alle ehrabschneiderische Affidavits an die Amerikaner lieferte. Dabei war er oft tagelang Gast auf meinem Gut gewesen.“28 Beweise für seine Vorwürfe werden von Dwinger nicht erbracht. Auch darüber hat die inzwischen verflossene Zeit den Mantel des Schweigens gelegt. In Jahre und Zeiten wird Dwinger zweimal kommentarlos erwähnt. Ich möchte abschließend zu diesem Autor nur noch daran erinnern, dass seine mit der Schauspielerin Angela Röders befreundete Tochter an unserem Festakt in Wolfratshausen zum 50. Todestag Wiecherts teilgenommen hat. 25 Fotos im Besitz von Werner Kotte. 26 Edwin Erich Dwinger: Die letzten Reiter. Roman. Jena 1935. – Vgl. Guido Reiner: Ernst-Wiechert-Bibliographie. 1. Teil, Paris 1972. Reiner notiert auf S. 31 unter der Nummer 115 eine Buchbesprechung Wiecherts zu diesem Roman, ohne allerdings eine Quelle anzugeben. 27 Wiechert an Bauer, s. Anm. 24. 28 Edwin Erich Dwinger: Die 12 Gespräche. 1933 – 1945. Salzburg 1966, S. 227.

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Es wäre schlimm, wenn alle Beziehungen Wiecherts zu den Schriftstellerkollegen einen so traurigen Verlauf genommen hätten wie die bisher geschilderten. Deshalb nun ein paar erfreulichere Beispiele. Dichtern wie Hermann Hesse und Hans Carossa fühlte sich Wiechert immer nahe. Das Werk dieser Vertreter einer rund zehn Jahre älteren Generation besaß für ihn prägende Wirkung. Mit beiden stand er in Verbindung, wobei es mit Hesse wohl nur eine persönliche Begegnung im Oktober 1937 in Montagnola gegeben hat.29 Aus einigen erhaltenen Briefen Wiecherts an Hesse geht immer wieder seine Verehrung hervor. Am 23. Juli 1936 bedankte er sich dafür, dass Hesse die Hirtennovelle gelesen hatte. Da Verunglimpfungen Hesses bis zu Wiechert gedrungen waren, schreibt er ihm: „Aber Sie sollen, wenigstens von mir, wissen, daß wir nicht vergessen haben, was Sie uns gewesen sind und immer noch sind. Daß Ihre Bücher die entscheidenden Jahre unseres Werdens begleitet und oft geleitet haben.“30 Die Ausstrahlung der Persönlichkeit Hesses macht auch eine Stelle im Totenwald deutlich. Johannes zählt Bücher auf, die er in der Untersuchungshaft lesen darf, und dann bekennt er: „Es war ihm merkwürdig, daß er nach kaum einem der Lebenden außer nach Hermann Hesse ein Bedürfnis empfand.“31 In seiner zu mancher Kritik herausfordernden Monographie Jenseits der Wlder (2003) behauptet Manfred Franke, Hans Carossa habe sich Wiechert gegenüber distanziert verhalten.32 Dem möchte ich nicht zustimmen. Es hat sich hier vermutlich um eine offene und kameradschaftliche Beziehung gehandelt, wie sie Wiechert mit manchem Autor pflegte. Wenn überlieferte Briefe fehlen, die vielleicht nie geschrieben wurden, gab es mögliche Begegnungen im Kreise der Autoren vom Inneren Reich in München – und man besaß natürlich auch damals schon ein Telefon. Beide waren an Gesprächen interessiert. Handschriftlich und mit einem Gedicht bedankte sich Carossa im Januar 1939 für Grüße zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1938. Wir lesen da: „Ernst Wiechert, dem Lieben, Verehrten, in 29 In Jahre und Zeiten spricht Wiechert von 1936, was kaum stimmen kann. Vgl. Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 327. 30 Wiechert, Hirtennovelle, s. Anm. 17. Ernst Wiechert an Hermann Hesse, 23.7.1936. Schweizerisches Literaturarchiv Bern. 31 Ernst Wiechert: Der Totenwald. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 238. 32 Vgl. Manfred Franke: Jenseits der Wälder. Der Schriftsteller Ernst Wiechert als politischer Redner und Autor. Köln 2003, S. 96.

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Dankbarkeit mit herzlichen Wünschen für Gegenwart und Zukunft.“33 Das schreibt man so nicht an einen vor fünf Monaten aus dem KZ Entlassenen, wenn Distanz das Verhältnis bestimmt. In seinem Geburtstagsbrief hatte Wiechert formuliert: „Sie gehören zu denjenigen unter den Lebenden, denen ich am tiefsten verpflichtet bin. […] ich wünsche, Sie möchten uns noch lange gegenwärtig bleiben, im Leben, im Schaffen, im Dasein.“34 An Wiecherts Münchener Rede vom November 1945 missfiel Hans Carossa der Predigtton. Diese Auffassung teilte er mit manchem anderen Freund und Gegner. An Paul Alverdes schrieb Carossa im Januar 1946: „Mir läge jedenfalls ein anderes Verfahren mehr, der Versuch, die Menschen durch eine möglichst gelassene Darstellung nachdenklich zu machen; sehr viel mehr erreicht ja wohl überhaupt niemand.“35 Für das Gedenkbuch Bekenntnis zu Ernst Wiechert (1947) hat Carossa mit „Frühjahr 1945“ überschriebene Erinnerungen beigesteuert.36 Sie finden sich dann erst in überarbeiteter Form 1951 in dem damals heftig umstrittenen Lebensbericht Ungleiche Welten wieder.37 Nach Wiecherts Tod gab es noch Verbindungen zwischen der Witwe Lilje und Carossa. Heinrich Wolfgang Seidel stand immer ein wenig im Schatten seiner berühmteren Frau Ina. Das ließ den 1934 frühzeitig pensionierten Berliner Pfarrer dennoch unbeirrt seinen eigenen künstlerischen Weg gehen. Durch die Übersiedlung der Familie Seidel nach Starnberg waren die besten Möglichkeiten für rege Kontakte mit Ernst Wiechert gegeben. Er hat die Seidels besucht, und sie weilten z. B. als Gäste zum 50. Geburtstag 1937 auf Hof Gagert. Heinrich Wolfgang Seidels Brief vom 19. Mai 1937 haben wir in den IEWG-Mitteilungen 9/2001 abgedruckt.38 Die Seidels waren damals sehr beeindruckt von dem neuen Anwesen, das die Wiecherts ja erst seit fünf Monaten bewohnten. Die verlegerische Heimat von Heinrich Wolfgang Seidel und Wiechert ist 33 Hans Carossa an Ernst Wiechert, o. D., Kopie im Besitz von Hans-Martin Pleßke. 34 Ernst Wiechert an Hans Carossa, zit. n.: Franke, Jenseits der Wälder, S. 98. – Das von Franke angegebene Datum „13. August 1938“ kann nicht stimmen, da Carossas 60. Geburtstag am 15. 12. 1938 war. 35 Hans Carossa an Paul Alverdes, 4. 1. 1946, in: Hans Carossa: Briefe III. 1937 – 1956. o. O. 1981, S. 282. 36 Hans Carossa: Frühjahr 1945. In: Bekenntnis, S. 116 – 129. 37 Hans Carossa: Ungleiche Welten. Lebensbericht. Leipzig 1951, vgl. S. 206. 38 Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft: Mitteilungen. Nr. 9, 2001, S. 37.

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die Grote’sche Verlagsbuchhandlung in Berlin gewesen. Also wird es bereits dort persönliche Berührungen gegeben haben. Wiechert besprach liebevoll und sehr zustimmend die Nehrungsgeschichte „Elk“39 und setzte sich so nachdrücklich für die Verbreitung von Werken des Dichterkollegen ein. Die Seidels haben auch nach der KZ-Entlassung weiterhin zu Wiechert gestanden. Als er gezwungen war, im Oktober 1938 an einem Großdeutschen Dichtertreffen in Weimar teilzunehmen – Manfred Hausmann hat darüber eindringlich berichtet40 –, sind es auch die Seidels gewesen, die sich in aller Öffentlichkeit Wiechert ganz besonders widmeten. In Starnberg hatte sich 1935 auch der Dichter Rudolf Georg Binding angesiedelt. Im Mittelpunkt von dessen Novellen stehen Idealgestalten, deren Sehnsucht nach Ritterlichkeit und edler Gesinnung das lesende Bürgertum in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen tief beeindruckte. Binding hatte sich im Frühjahr 1933 vehement zum nationalsozialistischen Staat bekannt, war jedoch in den folgenden Jahren bei den NS-Oberen häufig angeeckt. Bei seiner Trauerfeier in München im August 1938 fehlte das offizielle Deutschland. Ich bin jetzt einem Brief von Binding an Wiechert auf die Spur gekommen, den er am 26. Februar 1936 geschrieben hat. Er teilte seine Ansiedlung in Starnberg mit und bat den Kollegen, „die Entfernung einmal zu überbrücken“. Mit Alverdes und anderen Autoren pflegte Binding einen „zwanglosen einfachen Samstagmittagstisch“, zu dem er unseren Dichter einlud. Er könne auch regelmäßig jede Woche kommen.41 Wie Wiechert reagiert hat, wissen wir leider bisher noch nicht. In dem „Dunkle Jahre“ überschriebenen Kapitel 13 seiner Erinnerungen äußert sich Wiechert mit großer Zuneigung zu Reinhold Schneider und Adelbert Alexander Zinn. Schneider hat über seinen Malerfreund Leo von König, der zuletzt in Tutzing am Starnberger See lebte, Zugang zu Wiechert gefunden und ihn im Herbst 1938 erstmalig

39 Vgl. Ernst Wiechert: Abend und Morgen. In: Das Innere Reich. 1. Jg., H. 12, März 1935, S. 1557 – 1564. 40 Manfred Hausmann: Kleine Begegnungen mit großen Leuten. Ein Dank. Neukirchen-Vluyn 1973, S. 61 – 64. 41 Rudolf G. Binding an Ernst Wiechert, 26.2.1936. In: Rudolf G. Binding: Die Briefe. Ausgewählt und eingeleitet von Ludwig Friedrich Barthel. Hamburg 1957, S. 314 – 315.

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besucht. Man kann bei Guido Reiner42 nachlesen, wie sich diese freundschaftliche Beziehung entwickelt hat. Leo von König und Schneider stimmten in ihren gegen den Nationalsozialismus gerichteten Auffassungen überein. Deshalb ist Schneider für Wiechert ein Partner gewesen, dem er ähnlich wie Walter Bauer Einblick in sein Innenleben gewährte. Am 14. Oktober 1940 teilte Wiechert dem Dichterfreund Schneider mit: Was sollen wir sagen von dieser Zeit? Ich habe wieder zu arbeiten begonnen. Ich denke nicht mehr an Druck und alles andre, aber es ist mir schön, mir selbst eine stille Welt aufzubauen und die Schicksale ablaufen zu sehen. Ohne Zwecke und Absichten, nur ein stilles Spiel, wenn auch mit tausend Zweifeln und Verzagtheiten.43

Interessant bleibt für uns, dass es zwischen Schneider, dem gläubigen Katholiken, und Wiechert keine religiösen Gespräche gegeben hat. Diese beiden Persönlichkeiten respektierten sich gegenseitig. Wiechert schrieb in seinen Erinnerungen dazu: „Und auch das spricht von seiner Größe, daß er einen so Abtrünnigen und so ,Ungläubigen’ wie mich mit derselben Güte liebt wie seinesgleichen, ja wahrscheinlich noch mit einer größeren und tieferen, weil ich ihrer mehr bedarf.“44 Für manche wird Adelbert Alexander Zinn (1880 – 1941) kaum ein Begriff sein. Er fehlt in den meisten literarischen Nachschlagewerken. Zinn war Kultursenator in Hamburg und wurde von den Nationalsozialisten aus seinem Amt entfernt. Einen Briefwechsel mit Wiechert hat es seit 1939 gegeben. Eine Begegnung zwischen beiden fand im Januar 1940 bei Wendela M. Hoffmann in Oberneuland bei Bremen statt, wo Frau Hoffmann, der Das einfache Leben 45 gewidmet ist, in einem ausgedehnten Parkgelände wohnte. Wiechert hat am 14. Januar im Bremer Schauspielhaus an der Uraufführung des Dramas Columbus und Beatrice von Zinn teilgenommen. Zinn gehörte der Evangelischen Michaelsbruderschaft an und ist erst spät zum Schreiben gekommen. Der von Wiechert erwähnte Roman Wçldermanns Park (1936) spielt im Zeitraum von 1800 bis 1930 in Hamburg und verbindet die Schicksale von 42 Guido Reiner: Ernst Wiechert und seine Freunde. In: Ernst Wiechert heute. Hg. v. Guido Reiner und Klaus Weigelt, Frankfurt a. M. 1993, S. 11 – 53, vgl. S. 47 – 52. 43 Ernst Wiechert an Reinhold Schneider, 14.10.1940. In: Reiner, Freunde, S. 50. 44 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 349. 45 Ernst Wiechert: Das einfache Leben. Roman. München 1939.

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Menschen miteinander, die in achtzehn Häusern eines privaten Parks leben, der später mit neuer Bebauung ein öffentlicher Grünplatz wird. Das Buch ist heute noch lesenswert. Zinn zählte mehrfach zu den Gästen der Familie Wiechert auf Hof Gagert, wo der liebevoll aufgenommene Besucher auch an Bühnenstücken gearbeitet hat. In einem Brief vom 6. Juni 1941 bekannte Wiechert: „Zinns Tod war mir der schmerzlichste Verlust, den ich seit sehr vielen Jahren erlitten habe, und es gibt niemanden, der mir seine Güte und Weisheit jemals wird ersetzen können.“46 Ein so harmonisches Miteinander bieten die beiden folgenden Beispiele leider nicht. Es geht um Hans Grimm und Erwin Guido Kolbenheyer. Grimm fühlte sich in seiner Eigenwilligkeit als ein Nationalsozialist außerhalb der Partei – und das auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war keineswegs ein Gegner des Nationalsozialismus, hat sich aber in Briefen und Gesprächen mit Amtsträgern des Dritten Reiches mehrfach kritisch zu Vorgängen im Lande geäußert, die ihm missfielen. Seine Bücher hatten hohe Auflagen, wobei der literarische Wert der vorwiegend im kolonialen Afrika spielenden Novellen höher einzuschätzen ist als der eine ganze Epoche vergiftende Roman Volk ohne Raum. Im Dezember 1938 drohte Goebbels, den dieser Querdenker störte, dem „Herrn Dr. Grimm“ eine KZ-Haft an. Grimm gibt in seinem Buch Warum, woher, aber wohin? die Worte des Propagandaministers so wieder: „Ich warne Sie. Ich habe neulich einen anderen Schriftsteller zu mir kommen lassen müssen, Sie wissen, wen ich meine, Herr Dr. Grimm. Ich schicke solche Leute wie Sie für vier Monate ins KZ. Wenn ich Sie ein zweites Mal hinschicken muß, kommen Sie nicht mehr heraus.“47 An einer anderen Stelle dieser Rechtfertigungsschrift erwähnt Grimm die Lagerhaft des Dichters Wiechert. Man kann schon bestürzt sein über die folgende Formulierung: „Seine Haft dauerte kurz, man ließ ihn tun und lassen, was er wollte, und er erschien sofort nach Ablauf auf Goebbels’ Dichtertag in Weimar als Gast. Doch fraß die Haft gewiß an dem seit je sehr empfindlichen und von sich eingenommenen Sonderling.“48

46 Ernst Wiechert an (unleserlich), 6.6.1941. Staatsarchiv Hamburg, 622 – 1, Familie Zinn, A 4. 47 Hans Grimm: Warum, woher, aber wohin? Lippoldsberg 1954, S. 182 – 183. 48 Grimm, Warum, S. 161.

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Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sich Wiechert stets respektvoll zurückhaltend gegenüber dem Schriftstellerkollegen aus Lippoldsberg gezeigt hat. An den dort zwischen 1934 und 1939 veranstalteten Dichtertreffen hat er niemals teilgenommen, obwohl sich einige Autoren von Langen-Müller darunter befanden. Warum sich Grimm im Oktober 1945 brieflich ausgerechnet an Wiechert wandte und seinen Sohn Wernt zum Überbringer der Botschaft machte, bleibt in mancher Hinsicht ein Rätsel. Leonore Krenzlin hat darüber berichtet.49 Wer damals die Besetzung Deutschlands als eine Befreiung vom Nationalsozialismus betrachtete, galt in den Augen der meisten Bürger als ein Landesverräter. Zu tief saß noch in diesen ersten Monaten eines radikalen Umbruchs der Nationalstolz in den Köpfen der Menschen. Wie viele Konservative in Deutschland hat sich neben Hans Grimm auch der Sudetendeutsche Erwin Guido Kolbenheyer für das Dritte Reich engagiert, und das überschattet bis heute sein literarisches Gesamtwerk. Dabei bleibt außer acht, dass die Romane und Erzählungen beider Autoren überwiegend schon vor 1933 entstanden sind und Wirkung taten. In den oft unsäglichen und unerträglichen Äußerungen ihrer Verfasser gehen sie jedoch nicht auf. Wiechert hat im 10. Kapitel seiner Erinnerungen, das mit „Lehrjahre“ überschrieben ist, über die Dichtertagung zu Pfingsten 1931 beim Erbprinzen Reuß auf Schloss Osterstein berichtet. Unter den Teilnehmern wird „dieses nette ungarische Talent“ erwähnt, worunter wir Kolbenheyer zu verstehen haben.50 Unter denen, die sich damals auf Osterstein mit Fragen der ,wesensdeutschen Dichtung’ beschäftigt haben, befanden sich auch Alverdes und Mechow, wie ich jetzt alten Zeitungsberichten entnehmen konnte. Hier liegt vielleicht der Ausgangspunkt für das folgende Mit- und Gegeneinander der verschiedenen Autoren. Kolbenheyer wurde im ,Dritten Reich’ neben Gerhart Hauptmann und Hermann Stehr vielfach hoch geehrt, weil sein 60. Geburtstag in das ,Schicksalsjahr’1938 fiel. Kolbenheyer blieb ein Einzelgänger, der sich nicht nur im öffentlichen Auftreten grundsätzlich von der Haltung Wiecherts unterschied. 49 Leonore Krenzlin: Zwischen allen Stühlen. Ernst Wiechert in der politischen Öffentlichkeit 1933 – 1947. In: Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert und sein Werk. Hg. v. Bärbel Beutner und Hans-Martin Pleßke, S. 21 – 41, vgl. S. 21 – 23. 50 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 292.

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Ob und wo es zwischen diesen beiden Autoren engere Berührungspunkte in den 1930er und beginnenden 1940er Jahren gegeben hat, ließ sich nicht feststellen. Beider Einbindung in das Verlagshaus Langen-Müller schuf ja noch keine Basis für Alltagsbegegnungen und Gespräche. Kolbenheyer verlor nach Kriegsende sein Heim in München-Solln, weil es von der Militärregierung beschlagnahmt wurde. Erst 1950 war, nach Berufung, seine Entnazifizierung endgültig abgeschlossen, das Verbot der beruflichen Tätigkeit hatte sich auf fünf Jahre erstreckt. Aus dieser Situation heraus verfolgte Kolbenheyer, dass Wiechert – nur wenige Kilometer räumlich voneinander entfernt – sich auf die Seite der amerikanischen Besatzungsmacht gestellt hatte. Nimmt es da Wunder, dass ein so völkisch orientierter, national-konservativer Schriftsteller wie Kolbenheyer in Wiechert einen Verräter an all dem sehen musste, was einem ehemaligen deutschen Frontoffizier heilig zu sein hatte? Sebastian Karst. ber sein Leben und seine Zeit hat Kolbenheyer seine dreibändigen Memoiren überschrieben, in denen er mit manchem Gegenwartsautor abrechnet. Zu Hermann Hesse und Ernst Wiechert heißt es dort an einer Stelle: „Gemeinsam ist beiden Schriftstellern das blümerante Wesen, die Weinerlichkeit, die selbstentzückte Träne.“51 Mag das noch gemäßigt klingen, so ist die folgende Stelle Ausdruck einer totalen Verurteilung Wiecherts: Ein wenig Opposition machte er, kam ins KZ und wurde bald herausgeholt, kein Charakter, ein Spieler, der sein Talent zu brauchen wußte, der auch den Propagandatrick der Kollektivschuld wohl durchschaut hat, obgleich er sich nach dem Einmarsch der Besatzungsmacht ihm [sc. Propagandatrick] zur Verfügung stellte.52

Wenn wir an Ernst Wiechert und sein Zusammenspiel mit Schriftstellerkollegen in den 1930er Jahren erinnern, dann haben hier freundschaftliche Bindungen von Dauer neben flüchtigen Begegnungen gestanden. Unter denen, die sich Wiechert zu nähern wagten, befanden sich auch noch namenlose Autoren, die von ihm ein aufmunterndes Wort erhofften. Nichts ist schlimmer für gestandene Literaten, als wenn sie in reicher Zahl Manuskripte von Anfängern zugeschickt bekommen, die ein Urteil erbitten. Darunter hat Wiechert nicht selten gelitten, wie wir aus manchem Brief wissen. 51 Erwin Guido Kolbenheyer: Sebastian Karst. Über sein Leben und seine Zeit. II. Teil, Gartenberg bei Wolfratshausen 1958, S. 204. 52 Kolbenheyer, Karst, Teil III, S. 98.

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Die Verdienste von Harald Braun um den „Eckart-Kreis“ und die Herausgabe der Zeitschrift Eckart sind bekannt. Wiechert fühlte sich in dieser Gemeinschaft heimisch. Braun ging später zum Rundfunk und entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem namhaften Filmregisseur in Deutschland. In dieser Autorenrunde bei Braun lernte Wiechert den jungen Walter Bauer persönlich kennen, den ich hier völlig ausklammere, weil ich bereits 1995 darüber geschrieben habe.53 Auch den aus Livland stammenden Frank Thiess hat Wiechert auf diese Weise getroffen und ihm 1929 „Die kleine Passion“ mit einer Widmung versehen geschenkt. Thiess, seit 1923 wegen seines Romans über eine Geschwisterliebe mit dem Titel Die Verdammten im Gespräch, war bei seinen Lesern sehr beliebt. Die Jahre des Nationalsozialismus hatte er mit einer gewissen Anpassung überstanden, hatte aber mehrfach Schwierigkeiten mit den Herrschenden. Thiess ernannte sich dann selbst 1945 zum Sprecher jener, die sich in die „Innere Emigration“ zurückgezogen hatten. Daraus ergab sich – im Bündnis mit Walter von Molo – jene Kontroverse mit Thomas Mann, auf die Wiechert in „Jahre und Zeiten“ im Kapitel 15 „Kleine Literaturgeschichte“ eingegangen ist. In der Autobiographie Freiheit bis Mitternacht von 1965 schreibt Thiess über Wiechert: Er machte auf mich den Eindruck eines sich seiner Würde bewußten Dichters: ernst und gütig. Über Politik sprachen wir nicht, aber Harald Braun versicherte mir später, Wiechert glaube, daß allein die Nationalsozialisten imstande wären, Deutschlands Niedergang aufzuhalten. Auch eine Freundin aus Königsberg schrieb mir: Wiechert sei ein Nazi. Ich erwähne das, um klarzustellen, in welch idealistische Träume sich Männer versponnen, die wenige Jahre später mit Schrecken daraus erwachten. Es bewies Selbsterkenntnis und Mut, aus ihrer anständigen Gesinnung die Konsequenz des Protestes zu ziehen.54

Vor zwei Jahren hat Reinhold Ahr in unserem Kreis über „Ernst Wiechert und die Theologen“ gesprochen und dabei u. a. die Beziehungen von Siegbert Stehmann, Kurt Ihlenfeld, Albrecht Goes und Jochen Klepper zu Wiechert untersucht. Inzwischen wurde der Vortrag 53 Hans-Martin Pleßke: Die Eisschmelze der Irrtümer. Ernst Wiechert und Walter Bauer im Mit- und Gegeneinander. In: Zuspruch und Tröstung. Beiträge über Ernst Wiechert und sein Werk. Hg. v. Hans-Martin Pleßke und Klaus Weigelt. Frankfurt a. M. 1999, S. 31 – 62. 54 Frank Thiess: Freiheit bis Mitternacht. Wien/Hamburg 1965, S. 406.

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im Sammelband Von bleibenden Dingen veröffentlicht,55 so dass ich auf diese Persönlichkeiten nicht nochmals eingehen werde. Hermann Kasack, dessen Nachkriegsroman Die Stadt hinter dem Strom (1947) die Leser in West und Ost außerordentlich bewegte, hielt in seinem Tagebuch am 1. Mai 1936 Folgendes fest: „Die Rede gelesen, die vor einem Jahr Ernst Wiechert vor den Studenten in München gehalten hat: welch warmer menschlicher Ton. Welch treue Haltung.“56 Ein Typoskript des Rede-Textes befand sich im Kasack-Nachlass. Die damals 36-jährige Marie Luise Kaschnitz hat im Juli 1937 Wiechert auf Hof Gagert besucht, nachdem sie als Buchhändlerin starke Eindrücke beim Lesen von Wlder und Menschen empfangen hatte.57 So sind es immer wieder heranwachsende Autoren gewesen, die die Nähe zu Ernst Wiechert suchten. Genannt seien nur Wolf von Niebelschütz (1913 – 1960), dessen Wurzeln im Schlesischen liegen, und der Schwabe Helmut Paulus (1900 – 1975). Von beiden werden Briefwechsel im Deutschen Literaturarchiv (Marbach) aufbewahrt. Mit großer Sorgfalt hat sich Wiechert in die ihm vorgelegten Manuskripte versenkt und seine auf Änderungen hinzielenden Bemerkungen behutsam formuliert. Paulus fand in den 1940er Jahren bereits Beachtung als ein Epiker, der mit feinem Sprachgefühl Menschenschicksale zu gestalten vermochte. Niebelschütz stand unter dem Einfluss von Hofmannsthal. Seine Gedichte zeichnen sich durch musikalisch gebundene Ausdruckskraft aus und sind in vielen Lyrik-Anthologien zu finden. Auch Wiecherts ehemaliger Schüler Hans-Joachim Haecker (1910 – 1994), stets hauptberuflich im höheren Schuldienst tätig gewesen, sah in seinem Lehrer vom Hufengymnasium eine Persönlichkeit mit Vorbildwirkung, die zu seiner Entwicklung zu einem anerkannten Schriftsteller beitrug.58 Nur kurz nennen möchte ich einige namhafte Autoren, die Bücher von Ernst Wiechert besprochen haben. Unsere Zeit reicht leider nicht 55 Reinhold Ahr: Ernst Wiechert und die Theologen. In: Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert. Frankfurt a. M. 2002, S. 115 – 131. 56 Heribert Besch: Dichtung zwischen Vision und Wirklichkeit. Eine Analyse des Werkes von Hermann Kasack mit Tagebuchedition (1930 – 1943). St. Ingbert 1992, S. 495. 57 Dagmar Gersdorf: Marie Luise Kaschnitz. Eine Biografie. Frankfurt a. M./ Leipzig 1993, S. 92. – Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. München 1936. 58 Hans-Joachim Haecker: Erinnerungen an Ernst Wiechert. In: Mitteilungen der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft 6, 1995/96, S. 11 – 12.

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aus, jeden einzelnen Fall entsprechend zu würdigen und die persönlichen Bindungen zu untersuchen. Unter den Rezensenten befinden sich der Balladendichter Börries Freiherr von Münchhausen und der Mecklenburger Hans Franck, die von Wiechert verehrte Gabriele Reuter, bereits 1859 geboren und als Aktivistin der Frauenbewegung bekannt. Ferner der junge Martin Raschke, bis 1932 in Dresden Herausgeber der Zeitschrift Die Kolonne. Raschke, einer der hoffnungsvollsten Nachwuchsautoren in Deutschland, fiel als Kriegsberichterstatter 1943 in Russland. Es lassen sich Buchbesprechungen von Siegbert Stehmann und Bernt von Heiseler sowie von Otto Freiherr von Taube, Otto Heuschele und Kasimir Edschmid nachweisen. Insgesamt eine Palette von Namen, die Schriftstellern ganz unterschiedlicher Schaffens- und Wirkungsweise zuzuordnen sind. Wiechert war für sie ein Autor, der etwas zu sagen hatte und dessen Bücher man als Kollege zur Kenntnis nahm. Und dann bleibt auch dies beeindruckend, dass so viele Schriftsteller ihre Beiträge zu den beiden Wiechert-Gedenkbänden von 1947 und 1951 beigesteuert haben.59 Das war in dieser Umbruchsituation schon eine von Mut zeugende Bekenntnistat. Zu nennen wären etwa Otto Flake mit seinem Text „Das Moralische“ oder das Wiechert von Werner Bergengruen gewidmete Gedicht „Das Unvergängliche“. Wenn man dann noch Hesse, Johannes R. Becher, Ricarda Huch und Schneider einbezieht, dann wird deutlich, welcher Rang Ernst Wiechert um die Mitte des 20. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Literatur zukam. Dabei war es Wiechert in den Nachkriegsjahren bis 1947 gelungen, kaum eine Möglichkeit auszulassen, um nicht anzuecken und sich und anderen Verdruss zu bereiten. Wir wollen nicht übersehen, dass der Kreis derjenigen, die mit dem Menschen Wiechert quer lagen, keineswegs klein und unbedeutend gewesen ist. Die Äußerungen von Schriftstellern sind mit ein Beleg dafür. Das geht ebenfalls aus mancher Polemik hervor, die die Gemüter seiner Leser erhitzte. Vielleicht war es gut, dass die Besatzungspolitik mit ihrer Zonenabschottung die Verbreitung solcher gegen Wiechert gerichteter Texte erschwerte oder ganz verhinderte. In der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone beispielsweise hat man manches erst Jahrzehnte später erfahren. 59 Bekenntnis zu Ernst Wiechert, München 1947. – Ernst Wiechert. Der Mensch und sein Werk. Eine Anthologie. München 1951.

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Zu denen, die nach dem Kriege Kritik an Wiechert übten, gehörten der Schweizer Max Frisch und Oskar Maria Graf.60 Bei früherer Gelegenheit haben wir auf die Aussagen dieser beiden Autoren bereits hingewiesen. Ein weiteres Beispiel bietet die Polemik August Scholtis gegen Ernst Wiechert, die im Berliner Telegraf im Frühjahr 1946 veröffentlicht worden ist und die Guido Reiner zum Nachlesen im 3. Teil seiner Ernst-Wiechert-Bibliographie aufbereitet hat.61 Ganz anders dagegen die Stimme von Otto Brües. In seiner 1967 erschienenen Autobiographie Und immer sang die Lerche erinnert er an eine Begegnung mit Wiechert in den frühen 1920er Jahren. Brües vermochte den Wiechert’schen Charakter zu erfassen, und wenn er an das Beisammensein zurückdachte, schaute er in das „immer schon von Schwermut verschattete Antlitz“ des Dichters.62 Es hat sich kein Schriftsteller so wie Johannes R. Becher darum bemüht, Ernst Wiechert nach dem Zweiten Weltkrieg aus seinem Refugium Hof Gagert herauszulösen und in die kulturpolitischen Auseinandersetzungen des Tages einzubinden. Der Versuch ist gescheitert, sicher nicht nur, weil Wiechert die kommunistischen Interessen von Becher ablehnte, sondern weil für ihn eine Übersiedlung in die Sowjetische Besatzungszone kein Thema sein konnte. Wir befanden uns dort in einer gewissen Aufbruchstimmung, und Becher versuchte als Dichter und Kulturpolitiker konzeptionelle Arbeit für eine kulturelle Einigung in ganz Deutschland zu leisten. Er ist daran gescheitert, einmal an den zwei Fronten, denen er gegenüberstand, aber auch an seinem eigenen Unvermögen. Zunehmend gewann der doktrinäre Parteifunktionär in seinem gespaltenen Inneren die Oberhand. Leonore Krenzlin hat sich mehrfach mit dem Problem Becher beschäftigt, etwas davon ist ihrem Beitrag „Zwischen allen Stühlen“63 zu entnehmen. Dass der Dichter Wiechert für Becher von Beginn an ein Hoffnungsträger war, zeugt von Bechers Zukunftsvision, die überparteilich 60 Max Frisch: Stimmen eines anderen Deutschland? Zu Zeugnissen von Wiechert und Bergengruen. In: Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Bd. 3, S. 197 – 311. – Oskar Maria Graf in seinen Briefen. Hg. v. Gerhard Bauer und Helmut Pfanner. München 1984, S. 222. 61 Guido Reiner: Ernst Wiechert im Urteil seiner Zeit. Eine Dokumentation. Paris 1976, S. 73 – 78. 62 Otto Brües: Und immer sang die Lerche. Lebenserinnerungen. Duisburg 1967, S. 156. 63 Leonore Krenzlin: „Zwischen allen Stühlen“. In: Von bleibenden Dingen. Vgl. S. 30 – 31 u. 35 – 36.

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angestrebten Ziele würden sich durchsetzen lassen. Solches Tun wussten Stalin und seine ostdeutschen Funktionäre jedoch zu verhindern. Mag vielleicht die von Becher im Tagebuch 1950 notierte Pirol-Geschichte bei seinem Besuch auf Hof Gagert dem Anekdotischen zuzuordnen sein – Becher musste erkennen, Wiechert war und blieb ein gebrochener Mann, dessen Kräfte sich in politischer Hinsicht an den Wirren der Zeit verzehrt hatten. Bei vielen Fehlentscheidungen, die Becher später nachzuweisen sind, ist sein Eintreten für Ernst Wiechert in den Jahren 1945 und 1946 Ausdruck einfühlsamen menschlichen Handelns. Thomas Mann dagegen hat von seinem Exil aus Wiechert als einem Repräsentanten der ,Inneren Emigration’ reserviert gegenübergestanden. Das kommt deutlich zum Ausdruck in Formulierungen, die er im Roman eines Romans. Die Entstehung des Doktor Faustus (1949) festgehalten hat und die sachlich so nicht einmal stimmen. Wiecherts Rede von 1935 vor Münchener Studenten war Jahre zuvor in die Hände von Thomas Mann gelangt. Freundlich notierte er am 28. Juni 1936 in sein Tagebuch: „Eine moralische Blüte dieser Schandepoche in Deutschland, ergreifend und Gedenkens wert.“64 Sie werden vielleicht einige Schriftsteller vermissen, die ich ganz bewusst ausgeklammert habe. Für Walter Bauer wurde dies bereits begründet. Zu Otto Linck hat Werner Kotte eine Dokumentation mit Fotografien beigesteuert.65 Den Besuch von Schalom Ben-Chorin bei Wiechert 1933 in Ambach und das Treffen auf dem Starnberger See haben wir mehrfach gewürdigt. Max Picard und Wiechert sollte einer eigenständigen Behandlung vorbehalten bleiben, ebenso die Rolle, die Gerhard Kamin für Wiechert persönlich, sein Werk und den Nachlass gespielt hat. Gewissermaßen noch im Dunkeln tappen wir bei den Beziehungen, die zwischen Erich Kästner und Wiechert bestanden haben. Von unserem Dichter wurde der später berühmt gewordene Roman für Kinder Emil und die Detektive bereits 1930 besprochen. Kästner setzte sich dann 1945/46 als Feuilleton-Redakteur der Neuen Zeitung in München für die Veröffentlichung von Wiecherttexten in diesem Blatt ein. Gemeinsam mit Johannes R. Becher vertraten Wiechert und Kästner im Mai 1947 in Zürich den deutschen Standpunkt, als es darum ging, das 64 Thomas Mann: Tagebücher 1935 – 1936. Hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1978, S. 322. 65 Werner Kotte: Ernst Wiechert und Otto Link. In: Mitteilungen der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft 8, 1998, S. 41 – 44.

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viergeteilte Deutschland wieder in der internationalen SchriftstellerVereinigung – dem PEN-Club – zu etablieren. Eventuell noch vorhandene Quellen über weitere Berührungen zwischen Wiechert und Kästner blieben bisher unbekannt. Beschließen möchte ich meinen Beitrag mit dem Gedenken an einen ostpreußischen Landsmann Wiecherts, den Schriftsteller Hans Hellmut Kirst, der 1914 in Osterode geboren wurde und 1989 starb. Kirst, Autor des Desch-Verlages wie Wiechert, war mit seinen gegen den deutschen Militarismus gerichteten Romanen einer der erfolgreichsten Nachkriegsautoren überhaupt. Er ist Wiechert niemals persönlich begegnet, aber man hat miteinander korrespondiert. Das von Kirst in seinen Büchern gestaltete Ostpreußen und dessen Menschen sind von einem anderen literarischen Zuschnitt als bei Wiechert. Über diesen schrieb er einmal: Doch er sah mein Land anders, und seine Menschen waren nicht unbedingt meine Brüder. Aber seine aufrechte Haltung während der Nazizeit forderte meine Bewunderung heraus – und nicht zum ersten und wahrlich auch nicht zum letzten Mal wünschte ich damals, ich hätte gehandelt wie er und seinesgleichen.66

Und nun die Überraschung: Kirst hat 1982 einen zeitgeschichtlichen Roman mit dem Titel Ende ’45 veröffentlicht. Als Taschenbuch liegen mehrere Nachauflagen vor. Im Mittelpunkt steht der Schriftsteller Erich Wienand aus Priesnitz in Pommern. Er lebt auf dem Welpenhof im bayerischen Schönau. Diese Gestalt dürfte subjektiv einer uns sehr vertrauten Persönlichkeit nachgestaltet sein! Wienands Bücher „Die Obristin“, „Der Fischer Gottes“ oder „Das einsame Leben“ sowie „Die Magd des Alfons Materna“ klingen sehr vertraut. Natürlich hat die mannstolle, fremdgehende Ehefrau Elvira nichts mit Lilje zu tun. Aber Wienands Position in der abendländischen Literatur, sein Verhältnis zum Juden Jacob Werner, der ihm im KZ half und die Erkenntnis, dass Menschen der Größenordnung von Wienand kaum erklärbar sind, das alles gehört zu diesem Kirst’schen Kolportageroman. Ihm gelingt es, ein Stück Menschlichkeit in einer heillosen Zeit vor dem Untergang zu bewahren. Was aber die Anklänge Wienands an Wiecherts Gebaren betrifft, bleibt vieles höchst fragwürdig. Ein Schmöker – aber lesenswert. 66 Hellmut Kirst: Geduldig und entschieden. In: Kurt Desch. Ein Buch der Freunde. München 1968, S. 80.

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Am Ende des Streifzugs, auf dem wir Ernst Wiecherts Umgang mit Schriftstellerkollegen seiner Zeit näher untersucht haben, möchte ich abschließend Wiecherts Erkenntnis zitieren, die er nach der Tagung 1931 auf Schloss Osterstein gewann, dass das Treffen für ihn „ein unschätzbares Heilbad gegen die Illusionen gewesen war, als wären Dichter wie ihre Bücher, oder als wären sie größere Menschen als die gewöhnlichen Sterblichen“.67 Das immer tiefere Eindringen in das Leben eines verehrten Dichters, dessen Büchern man sich zeitlebens verbunden fühlt, bereitet nicht nur Freude. Das hat die Arbeit an diesem Manuskript deutlich gezeigt. Zwischen Leben und Werk bleibt ein unüberwindbarer Rest – oder mit Hans Hellmut Kirst gesprochen: „Autoren leben in ihren Büchern – es muss nicht unbedingt auch Gewinn sein, sie selbst zu kennen.“68

67 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 294. 68 Kirst, Geduldig, S. 80.

Abschied vom Hufengymnasium1 Ernst Wiechert in der Königsberger Schulpolitik gegen Ende der Weimarer Republik

christian tilitzki Fast zwanzig Jahre, von 1912 bis 1930, war Ernst Wiechert als Gymnasiallehrer und Schriftsteller in Königsberg tätig. Aber diese lange, durch vier Kriegsjahre unterbrochene Amtszeit an einem Ort hat bisher weder Schul- noch Literaturhistoriker gereizt, Wiecherts Biographie im regionalen Kontext zu erschließen. Bei diesem Befund ist allerdings zu bedenken, dass für das 20. Jahrhundert weder die Schulgeschichte noch die Erforschung der Provinzliteratur, also zwei der wichtigsten Areale der nordöstlichen Kulturlandschaft, zu den Vorzugsthemen ostpreußischer Landeshistoriographie zählen, zumal diese für die Epoche der Weltkriege ohnehin im wohl begründeten Verdacht der Abstinenz, wenn nicht gar der Ignoranz steht.2 1

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Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekts zur Geschichte der Albertus-Universität Königsberg von 1914 bis 1945, das auch die dichte Vernetzung der akademischen Welt mit der regionalen Kultur Ostpreußens zu erfassen versucht. Die Erstveröffentlichung erfolgte in dem von Bernhart Jähnig hg. Sammelband: Neue Forschungen zur Geschichte des Preußenlandes, vornehmlich zur neueren Kulturgeschichte, Marburg 2003 (= Tagungsberichte der Hist. Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 15), S. 177 – 200. Die hier unter einem etwas veränderten Titel publizierte Fassung wurde im Text leicht überarbeitet und um einige bibliographische Angaben ergänzt. – Häufiger verwendete Abkürzungen sind APB: Altpreußische Biographie Bd. 1 – 5/1, Königsberg/Marburg 1941 – 2000; BABL: Bundesarchiv Berlin Lichterfelde; GStA: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin Dahlem; KAZ: Königsberger Allgemeine Zeitung; KHZ: Königsberger Hartungsche Zeitung; PrMWKV: Preuß. Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung; PSK: Provinzialschulkollegium. Manfred Kittel: Preußens Osten in der Zeitgeschichte. Mehr als eine landeshistorische Forschungslücke. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 50, 2002, S. 435 – 463. – Die nach 1945 entstandenen Geschichten ostpreußischer Schulen stützen sich für das 20. Jahrhundert zumeist nicht auf Aktenmaterial, sondern komponieren gedruckte Quellen und Zeitzeugenberichte. Entspre-

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Die außergewöhnliche Vernachlässigung der Literaturgeschichte West- und Ostpreußens ist jedenfalls offenkundig und muß nicht ausführlich belegt werden.3 Seit Alfred Kelletats vernichtender Kritik am letzten, partiell ins Plagiat abgeglittenen Versuch in diesem Genre, Helmut Motekats Literaturgeschichte Ostpreußens,4 ist hier kaum ein Fortschritt zu vermelden.5 Denn die konstruktiven Vorschläge aus Kelletats Rezensionsessay fanden keine Beachtung.6 Insbesondere ist niemand seiner Anregung gefolgt, die literarische Produktion gründlich in die politische Geschichte der Provinz einzubetten, obwohl die „exzeptionelle Lage des Landes die kulturellen und geistigen Leistungen hier entschiedener bedingt“ habe. Völlig inakzeptabel sei daher jene Form von „Geschichtsenthaltsamkeit“, wie sie Motekat sich für die Jahrzehnte nach 1848, in krasser Form aber für die Zeitspanne zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, unter vollständiger Ausblendung der NS-Diktatur, gestatte.7 Die unabdingbare „Einbettung“ ost- und westpreußischer Literatur in die politische Geschichte des Preußenlandes würde jedoch ihre von Kelletat ebenfalls angemahnte, bis heute nicht realisierte bibliographische Erfassung genauso voraussetzen wie die aufwendige Ermittlung biographischer Daten, die für das Gros der Autoren, bei denen Kürschners Literatur-Kalender entweder versagt oder nur spärlichste

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chend zu Wiecherts Lehranstalt nur die gedruckten Schulprogramme kompilierend: Klaus Neumann: Das Staatliche Hufen-Gymnasium und -Realgymnasium zu Königsberg/Preußen 1905 – 1945, als Ms. gedruckt, Wiesbaden 1978. Vgl. nur die entschieden viel zu knappen Ausführungen von Ernst Ribbat: Literatur und Theater. In: Ernst Opgenoorth (Hg.): Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens, Teil IV: Vom Vertrag von Versailles bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1918 – 1945, Lüneburg 1995, S. 178 – 188. Helmut Motekat: Ostpreußische Literaturgeschichte mit Danzig und Westpreußen, München 1977. A. Kelletat: Gedanken zu einer ostpreußischen Literaturgeschichte. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 28, 1979, S. 280 – 296. Das gilt auch weitgehend für die Beiträge in: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Ostpreußen. Facetten einer literarischen Landschaft. Berlin 2001 (=Literarische Landschaften Band 4); vgl. meine Besprechung in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 49, 2002, S. 346 – 348. Schärfer darüber urteilt Gabriele Hundrieser: Irgendwann müssen wir Königsberg ausgraben – Anmerkungen zur memorialen Topographie in Arno Surminskis OstpreußenRoman ,Sommer vierundvierzig‘ im Kontext regionaler Literaturbetrachtung. Hier zit. nach der im Internet veröffentlichten Fassung. Kelletat, S. 292 – 293.

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Angaben offeriert, oftmals nur über den relativ unversehrten Aktenbestand der Reichsschrifttumskammer (RSK) zu gewinnen sind – was in der Regel mit dem erfreulichen Nebeneffekt verbunden ist, dass die dort eingereichten Fragebögen und Lebensläufe wichtige Auskünfte zur weltanschaulichen Orientierung, zur politischen Betätigung, zur sonst nirgends nachgewiesenen Mitarbeit an Tageszeitungen, Theatern und Rundfunkanstalten geben können.8 8

Kelletat, S. 296. – Als bio-bibliographisches Fundament führt Kelletat hier nur an: Alfred Petrenz (Hg.): Ostpreußisches Dichterbuch, Dresden 1905. Einen frühen kursorischen Überblick bietet der Herold Gottscheds, Eugen Reichel: Die Ostpreußen in der deutschen Literatur. Eine Studie. Leipzig 1892, ebenso al fresco der langjährige Königsberger germanistische Privatdozent Erich Jenisch: Das Geistesleben Ost- und Westpreußens im 19. Jahrhundert, Berlin 1920. Darüber hinaus grundlegend Bruno Pompecki: Die Marienburg in der deutschen Dichtung. Eine literarhistorisch-bibliographische Skizze, Danzig 1913; ders.: Literaturgeschichte der Provinz Westpreußen. Ein Stück Heimatkultur, Danzig 1915; ferner die mit Kurzviten ausgestatteten Anthologien von Bruno Wilm (Hg.): Ost- und westpreußisches Dichterbuch, Königsberg 1926, und Hermann Luding/Rudolf Thurau (Hg.): Land der dunklen Wälder… Ostpreußische Dichtung unserer Zeit, Königsberg 1941. Für einzelne Regionen bedeutsam: Harry Schumann (Hg.): Unser Masuren in Forschung und Dichtung, 4.–7. neu bearb. Aufl. Dresden 1921, sowie: Bruno Wilm: Danzig in der deutschen Dichtung, Danzig 1928, Rudolf Naujok: Das Memelland in seiner Dichtung, Memel 1935, dazu bibliographisch ergänzend Max Szameitat: Bibliographie des Memellandes, Würzburg 1957 (= Ostdeutsche Beiträge Bd. VII), S. 174 – 201. Die „lokalhistorische Belletristrik“ an Mottlau und Weichsel streifend: Peter Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793 – 1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen, Osnabrück 2003, S. 199 – 205. – Kürschners Deutscher Literatur-Kalender ist in den Jahrgängen vom 36. (1914) bis zum 50. Jahrgang, Berlin 1943 heranzuziehen. – Nur die Nachkriegszeit deckt ab Maximilian Rankl: Bibliographie zur Literatur Ost- und Westpreußens mit Danzig 1945 – 1988, 2 Bde., Bonn 1990. – Die RSK-Akten befinden sich im BABL. Sie können ergänzt werden durch die Angaben aus der ebenfalls dort verwahrten NSDAPMitgliederkartei und anderen Quellen aus den Beständen des ehemaligen Berlin Document Center. – Die APB liefert für etwa ein Drittel der in Betracht kommenden Literaten mitunter allzu knappe Artikel; unter den Fehlenden scheitern jene Autoren, die nicht im Preußenland geboren wurden, die dort nie ihren Lebensmittelpunkt hatten, aber die, nicht selten aus Konjunkturgründen, „Ostthemen“ entdeckten oder die zumindest die Landschaft und Staffage ihrer mitunter äußerst erfolgreichen Produktionen in den Raum zwischen Weichsel und Memel verlegten, ohnehin an den Aufnahmekriterien. Beispiele hierfür sind die Schriftstellerinnen Christa Anita Brück (Der Richter von Memel, Roman, Berlin 1933), Else Brüning (Auf schmalem Land. Ein Roman von der Kurischen Nehrung, Leipzig 1938) und Else Sparwasser (Das Ferberblut. Ein

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Erst aufgrund dieses bio-bibliographischen Fundaments lässt sich eine – in aller Bescheidenheit vielleicht zunächst auf die geschichtsträchtigen Jahrzehnte zwischen 1914 und 1945 begrenzbare – Darstellung der „altpreußische Literaturprovinz“ (Kelletat) in Angriff nehmen. Bis dahin sind einige grundlegende literatursoziologische Fragen nach den Produzenten und Multiplikatoren von jenen über die Provinz hinauswirkenden, Identität stiftenden „Heimat“-Bildern nicht zu beantworten, die stets auch politisch einsetzbare Sinnstiftung und Wertorientierung vermittelten.9 Immerhin zeigt eine vorläufige Auswertung des Ost- und Westpreußen (einschließlich Danzig) landschaftlich, volkskundlich oder historisch-politisch thematisierenden Schrifttums, wie sehr Lehrer unter den Autoren und Kulturfunktionären dominieren. Um nur kurz eine repräsentative Auswahl zu geben, genügt es hier die Namen zu nennen von Willy Hans Bannert, Max Bialluch, Karl Bink, Otto Boris, Hansgeorg Buchholtz, Albert Conrad, Johannes Dziubiella, Lucy Falk, Bruno Giersche, Johann Georg von Hassel, Arthur Hintz, Bruno Hoffmann, Theodor Hurtig, Erich Karschies, Charlotte Keyser, Willy Kramp, Hanns Müller, Rudolf Naujok, Gertrud Papendick, Karl Plenzat, August Schukat, Helmut Stallbaum, Alfred Treptow und – Ernst Wiechert, Studienrat am Staatlichen Hufengymnasium in Königsberg.10 Roman aus Danzigs vergangenen Tagen, München 1924). Von ihren männlichen Kollegen seien genannt der Kölner Anton Betzner (Deutschherrenland. Ostpreußenfahrt, Frankfurt/M. 1939), der Schweizer Jakob Schaffner (Die Predigt der Marienburg, Berlin usw. 1931; ders., Rote Burgen und blaue Seen. Eine Ostpreußenfahrt, Hamburg 1937) und der Brandenburger Wilhelm Kotzde-Kottenrodt (Die Burg im Osten, Leipzig 1925). 9 Zur kulturanthropologischen Erklärung von „Heimat“ unentbehrlich InaMaria Greverus: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt/M. 1972. Davon ausgehend die Beiträge von Hans-Georg Pott (Der ,neue Heimatroman‘? Zum Konzept ,Heimat‘ in der neueren Literatur) und Gertrud Cepl-Kaufmann: Verlust oder poetische Rettung? Zum Begriff Heimat in Günter Grass’ Danziger Trilogie. In: HansGeorg Pott (Hg.) Literatur und Provinz. Das Konzept ,Heimat‘ in der neueren Literatur, Paderborn usw. 1986, S. 7 – 22 und 61 – 84. Neuerdings: Klaus C. Köhnke: Zur Semantik des Heimatbegriffs. In: ders./Uta Kösser: Prägnanzbildung und Ästhetisierung in Bildangeboten und Bildwahrnehmungen (= Leipziger Studien zur Erforschung von regionenbezogenen Identifikationsprozessen, Band 6) Leipzig 2001, S. 114 – 148. 10 Das zweitstärkste Kontingent stellen die Journalisten, darunter: Gerhard Bohlmann, Martin Borrmann, Paul Brock, Paul Fechter, E. Kurt Fischer, Ruth

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Unter ihnen war Wiechert der einzige, der bereits mit seinen ersten Arbeiten auf nationaler Bühne Beachtung fand, dem dieser Erfolg aber nicht, quasi zurückwirkend, innerhalb der regionalen Kulturszene zugute gekommen wäre. Hier blieb er fast unbeachtet im Schatten der Königsberger Lokalmatadorin Agnes Miegel, wurde auch übertrumpft von dem seit 1923 in selbstgewählter Außenseiterrolle im Ostseebad Cranz lebenden Dramatiker und Erzähler Alfred Brust (1891 – 1934), der, trotz permanenter Klagen über finanzielle Nöte und ostentativer Distanzierung vom „Kulturbetrieb“ der Provinzhauptstadt, eine nicht geringe Zahl von Fürsprechern mobilisierte, die ihn geschickt zu vermarkten wussten – in erster Linie waren dies die drei Journalisten Ludwig Goldstein (1867 – 1943), Feuilletonchef der „Königsberger Hartungschen Zeitung“, dessen Redakteur Alfred Hein (1894 – 1945) und der für die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ schreibende Walther Harich (1888 – 1931) sowie der 1925 an die Albertus-Universität berufene Germanist Josef Nadler. Bezeichnenderweise fehlte Wiechert im repräsentativen regionalen „Dichterbuch“ des rührigen Danziger Studienrats Bruno Wilm von 1926. Auch in einer in Staatsbibliotheken nicht mehr vorhandenen, auch antiquarisch äußerst seltenen, die Königsberger Literaturprominenz zu Beginn der „goldenen Zwanziger“ versammelnden Publikation, dem ,Almanach zum Königsberger Pressefest am 16. Februar 1924‘, wo Miegel, Brust, Harich, Geede, Ludwig Goldstein, Hans-Jochen Haecker, Walther Harich, Alfred Hein, Alfred Karrasch, Agnes Miegel, Otto Weber-Krohse (zeitweise zugleich NS-Parteifunktionär), Max Worgitzki (zugleich Verbandsfunktionär). Bei manchen war der Übergang zur drittstärksten Gruppe, den „freien“ Schriftstellern, fließend (vgl. Agnes Miegels Lebenslauf, der für 1920 bis 1926 eine feste Anstellung als Redakteurin bei der „Ostpreußischen Zeitung“ ausweist, danach freischaffend); hier sind zu berücksichtigen: Dora Eleonore Behrend, Alfred Brust, Kuno Felchner, Otfried Graf Finckenstein, Max Halbe, Ada von Königsegg, Hans Kyser, Carl Lange, Rolf Lauckner, Franz Lüdtke (zugleich Verbandsfunktionär), Fritz von Reck-Malleczewen, Fritz und Richard Skowronnek, Heinrich Spiero, Hermann Sudermann, August Winnig, Elsa Wilutzky, Johanna Wolff. Kaum noch eine Rolle spielen Pfarrer (markante Ausnahme: Herbert Lipp, der seine Heimatromane als Pastor in Berlin-Charlottenburg schrieb, und der Tierschriftsteller Herbert Wensky, zuletzt Pastor im Kreis Pr. Eylau, der es zeitweilig zum ostpreußischen Landesleiter der RSK brachte), freie Berufe (Ärzte, Anwälte oder, höchst selten, Landwirte wie der Tierschriftsteller Walter von Sanden-Guja), Beamte und Angestellte (hierfür seien erwähnt der Justizsekretär Fritz Kudnig, der Abteilungsleiter im Danziger Polizeipräsidium Wolfgang Federau und der gelernte Buchbinder Walther Scheffler).

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Hein e tutti quanti ihre poetische Visitenkarte abgaben, wo sich noch ein Sudermann wenigstens entschuldigend zu Wort meldet, wo die ältere Generation mit Carl Bulcke und Arno Holz vertreten ist, dort sucht man einen Wiechert vergeblich.11 Erst eine vergleichende Betrachtung in diesem Umfeld macht zudem erkennbar, dass Wiechert paradoxerweise während seiner Königsberger Zeit weder national noch regional als Autor mit markant ostpreußischem Profil wahrgenommen wurde. Für das Urmotiv seines erzählerischen Werkes, den zivilisationskritischen Rückzug in den Naturraum des Waldes, liefert die masurische Heimat Wiecherts in seinen frühen Arbeiten nur vage topographische Bezugspunkte. Wohlwollenden zeitgenössischen Kritikern wie Hans Ebeling war daher selbstverständlich, dass die Landschaft Ostpreußens in allen Romanen und Erzählungen Wiecherts, bis hin zur Autobiographie Wlder und Menschen (1936), „irgendwie ins Magische aufgehoben“, die Provinz also überhaupt nicht als Identifikationsraum konkretisiert werde.12 Zumindest nicht als ein, nach 1933, kulturpolitisch erwünschter. Deshalb konnten NS-Literaturkritiker wie Hans Ernst Schneider über Ebeling weit hinausgehen und Wiechert in einem Sprachrohr der SSIntelligenz vorhalten, den Osten zur „literarischen Kulisse“ herabgewürdigt zu haben, die „Unendlichkeitssehnsüchten“ eine Projektionsfläche biete. Im derart enthistorisierten „Jenseits-aller-Grenzen-Sein“ sei es den in „Wälder- und Moorromantik“ versunkenen Literaten vom Schlage Wiecherts dann leicht gefallen, Ostpreußen als „Randmischzone“ zu kreieren, die von ihrer Zugehörigkeit zu Volk, Nation und Kultur der Deutschen gelöst und mit idealisiertem „östlichen Menschentum“ bevölkert worden sei, worin Herders „Mystifizierung des Slawentums“ nachklinge. Ähnlich scharfe Ablehnung erfuhr Wiechert in der offiziösen NS-Literaturgeschichte von Hellmuth Langenbucher. 11 Zu Wilm vgl. Anm. 7. Ferner: Almanach zum Königsberger Pressefest am 16. Februar 1924 in der Stadthalle zu Königsberg Pr., Königsberg 1924. – Zu Brust vgl. die 1998 am Institut für Germanistik der TU Dresden entstandene ausgezeichnete Magisterarbeit von Henry Kuritz: Alfred Brust – eine monographische Studie. Dort im Anhang des 109 Blatt umfassenden, mir dank der Freundlichkeit des Verfassers zugänglich gemachten Werkes, eine sehr nützliche Bibliographie, die allerdings die große Resonanz in Königsberger Zeitungen sowie das werbende Engagement von Goldstein et al. nicht erschlossen hat. 12 Vgl. dazu das Urteil seines ersten Biographen Hans Ebeling: Ernst Wiechert. Der Weg eines Dichters. Berlin 1937, S. 201 – 202.

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Hier wird die von Wiechert selbst 1936, allerdings in Abgrenzung zu der auf „Reinheit“ versessenen NS-Rassenideologie betonte „Blutsmischung (deutsches, französisches und [sic:] polnisches Blut fließt in seinen Adern)“ für seine Kreation des „ostischen Menschen“ verantwortlich gemacht, der für Langenbucher eine Art „Gegentypus“ zum vorbildlichen „ost-preußische[n] Mensch[en]“ abgibt, wie ihn Agnes Miegel oder Johanna Wolff ihrem Publikum vermitteln würden. Im Sinne Langenbuchers mindestens distanziert gibt sich auch der einschlägige, die „Resignation und Lebensverneinung“, die „ichbezogene Lebensbetrachtung“ attackierende Personalartikel im weitverbreiteten Kröner-Taschenbuch über ,Die Dichter unserer Zeit‘ von Franz Lennartz, der zeitgeistkonform festhält, dass dies Wiechert, als „grüblerischer Dichter aus ostpreußischer Wald-, Seen- und Moorheimat“, eine „auffallend widerstreitende Beurteilung“ eingetragen habe. Tendenziell findet sich solche harsche Ablehnung aber schon früher gerade dort, wo man landsmannschaftliche Rücksicht erwarten sollte, wo aber umso heftiger gegen Wiecherts „magische Dunkelheiten“, seinen „undeutschen Weltschmerz“ und die seine Prosawerke kennzeichnende „künstliche Mythologisierung“ etwa der Allensteiner Bibliothekar Wolfgang Herrmann zu Felde zog.13 Nach NS-Maßstäben war damit 13 H. E. Schneider: Tat und Trug. Zur ostpreußischen Dichtung der Gegenwart. In: Die Weltliteratur 16, 1941, S. 63 – 68 (hier zit. S. 64). Über den Königsberger Germanisten und SS-Funktionär Schneider, der unter dem Namen „Schwerte“ nach 1945 zum Rektor der TH Aachen aufstieg, vgl. Ludwig Jäger: Seitenwechsel: der Fall Schneider/Schwerte und die Diskredition der Germanistik, München 1998, dort S. 121 – 128 über „Schneider als ,Rezensor‘, ferner Joachim Lerchenmüller/Gerd Simon: Masken-Wechsel. Wie der SSHauptsturmführer Schneider zum BRD Hochschulrektor Schwerte wurde und andere Geschichten über die Kontinuität deutscher Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Tübingen 1999; dort S. 160 – 173 über den Literaturkritiker Schneider und die Zeitschrift „Die Weltliteratur“. – Vgl. ferner die offiziöse NS-Literaturgeschichte von Hellmuth Langenbucher: Volkhafte Dichtung der Zeit, 3., völlig neubearb. Aufl. Berlin 1937, S. 205 – 208. – Franz Lennartz: Die Dichter unserer Zeit. 300 Einzeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Gegenwart, 4. Aufl. Stuttgart 1941, S. 433 – 434. – W. Herrmann: Ostpreußen lebt in seinen Dichtern. Ein Überblick über die zeitgenössische Dichtung Ostpreußens. In: Der ostpreußische Erzieher 3, 1935, S. 609 – 614 (hier zit. S. 611). – Zu den unheilvollen Vermittlern dieser Imaginationen des „östlichen Menschen“ rechneten Schneider und seine SD-Kameraden den einflussreichen, in Elbing geborenen Berliner Literaturkritiker Paul Fechter. Gegen seine ,Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart‘ (Berlin 1941) sehr aggressiv: Hans Rössner: Literarischer Zwischenhandel. In: Die

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Wiecherts Werk auf der Unwertskala für ostpreußische Autoren ganz unten bei Alfred Brust angelangt, dessen Roman Die verlorene Erde (1926) bald nach dem Tod des Verfassers (1934) in Acht und Bann geriet, wegen der „jüdisch-chiliastische[n] Zielrichtung“ einer Erlösungssehnsucht, die vom „chassidische[n] Judentum“ erwarte, das „kosmische Gleichgewicht“ des modernen Menschen wieder herzustellen.14 Weltliteratur 16, 1941, S. 152 – 154. Das stark vom revolutionären Konservatismus eines Arthur Moeller van den Bruck geprägte intellektuelle Umfeld des Moeller-Biographen Fechter nahm ein Anonymus („Mandywell“) ins Visier, der sich gegen die von Rudolf Pechel zusammengestellte kleine Festschrift zu Fechters 60. Geburtstag wendet. Daran wirkten neben dem in der wissenschaftspolitischen „Ostarbeit“ stark engagierten Historiker Albert Wrackmann (der dem Jubilar für die frühen Bemühungen um eine von Wissenschaft und Presse gemeinsam zu bildende „geistige Ostfront“ dankt) „innere Emigranten“ wie Jochen Klepper und Reinhold Schneider mit. Sie provozierte aber vor allem deshalb den SD-Zorn, weil Otto von Taube wieder einmal den „eigentlichen preußischen Menschen“ feiere und das „eigentliche Preußen“ mit den „Brennpunkten Königsberg und Danzig“ („nie und nimmer Berlin“) in den Raum „zwischen Weichsel und Memel“ verlege. Den SD-Rezensenten hätte es in seiner Abneigung gegen diesen intellektuellen Separatismus, gegen solche „verfälschenden und partikularistischen Einstellung[en] zur preußischen Geschichte“, die vom „Volkstums-Mischmasch“ als von „etwas Ursprünglichem und Wertvollem“ reden. nur bestärkt. wenn er gewusst hätte, dass der baltendeutsche Dichter Taube mit dem ostpreußischen Oberpräsidenten Adolf von Batocki verwandt war (und sich mit ihm über diese Fragen auch brieflich austauschte!). Batocki wurde in den 20er Jahren von deutschnationaler und völkischer Seite immer wieder verdächtigt, den im Frühjahr 1919, in den letzten Monaten seiner Amtszeit, konzipierten, mit Blick auf die Folgen des Versailler Vertrages außenpolitisch motivierten, auf die Trennung der Provinz vom Reich gerichteten „Oststaat“-Plan nicht ad acta gelegt zu haben und die „Insel Ostpreußen“, nunmehr aus ökonomischen Erwägungen, mit Unterstützung großagrarischer Freunde an Polen „anschließen“ zu wollen. Vgl. Otto von Taube: Über den eigentlich preußischen Menschen. In: Paul Fechters Geburtstagstisch am 14. September 1940. Aufgebaut von Rudolf Pechel, als Manuskript gedruckt, Stuttgart 1940, S. 20 – 23. Dazu: Mandywell, Wirklichkeit und Literatur. Ein Wort für den deutschen Osten. In: Die Weltliteratur 16, 1941, S. 62 – 63. 14 Herrmann (wie Anm. 12), S. 611. – Ausgerechnet in der völkischen Literaturgeschichte von Adolf Barteis: Geschichte der deutschen Literatur, 16. Aufl., Braunschweig usw. 1937, S. 741, entgeht Brust jeder sonst üblichen und zu erwartenden Klassifizierung als „Judenfreund“ o. ä. – Bei Schneider (wie Anm. 12), S. 65 – 66, steht Brusts Werk für „Sexualität und Sektierertum“, das in „Randteilen“ Ostpreußens wohl wirklich zum „,unterirdischen‘ Erbe“ der Landschaft zähle, von Brust aber zu „nachwirkender Höhe“ gesteigert worden

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Diese Anklage des „Versagens“ vor der kulturpolitischen Aufgabe, Ostpreußen „positiv“ als „Wirk- und Tatraum“ für jene Kräfte darzustellen, die schließlich ab 1939 die „saubere Trennung“ zwischen Deutschen und Slaven propagierten,15 erscheint wie die erheblich radikalisierte Fortsetzung eines 1929 ausgebrochenen weltanschaulichen Kampfes, in dem Gegensätze aufeinanderprallten, die sich schnell als so unüberwindbar erwiesen, dass der Studienrat Wiechert 1930 von Königsberg nach Berlin wechseln mußte, wo er dann 1933 den Schuldienst quittierte. Dieser Konflikt wird darum im Folgenden anhand von Quellen rekonstruiert, die Wiechert-Forscher bislang übersehen haben.16 Im Mittelpunkt steht hierbei das Interesse an den Königsberger Ausprägungen des Zeitgeistes der Weimarer Republik, also an der Gesamtheit der „Normen, Werte [und] Zwecke“ (Dilthey),17 die das sei. Zur Rezeptionsgeschichte Brusts nach 1933 bei Kuritz (wie Anm. 10) leider kaum Angaben. Als Kuriosum sei vermerkt, dass der Berliner Grote Verlag Brusts letzten Roman: Eisbrand: die Kinder der Allmacht (1933 bei Grote), 1939 ganzseitig, versehen mit einer positiven Pressestimme aus dem „Völkischen Beobachter“, bewirbt – unmittelbar anschließend an Verlagsanzeigen für den Hausautor Ernst Wiechert. Zu finden im Werbeteil des Erstlings von Ewald Swart (* 1890 Ruboken/Memelland – gest. 1963 Frankfurt/M.): ,Jonuschat’s Weg in die Einsamkeit. Roman aus dem Memelland‘, Berlin 1939 (= Grote’sche Sammlung von Werken zeitgenössischer Schriftsteller; Bd. 237). 15 So Schneider (wie Anm. 12), S. 62. 16 Auf lokal- und schulgeschichtlichem Feld stößt am weitesten vor Alfred Knuth: Ernst Wiechert in Königsberg/Pr., Typoskript, Berlin 1995; es handelt sich um die Arbeit eines ehemaligen Schülers des Hufen-Gymnasiums, die mir Dr. Bärbel Beutner (Unna) freundlichst zur Verfügung gestellt hat. Knuth hat nicht den Ehrgeiz, den „Geist der Zeit“ im Königsberg der 20er Jahre erfassen zu wollen, es geht ihm allein darum, die lokalhistorisch relevanten Daten, die Wiechert in seiner Autobiographie Jahre und Zeiten (Zürich 1949) mitteilt, zu konkretisieren oder zu korrigieren und so eine Art heimatkundlichen Stadtführer für Freunde des Dichters zur Verfügung zu stellen. – Mit Hilfe der Korrespondenz zwischen Wiechert und dem leitenden Redakteur der Süddeutschen Monatshefte, dem nachmals als Schopenhauerforscher bekannt gewordenen Philosophiehistoriker Arthur Hübscher, will der unermüdliche Guido Reiner SJ, ein französischer Geistlicher, der sich über 30 Jahre lang mit Leben und Werk des Schriftstellers beschäftigt hat, Licht in die „Affäre“ bringen, kommt aber, aus Mangel an weiteren Quellen, nicht über die Version hinaus, die Wiecherts Autobiographie liefert. Vgl. dessen Dissertation: Ernst Wiechert 1887 – 1938: L’homme et la genèse de son œuvre vers la maturité 1887 – 1950, Paris 1991 (auf Mikrofiche: Lille 1992), hier bes. Bl. 248 – 275. 17 Immer noch grundlegend für das, was sich heute Ideologie- oder gar „Neue Ideengeschichte“ nennt, ist das Werk Wilhelm Diltheys, des Urvaters der

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Denken und Handeln von Angehörigen der Bildungselite in der ostpreußischen Hauptstadt bestimmten. Von vornherein ist deshalb davon auszugehen, dass Wiecherts Biographie während der Tätigkeit am Hufengymnasium keineswegs durch eine „Abkehr vom gesellschaftlichen Leben“ und „vom politischen Geschehen“ gekennzeichnet war, genauso wenig, wie sein schriftstellerisches Schaffen vor und nach 1933 jemals eine „grundsätzlich unpolitische Ausrichtung“ aufwies.18 Zunächst schien sich dieser „Fall Wiechert“ wirklich unpolitisch zu entwickeln, ganz nach den banalen Gesetzmäßigkeiten eines unvermeidlichen Scheidungsprozesses. Denn Mitte der zwanziger Jahre begann es in der 1911 mit der Försterstochter Meta Mittelstädt geschlossenen Ehe des Studienrats zu kriseln. Im Frühjahr 1928 lernte er eine verheiratete Frau kennen, die aus dem Memelland stammende Paula Junker, geborene Schlenther, und zeigte sich fortan mit ihr in der Königsberger Öffentlichkeit. Die Ehekrise Wiecherts spitzte sich infolgedessen zu, Wiechert drang auf Scheidung, zog aus der gemeinsamen Wohnung aus, seine Frau unternahm im Frühjahr 1929 einen ersten Selbstmordversuch. Während eines Klinikaufenthalts erfuhr sie, dass ihr Mann, von der Schulbehörde wegen der „ehebrecherischen Beziehung“ zur Stellungnahme genötigt, Anfang August seine Entlassung aus dem Schuldienst beantragt hatte. Sie bat das Provinzialschulkollegiums deswegen um finanzielle Unterstützung. Nach einem abschlägigen Bescheid verGeistesgeschichte, hier zit. aus seinem: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 5., unveränd. Aufl. Stuttgart-Göttingen 1968 (= Ges. Schriften Bd. VII), S. 289. 18 Dies gegen Guido Reiner: Ernst Wiechert im Dritten Reich. Eine Dokumentation (Ernst-Wiechert- Bibliographie 2. Teil), Paris 1974, S. 13 – 14. Gegen Reiner in diesem Punkt auch die jüngste, sich leider fast ausschließlich mit dem Geschick des Autors nach 1933 beschäftigende Studie von Manfred Franke: Jenseits der Wälder. Der Schriftsteller Ernst Wiechert als politischer Redner und Autor. Köln 2003, S. 17 – 18. Vgl. zu diesem Punkt die Auffassungen zweier Protagonisten der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft (IEWG): Hans-Martin Pleßke: Ernst Wiechert in seiner und unserer Zeit, meint, der Dichter sei „in keiner Phase seines Lebens ein völlig unpolitischer Mensch gewesen“, während Klaus Weigelt: Ernst Wiecherts Reden an die Jugend, konstatiert, er sei „politisch im [von Weigelt nicht definierten, CT] eigentlichen Sinne des Wortes“ nicht gewesen, „man könnte ihn sogar als unpolitischen Menschen bezeichnen“. Beide Beiträge in: Bärbel Beutner u. Hans-Martin Pleßke (Hg.): Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert. Frankfurt/M. 2002 (= Schriften der IEWG, Bd. 3), S. 9 – 20 und S. 59 – 86, hier. zit. S. 14 und 86.

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suchte sie am 25. September 1929 zum zweiten Mal sich das Leben zu nehmen – diesmal erfolgreich. Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion des hinter diesem bürgerlichen Ehedrama verborgenen ideologischen Konflikts ist eine Stellungnahme von Otto Raatz vom 19. August 1933. Raatz, seit 1924 Studienrat am Königsberger Körte-Oberlyzeum, seit 1923/24 aber auch schon völkischer Aktivist im Geist der nach dem Münchener Putsch vom 9. November 1923 verbotenen Hitler-Bewegung, 1925 in die Partei eingetreten, war der während der „Kampfzeit“ der NSDAP „Führer“ des von ihm mitgegründeten ostpreußischen NS-Lehrerbundes und bekam am 1. August 1933 eine wichtige bildungspolitische Schaltstelle unter seine Kontrolle: Er rückte mit Hilfe des Gauleiters und im Mai 1933 frisch ernannten Oberpräsidenten Erich Koch zum Regierungsdirektor und Leiter des Amts für höheres Schulwesen, des vormaligen PSK, in der Provinz Ostpreußen auf .19 Das am 7. April 1933 in Kraft getretene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (BBG) bot ihm die Handhabe zur nachhaltigen personellen Umgestaltung des ostpreußischen Gymnasialwesens, die er erst 1937 für halbwegs abgeschlossen ansah. Der „eiserne Besen“, den er schwang, um die höheren Schulen der Provinz von „Juden, Marxisten, Liberalen, Katholiken und Reaktionären“ zu säubern, fegte eine Reihe von teils über ihr Lehramt hinaus als Wissenschaftler bekannt gewordenen Pädagogen aus ihren Ämtern, ohne dass es Raatz jedoch gelungen wäre, seine Maximalziele zu erreichen.20 Zu

19 Raatz, geb. 1894 in Dammburg/Kr. Dt. Krone als Sohn eines Lehrers, Abitur am Gymnasium Dt. Krone, Studium im S.S. 1914 in Tübingen sowie von 1919 bis 1921 in Greifswald: Deutsch, Geschichte, Erdkunde, pädagogische Prüfung 1922, 1922/24 am Privatlyzeum Günther in Königsberg unterrichtend, ab 1. Mai 1924 Studienrat am Städt. Körte-Oberlyzeum. Am 1. Weltkrieg teilgenommen ab 6. August 1914 beim Jäger Bataillon Fürst Bismarck Culm, im Mai 1915 Lt. d. R., an der Ostfront, verwundet, als schwerkriegsbeschädigt 1917 aus dem Heeresdienst entlassen. Angaben nach BABL, R 2 Pers.; Akte 0. Raatz. Dazu die Nachrufe von Erich Steinau, Gauamtsleiter Pg. Otto Raatz, in: Mitteilungsblatt des NSLB, Gauverwaltung Ostpreußen 1941. Nr. 5, S. 33 und, ohne Verfasserangabe, Ein vorbildlicher Kämpfer und Schulmann. Zum Tode des Regierungsdirektors Raatz, in: KAZ, Nr. 208 vom 13. 4. 1941. 20 Viel Material dazu in BABL, R 4901/4968, 1313G-Durchführung an höheren Schulen Ostpreußens, aber auch in einzelnen Schulakten dieses Bestandes. Zu den gelehrten Pädagogen, die Raatz mit Ausdauer verfolgte, zählten zwei Katholiken, der Kopernikus-Forscher Hans Schmauch (Wormditt) und der mit

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den Oberstudiendirektoren, die Raatz vordringlich und mit höchster Energie entlassen wollte, zählte Wiecherts einstiger Vorgesetzter am Hufengymnasium, der Mathematiker Alfred Postelmann.21 Gegenüber dem Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung begründete er dies mit Postelmanns Verhalten im Fall Wiechert, wobei Raatz’ Intention zugleich dahin ging, dem Ministerium Material gegen Wiechert zu liefern.22 Postelmann, so führte Raatz aus, sei ein Direktor wider Willen, der sich 1923 vom Kollegium auf diesen Posten drängen ließ, obwohl er selbst an seiner Eignung gezweifelt habe. Er sei zwar ein altruistischer, hilfsbereiter Mensch, jedoch als Direktor unfähig: Bedenklich ist, daß er im Rufe steht, Atheist zu sein. Er ist aber nie aus der Kirche ausgetreten. Kennzeichnend für sein Wirken ist der Fall des Studienrats Wiechert, auf den ich deshalb näher eingehen muß. Wiechert kämpfte rücksichtslos gegen jede Autorität (Staat, Kirche, Schule, Elternhaus), rief einen öffentlichen Skandal hervor. Die beigefügte Abiturientenrede Wiecherts gibt eine Probe seines Wirkens; im übrigen verweise ich auf das Urteil seines Dezernenten, Oberschulrat Dr. Reicke. Diesen Zerstörer junger Seelen hat der Direktor stets gedeckt, sobald ein Sturm der Kollegen oder der Eltern gegen ihn losbrach. Für Wiecherts Charakter ist folgendes bezeichnend: Die Behörde verlangte von ihm die Verpflichtung, sich von der Frau eines andern zu lösen, mit der Wiechert fortgesetzt Ehebruch trieb, so daß die Sache Stadtgespräch wurde. Wiechert weigerte sich und erklärte, er scheide aus dem Dienst aus. Obwohl nun die Behörde ihm sogar Versetzung – etwa nach Berlin – anbot, weigerte Wiechert sich, wieder Dienst zu tun. Gleichzeitig aber brachte er es fertig, sich beim Ministerium über schlechte Behandlung durch das Provinzialschulkollegium zu beschweren und seine Wiedereinstellung in Berlin zu beantragen. Herr Ministerialrat Metzner erschien persönlich in Königsberg und machte dem Provinzialschulkollegium die heftigsten Vorwürfe wegen der schlechten Behandlung Wiecherts, ohne sich auf Klarlegung des Falles einzulassen, so daß Vizepräsident Latrille gegen Ton und Behandlung seine Verwahrung einlegen mußte. Diesen Menschen, der in Königsberg den Märtyrer seiner Überzeugung spielte, gleichzeitig aber seine Behörde verleumdete und den für ihn wichtigen Umzug nach Berlin erstrebte, stellte der Direktor als neuen Johannes der Täufer oder neuen Messias hin [ … ] einer Studie zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts bekannt gewordene Benno Böhm (Heilsberg). 21 Zu Postelmann vgl. Fritz Gause in: APB IV, S. 1043. 22 BABL, R 4901/4968; Schreiben vom 19. 8. 1933. Die beigefügte und erwähnte „Abschiedsrede“ in: Ernst Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, München 1957, S. 340 – 348.

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Die Disziplinlosigkeit am Hufengymnasium war und ist provinzbekannt. Hauptschuldiger war Wiechert, der die Schüler gegen alle anderen Lehrer aufhetzte, sie aber sich selbst hörig machte. Ihn rühmt der Direktor als Retter der Disziplin. Daß der Direktor die staatsgefährlichen Ansichten Wiecherts teilt, ist bei alledem nicht anzunehmen. Er ist aber ein gänzlich lebensfremder Wissenschaftler, den jeder künstlerisch veranlagte Mensch durch sein Anderssein gewaltig beeindruckt, so daß er urteilslos für gut hält, was dieser ,ungewöhnliche‘ Mensch treibt. Postelmann war demnach schon längst als Anstaltsleiter unmöglich, als Studienrat wird er harmlos sein…“ Postelmann sei daher gemäß § 5 BBG zu versetzen und herabzustufen, gegen Wiechert solle die Berliner Schulbehörde auf der Grundlage des von Raatz beigebrachten Materials „vorgehen“.

Trotz dieser massiven Angriffe entschied das Ministerium per Erlaß vom 30. Oktober 1933, dass Postelmann im Amt bleibe – vorläufig, wie sich herausstellte, denn Raatz’ Insistieren dürfte es zuzuschreiben sein, dass Postelmann zum 1. April 1934, zum Studienrat degradiert, innerhalb Königsbergs ans Löbenichtsche Gymnasium versetzt wurde.23 In Sachen Wiechert erklärte das Ministerium Raatz jedoch unmissverständlich, dass gegen den Schriftsteller nichts mehr zu veranlassen sei, weil der Fall vom Oberpräsidenten in Berlin inzwischen erledigt worden sei.24 Am 28. November 1933 nahm der Berliner Ministerialrat Karl Metzner zu Raatz’ Vorwürfen Stellung. Das Ministerium sei 1929 mit der Angelegenheit überhaupt nur befasst worden aufgrund eines Schreibens von Wiechert, worin er um eine neue Verwendung als Dozent an einer Pädagogischen Akademie nachgesucht habe. Da nach der üblichen Praxis das zuständige PSK ausschließlich in eigener Regie über Entlassungsgesuche von Studienräten entscheide, wäre man in Berlin anders gar nicht über diesen Königsberger Vorfall gestolpert. Ein daraufhin beim PSK eingeforderter Bericht habe dann das Ministerium 23 BABL R 4901/4952, unpag.; Raatz an PrMWKV v. 19. 8. 1933. Nach dem Tod von Raatz (1941) erfuhr Postelmann eine gewisse Rehabilitierung, vor allem, als Anerkennung für seine Verdienste um die Geologie Ostpreußens, durch die Berufung in den Anfang 1942 aus der Taufe gehobenen „Forschungskreis der Albertus-Universität“. Vgl. dazu, in großer Aufmachung: Forschungskreis vom Gauleiter gegründet. Schirmherr der freien Forscher im Bereich der Albertus-Universität, in: KAZ Nr. 18 v. 19. 1. 1942 und ebd. Gauleiter Koch ein Förderer freier Forschung. Gründungsfeier des Forschungskreises der Albertus-Universität. Ansprache des Rektors Professor Dr. von Grünberg. 1943 erhielt Postelmann den Preis des Forschungskreises für Arbeiten über norddeutsches Gesteinsmaterial, vgl. dazu: KAZ Nr. 68 v. 9. 3. 1943. 24 BABL R 4901/4952; PrMWKV an Raatz v. 31.10. 1933.

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zum Nachfassen veranlasst, da dem zu entnehmen war, dass Wiechert vor die Wahl gestellt worden sei, entweder die angebliche ehebrecherische Beziehung zu lösen oder den Dienst zu quittieren. Im selben Bericht erwähnte das PSK den Freitod von Frau Wiechert als Folge von dessen Entlassung, so dass der Eindruck erweckt worden sei, als trüge ihr treuloser Mann dafür die Verantwortung. Tatsächlich ging Frau Wiechert erst in den Tod, als ihr Unterstützungsgesuch vom PSK abgelehnt worden sei, sie also vor der Wahl stand, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu müssen. Das Ministerium sei folglich erst durch die Aufsehen erregenden Umstände dieser Entlassung auf den Plan gerufen worden. Und zwar, weil sie ohne eine Belehrung über die Folgen des selbstgewählten Ausscheidens erfolgt sei und zudem der negative PSKBescheid an Frau Wiechert unmittelbar deren Freitod auslöste. Deswegen sei er, Metzner, vom Minister nach Königsberg geschickt worden, um dem PSK-Vizepräsidenten Martin Latrille die Missbilligung seines Verhaltens persönlich mitzuteilen, was er in einem Vier-AugenGespräch, unter Verweis auf ähnlich unangemessen, also „mit unnötiger Schärfe“ gehandhabte frühere Fälle, auch in aller Deutlichkeit getan habe. Weder Wiechert noch der Vater der Toten seien über diese ministerielle Intervention und ihre Motive unterrichtet worden. Da Wiechert ein Autor „mit mehrfach anerkannter Bedeutung“, der „in Schrift und Rundfunk jetzt im Sinne der NSDAP in München“ wirke, bekräftigte Metzner zum Schluss, dass er „heute“ wieder so handeln würde wie 1930.25 In ihrer Rückschau auf den „Fall Wiechert“ trugen Raatz und Metzner denkbar gegensätzliche Schilderungen und Beurteilungen des Sachverhalts vor. Während der Berliner Ministerialrat, der als Repräsentant der Schulpolitik demokratischer Prägung, noch dazu als Katholik, der vielleicht nur auf dem „Fahrschein“ seiner Mitgliedschaft in der Zentrumspartei in seine Position gelangt sein könnte, und der doch erst 1936 – krankheitsbedingt mit 60 Jahren – in den Ruhestand trat, den schulischen Hintergrund des Konflikts und Wiecherts Motive sorgfältig aussparte, um ganz auf die unverhältnismäßige Reaktion des Königsberger PSK abzustellen, hob Raatz den Kampf Wiecherts gegen „jede Autorität“ als „staatsgefährlich“ hervor und denunzierte ihn als „Zerstörer junger Seelen“. Entscheidend war für Raatz nicht die seinem ehemaligen Kollegen unterstellte feindliche Haltung gegen den Weimarer Staat, den er ja selbst als Spitzenfunktionär der ostpreußischen 25 Ebd.

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NSDAP allemal radikaler bekämpft hatte. Entscheidend für ihn war vielmehr die Einschätzung, dass mit Wiecherts Anschauungen überhaupt kein Staat zu machen sei, man es hier also mit einem Anarchisten zu tun habe, während der sonst so peinlich um Entpolitisierung des Vorgangs bemühte Metzner mit dem abschließenden Hinweis, der Dichter wirke jetzt im Sinne der NSDAP, wohl vorsichtig suggerieren wollte, eine ideologische Affinität müsse mithin vor 1933 bestanden haben. Wirkte der Studienrat Wiechert auf seine Schüler also als verkappter Anarchist oder – wie auch nach 1945 gelegentlich unterstellt wurde26 – als heimlicher Sympathisant und geistiger Wegbereiter der NS-Bewegung? Erwartungsgemäß enthält die Ministerialakte, die sich zur Beantwortung dieser Frage heranziehen lässt, kein Material, das dazu taugen würde, den „Präfaschisten“ Wiechert zu entlarven. Was nicht bedeutet, der Lesart von Otto Raatz beipflichten zu müssen und in ihm nur einen Gegner jeder „Autorität“ zu sehen. Der Sachverhalt entpuppt sich als wesentlich komplizierter, weil Wiecherts Ehetragödie schnell Kräfte auf den Plan treten ließ, die aus einer privaten Affäre eine öffentliche machten, um sie politisch für sich zu nutzen. Im Unterschied zu Metzner berührt Raatz in seinem Bericht zumindest einen Teilbereich dieses politischen Geflechts: das Verhältnis zwischen Rektor Postelmann, Studienrat Wiechert und dem Lehrerkollegium am Hufengymnasium. In seiner Autobiographie Jahre und Zeiten (1949), zeichnet Wiechert das Bild sogar wesentlich konturenreicher. Auf der einen Seite tritt dort der den „konservativen Teilen der Elterngemeinde“ suspekte Postelmann auf, gestützt von einem kleinen „verschworenen Bund“, dem der Deutschlehrer Wiechert sich selbst, den Musikpädagogen Hugo Hartung und den Zeichenlehrer Ernst Georg Handschuck zurechnet. Ihnen steht gegenüber der „große Haufen“ der „Nichtskönner und Nichtstuer“, jene „Unwilligen und Unfähigen“, unter denen sich, „das Hakenkreuz verborgen unter dem 26 Prosekutorisch auf Wiecherts „Präfaschismus“ weisend Jörg Hattwig: Das Dritte Reich im Werk Ernst Wiecherts. Frankfurt/M. u. New York 1984. Ablehnend zu Hattwigs „verbohrter Dissertation“ Günter Scholdt: Ernst Wiechert. Ein ostpreußischer Konservativer und die Republik von Weimar. In: Frank-Lothar Kroll (Hg.) (wie Anm.5), S. 117 – 135, hier zit. S. 124. Scholdt konzediert jedoch „Schnittmengen“ zwischen Wiecherts Konservatismus und dem Nationalsozialismus, hält aber die „Essentials in Wiecherts Weltbild“ für inkompatibel mit der NS-Ideologie. Es fehle vor allein der „Kernpunkt“, der „Antisemitismus“ (ebd., S. 125, 127, 133).

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Rockaufschlag“, die „Wegbereiter der neuen Bewegung“ befunden hätten.27 Dazwischen, oder besser abseits, platziert Wiechert den Religions- und Geschichtslehrer Baron Lieven und den Verwandten des „traurigen ,Putschisten‘ Kapp“, den Physiker August Kapp, der ein „glühender Sozialist“ gewesen sei.28 Auf der höheren Ebene, dem PSK, charakterisiert Wiechert zwei namentlich nicht genannte Beamte, die beide seine Gegner waren, der eine, weil er andere Vorstellungen von der „Schule der Zukunft“ hatte als der Deutschlehrer des Hufengymnasiums, der andere, weil er einfach ein „subalterner Geist“ gewesen sei.29 Es dürfte sich um den von Raatz erwähnten PSK-Vizepräsidenten Martin Latrille und den Oberschulrat Kurt Reicke gehandelt haben.30 Latrille, im März 1921 vom Kultusminister Konrad Haenisch (SPD) ins Königsberger Amt berufen, wich im Herbst 1930 Wilhelm Hartke, einem religiösen Sozialisten und schulpolitischen Gefolgsmann des neuen sozialdemokratischen Kultusministers Adolf Grimme.31 Wie weit rechts sich die beiden PSK-Spitzenbeamten von ihren Berliner Vorgesetzten und von Grimmes Vorgänger, dem der linksliberalen DDP 27 Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. Erlenbach-Zürich, S. 190 – 193. Dazu die biographischen Ergänzungen bei Knuth (wie Anm. 15), Bl. 34 – 40. Ein von mir im Herbst 1999 geführtes Gespräch mit der Witwe Hugo Hartungs erbrachte zur Aufhellung der Hintergründe des „Falles Wiechert“ leider keine Informationen. 28 Ebd., S. 193 – 195, 200 – 201. 29 Ebd., S. 196 – 197. 30 Über beide Beamten sind die vom Preußischen Wissenschaftsministerium nach 1933 zwecks „Säuberung“ ausgegebenen Personalbögen, die in der Bildungsgeschichtlichen Bibliothek Berlin verwahrt werden, nicht sehr informativ, insbesondere fehlen Angaben zu Parteimitgliedschaften. Latrille, 1865 geboren, war bis 1918 PSK-Vizepräsident in Schleswig, von 1921 bis zum 30. 9 1930 in Königsberg. Reicke, Jg. 1883, Sohn eines Hafflotsen aus Pillau (Wiechert a. a. 0., S. 197: „stammte aus ganz kleinen Verhältnissen und hatte keinen anderen Ehrgeiz, als sie vergessen zu lassen“), 1901 Abitur in Königsberg, Studium an der Albertina (Deutsch, Englisch, Französisch), 1906 mit anglistischer Promotion abgeschlossen, 1909 – 1911 am Gymnasium in Tilsit, dann bis 1924 am Löbenicht. Realgymn. Königsberg, für die DNVP im Stadtparlament, Vorsitzender des Kulturausschusses, von 1926 – 1937 Oberschulrat; vgl. Fritz Gauses Artikel in: APB, S. 1048. 31 Zu Hartke, der 1943 wegen Nichtanzeige eines hochverräterischen Unternehmens vom Volksgerichtshof zu drei Jahren Haft verurteilt wurde und nach 1945 noch an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität wirkte, vgl. den Briefwechsel mit Adolf Grimme, in: GStA, Vl. HA, NL A. Grimme, Nr. 1666.

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zugezählten Carl Heinrich Becker, befanden, belegt der Zuspruch, den sie von der deutschnationalen „Ostpreußischen Zeitung“ für ihren Widerstand gegen eine andere Personalentscheidung Grimmes ernteten. Im Sommer 1930 begann nämlich die Suche nach einem Nachfolger für Paul Wollert, der zum 1. Oktober als Direktor des Königsberger Friedrichskollegs in den Ruhestand treten mußte. Latrilles Favorit hieß Bruno Schumacher, Direktor des Gymnasiums in Marienwerder, Landeshistoriker und, wie Reicke, Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei. Mit Herbert Mischkowski, einem linksliberalen Oberstudienrat am Königsberger Altstädtischen Gymnasium, der sich als Vorsitzender des ost- und westpreußischen Philologenvereins seit langem vom „deutschnationalen PSK“ gestört fühlte, hatte Grimme zu diesem Zeitpunkt aber einen eigenen Kandidaten zur Hand. Als der Vorschlag Anfang August 1930 im Ministerium einging, wollte Grimme darum zunächst von Latrille wissen, wie es denn mit Schumachers Verfassungstreue stünde. Zu dessen letzten Amtshandlungen gehörte es daraufhin, seinem Minister mit einer bewusst zweideutigen Wortwahl zu versichern, Schumacher stehe „auf dem Boden der geltenden [sic] Reichs- und Staatsverfassung“. Keine Frage, dass dieser Versuch, Grimmes Besetzungspläne für das Friedrichskolleg zu durchkreuzen, den Minister eher darin bestärkt hat, mit Hartke als Latrilles Nachfolger einen markanten Kurswechsel in der ostpreußischen Schulpolitik zu vollziehen.32 32 Latrille hatte am 18. August 1930 das 65. Lebensjahr vollendet, sein Ausscheiden zum 1. 10. kann also nicht als politische Quittung für die Intransigenz in Sachen Mischkowski gewertet werden. Trotzdem mußte der Abgang für Außenstehende gerade diesen Anschein erwecken. – Vgl. zu dem Vorgang BABL, R 4901/4943, Akte Friedrichs-Kollegium, unpaginiert. Darin Mischkowski an MinRat Metzner vom 7. 4 1930, PSK Ostpreußen (Latrille) an PrMWKV vom 4. 8. 1930 (Vorschlag Schumacher), Oberschulrat Otto Maaß (hs. und privat an Metzner: Schumacher sei kein Altphilologe, aber „unser bester Mann“ PSK Ostpreußen (Latrille) vom 9. 9. 1930 (zu Schumachers Verfassungstreue) und Aktenvermerk Metzner vom 13. 9. 1930. Vgl. dazu auch BABL, R 4901/4958; Beschwerden über Lehrer 1924 – 1941, unpaginiert. Darin Oberpräsident Ernst Siehr (DDP) an Grimme vom 25. 7. 1931 unter Hinweis auf die „Ostpreußische Zeitung“ vom 3. 12. 1930, die Mischkowskis Berufung als Fall einer klaren „parteipolitischen Schiebung“ darstelle, die durch das Votum von Latrille, Maaß und Reicke leider nicht habe unterbunden werden können. Nach Mischkowskis Beurlaubung am 8. 4 1933 (nach dem BBG vom 7. 4. 1933) nahm Metzner gegenüber dem neuen Kultusminister Bernhard Rust rückblickend Stellung. Demnach habe auch er Grimme von dieser Entscheidung dringend abgeraten. Trotzdem habe er gegen diese Be-

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Da wir aber über die Schulpolitik in Ostpreußen zu Zeiten der Weimarer Republik nicht einmal ansatzweise unterrichtet sind, gestatten Ablauf und Ausgang des Konflikts Grimme-Latrille nur mit größten Vorbehalten Rückschlüsse auf Wiecherts Fall. Immerhin stützt er die Vermutung, dass jene Mehrheit unter den Kollegen des Hufengymnasiums, die sich nach Wiecherts Einschätzung 1929 an der äußersten Rechten zu orientieren begann, mit Latrille und Reicke weltanschaulich harmonierte. Vielleicht deshalb zögerte die PSK-Spitze nicht, wie in früheren Fällen auch bei Wiechert mit so „unnötiger Schärfe“ vorzugehen, dass Metzner Latrille anschließend nicht nur Minister Beckers Missbilligung aussprach, sondern seinem Königsberger Untergebenen kaum verhohlen die Schuld am Freitod Frau Wiecherts anlastete. Wie die Schulakte zeigt, reagierten Latrille und der Dezernent Reicke jedenfalls nicht darum mit solcher „Schärfe“, weil sie persönlich über den Ehebruch moralisch entrüstet gewesen wären. Hier durften beide, nach peinlichem Verhör, vielmehr davon ausgehen, dass der „eigentliche ehebrecherische Akt“ gar nicht vorlag.33 Der Königsberger Öffentrufung nichts unternehmen können, zumal Grimmes neuer PSK-Vizepräsident Hartke, kaum in Königsberg eingetroffen, so „töricht“ war, seinem Minister eilfertig zu Diensten zu sein und er sich dabei selbst „sofort politisch belastete“, indem er half, „entgegen der politischen Gesamteinstellung der Provinz“ die „prominenteste Direktorenstelle“ Ostpreußens mit dem „politisch sicher nicht unbeschriebenen Kandidaten“ Mischkowski zu besetzen. – Mischkowski, geb. 1889 in Allenstein, altphilologische Promotion Königsberg 1917, wurde gem. § 6 BBG zum 1. 10. 1933 entlassen. Schumacher wurde mit demselben Erlass vom 17. 8. 1933 als „nationalpolitisch unbedingt zuverlässig“ eingestuft und zu seinem Nachfolger als Direktor des Friedrichskollegiums ernannt (BABL, R 4901/4943; PrMWKV an Oberpräsident Ostpreußen). Über Schumacher vgl. Ernst Opgenoorth: Vergangenheitsbewältigung auf ostpreußisch. Der späte Bruno Schumacher. In: Bernhart Jähnig u. Georg Michels (Hg.): Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Udo Arnold zum 60. Geburtstag, Lüneburg 2000 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Band 20), S. 783 – 814. 33 BABL, R 4901/4952, Hufengymnasium 1926 – 1936, unpag.–, PSK (Reicke) an PrMWKV v. 21. 8. 1929. Dazu dort auch der direkt an Minister gerichtete Brief des Königsberger Dermatologen Ernst Riebes, Ltr. Arzt der Abteilung für Geschlechtskrankheiten am Städtischen Krankenhaus und Lehrbeauftragter für Sexualpädagogik an der Handelshochschule, datierend vom 19. 9. 1929. Riebes, dessen jüngster Sohn in Wiecherts Tertia ging, machte deutlich, offenbar unter Bruch der ärztlichen Schweigepflicht, dass sein Patient seiner „Eigenart gemäß“ einen „Umgang ohne sexuelle Erfüllung“ pflege, solange seine Freundin noch nicht geschieden sei. Zu Riebes der Artikel von Harry Scholz, in: APB 2, S. 558 – 559.

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lichkeit, die diese Beziehung skandalisierte, war das natürlich nicht klar, und aus PSK-Sicht mußte deren Perspektive zur Grundlage der disziplinarrechtlichen Handhabung des Falles als eines „vollendeten“ Ehebruchs gemacht werden. Reicke hatte mit entsprechendem Nachdruck betont, dass man allein wegen der zum Stadtgespräch gewordenen außerehelichen Beziehung handeln mußte. In dieser Reduktion der Entscheidungsgründe auf die „öffentliche Moral“ wehrt Reicke zugleich den von Wiechert erhobenen Vorwurf ab, hier könnten doch weltanschaulich-politische Überlegungen ausschlaggebend gewesen sein, und das PSK habe nur einen Vorwand gefunden, um endlich den gegen diesen angeblich unbequemen Studienrat geführten „einmütigen Kampf des Lehrerkollegiums“ mit einem Erfolg zu krönen. Nein, so beharrte Reicke, der gegen Wiechert am Hufengymnasium geführte „Kampf“ habe bei „unseren Entschließungen in keiner Weise bestimmend mitgewirkt.“34 Trotzdem mußte Reicke einräumen, die angeblich entscheidungsirrelevanten „Verhältnisse am Hufengymnasium“ hätten sich zu einem Zeitpunkt „bedrohlich zugespitzt“, als Wiecherts Pensionierungsgesuch auf seinem Schreibtisch lag: „Studienrat Wiechert hat es, obwohl noch keine Entscheidung vorlag, für richtig gehalten, in den letzten Tagen vor den Sommerferien Abschiedsreden an die von ihm unterrichteten Klassen zu halten, die z. T. darauf abzielten, den Lehrerstand herabzusetzen.“35 Mit der Folge, dass viele Schüler, die eine Demonstration für Wiechert organisieren wollten, einzelne seiner Widersacher im Kollegium, „insbesondere den Studienrat Steiner“, in Versammlungen heftig angriffen. Niemand anderes als dieser Studienrat Steiner ist mit dem „biedermännischen, faulen Theologen“ gemeint, den Wiechert in seinen Memoiren bezichtigt, mit einem „primitive[n] und ordinäre[n] Chemiker“ zusammen die „Zelle“ im Kollegium gebildet zu haben, von der einerseits der Widerstand gegen ihn ausging und aus der andererseits „später das Geschwür“ der NS-Lehrerschaft „aufbrechen“ sollte.36 34 BABL 4901/4952; PSK (Reicke) an PrMWKV v. 22. 11. 1929, darin auch wörtliche Zitate aus Wiecherts Schreiben an C. H. Becker vom 1. 8 1930 (ebenfalls in der Akte), das vom „Kampf“ seiner Kollegen gegen ihn spricht. 35 Ebd. 36 Wiechert (wie Anm. 26), S. 193. Der „Chemiker“, der 1887 geb. Dr. Kurt Augustin, gest. 1945, der die Fächer Chemie, Physik und Botanik/Zoologie vertrat, ist, anders als Steiner (s. u.), nach 1933 offenbar nicht hervorgetreten oder in seiner Karriere politisch begünstigt worden.

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Tatsächlich war Ernst Steiner, Bäckersohn aus Gumbinnen, der sein theologisches und altphilologisches Studium 1921 mit einer Promotion an der Albertina abgeschlossen hatte, bald nach seiner Versetzung ans Hufengymnasium (1925) zum Hauptfeind Wiecherts geworden, er trat der NSDAP aber erst nach der „Machtergreifung“ bei und zählte, 1938 relativ spät zum Oberstudiendirektor in Treuburg aufrückend, nicht zu den großen pädagogischen Profiteuren der von Raatz initiierten „Säuberungen“.37 Steiner nahm, lange bevor die Ehekrise auch ideologische Frontlinien frei legte, an Wiecherts Kritik der Schulandachten Anstoß. Das Abhalten solcher kurzen religiösen Feiern, die das Schulleben dadurch „weihen“ sollten, dass sie mindestens einmal wöchentlich „alle zur Schule gehörigen gemeinsam vor Gott stellen“,38 war in Preußen, wie Steiner ausführte, in mehreren Erlassen des Ministeriums „direkt gefordert“ worden.39 In den Unterrichtsverwaltungen der übrigen deutschen Länder verfuhr man entsprechend, nur der sächsische USPDKultusminister Hermann Fleißner untersagte die Andachten.40 Wiechert konfrontierte die Leser seiner ersten Romane Der Wald (1922) und Der Totenwolf (1924) mit einem ähnlich radikal antichristlichen Weltbild wie der 1924 gestürzte Marxist Fleißner.41 In Der Knecht Gottes Andreas 37 Biographische Daten in der Personalkartei der Bildungsgechichtlichen Bibliothek Berlin und in BABL, R 4901/4956, Versetzungen 1935 – 1939, unpag.; Raatz an REM v. 9. 8. 1937 wegen Ernennung Steiners zum Oberstudiendirektor in Allenstein, was vom Ministerium abgelehnt wird. Aus Raatz’ Vorschlag geht hervor, daß Steiner am 1. 5. 1933 in die NSDAP eintrat, dem NSLehrerbund seit dem 1. 4. 1933 angehörte, dort seit Oktober 1934 als stellvertretender Ortsgruppenwalter nicht gerade eine imponierende Rolle spielte und in der SA, als Oberscharführer, keine Karriere machte. Prägender als die politische dürfte die militärische Sozialisation ausgefallen sein: Steiner, geb. 1894, trat am 5. August 1914 als Kriegsfreiwilliger ins Heer, hat vier Jahre gedient, wurde 1917 Leutnant d. R., erwarb das Verwundetenabzeichen und das EK II. Vgl. seinen Beitrag: Zum Heldengedenktag, in: Der ostpreußische Erzieher 3, 1935, S. 188. 38 Vgl. den Artikel „Schulandachten“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 2., völlig neubearb. Aufl. Tübingen 1931, Bd. V, Sp. 277 – 278. 39 BABL, R 4901/4952, Anlage zum Protokoll einer Lehrerkonferenz des Hufengymnasiums vom 10. 1. 1929. 40 Vgl. RGG (wie Anm. 37), Sp. 277. 41 Zum Frühwerk vgl. Hans-Martin Pleßke: Das „Mißlingen des Lebens“ in Ernst Wiecherts frühen Romanen. In: Hans-Martin Pleßke u. Klaus Weigelt (Hg.): Zuspruch und Tröstung. Beiträge über Ernst Wiechert und sein Werk. Frankfurt/M. 1999 (= Schriften der IEWG, Bd. 2), S. 99 – 132.

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Nyland (1926) tilgte er zwar die völkischen Komponenten, die jene früheren Werke enthalten, die Distanz zu Christentum und Kirche verringerte sich aber nicht. Und da Studienrat Wiechert den Schriftsteller im Schuldienst nicht gänzlich verleugnete, nahm die Kritik an den Andachten während seines Unterrichts Gestalt an. In einer von der Mehrzahl seiner Kollegen unterzeichneten Stellungnahme gegen ihn hieß es dazu: Herr W. fühlte sich berufen und verpflichtet, seine Schüler zu ungehemmter Kritik zu erwecken. Und er spricht selbst davon in seinem Briefe [an Minister Becker], daß ihn nichts von seinem Wege abbringen könne. Diese von ihm selbst bezeugte Unduldsamkeit, verbunden mit einer Neigung zur Überheblichkeit, ist der Schlüssel zum Verständnis des Zerwürfnisses zwischen ihm und dem Kollegium. Jeder Versuch einer sachlichen Auseinandersetzung über Erziehungsfragen war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Mehr und mehr wurde er ein Einsamer, und während er bemüht war, die Schüler für seine negativ eingestellte Weltanschauung zu gewinnen, erweiterte sich die Kluft zwischen ihm und den Kollegen, er beachete diese kaum noch. Annäherungsversuche wurden nicht erwidert, seine alten Freunde wurden durch seine Gereiztheit zurückgestoßen und durch seine Überheblichkeit gekränkt.“

Diese Mißachtung der meisten Kollegen, besonders der Religionslehrer, habe Wiechert an seine Schüler weitergegeben, und schon durch die „Form seines Kampfes gegen kirchliche Einrichtungen“ seien auch viele Eltern verletzt worden. Darum habe man im Frühjahr 1929, ohne Erwähnung der stadtbekannten ehelichen Probleme, bei Postelmann – nicht bei der Schulbehörde! – angeregt, auf Wiechert einzuwirken, freiwillig seine Versetzung zu beantragen.42 Postelmann stimmte dieser Version der Vorgeschichte von Wiecherts Pensionierungsgesuch ausdrücklich zu und präzisierte, daß der „Kampf“ des Kollegiums nie die Form einer Intervention „bei der vorgesetzten Behörde“ angenommen habe, sondern stets ein „Kampf mehr der Weltanschauungen“ gewesen sei.43 Für Steiner und seine Gefolgsleute bedeutete aber gerade das kein Ringen um „Imponderabilien“, wie der Naturwissenschaftler Postelmann abwiegelnd meinte. Die Religionslehrer des Kollegiums hatten Monate vor der Eskalation 42 BABL, R 4901/4952; von Steiner und 19 weiteren Kollegen unterzeichnete Stellungnahme, als Anlage 4 zu Postelmanns Schreiben an das PSK v. 26. 10. 1929. Auf den Frühjahrs-Vorstoß erhielt das Kollegium von Postelmann den Bescheid, dass Wiechert seit längerem aus Königsberg wegstrebe. 43 Ebd., Postelmann an PSK v. 26. 10. 1929.

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der Wiechert-Affäre die heute recht hybrid wirkende weltpolitische Dimension aufgezeigt, in der sie ihren eigenen Erziehungsauftrag zu erfüllen glaubten. Steiner beschwor nämlich die tiefe Orientierungskrise, in die Deutschlands Jugend „infolge des Einstürmens neuer Ideen (Amerika! Rußland!)“ nach 1918 gestürzt worden sei.44 In Königsberg, wo die politische Führung der Provinz, Wirtschaftskreise und Hochschullehrerschaft seit Mitte der zwanziger Jahre erfolgreich bemüht waren, Ostpreußen als ökonomisch-kulturelle Drehscheibe der deutschsowjetischen Beziehungen zu installieren, und wo in der regionalen Presse manche probolschewistische Äußerung fiel,45 ließ sich Steiners Furcht vor der weltanschaulichen Attraktivität des Bolschewismus nicht als Panikmache abtun, und auch der von Westen einströmende „Amerikanismus“ überwand, wie er nicht eigens betonten mußte, den „Korridor“ spielend. Doch ungeachtet der die „Gefahr“ steigernden ostpreußischen Sonderbedingungen im Verhältnis zur UdSSR, brachte Steiner mit Bolschewismus und Amerikanismus, mit Lenin und Rockefeller, die einem Diktum Carl Schmitts zufolge als Materialisten lediglich „um die richtige Methode der Elektrifizierung“ des Planeten stritten,46 nur die 44 Ebd., Wortmeldung Steiner, als Anlage zum Protokoll der Lehrerversammlung vom 10. 1. 1929. 45 Wie sich die ostpreußische Führungsschicht zwischen 1917 und 1933 zur Sowjetunion verhalten hat, ist noch nie untersucht worden, so dass dieser Hinweis vorerst genügen möge. Zu den merkwürdigsten Blüten des journalistischen Probolschewismus, so viel sei verraten, zählt eine Rezension des Feuilletonredakteurs der „Hartungschen Zeitung“ (nach 1933 künstlerischer Leiter der Auslandsredaktion des Reichsrundfunks!), die sich hämisch gegen den Antikommunismus des aus Lenins Reich geflohenen Königsbeger Religionsphilosophen und Kulturhistorikers Nikolai von Arseniew richtete: E. Kurt Fischer: Ein Bartels der russischen Literaturgeschichte. Nicolas von Arseniew: Die russische Literatur der Neuzeit und der Gegenwart. In: KHZ Nr. 178 v. 17. 4. 1929. Etwas reservierter, aber doch unüberhörbar von der künstlerischen Qualität stark eingenommen, hatte der Feuilletonist der KAZ, der 1919/20 am „Abstimmungskampf“ um Masuren publizistisch führend beteiligte Karl Herbert Kühn, Sergej Eizensteins Film „Panzerkreuzer Potemkin“ besprochen, der im Juni 1926 Mitgliedern des Königsberger Goethe-Bundes in einer Sondervorführung gezeigt worden war; Besprechung wieder abgedruckt in: Oswald Schwonder: Die ersten 30 Jahre des Goethebundes Königsberg. Nach den Protokollbüchern und Sammelheften zusammengestellt, Königsberg 1931, S. 101 – 102. 46 Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form. München 1925 (= Der katholische Gedanke, Bd. 13), S. 19.

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seit der Jahrhundertwende standardisierten und geschichtsphilosophisch kategorisierten Lieblingsschreckbilder deutscher Kulturkritiker ins Spiel. Dem US-amerikanischen wie sowjetischen Ideal einer religionsfreien, transzendenzlosen, allein ökonomischen Gesetzen unterworfenen Gesellschaftsordnung lastete der Königsberger Religionslehrer Steiner an, die ethische, speziell sexualethische Ratlosigkeit vieler Jugendlicher verursacht zu haben. Die Desorientierung ginge so weit, dass „infolge des Mangels an festen ethischen Normen und Bindungen“ der eine oder andere Schüler schon vor dem Selbstmord gestanden habe.47 Da Steiner glaubte, die „christliche Erziehung“ sei das letztes Bollwerk gegen diesen Auflösungsprozeß, erschien ihm Wiechert mit seinem „ertötenden Pessimismus“, mit „zersetzende[r] Analyse“ und „übersteigerte[r] Kritik“ folgerichtig als dessen pädagogisch unheilvoll wirkender Schrittmacher. Um das sozialintegrative Potential christlicher Religion vor weiterer „Untergrabung“ zu schützen, verlangten Steiner und seine Gefolgsleute, im Einklang mit der schulpolitischen Linie der DNVP, schon Anfang Januar 1929 „ein sofortiges Verbot der kritischen Besprechung der Schulandachten“.48 Da sie damit offenbar nicht durchdrangen, folgte als nächster Schritt die erwähnte Demarche bei Postelmann, damit Wiechert endlich seine Versetzung beantrage. Wäre dieser Konflikt nicht von Wiecherts Ehekrise überlagert und entschieden worden, hätten seine Gegner konsequent beim PSK vorstellig werden müssen, um seine Entfernung im Interesse der „Erziehung zu einem gesunden Optimismus“ durch „aufbauende Synthese“ zu erwirken.49 Wiechert gab diese Aktivitäten Minister Becker gegenüber als 47 BABL, R 4901/4952; Wortmeldung Steiner, als Anlage zum Protokoll der Lehrerversammlung vom 10. 1. 1929. Spektakuläre Schülerselbstmorde und tödlich endende Auseinandersetzungen zwischen Schülern beschäftigten immer wieder die Tagespresse und waren ein Dauerthema pädagogischer Publikationen. Eine besonders krasse Berliner Gewalttat kommentierte Ernst Riebes (s. Anm. 32) in der KAZ Nr. 85 v. 19. 2. 1928: Nochmals die Steglitzer Tragödie. – Zu diesem, 2004 verfilmten Fall (unter dem Titel: „Was nützt die Liebe in Gedanken“) eines Mordes und Selbstmordes unter Berliner Schülern vgl. jetzt: Thomas Lange: „Moderne Jugend“ als Medienereignis (1928 – 2004). Der Mordprozeß Krantz 1928 und seine Rezeption in Literatur und Film, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 57, 2006, S. 96 – 113. Vgl. auch Joachim Schiller, Schülerselbstmorde in Preußen – Spiegelungen des Schulsystems? Frankfurt/M. 1992. 48 BABL, R 4901/4952; Wortmeldung Steiner (wie Anm. 46). 49 Ebd. – Wiechert hatte, krankheitsbedingt, bereits 1926 einen zweimonatigen Urlaub erwirkt (ebd.; an PSK v. 29. 7. 1926) und bald darauf versucht, wegen

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Komplott, als ein zwischen PSK und Kollegenschaft abgekartetes Spiel aus und erweitert diese Deutung in seinen Erinnerungen noch politisch, wenn er glaubt, von reaktionären Kräften aus dem Amt gedrängt worden zu sein, in denen sich der aufsteigende Nationalsozialismus angekündigt habe. Dazu will aber Reickes kaum zu widerlegende Einlassung nicht passen, allein wegen der öffentlichen Resonanz der Eheaffäre reagiert zu haben. Zudem gibt es durchaus Indizien dafür, daß Latrille und Reicke den nach ihrem Urteil „außerordentlich tüchtige[n] und gewissenhafte[n] Lehrer“ Wiechert am Hufengymnasium halten wollten, weil er dort den Deutschunterricht auf „eine bemerkenswerte Höhe“ gehoben habe.50 Ebenso wenig ist zu verkennen, dass der Steiner-Fraktion nicht an einer Einschaltung der Schulbehörde gelegen war. Und selbst Direktor Postelmann bestritt ein Zusammenwirken zwischen Lehrerkollegium und PSK gegen den, wie Raatz wohl zutreffend festhielt, von ihm bewunderten Wiechert. Zu beachten ist überdies, dass die „aufbauende Synthese“ keine exklusive pädagogische Forderung von Deutschnationalen und Nationalsozialisten war, zwischen denen der integrative Nutzen des Christentums im übrigen höchst umstritten war. Den von Steiner vermissten Mangel an weltanschaulich „gesunde[m] Optimismus“ beklagten am Schriftsteller Wiechert viele Kritiker, die nicht dem „nationalen Lager“ angehörten. Die sozialdemokratische „Königsberger Volkszeitung“ etwa mochte sich mit dem Autor zwar primär deswegen nicht anzufreunden, weil sie ihn aufgrund seines Frühwerks republikfeindlicher Ressentiments verdächtigte, fand aber desgleichen in der milder beurteilten späteren Produktion eine staatsbürgerlich nicht sonderlich konstruktive „Flucht ins Religiöse, Mystische“, wobei diese beiden Begriffe den individua-

seiner literarischen Tätigkeit eine erhebliche Reduktion seiner Stundenzahl zu erreichen. Diese Variante einer „Flucht“ aus dem Schuldienst ist ihm aber verbaut worden, vgl. BABL, R 4901/4955, Beurlaubungen ostpr. Gymnasiallehrer 1911 – 1941, unpag.; Wiechert an PSK v. 16. 3. 1927, befürwortet von Postelmann und mit einem am 22. 4. 1927 weitergereichten Votum auch von PSK-Vizepräsident Latrille, jedoch vom PrMWKV abgelehnt. 50 BABL, R 4901/4955; Latrille an PrMWKV v. 22. 4. 1927. Ähnlich BABL, R 4901/4952; Reicke an PrMWKV v. 22. 11. 1929, wonach man „mit allen Mitteln“ versucht habe, diesen „tüchtigen Lehrer“ im Schuldienst zu halten.

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listischen Rückzug in die „Innerlichkeit“ tadeln.51 Der Wiechert sehr gewogene Literaturkritiker Ludwig Goldstein, politisch der linksliberalen DDP zuzurechnen, führt den kompletten Misserfolg einer dünn besuchten Dichterlesung im Königsberger Goethe-Bund ebenfalls zurück auf die wenig anziehende „Welt verhangen von Trauer und Schwermut“, für die Wiecherts Name stand.52 Nicht nur diese Stimmen stehen der vorschnellen Gleichsetzung entgegen, derzufolge der von vielen Historikern der Weimarer Republik diagnostizierte „Hunger nach Ganzheit“ nur vom rechten Teil des weltanschaulichen Spektrums verspürt und dann politisch durch ein totalitäres System gesättigt worden ist. Gegen eine solche Identifikation steht auch die Erfahrung, dass sich parteipolitische Bindung und weltanschauliche Orientierung selten decken – wie das Beispiel des Oberschulrats Kurt Reicke bestätigt. Den spärlichen Quellen nach zu urteilen, die Aufschluss über seine weltanschaulichen Präferenzen geben, ist die gegen Wiecherts Negativismus gerichtete, insoweit mit Steiners expliziten Forderungen wohl übereinstimmende, von einem Pädagogen „Optimismus“ und „Synthese“ erwartende Haltung nicht rückstandslos gleichzusetzen mit den Parteipositionen des DNVP-Mitgliedes Reicke. Es gab hier vielmehr einen zur Mitte und zur Sozialdemokratie anschlußfähigen „Überhang“, und dazu zählte, in einer Zeit zerbrechender Sicherheiten, die Ansicht, aus diesem so empfundenen „Chaos“ finde nur heraus, wer sich um eine verhaltensstabilisierende, deswegen staatserhaltende „Synthese“ bemühe. Diese zu liefern, darauf wollte Reicke auch Wiechert verpflichten. Folglich klassifizierte Latrilles Nachfolger Wilhelm Hartke (SPD) Reicke zwar als „rechts eingestellt“, 51 Zit. nach Guido Reiner (bearb.): Ernst Wiechert im Urteil seiner Zeit. Literaturkritische Pressestimmen (1922 – 1975). Ernst-Wiechert-Bibliographie, 3. Teil, Paris 1976, S. 24 – 25. 52 Ludwig Goldstein: Wiechert im Goethebund. In: KHZ Nr. 574 v. 8. 12. 1926. Tags zuvor hatte ein Rezensent, den Goldstein hierfür aus der dritten Reihe gewählt hatte, Wiecherts ,Andreas Nyland‘ wegen der, allen Sprachzauber konterkarierenden „Dunkelheiten“ und kompositorischen „Widersprüche“ gerügt: Waldemar Springfeld: Der neue Roman Ernst Wiecherts. In: KHZ Nr. 571 v. 7. 12. 1926. In seinen maschinenschriftlich in fünf Bänden überlieferten Erinnerungen: ,Heimatgebunden. Aus dem Leben eines alten Königsbergers‘, beklagt Goldstein Wiecherts „Neigung zur Wehleidigkeit“ und erklärt mit diesem Pessimismus den wohl zumindest für die zwanziger Jahre überprüfbaren Befund, dass der spätere Erfolgsautor „in weitesten Kreisen unbeliebt“ gewesen sei. GStA, XX. HA/Rep. 300, NI. Goldstein, Bd. IV, Bl. 124 – 129.

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lobte ihn aber als „durchaus verfassungstreuen“ Beamten, der „alle politischen Entschlüsse“ des PSK mittrage und umsetze. Darum bat er, gegen die Bedenken „unserer SPD“ in Ostpreußen, seinen Parteigenossen und Minister Grimme, Reicke auf dem exponierten Posten in Königsberg zu belassen.53 Dies ist umso erstaunlicher, als Hartke die allgemeinpolitische Lage in der Provinz für „aufs äußerste gespannt“ einschätzte, der die „republikanische Front“ wanken sah, und deshalb Grimme für einen „Pairsschub“ gewinnen wollte, um das PSK und wichtige Direktorenposten mit „Sozialisten“ zu besetzen.54 An Reickes Ablösung war dabei nicht gedacht, lediglich, zur Beruhigung der Genossengemüter, an die Besetzung einer anderen Oberschulratsstelle mit Herbert Mischkowski, der „der SPD nahe“ stand und den, wie erwähnt, Hartke und Grimme kurz zuvor zum Direktor des Friedrichskollegs bestellt hatten. Mit Hartkes Hilfe lässt sich das Vexierspiel politischer Wahrnehmungen und Zuschreibungen sogar noch weiter treiben, wenn man von ihm erfährt, nicht – der 1937 nach Koblenz abgeschobene – Reicke, sondern ausgerechnet der von Wiechert als dienstlicher wie menschlicher Rückhalt geschätzte Ministerialrat Metzner habe bereits 1932 „offen für Hitler“ gewirkt.55 Metzners Versuch wiederum, 1933, in seinen retrospektiven Einlassungen zur Wiechert-Affäre, den Dichter der NS-Partei als ideologischen Weggefährten anzudienen, war solange nicht aussichtslos, wie sein Verlag noch (etwa 1936) mit positiven 53 GStA, VI. HA, NI. Grimme, Nr. 1666, Bl. 4 – 6; Hartke an Grimme v. 17. 12. 1931. 54 Ebd.; um seinen ihm zu Ohren gekommenen Ruf als Königsberger „Nebenregierung“ des Kultusministerium zu rechtfertigen, schlug er Besetzungsrochaden im großen Stil vor. Begünstigt worden wären die beiden Studienrätinnen Dorothea (Hufen Lyzeum Königsberg, nach 1945 Oberstudiendirektorin in Bonn-Bad Godesberg) und Lilly Schöndörffer (Hindenburgschule, Angerburg), beide SPD, die, ungeachtet dessen, dass ihnen der von Hartke zugedachte Karrieresprung versagt blieb, nach 1933 von Raatz aus ihren Ämtern entfernt wurden, weil er den Einfluss ihres auf den „Traum vom Weltfrieden fixierten Vaters“, des Kantforschers Otto Schöndörffer, dafür verantwortlich machte, dass aus ihnen „verbohrte Pazifistinnen und entschiedene Anhängerinnen der sozialdemokratischen Anschauungen“ geworden seien (BABL, R 4901/4968, Durchführung des Berufsbeamtengesetzes an den höheren Schulen Ostpreußens, unpag.; Raatz an den politischen Dezernenten im Oberpräsidium, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg v. 8. 4. 1933 und ebd. Raatz an PrMWKV v. 18. 8. 1933). 55 GStA, VI. HA, NI. Grimme, Nr. 1666, Bl. 13 – 14; Hartke an Grimme v. 11. 10. 1959.

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Rezensionen aus dem „Völkischen Beobachter“ und Goebbels’ Hausorgan „Der Angriff“ werben konnte.56 Gewiss scheint in diesem kaum vermessenen ostpreußischen Gelände nur, dass Wiechert am Hufengymnasium nicht das Opfer einer parteipolitisch „rechts“ fixierbaren, schon auf den Nationalsozialismus verweisenden Sanktion geworden ist, sondern überparteilich wirksamer Wunschbilder, gesellschaftlicher Harmonieideale und „Ganzheits“-Utopien. Wer ihnen anhing, und das taten in Königsberg der Sozialdemokrat Hartke wie der Deutschnationale Reicke, erhoffte sich von professionellen Sinnstiftern wie Pädagogen und Schriftstellern einen Beitrag zur, wie der Religionslehrer Steiner es formulierte, Neubegründung „fester ethischer Normen und Bindungen“. Ein breites Lesepublikum suchte diese „Normen“ erst bei Wiechert, als sich dessen Projektionen von jenem „einfachen Leben“, das seine „Menschen“ in masurischen „Wäldern“ führen, zur GegenOrientierung in der „anderen Moderne“ des NS-Reiches anboten.

56 So auf dem Schutzumschlag von E. Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. München 1936.

Katholisches an Ernst Wiechert? jrgen fangmeier Die Entscheidung, dieses Frage zum Thema der Erörterung zu wählen, hat folgende Hintergründe: Guido Reiner äußerte 1995 in Mülheim die Vermutung, dass der alte Ernst Wiechert eigentlich nicht mehr evangelisch, sondern eher katholisch gewesen sei. Zum anderen ist die Rolle, die Jesu Mutter Maria bei Ernst Wiechert und für den Dichter spielt, bemerkenswert. Als ökumenisch offener evangelischer Theologe bin ich bestrebt, das Thema ganz sachlich anzugehen und niemandes religiöse Gefühle zu verletzen. Dass Ernst Wiechert seinem Herkommen nach ein evangelischer Masure ist, wird von niemandem bezweifelt. Aber Katholizismus ist ihm von Hause her auch bekannt: Das katholische Ermland liegt nicht weit entfernt und polnisch-katholisches Leben auch nicht. In den Jerominkindern ist Frau Marthe „wie eine Katholische“. Sie wirkt als solche etwas fremd; der Dichter scheint nicht bemüht, sie dem Leser als quasi „Katholische“ besonders lieb zu machen. Es gibt über Ernst Wiechert eine Arbeit des katholischen Theologen Heinrich Fries.1 Darin findet sich nicht die Spur der Behauptung, Wiechert stehe dem Katholizismus nahe. Eher findet Fries, bei aller Wertschätzung des Dichters, etwas Anti-Theologisches bei Wiechert. Auch in Guido Reiners Schrifttum über den Dichter ist mir (bis jetzt) nicht begegnet, dass er ihn als katholisierend empfindet. Da ist der Tenor: Wiechert „war immer ein unabhängiger Mensch. Er wollte weder parteipolitisch noch kirchlich gebunden sein“.2 Dabei wäre ja Hinwendung des Dichters zur katholischen Kirche nicht ohne Beispiel gewesen, wenn man an Gertrud von Le Fort, Reinhold Schneider und Werner Bergengruen denkt. Aber das war doch bei Wiechert nicht der Fall. Und dass er zur katholischen Amtskirche mehr Affinität entwickelt hätte als zur evangelischen, ist kaum vorstellbar und ohne Anhalt. In der Novelle „Das Männlein“ wird der seltsame Knabe Jodokus auch von 1 2

Heinrich Fries: Ernst Wiechert. Eine theologische Besinnung. Speyer 1949. Helmut Motekat / Guido Reiner / Klaus Weigelt: Der Dichter und die Zeit, Alfter 1987, S. 22.

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der Kirche ausgegrenzt, und es ist die katholische.3 Und in „Der reiche Mann und der arme Lazarus“ (1945) schreibt Wiechert: „Kardinäle werden auf den Totenfeldern von Dachau zuerst ein katholisches Kloster errichten und dann erst den Witwen und Waisen der Opfer zu helfen versuchen.“4 Im „Brief an einen jungen Dichter“ schreibt Wiechert, dass es „nur eine unsichtbare Kirche gibt“, nachdem er kurz zuvor dem gut evangelischen Matthias Claudius Reverenz erwiesen hat.5 In einem kurzen Lebensabriss von 1932 hatte er schreiben können: „nun gehe ich in keine Kirche mehr, weil jede Kirche zu klein ist“,6 wobei die Begründung ja ein theologischer Satz ist! Wie wenig der Glaube von dieser seiner Negation betroffen ist, zeigen zum Beispiel der Kutscher Christoph und der Jude Jakob in der Missa sine nomine. Allerdings hat Ernst Wiechert nach dem Krieg Glocken gestiftet: für eine sichtbare Kirche, und die ist katholisch gewesen. Sie war die seinem Hause nächstgelegene Kirche, deren Glockenklang die Wiecherts daheim hörten. Ein Grund dafür war auch, wie der Dichter am 11. 12. 1947 an Gerhard Kamin schreibt,7 dass der Gemeinderat von Degerndorf für amerikanische Kriegstote ein Kreuz aufgestellt hatte und dass der Degerndorfer Pfarrer, Expositus Betzinger, naturgemäß ein katholischer, ihn nach seiner Haft besucht hatte. Wiechert lebte in Oberbayern in einer katholischen Um- und Mitwelt. Und dies ohne Berührungsangst – man denke nur an die treue Stütze des Hauses, Maria Koelbl. Wie denn Wiechert gegenüber keinem religiösen Glauben Berührungsängste hatte; kann er doch in Jahre und Zeiten schreiben: „Dass ich niemals duldete, dass in meiner Gegenwart Spott mit einem Glauben getrieben wurde. Aber dass die Lehre des Buddha mir ebensoviel war wie des Mohammed oder die Mose oder Christi. Ebensoviel an Recht, an Wahrheit, an Offenbarung“.8 3 4 5 6 7 8

Ernst Wiechert: Das Männlein. In: Ernst Wiechert, Sämtliche Werke. München 1957. Bd. 7, S. 634 – 654. Ernst Wiechert: Der reiche Mann und der arme Lazarus. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 633. Ernst Wiechert: Brief an einen jungen Dichter. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 862. Ernst Wiechert: Lebensabriß. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 711 – 712, S. 712. Ernst Wiechert’s Briefe an einen Werdenden. Washington (University Press) 1966, S. 48. Diese Briefe hat mir dankenswerterweise Horst Radeck zur Verfügung gestellt. Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 390.

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Man müsse bei einem Altar nicht „nach seiner Konfession“ fragen.9 Aber Wiecherts Sympathie z. B. für Pan geschah nicht zum Schaden seiner Verbundenheit mit der Bibel; bei ihm kann ein religiöser Universalismus mit starkem Akzent auf der Bibel festgestellt werden. Guido Reiner bemerkte 1995, Ernst Wiechert habe in Stäfa wohl gar nicht mehr der evangelischen Gemeinde angehört. Eine Nachfrage bei dem dortigen langjährigen Pfarrer Middendorp ergab etwas ganz anderes. „Er hat ja sogar in der Kirche gesprochen!“, war die Antwort. Ernst Wiechert liegt auch dicht genug bei dieser Kirche bestattet. Es gibt zwei besondere Anstöße, die seine evangelische Kirche Wiechert bot: Zum einen die Verweigerung der kirchlichen Bestattung für die Mutter nach deren Suizid, die Wiechert in Jahre und Zeiten berichtet.10 (Ganz anders geschah es dann aber nach dem Tode seiner Frau.) 11 Zum anderen erscheint nur wenige Monate vor seinem Tod in Stuttgart ein Evangelischer Buchhändlerbrief, der voll Schmähungen über Ernst Wiechert ist und der diesen zu der Aussage veranlasst, er habe keine Lust mehr, sich „in die Gesellschaft solcher ,Christen‘ zu begeben“.12 Beide Male stellt sich der evangelische Theologe auf Wiecherts Seite. Im gleichen, übrigens letzten, Brief an Gerhard Kamin dankt der Dichter indes auch einem evangelischen Pfarrer mit Stücken aus der Missa sine nomine. Eine Nähe zum Katholizismus erscheint wohl am ehesten greifbar bei Ernst Wiechert angesichts der Bedeutung von Jesu Mutter Maria in seinem Werk. Dazu einige Beispiele: 1. In seinem Geleitwort zu Bildern alter und neuer Meister schreibt er: „Vor zweitausend Jahren wurde ein Kind geboren, das wir den Heiland nennen, und seine Mutter heißt die Gnadenreiche.“13 Von seinem Vater wissen wir nicht viel. Aber: „Am Kreuz kniet die Mutter, und auf keiner Pietà ist Platz neben ihr und dem, der Knechtsgestalt auf sich nahm und den sie nun in den Armen hält.“ Heimkehr der verlorenen Söhne „gibt es nur zur Mutter oder zu Gott […] Was von der 9 Ernst Wiechert: Hat das lyrische Gedicht noch Lebenswert? In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 832. 10 Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 447. 11 Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 597. 12 Ernst Wiechert an Gerhard Kamin 24.3.1950. In: Briefe an einen Werdenden, S. 51 – 52. 13 Ernst Wiechert: Von Mutter und Kind. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 768 – 769.

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Liebe im Korintherbrief gesagt ist, dass sie alles trage […], gilt nur von der Liebe Gottes und der der Mutter.“14 Mütter sieht der Dichter nahe bei Gott. Und Maria, die Mutter des Heilands, ist für ihn Exemplar der Mutterschaft überhaupt. 2. Eins von Ernst Wiecherts Gedichten trägt den Titel „Mutter Gottes“:15 Mutter Gottes Die frommen Bauernhände haben sie auf den Acker einst gestellt, ich nenne sie, wenn ich sie grüße, „Madonna in dem Ährenfeld“. Um ihre regengrauen Glieder blühn Winde, Akelei und Mohn, aus Blüten neigt sie ihre Stirne zu ihrem holzgeschnitzten Sohn. Mitunter ruht ein Trauermantel auf ihrem Scheitel wie im Spiel, die blauen Berge stehn dahinter, der Weizen wächst, die Welt steht still. Ich sitze gern am Grabenrande, wenn Mondlicht sie wie Silber säumt, um ihre Lippen schwebt ein Lächeln, das sie schon tausend Jahre träumt. Der Mond schwebt auf dem Meer der Sterne, ein fernes, hohes Silberboot, der Kauz ruft aus dem dunklen Walde, die Felder duften süß nach Brot.

Solch eine Madonna ist unserem Dichter offenbar eindrücklicher, als sie es in der Regel einem protestantischen Menschen ist. 3. In dem Schauspiel „Der verlorene Sohn“ heißt die Mutter Marie. Ein tragender Satz lautet: „Ich will mich aufmachen und zu meiner Mutter gehen!“16 Der Hinweis auf das Urbild der Maria im Evangelium 14 Ernst Wiechert: Von Mutter und Kind. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 769 – 770. 15 Ernst Wiechert: Mutter Gottes. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 521. 16 Ernst Wiechert: Der verlorene Sohn. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 84.

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fehlt nicht.17 An dieser Stelle stehe immerhin der Hinweis, dass Ernst Wiechert auch die Gestalt des Vaters zu würdigen versteht.18 4. In der „Totenmesse“ ist Maria gegenüber Gott Anwältin der Barmherzigkeit.19 Das Exemplarische kommt stark zum Ausdruck in ihren Worten: „Und jeder Sohn, den man der Mutter erschlug, ist ein Sohn, den ich am Herzen trug.“20 5. In dem Weihnachtsspiel „Der armen Kinder Weihnachten“ rufen die Kinder Maria an: „Maria im Hag, wo das Kindlein lag, erbarme dich doch unsrer drei!“21 Nachher spricht „die Schwester“: „Fühle schon der Jungfrau Maria weiße Hand, wie sie mich führt in ein besseres Land“.22 – Das Spiel endet christusbezogen mit „O du fröhliche“.23 6. In einem „Wiegenlied“ gesellt sich zu den Müttern deren Urbild Maria: „Dann gehen die Mütter wie Maria durchs Land / und suchen das Kreuz am Waldesrand / und tragen die Schwerter im Herzen.“24 7. Einen Höhepunkt bildet wohl das Gedicht „Die Ausgewiesenen“.25 Heimatvertriebene Kinder suchen Hilfe von Tür zu Tür. Jede der vier Strophen endet mit einem Hilferuf an Maria: „O hilf uns, liebe Maria“, „O hilf uns doch, liebste Maria“ Man fragt sich bei diesem Gedicht, ob hier nur der Dichter spricht oder ob er sich hier auf tatsächlich so Geschehenes bezieht: auf Kunde von ostpreußischen Flüchtlingen, auf Ostflüchtlinge in Oberbayern? Wiechert bezieht sich bei Maria im Ganzen auf Volksfrömmigkeit und Volkskunst, die ihn allerdings anspricht – nicht jedoch auf Kirchenlehre. 8. In dem Geleitwort „Das Antlitz der Mutter“ wird unterstrichen, wie die Mutter für den werdenden Menschen und das kleine Kind „wie Gott“ war – „und ein Abglanz davon liegt noch auf dem ärmsten, ja auf

17 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, vgl. S. 110. 18 Vgl. sein Gedicht „Der Vater“, in: Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 490 – 491, oder auch seine Novelle „Der Vater“, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 660 – 682. 19 Ernst Wiechert: Totenmesse. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 149 – 189, vgl. S. 152 u. 179. 20 Wiechert, Totenmesse, Bd. 10, S. 179. 21 Ernst Wiechert: Der armen Kinder Weihnachten. Ein Weihnachtsspiel. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, vgl. S. 294 u. ö. 22 Wiechert, Weihnachtsspiel, S. 317. 23 Wiechert, Weihnachtsspiel, S. 330. 24 Ernst Wiechert: Wiegenlied. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 478. 25 Ernst Wiechert: Die Ausgewiesenen. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 473.

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dem verirrtesten Muttergesicht.“26 Die Mutter segnet das Brot, das sie anschneiden wird, mit dem Kreuz. Und nun weiter: „Nur eine Gebärde von der gleichen Eindringlichkeit gibt es: wie Christus seinen Jüngern das Brot bricht.“27 9. Mindestens eine Novelle ist in diesem Zusammenhang auch zu nennen, nämlich „Die Schmerzensreiche“.28 Hier wird eine hölzerne Madonna, die Ehemann Günther seiner vor Sehnsucht nach ihm schier vergehenden Irene aus dem Krieg mitbringt, ihr zum Urbild des eigenen Leides und zu dessen Bewältigung. Diese Novelle datiert bereits von 1926 und macht deutlich, dass für den Dichter Stätten des Krieges Orte der Entdeckung der Mutter Gottes und ihrer Symbolkraft gewesen sind. Ich habe vor über 40 Jahren, als junger Theologe und Pfarrer, einen Vortrag gehalten „Maria in evangelischer Verantwortung.“ Es folgte das Korreferat eines katholischen Ordenstheologen in der gleichen evangelischen Kirche: „Maria in katholischer Verantwortung.“ Wir kamen uns näher, als man sich vielleicht denken könnte. Gott erwählt eine junge Frau als Mutter des Heilands der Welt! Und Maria sagt Ja dazu, antwortet dem Verkündigungsengel: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ (Lk 1,38) Nachher steht sie unter dem Kreuz ihres Sohnes und gehört dann zu den allerersten Gliedern der urchristlichen Gemeinde (Apg 1,14), in der sie in hohem Ansehen gestanden hat. – Evangelische Christen sehen sich nicht eingeladen, Maria anzurufen, wohl aber, recht verstanden, sie zu ehren. Evangelische Christen dürfen Maria auch lieben, und das haben die Reformatoren durchaus getan. Maria ist ihnen nicht „stella maris“ (Meerstern), aber als „stilla maris“, als Tropfen aus dem Meer der Menschheit, von Gott erwählt. Und gerade so ist ihre Berufung Ehre für alle Frauen und Mütter, für alle Menschenkinder. Ernst Wiechert hat etwas von diesem Geheimnis der „Mutter Gottes“ wahrgenommen. Anschauung dafür hat ihm allerdings die katholische Volksfrömmigkeit mehr geliefert als seine evangelische Kirche. Aber im Kern hat der Dichter dabei der neutestamentlichen Botschaft 26 Ernst Wiechert: Das Antlitz der Mutter. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 789. 27 Ernst Wiechert, Das Antlitz der Mutter. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 791. 28 Ernst Wiechert: Die Schmerzensreiche. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 109 – 126.

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entsprochen, die auch in seiner Kirche regelmäßig laut wird. Wenn Ernst Wiechert in dieser wichtigen und schönen Glaubenssache ein Brückenbauer zwischen den Konfessionen gewesen ist oder ökumenischen Rang noch gewinnt, kann das nur erfreuen. Er hat von Maria nicht als dogmatischer Lehrer gesprochen. Das ist auch nicht sein Beruf gewesen. Aber er hat eine biblische Wahrheit aufgedeckt, für die manche Dogmatiker seiner Kirche kein Auge gehabt haben. Das sehe ich, auch als evangelischer Dogmatiker, mehr würdigend als kritisch.

Clemens August Graf von Galen und Ernst Wiechert – Augenzeugen ihrer Zeit1 marcin gołaszewski Die Zeitgenossen, sowohl Historiker als auch durchschnittliche Menschen, die sich mit dem Thema des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus im Allgemeinen beschäftigt oder sich mit dem Widerstand der katholischen Kirche auseinander gesetzt haben, sind sich überraschenderweise einig: Der Widerstand, vor allem aber der konfessionell bezogene, war nicht homogen, und das Verhalten der Widerständler war häufig in sich widersprüchlich. Dieses Phänomen spiegelt sich, mindestens teilweise, auch in den Personen von Clemens August Graf von Galen und Ernst Wiechert wider. Denn ihr Lebenslauf und Werdegang zu Gegnern des nationalsozialistischen Regimes zeigt durchaus auffallende Widersprüche, die jedoch nicht darauf hinweisen, dass von Galen oder Wiechert Anhänger der NS-Ideologie gewesen wären. Vielmehr zeigen sie eine Entwicklung, die bei von Galen in die weltbekannten Predigten aus dem Jahre 1941 mündet und bei Ernst Wiechert in die Rede vom 16. April 1935. Beide waren Persönlichkeiten der Geschichte, an denen sich der Zusammenhang von klarer Wertorientierung und konsequentem und verantwortlichem Handeln aufzeigen lässt. Der Anspruch, sich einer klaren Wertorientierung – in diesem Falle der christlichen – zu verpflichten, findet sich bereits in dem Wahlspruch von Galens zur Bischofsweihe 1933: „Nec laudibus, Nec timore“: Weder Lob noch Furcht sollen ihn vom Wege abbringen. Dieselbe Haltung lässt sich auch bereits in der ersten bekannten Rede Ernst Wiecherts aus dem Jahre 1933 erkennen. Wie ernst ihnen beiden diese Verpflichtung war, zeigen ihr mutiges und konsequentes Einste1

Der Aufsatz fußt auf meiner Dissertation (2009): „‘Nec laudibus nec timore‘. Predigten und Hirtenbriefe Clemens August Graf von Galens im Nationalsozialismus“. Sie wurde unter der wissenschaftlichen Betreuung von Prof. Dr. Joanna Jabłkowska an der Universität Lodz/ Polen verfasst und von Herrn Prof. Dr. Joachim Kuropka von der Universität Vechta, Frau Prof. Dr. Aleksandra Chylewska-Tölle von der Kasimir-der-Große-Universität in Bromberg sowie Frau Prof. Dr. Elzbieta Dzikowska von der Universität Lodz begutachtet.

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hen für die Rechte der Menschen und die Gerechtigkeit in der nationalsozialistischen Zeit sowie die Bereitschaft, notfalls auch ihr Leben zu riskieren. Die Analysen der Predigten von Galens – der vom 26. März 1934, vom 9. Februar 1936 sowie der drei weltbekannten, vom 13. Juli, 20. Juli und vom 3. August 1941 – belegen, dass sich die Einstellung von Galens entwickelte. Diese Tendenz lässt sich auch bei der Analyse der beiden Reden Ernst Wiecherts entdecken, die eine Kontinuität bilden und in der Rede vom 11. November 1945 eine Art Abrechnung mit der Geschichte vornehmen. Schlieblich muss man sich bewusst machen, dass kein Mensch von Anfang an bereit ist, heldenhaft unter Lebensgefahr gegen Unrecht zu sprechen. Oft muss eine bestimmte Zeit vergehen, bis man reif genug wird, öffentlich das Wort zu ergreifen. In den beiden Personen ist dies umso sichtbarer, wenn man bedenkt, welche groben Schwierigkeiten Clemens August Graf von Galen und Ernst Wiechert hatten, eine grundlegende oppositionelle Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus einzunehmen. Entscheidend war dabei ihre Herkunft und das Milieu, dem sie entstammten. Im konservativen Geiste erzogen, dem patriotischen Bewusstsein und der staatlichen Obrigkeit verpflichtet sowie der Überzeugung folgend, dass ein Christ dieser Obrigkeit Gehorsam schulde, unternahm von Galen im ersten Stadium seiner pastoralen Tätigkeit als Bischof keine Aktionen, die man als reinen Widerstand klassifizieren könnte. Aber von Anfang an griff er sowie auch Ernst Wiechert jene Elemente der NSIdeologie an, die das Bestehen der Kirche und des christlichen Glaubens bedrohten. Entscheidend ist, dass sie die konkreten Irrlehren bzw. Verbrechen der Nationalsozialisten, mit denen sie konfrontiert wurden, gleich erkannten und sie direkt, mutig und offen angriffen. Für Bischof Clemens August und Ernst Wiechert war die klare Verpflichtung gegenüber Moral und Gesetz die unumstrittene Grundlage ihres Handelns und Denkens. Ihre Werteordnung gründete sich auf christlichen Grundsätzen und/oder den Lehren des klassischen Naturrechts. Orientiert an diesen Werten lehnten sie schrankenlose Freiheit ebenso kategorisch ab wie die unumschränkte Macht eines Staates, der von den Menschen nur Gehorsam und Unterwerfung verlangt. Beide Extreme waren für sie mit den von Gott verbürgten Rechten der Menschen nicht vereinbar. Im Hirtenbrief vom 26. März 1934 setzte sich Clemens August Graf von Galen mit zentralen Aussagen der NS-Ideologie auseinander. Er bezeichnet es dort als Neuheidentum, wenn behauptet werde, die

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Sittlichkeit gelte nur soweit als sie der Rasse nütze, wenn die Offenbarung des Alten Testaments abgelehnt werde und wenn eine Nationalkirche angestrebt werde, die auf den Lehren von Blut und Rasse beruhe. In demselben Jahre sagte er, dass in einer Situation, in der versucht werde, „Wahrheit und Gerechtigkeit und die Freiheit der Kirche zu beeinträchtigen, so werden wir mit der Kirche auf der Seite der Freiheit stehen.“2 In der Predigt vom 9. Februar 1936 in Xanten hob er die Aktualität des Martyriums mit den Worten hervor, es gebe „in deutschen Landen frische Gräber, in denen die Asche solcher ruht, die das katholische Volk für Märtyrer des Glaubens hält […]“. Von nun an lässt sich der Werdegang eines oppositionellen Geistlichen beobachten, dessen Haltung immer härter und dessen Stimme immer deutlicher erklingen wird. Und obwohl von Galen in seiner ersten weltbekannten Predigt aus dem Jahre 1941 sagte: „Wir Christen machen keine Revolution“3, so bedeutete diese Aussage im Kontext der Predigt doch eine direkte Konfrontation mit dem NS-Regime.4 Der Bischof muss sich auch bewusst gewesen sein, welches Risiko er in Kauf genommen hat. Dass seine Texte von einer konformistischen Haltung zeugen, kann man nicht behaupten. Vielmehr sind sie Dokumente seiner inneren Bereitschaft, gegen das Regime zu kämpfen und sein Leben zu riskieren.5 Das heißt jedoch nicht, dass von Galens Weg immer geradlinig war, aber es war charakteristisch für ihn, stets um einen solchen Weg zu ringen.6 In der zweiten seiner drei berühmten Predigten, in der vom 20. Juli 1941, äußert sich der Bischof von Münster zu den Übergriffen, die seit 2 3 4 5 6

Peter Löffler: Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933 – 1946. Band 1, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, S. 85. Löffler, Galen, S. 859 Es geht um die Predigt vom 13. Juli 1941. Vgl. Alexander Gross: Gehorsame Kirche – ungehorsame Christen im Nationalsozialismus. Mainz 2004, S. 71. Darauf deutet Hubert Wolf in seinem Buch hin, wenn er sagt: „dass die katholische Kirche durch seine Seligsprechung „nicht einen perfekten Menschen, einen Ritter ohne Fehl und Tadel zur Ehre der Altäre erhoben“ hat, sondern „vielmehr hat die Kirche einen Mann zwischen ,Größe und Grenze‘ kanonisiert, der als Kind seiner Zeit einen langen Weg hinter sich hatte. Erst dadurch wurde er fähig, an einem bestimmten Punkt seiner Biographie aus der Kraft des Glaubens zu handeln und so zum ,Löwen von Münster‘ zu werden.“ Vgl. Hubert Wolf: Clemens August Graf von Galen. Gehorsam und Gewissen. Freiburg im Breisgau 2006, S. 8 – 9.

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seiner ersten Predigt vom 13. Juli geschehen waren. Nach der Beschlagnahmung der Klöster und Inhaftierung der Ordensbrüder und -schwestern fordert von Galen seine Gemeindemitglieder auf, durchzuhalten. Die Wirkung lag vor allem in seiner dramatischen Sprache begründet. Aus dieser Predigt stammt eine besonders bekannte Metapher, mit der sie immer assoziiert wird: Hart werden! Fest bleiben! Wir sind in diesem Augenblick nicht Hammer, sondern Amboss. Andere, meist Fremde und Abtrünnige, hämmern auf uns, wollen mit Gewaltanwendung unser Volk, uns selbst, unsere Jugend, neu formen, aus der geraden Haltung zu Gott verbiegen. Wir sind Amboss und nicht Hammer! […] Der Amboss kann nicht und braucht nicht zurückzuschlagen, er muss nur fest, nur hart sein! Wenn er hinreichend zäh, fest, hart ist, dann hält meistens der Amboss länger als der Hammer. Wie heftig der Hammer auch zuschlägt, der Amboss steht in ruhiger Festigkeit da […] 7

Aber dies bedeutete nicht Resignation.8 Es bedeutete vielmehr, seinen Diözesanen Mut zu geben und sie in tiefem Glauben zu erhalten. Aus der Kraft des Evangeliums heraus sollten die Gläubigen ihre Waffe finden: „starkes, zähes, hartes Durchhalten“. Aber gerade diese Haltung wird heutzutage missverstanden. Für die Menschen heute, die sich von Galen nähern, ist es oft nicht einfach, seine Worte und sein Handeln, die in ihrem geschichtlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmen stehen, zu verstehen und zu würdigen. Das Selbstverständnis der katholischen Kirche und der Amtsträger war damals anders als heute, ebenso die Art zu predigen, zu argumentieren und sich politisch zu äußern. Von Galen sah sich nicht als ,politischen Bischof‘, sondern als Seelsorger, der sich nach den Maßstäben, die sich daraus ergaben, richtete. Dass dieses Handeln politische Konsequenzen hatte, nahm er bewusst in Kauf. Seine Haltung zur Demokratie entsprach nicht den Nachkriegsmaßstäben, und ob er das verbrecherische System des Nationalsozialismus ganz durchschaut haben mag, sei dahin gestellt. Denn der Weg von Clemens August Graf von Galen ist der des für das Christentum charakteristischen Ertragens und Aushaltens. Oft sagt man deswegen, dass es sich im Falle der Predigten von Galens um passiven Widerstand handelte. Aber in einer totalitären Diktatur, in der der Bischof das Wort ergriff, verstand er eben dieses 7 8

Löffler, Galen, Bd. 2, S. 859. Vgl. Heinz Hürten: Widerstehen aus katholischem Glauben. In: Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933 – 1945. Hg. v. Peter Steinbach u. Johannes Tuchel. Bonn 2004, S. 137.

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Durchhalten als aktives Handeln. Denn letztlich protestierte er gegen die Tötungen von ,unproduktiven‘, ,lebensunwerten‘ Menschen, gegen die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus, was dann zur Folge hatte, dass er sich selbst aktiv für die Rechte der Schwachen und Wehrlosen eingesetzt hat. Dies wurde von seinen Zeitgenossen hoch bewertet, indem sie ihm den Beinamen ,der Löwe von Münster‘ gaben. Die deutsche Schriftstellerin Ricarda Huch gab ihrem Dank und ihrer Verehrung in einem Brief an Clemens August Ausdruck, indem sie schrieb: Hochwürden, Wenn ich, Ihnen fremd, Ihre Aufmerksamkeit für einen Augenblick in Anspruch nehme, so tue ich es, um Ihnen Dank und Verehrung auszusprechen. Erfahren zu müssen, dass unserem Volk das Rechtsgefühl zu fehlen scheint, war wohl das bitterste, was die letzten Jahre uns gebracht haben. Die dadurch verdüsterte Stimmung erhellte sich, als Sie, hochverehrter Herr Bischof, dem triumphierenden Unrecht sich entgegen stellten und öffentlich für die Verunrechteten eintraten. Das Bewußtsein, den Forderungen des Gewissens Genüge getan zu haben, ist mehr wert als Beifall der Menschen. Nicht um Sie zu stärken, schreibe ich Ihnen, sondern weil ich annehme, es sei Ihnen erfreulich zu wissen, dass es viele gibt, die sich Ihnen vom Herzen verbunden fühlen. Ich bitte Sie, mich als die Stimme der vielen zu betrachten, die Ihnen ergeben sind.9

Unter dem Gesichtspunkt der damaligen Zeit muss die Haltung von Clemens August Graf von Galen als Widerstand gegen den Nationalsozialismus eingestuft werden. Sein Protest, den er in der für ihn gebotenen Form in Predigten und Hirtenbriefen ausformulierte, stellte das ganze Regime, seine Ideologie und seine Grundlagen in Frage. Er leistete ohne Zweifel einen Beitrag dazu, dass viele gläubige Christen der nationalsozialistischen Ideologie ihre Unterstützung und Beistand entzogen haben. Daher wird das Handeln von Galens heute als Übergang zum aktiven Handeln eingeordnet. In seiner Sprache ähnelt er viel mehr den ersten Aposteln als den Rhetorikern der Antike. Seine Predigten und Hirtenbriefe sind voller Kraft, obwohl bei ihrer Lektüre die zahlreichen Wiederholungen, der begrenzte Umfang von stilistischen Mitteln und die teilweise einfache Lexik störend wirken können. Bemerkenswert und besonders hochzuschätzen ist jedoch die innere Dynamik seiner Sprache, der Argumentation und der Sprachmittel, derer er sich bediente: Sie reichten 9

Löffler, Band 2., S. 900. Vgl. dazu: http://www.oecumene.radiovaticana.org/ ted/Articolo.asp?c=51186; Stand vom 9.10.2005.

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von der Argumentation, in der der Schwerpunkt auf der Bibelauslegung lag, bis hin zu der Argumentation, die menschennah war und sich auf die aktuellsten Ereignisse des Jahres 1941 bezog. Das machte seine Predigten so erfolgreich. Die Sprache der Bilder und der informative Charakter weiter Teile seiner Texte, der Bezug auf konkrete Fakten und Personen, die Argumentation in Kategorien des Rechts und der Plausibilität, zahlreiche rhetorische Fragen und Gebrauch oft einfacher – nicht trivialer – verständlicher Sätze und grammatikalischer Strukturen sind charakteristische Elemente seines Stils. Die Argumentationsweise von Galens war öffentlich und musste, um überhaupt gehört zu werden, religiös und mit der Wahrung der Gottes- und Menschenrechte begründet werden. Es scheint selbstverständlich, dass ein direkter Angriff gegen das Regime nicht vorstellbar war. Einerseits war diese Form des Widerstandes durch die Dogmen der katholischen Kirche selbst bestimmt, ebenso wie die Form der Kommunikationsmittel zwischen dem Prediger und seinen Gemeindemitgliedern. Andererseits sah er sich nach dem 4. Gebot zum Gehorsam gegen die staatliche Obrigkeit verpflichtet,10 was von Galen oft und deutlich in seinen Predigten zum Ausdruck brachte. Die objektiven Umstände der damaligen Zeit hat von Galen im Blick gehabt. Diese Elemente, seine Selbstverpflichtung sowie das Bewusstsein, für das Recht der Rechtlosen eintreten zu müssen, sind durchaus beispielhaft für christliches Verhalten. Die Linie des Bischofs lässt sich interpretieren als: „Religiös und kirchlich auf Freiheit bedacht, politisch jedoch konform.“11 Bewiesene Glaubenstreue sowie furchtloser Kampfesmut um bestimmte Lehren der katholischen Kirche und ,Euthanasie‘-Opfer formten letztendlich das Bild vom Löwen von Münster.12 Durch die drei weltbekannten Predigten Bischof von Galens aus dem Jahre 1941 wurde klar, dass „der Konsens der nationalsozialistischen ,Volksgemeinschaft‘ deutliche Risse“13 aufweist. Die Predigt vom 10 Vgl. Löffler, Galen, Bd. 1., S. 855 – 863. 11 Vgl. Georg Taxacher: Wenn der Löwe brüllt. Clemens August Graf von Galen – ein Widerstandskämpfer? Archivseite der WDR.de: http://www.wdr.de/themen/kultur/religion/seligsprechung_kardinal_von_ galen/historie.jhtml?rubrikenstyle=kultur; Stand vom 9.10.2005. 12 Vgl. Alfred Schickel: Weder durch Lobsprüche noch durch Furcht. Betrachtungen zu Kardinal Clemens August Graf von Galen, S. 38. In: Der Fels. Katholisches Wort in die Zeit. 32. Jahr, Nr. 2 Februar 2001. 13 Winfried Süb : Bischof von Galen und die nationalsozialistische „Euthanasie“. Kommission für Zeitgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Kirche im Krieg

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3. August 1941 „rettete und verlängerte Leben. Für einen entscheidenden Moment hat der wohl erfolgreichste Akt der Skandalisierung gegen das NS-Regime dessen Handlungsspielräume empfindlich begrenzt und das gesellschaftliche Fundament seiner Herrschaft gefährdet, dauerhaft verhindern konnte er das Morden indessen nicht.“14 Die Seligsprechung von Clemens August Graf von Galen am 9. 10. 2005 ist Ausdruck der Dankbarkeit Vieler für eine Stimme, die er in einer von Unmenschlichkeit geprägten Zeit erhoben hat.15 Aber trotz seiner heroischen Handlungen und der Bereitschaft, sein Leben für das Leben der Anderen einzusetzen, bleibt immer die Frage offen, ob nicht nur er, sondern jeder, der zu dieser Zeit lebte, nicht noch mehr hätte tun können. Mögen auch die der Analyse unterzogenen Predigten und Hirtenbriefe die These beweisen, dass sich von Galen nicht nur als Bischof, sondern vor allem als Mensch bewährt hat, so klingt der Brief des Chefarztes des Marienhospitals in Duisburg vom 14. 09. 1941 an den Bischof wie eine Klage: In aller Ehrfurcht, aber auch in aller Offenheit, erlaube ich mir, diesen Brief zu schreiben. Wir haben in meinem Freundeskreis mit derselben Begeisterung […] Ew. Exzellenz Predigten gehört und mit einem Gefühl unendlicher innerer Befreiung zur Kenntnis genommen. Auf ein solches Wort haben wir seit 8 Jahren gewartet. […] Uns berührt es schmerzlich, dass von Seiten des Hochwürdigsten Episkopates erst jetzt, da die Früchte reifen, da die Dinge körperlich fühlbar werden, die Stimme in der Öffentlichkeit hörbar wird. Gewiss, es wird uns gesagt und wir wissen es auch, dass die Hochwürdigsten Herren Bischöfe schriftlich alles Nötige getan haben. Wir haben nur das bittere Gefühl, dass diese Entschuldigung vor der Geschichte kein Gewicht haben wird. […] Unsere Haltung und unser Handeln geht – besonders dann, wenn wir Führende sind – in jedem Augenblick in die politische Wirklichkeit ein, leider aber auch ebenso unser Nichthandeln. […] Gemordet wird seit Jahren […]. Damals aber war der Augenblick gekommen, da politische und christliche Aufgaben zusammenfielen und wo unsere Bischöfe durch Besteigen der Kanzeln das Abendland in Deutschland zum mindesten aber ihre Seele hätten retten 1939 – 1945. In: Zur Debatte. Themen der katholischen Akademie in Bayern. 3/ 2005, S. 19. 14 Süß, Galen, S. 19. Zum Thema der teilweise durch Fakten belegten Zustimmung der katholischen Kirche zu ,T4-Aktion‘ vgl. Martin Höllen: Episkopat und ,T4‘. In: Götz Aly; Aktion T4. 1939 – 1945. Die ,Euthanasie‘-Zentrale in der Tiergartenstrabe 4. Berlin 1989, S. 84 – 91. 15 Die Reaktionen auf die Seligsprechung anhand einiger Überschriften aus Zeitungen: http://www.bistummuenster.de/religionspaedagogik/m41.pdf; Stand vom 21.01.2009.

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können. Dieses Wort aber unterblieb, und wir katholischen Laien mussten erkennen, dass die einzige Möglichkeit des Anrufes nicht genutzt wurde. So fürchten wir, dass wir nach der Katastrophe werden erkennen müssen, dass unsere Passivität, die wir gern so bequem zum kindlichen Gehorsam umfrisieren möchten, eine schuldhafte Handlung war. Wir sind daher durch Ew. Exzellenz Predigten gleichsam von einem Druck befreit, da wir hier zum ersten Mal seit Jahren wieder unser katholisches Gewicht fühlen und merken, dass das Wort noch seine alte Kraft hat.16

Problematisch ist vor allem die Tatsache, dass er die verfolgten Juden in seiner pastoralen Tätigkeit nicht in Form einer Predigt oder eines Hirtenbriefes in Schutz genommen hat. Manche Historiker vertreten heutzutage den Standpunkt, dass eine solche Vorgehensweise viel mehr Schaden hätte bringen können und „die Folgen nicht kalkuliert werden konnten.“17 Denn es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass das Schweigen auch als eine schuldhafte Handlung verstanden werden kann. Über die Gründe dieser Passivität lassen sich aber heutzutage nur Vermutungen anstellen. Zwar steht es anhand der Analysen des Hirtenbriefes und der Predigten von Galens fest, dass er sich für seine jüdischen Mitmenschen nicht eingesetzt hat. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich in seiner pastoralen Tätigkeit als Bischof auch bestimmte, allerdings vereinzelte Stellen in den Predigten finden lassen, die darauf deuten, dass er gegen die Verfolgung und gegen den Mord von „Blutsfremden und Angehörigen der Feindvölker“ eintrat.18 Dies tat er aber implizit und ohne die Juden wortwörtlich genannt zu haben. Warum ein solch mutiges Auftreten wie im Falle der ,Euthanasie‘-Opfer fehlte, ist möglicherweise auf das damals theologisch noch nicht geklärte Ver16 http://www.bistummuenster.de/religionspaedagogik/m33.pdf ; Stand vom 23.01.2009. Vgl. auch: Ottmar Schöffler: Clemens August Graf von Galen. Münster 1986. 17 Joachem Kuropka: Streitfall Galen. Studien und Dokumente. Sonderdruck, Aschendorff Verlag, Münster 2007, S. 144. Vgl. Heinz Mussinghoff: Clemens August Graf von Galen 1878 – 1946. In: Joachim Kuropka: Clemens August Graf von Galen. Euthanasie, Widerstand, Menschenrechte, Neubeginn. Münster 1998, S. 309. Dabei wird immer wieder der Protesthirtenbrief der katholischen Bischöfe Hollands aus dem Jahre 1942 erwähnt, der die Deportationen aller katholischen holländischen Juden zur Folge hatte. Es wird argumentiert, dass ein solcher Schritt in Deutschland ähnliche oder noch weitgehendere Folgen gehabt hätte. 18 Vgl. dazu: Löffler, Galen, Bd. 2, S. 944.

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hältnis der Kirche zu den Juden zurückzuführen. Unbestritten bleibt aber, dass der Bischof einerseits den verfolgten Juden keine Predigt als ganze gewidmet, andererseits sie aber indirekt in seinen Predigten angesprochen hat.19 Zu erwähnen wären dabei die Anordnungen von Galens aus dem Jahre 1938, für die verfolgten Juden zu beten20 sowie die Passagen des Entwurfs von Galens zu einem Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 15. März 1942, in dem er vielfach wiederholte: „Jeder Mensch hat das natürliche Recht auf persönliche Freiheit […]; jeder Mensch hat das natürliche Recht auf Leben […]“21Zu bedauern ist, dass er in diesem Entwurf nicht tiefer darauf einging, welche Gruppen er meinte, sondern unverständlicherweise nur die ,Euthanasie‘-Opfer erwähnte. Nichtdestotrotz muss die Formulierung ,jeder Mensch‘ als Inschutznahme der Juden verstanden werden, vor allem wenn man die Umstände der nationalsozialistischen Diktatur berücksichtigt, die gerade den Juden den Menschenstatus aberkannt hat. Aus diesem Grunde muss immer im Kontext der Taten von Galens darüber reflektiert werden, weshalb er die Judenverfolgung nicht nannte und welche Konsequenzen dies auf seine moralische Bewertung haben sollte. Denn daraus ergibt sich die schwierigste Frage, ob es ausreicht, nur partiell Widerstand zu leisten und nur gegen ausgewählte Bereiche und Themen zu protestieren. Abhängig von der jeweiligen Perspektive können die Antworten sehr weit auseinander gehen – von der Behauptung, der Protest von Galens sei Widerstand gewesen, bis zu Vorwürfen, dass er durch sein Schweigen bezüglich der ,Judenfrage‘ versagt oder sich sogar mitschuldig gemacht habe. Zusammenfassend ist jedoch meines Erachtens zu betonen, dass trotz aller Zweifel Clemens August Graf von Galen protestierte, und zwar gegen konkrete Irrlehren des Nationalsozialismus. Demzufolge können seine Handlungen als Widerstand interpretiert werden. Denn dies taten nicht nur diejenigen, die von Anfang an das Regime abgelehnt haben oder es stürzen bzw. Hitler umbringen wollten, sondern auch die nicht ganz wenigen, welche die von dem Regime Verfolgten versteckten oder Flugblätter druckten. Denn es gab nicht nur funda19 Vgl. Osterhirtenbrief vom 19. März 1935: „Der Menschensohn [habe] die Erbschuld aller Menschenkinder aller Rassen, aller Zonen, aller Zeiten gesühnt und als Gottessohn alle zur Gotteskindschaft und zur Erbschaft des Himmels berufen […].“Löffler, Galen, Bd. 1, S. 174. 20 Kuropka, Streitfall Galen, S. 152. 21 Löffler, Galen, Bd. 2, S. 944 – 945.

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mentalen, sondern es gab auch partiellen Widerstand gegen konkrete Übergriffe des Systems. Dort, wo die Menschen ihn mit bewusstem Risiko geleistet haben, verdient er Respekt und Bewunderung. Es ist auch festzustellen, dass der Protest des Bischofs von Münster sich analog zur Verschärfung des nationalsozialistischen Terrors verstärkte. Dann aber nicht in dem Sinne, dass er anfangs ein passiver, später ein aktiver, politischer Widerstand gewesen wäre. Auch nicht in dem Sinne, dass er anfangs eher partiell nur Sektoren des Systems angegriffen, später eher generell das System als solches bekämpft hätte. Auch nicht in dem Sinne, dass er anfangs mehr im privaten, später mehr im öffentlichen Bereich wirksam gewesen wäre. Vielmehr äußerte sich der kirchliche Widerstand und demzufolge auch der von Galens immer, zu allen Zeiten des ,Dritten Reiches‘, gleichzeitig als Nonkonformität in bestimmten Bereichen bei Konformität in anderen (beispielsweise der ,Judenfrage‘), als Verweigerung in bestimmten Bereichen bei Anpassung in anderen und als organisierter Protest bei grundsätzlicher Staatsloyalität. Wie wichtig die Worte und der Protest von Galens waren und wie sehr sie zum aktiven Widerstand beigetragen haben, hebt Hans Rothfels in seinem Aufsatz „Zum politischen Vermächtnis des deutschen Widerstandes“ hervor: „Gewiss haben auf diesen Entschluss (in den aktiven Widerstand zu gehen) ältere Menschen Einfluss geübt, das Elternhaus, die Worte mutiger Männer wie die Predigten des Bischofs von Galen […]“.22 Eine Entwicklung, die am Beispiel der Predigten und Hirtenbriefe auffallend ist, ist darin zu sehen, dass der Protest anfangs 1933/1934 noch überwiegend der Verteidigung der eigenen Institutionen galt und dann – ab 1934/35 – überwiegend der Verteidigung der kirchlichen Lehre. In der dritten Phase – ab 1936 – weitete er sich auf den politischen Bereich aus, um 1941 bei von Galen den Höhepunkt zu erreichen. Die Methode blieb jedoch die ganze Zeit über gleich. Zwar nahm mit dem Prozess, in welchem er den Staat immer deutlicher als Unrechtsregime erfuhr, die Einbindung in die Staatsloyalität ab, der Ton der Predigten wurde immer schärfer. Aber die Widersetzlichkeit konzentrierte sich auf den Protest durch das öffentliche und interne Wort 22 Hans Rothfels: Zum politischen Vermächtnis des deutschen Widerstandes. Vortrag im Jahr 1954 in der Universität Tübingen. Gedenkstätte Deutscher Widerstand. S. 3. http://www.20-juli-44.de/pdf/1954_rothfels.pdf ; Stand vom 28.11.2008.

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und auf Verweigerung. Politische Mittel wie Konspiration und Gewaltanwendung – selbstverständliche Kriterien des politischen Widerstandes – konnten aus klaren Gründen hier keinen Platz finden, weil die Kirche als solche keinen aktiven Widerstand zulässt und der Bischof nur zum Mahnen verpflichtet ist.23 Besonders treffend wird der Widerstand von Galens durch Klaus Ekkerhard definiert, wenn er schreibt: Gewiss war von Galens Widerstand, wie der deutsche Widerstand überhaupt, zu schwach und kam zu spät. Bei dem Bischof aber lag es nie an mangelndem Mut, sondern – neben institutionellen Zwängen – an der lange fehlenden vollen Einsicht in den Charakter des Regimes. […] Es ist kein Zufall, dass gerade von Galens Unbedingtheit zum Symbol des katholischen Widerstandes geworden ist. Nicht erst im Nachhinein, sondern schon 1941, als Flugblätter mit Galens Predigten vom Himmel flatterten, abgeworfen von Maschinen der Royal Air Force.24

Der katholische Theologe und Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf schreibt: Selige sind nach der Lehre der Kirche durchaus keine perfekten Menschen ohne Fehl und Tadel. Sie stehen vielmehr exemplarisch für bestimmte christliche Tugenden, für ein Handeln aus dem Glauben in einer bestimmten Situation – trotz all ihrer menschlichen Beschränktheiten. […] Die Botschaft einer Seligsprechung […] lautet: Ein ,ganz durchschnittlicher Zeitgenosse von durchaus beschränkten Geistesgaben‘ ist über sich hinausgewachsen.25

Im Falle von Ernst Wiechert war die Situation einigermaßen anders, was in erster Linie aus seiner Stellung als Schriftsteller resultierte. Seine beiden Reden sind lebendige Zeichen der Wachsamkeit eines Dichters, der es in der Zeit des Nationalsozialismus gewagt hat, öffentlich zu sprechen und die Jugend zu mahnen. Es gibt in diesen Jahren wohl kaum eine öffentliche Äußerung, die in solch deutlicher Form dazu aufruft, sich nicht verführen zu lassen, sondern aufzustehen, wenn Unrecht und Ungerechtigkeit an der Tagesordnung sind. Nur die Predigt Clemens August Graf von Galens vom 26. März 1934 ist in ihrer Aussage durchaus ähnlich. Wiechert 23 Vgl. Günther von Norden: Widersetzlichkeit von Kirchen und Christen. In: Lexikon des deutschen Widerstandes. Hg. v. Wolfgang Benz u. Walter Pehle, Frankfurt am Main 1994, S. 77 – 78. 24 Klaus Ekkerhard: Ein Löwe für den Himmel. In: „Die Zeit“ 29.09.2005, Ausgabe 40, S. 100. 25 Ekkerhard, Löwe, S. 100.

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erkannte hier richtig, dass fehlende Zivilcourage zum Untergang des Einzelnen und eines ganzen Volkes führen kann. Seine Schwäche und damit auch das Problematische an seinen beiden Reden besteht darin, dass er nicht erkannte, dass auch ein Rückzug in die Innerlichkeit des Dichterdaseins und damit die Position des Unpolitischen ebenfalls eine politische Position ist. Dieses Problem wurde schon bei den Predigten von Galens angesprochen. Es ist beinahe unmöglich, sich in einer totalitären Diktatur politisch neutral zu verhalten. Durch die Vermengung von bürgerlichen Idealen, moralischen Maximen und politischen Kategorien gerät Wiechert immer wieder in Gefahr, nicht nur die Zustände seiner Zeit zu kritisieren, sondern sie zugleich zu unterstützen. Aber so sehr er seinen eigenen weltanschaulichen Vorstellungen auch verhaftet bleibt, die Aufforderung am Ende der Rede vom 16. April 1935 ist ein eindeutiges Zeichen gegen die Erscheinungsformen der nationalsozialistischen Herrschaft. Bei aller berechtigten Kritik an den ideologischen Voraussetzungen, die in den beiden Reden bei Wiecherts Argumentation deutlich zu Tage treten, muss selbstverständlich die Frage gestellt werden, was in solch einem Rahmen und in dieser Zeit an öffentlicher Kritik überhaupt möglich war. Einerseits scheint klar zu sein, dass eine Kritik, die unverhohlen den Nationalsozialismus an den Pranger gestellt hätte, die Vernichtung des Kritikers zur Folge gehabt hätte. Andererseits bleibt jedoch die Frage offen, ob es nicht doch ein konformistisches Verhalten war. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Worte Wiecherts – auch aus heutiger Sicht – eine deutliche Distanz zum Nationalsozialismus erkennen lassen. In der zweiten Rede am 16. April 1935 verlässt er die Haltung der abwartenden Distanz, die er in der ersten Rede noch eingenommen hatte, und ruft dazu auf, Stellung gegen den Nationalsozialismus zu beziehen. Diese innere Entwicklung ist ein Symptom, das auch bei von Galen zu beobachten war. Dieser innere Wandel ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Wiechert sich von einem ,unpolitischen‘ Schriftsteller, vom ,stillen Mahner‘, zum erklärten Gegner des Regimes entwickelt hat. Und hier geht es nicht nur um eine bloße Verweigerung des Gehorsams, sondern Wiechert fordert von seinen Zuhörern, sich den Zielen der Machthaber und ihrer Institutionen zu widersetzen. Sein Gegenbild sind die Ideale eines bürgerlichen Humanismus, einer Wiederauffrischung von Recht und Gerechtigkeit und der Freiheit des Einzelnen. Diese kontrastieren mit den Idealen des

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Nationalsozialismus – der ,Volksgemeinschaft‘ und des Aufgehens eines jeden Einzelnen im ,Volksganzen‘. Ob Ernst Wiechert mit seiner zweiten Rede einen eindeutigen und endgültigen Bruch mit dem Nationalsozialismus anstrebte und dies öffentlich bekannt werden lassen wollte, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Seine Treue zum Obrigkeitsstaat, zur deutschen Heimat und zum deutschen Volk, die auch bei von Galen so deutlich zu sehen waren, stellte er in den Reden nicht in Frage. Sein Protest wächst aus der Notwendigkeit des Gewissens heraus. Der Aufruf Wiecherts, nicht zu schweigen, wenn das Gewissen das Reden befehle, wurde von vielen als Aufforderung zum Widerstand interpretiert. Die Beschwörung, ,keine Angst in der Welt‘ zu haben, wird zwar durch Wiecherts mehrdeutige Aussagen etwas relativiert. Trotzdem darf man bei der Betrachtung dieser Rede nicht vergessen, dass Wiecherts Position die eines extrem unpolitischen Menschen ist. Das wird vor allem dadurch sichtbar, dass er in seinen beiden Reden den Dualismus von Kunst und Politik vertritt. Nur sein Gewissen, seine Verantwortung für sein Volk treiben ihn dazu, die Position des Dichters jenseits der Zeit aufzugeben und in das Tagesgeschehen einzugreifen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Ernst Wiechert und Bischof Clemens August Graf von Galen hinsichtlich ihrer Argumentation und dem Aufbau ihrer Reden sind leicht zu erkennen. Für die beiden ist die Sorge um das deutsche Volk und Vaterland die ausschlaggebende Motivation ihres Handelns. Bei beiden ist auch tiefe Verwurzelung in der deutschen Tradition erkennbar. Es bestehen aber auch Unterschiede. Während Wiechert eher in Kategorien der Moral argumentierte und sich philosophisch ausdrückte, argumentiert von Galen in Kategorien des Rechts und des Gewissens, indem er sich auf Gebote bezieht. Bei beiden resultiert die Schwierigkeit der Beurteilung aus ihrer konservativen Sicht. Denn bei beiden ist die Hoffnung auf Besserung nicht endgültig aufgegeben. Erst bei von Galens drei weltbekannten Predigten aus dem Jahre 1941 ist ein eindeutiger Bruch mit dem Nationalsozialismus erkennbar. Wie sehr die Herkunft das Menschenbild aber prägen kann, ist an den beiden Personen sehr deutlich zu sehen. Unbestritten bleibt, dass sowohl Clemens August Graf von Galen als auch Ernst Wiechert Konservative waren, und zwar aus christlicher Grundhaltung. Auffällig an den Reden von Ernst Wiechert ist auch die Verwendung von biblischem Sprachmaterial. Zahlreiche Bibelbezüge zeugen von seiner inneren Verbindung zum Glauben. Ernst Wiechert wird

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durch seine Reden zum ,politischen Redner‘, obwohl er dies vermeiden wollte, so wie sich Clemens August Graf von Galen geweigert hat, politisch zu predigen. Aber gerade in dieser Zeit der Willkür und der Angst hatten die Literatur sowie die Kirche mehr als sonst die Funktion des Trostes, der Wertevermittlung und der Lebenshilfe. Und mehr als sonst hatten beide Institutionen die Aufgabe, für die künftige Generation zu sorgen, für die deutsche Jugend. Daraus ergibt sich bei den beiden die große Sorge um die Zukunft Deutschlands. Aus diesem Grund kann man Ernst Wiechert als ,weltlichen Seelsorger‘ bezeichnen. Abschließend lässt sich festhalten, dass in beiden Reden Ernst Wiecherts die Wandlung von einem Autor, der die nationalsozialistische Herrschaft zunächst tolerierte, zu einem Autor, der offen seine Vorbehalte und Zweifel an dem eingeschlagenen Weg äußerte, erkennbar ist. Dieser Weg wird ihn in die Innere Emigration führen. Der politische Standort Wiecherts sowie meines Erachtens auch der von Clemens August Graf von Galen sollten als völkisch-national und zugleich christlich eingeschätzt werden. Obwohl Wiechert am eigenen Leibe das Unmenschliche erlebt hat und im Konzentrationslager Quälereien ausgesetzt war, während dies von Galen erspart blieb, besteht das Verbindende zwischen beiden darin, dass beide das Unrecht beim Namen genannt haben. Die Reden Ernst Wiecherts sowie die Predigten Clemens August Graf von Galens sind bleibende Beispiele eines Zeugnisses, das Menschen in einer unmenschlichen Zeit ablegten. Die beiden scheuten kein persönliches Opfer und beide haben wohl immer an der Zeit gelitten, in die sie hineingeboren wurden. Persönlichkeiten wie Clemens August Graf von Galen und Michael von Faulhaber einerseits und Ernst Wiechert andererseits waren Menschen, die wohl an einigen Stellen ihres Lebens den richtigen Weg verfehlten, an anderen aber lautstark ihre Protestworte ausgesprochen haben. Ihre Kritik richtet sich auf Grund ihrer konservativen Grundhaltung nicht gegen das Regime als solches, sondern meistens – und nur mit Ausnahme bei von Galen und nur bei seinen Predigten aus dem Jahre 1941 – gegen die Auswirkungen und Fehlentwicklungen des NSStaates. Für Wiechert bedeutet seine Verhaftung und die Zeit im Konzentrationslager Buchenwald 1938 einen eindeutigen Bruch und den Rückzug aus der Öffentlichkeit in Einsamkeit und Innerlichkeit. Für von Galen ist das Jahr 1941 gerade das Jahr, in dem er nicht mehr schweigen kann und das Regime als menschenverachtend geißelt. Von Faulhaber steht symptomatisch für eine Persönlichkeit, die die Linie des

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deutschen Episkopates vertrat. Seine Predigt bringt den konservativen Geist damaliger Zeit deutlich zum Ausdruck. Die Widersprüche bei allen drei Persönlichkeiten machen es dem heutigen Menschen schwer, ein eindeutiges Urteil über den Bischof von Galen, Kardinal von Faulhaber und den Dichter Wiechert zu fällen. Ihr Engagement und ihr Mut, während des Dritten Reiches offen ihre Meinung zu sagen, müssen anerkannt werden und suchen ihresgleichen. Ihre weltanschaulichen Prämissen dürfen auch aus heutiger Sicht nicht unwidersprochen hingenommen werden. Bei einer Kritik dieser Ideologien ist allerdings zu berücksichtigen, in welchen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen sich von Galens und Wiecherts Entwicklungen vollzogen haben. Sowohl von Galen als auch Wiechert erlebten in ihrer Jugendzeit tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen (den Ersten Weltkrieg, den Untergang des Kaiserreiches, Revolutionen und den Versuch einer demokratischen Verfassung), die ihr Weltbild und ihre Überzeugungen nachhaltig beeinflussten. In gleicher Weise waren sie geprägt von den Ideen und Idealen eines bildungsbürgerlichen Umfeldes, wie durch die katholische Erziehung bei von Galen und die protestantischen Werte bei Wiechert. Um ein ausgewogenes Urteil über den Bischof und den Dichter fällen zu können, muss man diesen Hintergrund stets miteinbeziehen. Sicher ist, dass man in Clemens August Graf von Galen und Ernst Wiechert wahrhafte Vertreter der geistigen und literarischen Inneren Emigration vor sich hat, die ganz offen ihrem Gewissen Gehör verschafften und ihren Überzeugungen treu blieben – obwohl beiden Verhaftung und Konzentrationslager drohte und Wiechert ins Konzentrationslager musste. Bei von Faulhaber haben wir es mit dem Vertreter der älteren Generation und der konservativen Linie des deutschen Episkopates zu tun. Die Größe der Taten des Kardinals Clemens August Graf von Galen wurde auch von einer der bedeutendsten christlichen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts – Gertrud von Le Fort – rezipiert und daraufhin für die nachkommenden Generationen literarisch verewigt. Und mag ihr Gedicht konkret dem Bischof von Galen gewidmet sein, so verstehe ich es als Würdigung der Taten all der Personen, die in der unmenschlichen Zeit das Wort für den Menschen und die universellen Werte ergriffen haben.

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Die Stimme der Kirche spricht: Erhebe dich, du Gebeugte, und freue dich empor, du tief verweinte Stadt! Erwache auch in deiner Schattengruft, du herrlicher Dom! Aus euren Trümmern ruf ich meinen Fürsten, aus eurer Tore Schutt geleit ich ihn zur Ehre. Denn es war Erz in euren Mauern, das dem Feuer standhielt, es war Glockenerz darinnen, das keine Glut zerstörte. Wie ein heller Ruf die Schläfer weckt, so weckte sein Mund die Wahrheit, Wie ein kühner Pfeil das Ziel trifft, so traf seine Stimme mitten ins Schweigen; Sie war wie ein Quellaut in der Wüste, sie war wie ein Stromlaut im verdurstenden Lande. Aus seinen Trümmern ruf ich meinen Fürsten, aus eurer Tore Schutt geleit ich ihn zur Ehre! Siehe, ich schmücke ihn mit dem Purpur unsres Heilands: ich bekleide seine Schultern mit der heilgen Farbe der Erlösung. Ins Rot der Liebe, die für uns am Kreuz starb, hüll ich ihn ein, Daß ich ihn noch tiefer tauche in die Herzluft des Erbarmens, daß ich ihn noch näher wohnen lasse bei unsrem ewigen Trost. Erhebet euch, ihr Gebeugten, und freuet euch empor, ihr Verweinten im ganzen Lande! Erwacht aus euren Schattengrüften, ihr herrlichen Dome! Ihr schönen Kirchen alle, sprengt die Todeskammern: Arme, blutgetränkte Erde, blühe wieder auf am heiligen Blut des Herrn! Denn die Liebe, die für uns am Kreuze starb, ist nicht gestorben: Alle, die ich mit ihr tröste, werden auferstehn! 26

26 Joël Pottier: Gertrud von Le Fort. Eine biographische Skizze. In: Deutsche christliche Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Lothar Bossle u. Joël Pottier, Würzburg 1990, S. 44 – 45. Korrespondenz mit Frau Aleksandra Chylewska-Tölle; persönliche Mitteilung vom 05.01.2009.

Ernst Wiechert und seine Illustratoren Dokumentation

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Die Fischer Lassen Sie mich zunächst mit einem Bildband beginnen, bei dem es sich nicht um ein illustriertes Buch im herkömmlichen Sinn handelt. Üblicherweise wird ein vorliegender Text von einem Künstler nachträglich mit Illustrationen versehen. Bei dem Buch Die Fischer 1 des Schweizer Künstlers Willy Fries war es genau umgekehrt. Zunächst lag eine Folge von 20 Tuschzeichnungen vor, die anschließend mit einer Einleitung von Ernst Wiechert versehen wurde. Willy Fries wurde am 26. 5. 1907 in Wattwil geboren. Er besuchte das Gymnasium in St. Gallen und studierte Kunst- und Literaturgeschichte an den Universitäten in Zürich und Berlin und anschließend Malerei an den Akademien in Paris und Berlin. Studienaufenthalte führten ihn nach Belgien, Holland und Italien. Willy Fries ließ sich schließlich in seiner Heimatstadt Wattwil nieder. Er starb am 18.7.1980. Die Arbeit an den Fischern begann 1931, nachdem Willy Fries die Kurische Nehrung kennengelernt hatte. Der Band erschien 1934 im Rascher Verlag Zürich. Das Werk wurde in Lichtdruck in zwei Tonplatten ausgeführt und die Druckvorbereitungen von Willy Fries persönlich überwacht. Es wurde hergestellt eine Vorzugsausgabe A Nr. 1 – 60, nummeriert, signiert, versehen mit einer Handzeichnung, eine Vorzugsausgabe B Nr. 61 – 150, nummeriert, signiert, mit einer Handzeichnung ausgestattet und eine einfache Ausgabe. Ernst Wiechert schreibt in seiner Einleitung zu den Fischern: Und deshalb ist es eine tiefe Wahrheit, dass vor den Booten in dieser Bilderreihe dasjenige steht, was ,am Anfang‘ ist: der Mann, die Frau und Gott. Aus ihnen zeugt sich die Reihe, wie sich das Leben aus Ihnen zeugt, und auch von diesem Leben ist nichts anderes zu sagen, als was der Psalm 1

Willi Fries: Die Fischer. Eine Geschichte in Bildern. 20 Tuschzeichnungen, eingeleitet von Ernst Wiechert. Zürich 1934.

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Abb. 1. Willy Fries, Tuschpinselzeichnung Die Mnner

von ihm gesagt hat: dass es Mühe und Arbeit gewesen ist. Kein Zufall, dass vom 4. bis zum. 11. Bild nichts als dieses Wort des Psalmes erklingt, und dass vom 13. bis zum 19. Bild nichts als das andere Wort des Psalmes erklingt: dass der Mensch, vom Weibe geboren, nur sei wie ein Gras auf dem Feld, das da frühe blühe und bald welk werde, und des Abends abgehauen werde und verdorre. Nur ein einziges Blatt unter zwanzig ist dem gewidmet, was für die meisten unserer Zeit den Sinn von Tagen und Nächten enthält: dem Vergnügen. Am Ende aber steht das Meer, wie es am Anfang als ein Widerschein in den Gesichtern der Männer und Frauen, als

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ein Widerhall in den Bögen der Kirche gestanden hat. Welche große Einfachheit in dem Aufbau einer Welt! Welche tief sich mitteilende Sittlichkeit in dem Ablauf ihres Geschehens! Welcher schweigende Adel in der Haltung dieses Lebens und Sterbens, abseits der Welt, fern ihrem Zauber und sie doch überragend in der Treue der Geschlechter, die nichts als dasselbe Los wiederholen von Geschlecht zu Geschlecht. Hier können die Würfel nur einfach fallen. Hier ist der Einsatz immer gross und immer gleichbleibend, und spärlich der Gewinn. Hier ist keine Veränderung und keine Lockerung der Natur oder der göttlichen Hand. Hier ist die Treue von Leben und Tod. Hier ist die Gebärde sparsam, das Wort gedämpft, die Sehnsucht verhüllt, die Ergebung stumm. Hier ist der Kreislauf der Schöpfung im engsten Raum, hier ist das Schicksal, wie es grösser auch nicht aus der Geschichte von Völkern spricht, nur gereinigter, gedrängter, gebändigt und beherrscht. Das Schicksal, dem sich zu beugen den Menschen weder schändet noch verwirrt, weil es die Beugung unter ein Gesetz ist, das aufgerichtet ist über aller Kreatur.

Kurt Ihlenfeld schreibt über diesen Bildband im Dezemberheft 1934 der evangelischen Zeitschrift Eckart (Eckart-Verlag, Berlin): Man wird die Blätter, deren jedes gleichsam eine bestimmte Station des Lebenskampfes ostpreußischer Fischer darstellt, wie der Dichter am sichersten vom Landschaftlichen her begreifen, genauer gesagt, vom Einklang des menschlichen Daseins mit dem Walten einer großen Natur. Willy Fries arbeitet dabei mit sehr sparsamen Mitteln, indem er die Bewegtheit dieses Lebens, über der doch eine sich immer gleich bleibende Ruhe lagert, ganz umsetzt in den eigentümlich erregenden Gegensatz von schwarz und weiss in Flächen Linien. Die Menschen tauchen aus diesem schwärzlichen Gewoge hervor, beinahe scheu, mit fragenden grossen Augen und wie bereit, im nächsten Augenblick schon wieder zurückzusinken in den Wirbel des Elementes. Und wo sie in Gemeinschaft erscheinen, dort geschieht es in einem gleich bleibenden Rhythmus, der auf einigen Blättern durch das starre Nebeneinander der Boote, der ausfahrenden Segel, der im Trauerzug einherschreitenden Witwen verstärkt wird. Die Folge dieser Blätter will nacheinander im Zusammenhang betrachtet sein und wer einmal von den Gesichtern der Fischer oder von ihren dahinhuschenden Gestalten gefangen genommen wurde, der verspürt dann mehr und mehr jene Verwandlung und Einbeziehung in die Atmosphäre der dargestellten Welt wie sie von jedem echt er1ebten Kunstwerk. ausgeht.2

Zu dem Band Die Fischer erschienen mehrere Rezensionen, die sich ebenfalls auf die Deutung der Zeichnungen konzentrierten. Hans Hell schreibt in der Schweizer Zeitschrift Die Zeit (Verlag Feuz, Bern) vom Mai 1934 Folgendes: 2

Ernst Wiechert, in: Fries, Die Fischer, nicht paginiert.

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In anhaltender Arbeit haben sich die Bildgedanken zu der jetzigen sparsamen und eindeutigen Darstellung verdichtet. Die Ausdruckskraft der einzelnen Zeichnungen darf nicht dazu verführen, sie einzeln ,nur künstlerisch‘ zu würdigen. Mit dem flüssigen Kunsturteil ist nicht viel gewonnen; mit der Übung darin wächst die Flüchtigkeit des ,Erfassens‘. Ich bitte um Zeit für diese Arbeiten, Zeit bis das Schwarz-Weiß der Zeichnung zu leben beginnt. Dann greifen die Gedanken über das Einzelblatt hinaus, vorwärts und rückwärts. Aber erst, wenn man sie alle in der richtigen Reihenfolge gesehen hat, so dass der Sinn des einen den Sinn des anderen vertieft, begreift man völlig die Dichtung des Ganzen. Der Künstler wollte nicht Ausschnitte aus dem Leben der einsamen und armen Fischer geben, vielmehr das Dasein der Fischer in der Verbundenheit mit dem Ewigen. In den kleinen Blättern drängt sich unausweichliches Schicksal, Ergriffenheit und Begnadung zusammen. Der Grundton ist schweres Schwarz; die dunkle Nacht, die das Licht umklammert hält, dicht, kraftvoll bestimmt. Die Zeichnung ist klar durchdacht und mit Empfindung geladen, immer ernst, immer durchgearbeitet; das Netz der Gedanken wird immer enger gesponnen, so dass die Bilder das Geschehen ohne erläuternden Text deutlich machen. Die Boote der Fischer sind dem Wasser. brüderlich verbunden. Der Wind schüttelt sie durch, der Sturm bedrängt sie. Hier ist nichts von dem schwimmenden Festland des Dampfschiffs. Zu den Booten gehören die einsamen Gestalten, die aus der Kirche kommen. Da gewinnen sie die Kraft zum Schweren. Im Gottesdienst der Gemeinde ist jedes einzelne Herz bewegt. Das Auge gewinnt den Glanz des unvergänglichen Lebens. Sturm, Untergehen, Bergung, Begräbnis und Trauer verlieren darin die Trostlosigkeit eines Lebens voller Not. Das Geschehen ist mit der Landschaft verbunden. Die karge Küste als Schauplatz des Lebens greift in der Schlichtheit der Angaben ans Herz. Ein Haus, ein Baum, Sand, ein Weg. Schimmernde Dunkelheit des Wassers, aufkommender Sturm bereitet die Tragödie vor, abklingende Wogenkämme lassen sie in das bewahrende Gedächtnis untertauchen.3

Hermann Hesse sagt im Schweizer Journal, Zürich, vom Februar 1935, das Folgende: Zu diesen 20 Zeichnungen hat Ernst Wiechert einen schönen Text geschrieben, und der Verlag hat die Blätter mit großer Sorgfalt reproduzieren lassen (Klein-Quart-Format). Obwohl nicht alle Blätter dieselbe Technik zeigen (einige sind mit der Feder gezeichnet, die anderen mit dem Pinsel), bilden sie eine vollkommene Einheit, sie sind eine Maler-Dichtung von großem und einfachem Stil, eine Anrufung elementarer Gewalten, eine Verherrlichung des rauen, stummen, gefahrvollen, heroischen und armen Fischerlebens. Seit ältesten Zeiten gehört ja der Fischer wie der Krieger, der Bauer, der Jäger, der Weise, der König zu den paar Urtypen des Menschseins, zu den paar charakteristischen und symbolischen Erschei3

Hans Hell: Willy Fries. In: Die Zeit. Bern, 2. Jg. 1934, Nr. 3, S. 48.

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nungsformen menschlicher Arbeit. Der Größe und Armut dieses Lebens, seiner Kameradschaft und seiner Gebundenheit wir in diesem Zyklus ein schlichtes und großartiges Lied gesungen, mit Ernst und Frömmigkeit hat der Künstler Ehrfurcht für dies urtümliche Stück Menschenleben dargebracht.4

In seinem Buch Bilder im Sturm erinnert sich Willy Fries (Amriswiler Bücherei 1986) wie folgt: Als ich die Tuschzeichnungen im Potsdamer Kunstverein ausstellte, verkündete die Schlagzeile des ,Völkischen Beobachters‘ gross: ,Wagnis ohne Verantwortung‘. In den Augen der Nazis waren meine Fischer Untermenschen.5

Der Kinderkreuzzug Im Jahre 1935 erschien Wiecherts Erzählung Der Kinderkreuzzug aus der Sammlung Der silberne Wagen zum ersten Mal als selbständige Publikation in der Reihe Grotes Aussaat-Bcher. 6 1947 wurde zum 60. Geburtstag der Band Bekenntnis zu Ernst Wiechert im Kurt Desch Verlag, München, veröffentlicht. In diesem Band befindet sich eine Federzeichnung von Angelica de Philippe-Serrano: „Aus dem Kinderkreuzzug“.7 Diese Bezeichnung legte die Vermutung nahe, dass es noch weitere Zeichnungen zum Kinderkreuzzug gibt. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Zeichnerin ausfindig zu machen, gelang es mir schließlich – mit Hilfe des Schwedischen Künstlerverbandes – Frau Serrano-Punell in Göteborg aufzufinden. Ich erhielt sehr freundliche Post sowie 12 weitere Zeichnungen und einen Einbandentwurf zum Kinderkreuzzug sowie 11 Briefe Ernst Wiecherts an Angelica de Philippe-Serrano, die vom 4.6.1946 – 28.9.1947 geschrieben wurden. Ernst Wiechert schreibt am 4. 6. 1946 u.a. Folgendes: Sie wissen nicht, wie Ihr Brief mein Herz bewegt hat, und ich danke Ihnen sehr. Sie wissen auch nicht, dass, was ich im letzten Jahr geschrieben habe; mir wenig Beifall eingetragen hat. Und deshalb rührt es mich besonders, dass Sie mir durch so viele bittere und gefährliche Jahre die Treue gehalten haben. Sie, ein kleines Mädchen in jener Zeit, haben mehr getan als 4 5 6 7

Hermann Hesse: Willy Fries. Eine Geschichte in Bildern. Nachdruck in: Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Band 20, Frankfurt a. M. 2005, S. 13 – 14. Willy Fries: Bilder im Sturm. Amriswil 1936, S. 67. Ernst Wiechert: Der Kinderkreuzzug. Berlin 1935. Bekenntnis zu Ernst Wiechert. Ein Gedenkbuch zum 60. Geburtstag des Dichters. München 1947.

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Abb. 2. Angelica de Philippe-Serrano, Entwurf zum Bucheinband Der Kinderkreuzzug, Zeichnung Kohle und Kreide

Tausende von denen, die in der Sicherheit und der Macht waren, und die es doch nicht getan haben.

Im Brief vom 15. 10. 1946 heißt es: Aber ganz dicht an meinem Herzen steht der Kinderkreuzzug. Nicht weil es eine Erzählung von mir ist, sondern weil er als Zeichnung und Komposition von aussergewöhnlicher Schönheit ist. Er liegt auf meinem Kamintisch, und am Abend, wenn ich nun ein englisches Buch oder wieder einmal Fontane lese, strecke ich ab und zu meine Hand aus und sehe die Kinder an. Ich denke, dass Sie eine große Künstlerin sind oder werden, und da ich weiss, dass Sie außerdem ein gütiger und warmherziger Mensch sind, so ist mir, als könnten sie vielleicht einer der ganz Wenigen sein, in denen Menschen- und Künstlertum sich die seltene Waage halten.8

Leider sind die Illustrationen zum Kinderkreuzzug bisher unveröffentlicht geblieben. Hier noch einige Bemerkungen zur Künstlerin: Angelica de Philippe-Serrano wurde 1926 in Italien geboren. 1947 heiratete sie den Arzt Georg Punell. Von 1942 – 1944 studierte sie an der 8

Ernst Wiechert an Angelica de Philippe-Serrano, 4. 6. 1946 und 15.10.1946. Briefe im Besitz von Werner Kotte.

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Abb. 3. Angelica de Philippe-Serrano, Federzeichnung zum Kinderkreuzzug 1946

Kunstakademie Berlin, 1946 in Stockholm und 1947 an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Angelica Serrano-Punell ist eine namhafte schwedische Kinderbuch-Illustratorin und weit über ihre Landesgrenzen hinaus bekannt und geschätzt. Sie illustrierte zahlreiche Kinder- und

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Jugendbücher, häufig in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz und mit Uniceff. Ihr neuestes Buch Gesprche mit Adam erschien 2000 im Nimrod-Literaturverlag in Zürich.

Das einfache Leben und Missa sine nomine Zwei der bekanntesten Romane Ernst Wiecherts Das einfache Leben 9 sowie die Missa sine nomine 10 sind in Deutschland bisher nicht illustriert worden. Dafür hat der holländische Buchkünstler Anton Pieck beide Werke mit sehr schönen Bildern ausgestattet. Pieck wurde 1895 in Den Helder geboren und war in Holland ansässig. Er besuchte die Haager Akademie. Er war später vor allem als Buchillustrator tätig, sein Werk umfasst über 400 illustrierte Bücher, die überwiegend in Holland erschienen sind. In Deutschland ist Anton Pieck nicht sehr bekannt geworden, als namhaftes Buch erschien Selma Lagerlöfs Gçsta Berling mit seinen Illustrationen. Anton Pieck starb 1983 im Alter von 88 Jahren. Im Archiv für das Buchgewerbe (1936) berichtet Walter Hofmann über einen Besuch bei dem holländischen Buchkünstler: Durch bunte Tulpen- und Hyazinthenfelder, die das Niederland zwischen Den Haag und Haarlem überziehen, führt der Weg in eine stille Strasse am Rand der alten geschichtlichen Stadt Haarlem. Ein Vorgärtchen trennt ein kleines Einfamilienhaus von der Strasse, durch dessen Tür ein schlanker Mensch mit ausgeprägtem Charakterkopf tritt: Anton Pieck, der führende holländische Buchkünstler. … Pieck lädt in seiner bescheidenen Art ein, in das Haus zu treten. … Sein Atelier gleicht eher einer alten Studierstube. Es ist so klein, dass sich kaum drei Menschen darin bewegen können. Ein grosses, helles Fenster, wie es in holländischen Häusern sich findet, füllt den Raum mit Licht. Kupferdruckpresse, Farbstein, Stichel und andere Dinge deuten darauf, dass Pieck vor allen Dingen Graphiker ist. Angefangene Illustrationen und Skizzen für farbige Vollbilder liegen in grosser Zahl auf dem kleinen Zeichentisch, eine Kupferplatte wartet auf ihre Weiterbearbeitung … . Die moderne Kunst ist ihm immer fremd geblieben, und sie hat auf seine künstlerische Entwicklung keinerlei Einfluss ausgeübt. Ihm geht es bei seiner Arbeit immer um eine klare Erkenntnis der Natur und deren getreue Darstellung im Bild, in der Graphik und der Illustration. Die eigenartige Farbstimmung auf seinen Bildern und Illustrationen ist seine künstlerische Handschrift. Das Sehnen und Schaffen Anton Piecks galt von Anfang an dem flämischen Volksleben, wie es Felix Timmermans schildert. Bauernkirmsen und andere Volksbelustigungen sind bevorzugte Motive 9 Ernst Wiechert: Das einfache Leben. Roman. München 1939. 10 Ernst Wiechert: Missa sine nomine. Roman. München 1950.

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Abb. 4. Anton Pieck, Titelillustration Het simple leven, Südholländische Verlagsanstalt Den Haag 1940

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seiner Kompositionen und Mappen. Piecks künstlerische Entwicklung war die der meisten Maler und Graphiker, sie begann auf einer Akademie und führte über einige Studienreisen zum selbständigen Schaffen.11

Das einfache Leben erschien bereits 1940 in einer Prachtausgabe mit 7 Illustrationen von Anton Pieck in der Südholländischen Verlagsanstalt. Ernst Wiechert schreibt am 28. 1. 1941 in einem Brief an Korfiz Holm im Langen-Müller Verlag, München: „Vielen Dank für die Übersendung der holländischen Ausgabe. Sie ist sehr großartig und die Illustrationen machen mir Freude.“12 Übersetzer war der holländische Kommunist Nico Rost. Er veröffentlichte 1948 ein Tagebuch über seinen KZ Aufenthalt mit dem Titel Goethe in Dachau. Nico Rost wurde 1896 im niederländischen Groningen geboren. Er war als Übersetzer, Kritiker und Journalist tätig. 1926 arbeitete er als Korrespondent in Berlin. Befreundet mit Alfred Döblin, übersetzte er dessen Roman Berlin Alexanderplatz ins Niederländische. Nach der Verhaftung und anschließenden Ausweisung aus Deutschland 1933 ging er nach Brüssel, wurde dort aber erneut festgenommen und ins KZ Dachau verschleppt. Nach dem Krieg war er auch kulturpolitisch tätig und wurde 1951 aus der DDR verwiesen. Er starb 1967 in Amsterdam. Der ersten holländischen Ausgabe folgten in späteren Jahren weitere Auflagen. Leider lassen sich die genauen Erscheinungsjahre nur schwer ermitteln, da die Bücher alle ohne Jahresangabe gedruckt wurden. 1954 erschien in der Südholländischen Verlagsanstalt der Roman „Missa sine nomine“ mit 9 Illustrationen von Anton Pieck. Übersetzer war Wim Crom. Die Bilder entsprechen ganz der romantischen Auffassung des Künstlers.

Mrchen Lassen Sie mich zum Schluss auf die Märchen von Ernst Wiechert eingehen.13 Sie sind zu Lebzeiten des Dichters in zwei Bänden mit Illustrationen von Hans Meid erschienen und zwar der 1. Band 1946 bei dem Verlag Kurt Desch in München sowie 1947 beim Rascher Verlag in Zürich. Der 2. Band mit den Illustrationen erschien 1947 in der 11 Walter Hofmann: Besuch bei dem holländischen Buchkünstler Anton Pieck. In: Archiv für das Buchgewerbe, Leipzig 1936, S. 263 – 264. 12 Ernst Wiechert an Korfiz Holm, 28.1.1941. Brief im Besitz von Werner Kotte. 13 Ernst Wiechert: Märchen. Bd. 1, München 1946. Bd. 2, München 1948.

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Abb. 5. Anton Pieck, Titelillustration Missa sine nomine, Südholländische Verlagsanstalt Den Haag 1954

Schweiz und 1948 bei Kurt Desch. Die Märchen sind dem Gedächtnis des Freiherrn Leo von König gewidmet, der 1944 verstarb und ein bedeutender Maler – hauptsächlich Porträtist – gewesen ist. Er porträtierte 1939 auch Ernst Wiechert. Der Dichter ließ die Märchen mit einem Vorwort beginnen: Dieses Buch ist im letzten Kriegswinter begonnen worden, als Hass und Feuer die Erde und die Herzen verbrannten. Es ist für alle armen Kinder

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aller armen Völker geschrieben worden und für das eigene Herz, dass es seinen Glauben an Wahrheit und Gerechtigkeit nicht verlor. Denn die Welt, wie sie im Märchen aufgerichtet ist, ist nicht die Welt der Wunder und der Zauberer, sondern die der grossen und letzten Gerechtigkeit, von der die Kinder und Völker aller Zeitalter geträumt haben. Und in den Monaten, in denen das Schwert des Krieges bis in das letzte Herz stiess, sammelte ich alle Freudigkeit und alle Traurigkeit meines Lebens, und vor allem alle Liebe, um meine Scheuern mit dem künftigen Brot für die Kinder zu füllen. Dass ihre Augen wieder einmal leuchten sollen, ist nun die Sache der Sieger, wo es meine Sache war, dass ihre Herzen wieder einmal leuchten sollen.14

Hans Meid wurde am 3. 6. 1883 in Pforzheim geboren und war von 1900 bis 1907 Schüler an der Akademie der bildenden Künste in Karlsruhe. Nach einem Zwischenspiel als Malereivorsteher der Meissner Porzellanmanufaktur ließ sich Meid als freischaffender Künstler in Berlin nieder. 1911 wurde er Mitglied der Berliner Sezession. 1919 wurde er als Professor an die Hochschule für bildende Künste in Berlin berufen. Er war der gesuchteste Illustrator und Buchgestalter seiner Zeit in Deutschland. 1934 berief man ihn als Leiter einer Graphikklasse an die Preußische Akademie der Künste, der er als Mitglied schon seit 1927 angehörte. Franz Hermann Franken schätzt ihn mit den Worten ein: „Seine Kunst bot zwar politisch keine Angriffspunkte, erschien aber bald auch nicht mehr zeitgemäß, weswegen ihn die Nationalsozialisten als uninteressant übergingen. Unter den tausenden seiner Graphikblätter findet sich kein einziges, auf dem auch nur die Andeutung eines nationalsozialistischen Symbols zu sehen wäre.“15 Meid starb am 6. 1. 1957 im Schloss Ludwigsburg bei Stuttgart. 1946 übernahm Hans Meid den Auftrag, Ernst Wiecherts Märchen zu illustrieren. Er verfertigte 272 Zeichnungen zu den zwei Märchenbänden. Die gekürzte Neuauflage in einem Band von 1971 enthält nur noch 42 davon. Der miserable Druck des Kurt Desch Verlages auf schlechtem Nachkriegspapier hat viele Feinheiten der zierlichen Zeichnungen zerstört, was Meid veranlasste, ihn als „saumäßig“ zu bezeichnen. Besser dagegen wurde die Schweizer Ausgabe hergestellt.

14 Wiechert, Märchen, Bd. 1. 15 Franz Hermann Franke: Hans Meid und sein Illustrationswerk. Reihe: Badische Landesbibliothek, Vorträge. Karlsruhe 1991, S. 5 – 8.

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Abb. 6. Hans Meid, Bucheinband zum 2. Band der Mrchen, Verlag Kurt Desch München 1948

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Sieben Briefe Ernst Wiecherts an Prof. Hans Meid, die vom 22. 5. 1946 bis zum 16. 1. 1948 geschrieben wurden, sind als bezeichnende Zeitdokumente erhalten und sollen zum Abschluss abgedruckt werden: Am 22. 5. 1946 schreibt Ernst Wiechert: Lieber, sehr verehrter Herr Prof Meid, ich bin so von Schmerzen gequält (wahrscheinlich Hexenschuss – die Strafe für Märchenschreiber), dass ich nicht mit der Maschine schreiben kann. Aber ich wollte Ihnen doch Dank sagen für die Proben, die ich gesehen habe: Wassermann und Sieben Söhne. Aber Dank ist ein armes Wort dafür. Ich bin sehr glücklich. Hinter einem „Kindermärchen“ steht für den Wissenden ja mehr als der Zauberer und die Hexe. Dahinter steht die ganze Welt, Schicksal, Himmel und Hölle, Wahrheit und Gerechtigkeit. Und das ist so wunderbar an Ihren Bildern: die Grösse. Ich denke nur an das Abendmahl und die Verfluchung der Stadt. … Die Wenigsten werden wissen, dass unter diesen Märchen, geschrieben 1944/45, das Wort stehen kann „in tormentis scripsit“, aber Sie haben es gewusst und gestaltet, und dafür sage ich Ihnen von Herzen Dank. Mit allen guten Wünschen Ihr Ernst Wiechert.

Brief vom 6. 9. 1946: Lieber, sehr verehrter Herr Prof Meid, ich danke Ihnen sehr herzlich. Für den Brief, der mich sehr beglückt hat, für die Reproduktionen, die ich immer wieder ansehen kann, nicht zuletzt für Ihr Selbstbildnis, das den Kreis für mich erst schließt. Ein strenger Diener an der Kunst, ein Magier, der das Widerstrebende beschwört. Ich bin sehr glücklich, dass nicht etwa Alfred Kubin für Sie gewählt worden ist. Bei ihm ist das Mystische Herr der Feder geworden und hat sie teilweise aufgelöst. Bei Ihnen ist die Feder Herr des Mystischen geblieben. Zu allen Märchen gehört ein starkes und reines Herz, und ich sehe mit blindem Vertrauen den kommenden Bildern entgegen. Ja, jeder Verleger ist stolz auf seine Bücherform und meistens unbelehrbar. Aber die Bilder werden jede Form adeln, und so ist mir nicht bange darum. … Es tut mir nicht einmal Leid, dass Sie so viel an den Märchen arbeiten müssen. So bin ich nun. Aber ich habe monatelang jeden Morgen um 1/2 4 auf der Altane gesessen und am 2. Band der Jeromin-Kinder geschrieben, und wenn es zu Ende ist, kommt die grosse Leere und Traurigkeit, mit der wir unsre Gestalten davonziehen sehen. Ist es nicht so? Mit allen herzlichen Wünschen Ihr Ernst Wiechert

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Brief vom 7. 11. 1946: Lieber, sehr verehrter Herr Prof. Meid, ich danke Ihnen recht herzlich, dass Sie inmitten allen Trubels und aller Sorgen noch Zeit gefunden haben, mir zu schreiben. Ja, der Untertan stirbt nicht aus, und die, die ihn „untertun“, auch nicht. Und mir kann jede Regierung gestohlen werden, die nicht erreicht, dass ihre Beamten höflich sind. Aber nun sind Sie wenigstens untergekommen, und es freut mich, dass Sie in einem kleinen, schönen Raum sitzen, und meine Märchenwelt noch einmal und meistens schöner gestalten. Die Berliner Universität hat mir neulich für ihre neue wirtschaftswissenschaftliche Fakultät eine Professur für deutsche Sprache und Literatur angeboten. „Bald mangelt es am Wein und bald am Becher“, hat Hebbel auf dem Totenbett gesagt, und ich habe gedankt. Aber es war doch das erste Zeichen öffentlicher Achtung seit über 10 Jahren. Ich bin noch immer nicht in der Schweiz, rechne aber mit der Ausreise Anfang Dez. Wir können jetzt nur die Bibliothek heizen, und alles Arbeiten ist ziemlich illusorisch. Trotzdem geht mir die Fortsetzung von Wäldern und Menschen durch den Kopf: Jahre und Zeiten. Aber es wird doch wohl Frühling mit dem Anfang werden. Und ich wollte mich doch solange ausruhen. Ich hoffe sehr, dass Rascher in Zürich eine zweite illustrierte Ausgabe der Märchen machen wird, was von Anfang an sein Plan war, und ebenso hoffe ich, dass er dazu Ihre Bilder benutzt. Von der Schweiz aus ist der Weg in die Welt leicht und nicht wie bei uns mit Brettern vernagelt. Und ich möchte es Ihrem Werk so sehr wünschen. In Schweden und England ist man schon bei der Übersetzung. Möchte es sich alles gut fügen für Sie und möchte das Schicksal Ihnen das Rechte zeigen, was Sie tun sollen. Mit allen herzlichen Wünschen Ihr Ernst Wiechert

Brief vom 11. 3. 1947: Lieber, sehr verehrter Herr Prof. Meid, seien Sie bitte nicht böse, wenn ich erst heute auf Ihren Brief vom 12.2. antworte. Aber ich kam erst am 21. aus der Schweiz zurück, und hier stürzten sich so viele Dinge über mich, dass ich keine Ruhe hatte. Inzwischen ist Herr Desch hier gewesen, nachdem meine Frau ihn gleich nach Empfang Ihres Briefes angerufen hatte. Wir sind unglücklich wie Sie, aber es scheint, dass die Zeit mit ihren Unzulänglichkeiten über unser Unglück hinweggeht. Desch hat uns alles auseinandergesetzt, und sein Hauptargument ist, dass das Buch bei Erfüllung Ihrer Wünsche so teuer geworden wäre, dass es eben nicht für die „armen Kinder aller armen Völker“ da wäre sondern für die Leute, die immer noch Geld haben. Das ist ein wichtiger Grund, und außerdem sind die Dinge soweit gediehen, dass nichts mehr geändert oder aufgehoben werden kann.

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Der einzige Trost, den ich Ihnen geben kann, ist der, dass wir auf die Raschersche Ausgabe warten müssen, die im Format, Papier und Bildwiedergabe unvergleichlich schöner sein wird. Ich warte nur auf eine völlig sichere Gelegenheit, ihm die Originale zum 1. Band zukommen zu lassen. Bitte seien Sie nicht zu verzagt. Ich denke immer, dass das Erscheinen der Märchen das Wichtigste ist und das wir uns in allem anderen bescheiden müssen. Mit allen herzlichen Wünschen Ihr Ernst Wiechert

Brief vom 9. 4. 1947: Lieber, sehr verehrter Herr Prof. Meid, ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief, den ich mit Betrübnis gelesen habe. Ich habe es längst aufgegeben, in diesen Sachen etwas zu erreichen, und wenn der Verlag sein Versprechen hält, sich um den 2. Band etwas mehr zu kümmern, so haben wir ja noch ein bisschen Hoffnung. Desch scheint die Herrschaft über die Produktion langsam zu verlieren, und da ist wohl im Augenblick nichts zu ändern. Ich hatte eben einen Abgesandten von Pilot Press London bei mir, der die Sachen in Ordnung bringen musste, die Desch versiebt hatte. Er stösst alle Leute vor den Kopf, weil er nicht zu seinen Versprechungen steht, und im Ausland ist das natürlich besonders peinlich. Derselbe Abgesandte hat Ihre Originale nach London genommen und schickt sie von dort an Rascher. Rascher muss jetzt eine 2. Auflage der Märchen machen und will sie illustrieren, wenn er mit Ihren Bildern einverstanden ist. Das müssen wir nun abwarten und hoffen, dass es gelingt. Wahrscheinlich wird er aber die Bilder zum 2. Band gleich im Anschluss brauchen. Ich gebe Ihnen sofort Nachricht, sobald ich von ihm darüber höre. Mit allen herzlichen Wünschen Ihr Ernst Wiechert

Brief vom 28. 7. 1947: Lieber, sehr verehrter Herr Prof. Meid, Ihr Brief vom 20. kam erst gestern bei mir an, und mein Gewissen hat sich sehr geregt. Aber sehen Sie mir vieles nach. Seit dem 1. Mai habe ich jeden Morgen um 3 auf der Altane gesessen, um mein neues Buch zu schreiben, und alles ist liegen geblieben. Dafür kann ich Ihnen nun sagen, dass Rascher Ihre Bilder hat und dass die Neuauflage des 1. Bandes mit Ihren Bildern schon lange im Satz ist. Er hat mir zwei Probeabzüge gezeigt, die nun allerdings anders aussehen als bei Desch. Aber auch in der Schweiz reicht es nicht zu einem Kunstdruckpapier, und man muss sich mit dem gewöhnlichen zufrieden geben. Ihre Bilder haben eine grosse Fahrt gehabt, mit Flugzeug nach London u.s.w., und ich habe erst wieder schlafen können, als ich sie in Zürich wusste. Ich glaube nicht, dass Rascher die Einbandzeichnung hat, weiss es aber nicht genau. Er besitzt die Originale. Ich bin sehr glücklich, dass kein Ärger Sie davon abgehalten hat, den alten Zauberer zu begraben. Und nach diesem Begräbnis werden Sie sich

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den grossen Arbeiten zuwenden, von denen ich Sie solange abgehalten habe. Und doch denke ich, dass es ein großes Werk ist, was man für Kinder tut und die unter den Großen, die noch ein bisschen Kinder geblieben sind. Auch mein Buch ist fertig, und ich sitze schon über der Goetherede, die ich am 22. September in Stäfa halten soll. Dort hat Goethe vor 150 Jahren mit dem „Kunschtmeyer“ gesessen und sich an dem schönen Züricher See erfreut und an den Bildern, die Meyer für schön hielt. … Und in Zürich werde ich selbst nach den Bildern sehen und Rascher beschwören, dass nichts Dummes geschieht. Es grüßt herzlich Ihr Ernst Wiechert

Brief vom 16. 1. 1948 aus Küsnacht (Ernst Wiechert war inzwischen in die Schweiz übergesiedelt): Sehr verehrter Herr Prof. Meid, nein, Sie haben sicherlich nichts anderes verdient als Liebe und Verehrung, und alles, was ich bitten kann, ist, dass Sie Nachsicht mit mir haben. Ich war wochenlang vor Weihnachten krank und ausserstande, einen Brief zu beantworten. Und dieses Jahr schloss mit so schweren Entscheidungen für mich, dass es alle meine Kräfte gefordert hat. Ihr Brief vom 29.12. ist mir erst jetzt nachgeschickt worden. Ich habe Ihre Zeichnungen zum 2. Band nicht gesehen. Rascher hat leider seinen alten Umschlag beibehalten, aber die Bilder sind schön, und er hätte Ihnen ein Exemplar des Bandes schicken sollen. Der Verlag macht mir schon längst keine Freude mehr, und auch darin habe ich Entscheidungen zu treffen. Er entschuldigt sich damit, dass er Ihre Anschrift nicht gewusst habe, aber das ist natürlich eine Ausrede. Bevor er den 2. Band druckt, zu dem er die Bilder noch nicht da hat, schreiben Sie ihm wohl am besten selbst über das, was Sie wünschen. Ich selbst verstehe ja von diesen Dingen nicht soviel, dass ich eine Autorität für ihn wäre. Ich habe viele Verlagssorgen, und es geht mir gesundheitlich kümmerlich genug. Mit allen herzlichen Wünschen Ihr Ernst Wiechert16

Ernst Wiechert schreibt in seiner Autobiographie Jahre und Zeiten folgendes über die Märchen: Ich lehnte es ab, zum Volkssturmarzt zur Untersuchung zu gehen. … Aber da die Partei die Häuser der angeblich Kranken beobachten ließ, ob sie nicht etwa Spaziergänge unternahmen, musste ich tagsüber neben dem Stuhl, auf dem ich die Märchen schrieb, ein Ruhesofa haben, auf das ich mich sofort legen konnte, wenn jemand ins Haus kam. Die Pistole lag 16 Ernst Wiechert an Hans Meid, 22. 5. 1946, 6. 9. 1946, 7. 11. 1946, 11. 3. 1947, 9. 4. 1947, 28. 7. 1947, 16.1.1948. Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Nachlass Hans Meid.

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unter den Kissen, und so sind wohl wenige Märchen in der Welt in einer weniger märchenhaften Atmosphäre geschrieben worden als die meinigen. Nur bei völliger Dunkelheit konnte ich durch den Garten gehen, im Schatten der Bäume, wenn der Mond schien. Am liebsten ging ich am Seerosenbecken auf und ab, wo unter der Eisdecke die Knospen schliefen, und bei aller Vorsicht tat ich am zweiten Adventsonntag doch einen Fehltritt und fand mich bis zur Brust im Wasser, und das Wasser war sehr kalt. Meine Hunde waren sehr verwundert, als ich triefend im Hause stand, aber da ich gerade den Plan zu dem Märchen vom Knaben und vom Wassermann im Herzen trug, so schien mir das Abenteuer vom Schicksal so gefügt, und es hatte auch keine weiteren Folgen.17

17 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 370 – 371.

II. Einblicke in Wiecherts Werk

Geisterreigen und Masurenschwermut Ernst Wiecherts unveröffentlichter Romanerstling Der Buchenhgel

leonore krenzlin In der Eingangspassage seines Erinnerungsbuchs Jahre und Zeiten blickt Ernst Wiechert auf seine Studentenzeit zurück, in der er zeitweise eine Stellung als Hauslehrer bei einem baltischen Baron angenommen hatte. Er schildert, wie er dort als Zwanzigjähriger frühmorgens am Frischen Haff durch die Wiesen streifte und dabei ein kleines Buch mit sich führte, „in das er von Zeit zu Zeit Bilder oder Gespräche aus dem ersten Roman eintrug“, an dem er damals schrieb. Mit dem Abstand von vierzig Jahren betrachtet Wiechert gerührt „die große, deutliche, kindliche Handschrift“ des Manuskripts, das er wieder hervorgeholt hat – und er gedenkt lächelnd der hochfahrenden Hoffnung des jungen Mannes, der als Schriftsteller „Unsterblichkeit“ erringen wollte.1 Wiechert erwähnt noch, dass dieser – ungedruckt gebliebene – Roman den Titel Der Buchenhgel trug, und dass er damit Gustav Frenssens Erfolgsbuch Jçrn Uhl übertreffen wollte.2 Doch über den Inhalt des Buchenhgels verrät uns Wiechert nichts. Dieses alte Manuskript, welches auf Wiecherts Schreibtisch lag, als er im Jahre 1947 Jahre und Zeiten zu schreiben begann, existiert noch immer – ein seltener Glücksfall, da so viele Schriftstücke aus seinem Nachlass verschollen sind. Es befindet sich im Wiechert-Bestand des Museums Stadt Königsberg – ein kleiner Band im DIN A 5-Format, von dessen weißen Blättern fünfhundertundeine Seite von Hand beschrieben sind. Ganz gewiss haben wir damit nicht einen Rohtext vor Augen, also nicht jenes Büchlein, das der Student bei seinen Spaziergängen bei sich trug – denn dann müssten die Eintragungen eine unregelmäßige Gestalt haben, und der Text müsste mit vielen Korrekturen versehen sein. Die Sauberkeit und Gleichmäßigkeit der jugendlichen Handschrift deutet vielmehr darauf hin, dass es sich um die eigenhän1 2

Ernst Wiechert. Jahre und Zeiten, Erinnerungen. Erlenbach/Zürich, 1949, S. 7. Gustav Frenssen: Jörn Uhl. Roman. Berlin. 1901.

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dige Abschrift einer nicht erhaltenen Vorfassung handelt. Es finden sich darin nur sehr wenige Korrekturen, die ersichtlich im Zuge des Abschreibeprozesses erfolgten und nicht den Eindruck einer Überarbeitung machen. Offenbar betrachtete der Verfasser die Arbeit an diesem Text als abgeschlossen. Dieses Büchlein gestattet einen Einblick in die allerersten Anfänge der schriftstellerischen Bemühungen des jungen Ernst Wiechert. Allzu viel darf man von der literarischen Leistungsfähigkeit eines Zwanzigjährigen allerdings nicht erwarten – Wiecherts erster Prosaversuch weist so ziemlich alle künstlerischen Schwächen auf, die ein Anfängertext haben kann: eine schwülstige Sprache, klischeehafte Figurenzeichnung, Plumpheit im Einsatz der Symbolik und Unfähigkeit, eine durchgehende Handlung zu konstruieren. Unter literarischen Gesichtspunkten wäre es daher sicherlich besser, das Manuskript ruhen zu lassen, statt es ans Tageslicht zu zerren. Aber immerhin kann man aus diesen Aufzeichnungen einiges über das Lebensgefühl, die Weltanschauung und die literarischen Bestrebungen des jungen Wiechert erfahren, was weder seinen späteren Werken noch seinen beiden Autobiografien zu entnehmen ist.

I. Die „Realhandlung“ des Romans Da der Text ungedruckt ist, muss als erstes die Handlung des Romans mit einer gewissen Ausführlichkeit beschrieben werden. Das ist allerdings nicht einfach, denn die Handlung lässt sich gar nicht so leicht verfolgen. Einerseits rückt sie nur sehr langsam vom Fleck, weil sie immer wieder unterbrochen wird durch umfangreiche Naturschilderungen, durch ausschweifende mythologische Szenen oder durch ausführliche Erzählerkommentare, und nicht zuletzt auch durch langwierige Gespräche oder Gedankenketten der Hauptfigur. Durch diese Unterbrechungen kann es geschehen, dass man beim Lesen die vorangegangenen Ereignisse und den letzten Handlungsort schon wieder vergessen hat, wenn es endlich weitergeht. Und andererseits stürmt die Handlung dann auch wieder plötzlich voran, macht seltsame Sprünge, ignoriert Fakten, die vorher mitgeteilt wurden, oder lässt Ereignisse aus, die inzwischen stattgefunden haben müssen, so dass dem Leser bisweilen für das aktuelle Geschehen die Erklärungen fehlen. Am störendsten ist die Häufung von Blindmotiven – also von Szenen und Verhaltenskonstellationen, welche eigentlich eine Weiterführung oder Auflösung

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verlangen, ohne dass diese erfolgt. Man wartet also oft vergeblich darauf, dass eine Person, die umständlich eingeführt wurde, wieder auftritt und im Fortgang des Geschehens eine Rolle spielt, und dass ein Handlungsstrang, der angelegt wurde, seine Fortsetzung findet – oft geht er ganz einfach nicht mehr weiter. Diese Schwierigkeiten im Hinterkopf, kann man die Handlung folgendermaßen zusammenfassen: Hauptfigur des Romans ist ein junger Masure namens Fred Buchen, welcher bereits als fünfjähriges Kind von seinem Vater in die Stadt gegeben wurde. Er hat dort studiert und kehrt nun nach fünfzehn Jahren auf den Hof seiner Eltern zurück, scheint also wie sein Autor, der junge Student Ernst Wiechert, etwa zwanzigjährig zu sein. Während Freds Abwesenheit starben erst sein kleiner Bruder, dann seine in Melancholie versunkene Mutter Agnes und schließlich auch sein trunksüchtig gewordener Vater Fritz. Seitdem wurde der Hof von einer alten Haushälterin namens Gina Bojar und dem Knecht Jan Skupch notdürftig bewirtschaftet. Dieser „Buchenhügel“ genannte Hof ist jedoch kein normaler Bauernhof, sondern ein sagenumwobener Ort. Denn ein Vorfahr von Fred – mit Namen Ernst Buchen – hatte ihn auf eine ungewöhnliche Art erworben: Er erhielt ihn während einer Heidewanderung als Geschenk von der Einsamkeit – einer mythologischen Frauengestalt, die im Roman eine beträchtliche Rolle spielt und auf die ich noch zurückkommen werde. Infolge dieses Ursprungs ist das Leben der Männer und Frauen aus dem Buchen-Geschlecht von Einsamkeitserfahrung und klaustrophilen Schüben durchsetzt. Auch Fred Buchen verharrt nach seiner Ankunft monatelang ohne irgendeine Gesellschaft in trauriger Untätigkeit, wandert über die Heide, sitzt nachts vor dem Schreibtisch und dichtet gelegentlich. Den Vorschlag der besorgten Gina Bojar, ganz normal zu arbeiten und den Acker zu bestellen, weist er empört zurück. Gina hält ihn schließlich für krank und schickt ihn zwecks Ablenkung zu Wolf Steiner, einem Torfmeister, der Fred noch aus seiner Kindheit in Erinnerung ist. Steiner ist kein Masure, sondern ein Fremder aus dem Norden, der über viel Lebenstüchtigkeit und ein „echtes Germanenhaupt“ verfügt. Fred gibt dieser unerreichbaren Vaterfigur seine Gedichte zu lesen, und er lernt bei ihm Maria Horst kennen – ein Fräulein aus der Stadt „mit dunklem Haar und starken Zügen“. Sie ist Fred „nicht sympathisch“, weil sie – wie er sagt – „zu viel Kraft“ hat und zu „wenig Weib“ ist, aber er fühlt sich dennoch sinnlich von ihr angezogen. Lange wagt er keine Annäherung. Doch als sie abreist und sich für die nächsten vier Jahre von ihm verabschiedet, ist

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er verzweifelt. Er schreibt ihr leidenschaftliche Liebesbriefe, von denen überlange Passagen im Buch wiedergegeben werden, und erhält nach zwei Monaten auch eine zustimmende Antwort. Maria besucht Fred überraschend für kurze vierundzwanzig Stunden, welche die beiden auf das glücklichste mit Märchenerzählen, Spaziergängen und keuschen Zärtlichkeiten verbringen. Doch nach Ablauf der von ihr gesetzten Frist entschließt sich Maria zum Abschied auf immer. Sie verschwindet aus Fred Buchens Leben und somit auch aus dem Roman – und der Leser, der sich noch mancherlei Verwicklungen aus dieser Konstellation erhofft hatte, wird enttäuscht: Es handelt sich um eines der vielen Blindmotive der Erzählung. Auch der Charakter der Maria-Figur und die Gründe für ihr Verhalten bleiben für den Leser so unklar wie für die Romanfigur Fred Buchen: Ist sie verärgert, weil ein Heiratsantrag auf sich warten ließ? Oder will sie keine Fortsetzung der innig gewordenen Beziehung, weil sie in ihrer Jugend von einem Mann verlassen wurde und Wiederholung fürchtet? Oder ist sie selber unstet in der Liebe – ihre Bemerkung, die Zeit werde kommen, da „meine Natur mich von ihm reißt“, deutet darauf hin. Zurück bleibt jedenfalls ein verzweifelter und aufs Neue vereinsamter Fred Buchen, der auf dem Friedhof am Grabe seiner Mutter einem geheimnisvollen „Mann in der Kleidung der Masuren“ begegnet. Dieser verwickelt Fred in ein jesuitisch gefärbtes Weltanschauungsgespräch über die Frage, ob ein freiwilliger Tod – im Klartext also ein von Fred erwogener Selbstmord – eine Sünde sein kann, wenn man – wie Fred – gar nicht an Gott glaubt – und ob er eine Sünde vor der Welt sein kann, wenn man der Welt, die einem nur Schmerzen zugefügt hat, ebenfalls nichts schuldet. Die unwirkliche Gestalt prophezeit Fred Buchen einen künftigen Wahnsinn – und verschwindet. Wie es nachträglich aussieht, ist dieses Erlebnis zwar nur ein Traum gewesen – aber was heißt hier „nur“, Fred Buchens verzweifelter Zustand wird durch den Vorfall verstärkt. Ein wenig Linderung erfährt Fred dadurch, dass Gina Bojar ihm lange Passagen aus der Bibel vorliest – denn sie ist überzeugt davon, dass ein Masure ohne Gott nicht leben kann. Fred fühlt sich gerührt an die Zeit seines Kinderglaubens erinnert, aber auch an den schrecklichen Moment, als er erkannte: „Es kann keinen Gott geben, wenn er seine Kinder leiden lässt und uns nicht hilft.“ Leider erfährt der Leser nicht, von welcher Art die Erlebnisse waren, die ihn zu einer solchen Schlussfolgerung kommen ließen. Schließlich wird Fred durch Wolf Steiner aufgerüttelt, der eine neue Idee ins Spiel bringt: Fred Buchen müsse arbeiten – „Aber nicht für sich

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selbst, sondern für Ihr Land, für Ihre Heimat, für ein Heim“ – wozu auch das Heiraten gehöre. Des weiteren prophezeit ihm Steiner eine große Zukunft als Dichter, und der einsetzende Frühling tut auch ein übriges: Fred wird ein wenig aktiviert, und als ihm Jan Skupch vom tragischen Schicksal eines vom Förster erschossenen Wilderers erzählt, sucht er sofort dessen Familie auf, um der kranken Witwe und ihren vier Kindern beizustehen. In der erbärmlichen Hütte trifft Fred auf die blonde Tochter eines anderen Försters, in welcher er seine ehemalige Kinderfreundin Elsa Friesen erkennt. Man erwartet hier die Entwicklung eines Handlungsstrangs, der die Konfliktlagen zwischen Förstern und Wilddieben zum Gegenstand hat, schließlich haben die beiden jungen Leute ja für den Wilddieb Partei ergriffen. Aber auch diese Frage wird fallengelassen, die Hinterbliebenen des Wilddiebs und die durch sie ins Spiel gebrachte soziale Problematik verschwinden sofort wieder aus dem Roman. Stattdessen wird Fred bei einem nachfolgenden Gespräch mit dem Pfarrer Hellwig auf den traurigen Zustand des Landes Masuren verwiesen, welches durch die von der Regierung geförderte Industrialisierung, vor allem den geplanten Bau einer Eisenbahn, seinen bisherigen naturbelassenen Zustand verlieren wird. Allein durch Arbeit, so schlussfolgert dieser Pfarrer, sei der Heimat noch zu helfen: „Es ist eine wunderbare Heiligkeit um jede Arbeit, sei es die geringste. Und was für eine göttliche Heiligkeit um eine Arbeit, die die Heimat retten kann!“, so lautet sein Credo. Fred Buchen lässt sich zunächst von dieser säkularisierten Religiosität überzeugen – Masurenpatriotismus stellt umstandslos die fragwürdig gewordene christliche Gläubigkeit wieder her. Dieser Quantensprung gelingt umso leichter, als Fred die Gefährdung seiner Heimat bald darauf am eigenen Leibe zu spüren bekommt: Während eines Besuchs in der Försterei begegnet er dem jungen Millionär Paul Santor, der die umliegenden Wälder zum Zwecke des Abholzens erwerben will und ein Auge auf Elsa geworfen hat. Als Santor Elsa zu nahe tritt, schlägt Fred ihn erst mit der Hundepeitsche, fordert ihn dann zum Duell und erzwingt von ihm eine Verzichtserklärung auf Elsa. Mit dem Ehrenkodex eines Duells ist der junge Wiechert offenbar nicht vertraut – denn ein Mann, der mit der Hundpeitsche geschlagen wurde, ist nicht mehr satisfaktionsfähig, man kann sich nicht mehr mit ihm duellieren. Jetzt könnte Fred seine Elsa, in die er längst verliebt ist und die sich inzwischen als echte Masurin erwiesen hat, eigentlich heiraten – zumal auch Santor spurlos aus der Handlung verschwindet, obwohl der Autor

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ihn noch gut hätte gebrauchen können – schließlich hätte Santor im weiteren Verlauf der Handlung einen veritablen Gegenspieler im Kampf um die Heimat abgeben können. Jedoch Fred zögert mit der Liebeserklärung – denn „nun war ein großes, gespenstisches Grübeln in seine Seele gekommen, ein wildes Kämpfen zwischen seinen Sinnen, seiner Liebe und seiner Treue, die ihm stündlich schwer und mahnend das düstere Wort sagte: Du darfst nicht!“ Warum Fred nicht heiraten darf – ein Problem, mit dem er sich bereits im Fall von Maria Horst herumgeschlagen hatte – versteht der Leser zunächst nicht so ganz. Doch durch ein Gespräch zwischen Fred und Wolf Steiner erhält man endlich Aufklärung: Da seine Mutter in geistiger Umnachtung starb, fürchtet Fred, ihren Wahnsinn geerbt zu haben und ihn an seine Nachkommen weiterzuvererben. Doch nach einer weiteren Begegnung mit der geheimnisvollen Männergestalt, die sich als Mischung aus Versucher, Sensenmann und masurischem Stammvater darbietet; und nach einem Traum, der ihm ein Gotteserlebnis vermittelt und ihn dadurch stärkt, bewähren sich Fred und Elsa gemeinsam während eines schweren Sturmes auf dem Spirdingsee, indem sie eine Frau nebst ihren Kindern retten und Anweisungen für den Dammbau geben. Beim nachfolgenden Gottesdienst nimmt ihn Pfarrer Hellwig wieder in die Kirche auf und rät ihm zur Heirat mit den Worten: „Es ist heilige Pflicht, dem Buchenhügel eine Herrin zu geben und zu beginnen mit dem Heimatwerke!“ An dieser Stelle endet der Erste und beginnt der Zweite Teil des Romans, und nun geht es Holterdiepolter: Fred und Elsa sind verheiratet und vertreiben sich als echte Masuren die Zeit mit Märchenerzählen und Plänen für die Feldbestellung. Bei der ersten Furche, die Fred durch die Heide zieht, kommen ihm allerdings schon Skrupel, ob er sich nicht durch den Aufbau einer Musterwirtschaft an der Zerstörung des alten Masuren beteiligt – Heimatliebe und Nützlichkeitsdenken befinden sich in einem unauflöslichen Konflikt. Der Text ergeht sich dann über eine längere Strecke in der Schilderung lokaler Bräuche: Zur Ernte kommen als Helfer die „echten Waldmasuren“, die Polnisch sprechen, beim Erntefest das alte „Plonn-Lied“ singen und vor allem dadurch charakterisiert werden, dass sie abergläubisch sind. Nach einem weiteren zehnseitigen Einschub, der „Die Geschichte vom ersten Masuren“ mitteilt, bekommt Elsa ein Kind und Fred eine Nachricht vom Verlag, der ihm 2.000 Taler für den Druck seiner Gedichte zusichert – in der damaligen Zeit eine erhebliche Summe! Doch sein Plan für eine Rieselanlage zwecks Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit wird von

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den Regierungsbehörden wegen des geplanten Eisenbahnbaus nicht genehmigt. Und er erfährt, dass Bodenaufkäufer unterwegs sind, die bereits ganze Dörfer aufgekauft haben, so dass die Bauern scharenweise Masuren verlassen und nach Westfalen ziehen, um dort in den Fabriken zu arbeiten. Nach langwierigen Gesprächen mit verschiedenen Freunden lädt Fred Buchen schließlich die Einwohner der Gegend im Gasthof zu einer Masurenversammlung ein, um sie vom Verkauf ihrer Höfe abzubringen. Doch die drei verschiedenen sozialen Gruppen – die unteren Bauern, die offenbar Polen sind, die Mittleren, die nicht wissen, ob sie Polen oder Deutsche sind, sowie die Herren, natürlich Deutsche – sitzen an getrennten Tischen. Fred, der mit seinem großen Hof selber zu den Herren gehört, findet bei niemandem Gehör – vor allem die Jungen verspotten sein Engagement für die masurische Heimat. Bald darauf erfährt Fred, dass er den Buchenhügel verlieren wird, weil dort ein Stationshaus geplant ist. Vom Staat wird er 30.000 Taler Abfindung für seinen Hof erhalten. Ihm bleibt daher nichts weiter übrig, als das Projekt der Heimatrettung aufzugeben. Fred beschließt nun zunächst, nach Königsberg zu gehen, um sein Examen nachzuholen und eine Stellung als Lehrer anzunehmen – denn er hat, so sagt er, kein Geld, um sich einen neuen Hof zu kaufen. Wo die insgesamt 32.000 Taler geblieben sind, die er eben noch in Aussicht hatte, bleibt ein Rätsel. Sein Kind stirbt, und der Arzt verstört ihn mit dem Hinweis, dass es infolge von Vererbung wahrscheinlich wahnsinnig geworden wäre. Auch Elsa stirbt. Als Fred bei Pfarrer Hellwig Beistand suchen will, hat dieser sein Kirchenamt niedergelegt, weil er an Gott und Heiland irre geworden ist: „Es kann keine Heilandsliebe in der Welt sein, wenn sie das hier zulässt“, ruft Hellwig aus – wobei mit „das hier“ die Abwanderung der Masuren und der Niedergang der Heimat gemeint sind. Und so irrt Fred Buchen schließlich einsam durch das Moor und stellt fest, dass er wohl selber jener Wanderer gewesen ist, dem die Einsamkeit vor Jahrhunderten den Buchenhügel geschenkt hat. Sein Leben hat er somit gar nicht real erlebt, sondern es ist nichts als ein Wahn gewesen: „Ich habe geschlafen und meinen wüsten Traum geträumt“, so erkennt er. Am See begegnet er der Einsamkeit in Gestalt von Elsa, die ihn mit den Worten „Nun darfst du sterben“ ins Wasser holt.

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II. Die Gegenwelt der Geister In diesem Roman ist also eine Menge los, obwohl der Erzähler dem Leser eingangs eine „stille Geschichte“ versprochen hat. Dennoch ist bis jetzt eigentlich nur die Hälfte erzählt. Denn diese Handlung, die ich – trotz ihrer irrealen Anteile – als „Realhandlung“ bezeichnen möchte, wird von der ersten bis zur letzten Seite des Buches von einem Geisterreigen durchzogen, der sich agierend oder kommentierend in das Geschehen einmischt und letzten Endes eine magische Gegenhandlung konstituiert. Dieser Geisterkosmos besteht aus naturmythischen Gestalten wie Wasserfrauen, Waldmännern und einer Regenfrau, vor allem aber aus vermenschlichten Naturerscheinungen und aus personifizierten menschlichen Gefühlszuständen: Die Sommernacht, der See, der Sturm, der Mond, die Sonne, die Heide und der Wald, der Frühling und der Winter und noch viele, viele weitere Naturgegebenheiten treten in Gestalt von Romanfiguren auf und führen ein Eigenleben – und ebenso die Trauer, die Liebe, die Heimat, das Schweigen und das Glück. Diese körpergewordenen Geistwesen kommunizieren nicht nur untereinander, sondern sie greifen auch in die Realhandlung ein: Sie begleiten und beobachten die Hauptfigur (und bisweilen auch die Nebenfiguren, beispielsweise Gina Bojar) und nehmen Einfluss auf deren aktuelle Gefühlslage. Sie sprechen unhörbar oder hörbar zu ihr, und es kommt zwischen Fred und der am Fenster sitzenden Erinnerung sogar zu regelrechten Dialogen. Die wichtigste Figur in diesem Gewimmel ist die Einsamkeit, welcher auf den ersten Romanseiten eine komplizierte mythologische Abstammung zugeschrieben wird: Sie ist eine von zwölf verstreut lebenden Schwestern, welche von einem inzwischen ausgestorbenen götterähnlichen Herrschergeschlecht übriggeblieben sind und die von den Menschen viel Unrecht erlitten haben. Tags streift die Einsamkeit durch die Heide, nachts ruht sie in einer Rosengrotte auf dem Grunde des Sees – und eines Tages ist sie dem wandernden Dichtersänger Ernst Buchen begegnet, der ihr so sehr gefiel, dass sie ihm auf seinen Wunsch hin den Buchenhügel geschenkt hat. Dieses Überangebot an Anthropomorphisierung und Allegorisierung ist beim Lesen schwer zu ertragen. Doch offenbar hat der junge Wiechert diese Anhäufung von Kitsch als eine Möglichkeit angesehen, die in seinen Augen allzu prosaische Realhandlung seines Romans ästhetisch aufzuwerten. Wahrscheinlich hielt er eine solche vordergrün-

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dige Poetisierung seines Erzählstoffes sogar für ein geeignetes Mittel, um Gustav Frenssens plastisches Erzählvermögen, wie es uns aus seinem frühen Roman „Jörn Uhl“ entgegenspringt, zu übertrumpfen. Aber unabhängig von solcher Absicht haben diese Verkörperungen von Natur- und Gefühlskräften im Roman auch eine klare Funktion: Sie bilden eine konsistente Gegenwelt zu den Brüchigkeiten und zerrinnenden Gewissheiten auf der Realitätsebene des Romans. Zwar ist das Dasein auf der naturmagischen Ebene auch nicht rein harmonisch – die Einsamkeit kennt Sehnsucht, Heimweh und tränenreichen Kummer, und die Naturkräfte arbeiten bisweilen gegeneinander an. Doch im Unterschied zu den Menschen haben sie keine existentiellen Sorgen, und sie kommen miteinander aus. Man macht sich gegenseitig durchaus auch etwas streitig, wie das zwischen Winter und Frühling der Fall ist. Aber letzten Endes kommt jeder einmal dran, und jeder tut das seinige. Im Gegensatz zu den Unbilden, denen die Hauptfigur im wirklichen Leben ausgesetzt ist, gibt es in der Geisterwelt zwar ein Hin und Her und Auf und Ab, aber keine ernsthaften Umstürze und Zusammenbrüche. Es herrscht sozusagen ein labiles Gleichgewicht, das sich zwar verschiebt, aber immer wieder einpendelt: Die Beziehungen sind locker geregelt und die Reibungen gemäßigt – die Einsamkeit und das Glück beispielsweise sind sich nicht sympathisch, aber auch nicht feind, so dass man voneinander Hilfen erbitten kann. Im Grunde genommen repräsentiert dieses Geisterreich das, was Fred unter „Heimat“ versteht: Ein arbeits- und zweckfreies Dasein ohne soziale Ränge und Zwänge. Fred findet bei diesen Naturgeistwesen alles, was ihm die Menschenwelt nicht bietet – Gehör für Unsagbares, Mitgefühl, Tröstung, emotionale Geborgenheit und schließlich sogar eine Erlösung, die ihm das verloren gegangene christliche Jenseits ersetzt: In den Armen der zur Einsamkeit verklärten Elsa erfüllt sich die Prophezeiung, dass der letzte Buchen als Geliebter der Einsamkeit auserkoren ist. Von seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Schuld, die er durch Heirat und Selbstmordabsichten auf sich geladen hat, ist Fred dadurch befreit – das Eingehen in die Natur wird zum Paradies-Ersatz ebenso wie zur wiedergewonnenen Heimat.

III. Vermutungen und Erkenntnisse So weit die beiden Handlungsbereiche, zu denen es übrigens auch – freilich nur karg mitgeteilte – Nebenhandlungen gibt, auf die ich jetzt aber nicht eingehen will. Ich komme vielmehr zu der Frage: Welche

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Erkenntnisse und welche Vermutungen über den jungen Wiechert kann man aus diesem Text ableiten, und wie sind seine künstlerischen Ansätze in dieser Phase zu beurteilen? 1. Zunächst kann festgestellt werden, dass Lebenslauf und Lebenslage der Hauptfigur – wie das in ersten Romanen meist zu sein pflegt – viele Ähnlichkeiten mit der Biografie des Verfassers aufweisen: Das früh in die Stadt verbannte Kind, die jähen Todesfälle, die schwermütige Mutter, der alkoholkranke Vater, das unterbrochene Studium und die ungern eingeschlagene Lehrerlaufbahn finden sich ebenso wie die religiösen Zweifel, die weltanschauliche Suche, die Hilflosigkeit im Umgang mit Frauen und die Suche nach festen ethischen Maßstäben und klaren Lebenszielen. Was wir dagegen aus Wiecherts autobiografischen Darstellungen nicht kennen, sind das Ausmaß der Einsamkeitszustände, die Bedrängung durch irrationale Schuldgefühle, die Angst vor drohendem Wahnsinn, der selbstquälerische Fatalismus und die bis zu Selbstmordabsichten reichenden Verzweiflungsanfälle, denen die von Wiechert entworfene Hauptfigur ausgesetzt ist. Bei dieser Darstellung waltet zwar sicherlich ein gerüttelt Maß an dichterischer Übertreibung – kenntlich bereits daran, dass das Kind Ernst Wiechert deutlich älter war, als es in die Stadt musste. Aber dennoch lässt sich sagen: Dergleichen schreibt und beschreibt man nicht, wenn man nicht etwas davon empfunden hat. Es ist deshalb zu vermuten, dass man sich Ernst Wiecherts Innenleben während seiner Stundentenzeit doch weitaus dramatischer vorstellen muss, als er es selber nachträglich in seinen autobiografischen Schriften geschildert hat. 2. Auffällig ist, welche Rolle im Roman das Bekenntnis zur masurischen Heimat spielt – man muss geradezu von einem glühenden Masurenkult sprechen. Zwar ist die starke Natur- und Heimatliebe Wiecherts bekannt, und oft hat er von seinem Herkunftsland Ostpreußen gesprochen. Aber von einem ausgeprägten Interesse an der Geschichte Masurens und seiner aktuellen sozialpolitischen Lage sind weder in seinen Erinnerungen noch in seinen Romanen Spuren zu entdecken. In seinen veröffentlichten Romanen und Novellen hat er es sogar weitgehend vermieden, Ostpreußen durch konkrete Ortsangaben und geografische Anhaltspunkte als Ort der Handlung kenntlich zu machen – er ging geradezu mit „geografischer Diskretion“ vor.3 Natur und Landschaft Ostpreußens werden von ihm zwar eindringlich ge3

Marlene Tolède: Realität und Mythos Ostpreußens in drei Romanen Ernst Wiecherts. Phil. Diss. Réunion 2000/2001, S. 39.

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schildert, zugleich aber so stark stilisiert, dass man vom bloßen Text her kaum darauf schließen kann, in welcher Gegend das betreffende Buch spielt. Offenbar wollte er die Gefahr vermeiden, als Schriftsteller auf die Kategorie eines Heimatdichters festgelegt zu werden. Im Buchenhgel dagegen ist das noch ganz anders: Die Landschaft, in welcher der Roman spielt, ist klar lokalisiert – die Figuren sind gebürtige Masuren und wohnen in der Nähe des Spirding-Sees. Orte, Flüsse, Seen und Berge werden mit ihrem Klarnamen erwähnt – der Bärenwinkel, wo der Torfmeister Wolf Steiner haust, ist auf der Landkarte zu finden. Wiechert wollte bei seinem ersten Schreibversuch gar nicht verbergen, sondern vielmehr betonen, dass es sich bei seinen Buch um einen Heimatroman handelt. Das zeigt sich besonders in den heimatpatriotischen Reden des auktorialen Erzählers, der keineswegs objektiv bleibt, sondern sich höchst parteilich verhält: Er gibt sich als ein vor Jahren abgewanderter Masure zu erkennen und tritt als Sprecher aller Masuren – daheim und in der Fremde – auf. Immer wieder unterbricht er den Gang der Handlung mit Leseransprachen und Anrufungen seiner ausgewanderten Masurenbrüder: Er beschwört ihre Erinnerung an die gemeinsame Herkunft mit dem Ziel, ihr Heimatgefühl zu stärken. Von einem Deutschland-Patriotismus ist dagegen nie die Rede, im Gegenteil zeigt sich eine gewisse Reserviertheit gegenüber dem Verhalten der „Regierung“. Mit diesem Wort ist immer die preußisch-deutsche Regierung gemeint, von der ja der Eisenbahnbau ausgegangen ist. Sichtlich verkündet die Erzählerfigur den Autorenstandpunkt. Es ist für mich aber eine offene Frage, ob der junge Wiechert zu diesem Zeitpunkt tatsächlich die sozialen Umbrüche in seiner masurischen Heimat selber so deutlich wahrgenommen hat, oder ob es sich eher um eine angelesene Ideologie gehandelt hat. Jedenfalls hat er diese Fragestellung offenbar bald wieder beiseite gelegt, denn sie hat in seinem weiteren Werk keine Spuren hinterlassen. 3. Auf der Ebene der Realhandlung bemüht sich Wiechert ausgesprochen um Milieutreue, was man generell von seinen Romanen und Erzählungen nicht sagen kann. Beschrieben wird nicht nur die Landschaft, sondern auch – und zum Teil recht anschaulich – Wohnraum, Stall und elende Hütte, sowie das Verhalten und die Sprechweise der Landbewohner, deren Dialekt angedeutet wird. Dabei gelingen dem jungen Wiechert manchmal eindrucksvolle Szenen von leiser Komik, wie man sie später bei ihm nur selten findet. Freilich wirkt die Beschreibung des ,typisch Masurischen‘ auch oft klischeehaft, zumal des-

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sen Merkmale stereotyp wiederholt werden: Die Masuren – egal ob sie Hoferben sind oder ob zum Gesinde gehörig – sind gekennzeichnet durch dunkle Augen und gesenkten Blick, den sie nur selten, in den wirklich großen Momenten des Lebens heben, um sich gegenseitig fest in die treuen Augen zu sehen. Sie haben stets die Hände in den Hosentaschen. Vom Temperament her sind sie schwermütig, und vor allem sind sie faul: Sie lieben die Arbeit nicht und üben sie nur aus, wenn es gar nicht anders geht. 4. Das Merkmal der ,Faulheit‘ ist wichtig, denn die ,Arbeit‘ nimmt in diesem Roman eine Zwitterstellung ein. Die masurische Arbeitsunlust wird vom Autor nicht von vornherein negativ aufgefasst – er verleiht ihr vielmehr streckenweise einen ironisch getönten Kultstatus. Das zeigt sich am auffälligsten in einer halb symbolisch, halb satirisch eingefärbten Szene: Als der Knecht Jan Skupch von der baldigen Heimkehr seines Herrn erfuhr, war er angesichts seiner eigenen jahrelangen Bummelei unruhig geworden und hatte mit dem Pflug im Heideland eine Furche umgebrochen. Fred Buchen bemerkt kopfschüttelnd dieses Ackerfragment und den liegengebliebenen Pflug. Doch er fordert Jan nicht etwa auf, sein Werk fortzuführen, sondern er verlangt von ihm, die Furche wieder zuzuwerfen. Denn der Boden soll nicht bearbeitet werden, und die Heide soll bis in den Hausflur hineinwachsen. Im Lichte dieses Vorfalls erweist sich Fred Buchens langwährende Untätigkeit, aus der ihn seine Freunde aufrütteln wollen, nicht nur als eine Folge krankhafter Depression – es steckt darin auch eine grundsätzliche Haltung: Das typische introvertierte Vor-sich-Hinstarren des Masuren markiert auch Widerständigkeit – nämlich seine Nichtunterwerfung unter Arbeitszwänge. Faulheit gehört zu dem Zauber, den das heimatliche Masurenland ausübt – würde man den Boden bebauen, wäre die Schönheit der Natur ebenso dahin wie die Schrumpfform von Muße und Verpflichtungslosigkeit, die sich seine Bewohner hatten erhalten können. Das ergibt einen unüberbrückbaren Widerspruch zu der Tatsache, dass die Faulheit der Masuren von Freds Freunden als eine wichtige Ursache für den Untergang des Masurenlandes erkannt wird: Die echten Masuren verlieren infolge selbstverschuldeter Misswirtschaft ihre Höfe und müssen ihr Land verlassen – während mit den einwandernden Deutschen aus dem Reichsgebiet ein kalter, berechnender Menschenschlag seinen Einzug hält, der die Landschaft durch Bewirtschaftung zerstört. Es wird im Roman nicht recht vermittelt, wieso Fred sich angesichts dieser Widersinnigkeit so problemlos dazu bekehren

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lässt, eine „Arbeit für die Heimat“ als masurisches Rettungsprojekt und als „heilige“ Lebensaufgabe zu akzeptieren. Der Autor freilich hat die Aporie offenbar klar erkannt, denn er lässt seine Hauptfigur an dieser Aufgabe zerbrechen. 5. Der große Raum, welchen die religiöse Frage und das Verhältnis zur christlichen Kirche im Roman einnehmen, deutet darauf hin, dass die weltanschaulichen Auseinandersetzungen des jungen Studenten Wiechert heftig waren. Dabei verblüfft, dass die Fragestellung schon so früh denselben Umriss hat wie in den späteren Romanen und Erzählungen Wiecherts: Bei der Hauptfigur Fred Buchen ebenso wie bei Pfarrer Hellwig entstehen Zweifel an der Existenz Gottes und der Stimmigkeit der Erlöserbotschaft vor allem dadurch, dass Gott ein solches Maß an Elend zulässt. Doch abgesehen von der theologischen Fragwürdigkeit einer solchen Argumentation kommt man in diesem Falle als Leser nicht umhin, die Disproportionen wahrzunehmen, die sich zwischen der Vehemenz der religiösen Auflehnung einerseits und ihren eher randständigen Anlässen auftun: Das Leid der Hauptfigur besteht, nüchtern betrachtet, größtenteils aus Liebeskummer, und zu einem kleineren Teil noch aus der Tatsache, dass man die Abwanderung der Masuren aus ihrer Heimat nicht stoppen kann. Im Gegensatz zu den späteren Texten Wiecherts, in denen es um weitaus höhere Beträge – um ernste soziale Not und schwere Kriegsfolgen – geht, wirkt das Pathos der Figuren des Buchenhgel bei ihrem Aufstand gegen Gott ziemlich unangemessen und unfreiwillig komisch. Dennoch kommt es mir so vor, als ob die eigentlichen Ausgangspunkte für die behauptete Abwendung vom Christentum dadurch sogar noch deutlicher durchschimmern: Glauben und Arbeit für die Heimat sind in der Vorstellung des Pfarrers fest verkoppelt. Der Glaube ist sozusagen der Garant dafür, dass die Welt in Ordnung ist oder jedenfalls in Ordnung zu bringen ist – und so bricht der Glaube zusammen, wenn die bisher geordnete Welt unheilbar auseinanderfällt. Nachdem sich Fred Buchen die Auffassungen von Pfarrer Hellwig zu Eigen gemacht hat, unternimmt er ungeheure Anstrengungen, um am Glauben festhalten zu können – auch noch nach dem Tod von Frau und Kind. Erst als der Pfarrer aufgibt, fällt auch sein Glaube wieder in sich zusammen. Offenbar hatte die christliche Ethik zu diesem Zeitpunkt wenig Hilfen anzubieten für das Alltagsverhalten in einer geschichtlichen Situation, in der überkommene Sozialstrukturen und die damit verbundenen

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Wertvorstellungen sich auflösten, und die Individuen sich diesem Vorgang gegenüber handlungsunfähig fühlten. 6. Literarhistorisch gesehen ist dieser in den Jahren 1906/7 entstandene Roman, was seine Motivik und literarischen Mittel betrifft, ein Buch des 19. Jahrhunderts. Die Gedichte Lenaus liegen nicht zufällig auf dem Schreibtisch des angehenden Dichters Fred Buchen: Das Lob des Nichtstuns, die Naturschwärmerei, die Verschränkung von Realität und Phantasiewelt sowie das Motiv vom Leben als Traum verweisen auf die Neoromantik. Gleichzeitig plaziert sich Wiechert aber auch ausdrücklich und auffällig in den aktuellen Konflikten und Diskussionen seiner Gegenwart: Höfesterben und Landflucht, Verstädterung und unaufhaltsamer technischer Fortschritt gehören zu den brennenden sozialen Themen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Frage, ob sich ein Kompromiss mit den Kräften des technischen Fortschritts finden und eine Milderung ihrer verheerenden Folgen erreichen lässt, bewegt die Öffentlichkeit und wird besonders in der nationalkonservativen und in der Heimatliteratur erörtert. Gustav Frenssen, auf den sich Wiechert seiner eigenen Aussage nach beim Schreiben bezogen hatte, hat in seinem 1901 erschienenen Buch nach einer Kompromisslösung gesucht und für sie plädiert: Sein Roman Jçrn Uhl erzählt die Geschichte eines Bauernsohnes, der noch im Knabenalter die Verantwortung für die Wirtschaft übernimmt, die sein trunksüchtiger Vater verkommen lässt. Unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse muss er den Hof, den er schon wieder hochgebracht hatte, dann doch wieder aufgeben. Er kehrt aber nach einem zäh durchgestandenen technischen Studium zurück, um als Deichmeister in den Dienst an der Heimat zu treten. Einen ähnlichen Kompromissversuch erörtert auch Wiechert, wenn er seine Hauptfigur zur „Arbeit für die Heimat“ antreten lässt. Es ist jedoch charakteristisch, dass er im zweiten Teil des Romans den Konflikt bis zur Unlösbarkeit zuspitzt. Im Gegensatz und in Polemik zu Frenssen lässt er seinen Helden auf doppelte Weise scheitern: Weder sind die Vertreter des Fortschritts ihrerseits verständnisvoll genug, um andere Belange als ihre eigenen ökonomische Interessen in Betracht zu ziehen und Varianten oder Kompromisse auch nur zu erwägen; noch bliebe Masuren, was es war, wenn man es irgendeinem – und sei es einem gemäßigten – Nützlichkeitsdenken unterwirft. Die Lösung für die Hauptfigur ist Wahnsinn und Tod. Was von Masuren bleibt, ist das Geisterreich, das zugleich das Reich der Poesie repräsentiert.

Leseproben aus Der Buchenhgel 1 Geisterreigen Vor grauen, grauen Tagen war es, vor alter, alter Zeit. Da stieg eine Sommernacht zu dem Lande hernieder, wo die Einsamkeit wohnt, in Wald und Heide, an Schilf und See. Eine Sommernacht war es, weich und lieblich wie wenige. Langsamer zog sogar der Mond seine Straße und der Wald hatte seinen schwarzen Mantel nur lose übergeworfen, dass man weit hineinsehen konnte zwischen seinen Stämmen. Herrlich und lieblich wie wenige war die Nacht. Es war schon spät, und doch saß noch die Einsamkeit auf ihrem Uferhügel und ließ sich berieseln von den süßen Silberfäden aus der Mondenschale. Hüte dich, o Einsamkeit, hüte dich! Es schläft der Wald, aber die Heide schläft nicht! Auf der Heide zog es heran. Goldne Locken, blaue Augen, Lautenklänge und Träumerei und Poesie. Ein Wanderer war es, der im Gesange über die Heide schritt. Sein Mantel streifte über die Erika, der ganze Duft blieb an ihm hangen, sein Auge glänzte zum Mondenlicht empor, und sein Strahlen blieb darin, sein Herz lauschte dem Lied der Einsamkeit, und es klang aus seinen Saiten wieder. Und dann war er am Walde, und der Wald erwachte. Wie der Gesang des Wanderers ihm in die Seele drang! Der Wald singt so gerne, zu jeder Stunde dringt ihm sein Lied aus der Kehle, sogar im Schlafe flüstert er. Er lauschte und lauschte und dann fiel er ein und sang mit, und der Wanderer dachte, dass es das Echo wäre, aber es war der Wald, der sang und kaum daran dachte, die Einsamkeit zu warnen. Die lauschte still auf ihrem Uferhügel.

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Der handschriftliche Text befindet sich im Archiv des Museums Stadt Königsberg in Duisburg.

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Leseproben aus Der Buchenhügel

Wie schnell war sie sonst zum See gestiegen, wenn ein Ton des Lebens durch die Wälder zog, wie langsam richtete sie sich jetzt auf, wie widerstrebend gab sie sich den Händen des Sees! Wanderer der Heide, wie ergreifend ist dein Lied! Nun saß er auf dem Hügel, wo die Einsamkeit gesessen hatte. Er schwieg. Der Duft ihrer Gewänder umschwebte ihn und zog ihm gleich einem frommen Schauer durch die Seele. Er legte die Laute ins Gras und faltete still die Hände. Das alles sah die Einsamkeit vom Grunde des Sees. Und es geschah etwas Wunderbares. Sie, die durch ihre Feinde von der letzten Burg getrieben war, sie betrachtete den stillen Menschen, der mit gefalteten Händen in das Mondlicht sah, und sie sprach vor sich hin: „Wie gut er ist und wie schön und wie still!“ Wanderer der Heide, wie ergreifend ist dein Bild! Lange sah die Einsamkeit zu dem Menschen empor, dann eilte sie fort, auf dem Grunde des Sees. Weit, unter der Erde fort, zog sich sein Reich, nur zuweilen blickt eins seiner vielen Augen hinauf in die Welt. Zu einem solchen eilte die Einsamkeit. Dort wohnt das Glück. Eine Frauengestalt war sie wie jene, aber ihre Züge waren nicht still, sie hatte schöne Augen, aber es war kein reiner Friede in ihnen, sie hatte weiße Gewänder, aber sie waren nicht weich und wallend, sondern leicht und duftig, und ihre schönen Glieder schimmerten hindurch. Tief auf dem Grunde des Sees wohnte das Glück. Es hatte eine große Anzahl lieblicher Kinder. Die standen da, wo die Heide zu Füßen des Waldes lag und seinem Gesange lauschte. Rund um den See standen sie. Und mitunter in der Nacht, da ereignete es sich, dass Menschenkinder zu dem Walde gezogen kamen, mit bleichen Gesichtern und traurigen Augen. Dann nahmen die Kinder des Glücks sie bei der Hand und führten sie zum See. Unter dem Spiegel der Flut stand aber das Glück und lockte mit weißen Armen. Und die Menschen mit den bleichen Gesichtern und den traurigen Augen fühlten eine Sehnsucht im Herzen, die trieb sie Schritt vor Schritt in die Wasser. Und Schritt vor Schritt wich die Frauengestalt zurück, bis die Wellen sich über den Suchenden geschlossen hatten. Dann nahm das Glück sie an ihre warme Brust und ging mit ihnen zu dem stillen Reiche der Seligkeit, und Friede und Vergessenheit des Todes hatte sich über den Versunkenen geschlossen.

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Aber nicht alle steigen zur Flut. Manche schaudern zurück und eilen wieder aus dem Walde heraus. Doch bevor sie wieder die Heide betreten, drängt sich eines der Kinder des Glücks an ihre Seite, und sie fühlen warme Lippen auf den ihren. Aber es ist ein Kuss der Vergessenheit und der Wehmut. Sie vergessen, dass sie am See gewesen sind und müssen weiterwandern, um zu suchen. Und nach Jahren vielleicht kehren sie zurück, mit bleichen Gesichtern und traurigen Augen, und stehen wieder an der Flut und sehen das Frauenbild winken, und jetzt vielleicht steigen sie hinein, aber auch jetzt nicht immer. Noch einmal wandern sie vielleicht zurück, von dem Kusse der Wehmut berührt. Aber alle kehren sie einmal ein, zu dem Walde und zu der Flut, denn es ist der Eingang zum Reiche des Todes. Eine mächtige Zauberin ist das Glück. Ein weißer Schleier ruht an ihrem Busen, und wenn sie ihre Hand darauf legt und einen Wunsch spricht, so geht er in Erfüllung. Diesen Schleier zu holen, war die Einsamkeit zum Reiche des Glückes gewandert. Sie lieben sich nicht sehr, die beiden, aber wenn sie sich in den Wogen begegnen, so grüßen sie einander voll Achtung, und sie erfüllen sich gern einen Wunsch. Und so lächelt die Frau des Glückes mild, als die Einsamkeit bittend vor ihr steht, und sie streift mit ihrem Schleier die Hand der Bittenden und spricht ein Zauberwort dabei, und die Einsamkeit dankt voll Herzlichkeit, denn nun hat sie einen Wunsch und seine Erfüllung frei. Froh eilt sie zurück. An dem Uferhügel saß noch immer der Wanderer der Heide, noch immer still und mit gefalteten Händen. Da rauschten vor ihm die Wasser, und die Einsamkeit trat ans Land. Und sie stand vor ihm still und sagte zu ihm: „Wanderer der Heide, ich grüße dich! Ich bin die Einsamkeit. Dein Lied und dein Bild, sie haben mir das Herz bezwungen. Sprich einen Wunsch, und es soll dir Erfüllung werden!“ Da sagte der Wanderer: Einsamkeit, ich danke dir! Am liebsten würde ich bei dir bleiben und mit dir leben, denn ich liebe dich, aber das kann nicht sein, denn du bist nicht aus unserem Geschlechte. So höre denn: Ich bin Ernst Buchen, und mein Leben ist Wandern und Träumen und Gesang. So gib mir denn hier, nahe deinem Lande, Hof und Heimat. Auf einem Hügel soll mein Haus stehen, und das Schilfdach soll bis an die Fenster reichen,

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und die Abendsonne soll darin wohnen. Und die Buche, die Stammmutter meines Hauses, sie soll daneben stehen und an ihrer Brust, in ihrem Arm soll mein Heim liegen. Und die Heide, die liebe Heide soll vor meine Tür kommen und mir in die Fenster sehen mit ihren treuen, blauen Augen. Und hinter ihr soll der Wald stehen und ihr sein Lied singen, rund um meinen Hof, nur an einer Stelle, da soll er ihr ein Tor lassen, wo sie hinaus kann und sich dehnen und strecken, soweit das Auge reicht. Und über der Heide, da sollen die Lerchen singen, und über dem Walde, da sollen die Adler kreisen, und über das Land, da soll dein Atem gehen, durch Heide und Wald, da soll dein Gewand gehen, da soll dein Fuß wandeln, da soll dein Blick träumen, in süßem Frieden, o Einsamkeit! Also sprach der Wanderer der Heide. Stumm hatte die Einsamkeit seinen Worten gelauscht, nun schlang sie ihren Arm um seinen Nacken und zog ihn empor zu sich und sprach: „So komm!“ In den Wald schritten sie hinein. Der Wald war erwacht und flüsterte erstaunt, denn noch nie hatte er die Einsamkeit mit einem Menschen gesehen. Aber er machte Platz, wo die beiden durchkamen, und ging mit, bis sie zu einer Höhe kamen. Dann trat er zurück. Eine freie Höhe war es, in der Ferne nur zogen sich junge Schonungen in grünen Kreisen um den Berg. Verschwenderisch hatte der Mond sein Silber auf der freien Fläche ausgegossen, und noch immer ließ er es am Waldrande herabrieseln. Da sprach die Einsamkeit: „Ernst Buchen, dein Wunsch sei dir gewährt! Hier ruhe du die Nacht, und am Morgen, wenn die Sonne über dein Antlitz den Berg hinauf wandelt, dann gehe ihren Strahlen nach, und du wirst deine Heimat erreichen, und Wald und Heide werden dich an der Tür empfangen. Dort wirst du dann in Frieden leben, und du wirst dir ein Weib nehmen und wirst sterben, und dein Sohn wird träumen, wo die Lerchen singen und die Adler kreisen. Und so wird es weitergehen, lange, lange. Und mein Atem wird dein Geschlecht umschweben bis zum Tode, aber nie werde ich einem von euch in dieser Gestalt erscheinen, bis der Letzte deines Hauses vom Buchenhügel über die Heide blicken wird. Für dich aber, Ernst Buchen, will ich beten. Ich werde von dir gehen und dann wirst du Glockenklang durch die Luft kommen hören; dann wisse, es ist mein Gebet auf der Laute meiner Heimat, mein Gebet für dein Leben! Nie wird einer

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von euch diesen Klang mehr hören, so viele es auch sagen werden, bis wieder der Letzte deines Hauses vom Buchenhügel über die Heide blicken wird. Und bevor ich von dir gehe, Ernst Buchen, da will ich dich küssen, einmal dein Herz an meinem schlagen lassen, bevor ich scheide. Und wieder erst wird der letzte deines Stammes diese Seligkeit fühlen, denn er wird mein Geliebter sein. Er wird die Glocken hören, er wird mein Antlitz sehen, er wird an meinem Herzen ruhen, und wir werden beide sterben!“ Da beugte die Einsamkeit ihr Haupt und küsste die Lippen des Wanderers der Heide. „Lebe wohl, Ernst Buchen, lebe wohl!“ Und dann ging sie. Ihr weißes Gewand leuchtete durch den Wald, dort war es zwischen den Stämmen, dort noch einmal, dann ließ der Wald seinen schwarzen Mantel fallen und bedeckte ihren Pfad. Und dann hob sich ein tiefer Glockenklang und schwebte über das schweigende Land und drang dem in die Seele, der auf dem Berge saß und über die Wälder unter seinen Fuß blickte.

Herr und Knecht in Masuren Als Fred Buchen am nächsten Morgen auf dem Hofe stand, war eine Ruhe Gottes in der Welt. Da steckte er die Hände in die Taschen und ging hinaus. Und wie er draußen war sah er, dass sich rund um den Hof durch die blühende Heide eine schwarze Furche zog, wie eine Falte des Kummers durch ein schönes Antlitz. Und am Ende stand noch der Pflug. Da senkte er die Augen ins Heidekraut und ging mit langsamen Schritten zu Jan Skupch. Auf dem Hofe aber stand Gina Bojar und sah ihm mit ernsten Augen nach und sagte: „Hände in den Taschen und Augen runter – ganz ein Masure, ganz ein Buchen.“ Wo hinter dem Buchenhügel der Wald zurücktritt, um die Heide vorbeizulassen, da wohnt Jan Skupch. Ein kleines Haus steht da und eine kleine Scheune, schmutzig und verfallen. Immer sitzt Jan Skupch auf der Bank vor der Türe und raucht und sieht nach Osten, wo hinter dunklen Wäldern der Spirding liegt und denkt

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an seine verlorene Heimat, und ob der Zigarrenstummel ihm aus dem Munde fällt, er hebt ihn nicht auf. Und wie gerne raucht er dabei! Jetzt kommt Fred Buchen mit langsamern Schritten über die Heide, und Jan Skupch steht auf und nimmt die Hände aus den Taschen, und er ist doch ein Masure! „Morgen, Skupch!“ „Na, guten Morgen, junger Herr!“ Ein kleines Zittern in der Stimme – Jan Skupch, wie bist du treu! Dann sitzen sie beide auf der Bank vor der Türe und sehen nach Osten. „Na, Skupch, wie war denn mit Ihnen, in der ganzen Zeit? Immer gut?“ „Na, das war so, junger Herr. Erst ging das Jahr. Aber dann starb einer nach dem andern auf dem Hof, und dann war das so anders. Wenn ich dann abends auf den Hof kam und alles war dann so ganz still, da dacht ich denn, warum ist das bloß so gekommen? Es hätt doch alles gut sein können. Da hab ich dann manchmal mit der Gina Bojar lang in der Küche gesessen, und gar nichts haben wir gesagt, kein Wort. Aber wenn ich dann aufstand und nahm meine Mütze und ging raus, dann hatten wir doch nasse Augen. Das ging dann die ganze Zeit so. Und einmal komm ich auf den Hof und steht die Gina Bojar an der Tür und sagt zu mit: ,Skupch, der junge Herr kommt!‘ Da war mir dann in der Brust, ich dacht, schreien muß ich, solche Freude! Und da haben dann auch an dem Abend die Rappen kein Futter bekommen. Solche Freude!“ „Ja, ja, Skupch. Und die Frau und die Kinder?“ „Na, das ist ja so, junger Herr. Die Frau, jeden Abend Schrein und Schimpfen. Und dann die Lowise, noch immer kein Wort, und die Male bloß so manchmal ,Vater‘. Aber sonst immer kranken Verstand.“ „Ja, Ja, Skupch. Na, und sonst?“ „Na, sonst ist das so. Einmal war ich am Spirding. Den ganzen Tag bin ich gegangen. Und dann habe ich rübergesehen, aber der Stall hatte schon ein neues Dach und die Fichten waren auch weg, na, und dann auch neue Leute überall. Da bin ich wieder umgekehrt. Aber – aber – geweint hab ich doch, Herr!“ „Ja, Skupch, es ist schwer. Na, und mit dem Arbeiten?“ „Ja, Herr, mit dem Arbeiten Zuerst ging ich noch, mal zum Baginski Dachdecken und mal zum Jedanzik den Stall weißen und auch mal in den Wald, aber dann, Herr,

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dann sah ich den Herrn auf dem Hof, und dann dacht ich: ,Lass man sein, Skupch. Deine Herrschaft ist schon hier, solang die Bäume wachsen, und es geht nicht, und du, du bist alt, und am Spirding sind die Fichten weggehauen – lass man sein, mit dir wird das erst recht nichts.‘ Da hab ich dann sein gelassen, und bloß den Hof bewacht, und hier auf der Bank gesessen. Manchmal, wenn dann kein Brot ist und die Kartoffeln schlecht wachsen, na dann geh ich ja jetzt noch auf Arbeit.“ „Ja, ja, Skupch – na, es wird schon werden, jetzt bin ich ja zu Hause.“ „Naja, junger Herr – jetzt ja.“ „Na, denn adieu, Skupch!“ „Na, adje, junger Herr!“ Fred Buchen steckte die Hände in die Taschen und ging langsam über die Heide. „Ach so, Ja, Skupch. Wenn Sie nachher Zeit haben, dann nehmen Sie einen Spaten und drehen Sie man die Furche wieder um, dass nichts vom Schwarzen zu sehen ist.“ „Na, ja, ja, junger Herr!“ Langsam ging Fred Buchen in den Wald.

Eine Masuren-Ansprache des Erzählers Masuren, Brüder meines Landes, die ihr, fern der Heimat, über die Fluren der Erde verstreut seid, die ihr den blauen Himmel sich über das göttliche Neapel spannen seht, die ihr die Wellen des Ebro unter Kastanien rauschen hört, die ihr, hoch auf ewigem Eise die Sonne grüßt, die ihr in himmlischem Mondlicht die Lotosblume hinaufzittern seht und die ihr mit tiefen Augen die blaue Unendlichkeit des Meeres überschaut, Brüder meines Landes, Kinder meiner Heimat, wenn ihr einmal, einmal nur mit weit offenem Herzen über unsere Heiden im Purpurkleide und im Silberschleier der Braut gewandert seid, wenn ihr einmal von unseren Höhen über das grüne Meer der alten Wälder, die kein Sturm noch beugte, gesehen habt, wenn euch einmal aus märchenstillen Seen das Licht des Mondes grüßte und euch einmal der Hauch der Einsamkeit streifte, die durch unsere Lande wandelt – Masuren, euch alle mit den tiefen Augen und den treuen Herzen, rufe ich und frage ich: „Seid ihr glücklich?“ „Nein! Tausendmal Nein!“ höre ich euch rufen und sehe eure traurigen Augen und eure kranken Herzen und die Tränen des Heimwehs, die ihr weint!

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Wie der Baum, aus seiner Erde in fremde Zonen gebracht, dahinwelkt, so verblutet ihr an euren Schmerzen. Das Leben wirft euch hin und her, von Schönheit zu Schönheit, von Kummer zum Grame, und ihr behaltet eure dunkeln Augen. Durch alle Hürden des Lebens, durch jedes Gefühl des Daseins reckt sich der düstere Schatten und gräbt euer Herz auf und bleicht eure Wangen – unstillbares, unerfüllbares Heimweh! Ihr Seligen, die ihr draußen im Dunkel lebtet und nun endlich heimkehrt zur Brust der Heimat – wie presst ihr sie an das Herz! Jahre der Trauer zogen durch eure Seele, Stürme des Schmerzes durch eure Brust, nun seid ihr daheim, nun kommt es, dass die Heimat Besitz ergreift von eurer Seele wie die Sonne von einem Frühlingsland, wie der Regen von einer Wüste, dass sie zu euch spricht mit tausend Stimmen, dass sie um euch ist wie der Engel Gottes. Aber seid stark, die ihr heimkehrt und durch die Wälder eures Landes zieht! Es ist ein Land der Einsamkeit, und es ist ein Land der Schönheit, aber es ist auch ein Land der Schwermut! Denn es hat eine Vergangenheit der Größe und eine Gegenwart des Alterns und eine Zukunft des Dunkels. Masurenland, mein Heimatland, wie naht mir deine vergangene Größe! Gleich dem Riesenschatten einer Wolke auf ebener Heide naht sie mir und wandelt vorüber und schwindet. Wie seh ich den polnischen Adler über deiner Heide ziehn, wie seh ich das stolze Auge der Littauerfürsten durch deine dunklen Wälder spähen, wie seh ich das Kreuz des Ritterordens über deinen Fluren schweben. Und wie seh ich dann die Jahrhunderte, wo auf deinem teuren Boden die Einsamkeit herrschte und Ernst Buchen seine Heimat erhielt, unter den Klängen ihres Gebetes! Masurenland, großes Land, wie warst du schön, als von deinen Bergen unsere Väter mit stolzen Augen über die Wälder blickten! Und es hat eine Gegenwart des Alterns. Es altert die Einsamkeit und singt ihr Trauerlied, und das Leben zieht lauter Straßen, und einsame Menschen gehen über die Heide, die Hände in den Taschen und die traurigen Augen im Heidekraut und denken der Vergangenheit der Größe und der Zukunft des Dunkels. Ihr Seligen, die ihr zurückkehrt aus dem Dunkel da Draußen in das Land eurer Kindheit, ihr Wenigen, die ihr unter dem Mantel der Heimat wohnt, seid stark! Ihr echten Söhne Masurens, ihr Wenigen, die ihr in euren Herzen die Poesie tragt, denen die Wälder Märchen sagen, denen die Heide Lieder

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singt, denen aus Wellen stiller Seeen ferne Gesichter steigen, die ihr der Quelle des Werdens gelauscht habt und zu der Einsamkeit als zu eurer Ahnherrin seht, seid stark! Ihr seid die Sterne, die die Zukunft des Dunkels erhellen sollen, in euch liegt die Quelle, die in die Gegenwart des Alterns neue Ströme frischen Lebens gießen soll, die ihr zurückhalten sollt, was mit Klagetönen aus eurer Heimat entflieht. Nicht im Reichtum ihrer Wälder, nicht in der Heide, durch die der Pflug gehen wird, nicht in ihren Seeen, nicht in den Kohlen, die tief unter der Erde schlummern, ruht ihre Kraft, in euch ruht sie, ihr Wenigen! Geschichte vom Wilderer Fred Buchen lehnte am Tore und sah still in den Wald. „Morgen, junger Herr!“ „Guten Morgen, Skupch! Na wie gehts?“ „Na – so, junger Herr.“ Beide sahen sie in den Wald. Nach einer Weile sagte Jan Skupch: „Haben Sie schon gehört, junger Herr?“ „Was denn?“ „Nu, aus Prozywilken.“ „Nein, gar nichts. Was ist denn da?“ „Na, junger Herr, da ist nichts Gutes. Gestern Morgen denk ich: Brot ist nicht im Haus, Mehl auch nicht, wirst doch man nach Prozywilken gehn und kannst ja auch gleich mit dem Herrn Pfarrer sprechen von der Male und Lowise. Na, ich geh denn und kauf dies und das und geh auch zum Herrn Pfarrer, und um Mittagszeit geh ich denn so langsam nach Haus. Komm ich gerad da, wo der Prozystuppa wohnt, steht die Jette Kowalewska an der Tür und schält Kartoffeln. ,Haben Sie schon gehört, Skupch?‘ fragt sie. ,Nein‘, sag ich, ,Kowalewska, was ist denn?‘ ,Na,‘ sagt sie, ,den Fritz Jakubzik haben sie tot geschossen.‘ ,Mein Gott‘, sag ich, ,den Fritz Jakubzik, und ich hab ihn doch vor einer Woche im Walde gesehen!‘ ,Ja, ja‘, sagt sie, ,im Wald haben sie ihn auch geschossen.‘ Na, und da erzählt sie mir denn. Der Fritz hat schon immer im letzten Jahr im Wald gesteckt und dann mal einen Hasen gebracht und mal

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auch ein Reh, und der Pan Lescznik aus Eichhorst hat schon immer aufgepasst auf ihn und einen Verdacht gehabt. Aber es war nichts zu beweisen, und so ging das denn weiter. Und vorgestern, da ist er dann wieder in den Wald gegangen und hat ein Reh geschossen, und da ist der Herr Förster hinterm Baum vorgesprungen und hat gerufen: ,Flinte weg!‘ Und der Fritz hat gerad am Reh gekniet und noch die Flinte in der Hand gehabt, und wie er hört: ,Flinte weg‘, da springt er auf, und dann hat er wohl angelegt, und da hat dann der Herr Förster geschossen, und wie er schießt, liegt der Fritz Jakubzik auf der Erde und hat man noch paar mal gestöhnt und ist tot gewesen. Und die Frau, die liegt im Bett, an der Lunge, und vier kleine Kinder, die sind nach. Und – da wollt ich denn fragen, ob der junge Herr nicht hinmachen möcht. Der Jakubzik hat vor paar Jahren noch beim Herrn gearbeitet und war auch so ganz vernünftig und nun die Frau, die kann ja nun auch nicht dafür, und die Kinder, die wollen doch alle essen. Ich dacht man so, junger Herr, ob Sie nicht hinmöchten –„ „Ja, ja, Skupch, ich werd gleich hin – nein, nein, nicht anspannen, ich geh zu Fuß – – Muß der ihn auch gerade im Walde mit dem Reh treffen – und die Frau?“

Mahnung zur Menschlichkeit Ernst Wiecherts Novelle „Die Gebärde“1

matthias bttner Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt der heute fast in Vergessenheit geratene Dichter Ernst Wiechert (1887 – 1950) – besonders im Ausland – als moralische Autorität, als Vertreter eines ,anderen Deutschland‘. Noch bis in die 1960er Jahre hinein wurden seine Romane (vor allem Die Magd des Jrgen Doskocil, Die Majorin, Das einfache Leben, Die Jeromin-Kinder sowie Missa sine nomine), aber auch seine Novellen und Erzählungen viel gelesen, dann ist es sehr schnell still geworden um ihn. In zwei Reden vor Studenten der Münchener Universität2 hatte er in den Jahren 1933 und 1935 im Namen der Humanität mahnend und warnend seine Stimme erhoben gegen die nationalsozialistische Diktatur, deren wahres Gesicht immer deutlicher zum Vorschein kam, gegen Brutalität und Barbarei, gegen die totale Vereinnahmung des Individuums. Dem Hass und der Gewalt setzt er in diesen Reden die Furchtlosigkeit und die Demut entgegen. Wiechert vertritt – ohne jeden theologischen Dogmatismus – einen ethisch fundierten, christlichen Humanismus, der durch die Botschaft der Bibel (insbesondere der Bergpredigt) entscheidend geprägt ist und die Gedanken der Nächstenliebe, der Herzensgüte und der unbestechlichen Reinheit des Gewissens in den Mittelpunkt stellt.3 1 2

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Erstdruck in: Dona sunt pulcherrima. Festschrift für Rudolf Rieks. Hg. v. Katrin Herrmann u. Klaus Geus, Oberhaid (Utopica) 2008, S. 479 – 490. Ernst Wiechert: Der Dichter und die Jugend. Der Dichter und seine Zeit. In: Ernst Wiechert: Sämtliche Werke, Wien/München/Basel 1957, Bd. 10, Vgl. S. 349 – 367 u. 368 – 380. Vgl. Klaus Weigelt: Ernst Wiecherts Reden an die Jugend. In: Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert und sein Werk. Hg. v. Bärbel Beutner u. Hans-Martin Pleßke, Frankfurt a.M. 2002, S. 59 – 86, bes. S. 66 – 69 und 70 – 73. Messing hat im Zusammenhang mit der Theodizeefrage Wiecherts Gottesbild eingehend untersucht und drei „Strömungen“ – eine neutestamentarische, eine alttestamentarische und eine pantheistische – erkannt, die in die Idee der

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Seine zunehmend kritische Haltung musste Wiechert zwangsläufig in Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern bringen, die ihn anfangs umworben hatten,4 aber schon bald erkennen mussten, dass Wiechert nicht geneigt war, sich der herrschenden Ideologie anzupassen.5 Sein öffentliches Eintreten für den inhaftierten Pastor Martin Niemöller und dessen Familie wurde offensichtlich als Kampfansage gewertet und gab letztlich wohl den Ausschlag für die Verhaftung des Dichters durch die Gestapo am 6. Mai 1938. Nachdem er auch im Polizeigefängnis München nicht bereit war, von der ihm unterstellten „staatsfeindlichen Gesinnung“ Abstand zu nehmen, wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald überführt. Sein Aufenthalt dort war von vorneherein als sogenannte „Erziehungsmaßnahme“ gedacht und daher zeitlich befristet.6 Seine Eindrücke und Erfahrungen während des

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„Unvergänglichkeit des Lebens“ einmünden. Vgl. Axel Sanjose Messing: Untersuchungen zum Werk Ernst Wiecherts. Phil. Diss. München 1987, S. 186, vgl. S. 161 – 183. Jörg Hattwig: Das Dritte Reich im Werk Ernst Wiecherts. Geschichtsdenken, Selbstverständnis und literarische Praxis. Frankfurt a. M./Bern/New York 1984, vgl. S. 12 – 28. Hattwig behauptet, „daß Wiechert in einer geistigen Tradition stand, auf der auch die Nationalsozialisten aufbauten, daß diese ihn zu Beginn ihrer faschistischen Diktatur nicht als Feind, sondern als einen Schriftsteller ansahen, der durchaus in ihrem Sinn schrieb. In dem Roman ,Der Totenwolf‘ kommt diese Nähe zum Nationalsozialismus wohl am stärksten zum Ausdruck, wird einer faschistischen Rezeption der größte Vorschub geleistet.“ (S. 12) In seinen Erinnerungen Jahre und Zeiten stellt Wiechert die öffentliche Reaktion auf seine erste Münchener Rede folgendermaßen dar: „In ihren Hauptformulierungen war sie schon unvereinbar mit dem neuen Geist, war sie eine Absage, und die Studenten belohnten sie mit einem ungewöhnlichen und ,demonstrativen‘ Beifall. Die Zeitungen wanden sich ein bißchen, und für mich war aus vielen Zeichen abzusehen, daß ich aus einem Umworbenen nun ein Beobachteter geworden war. Es war der erste Schritt, und von ihm gab es nur schwer ein Zurück. Es sollte auch keines geben. Ich hatte niemals geschwankt, und es kam nur darauf an, ob man sich in der Stille verbergen oder den Platz behaupten wollte. Und ich wollte ihn behaupten. Ich wollte nicht Kampfschriften schreiben, aber ich wollte fortfahren, meine Bücher so zu schreiben wie bisher. Nicht ,Blut und Boden‘-Bücher, aber ,Boden‘-Bücher, nur dass auf meinem Boden die Liebe wuchs und nicht der Haß oder die germanischen Götterenkel. Und daß dieser Boden so uralt war wie das erste Buch Mose.“ Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 649 – 650. Vgl. zu den Einzelheiten die konzise Biographie von Hans-Martin Pleßke: Der die Herzen bewegt. Ernst Wiechert. Dichter und Zeitzeuge aus Ostpreußen. Hamburg 2003, S. 25 – 26, sowie die akribische Gesamtdarstellung von Guido

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acht Wochen dauernden KZ-Aufenthalts hat Wiechert in seinem erschütternden Bericht Der Totenwald 7 dichterisch festgehalten, der unmittelbar nach Kriegsende veröffentlicht wurde und wie Wolfgang Langhoffs Tatsachenbericht Die Moorsoldaten (1946) oder Eugen Kogons zeitgenössische Darstellung Der SS-Staat (1946) maßgeblich zur geistigen Erneuerung in Deutschland beigetragen hat. Im Totenwald kommt auch Wiecherts Mitgefühl und Solidarität mit den Juden – nicht zuletzt in der drastischen Darstellung ihrer Leiden – deutlich zum Ausdruck. Die Juden bilden zwar nur eine Gruppe von Häftlingen neben vielen anderen,8 doch erfahren sie eine besonders menschenverachtende und grausame Behandlung.9 Auch in anderen Werken zeichnet der Dichter von den Juden, die unter antisemitischer Demütigung und Verfolgung zu leiden haben, ein Bild, das von Mitleid und Sympathie geprägt ist. Als wichtige Beispiele in Wiecherts Romanen sind zu nennen: der jüdische Student Perlmutter und Johannes’ Kriegskamerad Megai in Jedermann, der jüdische Arzt Dr. Lawrenz in den Jeromin-Kindern sowie der jüdische Kleinhändler Jakob in der Missa sine nomine. In den autobiographischen Werken Wlder und Menschen und Jahre und Zeiten begegnet uns eine Vielzahl von jüdischen Freunden und Bekannten, die Wiechert besonders geschätzt hat (z. B. der berühmte Berliner Internist Prof. Kurt Henius oder der Schriftsteller Max Picard). Bei einer systematischen Untersuchung stellt sich heraus, „daß hinsichtlich jüdischer Gestalten bei Ernst Wiechert Einklang besteht zwischen konkretem Erleben und Umgang einerseits und dichterischer Darstellung andererseits (…).“10

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Reiner: Ernst Wiechert im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Paris 1974, S. 93 – 135. Ernst Wiechert: Der Totenwald. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, vgl. S. 197 – 329. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, vgl. S. 265 – 266 u. 296 – 298. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, vgl. S. 258, 271, 272 – 273, 288, sowie Jürgen Fangmeier „Juden bei Ernst Wiechert“ und „Keinen Keil zwischen Wiechert und die Juden“, in: Von bleibenden Dingen, S. 133 – 147 u. S. 149 – 153. Fangmeier untersucht Wiecherts Äußerungen über Juden in seinen autobiographischen und dichterischen Werken und verteidigt ihn gegen einen von Manfred Franke erhobenen Vorwurf antijudaistischen Denkens, der eine missverständlich formulierte Textstelle im Totenwald ohne Rücksicht auf die konditionale Sinnrichtung und den Kontext missdeutet und falsche Schlüsse zieht. Fangmeier, Juden bei Ernst Wiechert, S. 144.

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Persönliche Erfahrung scheint auch den Hintergrund zu Wiecherts Novelle „Die Gebärde“ zu bilden, die im Jahre 1946 zusammen mit der Erzählung „Der Fremde“ im Max Rascher Verlag (Zürich) erschienen ist. In der Gesamtausgabe der Werke Wiecherts wird die Novelle bereits auf das Jahr 1932 datiert.11 Ein Erstabdruck ist jedoch nicht belegt.12 Die Novelle „Die Gebärde“, die mir nicht nur für Wiecherts Sprache und Erzählkunst, sondern auch für sein moralisches Anliegen13 charakteristisch zu sein scheint, soll im Folgenden unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden.

Rahmen- und Binnenhandlung Dem Text der Novelle, die in der Gesamtausgabe acht Druckseiten umfasst, hat Wiechert mit den Worten „Liebet euch untereinander!“ ein Bibelzitat14 vorangestellt und damit die grundsätzliche Botschaft des Textes in appellativer Form vorweggenommen. Der erste Satz führt 11 Vgl. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 605, sowie Guido Reiner: ErnstWiechert-Bibliographie 1916 – 1971 (Teil 1). Werke, Übersetzungen, Monographien und Dissertationen mit kritisch-analytischen Kurzbesprechungen, Paris 1972, Nr. 147. 12 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Dr. Guido Reiner S.J., der die frühe Datierung der Novelle in Zweifel zieht und es für möglich hält, dass die Novelle erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. 13 Vgl. dazu insbesondere Wiecherts eigene Ausführungen in Kap. 15 seiner Erinnerungen Jahre und Zeiten sowie Bärbel Beutner: Das moralische Gesetz im Werke Ernst Wiecherts. In: Von bleibenden Dingen, S. 155 – 174. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Leben und Werk Ernst Wiecherts ist nach wie vor die vierbändige „Ernst-Wiechert-Bibliographie“ von Guido Reiner (Paris 1972 – 82) – nicht zuletzt als Quellensammlung – von grundlegender Bedeutung. Einen guten Einblick in den Forschungsstand zum Werk Ernst Wiecherts vermittelt Messing, der auch die wichtigste Sekundärliteratur zu zentralen Aspekten (Natur, zwischenmenschliche Beziehungen, Gesellschaft und Religion) kurz referiert. Messing, Untersuchungen, vgl. S. 15 – 64. 14 Joh 13, 34: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebet einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (zit. nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, Stuttgart 2004). „Das ,neue‘ Gebot, die Bruderliebe nach dem Vorbild der Liebe Jesu bis zum Tod, überbietet das alttestamentliche Gesetz (vgl. Lev 19,18). Die Erfüllung dieses Gebots wird zum kennzeichnenden Merkmal der Jünger Jesu.“ (= Kommentar zu Joh 13, 34, ebd. S. 1202).

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unvermittelt in die Situation der Rahmenhandlung hinein, weckt die Neugierde des Lesers und kündigt die Binnenhandlung an: „Es war ein nichtiger Anlaß, und kein andrer als der alte Doktor war imstande, eine Geschichte daran zu knüpfen.“ Was ist das für ein „nichtiger Anlaß“? Was hat es mit der Person des „alten Doktors“ und seiner „Geschichte“ auf sich? Der Erzähler versteht es, Spannung zu erzeugen und aufrecht zu erhalten, indem er den Leser über diese Zusammenhänge zunächst im Unklaren lässt. Stattdessen beginnt er aus seiner Perspektive als Gast die Atmosphäre eines „kleinen Festes“ zur Einweihung eines Kamins im Hause eines befreundeten Ehepaars zu schildern. Man sitzt nach dem Essen vor dem Kamin, blickt auf den Schein der lodernden Flammen und genießt die Wärme und Behaglichkeit, die das Feuer verbreitet. Die Frau des Hauses, für die mit der Einrichtung des Kamins ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen ist, gibt ihrer stillen Freude Ausdruck. Nur der Hausherr kann sich der allgemeinen Behaglichkeit nicht öffnen, er hängt dunklen Gedanken nach und erzählt von einer Begegnung, die er an diesem Tage gehabt hat. Als ihn ein Not leidender „stellungsloser Musiker“ ansprach und um ein Almosen bat, wies er die Bitte mit einer fadenscheinigen Ausrede zurück. Die Reue und Scham, die er nun offensichtlich für sein Verhalten empfindet, muss in dieser Stunde des harmonischen Zusammenseins wie eine Dissonanz wirken und wird von der Hausfrau als peinliche Störung mit einer wegwischenden Gebärde abgetan. An dieser Stelle, am Ende der eröffnenden Rahmenpartie, endet zwar der Spannungsbogen, den der Erzähler im ersten Satz gespannt hat, doch wird vom Doktor in einer Vorausdeutung sogleich ein neuer Spannungsbogen zum Ende der Binnenhandlung hin gespannt: Aber noch während die Hand schwebend im rötlich beglänzten Raum lag, beugte der Doktor sich vor, umschloß mit seiner alten Hand die junge, führte sie langsam den Weg der Gebärde zurück und legte sie sorgsam in den Schoß der Hausfrau nieder. „Sie dürfen das nicht tun“, sagte er leise. „Man löscht nichts aus in der Welt … es ist, als ob man ein Kind zu den Ungeborenen schieben wollte …“ […] „Das letzte Mal, als ich diese Gebärde sah“, fuhr er fort – und es sah aus, als spreche er in das Feuer hinein –, „beschloß sie das Leben eines Menschen. Seither kann ich sie nicht mehr sehen […].“15

Mit der Erinnerung des Doktors an seine Schulzeit setzt die Binnenhandlung ein. Der Doktor erzählt, dass es in seiner Klasse einen einzigen 15 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 606 – 607.

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jüdischen Schüler gab, der schon durch seinen fremdartigen Namen zum Außenseiter bestimmt war und den Hohn seiner Mitschüler auf sich zog. Eli Kaback, dessen äußere Erscheinung als „klein, schwächlich, kränklich“ beschrieben wird,16 war den fortwährenden Demütigungen und Misshandlungen seiner Mitschüler wehrlos ausgesetzt. Er nahm die Opferrolle auf sich, ohne zu klagen. Im Pausenhof spielten seine Klassenkameraden mit ihm „Judenball“,17 indem sie den Wehrlosen im Kreis brutal hin und her stießen. Niemand ergriff für Eli Partei, niemand schritt ein – nicht einmal der Aufsicht führende Lehrer, der durch sein Wegsehen die Misshandlung des Juden ignorierte. Nur in seltenen Ausnahmefällen lehnte sich Eli in ohnmächtiger Wut gegen seine Peiniger auf, die die Empörung des Opfers mit noch grausamerer Vergeltung bestraften. Zu den Mitläufern, die zwar nicht selbst gegen Eli Gewalt übten, aber dennoch das Treiben der „Meute“ „schweigend, lächelnd, mit einer Art von süßem Grauen“ ohne Widerspruch duldeten,18 muss sich voll Scham auch der Doktor selbst bekennen. Eli verließ die Schule vorzeitig mit dem ,Einjährigen‘,19 wurde Zahnarzt und geriet in Vergessenheit. Als sich die Mitschüler nach zehn Jahren zu einem Klassentreffen zusammenfanden, wurde Eli nicht eingeladen. Trotzdem erschien er – zur maßlosen Überraschung aller Anwesenden: „Er trug einen Smoking, und sein magerer, mißhandelter Körper sah wie die traurige Verkleidung eines Clowns aus.“20 Der einstige Rädelsführer Kußmaul, der Bankdirektor geworden war, ergriff das Wort, gab vor, Eli nicht zu (er)kennen, und verwies ihn mit scheinbar höflichen, in Wahrheit jedoch grenzenlos demütigenden Worten des Saales. Elis nachdrückliche Aufforderung, er möge sich entschuldigen, überging Kußmaul mit eisigem Hohn, und auf seinen Wink hin stimmte die Kapelle „mit einer schrecklichen Plötzlichkeit“ einen damals bekannten judenfeindlichen Schlager an.21 Eli zog sich nach dieser vernichtenden Demütigung langsam aus dem Saal zurück. Man lachte, man tadelte, man empörte sich. ,Geh ihm nach‘, sagte jemand, ,schnell …‘ Und in diesem Augenblick, zurückgelehnt in seinen Sessel, hob Kußmaul die Hand und löschte mit einer einzigen waagerechten Bewegung Schande, Tränen, Schuld und Mord von der Tafel der Zeit, löschte 16 17 18 19 20 21

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

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Eli Kaback aus, ein ganzes Menschenleben, und bestellte Champagner für die ganze Tafelrunde.22

Die Erzählung des Doktors findet ihren Abschluss mit der lapidaren Feststellung, dass Eli wenig später seinem Leben durch Selbstmord ein Ende gesetzt hat. Die Reaktion der Betroffenheit („,Mein Gott …‘, sagte eine leise Stimme.“) eröffnet die abschließende Rahmenpartie.23 Der Doktor lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei Elis tragischem Ende um einen „Kollektivmord“ handelte und dass seine wahren Mörder diejenigen waren, die ihn bis zuletzt immer wieder gedemütigt und misshandelt hatten24 – oder diese Demütigungen und Misshandlungen ohne Widerspruch geduldet hatten. Das endgültige „Auslöschen“ seines Lebens findet in den Augen des Doktors seinen symbolischen Ausdruck in jener vernichtenden Gebärde des Wortführers Kußmaul.25 Indem sich der Doktor am Ende noch einmal mit sanfter Mahnung an die Hausfrau wendet, schließt sich der Kreis von Rahmenund Binnenhandlung: (…) Kinder schon haben diese Gebärde, Lehrer, Staatsanwälte, Väter, Präsidenten … nur das Tier hat sie nicht … und diese Hand„ – dabei legte er [der Doktor – M.B.] seine Hand auf die der Hausfrau – “diese Hand soll sie nie wieder haben … damit ihre Kinder sie vergessen haben für alle Geschlechter …26

Leitmotive Der gesamte Handlungsverlauf der Novelle wird durch zwei einprägsame Leitmotive strukturiert und akzentuiert, die voraus- und zurückweisende symbolische Bezüge herstellen: das Leitmotiv der Hände, das mit dem Titel der Novelle aufs Engste verknüpft ist und die Einheit von 22 23 24 25 26

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 612. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 612. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 612. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 606, 607, 612. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 612. Auch die spiegelsymmetrische Struktur bei der Verfugung von Rahmen- und Binnenhandlung verdient Beachtung, weil sie den Eindruck der Geschlossenheit verstärkt: Die Gebärde der Hausfrau (eröffnende Rahmenpartie) ruft im Doktor die Erinnerung an die Gebärde Kußmauls wach (Beginn der Binnenhandlung). Seine Darstellung der Gebärde Kußmauls (Ende der Binnenhandlung) führt den Doktor zurück zur Gebärde der Hausfrau (abschließende Rahmenpartie).

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Rahmen- und Binnenhandlung betont, und das des Gesichts (insbesondere der Augen). Beiden Leitmotiven sind – soweit es sich um Gesten und Gebärden handelt27 – körpersprachliche Ausdrucksmerkmale zugeordnet. Die ruhende Haltung der Hände (in Verbindung mit dem Körper) dient eingangs der Kontrastierung, um die gegensätzliche seelische Verfassung der Charaktere28 zu signalisieren: Es brannte kein Licht im Zimmer, und wir alle hatten die Hände um die Knie gefaltet, müßige, behütete Hände, und sahen zu, wie der rote Schein über ihre Gliederung spielte. […] Nur der Hausherr hatte den Kopf in beide Hände gestützt.29

Am Ende seines Geständnisses veranschaulicht der Hausherr das plötzliche, unwiderrufliche Verschwinden des abgewiesenen Bettlers mit einem Vergleich: „Und dann war er fort, untergetaucht, zurückgefallen in die Menge, wie ein Mensch die Hände von einem Bootsrand losläßt und ins Meer versinkt …“30 Um die peinliche Situation zu beenden, die durch das Schuldbekenntnis ihres Mannes eingetreten ist, „hob die Hausfrau ihre rechte Hand, und ihre leise geöffneten Finger glitten einmal von links nach rechts, mit jener waagrechten Bewegung, mit der wir etwas abschließen, wegwischen, auslöschen.“31 Die identische Gebärde Kußmauls wird zum Teil mit identischen Worten („waagerechte Bewegung“, „auslöschen“),32 aber nicht mehr so detailliert beschrieben; dafür wird deren Auswirkung konkretisiert: die Zerstörung des Lebens von Eli Kaback. Auch das Bestreben des Doktors, die Gebärde der Hausfrau gleichsam rückgängig zu machen, findet Ausdruck in einer Gebärde: Er „umschloß mit seiner alten Hand die junge, führte sie langsam den Weg der Gebärde zurück und legte sie sorgsam in den 27 Zu den Begriffen „Geste“ und „Gebärde“ vgl. Michael Lobe: Die Gebärden in Vergils Aeneis. Zur Bedeutung und Funktion von Körpersprache im römischen Epos. Frankfurt a. M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1999, S. 25 – 28. 28 Vgl. Franz Kiener: Hand, Gebärde und Charakter. Ein Beitrag zur Ausdruckskunde der Hand und ihrer Gebärden, München/Basel 1962, S. 284 und 258 ff. 29 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 605 – 606. 30 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 606. 31 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 606. – Kiener spricht unter dem Oberbegriff „Handgebärden ohne Berührungskontakt“ von einer „abschlagenden“ Gebärde: „Bisweilen erfolgt die Bewegung nach der Seite, oft in der Weise, als wische man etwas vom Tische. Meist gilt diese Gebärde irgendeiner lästigen Sache, die man loswerden will.“ Kiener, Hand, Gebärde, S. 199. 32 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 612.

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Schoß der Hausfrau nieder.“33 Es ist die Gebärde einer gütigen, sanften Altersweisheit, die gleichwohl das Recht der Ermahnung und Belehrung für sich in Anspruch nimmt. Indem der Doktor am Ende noch einmal seine Hand auf die der Hausfrau legt, nimmt er Bezug auf diese ausgleichende Gebärde und unterstreicht begütigend seine Mahnung zur Menschlichkeit. Wie eng das Leitmotiv der Hände mit dem des Gesichts (hier der Augen und des Mundes) verknüpft ist, zeigt sich z. B. bei der Beschreibung des Mitschülers Eli Kaback: Ein blasses, immer geängstigtes Gesicht unter schwarzem Haar. Alle Bewegungen wie am Rand einer Höhle, sprungbereit, dicht am schützenden Dunkel. Und um Mund und Augen trug er die Falten eines ganzen Volkes. […] Fünftausend Jahre Geschichte waren um seinen Mund. Geschichte eines geprügelten Hundes, wie wir die Geschichte eines Raubtieres um unsere Lippen trugen. Er war sanft, hilfsbereit, gütig, und seine traurigen Hände sahen wie gekreuzigt aus.34

Über das Leitmotiv der Hände wird das Leiden des Juden Eli Kaback hier mit dem Leiden Jesu Christi assoziiert.35 Nicht nur die Hände, sondern auch die Augen und der Mund sind Spiegelbilder der Seele. Und im Einzelschicksal ist das kollektive Schicksal eines leidgeprüften Volkes gegenwärtig. Das Leitmotiv der Augen begegnet uns vor allem in der Binnenerzählung auf Schritt und Tritt: Wenn „Judenball“ gespielt wurde, taumelte Eli „mit geschlossenen Augen“ durch den Mittelpunkt des Kreises; in ohnmächtiger Wut „warf er sich mit geschlossenen Augen auf die Gegner“; nachdem er für seine Auflehnung bestraft worden war, ging „der Blick seiner Augen […] an uns vorbei, so weit zurück, als reiche er bis an die Schwelle des Tempels Salomonis“.36 Aber nicht nur Eli schloss die Augen oder blickte beiseite, sondern auch „die Aufsicht auf dem Hof, die sich abwendete und den Spatzen zusah, wenn Ju33 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 606. 34 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 607. 35 Vgl. dazu die Bemerkung von Fangmeier, der die Formulierung „seine traurigen Hände sahen wie gekreuzigt aus“ mit der wenig später folgenden „ … der Blick seiner Augen ging an uns vorbei, so weit zurück, als reiche er bis an die Schwelle des Tempels Salomonis“ in Beziehung setzt: „Der Dichter gewahrt, sehen wir, den Zusammenhang des jüdischen Menschen mit der Bibel Alten und Neuen Testaments ( Jesus!); es muss dabei gar nicht von seiner religiösen Einstellung die Rede sein.“ Fangmeier, Juden, S. 136. 36 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 608.

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denball gespielt wurde.“37 Als Eli beim Klassentreffen erschien, rief vor allem „der Ausdruck seines Gesichtes und der erste Blick seiner Augen, mit dem er über unsre Augen tastete“,38 beim Doktor Erschütterung hervor: Es ist der angstvolle Blick des Patienten „vor der Schwelle zwischen Leben und Tod“,39 kurz bevor ihm der Arzt die tödliche Erkrankung eröffnet. Auch das Leitmotiv des Gesichts bzw. der Augen hat eine strukturierende Dimension: Die herablassende Abweisung Elis wird leitmotivisch vorbereitet: „Kußmaul war sehr groß, und trat so dicht an Eli heran, daß er durch sein Einglas von oben her in das weiße Gesicht blickte.“40 Seine vernichtende Demütigung wird leitmotivisch abgeschlossen: „Und unter den Klängen dieser furchtbaren Musik wich Eli Kaback Schritt um Schritt vor den Augen Kußmauls, vor unseren Augen zur Tür zurück.“41

Weitere Formen der Bildlichkeit Neben den beiden Leitmotiven weist der Novellentext eine solche Vielzahl von Vergleichen und Metaphern auf, dass sich die Behandlung dieses Bereichs hier auf einige Beispiele beschränken muss. Die Vergleiche werden durch die Vergleichspartikel „wie“, das Adverb „gleichsam“ und die Konjunktionen „wie“, „als“ und „als ob“ gekennzeichnet. An einigen Stellen wird der Vergleich mit anderen Formen der Bildlichkeit kombiniert. Um ein Beispiel zu nennen: Der Doktor berichtet, dass Eli vorzeitig die Schule verließ, um Zahnarzt zu werden, und fährt fort: „Er fiel aus unsrem Leben heraus, aus unsrem Gedächtnis, wie ein zertretener Grashalm aus dem Gesicht einer Straße.“42 Auffälliger als die Pflanzenmetaphorik ist die freilich recht plakative Tiermetaphorik, insbesondere zur Veranschaulichung des Verhältnisses zwischen Eli („geprügelter Hund“; „ohnmächtiges Tier“) und seinen Peinigern („Raubtier“; „junge Wölfe“; „Meute“).43 Auch die wenigen Personifikationen wirken stereotyp („der leere, schweigende Raum“; 37 38 39 40 41 42 43

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„seine traurigen Hände“) – selbst in Verbindung mit der Enallage („die traurige Verkleidung eines Clowns“).44 Die bildhafte Vorstellung, dass Eli durch die drei Schläge einer Guillotine zu Tode kommt, ist dagegen bemerkenswert, selbst wenn die hyperbolisch-pathetische Darstellung den heutigen Leser befremden mag. Durch die vorausgehende Assoziation seines Leidens während der Schulzeit mit dem Leiden Jesu Christi am Kreuz wird gleichsam der Boden bereitet. In der Konfrontation mit Kußmaul vollzieht sich dann die „Hinrichtung“ Elis in drei Phasen: [Phase 1 – nach Elis Eintritt in den Saal:] „Nichts regte sich im Raum als das leise Surren des Ventilators, und ich weiß, daß ich drei Sekunden lang die Vorstellung eines Fallbeils hatte, das aus der unendlichen Höhe eines dunklen Gerüstes niederrauschte.“45 [Phase 2 – nach der ersten Abweisung durch Kußmaul:] „Eli sank zusammen wie unter dem Schlag eines Beiles […].“46 [Phase 3 – nach dem Wiedereinsetzen der Kapelle:] „Ich weiß nicht, ob es eine Perfidie, eine Servilität des Kapellmeisters, ob es ein Zufall, ob es die nächste Nummer des Programms war. Aber es war der Fall des Beiles.“47

Im Namen der Menschlichkeit Ernst Wiechert knüpft mit seiner Novelle „Die Gebärde“ an die Gattungstradition an, die insbesondere durch die Novellistik des poetischen Realismus (Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Theodor Storm und Conrad Ferdinand Meyer) entscheidend geprägt worden ist, und dokumentiert die Lebendigkeit dieser Tradition in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die restaurative Tendenz der Wiechertschen Novellendichtung erweist sich nicht nur in der kunstvollen Verflechtung von Rahmen- und Binnenhandlung und der gezielten Verwendung von Leitmotiven, sondern auch in der thematischen Konzentration auf einen zentralen Konflikt, der „bis zur Entscheidung durchgeführt ist“,48 in der dramatischen Handlungsstruktur, der formalen Geschlossenheit, dem Wechsel zwischen stark raffendem Erzählerbericht und szenischen 44 45 46 47 48

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 606, 607, 609. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 610. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 610. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 611. Rainer Schönhaar: „Novelle“, in: Metzler Literaturlexikon. Stichwörter zur Weltliteratur, hg. v. Günther und Irmgard Schweikle, Stuttgart 1984, S. 308.

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Partien. Der Erzähler tritt als Vermittler auf, die Ausgangssituation ist das Erzählen im gesellschaftlichen Kontext des geselligen Beisammenseins. Die Intensität der Aussage erzielt Wiechert vor allem durch den Einsatz bildlicher Ausdrucksmittel und die differenzierte Darstellung psychischer Vorgänge.49 Sein moralisches Anliegen ist die Mahnung zur Menschlichkeit. Mit dichterischen Mitteln erhebt Ernst Wiechert seine Stimme gegen Diskriminierung und Gewalt, gegen Opportunismus und Mitläufertum. Aber – und das ist für ihn bezeichnend – er bezieht eben nicht nur eine Gegenposition, sondern weist auch den Weg zu einem menschlichen Umgang miteinander. Zu den positiven Werten, die in der Novelle aufscheinen, gehören Mitleid, Güte und Aufrichtigkeit genauso wie die Bereitschaft, eine Schuld offen einzugestehen und sein Verhalten dementsprechend zu ändern. Nicht nur in der Novelle „Die Gebärde“, auch in seinen anderen Werken macht sich Ernst Wiechert zum Anwalt der Schwachen, der Unterdrückten, der Leidenden. In seinen Lebenserinnerungen Jahre und Zeiten schreibt er: „In frühen und entscheidenden Jahren bin ich der Idee der Humanitas […] tief verpflichtet worden […]“.50 Das Streben nach reiner Menschlichkeit ließ ihn auch zum Mahner und Warner der Jugend werden. Und so bestimmt er in seiner Rede „Der Dichter und die Jugend“ im Jahre 1933 die Aufgabe des Dichters mit folgenden Worten: „Sie sind die Bewahrer des Unvergänglichen und die stillen Mahner in einer lauten Welt.“51

49 Als ich die Novelle Ende Juli 2007 Schülern der Klasse 10a am Franz-LudwigGymnasium Bamberg vorlas, hörten sie sehr aufmerksam zu und zeigten sich im anschließenden Gespräch beeindruckt von Wiecherts fesselnder Erzählkunst. Eine Schülerin äußerte Kritik an der allzu plakativen Polarisierung in der Konzeption der Figuren. Mehrere Schüler sprachen die zeitlose Gültigkeit der Aussage an, die einen Bezug zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit ermöglicht. 50 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 755. 51 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 362.

Respektverweigerung und Entwurf einer Gegenwelt Ernst Wiecherts Roman Der Exote

leonore krenzlin Die Vorstellung, ein Wiechert-Text sei immer problemgeladen, weit ausholend in der Darstellung und im Ton überwiegend schwermütig gehalten, war schon zu Wiecherts Lebzeiten unter der Leserschaft so verbreitet wie beliebt und wurde nach seinem Tode von der Germanistik befestigt. Von diesem Wiechert-Bild weicht das Büchlein Der Exote beträchtlich ab,1 und vermutlich wurde es aus diesem Grunde bisher von der Fachwissenschaft ignoriert: Obwohl es zu Wiecherts Werk eine umfangreiche Sekundärliteratur gibt, wurde Der Exote bis heute nicht untersucht. Leichtfüßig und scheinbar harmlos-humorig kommt dieser Schülerroman daher, so dass man sich beim Lesen anfangs an Die Feuerzangenbowle erinnert fühlt und sich fragt,2 ob Wiechert durch Heinrich Spoerls 1933 erschienenen Bestseller dazu angeregt wurde, einem ähnlichen Versuch zu unternehmen. Doch dieser Nachahmungsverdacht ist schnell zu entkräften: Das Manuskript Der Exote ist entstanden, ehe Spoerls Buch herauskam. In den Sämtlichen Werken Wiecherts wird für die Niederschrift das Jahr 1932 angegeben,3 und im Nachlassmaterial wurden sogar Anhaltspunkte für einen Entstehungszeitraum ab 1930 gefunden.4 Doch Ernst Wiechert hat das Manuskript, und das ist selten bei ihm, nach der Fertigstellung nicht in Druck gegeben. Das Buch ist erst 1951, ein Jahr nach seinem Tode, erschienen – und zwar mit einem ungewöhnlichen Druckvermerk. „Copyright 1945 by Kurt Desch München“ kann man 1 2 3 4

Ernst Wiechert: Der Exote. Roman. München 1951. Heinrich Spoerl: Die Feuerzangenbowle. Eine Lausbüberei in der Kleinstadt. Düsseldorf o. J. (1933). Ernst Wiechert: Der Exote. In: Ernst Wiechert: Sämtliche Werke, Wien/ München/Basel 1957, Bd. 3, vgl. S. 539. Reiner setzt als Entstehungszeit 1930 oder 1932 an. Er hatte seinerzeit Zugang zu Unterlagen, die inzwischen verschollen sind. – Guido Reiner: Ernst-Wiechert-Bibliographie. Erster Teil, Paris 1972, vgl. S. 42, Nr. 171.

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auf der Rückseite des Titelblattes lesen, und erst danach steht „Printed in Germany 1951.“ Das besagt, dass Desch die Druckrechte bereits 1945 erworben hatte, also zu diesem Zeitpunkt einvernehmlich mit Ernst Wiechert den Roman herausbringen wollte – und dass diese Absicht über einen Zeitraum von sechs Jahren hin nicht realisiert worden ist. Dass Desch sofort nach Wiecherts Tod den alten Plan aufgriff, deutet darauf hin, dass das Zögern nicht auf seiner, sondern auf Wiecherts Seite gelegen hatte. Ernst Wiechert hat sich über dieses Buch, über die Umstände seiner Entstehung und die Ursachen für die lange Zurückhaltung des Manuskripts nicht geäußert. In Jahre und Zeiten überspringt er es bei der Aufzählung der Bücher, an denen er in den fraglichen Jahren gearbeitet hat.5 Er muss es nach dem Abschluss von Jedermann – vor oder nach der Niederschrift von Die Magd des Jrgen Doskocil – eingeschoben haben, ehe er mit dem Roman Die Majorin begann. Sicherlich war es ein Unternehmen, bei dem er sich einiges von der Seele schrieb – eine kathartische Arbeit, die es ihm ermöglichte, die Belastungen der jüngstvergangenen Zeit durchzuarbeiten und ins Heitere ausklingen zu lassen: die Konflikte mit der Königsberger Schulbehörde wegen seiner außerehelichen Liebesbeziehung, den Freitod seiner ersten Frau und den Umzug von Königsberg ins ungewohnt lebhafte Berlin. Auch in dieser Hinsicht ist das Buch ganz und gar ein Kind seiner drei Berliner Jahre, die vom April 1930 bis zum April 1933 reichten. Diese Jahre verlangten ihm, so schildert er im zehnten und elften Kapitel seiner Autobiografie,6 zwar physisch das Letzte ab – sein Doppelberuf als Lehrer und als Schriftsteller machte ihm zu schaffen. Doch sie waren auch ein Neuanfang. Sie öffneten ihm bis dahin unbekannte Freiräume, weiteten seinen Horizont und boten ihm eine Fülle von Anregungen. Zu den Bereicherungen in dieser Phase gehörten die kulturellen Angebote Berlins, zahlreiche Bekanntschaften und Freundschaften sowie der für Wiechert ganz neue persönliche Umgang mit Schriftstellerkollegen und ihren Organisationen. Wichtig für Wiechert war auch die Tatsache, dass man in der Hauptstadt toleranter war und die überkommenen Moralvorstellungen und gesellschaftlichen Konventionen laxer behandelte: Dass in Berlin niemand Anstoß daran nahm, dass er mit seiner neuen Gefährtin unverheiratet 5 6

Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. Erlenbach/Zürich 1949, vgl. S. 263 – 306. Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 260 – 306.

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zusammenlebte, bis deren Scheidung endlich durchgesetzt war, erleichterte seine Situation erheblich. Und zur Erfahrung der Berliner Zeit zählt schließlich auch das Erlebnis der sozialen und politischen Spannungen, die Deutschland zu Beginn der dreißiger Jahre durchzogen und die in Berlin sehr viel krasser zutage traten als im heimatlichen Ostpreußen. Die elende Lage großer Teile der Arbeiterschaft gerät jetzt in seinen Blickwinkel,7 und er gewinnt ein gewisses Maß an Verständnis für deren Lohnkämpfe und politische Bestrebungen. Von alledem ist einiges in das Buch gelangt, welches bereits in der Wahl der Lokalität vom Gewohnten abweicht: Es spielt nicht, wie so viele Romane Wiecherts, auf dem Lande und in der Natureinsamkeit, und es spielt auch nicht auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges – dem anderen großen Schauplatz seiner Bücher. Die Handlung ist vielmehr im städtischen Milieu angesiedelt – wenn auch nicht in einer Großstadt, sondern in der stickig-behäbigen Ereignislosigkeit einer deutschen Kleinstadt. Ein Mann mit Namen Wolf Wiltangel, Apothekersohn und ungefähr dreißigjährig, kehrt nach zehnjähriger Abwesenheit aus Südamerika in seine Heimat zurück und bringt die festgefügte gesellschaftliche Rangordnung im Städtchen Riechenberg völlig durcheinander – auf diese Kurzfassung lässt sich die Handlung bringen. Der Mann hatte früher am örtlichen Gymnasium das sogenannte Notabitur abgelegt und blieb seitdem verschollen. Sein Nachruhm als besonders aufsässiger Schüler hat sich jedoch bei den folgenden Gymnasiasten-Generationen erhalten, und in den Damenkränzchen der Stadt kursiert noch immer das Gerücht von seinem Umgang mit dem leichtlebigen Hausmädchen Lina, die ein uneheliches Kind gebar, als Wolf Wiltangel erst sechzehn war. Viel mehr erfährt man während der Lektüre über Wiltangels vorangegangene Biographie allerdings nicht. Einem Leser der dreißiger Jahre hätte das Stichwort „Notabitur“ immerhin einen weiteren Hinweis gegeben:8 Er wusste, was heute kaum noch bekannt ist, dass das Notabitur ein vorgezogenes Abitur war, das im Ersten Weltkrieg eingeführt wurde. Es ermöglichte den Gymnasiasten, die Schule zwar 7

8

So erzählt Wiechert in „Jahre und Zeiten“, daß er die Reportage des Grafen Alexander Stenbock-Fermor, der ein Jahr lang untertage im Ruhrgebiet gearbeitet hatte, „mit Teilnahme“ gelesen habe und ihn aufgefordert habe, in den oberen Schulklassen über seine Erlebnisse zu sprechen. Vgl. Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 274 – 275, sowie Alexander Stenbock-Fermor: Meine Erlebnisse als Bergarbeiter, Stuttgart 1928. Wiechert, Exote, S. 17.

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vorzeitig, jedoch mit einem gültigen Abschlusszeugnis zu verlassen, damit sie sich ohne Nachteil für die spätere Karriere freiwillig an die Front melden konnten. Der Leser kann deshalb vermuten, dass Wiltangel an dem Kriege bis zu seinem ruhmlosen Ende teilgenommen hat – doch über die Kriegsereignisse fällt in dem Roman kein Wort. Die Frage, wie das Fronterlebnis auf den sehr jungen Mann gewirkt und wie es sein weiteres Leben geprägt hat – ein Thema, das Ernst Wiechert von seinem Roman Der Wald 9 bis hin zum Drama Der verlorene Sohn 10 immer wieder beschäftigt hat – bleibt diesmal völlig ausgespart. Wolf Wiltangel leidet nicht, wie der Hauptmann in Wiecherts Roman Der Wald (und mit ihm so viele Romanfiguren auch anderer Autoren dieser Jahre) an einem Kriegstrauma.11 Er hat, so erfährt man in den Anfangspassagen des Buches, vielmehr an der Spießigkeit, Härte und Gefühlsverkümmerung der Riechenberger Einwohner gelitten, und er konnte sich von diesem Leiden durch seinen Sprung nach Amerika weitgehend befreien: „Es ist schön, Vater“, antwortet er auf die Frage nach seiner Lebensweise in Argentinien. „Raum. Viel Raum. Es atmet sich leicht. Du riechst nicht, was der Nachbar kocht und denkt“.12 Jedoch: Aus welchem Anlass und auf welchem Wege Wiltangel nach Südamerika gelangte und welche Ereignisse dort seinen verblüffenden finanziellen Aufstieg begünstigten, das wird dem Leser ebenfalls nicht mitgeteilt. Bei seiner Heimkehr Ende der zwanziger Jahre besitzt Wolf jedenfalls in Argentinien eine Hazienda, deren Ausdehnung mit 20000 Preußischen Morgen angegeben wird.13 Das sichert ihm ein auskömmliches Leben und weist ihn in Deutschland als wohlsituierten Mann aus – wie er zu seinem Wohlstand kam, bleibt unerklärt. Dieser fragmentarisierte Lebenslauf des Helden ist kein Mangel des Romans, sondern ein Kunstgriff, der es dem Autor gestattet, Wolf Wiltangel als den Fremden, den Von-außen-Kommenden zu stilisieren – als einen Exoten eben, von dem man eigentlich nichts weiß, den man im Grunde nicht versteht und dessen ungewohntes Betragen und ausgefallene Gewohnheiten die Einheimischen je nach Mentalität entweder begeistern oder verstören. Nicht um Wiltangels eigene Entwicklung 9 Ernst Wiechert: Der Wald. Roman. Berlin 1922. 10 Ernst Wiechert: Der verlorene Sohn. Schauspiel. München 1935. 11 Vgl. Leonore Krenzlin: Heimkehrer des ersten Weltkriegs. Ein Motivvergleich von Friedrich Grieses „Feuer“ mit frühen Romanen Ernst Wiecherts. In: Das Frühwerk Friedrich Grieses. Neubrandenburg 2002, S. 66 – 80. 12 Wiechert, Exote, S. 18. 13 Wiechert, Exote, vgl. S. 18.

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soll es in dem Buch gehen, sondern um das, was er auslöst, was er durch sein bloßes Auftauchen in Gang setzt. Für die Honoratioren des Städtchens – den Schuldirektor, den Amtsgerichtsrat samt seiner militanten Ehefrau sowie den Sägemühlenbesitzer Runge – stellt schon allein die Tatsache seiner Rückkehr eine erhebliche Provokation dar. Die Schüler des Gymnasiums jedoch, denen sich Wolf Wiltangel zugesellt, nehmen ihn enthusiastisch auf und erheben ihn zu ihrem Leitbild im Kampf gegen die Schuldisziplin. Die nächtlichen Zusammenkünfte mit Wiltangel bestätigen die Schüler in ihrer Oppositionshaltung gegen die Vormachtstellung der Lehrer, die Gespräche mit ihm machen ihnen Mut, seine Ratschläge bereichern das Repertoire ihrer Streiche und stärken ihren Durchhaltewillen bei eintretenden Niederlagen. Die Beschreibung dieses Schülerunfugs und der Rattenfängerhaltung, die der Exote gegenüber den Gymnasiasten einnimmt, beansprucht im Roman einigen Raum und mag durchaus bei manchem Leser die stirnrunzelnde Frage auslösen, ob Wiechert hier nicht mäßig witzige Schulhistörchen zu breit ausmale. Der Rummel um des Schuldirektors Maurerhut14 beispielsweise füllt eine Menge Seiten: Der Direktor hatte die stadtbekannte Kopfbedeckung im Wald verloren, als er über Stock und Stein lief, um die Schüler bei ihren verbotenen nächtlichen Unternehmungen zu ertappen. Die Gymnasiasten machen sich anderentags über diese vergebliche Jagd lustig, indem sie das Fundstück auf einem Samtkissen in einer feierlichen Prozession durch die Stadt tragen. Aber auch wenn man dieser Kritik zustimmt, bleibt festzustellen, dass das Buch sich nicht in der Schilderung solchen Klamauks erschöpft und dass es Wiechert um mehr geht als nur darum, bei seinen Lesern die erheiternde Erinnerung an die Untaten der eigenen Schülerzeit hervorzurufen. Damit steht er in deutlichem Gegensatz zu Heinrich Spoerl, der seinen Roman im Untertitel als eine bloße „Lausbüberei in der Kleinstadt“ bezeichnet hat. Und tatsächlich könnte man den Gehalt von Spoerls Roman mit den schlichten Worten zusammenfassen: ,Wir Schüler haben damals unsere Lehrer so gründlich gepiesackt, wie sie uns gepiesackt haben, und das hat Spaß gemacht.‘ Um nicht in den Ruf einer ernsthaften Schulkritik zu kommen, hat Spoerl das Buch sogar noch zusätzlich mit einer ironisch abwiegelnden Leseanleitung verse-

14 Wiechert, Exote, vgl. S. 120 – 126.

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hen: „Dieser Roman ist ein Loblied auf die Schule, aber es ist möglich, daß die Schule es nicht merkt“,15 so lautet das vorangesetzte Motto. Wiecherts Buch dagegen lässt sich nicht als ein verbrämtes Loblied lesen. Seine Kritik des Schulsystems soll – bei aller Komik, die er den Vorgängen verleiht – nicht abgleiten, sondern treffen: Die Untaten der Gymnasiasten sind keine „Lausbüberei“, sondern ein ernstgemeinter Machtkampf mit dem Ziel, Autorität und Kompetenz der Lehrerschaft vor aller Welt infrage zu stellen. Und die komische Darstellung der immer hilfloser agierenden Lehrer enthüllt spöttisch die Disfunktionalität ihrer Erziehungsmethoden: Je schärfer sie durchzugreifen versuchen, umso mehr heizen sie den Widerstand an. Dagegen werden die Bedrängnisse, denen die Schüler ausgesetzt sind, von Wiechert ernst genommen. Sie gleichen denen aus seiner eigenen Jugendzeit, wie sie in seiner Autobiographie Wlder und Menschen 16 nachzulesen sind. Da häufen sich harte Strafen für geringe Vergehen, ungerechte Urteile, ständige Herabsetzungen und, was als das Schlimmste empfunden wird, Mangel an Fairness der Lehrer den Schülern gegenüber: Nicht zufällig entzündet sich im Roman der Aufstand der Gymnasiasten an der Tatsache, dass ein Lehrer die Schummelei eines Schülers durch die Spiegelung eines offenen Fensterflügels – also gewissermaßen hinterrücks, mit unlauteren Mitteln – beobachtet hatte. Wiechert rechnet in diesen Passagen seines Buches sehr bewusst mit den Traditionen der Kaiserzeit ab – mit einer Schule, welche die Schüler einzwängte, die altersspezifischen Interessen der jungen Menschen ignorierte, ihrer Neugierde und ihrem Tatendrang keinen Raum und keine Nahrung gab; welche die jungen Menschen als Untertanen behandelte und ihnen ihre Würde zu nehmen, ihren Eigenwillen zu brechen versuchte. Genau betrachtet, spielt der Exote im Roman eine Doppelrolle. Die Gestalt vereinigt zweierlei Sichtweisen: Einerseits verbleibt sie in der Mentalität des Kind gebliebenen Gymnasiasten, der noch immer den Zorn auf seine früheren Peiniger in sich trägt und danach trachtet, mit reichlich infantilen Mitteln – einem respektlosen Doppelpfiff, dem „Ruf des Puma“17 und einem fremdartigen Hut, den er bisweilen ruckartig in die Luft schleudert – die Lehrerschaft zu verunsichern; und andererseits nimmt sie die Haltung eines überlegenen Ratgebers und 15 Spoerl, Feuerzangenbowle, S. 9. 16 Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. München 1936. 17 Wiechert, Exote, S. 28.

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Anführers im Kampf gegen den verknöcherten Gymnasialbetrieb ein – eine Position, wie Wiechert sie bereits für seine eigene Lehrerzeit in Anspruch genommen hatte: In Jahre und Zeiten erzählt er davon, wie er sich als Königsberger Gymnasiallehrer an den Schulreformen der Weimarer Republik beteiligt hat, wie er seine Schüler zu begeistern und ohne unangemessene Druckmittel zu leiten versuchte; wie er Fahrten durchführte,18 ihnen ungewohnte Naturerlebnisse vermittelte, nachts mit ihnen am Lagerfeuer saß – und wie er es als erster wagte, mit seiner Klasse für einige Wochen ein Landheim in Sarkau auf der Kurischen Nehrung zu beziehen, das die Schule eben angemietet hatte.19 Stolz erwähnt er, dass er wegen seiner Auslandsreisen, besonders der mit einem englischen Frachtdampfer, bei seinen Primanern als ein sogenannter „Globetrotter“ galt – also als ein welterfahrener, abenteuerumwitterter Mann, der in seiner Lebensführung vom Durchschnitt des Lehrkörpers abstach und der gerade deshalb über eine natürliche Autorität verfügte. Ernst Wiechert hat demnach der Figur des Exoten durchaus Züge eines verjüngten und idealisierten Selbstporträts verliehen. Aber noch eine andere Person hat für die Ausformung der Gestalt des Exoten offensichtlich eine Rolle gespielt, so sehr, dass Wiechert sie sogar als Namenspatron für seinen Helden gewählt hat. Gemeint ist der Lehrer Ernst Wildangel, mit einem ,d‘ anstatt mit ,t‘ geschrieben. Ernst Wiechert und Ernst Wildangel haben an der Berliner Schule einige Zeit zusammengearbeitet, und Wiechert hat sich in seinen Erinnerungen recht achtungsvoll über ihn geäußert: „Mein unerschrockenster Helfer in den Kämpfen um die Bewahrung einer neuen Humanität war der junge Wildangel“, schreibt er an einer Stelle, wo er von der zunehmenden moralischen Verrohung und politischen Radikalisierung unter den Berliner Schülern berichtet, und er fährt fort: „Er war ein durchaus furchtloser Geist, stark im Dialektischen, politisch gebundener, als der Schärfe seines Urteils mitunter gut war, im Menschlichen von spöttischer Kühle, aber ein musterhafter und treuer Kamerad in allen Zeiten der Gefahr“.20 Diese Beschreibung sieht der Wiltangel-Gestalt des Romans recht ähnlich, und man darf vermuten, dass es nicht zuletzt der bewegte Lebenslauf und die Risikobereitschaft Ernst Wildangels waren, die ihn als Namensgeber für den Exoten passend machten: Ursprünglich 18 Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 207 – 209. 19 Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 575. 20 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 273 f.

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Funktionär der Zentrumspartei, brach Wildangel mit dieser und verlor deshalb seine Anstellung als Lehrer, arbeitete als Taxichauffeur und trat der SPD bei, erlangte wieder eine Stellung als Studienrat, wurde aber wegen seines politischen Engagements in der Folge mehrmals strafversetzt oder vom Schuldienst suspendiert und trat schließlich in den dreißiger Jahren, als ihn Wiechert kennenlernte, der Kommunistischen Partei Deutschlands bei.21 Ernst Wiechert, den in Königsberg aus anderen Gründen beinahe ein ähnliches berufliches Schicksal ereilt hätte, hat solcher Wagemut gewiss sehr imponiert. Der Romanfigur hat er es allerdings deutlich leichter gemacht, ihre Abenteuerlust auszuleben: Wolf Wiltangel ist als Exote nicht den Drohungen einer übergeordneten Schulbehörde unterworfen. Die Maßnahmen, die seinerzeit gegen Wiechert wegen seiner Liebesaffäre ergriffen wurden – der Versuch, ihn von seinen Schülern zu isolieren und die Eltern gegen ihn einzunehmen, die Aufforderung, sich in eine andere Stadt versetzen zu lassen, und der Druck schließlich, der ihn zur Kündigung zwang22 – braucht die poetische Gestalt nicht zu befürchten. Wolf Wiltangel ist unabhängig, er muss weder die öffentliche Meinung noch den Verlust seines Brotberufes fürchten. Und so gerät er zu einem unbekümmerteren, souveräneren Bruder des Lehrers Ernst Wiechert, zu einer Art Wunsch-Ich seines Autors. In einem gewissen Sinne lässt sich sagen, dass der Grundeinfall für die Romane von Wiechert und Spoerl ein ähnlicher war: Beide fragen, was geschehen könnte, wenn ein erwachsener, doch jugendlich gebliebener Mensch noch einmal den Peinigern seiner Schulzeit gegenüber stehen würde, denen er nicht mehr unterworfen ist. In der Klamaukhandlung von Spoerls Roman führt das dazu, dass ein erfolgreicher junger Schriftsteller sich als Abiturient verkleidet, die Lehrer eines Gymnasiums genüsslich quält und dabei praktisch straffrei bleibt. Bei Wiechert dagegen wird erörtert, wie ganz anders die Welt aussehen könnte, wäre sie von den Schranken ängstlicher Unterwürfigkeit, schamloser Habsucht, grenzenloser Herrschsucht, sozialer Arroganz und moralischer Heuchelei befreit.

21 Lexikonartikel Wildangel, Ernst Friedrich Wilhelm. In: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon. Berlin 1970, vgl. S. 483 – 384. 22 Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 249 – 251.

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Ernst Wiechert erreicht diese Ausweitung der Fragestellung durch den Einsatz dreier Mittel. Das erste ist der Entwurf einer Gegenwelt, welche im Bild der neuen Heimat des Exoten aufscheint. Argentinien ist im Roman mehr als ein reales Land in der Ferne: Es ist ein Land Utopia, das Hoffnung auf ein freieres und freudvolleres Leben macht. Die Weite der argentinischen Pampa wird symbolisch gegen die Enge einer Nachkriegswelt gesetzt, die sich von der Vorkriegswelt nur dadurch zu unterscheiden scheint, dass sich jetzt auch weibliche Personen wie die Apothekersgattin und die Frau Amtsrichter zu einer „Parteisitzung“ treffen können – einer Sitzung der „Nationalen Volkspartei“ vermutlich.23 Die fremden Bräuche Südamerikas, wo eine rauchende und bisweilen stehlende Kreolin in Seidengewändern als Haushälterin walten darf und womöglich sogar als Bettgefährtin dient; wo europäische Sitten und europäische Sittlichkeit also keine Geltung haben24 – sie werden der Ödnis einer spießbürgerlichen Lebensweise entgegengesetzt, in der die überkommenen Verhaltensregeln es gestatten, ja sogar verlangen, dass jeder die Privatsphäre seiner Mitmenschen ausschnüffelt, dass jeder jedem in seine Entscheidungen und Handlungen hineinredet und ihn auf diese Weise zur Anpassung zwingt. Der Vater teilt die Begeisterung seines Sohnes für das Ausmaß an Selbstbestimmtheit, das der ferne Kontinent verspricht. Die herbe Mutter jedoch, die ihren Sohn als Kind zur Strafe am Tischbein festband und ihm noch am Tage des Abiturs vor allen Leuten den Hut vom Kopfe geschlagen hatte, weist dergleichen Sehnsüchte mit verständnislosem Spott zurück.25 Die beiden anderen Mittel sind – zweitens – die Bedeutungsbeschwerung, welche die Gymnasiasten-Handlung durch die von Wiechert gewählten Sprachbilder erfährt, sowie – drittens – die Ausweitung der Handlung über die Welt der Schule hinaus. Was die Bedeutungsbeschwerung von Wiecherts Sprachbildern angeht, so reagiert der Leser der Gegenwart wohl eher mit Befremden. Die Schlichtheit der Abenteuer, zu denen die Gymnasiasten durch den Exoten verleitet wurden, nötigt ihm ohnehin Verwunderung ab: Er kann das Rudern auf dem See, die Nachtwanderungen durch den Wald und das Rauchen am Lagerfeuer nicht als Gipfelpunkte von Disziplinlosigkeit und Verwor23 Wiechert, Exote, S.20. – Wiechert erwähnt, daß seine Kollegen am Königsberger Hufen-Gymnasium sowie deren Familien mehrheitlich Anhänger der Nationalen Volkspartei waren. Wiechert, Jahre und Zeiten, vgl. S. 219. 24 Wiechert, Exote, vgl. S. 21. 25 Wiechert, Exote, vgl. S. 15 – 20.

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fenheit ansehen, so dass die im Roman beschriebene Entrüstung des Direktors und der Lehrerschaft in seinen Ohren fast unglaubwürdig klingt. Doch dass Wiechert für die Beschreibung dieser harmlos wirkenden Vorgänge auch noch sein Vokabular aus dem Bereich des politischen Umsturzes wählt, muss ihm maniriert vorkommen. „Der Bahnhof johlte wie zu den Zeiten der Revolution“, so heißt es schon am Anfang des Romans, als sich die Enttäuschung über das Ausbleiben des Exoten auf dem Bahnhof in einem gellenden, verruchten Pfiff Luft macht.26 Und dergleichen Anspielungen auf die ein Jahrzehnt zurückliegende Novemberrevolution, die Deutschland aus einer Monarchie in eine Republik verwandelte, häufen sich in der Folge. „Revolution im Pennal?“27 fragt Wiltangel ironisch den Direktor, der ihn besucht, um einen Kontaktverzicht zwischen seinen Schülern und dem Exoten zu erzwingen. Doch der Direktor empfindet diese Wortwahl nicht als Übertreibung – er sieht das tatsächlich so. Diese politische Aufladung einer ungefährlich anmutenden Schülerrevolte ist zwar einerseits übertreibend gemeint, denn Wiechert will die komische Seite der Ereignisse, die Unangemessenheit in den Reaktionen aller Beteiligten in den Vordergrund stellen. Sie soll aber durchaus auch dazu dienen, den ernsten Hintergrund der komisch akzentuierten Konflikte während der Lektüre in Erinnerung zu halten. Der heutige Leser läuft allerdings Gefahr, das tatsächliche Gewicht der dargestellten Vorgänge zu unterschätzen, weil ihm die historischen Kontexte nicht ausreichend geläufig sind. Doch in Wiecherts Autobiografie lassen sich die Zusammenhänge nachlesen: Er berichtet dort, dass solche uns heutzutage harmlos erscheinenden Vergnügungen von der nationalistisch gesinnten Mehrheit des Königsberger Lehrerkollegiums durchaus als ein gefährliches Politikum von gesellschaftlicher Relevanz aufgefasst wurden. Dazu gehörten selbst Klassenfahrten wie die ins Landschulheim Sarkau. An seiner Schule „wurde das Wort vom ,Geist von Sarkau‘ geprägt“, so schreibt Wiechert, „der nun dem ,Geist von Tannenberg‘ entgegengesetzt wurde als ein Geist der Verschwörung, der Auflehnung, der Revolution“.28 Dieser „Geist von Tannenberg“, der durch die Gründung des „Tannenberg-Bundes“ im Jahre 1925 – im Jahr der Hindenburgwahl – zusätzlich befestigt wurde, bestand in der Verherrlichung des Sieges über die Russische Armee zu 26 Wiechert, Exote, vgl. S. 9. 27 Wiechert, Exote, S. 101. 28 Wiechert, Jahre und Zeiten, S. 237.

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Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914. Und das war gleichbedeutend mit dem Schüren eines revanchistischen Nationalismus; mit dem Glauben an einen sogenannten „Siegfrieden“ im erhofften nächsten Krieg; und auch mit dem Festhalten an den aus der Monarchie überkommenen konservativen Verhaltensnormen und Disziplinvorstellungen, die das Durchhaltevermögen der Nation sichern sollten – und welche die Schule deshalb zu vermitteln hatte. Und nicht zuletzt schloss der „Geist von Tannenberg“ auch die Verachtung der verhassten, aus einer Revolution hervorgegangenen Weimarer Republik ein – und die fortlaufende Infragestellung und Hintertreibung ihrer Reformbemühungen. Wiechert verstärkt nun – drittens – diese ernsthaften Akzente in seiner heiteren Geschichte, indem er die Gymnasiasten-Handlung absichtsvoll mit den Ereignissen in der arbeitenden Unterschicht verflicht. Das beginnt damit, dass Wiltangel bereits bei seiner Ankunft keinen sozialen Hochmut an den Tag legt, sondern Dritter Klasse reist und sich in aller Öffentlichkeit von seinem Jugendfreund, dem jetzigen Melker August, kutschieren lässt. Die Mutter rügt diese schrankeneinreißenden Handlungen sofort, aber Wiltangel erzählt als Antwort sein Erlebnis mit einem Tramp in Arizona, der den „Leuten ohne Schuhe“ – einem irischen Strolch und einem Müllkutscher aus Köln – die raren Sitzplätze an der wärmenden Sonne zuwies. Seine Begründung hatte gelautet, dass Schuhbesitzer „not honourable“, also nicht ehrenwert wären.29 Die Weite Südamerikas wird solcherart nicht nur zum Reich der Freiheit, sondern auch zum Reich der sozialen Rangumkehrung erklärt, zu einer „Verkehrten Welt“ in der revolutionären Tradition dieses beliebten alten Fabelmotivs.30 Arm sein ist in Wiecherts utopischem Argentinien ein Ausweis der Ehrenhaftigkeit – im Kontrast zu einer Welt, in der es den Wohlhabenden an Edelmut und Ehrgefühl ersichtlich mangelt. Denn die Reichen missbrauchen ihren Besitz dazu, die Besitzlosen herabzusetzen und ihnen die Ehre abzuschneiden – etwa, wie es Frau Amtsgerichtsrat Everling in der Bestechungsszene mit Lina versucht.31 Sozial zu denken oder sogar ein „Spartakist“ zu sein, wie etwa der frühere Schulkamerad und jetzige Gerichtsangestellte Hugo Schreyvo29 Wiechert, Exote, S. 20. 30 Zum Alter und zur Verbreitung dieses Motivs vgl. den Lexikonartikel: Verkehrte Welt. In: Lexikon der Kunst. Hg. v. Harald Olbrich u. a., Band V, Leipzig 1978, S. 401 – 404. 31 Wiechert, Exote, S.133. Vgl. S. 78 – 82.

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gel,32 ist für Wiechert also zu diesem Zeitpunkt kein Schreckgespenst mehr. Der Melker August wird von ihm durchaus freundlich als „Kleinkaliberkommunist“ bezeichnet, der mit einem gewissen Recht verlangen kann, seinen „Anteil an der Sahne“ zu erhalten, die er zur Molkerei fährt.33 Und auch den Streik im Sägewerk, der heraufbeschworen wird, weil der Schneid- und Sägemühlenbesitzer Karl Albert Runge wegen angeblich schlechter Geschäftslage seinen Arbeitern den Tarifvertrag kündigt und eine zehnprozentigen Lohnkürzung vornimmt,34 schildert Wiechert mit Verständnis, ja mit schmunzelnder Sympathie: Diese „Revolutschon“35 bleibt gemäßigt und wirkt somit nicht wirklich bedrohlich. Es fliegt zwar ein Pferdeapfel und später auch ein Stein ins Fenster des Amtsgerichts, aber eigentlich aggressive Handlungen bleiben aus. Zwar stehen sich Oberschicht und Unterschicht im Roman mit deutlich unterschiedener Interessenlage gegenüber, und die Unterschicht, so malt Wiechert fast genüsslich aus, sieht „mit Umschlagtüchern und Wolljacken (…) geschlossener aus, einheitlicher, schicksalsverbundener“.36 Doch eine tatsächliche Umwälzung der Besitzverhältnisse ist weder zu erwarten noch zu wünschen – auch nicht vom Exoten: Als er ein Telegramm erhält, dass auf seiner Hazienda ein Aufstand der Eingeborenen droht, ist er sofort zur Rückreise bereit.37 Die Veränderungen der Gesellschaft, welche Wiechert vorschweben, beziehen sich nicht auf den Besitzstand, sondern auf die Frage der sozialen Rangordnung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Anerkennung: Sie sollen nicht von vornherein durch ein Mehr oder Weniger an Reichtum bestimmt sein. Die Ziele der Gymnasiasten und die der arbeitenden Unterschicht berühren sich bis zu einem gewissen Grade bei der ungewöhnlichen Demonstration, die sich um die Mittagszeit vor dem Gerichtsgebäude zusammenschiebt: Die Teilnehmer vereint das Interesse, sich gegen die Übergriffe der übergeordneten Mächte – Schuldirektor und Sägewerksbesitzer – zu wehren, und zwar nicht durch Gewalt, sondern durch schlichte Respektsverweigerung. Und um Respektsverweigerung geht es auch in dem seltsamen Prozess, der gleichzeitig im Gerichtssaal 32 33 34 35 36 37

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Exote, Exote, Exote, Exote, Exote, Exote,

S. 67. S. 19. S. 134. S. 135 und 143 S. 136. S. 164.

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abläuft und sich um die Frage dreht, ob nun eigentlich Lina, das Dienstmädchen mit dem fragwürdigen Lebenswandel, die Frau Amtsgerichtsrat Ewerling beleidigt hat – oder umgekehrt die Frau Amtsgerichtsrat die ehrbare mehrfache uneheliche Mutter Lina. Im Gerichtssaal wird somit auch die Frage der Gymnasiasten und der streikenden Arbeiter verhandelt – indem erörtert wird, welche Anstandsregeln gelten sollen und wer wem welchen Grad an Achtung schuldig ist oder ungestraft verweigern kann. Der Erzähler kommentiert das im Roman mit den Worten: „Aber der Prozess ist nicht auf die beiden Parteien beschränkt, so wenig die Affäre mit dem Maurerhut auf das Gymnasium beschränkt ist … Es ist eine Handlung zwischen Unterstadt und Oberstadt … Klasse steht gegen Klasse, arm gegen reich, Volk gegen Herren.“38 Dieser Beleidigungsprozess geht mit einem Patt aus – der Gerichtsassessor Freyhold – ebenfalls ein „Linker“, wie der Amtsgerichtsrat Ewerling schon im Vorfeld erbittert festgestellt hat39 – verurteilt beide Frauen jeweils wegen Beleidigung der anderen zu derselben Strafe. Doch der Prozess führt auch dazu, dass nun noch eine dritte Gruppe von Respektsverweigerern ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wird: Es sind die wagemutigen jungen Frauen, welche die überkommene Sexualmoral nicht mehr anerkennen wollen. Dazu gehört Lina, die sich ihrer früheren Beziehungen zum Schüler Wiltangel nicht schämt und die sehr schnell erspürt hat, dass die „Vaterländschen“, also der Vaterländische Verein mit Frau Amtsgerichtsrat Ewerling an der Spitze, sie mit Geschenken bestechen und zur Spionin degradieren wollen. Und dazu gehört auch die Postbeamtin Fräulein Vierkant, der Prototyp der modernen jungen Frau der zwanziger Jahre. Durch ihre Berufstätigkeit hat sie Selbständigkeit erworben, aber diese Selbstständigkeit hat auch ihre problematische Seite, denn als Heiratskandidatin kommt sie nicht mehr so recht in Frage. Wiechert beschreibt sie zunächst als ein reichlich exaltiertes Persönchen, doch erweist sie sich in der Badeszene als eine selbstbewusste Persönlichkeit, die ihre auf den Exoten gerichtete Sinnlichkeit auslebt und nicht verleugnet. Beide Frauen befreien sich von dem Druck der Konvention, dass außereheliche Liebesbeziehungen verwerflich sind und folglich im Verborgenen gehalten werden müssen. Obwohl sie sehr verschiedenen Schichten angehören – in Spitzenkleid und Schlangenlederschuhen die eine, den Säugling an der nährenden 38 Wiechert, Exote, S. 133. 39 Wiechert, Exote, S.140

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Mutterbrust die andere – verbünden sie sich miteinander gegen die Fraktion der Honoratioren. Zu diesem Kreis der aufbegehrenden Frauen gehört letztlich auch Barbara, obwohl sie in ihrer Passivität zunächst stark von den beiden anderen abzustechen scheint. Diese jetzige Ehefrau des Sägemühlenbesitzer war einst die Jugendliebe Wolf Wiltangels – und wahrscheinlich war sie auch – genau erfährt das der Leser nie – der geheime Anlass für seine unerwartete Rückkehr nach Riechenberg. In der BarbaraHandlung hat Ernst Wiechert, wenn auch verhüllt, die schwierigen Umstände seiner Liebesbeziehung zu Marie Junker poetisch ausgemalt. In Jahre und Zeiten macht er nur eine karge Andeutung zu der Lage, in der sich die von ihm verehrte Frau befand, als er sie in seinem letzten Königsberger Jahr kennen gelernt hatte. Wiechert schreibt dort über ihre Situation: „Eine glücklose Welt, eine glücklose Ehe. Ein Kind, das sich an einen alten reichen Mann hatte ketten lassen – und er blickte mit dem Lächeln eines alten reichen Mannes auf die Kinderträume, die unter seinen Augen starben.“40 Ein angekettetes Kind ist auch die Barbara des Romans, und Wiechert schildert seinen Lesern, wie solche Ketten damals geschmiedet wurden: Barbara musste mit dem Sägewerksbesitzer Runge einen ungeliebten und viel älteren Mann heiraten, weil dieser reich und bereit war, mit einer beträchtlichen Geldsumme zu vertuschen, dass in einer von ihrem Vater verwalteten Kasse Geld fehlte. Ihr Vater hatte sie zu dem Eid genötigt, darüber zu schweigen und nicht zu versuchen, aus dieser Ehe durch Scheidung zu entkommen. Barbara fühlt sich durch den Schwur gebunden, sie hat sich in ihr Schicksal ergeben und ist weitgehend erstarrt, allerdings nicht gänzlich: Zwar wagt sie es nicht, ihre Ehe infrage zu stellen, doch leugnet sie weder vor sich selber noch vor ihrem Jugendfreund Wolf Wiltangel ihre Liebe zu ihm. Ernst Wiechert hat in seinen Roman eine kleine Anspielung eingebaut, die zeitgenössischen Lesern nicht auffallen konnte, die man aber im Nachhinein als eine Huldigung an seine zweite Frau entschlüsseln kann: Wolf Wiltangel nennt Barbara „Pensée“, also „Stiefmütterchen“ wegen ihrer geheimnisvoll-schwermütigen Augen. Dieser Blumenvergleich erinnert daran, dass Wiechert seine zweite Frau „Lilje“, also Lilie nannte. Wir wissen nicht, bis zu welchem Grade er die Gestalt und das Schicksal der Marie Junkers dichterisch verändert und verfremdet hat; – doch es gelingt ihm, mit der Gestalt der Barbara dem Leser vor Augen 40 Wiechert: Jahre und Zeiten, S. 244.

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zu führen, wie schwierig es ist, einen Menschen aus einer solchen Zwangslage und aus seinen inneren Fesseln herauszulösen. Dass es bei Barbara ohne Beschädigung ihres Innern möglich wird, ist im Roman nicht nur das Ergebnis der geduldigen Bemühungen ihres Geliebten. Und es ist auch nicht nur dem Umstand zu verdanken, dass ihr Ehemann sich schließlich als der Anstifter einer Brandlegung erweist, durch welche er den drohenden Bankrott seines Sägewerks abwenden wollte. Zwar hat sich Runge durch diese Handlung moralisch derart diskreditiert, dass in Barbaras Augen der Eid nicht mehr gilt und ihre Eheverpflichtung hinfällig geworden ist. Doch die endgültige Befreiung Barbaras ist eine Folge des Versuchs von Fräulein Vierkant, unter Hintansetzung des eigenen Rufes dem als Brandstifter verdächtigten Exoten ein Alibi für die fragliche Nacht zu verschaffen. Auch Barbara gibt schließlich infolge dieses Beispiels im Gerichtssaal ihren Ruf preis und sagt wahrheitsgemäß aus, dass Wolf Wiltangel sich in der Brandnacht in ihrem Schlafzimmer aufgehalten hatte. Sie tritt damit in den Kreis der mutigen Frauen ein, die sich gegen das Lügengespinst der herrschenden Konventionen zu wehren beginnen. Am Ende des Romans haben die Aufrührer mehrere Teilsiege errungen: Barbara entrinnt ihrer Ehe, der Exote gewinnt seine Barbara und reist mit ihr zurück ins Wunderland Argentinien. Die Gymnasiasten bleiben zwar vorläufig weiter der Herrschaft des Lehrerkollegiums unterworfen, doch im Kampf um ihre Rechte stärkt sie Wiltangels Versprechen, dass seine Hazienda ihnen nach absolvierter Schulzeit offen stehen wird. Die Arbeiter finden im neuerbauten Sägewerk unter einem anderen Besitzer wieder Arbeit – wenn auch über die Höhe der künftigen Entlohnung nicht gesprochen wird. Linas Ehre ist durch das Gerichtsurteil bekräftigt worden – mit ihrem Schicksal war sie ohnehin immer im Reinen. Und Fräulein Vierkant lässt sich von niemandem das kurze wilde Glück in Frage stellen, das sie am See mit dem Exoten erleben durfte. So verschieden wie die Ausgangslage der einzelnen Personen und Gruppen war, so verschieden sind ihre Erfolge und ihre Kompromisse. Vor allem aber ist das Ansehen der so wenig ehrenwerten Honoratioren Riechenbergs erheblich beschädigt worden: Runge kommt als Brandanstifter ins Gefängnis, die Ehefrau des Amtsgerichtsrats wurde durch das Ergebnis ihrer Beleidigungsklage gegen Lina derart blamiert, dass auch das Prestige ihres Mannes darunter leidet, und der Direktor des Gymnasiums muss sich für die Zukunft auf einen erheblichen Autoritätsverlust bei seinen Schülern und deren Eltern einstellen. Und weil

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Riechenberg eine Kleinstadt ist, hat das ein jeder mitgekriegt – so dass in Zukunft mancher weniger bereit dürfte, sich dem Diktat des Herkömmlichen zu unterwerfen. Das Kräfteverhältnis in Riechenberg hat sich demnach deutlich verschoben – und das konnte nur gelingen, weil sich Gegenkräfte bündelten. Das geschah nicht absichtsvoll, ursprünglich hatten die verschiedenen Gruppen kaum etwas miteinander gemeinsam, und die Ereignisse vollzogen sich überwiegend planlos – jedoch mit innerer Folgerichtigkeit. Aus diesem Gemisch von spontanem Aufbegehren, passenden Zufällen und geheimer Logik resultiert die Komik der Romanhandlung, die Wiechert zusätzlich dadurch unterstreicht, dass er in den Kapitelanfängen ironisierend das Vokabular und die Ordnungsschemata der Meteorologie zum Vergleich heranzieht: Wolken und Wind ändern unauffällig, aber zwingend die scheinbar stabile Großwetterlage und führen unerwartet einen Ausbruch der Elemente herbei.41 Ernst Wiechert wird wohl schon während der Niederschrift des Textes klargeworden sein, dass dieses Buch im Falle seines Erscheinens sehr viel mehr Staub aufwirbeln würde, als ihm lieb sein konnte. Als eine Art sozialkritischer Unterhaltungsroman hätte es zu Beginn der dreißiger Jahre zwar durchaus Erfolgschancen beim Publikum gehabt – doch Wiechert war noch immer als Lehrer tätig, sein Abgang aus Königsberg war noch nicht vergessen, und die Satire auf den Schulbetrieb hätte ihm unter seinen Kollegen neue Feinde eingebracht, die er nicht brauchen konnte. Sicherlich behielt er aus diesem Grunde das Manuskript zunächst im Schreibtisch. In den folgenden Jahren des Nationalsozialismus und des Nachkriegs war aus Wiecherts Sicht das Thema dieses Buches wohl zu leichtgewichtig und sein heiterer Ton dem Ernst der Lage nicht mehr angemessen. So blieb der Text über die Jahre liegen und hatte, als er endlich an die Leser kam, seinen aktuellen Zeitbezug inzwischen eingebüßt. Wie wenig man im Erscheinungsjahr 1951 mit dem Büchlein anzufangen wusste, lässt sich einer Äußerung von Gerhard Kamin, einem früheren Schüler und späteren Freund Ernst Wiecherts, entnehmen. Sie befindet sich auf einem kleinen Faltblatt, das der Desch Verlag der Erstausgabe des Exoten beigelegt hat.42 Kamin rechnet offenbar bei den 41 Wiechert, Exote, vgl. S. 75, S. 96 u. S. 142 – 143. 42 Vgl.: Gerhard Kamin über den Roman der Exote. In Faltblatt: Das Gesamtwerk von Ernst Wiechert. – Für den Hinweis auf den Text danke ich Sigrid

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Wiechert-Lesern mit einer beträchtlichen Verständnislosigkeit dem Roman gegenüber und nimmt eine geradezu entschuldigende Haltung ein. Er verweist andeutend auf die Krisensituation, in der sich Wiechert bei der Niederschrift befand, und beteuert, dass sich Wiecherts sarkastische Haltung seitdem geändert und vor allem gemildert habe. Das Herzstück des Romans, die spöttische Kritik an den Schul- und Gesellschaftsverhältnissen der zwanziger Jahre, wird von Kamin zu diesem Zeitpunkt offenkundig als ein Makel empfunden. Liest man den kleinen Roman heute neu mit dem Abstand von fast achtzig Jahren gegenüber seiner Entstehungszeit, mag man den Eindruck gewinnen, von einer versunkenen Epoche zu hören. Ein Negativ-Urteil schließt eine solche Feststellung allerdings für mich nicht ein. Als ein Zeitzeugnis der zwanziger Jahre ist das Buch auch ein Dokument verhaltener Widerständigkeit – und einer vagen utopischen Hoffnung.

Apitzsch sowie Mechthild Ernst, in deren Exemplar des „Exoten“ sich das Faltblatt erhalten hat.

Väter bei Ernst Wiechert brbel beutner „Ein einfacher Mann, der nichts als die Bibel liest, aber welche Zartheit des Herzens hinter seiner Schweigsamkeit! Immer noch küsse ich seine Hand, wenn ich ankomme und fortgehe“.1 In seinen Lebenserinnerungen Jahre und Zeiten setzt Ernst Wiechert seinem Vater ein Denkmal voller Ehrerbietung und Dankbarkeit. Der erste Teil seiner Lebenserinnerungen, Wlder und Menschen, enthält dagegen eine Aufarbeitung der Belastungen in seiner Kindheit. „Ich glaube niemanden zu kränken, weder Lebende noch Tote, wenn ich erzähle, daß in meinem Elternhaus nicht immer die Sonne geschienen hat“.2 Trübe Stunden ergaben sich aus dem Hang des Vaters zur Geselligkeit, die er außerhalb des Hauses und auch außerhalb der Ehe mit der stets schwermütigen Frau suchte. Wiechert schildert diesen „Hang“ taktvoll und andeutungsweise. Aber da seine fröhlichen Gefährten, zu denen er sich dann begab, es nicht bei der Heiterkeit des Wortes bewenden ließen, sondern eines stärkeren Anreizes bedurften, um ihre Sorgen zu vergessen, so mag es wohl zu Festen gekommen sein, die sehr lange dauerten, länger, als es mit dem strengen Sinn meiner Mutter für Ordnung und Sitte vereinbar war.3

Es folgten Stunden oder gar Tage voll unheilvollen Schweigens, unter dem das Kind sehr litt. Am schlimmsten aber waren für den kleinen Ernst Aufenthalte in einem Wirtshaus, zu denen der Vater von Trilljam, einer Verkörperung des Bösen, verführt wurde, wenn er vom Fischen heimkehrte, wobei ihn der Sohn begleitete. Eigentlich war das Fischen in dem gepachteten See für den Jungen ein Festtag. „Aber auch über solchen Festtagen 1 2 3

Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. In: Ernst Wiechert: Sämtliche Werke, Bd. 9, Wien/ München/ Basel 1957, S. 331 – 800, Zitat S. 455. Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 5 – 196, Zitat S. 40. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 41.

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hingen düstere Wolken“.4 Denn „die angstvolle Frage, ob wir nun nach beendeter Arbeit nach Hause fahren würden, mit Ehre, Erfolg und Geld versehen […] oder ob die Fahrt zuerst in eines der Dörfer gehen würde, zur Rast in einem Wirtshaus“,5 quälte das Kind. Wiechert entschuldigt seinen Vater, gibt alle Schuld dem verhassten Trilljam, der, als eine echte Teufelsfiguration, an den Kreuzwegen auf seine Opfer wartet, „indes die Flüche von Müttern und Kindern ohnmächtig von dem Staube bedeckt werden, der sich hinter seinem Wagen erhebt…“.6 Einmal ist wohl die Rede von „den scharfen Getränken“,7 „die in unserer Speisekammer aufbewahrt wurden“,8 aber ansonsten fällt kein verfängliches Wort über das Elternhaus, und die Kindheit in den Wäldern wird als paradiesische Zeit beschrieben. Der Vater bleibt die entscheidende, richtungsweisende Person im Leben des Sohnes. Er begleitet den jungen Ernst und seinen Bruder nach Königsberg zur Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, und dann kehrt leitmotivisch in Wiecherts Lebenserinnerungen das Bild des Vaters wieder, der den Sohn abholt oder zurückbringt, wenn er wieder in die Stadt muss. Und mir ist in Erinnerung, als sei auch mein Vater immer müder und gebeugter geworden, nicht so sehr beim Empfang als vielmehr beim Abschied, wenn er uns wieder zur Bahn brachte. Wahrscheinlich ist das eine Täuschung, aber der innigste Teil meiner Liebe zu meinem Vater ist an dieses Bild gebunden, wie er vom Wagen uns zuwinkt oder, mehr noch, wie das Fuhrwerk mit ihm wieder verschwindet, auf der schmalen Straße, den Wäldern zu.9

So sieht er ihn als Schüler, in Wlder und Menschen, und so sieht er ihn als Student, als er nach den Semesterferien wieder nach Königsberg fährt, um sein Studium fortzusetzen, mit dem er sich noch nicht einig ist. „[…] und wieder sah ich meinen Vater zurückfahren über die nebligen

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Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 44. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 45. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 46 – 47. Vgl. dazu: Bärbel Beutner: Das moralische Gesetz im Werke Ernst Wiecherts. In: Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert. Hg. v. Bärbel Beutner u. Hans-Martin Pleßke, Frankfurt/Main 2002. S. 157. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 42. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 42. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 105 – 106.

Väter bei Ernst Wiechert

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Felder, verlassen und gebeugt, und ich stand am Fenster meines Abteils, bis der letzte blaue Waldstreif versunken war“.10 Sein Vater ist der, „von dem ich mein Sittengesetz empfangen habe“,11 „[…] und das gleiche Blut schlug in seinem und meinem Herzen“.12 Beide, Vater und Sohn, brauchen die Stille und die Natur. 1911 ziehen die Eltern in das Ostseebad Cranz. Der Vater hat bei einem Jagdunfall ein Bein verloren und kann seinen Beruf als Förster nicht mehr ausüben, und die Mutter wünscht eine Veränderung. „Mein Vater ließ auch dieses geduldig mit sich geschehen“.13 Er verlässt schweren Herzens seine masurischen Wälder, und der sommerliche Badebetrieb ist ihm offenbar zuwider. „Er kam aus einem stillen Leben, in dem nur die Bäume schweigend oder rauschend um ihn gewesen waren, und er mochte diese lauten, lärmenden Massen nicht sehen“.14 Er ist ein Vorläufer der Helden der Wiechert’schen Romane, die das „laute Leben“ fliehen und die Stille und Einsamkeit suchen. Bereits in Wiecherts erstem Roman Die Flucht verlässt der Protagonist, Oberlehrer Peter Holm, die Stadt und sein Amt, um das Leben eines Bauern in den Wäldern und am See zu führen.15 Dieselbe Entscheidung trifft der Korvetten-Kapitän Thomas von Orla in dem Roman Das einfache Leben, geschrieben 1939.16 Ein Vierteljahrhundert liegt zwischen diesen beiden Werken, der Dichter hat inzwischen einen schweren Schicksalsweg zurückgelegt, aber unverändert bleibt die Sehnsucht nach dem „stillen Leben“ in der Natur. An Wendepunkten seines Lebens findet Ernst Wiechert Halt und Trost bei seinem Vater. Im Zusammenbruch am Ende des Krieges tut er seine Pflicht „und oft mehr als das, nicht aus verzweifelter Tapferkeit […]. Ich vergesse nie, was ich meinen Achselstücken schuldig bin und daß ich einmal meinem Vater werde Rechenschaft ablegen müssen. Nicht meinem Regimentskommandeur, der im Hinterland Rebhühner schießt, und nicht dem Kaiser, der die Entfernung zur holländischen

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Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 362. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 500. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 506. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 433. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 433 – 434. Ernst Wiechert: Die Flucht. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 5 – 238. Ernst Wiechert: Das einfache Leben. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 357 – 726.

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Grenze abmißt, sondern meinem Vater allein, von dem ich mein Sittengesetz empfangen habe“.17 Regimentskommandeur und Kaiser schneiden schlecht ab bei dieser Überlegung. Pflichterfüllung und Loyalität zum Vaterland hat der Offizier von seinem Vater, der „das zarte Herz eines einfachen Mannes“ hatte,18 „und das gleiche Blut schlug in seinem und meinem Herzen“.19 So findet der Heimkehrer, der bald merkt, dass er sich mit den Daheimgebliebenen nicht mehr versteht, bei seinem Vater das Verständnis, für das keine Worte nötig sind. „Ich zog meine Uniform aus und ging zu meinem Vater, einen Weg von zwei Stunden, und dort war ich nun wohl zu Hause. Er fragte nichts und wollte nichts wissen […], und wir saßen einander gegenüber, als hätte der Krieg uns beide geschlagen“.20 Über zehn Jahre später nimmt der Sohn wieder Zuflucht zum Vater. Schwere Einbrüche haben das Leben des Dichters verändert. Seine Ehe mit Meta Mittelstädt endet mit dem Selbstmord der Frau. Er hat bei einem Bruckner-Konzert in Königsberg Paula Junker geb. Schlenther erblickt, und die schöne Frau mit dem traurigen Gesicht, „ihr völliges Alleinsein inmitten der Menschen und Klänge, der Farben und der Lichter“ wird zu einer schicksalhaften Begegnung.21 „Ich wußte, daß mein Schicksal dort saß, und ich nahm es auf mich. Ich wußte, was es bedeutet, ein Schicksal auf sich zu nehmen. Es war mehr als ein Wort, es war eine Last von Leid und Tränen, aber wer sie zu Ende trug, hatte ein neues Leben gewonnen“.22 Paula Junker, von Wiechert später „Lilje“ genannt, ist noch verheiratet, Meta Wiechert verkraftet die Trennung nicht und scheidet aus dem Leben – der Skandal zwingt Wiechert, aus dem Schuldienst auszuscheiden und Königsberg schließlich zu verlassen. Ein Urteil über das Verhalten dieser Menschen oder gar über die Ehe der Wiecherts steht einem Außenstehenden nicht zu. Hans-Martin Pleßke schreibt in seiner Abhandlung Der die Herzen bewegt: Meta war ihrem Mann eine treue und ebenbürtige Partnerin. Das geht aus Briefen von Meta hervor, aber auch aus einem Zitat vom 5. Februar 1922, wo Wiechert an Tucholski schrieb: ,Sie hat fast immer eine fast erschre17 18 19 20 21 22

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9,

S. 500. S. 506. S. 506. S. 506. S. 580. S. 581.

Väter bei Ernst Wiechert

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ckende Gesundheit und Untrüglichkeit des Urteils. Und bei meinen eigenen Werken ist sie die für mich maßgebendste Instanz‘.23

Als er im Herbst 1929 die Tote nach Masuren bringt, wo sie, ihrem Wunsch gemäß, am Kleinen Maitzsee auf dem Waldfriedhof Pfeilswalde neben dem 1917 geborenen und gestorbenen Sohn Ernst-Edgar begraben werden sollte, steht ihm die Begegnung mit Menschen bevor, die ihn gnadenlos verurteilen. Meta Wiechert wünschte die Worte „Alles um Liebe“ auf ihrem Grabstein, und „Ihr letztes aufgezeichnetes Wort war Vergebung für mich“, weiß der Dichter. Aber von den Trauergästen erfährt er einen „Haß, der mich aus allen Augen eisig ansah. Aus allen, und am meisten vielleicht aus denen des Pfarrers, der uns getraut hatte. […] Ich sah auf seine Lippen, die die bösen Worte sprachen, die Lippen eines finsteren Eiferers…“.24 Wiechert fährt zu seinem Vater nach Peitschendorf.25 Wieder begegnet ihm das Schweigen, keine Fragen, keine Kommentare. „[…] und es war mir, als falle seine schweigsame Liebe wie ein Balsam in jede Wunde meines wunden Herzens. Auch er hatte die Bibel gelesen, wie jener Pfarrer, aber er hatte sie anders gelesen. Er hatte sie nicht wie ein Richter gelesen, sondern wie der Vater des verlorenen Sohnes“.26 Im Januar 1937 stirbt Martin Emil Wiechert, und Ernst Wiechert besucht ihn im Sommer 1936 zum letzten Mal. „Mein Vater war von einer stillen, fast feierlichen Liebe zu mir, und bevor ich ihn verließ, fuhren wir einen halben Tag lang durch seinen Wald, langsam und ganz in die Erinnerung versunken. […] Wir fühlten beide, dass wir einander nicht mehr wiedersehen würden“, vermerkt der Sohn, doch dann sagt er: „Aber ich habe ihn niemals verloren“.27 In dem Essay „In der Heimat“ – Hans-Martin Pleßke nennt ihn „einen seiner schönsten Essays“ – schildert Wiechert den Abschiedsbesuch bei seinem Vater.28 Der Vater war über achtzig Jahre alt und hatte den Wunsch geäußert, den Sohn noch einmal zu sehen – nicht expressis verbis. „Und ich verstand aus seinem kurzen Brief mit den 23 Hans-Martin Pleßke: Der die Herzen bewegt. Ernst Wiechert, Dichter und Zeitzeuge aus Ostpreußen. Hamburg 2003, S. 18 – 19. 24 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 598. 25 Nach dem Tode der Mutter 1912 war Martin Emil Wiechert nach Peitschendorf zurückgekehrt. 26 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 598. 27 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 660 – 661. 28 Pleßke, Der die Herzen bewegt, S. 23.

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zitternden Buchstabenreihen, daß es Zeit sei. In unsrem schweigsamen Leben hatten wir gelernt, das nur Angedeutete, ja auch das Verschwiegene zu erkennen“. „So machte ich mich denn auf den Weg“.29 Am letzten Tag seines Besuches fährt der Sohn den Vater in den Wald. „Mein Vater saß neben mir, noch kleiner geworden in dem tiefen Sitz als damals, wenn er uns zur Bahn gebracht hatte und nun wieder heimfuhr, in die Wälder, die ihm leer schienen ohne uns“.30 Es ist eine Fahrt in die Vergangenheit, aber in der Natur, im Wald, wo „die alten Gesetze bewahrt“ werden,31 hebt sich die Zeit auf. Erinnerungen tauchen auf, alte Spuren werden gefunden, und Vater und Sohn erleben eine Gemeinsamkeit über die Grenzen der Generationen hinweg. Wir vergaßen, daß der eine von uns den Tod erwartete und der andre ein flüchtiger Gast in diesen Räumen war, weit zu Hause von hier, in einem andern Land, mit einem andern Leben, reich an Liebe und Plänen, dem Dasein noch unlöslich verflochten. Wir waren zurückgegangen, Hand in Hand, bis an unsern Anfang. Wir hatten die Zeit ausgelöscht, die Gegenwart ausgestrichen, und die Zukunft stand nur an der nächsten Biegung des Weges.32

Der Vater kann sein Leben im Einklang mit sich selbst beenden; der Sohn weiß es. „Alles hatte seine Zeit, und er wollte ja hinausgehen aus der Zeit, ohne etwas zu halten oder mitzunehmen“.33 Die Gelassenheit, mit der der Vater dem Ende seines Lebens entgegensieht, gibt Ernst Wiechert Anlass, an sein eigenes Ende zu denken, als er vom Vater Abschied nimmt. „Sein Gesicht war wie immer, gütig, mit einem leisen Schimmer der Traurigkeit, der nur mir vernehmlich war. Und ich dachte, ob es mir auch einmal gegeben sein würde, so still und ruhig dazustehen, wenn das Leben Abschied von mir nähme“.34 1938 schrieb Wiechert diese Worte über seinen Vater. In dem Roman Die Jerominkinder, an dem er Mitte der vierziger Jahre arbeitete, tritt in Jakob Jeromin eine Vaterfigur auf, die die gleichen Wesenszüge zeigt:35 Einfachheit, Frömmigkeit, Güte, engste Verbundenheit mit dem Wald und mit der Natur. Der Vater des Protagonisten Jons Ehren29 30 31 32 33 34 35

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 771 u. 772. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 774. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 776. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 777. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 783. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 782. Ernst Wiechert: Die Jerominkinder. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 5 – 978.

Väter bei Ernst Wiechert

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reich Jeromin – er hat sieben Kinder mit seiner Frau Marthe – ist ein Köhler, der im Wald den Meiler betreibt und in einer Hütte mit Mooswänden die meiste Zeit verbringt. Sein Sohn Jons verehrt ihn und lernt von ihm. Der Vater konnte mehr, als die Mutter meinte. Er war der Herr des Waldes, mehr als der Herr von Balk (der Grundbesitzer), und wie er dastand, das Mondlicht auf dem hellen Haar und die Stange wie einen Speer im Arm, war er wohl wie ein König Löwenherz, allein im fremden Land, nur von seinem treuen Sänger Blondel bewacht.36

„Und nur wer die Herzen bewegt, bewegt die Welt“,37 lehrt er seinen Sohn, und das seien nicht Kaiser und Könige, sondern diejenigen, die helfen und Leiden lindern und Gerechtigkeit herbeiführen. „Er hatte nur seinen Wald gehabt und dreißig Jahre der Einsamkeit. Und die Bibel, in der er zu lesen pflegte, solange seine Augen die Buchstaben erkennen konnten“.38 Bibelfest wie der alte Wiechert, spricht auch der Vater Jeromin in den Bildern und Botschaften der Bibel. Er erzählt seinem Sohn, wie er sich gegen den Landrat stellte, der ihn behandelte, „als sei nur der arme Mann aus Lehm gemacht“, und wie dieser „zornig [wurde] und ergrimmte, wie es in der Bibel heißt“. Der Sohn lernt daraus, „daß man sich vor den Menschen nicht fürchten solle. Auch vor den Kaisern und Königen nicht“.39 „Zivilcourage“ wäre ein unpassend modernes Wort in dieser Lehrstunde. Die Eheleute Jeromin haben sich entfremdet. Enttäuschungen und ein schwerer Alltag ließen Frau Marthe hart und bitter werden. „War dies nun das Leben? Für alle Frauen, die einmal geliebt hatten? Kam niemals mehr etwas zu ihnen, das sie das andere vergessen ließ, dies Tagwerk voller Last und Bitterkeit?“,40 fragt sie sich. Noch mehr bedrückt sie das „fremde“ Blut in ihren Kindern. „Er ( Jons) und Maria hielten zum Vater, stille Kinder, die vor einem harten Wort erschraken. Sein Blut, nicht das ihrige“,41 und sie empfindet sogar „Dieses Fremdsein unter Mann und Kindern“.42 Jakob Jeromin bewahrt sich Milde und Güte gegen jedermann, und er zeigt Verständnis für seine 36 37 38 39 40 41 42

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

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Bd. 5, S. 25. Bd. 5, S. 18. Bd. 10, S. 782. Bd. 5, S. 27. Bd. 5, S. 34 Bd. 5, S. 15. Bd. 5, S. 34.

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Frau. Es eskaliert, als das Mädchen Erdmuthe, das ein Kind von Jons’ Bruder Michael erwartet, Frau Marthe um Aufnahme bittet. Jons steht ihr bei, und als er der Aufforderung der Mutter, das Mädchen aus der „Armen Sünde“ loszulassen, nicht folgt, schlägt diese ihm ins Gesicht. Jons bringt die Schwangere zum Vater in den Wald. Der Vater nimmt Erdmuthe auf und ist stolz auf seinen Sohn Jons, was er wiederum mit biblischen Bildern zum Ausdruck bringt. Es war nicht viel, was er vor sich gebracht hatte, aber es waren sieben Kinder da, und wenn nur eines das Senfkorn war, dann würde der Baum wachsen. Jons war geschlagen worden, aber manchmal kam es vor, daß ein Kind von einem einzigen Schlage reif wurde, über Nacht. Gott lenkte nicht nur mit Psaltern und Verheißungen.43

Doch auch für die Reaktion seiner Frau hat er Verständnis und weckt dieses auch bei Jons, als er ihm Jahre später erklärt: „Ihr sind alle Sterne zerbrochen, nur du nicht. […] Eine Mutter darf viel. Als wir ausgetrieben wurden, hat Gott uns nur den Schweiß bestimmt, ihnen aber die Schmerzen. Schmerzen sind mehr als Schweiß, Jons“.44 Der „Große Krieg“ erfasst auch den Vater. Er muss seinen Wald und seinen Meiler verlassen und Soldat werden. Der Meiler wird gelöscht, weil man keine Holzkohle mehr braucht, für Jakob Jeromin ein Verlust, der ihn zutiefst trifft. „Daß Gott Kinder gab und wieder nahm, hatte er nun in seinem Leben gelernt, aber daß er ihm sein Tagwerk nahm, hatte er noch nicht erfahren. […] Als er den Meiler gelöscht hatte, war ihm gewesen, als lösche er sein Leben aus“.45 Der Vater Jeromin wird nicht aus dem Krieg zurückkehren. Er weiß es, und sein Abschied von seiner Heimat gleicht der letzten Fahrt durch den Heimatwald des Vaters von Ernst Wiechert. Auch Jons weiß, dass der Vater endgültig Abschied nimmt. Niemals würde Jons vergessen, wie der Vater am Nachmittag aus dem Hause trat und vom Tor aus über das Dorf, den See und die Wälder blickte. Er war schon fertig zum Marsch, mit Tornister, Koppel und Gewehr, eine graue Gestalt, die schon in ihrem Äußeren einer anderen Welt angehörte.46

Jons bemerkt ein besonderes Strahlen, das den Vater erfüllt. „Es war nur so, als sei die alte Haut von seinem Gesicht abgefallen, die Asche und 43 44 45 46

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Bd. 5, Bd. 5, Bd. 5, Bd. 5,

S. 268. S. 353. S. 352. S. 403.

Väter bei Ernst Wiechert

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der Ruß der Meilerzeit, das still Wartende und Lauschende, das Zugeschlossene und Abgewendete, und als sei eine neue und kindliche Haut über sein Gesicht gespannt“.47 Der Vater betrachtet seine Heimat mit leuchtenden Augen, und Jons erscheinen die Natur und das Dorf verwandelt, „seit der Vater es mit seinen Augen umfaßt hatte“.48 Der Vater aber hat auf seinem Weg in den Osten die Ähnlichkeit zwischen seiner Heimat und dem „fremden Land“ erkannt. „,Diese kleinen Dörfer‘, sagte er, ,hier und auch in dem fremden Land … immer ist mir, als könnte Christus in ihnen geboren sein‘“.49 Zu diesem kindlich frommen Mann mit dem „reinen Herzen“50 gibt es eine Gegenfigur: Albert Zerrgiebel in dem Roman Die kleine Passion (1928/29).51 Die Bauerntochter Gina Karsten gibt dem Werben des Gerichtssekretärs Albert Zerrgiebels nach und folgt ihm in die Kreisstadt, nicht aus Liebe und Zuneigung, sondern weil der verwitwete Zerrgiebel sie unter Druck setzt. Sein schriftlicher Heiratsantrag von einer für Gina betäubenden Länge […] gipfelte in zwei düsteren Drohungen. Die Grundlage der einen war das bisher verborgene Bekenntnis, daß er ein Kind habe, von seiner verstorbenen Frau, einen unendlich zarten und reizenden Knaben, der in der Stadtpension verkümmere gleich einer Blüte im Keller, der seine Augen klagend auf ihn richte, ob er seinem verwaisten Herzen nicht bald eine Mutter geben wolle.52

Die zweite Drohung ist die Ankündigung seines Selbstmordes, falls Gina seinen Antrag nicht annehme. Er wolle sich erhängen. Albert Zerrgiebel, der „wie ein Maulwurf“53 auf dem Karstenschen Hof auftaucht, erweist sich gleich als ein selbstgerechter Schwätzer, der 47 48 49 50

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 403. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 405. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 404. Das „reine Herz“ ist besonders in den Märchen Ernst Wiecherts von großer Bedeutung. Das reine Herz kann durch einen nutzbezogenen Gedanken gestört werden. In dem Märchen „Die Königsmühle“ gerät ein Land unter die Herrschaft eines blutrünstigen Tyrannen, der von drei furchterregenden Wölfen bewacht wird. Nur ein Mensch reinen Herzens kann die Bestien besiegen. Drei Jünglinge versuchen es, aber da sie im letzten Moment an einen Nutzen denken, gar nicht einmal für sich selbst, sondern für andere, scheitern sie und werden von den Wölfen zerrissen. Vgl. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 108 – 109. 51 Ernst Wiechert: Die kleine Passion. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 5 – 301. 52 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 20. 53 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 13.

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durch die Herabsetzung anderer sich selbst vorteilhaft darstellen will. Gina durchschaut ihn und reagiert eher ablehnend, und dennoch nimmt sie seinen Antrag an. Sie scheint in eine ähnliche Situation zu geraten wie Antonie Buddenbrock, die sich nach langem Sträuben dem beharrlichen Werben des Bendix Grünlich beugt, aber nach drei Jahren Ehe ihrem Vater gesteht: „Ich habe ihn niemals geliebt – er war mir immer widerlich – weißt du das denn nicht?“54 Während sich Grünlich, der Mitgiftjäger, bei seinem ersten Besuch bei den Buddenbrooks verbindlich gegen alle Anwesenden verhält, Komplimente macht und seine geschäftlichen Verbindungen und vor allem seine christliche Gesinnung hervorhebt, setzt Zerrgiebel bei seinem ersten „Auftauchen wie ein Maulwurf“ mehr auf Mitleid. Er hat ein Siedlungshaus am Stadtrand, nahe am Wald, „weil die Stadt ihn töte, Menschen, dumpfe Luft und so weiter“. Unter dem Tod seiner Frau leidet er offenbar so sehr, dass er die Kuh verkauft hat. „Er habe es einfach nicht ertragen, den klagenden, sozusagen menschlichen Blick dieses Tieres jeden Morgen auf sich gerichtet zu fühlen, den Blick, der zu fragen schien, wo denn die Herrin des Hauses bleibe“.55 Auf das schweigsame Bauerngeschlecht der Karstens, die von der Nordsee stammen, muss diese Gefühlsdarstellung befremdend, vielleicht sogar abstoßend wirken. Doch sie äußern sich nicht, während der Konsul und die Konsulin Buddenbrook von dem wohlerzogenen und christlichen jungen Mann ganz angetan sind. Beide, Grünlich und Zerrgiebel, haben eine Eigenart in ihrer Körpersprache. Grünlich verbeugt sich stets, „indem er mit dem Oberkörper einen Halbkreis beschrieb“.56 Zerrgiebel hat die peinliche Gewohnheit, ab und zu seine langen und sehr knochigen Finger auf eine unangenehme Weise ineinander zu verflechten und eine Reihe knackender Geräusche hervorzubringen, als breche er Glied für Glied einzeln auseinander. Dann legte er alle zehn Fingerspitzen sorgfältig zusammen und betrachtete sie liebevoll, als wolle er sich ihres unversehrten Zustandes versichern.

Gerade die Bräute in spe nehmen Anstoß an derartigen Verhaltensweisen, jedenfalls Gina Karsten. „Nur einmal hob sie ihre seltsamen 54 Thomas Mann: Buddenbrooks. Frankfurt/M./Gütersloh 1957, S. 197. 55 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 15. 56 Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 84.

Väter bei Ernst Wiechert

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Augen zu seinem Gesicht und sagte leise: ,Bitte, müssen Sie das tun?‘“.57 Während Tony Buddenbrook dem Drängen ihrer Umgebung nachgibt und letztendlich auch selbst davon überzeugt ist, ihrer Pflicht der Firma und der Familie gegenüber Genüge zu tun, indem sie den ungeliebten Grünlich ehelicht, erfolgt Ginas Entscheidung aus einer tiefen, ins Mythische gehenden Schicksalsergebenheit. „Die Menschen sagten von den Karstentöchtern, daß sie kein Glück hätten“,58 und „Gina Karsten unterschied sich in nichts von den schmerzenreichen Vorfahren ihres Blutes“.59 Seit Generationen gehen sie Ehen ein, in denen sie gedemütigt und nicht geliebt werden. „Sie waren demütige Frauen, aber die Schmach ihrer Demut war, daß sie ihre Stirnen neigen mußten vor dem, was geringer war, und die Männer aller Karstentöchter waren geringer als sie selbst“.60 Dieses Fatum nimmt auch Gina an, als sie dem Zerrgiebel ihr Jawort gibt. Es ist eine Art Mission für sie, dem Unglücklichen, dem „Geringsten“ beizustehen. „,Die Karstentöchter haben kein Glück‘, sagte sie unten zu ihrem Vater, ,aber wenn sie nicht wären, würden andere vielleicht noch weniger Glück haben. Gott braucht sie wohl für die Glücklosen‘“.61 Und so geht sie eine Ehe ein, die von Anfang an von fehlendem Glück geprägt ist. „Es war keine frohe Hochzeit, und der Schatten der Glücklosen lag schwer über dem weißen Tafeltuch“.62 Aber nicht nur das: die Ehe wird zur Hölle durch den selbstgerechten, pedantischen und sadistischen Zerrgiebel und durch seinen Sohn Theodor aus erster Ehe, der noch mehr als sein Vater das Böse zu verkörpern scheint. Gemeinsam ist beiden „die Querfalte zwischen seinen Augenbrauen“, der Sohn ist „wie ein kleines böses Tier“, und „seine eng zusammenstehenden Augen funkelten wie die einer Ratte“.63 Obwohl Gina bald erkennt, „daß sie sich scheiden lassen müßte, daß sie eher sterben müßte, als so zu leben“, wird sie schwanger. Ihre erste Raktion ist „namenloses Entsetzen“,64 aber dann scheint sie zu fühlen, dass das Kind einen anderen Vater hat als seinen Erzeuger Zerrgiebel. 57 58 59 60 61 62 63 64

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3. Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3,

S. 16. S. 9. S. 11. S. 9. S. 21. S. 25. S. 29. S. 35 u. 36.

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Als sie erfährt, dass die erste Frau Zerrgiebels sich im Keller erhängt hat, trennt sie sich von diesem Mann, indem sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer auszieht. Damit beendet sie auch die Vaterschaft Zerrgiebels, indem sie zu sich sagt: „,Ich werde es nun lieben‘, dachte sie, ,ich werde es ganz von Herzen lieben, und Gott wird sein Vater sein …‘“.65 Die Empfängnis außerhalb einer unglücklichen Ehe verhindert, dass die ungeliebten Ehemänner zu den Vätern der Söhne werden. In der Novelle „Pan im Dorfe“ lebt die Förstersfrau Sylvia in einer Ehe, in der sie „ausgelöscht“ wird. „Im dritten Jahre ihres Erlöschens, am Sonnwendtage“,66 erscheint am Abend ein Zigeuner, dem sie in den Wald folgt. „Als die Wälder sich wieder begrünten, wurde das Kind geboren. Die Flüche des Mannes empfingen es“.67 Die Mutter stirbt bei der Geburt. Während Zerrgiebel der biologische Vater des Johannes ist und während die Zeugung des Knaben Silvestris in „Pan im Dorfe“ durchaus realistisch erfolgt, findet in dem Märchen „Das Mutterherz“ eine mystische, geradezu „unbefleckte“ Empfängnis statt.68 Ein armer Flößer spricht über Jahre hin kein Wort mit seiner Frau, „denn die Armut und sein schweres Handwerk hatten seinen Mund stumm und sein Herz böse gemacht“.69 Die Frau wünscht sich sehnlichst ein Kind, und an einem kalten Wintertag kommt ein Rotkehlchen in den Garten, das die Frau mit Buchweizenkörnern füttert. Das Rotkehlchen fliegt durch das Fenster in die Hütte und setzt sich auf ihre Schulter „so dicht an ihren Hals, daß sie den Schlag des kleinen Herzens an ihrer Haut zu verspüren meinte“. Die Berührung bewegt sie zutiefst, „und sie fühlte, ohne es erklären zu können, daß sie gesegnet war“.70 Die Befruchtung durch einen Gott in Gestalt eines Vogels ist ein altes mythisches Motiv. Das bekannteste Beispiel ist wohl Zeus, der Leda in Gestalt eines Schwanes heimsucht; und der Heilige Geist, der über die Jungfrau Maria kommt, nimmt mehrmals die Gestalt einer Taube an. Bei Wiechert bekommt der Mythos eine psychologische Komponente. Die Frauen können ihre unglückliche Ehe nicht verlas65 66 67 68

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, Ernst Wiechert: Das Mutterherz. S. 26 – 59. 69 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 8, 70 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 8,

S. 48. S. 330. S. 332. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 26. S. 28.

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sen, verweigern sich aber den Ehemännern gefühlsmäßig so weit, dass sie sie nicht mehr als Väter ihrer Kinder empfinden. Bemerkenswerter Weise zeigen die Söhne auch keine Ähnlichkeiten mit den Ehemännern der Mütter. Silvestris, dessen Mutter der „tönenden Spur“ des Zigeuners gefolgt war, ist geprägt von Musik und Tönen, ein väterliches Erbe.71 „Früh begann sich in seinem Leben abzuzeichnen, daß die Welt ihm eine Welt der Töne war“.72 Der Knabe im Märchen ist „ein schönes und stilles Kind und folgte seiner Mutter auf Schritt und Tritt“,73 und Albert Zerrgiebel merkt selbst, dass dieses von ihm gezeugte Kind nicht eigentlich sein Kind ist. „Zerrgiebel bemühte sich nicht um sein Kind. Er fühlte dumpf und widerwillig, daß sein Blut unterlegen war. Hier war eine Entscheidung gefallen, klar und unzweideutig, aus der Hand der Natur, und sie hatte gegen ihn entschieden“.74 Die fragwürdigen oder gar falschen Väter – in allen Texten werden sie auch „der Vater“ genannt! – fordern väterliche Rechte ein. Dabei handeln sie böse, ja sie verkörpern das Böse. Der Flößer im Märchen zieht den Sohn zu schwerer Arbeit heran und misshandelt ihn, eindeutig aus Bösartigkeit. „Als er dann älter geworden war, nahm der Vater ihn auf seine Floßfahrten mit, nicht weil er Freude an ihm hatte, sondern weil er ihm eine Hilfe war und jemand, den er auf bequeme Weise schelten und schlagen konnte, wenn das böse Herz ihn dazu trieb“.75 Der Förster zwingt Silvestris, das erlegte Wild zu betrachten, obwohl Silvestris eine außergewöhnliche Liebe zu aller Kreatur zeigt. Als der Förster, „in dem dumpfen Gefühl seines Hasses“,76 von Silvestris verlangt, einen Rehbock aufzubrechen, kommt es zum Eklat. Silvestris läuft in den Wald. Doch der Hass ist auch bei dem Sohn von Anfang an vorhanden. „Sein Vater war ihm ein Wolf, finster, böse und Unheil brütend in den Winkeln der Augen, wo die Seele lag“.77 Und Silvestris stellt sich vor, ihm Steine in den Leib zu packen, damit er in den Brunnen stürzt wie der Wolf im Märchen. 71 Ernst Wiechert: Pan im Dorfe. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 329 – 353. 72 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 332. 73 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 28. 74 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 55. 75 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 29. 76 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 338. 77 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 333.

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Zerrgiebel wirkt auf den kleinen Johannes grauenerregend, auch wenn er als „Vater“ bezeichnet wird. Da „saß ein Mann mit engen Augen und einem spitzen Schnurrbart, der große Hände hatte“.78 Vor den Augen versucht er sich zu verstecken, ohne Erfolg, und die Hände erinnern ihn an tote Fische. Zerrgiebel pflegt bei beiden Söhnen, wenn er Ungehorsam vermutet, den Oberarm zusammen zu drücken. Für den kleinen Johannes hat er dabei übermenschliche, ja dämonische Kräfte und Fähigkeiten. „Dann streckten sich die Finger aus und legten sich um seinen Arm und zerbrachen ihn dort, ganz lautlos, und Johannes schloß die Augen, um das abgebrochene Stück nicht auf die Erde fallen zu sehen“. Die personale Erzählperspektive verstärkt das Entsetzen, das sich noch steigern kann. Die Finger können sich für Johannes in Gräten verwandeln und seinen Hals durchbohren „oder noch etwas Grauenhafteres“.79 Zwischen Vater und Sohn gibt es keine Gemeinsamkeiten, und Albert Zerrgiebel, der merkt, „daß sein Blut unterlegen war“, kann nur mit Spott und Häme auf die ihm fremde Wesensart des Johannes reagieren. Bei der morgendlichen Bahnfahrt in die Kreisstadt, wo er arbeitet und Johannes das Gymnasium besucht, macht er sich vor allen Leuten über ihn lustig. „,Das ist ein besonderes Kind, Herrschaften. Meine Frau hat ihn auf einen Thron gesetzt und ihm eine Krone auf seine edle Stirn gesetzt. Wir beide‘ – er wies auf Theodor (seinen Sohn aus erster Ehe) – ,sind nicht wert, seine Schuhriemen zu lösen. Er macht sogar Gedichte, in seinen Schulheften. Die Sonne weint um meine Seele, und meine Seele sieht ihr zu…‘ Das Abteil brüllte vor Vergnügen“.80 Alle diese Väter nehmen ein unrühmliches Ende. Der Förster in „Pan im Dorfe“ wird erstochen; der Mörder bleibt im Dunkeln. Der Flößer in dem Märchen „Das Mutterherz“ wird von magischen Mächten gerichtet. Seine Gier nach Geld und Gold wird ihm zum Verhängnis. Der Sohn hat einen verlorenen Beutel mit Talern wieder gebracht, die zu Gold geworden sind. Er hat schwere Aufgaben lösen müssen und Prüfungen bestanden. Der Flößer will nur das Gold an sich reißen, aber „im selben Augenblick glühte das Gold auf wie schmelzendes Metall, und eine hohe blaue Flamme schoß an dem Flößer 78 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 50. 79 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 50 u. 51. 80 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 138 – 139.

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empor und verbrannte ihn zwischen zwei Herzschlägen zu einem Häuflein Asche“.81 Mutter und Sohn sind den Quälgeist los. Albert Zerrgiebel schließlich landet im Zuchthaus wegen Geldfälscherei. angezeigt von seinem Sohn Theodor. Dabei haben die Zerrgiebels, „ein Kleinbürgergeschlecht mit ungelüfteten Seelen aus ungelüfteten Stuben“,82 die alle Beamte sind, seit Generationen eine geheime kriminelle Seite. „Da war ein Geldbriefträger, der Geldbriefe geöffnet hatte, ein Kreisausschußsekretär, der Bestechungsgelder angenommen hatte, ein Aktuar, der Winkelgeschäfte betrieb. Aber keinem Zerrgiebel war etwas zu beweisen gewesen, niemals“.83 Auch Theodor sind seine bösartigen Streiche nicht zu beweisen, bis Johannes ihn als den Kopf einer Diebesbande ausfindig macht. Dafür liefert er seinen eigenen Vater und Großvater aus, und nun ist den Zerrgiebels „etwas zu beweisen“. Johannes und seine Mutter können nach vielen Schwierigkeiten den Namen ablegen. Beide heißen nun „Karsten“ und sind die Zerrgiebels los. Dass die Protagonisten dieser Prosa-Dichtungen ihre gewalttätigen, bösartigen und verständnislosen Väter unbeschadet überstehen, ist ein psychologisches Phänomen, das sich sowohl bei Wiechert wie auch bei seinem ostpreußischen Dichterkollegen Hermann Sudermann findet. Die Helden bei Wiechert werden nicht zu Psychopathen, gehen den ihnen wesensmäßig bestimmten Weg, werden reif und moralisch integer. Sie gleichen damit dem Helden in Hermann Sudermanns Roman Frau Sorge. 84 Paul Meyhöfer wächst auf dem Gut Mussainen, einem heruntergekommenen Heidehof im Memelland auf. Dieses Gut, ein Moorgrundstück, mussten seine Eltern beziehen, als ihr angestammtes Gut gerade zum Zeitpunkt seiner Geburt unter den Hammer kam. Paul ist der Jüngste von drei Söhnen; der verbitterte Vater, ein Maulheld, der stets anderen die Schuld an seinem Unglück gibt, sieht seine Geburt als 81 82 83 84

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 59. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 24. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 25. Hermann Sudermann (1857 – 1928) schrieb seinen Roman „Frau Sorge“ 1887, vor seinem großen Erfolg als Dramatiker. Er verarbeitete darin Erfahrungen aus seiner eigenen Jugend, die er später im „Bilderbuch meiner Jugend“ eingehend schildert. Er stellt dem Roman „Geleitverse“ voran, die seinen eigenen Eltern gewidmet sind. „Meinen Eltern zum 16. November 1887. Frau Sorge, die graue, verschleierte Frau,/Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau;/Sie ist ja heute vor dreißig Jahren/Mit Euch in die Fremde hinausgefahren…“ Hermann Sudermann: Frau Sorge. Stuttgart/Berlin 1920.

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ein Unglück an, versagt dem schwachen und kränklichen Kind jede Zuwendung, misshandelt und verachtet es und erklärt es für dumm und unfähig. Die Mutter schützt ihren Jüngsten, so gut es geht, sie liebt ihn und hat Verständnis für sein stilles, melancholisches Wesen, das von der „Sorge“ geprägt ist.85 Der Psychologie zufolge müsste Paul ein gestörter, lebensuntüchtiger Mensch werden, bedingt durch die brutale Behandlung durch den Vater, gibt es doch in der Weltliteratur den Dichter Franz Kafka geradezu als Verkörperung des Vater-Sohn-Konfliktes.86 In seinen ersten Erzählungen „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ thematisiert er den übermächtigen Vater, der den Sohn vernichtet, in seinen Romanen Der Verschollene, Der Prozeß und Das Schloß scheitern die Protagonisten an einer undurchschaubaren Umwelt, an unerklärlichen Gesetzen und besonders an einer eigenen Schuld, die sie selbst nicht erkennen können. Anonyme Instanzen haben die Rolle des quälenden und strafenden Vaters übernommen.87 Das deutlichste Zeugnis aber ist Kafkas „Brief an den Vater“ von 1922, in dem er sein Lebensproblem darlegt. Er sieht unüberwindliche Unterschiede in der Körperlichkeit, im Charakter und in der Wesensart bei Vater und Sohn. Er, der Sohn, sei ein Löwy (Familie der Mutter, in der es höhere Bildung und Intelligenz, aber auch körperliche Schwäche und Kränklichkeit gab). „Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer …“.88 Vater und Sohn haben also nicht dasselbe Blut, wie es auf die Wiechertschen Helden auch zutrifft. Franz Kafka möchte aber Schuldzuweisungen vermeiden, wenn er den Vater auch als Tyrannen darstellt. „Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet 85 Eine genauere Darlegung des Motivs der Sorge findet sich in dem Arbeitsheft der Landsmannschaft Ostpreußen: Bärbel Beutner: Hermann Sudermann. Dramatiker und Erzähler. Hamburg 1995, S. 39 – 43. 86 Die Literatur zu diesem Aspekt ist unübersehbar. Hier sei nur eine nicht sehr umfangreiche, aber ergiebige Abhandlung genannt: Josef Rattner: Kafka und das Vater-Problem. Ein Beitrag zum tiefenpsychologischen Problem der Kindererziehung. München 1964. 87 Auch einige Parabeln Kafkas zeigen chiffriert den übermächtigen Vater. Der Türhüter in „Vor dem Gesetz“ hindert den Mann vom Lande daran, das Gesetz, das nur für ihn bestimmt ist, zu betreten. Dabei sieht er nicht nur furchterregend aus, sondern droht mit weiteren, noch fürchterlicheren Türhütern. 88 Franz Kafka: Er. Prosa von Franz Kafka. Frankfurt/M. 1970, S. 137.

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ist“.89 Tyrannen sind die oben beschriebenen Väter bei Wiechert und Sudermann auch, dazu noch gewalttätig und charakterlich minderwertig. Das schließt Kafka bei seinem Vater aus und stellt fest, dass sie als Vater und Sohn nicht zueinander passten. Jedenfalls waren wir so verschieden und in dieser Verschiedenheit einander so gefährlich, daß, wenn man es hätte etwa im voraus ausrechnen wollen, wie ich, das langsam sich entwickelnde Kind, und du, der fertige Mann, sich zueinander verhalten werden, man hätte annehmen können, daß Du mich einfach niederstampfen wirst, daß nichts von mir übrigbleibt.

Dann aber betont er gleich, „daß ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube“.90 Dennoch bestimmt der Vater, für den Sohn „die letzte Instanz“,91 „das Maß aller Dinge“,92 die Entwicklung und den Lebensweg des Sohnes unwiderruflich. Der Sohn sieht keine Chance, der Macht und dem Einfluss des Vaters zu entgehen und eigene Lebensentscheidungen zu treffen. Er findet ein massives Bild dafür. Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.93

Eine solche Wirkung haben die negativen Väter bei Ernst Wiechert nicht. Die Söhne merken früh, dass sie von den Vätern verschieden sind, und schalten diese Väter, unterstützt von den Müttern, gleichsam aus. Auch Paul Meyhöfer in Frau Sorge erträgt den Vater schweigend, übernimmt jedoch unmerklich die Wirtschaft und weiß genau um die Unfähigkeit und das Versagen des Vaters. „Daß trotzdem von einem beginnenden Wohlstand keine Rede sein konnte, daran war nur der Vater schuld, der den größten Teil der Einkünfte verspekulierte, wenn er sie nicht durch die Gurgel jagte“.94 Dennoch gelingt es dem jungen Paul, seine Brüder im Studium zu unterstützen, seinen Schwestern eine gute Schulausbildung zu ermöglichen und den Hof voranzubringen. 89 90 91 92 93 94

Kafka, Er, S. 142. Kafka, Er, S. 138. Kafka, Er, S. 140. Kafka, Er, S. 141. Kafka, Er, S. 186. Sudermann, Frau Sorge, S. 100.

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Von seinem Vater erfährt er nur Demütigungen und Herabsetzungen, doch andere erkennen seine Leistungen an. Da ist der alte Douglas, der neue Besitzer des alten Meyhöferschen Gutes, der vor einer ganzen Gesellschaft Paul lobt. „Wer mit zwanzig Jahren das leistet, was Sie leisten, der ist ein ganzer Kerl und braucht sich nicht zu verkriechen“. Und seinem Neffen stellt er Paul als Vorbild hin. „Ruhig – sieh dir mal hier diesen jungen Landwirt an – zwanzig Jahre alt und hält die ganze Wirtschaft am Schnürchen“.95 Johannes Karsten erfährt eine noch intensivere Unterstützung und Förderung durch den Großvater mütterlicherseits, der ein wichtiges Gegengewicht zu den Zerrgiebels bildet. Seiner Tochter Gina ist er ein verständnisvoller Vater, und seinen Enkel unterweist er, indem er ihn mit zum Pflügen nimmt. „Sie sprechen nicht viel“, aber Johannes erlebt „das Rauschen der Scholle, dieses leise Hineinschreiten in die Ewigkeit, wo jede Furche dem Umwenden eines Blattes in der Bibel gleicht“.96 Doch neben der gemeinsamen Arbeit, die schweigend verrichtet wird, gibt es die Stunden, in denen der Großvater viel zu erzählen hat, auch das für Johannes eine Belehrung und eine Bereicherung, wenn auch der Großvater sich nicht als Erzieher verstehen will. Nach dem Essen, in der großen, ernsten Stube, sind sie wie zwei Erwachsene zusammen, der Großvater und das Kind. Johannes sitzt auf der Ofenbank, den Kopf an die Kacheln gelehnt, und der Bauer geht auf und ab, die Pfeife in der Hand, und erzählt. Die Geschichte eines Ackers, eines Pferdes, eines Waldes. Er hat nach innen gelebt, und er braucht nur seine Tore aufzumachen.97

Mit diesem Großvater – „Es sind reiche Abende für Johannes“98 – kann der Junge den Großvater Zerrgiebel verkraften, der eines Tages auftaucht und sich bei seinem Sohn einnistet. Er durchschnüffelt das ganze Haus („Es ist, als sei das Gericht im Hause“), zeigt eine falsche Freundlichkeit und spricht mit Vergnügen schlecht über andere. Johannes wird von ihm nur als „Früchtchen“ bezeichnet, Gina verabscheut ihn, und Johannes sagt über ihn: „Er ist ein Wolf“.99 Dennoch nimmt Johannes keinen Schaden an diesem Zerrgiebel, da der echte Großvater – Johannes ist ein Karsten – ihm ein Gegengewicht 95 96 97 98 99

Sudermann, Frau Sorge, S. 110. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3,

S. 82. S. 83 – 84. S. 84. S. 132 u. 133.

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schafft. Dieses Glück hat Percy, der Held der „Geschichte eines Knaben“, nicht.100 Percy wird in Batavia auf Java geboren, sein Vater ist ein deutscher Handelsherr, seine Mutter stirbt bei der Geburt. Er wächst auf Java auf, hat eine malayische Amme und nimmt das Wesen der Malayen in sich auf. „Die weiße Welt blieb ihm Schatten und Zwang“.101 Als Percy elf Jahre alt ist, verliert sein Vater, der Herr Magnus, „Stellung und Vermögen und mit diesen Grundlagen seines Lebens Glauben und Vertrauen und den Rest seiner spröden Güte“.102 Nun lernt Percy einen Vater kennen, der dem Albert Zerrgiebel, dem Flößer im Märchen und dem alten Meyhöfer in Frau Sorge gleicht. Zunächst missbraucht er den Sohn, der sein Unglück rächen soll, und für den Sohn wird seine Nähe zu einer körperlichen Qual. Dann verfällt er dem Alkohol. Und da waren schließlich Monate, die entsetzlichsten im grauen Strom der Jahre, wo Herr Magnus der Whiskyflasche verfiel, wo der Unterricht zur höhnischen Geste wurde und das entwurzelte Machtgefühl sich an der Qual der hilflosen Kreatur berauschte. Dann mußte Percy hundertmal dieselbe endlose Zahlenreihe schreiben oder in einem Winkel des glühenden Raumes knien, bis der Trunkene in den Schlaf der Erschöpfung fiel.103

Schließlich kehrt man nach Deutschland zurück. Percy will in seiner malayischen Heimat bleiben, läuft fort und versteckt sich; der Vater reagiert verständnislos und gewalttätig. Die Stadt im Osten Deutschlands ist für Percy grau, eintönig und kalt. Hier trifft er auf seinen Großvater väterlicherseits, der Ähnlichkeit mit dem alten Zerrgiebel hat, besonders was die Beziehung zu seinem Enkel angeht, den er nur mit „Kopfabschneider“ anredet. Es ist nicht nur das „fremde Blut“, das er an Percy spürt,104 es ist auch seine eigene Enttäuschung über den „Bankerott des Lebens“, die er an dem Jüngsten und Schwächsten, eben an Percy, auslässt. Sein Sohn hat sein Vermögen 100 Ernst Wiechert: Geschichte eines Knaben. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 43 – 92. 101 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 43. 102 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 45. 103 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 46. 104 „Er denkt aus irgendwelchen Gründen, daß alle Malayen Kopfabschneider seien, und er bringt damit ein dunkles Unterschiedsgefühl der Rassen zum Ausdruck, weil er nicht begreifen kann, wie ein Schurmann einen solchen Sohn haben kann. Er fürchtet, daß die Mutter eine Eingeborene gewesen sei“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 51).

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durch den Krieg verloren, er durch die Inflation.105 Beide geben anderen die Schuld, und dem Alten hat der „Bankerott die Seele zerfressen“. „Er ist nicht verbittert, sondern mit der Säure des Hohnes erfüllt; er beneidet nicht, sondern er haßt“.106 Seinem Enkel, dem „jungen Wilden“, gönnt er kaum ein Stück Brot.107 Percy erträgt diese Umgebung und vor allem diesen Vater und diesen Großvater nicht. „Es ist ihm unerträglich, sich davon zu überzeugen, daß es zwei solcher Gesichter auf der Erde gibt, mit denen er unlöslich verbunden ist und die gleich zwei Fischen derselben Gattung, kalt, böse, lauernd, seine Bewegungen verfolgen“.108 Er nimmt sich schließlich das Leben.109 Die „bösen“ Väter und Großväter haben ihre Vorläufer in der Literatur. Da ist der König Philipp in Schillers „Don Carlos“, von dem der Sohn sagen muss: „Ich hasse meinen Vater nicht – doch Schauer / und Missetäters-Bangigkeit ergreifen / Bei diesem fürchterlichen Namen mich“.110 Oder der Präsident von Walter in „Kabale und Liebe“, der die unstandesgemäße Heirat seines Sohnes mit allen Mitteln hintertreibt und den der Sohn einen Mörder nennt.111 Er gibt ihm die Schuld an der Ermordung der Luise Millerin, die Ferdinand von Walter, der einer Intrige zum Opfer gefallen ist, begangen hat. „Ich bin bübisch um mein Leben bestohlen, bestohlen durch Sie“, sagt der Sohn im Angesicht des Todes zu seinem Vater.112 Dieser Vater, der das Lebensglück seines Sohnes zerstört, trägt unsympathische, geradezu abstoßende Züge, so dass Verständnis für sein 105 „Er hat ein Provinzgeschäft besessen und es früh verkauft. Nun sieht er die Taler auf stündlich tiefer sich neigender Ebene rollen, und ihm bleibt kaum Zeit, mehr zu halten vom Gewinn seines Lebens als Garten und Haus und ein paar dürftige Äcker“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 49 – 50). 106 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 50. 107 „,Dein Appetit wird immer gesegneter‘, bemerkt Herr Schurmann nach einer Weile.– Er weiß, daß es nicht wahr ist, aber es kann nicht schaden“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 51). 108 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 51. 109 Vgl. Jürgen Fangmeier: Das Kind in Ernst Wiecherts Novellen. In diesem Band. Fangmeier stellt Percy in die Reihe jugendlicher Helden bei Wiechert, indem er Parallelen zur „Hirtennovelle“ und zur „Kleinen Chronik“ herstellt und auch autobiografische Momente nachweist. 110 Friedrich Schiller: Don Carlos. In: Friedrich Schiller: Werke. Bd.1, Dramen. Frankfurt a. M. 1966, S. 345. 111 Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Dramen. Bd. 1, vgl. S. 332. 112 Friedrich Schiller: Kabale und Liebe, Dramen. Bd. 1, S. 333.

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Handeln nicht aufkommen kann. Er mag die gutgemeinte Absicht haben, seinen Sohn vor einem Fehler zu bewahren, der seine Karriere zerstören könnte – der Zuschauer nimmt nur Niederträchtigkeiten wahr und sieht sich in seiner Annahme am Schluss bestätigt, dass es sich um einen kriminellen Charakter handelt.113 König Philipp dagegen leidet unter der Einsamkeit, die seine gottähnliche Machtstellung als absolutistischer Herrscher mit sich bringt. Es ist ihm nicht möglich, Gefühle zu zeigen oder zu erwidern. Auf die Bitten seines Sohnes um Vaterliebe reagiert er schroff, geradezu feindselig, aber seine Unsicherheit bleibt nicht verborgen.114 Bei Wiechert verkörpern die schlechten Väter und Großväter das Böse. Eine psychologische Erklärung für ihre Entwicklung zum Bösen gibt es nicht. Sie offenbaren auch keine menschlichen Schwächen oder Probleme; sie sind einfach nur schlecht.115 Aber das differenzierte Bild des Vaters bei Wiechert umfasst eine weitere Gruppe: Väter, denen das Wesen des Sohnes fremd ist, die aber doch den Sohn akzeptieren oder zu verstehen versuchen. Dazu gehört die Erzählung „Das Männlein“ (1933). In einer süddeutschen, katholisch geprägten Kleinstadt sieht der jüngste Sohn eines Tischlers im Flur seines Elternhauses ein Männlein stehen, das er genau beschreiben kann: zwei bis drei Spannen hoch, bucklig, mit einem Mäntelchen und einem 113 Der Sekretär Wurm, der die Intrigen für den Präsidenten ausgeführt hat, droht zum Entsetzen des Präsidenten: „Ich will Geheimnisse aufdecken, daß denen, die sie hören, die Haut schaudern soll“, und zum Präsidenten selbst sagt er: „Arm in Arm mit Dir zum Blutgerüst! Arm in Arm mit Dir zur Hölle! Es soll mich kitzeln, Bube, mit Dir verdammt zu sein“ (Friedrich Schiller, Dramen. Bd. 1, S. 334). 114 Der Marquis Posa spricht es aus, als er vor den König geladen wird. Der König hat sich „zum Gott“ gemacht und dabei vergessen, dass er ein Mensch mit Gefühlen und Leiden bleibt. „Sie fuhren fort / Als Sterblicher zu leiden, zu begehren; / Sie brauchen Mitgefühl – und einem Gott / Kann man nur opfern…“ (Friedrich Schiller, Dramen. Bd. 1, S. 440). 115 Jürgen Fangmeier geht auch auf böse Kinder bei Wiechert ein und spricht von dem „Gemeinen im Kinderland“. Er nennt Theodor Zerrgiebel und Chuchollek als Beispiel, aber auch die Geschwister des Judokus Häberlein mit ihren „breiten und unschönen Köpfen“. Vgl. Fangmeier, Das Kind, in diesem Band. Die bei Wiechert mitunter rigorose Feststellung von moralischer Verderbtheit, auch bei Kindern, wobei der Versuch einer psychologischen Erklärung unterbleibt, stellt Bärbel Beutner in dem Beitrag „Das moralische Gesetz im Werke Ernst Wiecherts“ dar. (In: Von bleibenden Dingen. S. 155 – 174). Auch bei den „schlechten Vätern“ fehlt weitgehend eine psychologische Erklärung.

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roten Hütchen bekleidet und mit einem kleinen Stock in der Hand.116 Als die „Gespensterseherei“ bekannt wird, wird Judokus, der kleine „Geisterseher“, von der Schule verwiesen, und die Familie wird in der Stadt ausgegrenzt. Dieser Einbruch einer geheimnisvollen, märchenhaften Erscheinung in die realistische, einfache Welt der Kleinstadt überfordert die Bürger. Schließlich verschwindet Judokus Häberlein und wird nicht wieder gefunden. Nun verändert sich der Vater Häberlein völlig. Bisher hat für ihn dieses Kind, das das Blut der Mutter hat, die Familienehre in Gefahr gebracht, da „ein Häberlein Gespenster sehe“.117 Doch jetzt trifft ihn der Verlust des Sohnes existenziell. Und ebenso war in den Augen der Welt, daß Herr Häberlein, von dessen Kälte gegen das Kind jedermann wußte, nun plötzlich ein alter und gebrochener Mann wurde, der mit einem Stock in der Hand allmorgendlich auszog, um nach seinem verlorenen Kinde zu suchen, und den man hie und da in den großen Wäldern treffen konnte, wie er die Büsche zur Seite bog oder lauschend stille stand, wenn der Ruf des Schwarzspechtes von ferne über die Wipfel fiel.118

Der kleine Judokus Häberlein,119 von dem eine frühere Magd der Familie sagt, dass er „nicht von unsrer Welt“ sei,120 sieht Dinge, die nicht da sind, die jedenfalls die anderen, „gewöhnlichen“ Leute nicht wahrnehmen können. Doch die Erscheinung des Männleins bekommt nach Jahren eine beklemmende Verifizierung. Die Familie Häberlein verkauft das Haus und verlässt die Stadt. Bei Umbauarbeiten wird am Ende des Flures eine Tür freigelegt, auf der ein Bild aufgemalt ist. „Es war ein Menschenbild, zwei Spannen hoch oder drei. Ein rotes Hütlein hatte es auf dem Kopf, einen kleinen Mantel über dem buckligen Rücken, einen kleinen Stab in den gefalteten Händen“.121 Der kleine Judokus muss so etwas wie ein zweites Gesicht haben, wie es beispielsweise bei der Dichterin Agnes Miegel in ihrer Kindheit beobachtet wurde,122 oder 116 117 118 119

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 638. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 648. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 653. Ernst Wiechert: Das Männlein. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 634 – 654. 120 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 651. 121 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 654. 122 So schreibt ihre Biografin Anni Piorrek über ein Ereignis aus der Kindheit Agnes Miegels: „Als die Familie in der Knochenstraße wohnt – Agnes ist etwa sieben bis acht Jahre alt – sieht sie abends im Bett, wie sich das Zimmer

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er ist ein Bewohner der „Zwischenwelt“, was seine Mutter ahnt.123 Ihm begegnen Märchen- und Geisterwesen. Was hier einem Kind widerfährt, das trifft in dem Roman Die Majorin (1933) einen Vater.124 Der Bauer Fahrenholz verkehrt mit den Toten; sie kommen ihn besuchen. Für ihn gehört sein Sohn Michael zu den Toten, denn man hat ihn in dem „großen Krieg“ tot in Frankreich gesehen, und sein Name steht auf dem Gedenkstein für die Gefallenen. Nun aber kommt Michael zurück und besucht seinen Vater, und dieser macht sich Gedanken, wie der Sohn Ruhe finden könnte. Dass er kommt, erschreckt den Vater nicht, denn er ist an den Besuch der Toten gewöhnt. „Sie kommen oft und sitzen in der großen Stube auf der Ofenbank. Sie sprechen auch, wie du. Aber dann gehen sie fort, schnell, ohne Tür. So nahe… nein, so nahe ist noch keiner gekommen“.125 Für den Waldbauern Fahrenholz bleibt sein Sohn Michael tot. Alle Versuche, ihm den „Wahn“ auszureden, scheitern. Noch stärker fällt ins Gewicht, dass er Tote sieht und mit ihnen spricht. Das ruft den Pastor auf den Plan. „Tote zu sehen, das sei nicht erlaubt in einem christlichen Kirchspiel, und mit ihnen zu sprechen und das Brot zu essen, das sei verwirrend und gefährlich in einer gesunden und ordentlichen Landschaft“.126 Die Gesichte des alten Vaters sind also ebenso untragbar wie die Wahrnehmung des Männleins durch den kleinen Judokus in einer ehrlichen, arbeitsamen Kleinstadt. Der kleine Judokus geht fort, der

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plötzlich verwandelt: bunt-seidene Fenstervorhänge, Kerzenlicht auf den Tischen (in ihrem Zimmer hängt in Wirklichkeit eine Petroleumlampe), Portieren im erhellten Nebensaal, elegant, bunt befrackte Herren, tief dekolletierte Damen mit langen, schleppenden hochgegürteten Kleidern, alle lachend, Karten spielend, trinkend“ (Anni Piorreck: Agnes Miegel. Ihr Leben und ihre Dichtung. München 1990, S. 38). Die Erklärung dieser „Vision“ bzw. „Sensation“, wie sie hier genannt wird: „[…] das Haus war Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein ebenso elegantes wie berüchtigtes ,Kasino‘“ (Piorreck, Miegel, S. 38). Vorher war schon gefragt worden: „Sollte das Kind das ,zweite Gesicht‘ haben, wie man es damals nannte?“ (Piorreck, Miegel, S. 37). Nach dem Verschwinden des Judokus weiß sie, dass er in eine andere Welt hinübergegangen ist, in der andere Gesetze gelten als in der Welt der Menschen. „Es war, als wisse sie ganz im Heimlichen, wohin ihr Kind geraten sei“, und sie weiß auch, „daß er niemals wiederkehren würde“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 653). Ernst Wiechert: Die Majorin. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 179 – 356. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 207. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 325.

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Vater Fahrenholz wird schließlich in die Anstalt gebracht, „wo man sich auf ihn verstünde“,127 „wo Leute in weißen Mänteln sich seiner annehmen werden und bedauernd die Achseln zucken werden“.128 Einen verständnisvollen, aber völlig anders gearteten Vater hat der Protagonist des Romans Der Exote (1932).129 Der Kriegsheimkehrer Michael Fahrenholz kann von seinem Vater sagen, dass er „ein guter Vater“ war, und das trifft auch auf den Vater von Wolf Wiltangel zu, der aus seiner Heimatstadt Riechenberg nach Argentinien auswanderte und nun, nach zehn Jahren, als „Exote“ zu Besuch kommt. Der Besuch ist eine Sensation in dieser Kleinstadt, deren Ordnung von der Mutter Wiltangel repräsentiert wird. Durch den „Indianer“ aus Übersee wird sie nach und nach in Frage gestellt. „Die Welt ist groß, Mutter, und Riechenberg ist nicht ihre Hauptstadt“,130 sagt der Sohn zu der Mutter, die alles, was er aus der Fremde mitgebracht hat, mit „komisch“ kommentiert. Strenge und Kälte gehen von der Mutter aus, seit der Kindheit des Sohnes. „Er küßt ihre Hand, und sie ist hart wie früher“.131 Der Vater, der Apotheker von Riechenberg, hat Verständnis für seinen Sohn und dessen Lebensraum, in dem es eine Freiheit gibt, auf die er bereits verzichtet hat. Er fragt den Sohn nach seiner Welt, und der Sohn schildert eine Leichtigkeit des Daseins. „Es ist schön, Vater. Raum. Viel Raum. Es atmet sich leicht“. Der Vater lächelt, aber nur mit den Augen. Diese Augen verraten sein eigenes Leben. „Er sieht über die Brille zu ihm herüber. Mit den braunen Augen eines sanften Tieres, die hinter einem Gitter stehen“.132 So ist es nur folgerichtig, dass der Vater die Auswanderung seines Sohnes nicht nur gutheißt, sondern in ihr auch eine Sinngebung für sein eigenes Leben sieht. „,Erfüllt hast du es, Wolf‘, sagt der Apotheker mit zitternden Lippen. ,Meine schwache Leiter hast du hinausgebaut über die Ozeane!‘ Er hält die schwarze Brasil-Zigarre feierlich in der erhobenen Hand, und wenn sein Sohn ein Vagabund wäre, würde er ihn als einen König an seinen Tisch setzen“.133 127 Wiechert, Sämtliche Werke, 128 Wiechert, Sämtliche Werke, 129 Ernst Wiechert: Der Exote. 718. 130 Wiechert, Sämtliche Werke, 131 Wiechert, Sämtliche Werke, 132 Wiechert, Sämtliche Werke, 133 Wiechert, Sämtliche Werke,

Bd. 4, S. 323. Bd. 4, S. 321. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 539 – Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3, Bd. 3,

S. 552. S. 550. S. 552. S. 554 – 555.

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Es wurden nie viele Worte gewechselt zwischen Vater und Sohn. Der Menschenschlag in dieser Gegend ist eher schweigsam. Und doch sagt das Schweigen oft mehr aus.134 Als jedoch der Abschied des Sohnes bevor steht, führen Vater und Sohn ein langes und tiefgehendes Gespräch. Der Sohn hat eine Sinnkrise durchlebt, die sich wendet, als er ein Kind aus dem Wald rettet, das sich verirrt hat. Nun fragt er den Vater, ob seine Existenz dem Vater einen Sinn gegeben habe. „… war da irgendeine Erfüllung in deinem Leben, Vater? So etwas wie ein Bund mit der Ewigkeit?“135 Der wortkarge Vater antwortet mit einer Rede von für ihn ungewöhnlicher Länge. „Siehst du“, sagte er in seiner behutsamen, bescheidenen Sprechweise, „wir Pharmazeuten tun ja unser Leben lang nichts anderes als das Unorganische mischen. Wir säen kein Korn und wir pflanzen nicht. Wir wissen ein wenig von der Elemente Hassen und Lieben. Nicht mehr. Und als du da warst, ein neues Leben, so wunderbar wie der erste Mensch, da wußte ich zum ersten Mal, daß ich beheimatet war, im… Kosmos, ja… daß ich ein Bürgerrecht im Weltall erworben hatte, verstehst du?“136

Der Sohn antwortet bescheiden, dass er den Vater zu verstehen glaube, diesen Vater, der in die Reihe der „guten Väter“ bei Wiechert gehört. Diese guten und gutmütigen Väter zeigen jedoch oft eine erhebliche Schwäche ihren dominanten Ehefrauen gegenüber. Das gilt für den Apotheker Wiltangel, das gilt für den Bahnmeister Wirtulla aus der Kleinen Passion und aus dem Jedermann (1929/30),137 der nicht verhindert, dass seine Frau den Sohn Klaus mit dem Riemen schlägt, um ihn für das Bettnässen zu bestrafen, und das gilt für den Freiherrn Liljecrona aus der Missa sine nomine (1950),138 der von seiner Frau als „lebensschwach“ hingestellt wird und eines Tages verschwindet. Für die 134 Als Wolf sein Elternhaus betritt, begrüßt ihn der Vater: „,Na, Junge…‘, sagte der alte Wiltangel und hob die etwas zitternden Hände. ,Ja, Vater…‘, erwiderte Wolf. Mehr wurde nicht gesprochen nach zehn Jahren, und noch auf der Schwelle, als sie den Koffer hineinzogen, wußte der Heimgekehrte, daß es dies war, wonach er Sehnsucht empfunden hatte: diese schöne Wortkargheit der Gefühle, das stille Geltenlassen, der gütige Blick, der über die Etiketten der Menschen wie über die der Phiolen und Gläser ging, nichts verlangend, wenig sich verwundernd, alles wissend“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 549). 135 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 669. 136 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 670. 137 Ernst Wiechert: Jedermann. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 303 – 538. 138 Ernst Wiechert: Missa sine nomine. In. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 5 – 441.

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Mutter der drei Brüder Liljecrona, die ihren Söhnen wenig Wärme entgegenbrachte („Amadeus erinnerte sich nicht, daß seine Mutter ihn jemals geküßt hätte, und er konnte sich auch nicht vorstellen, wie ihre schmalen Lippen das hätten zuwege bringen können“),139 war der Gatte „nur jemand, der ,nichts tat‘“,140 aber die Söhne verstanden den Vater, so jung sie noch waren. „Ja, wie war es nun mit dem Vater gewesen, daß ihn keiner von ihnen je gekannt hatte? Ja, daß niemand ihn gekannt hatte? Und daß er ihnen doch auf eine wunderbare Weise vertraut gewesen war“.141 Der Vater führt ein eigenes Leben. Er ist ein Sammler und Forscher, und damit findet er wenig Verständnis in dieser bäuerlichen Gegend. Seine Frau ist auch mit seiner Herkunft nicht einverstanden. Für sie sind die Liljecronas ein „Bauerngeschlecht“, das unter dem Adel steht, und als der Freiherr von einem seiner Spaziergänge einfach nicht mehr heimkommt, reagiert sie nur mit Empörung. Sie sieht sein Verschwinden als „Schmach ohnegleichen“ an und sagt zu einer Freundin: „Es war zuviel Bauern- und Heidenblut in ihm“.142 Die Söhne setzen sich mit dem Verschwinden des Vaters anders auseinander. Sie suchen die nunmehr verlassene Bibliothek des Vaters auf, spielen dort auf ihren Streichinstrumenten, fragen die alte Dienstmagd nach dem Verbleib des Vaters, und Erasmus, der älteste der drei Brüder, vermutet den Vater in Indien, an einem der heiligen Ströme. „Niemand konnte so lächeln wie er. So aus Gott heraus. Er hatte dieses alles durchgeschritten und gesehen, daß man noch einmal anfangen mußte“.143 Besonders der jüngste Sohn Amadeus, der in seinem Leben einst „an den Pforten der Hölle“ stehen wird,144 kommt dem Vater nahe. Als er zum ersten Mal die Räume des Vaters betritt, die mit „Büchern, Globen, Instrumenten und Kästen mit Münzen, Steinen und Schmetterlingen“ angefüllt sind,145 trifft er den Vater am Mikroskop an. Auf die Frage des Kindes, was er da tue, antwortet der Vater, er sammle das Senfkorn, und Amadeus und seine Brüder werden es auch eines Tages 139 140 141 142 143 144

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 17. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 20. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 19 – 20. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 22. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 22. Amadeus war Häftling in einem Konzentrationslager, dort sah er die „Pforte der Hölle“. 145 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 20.

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sammeln.146 Besonders Amadeus befolgt dieses Wort. Er studiert und übernimmt die Sammlungen und Tätigkeiten des Vaters. Außerdem wird er ein Dichter, der Verse und Melodien aufschreibt. Er „war langsam auf dem Wege seines Vaters fortgeschritten, ,nichts zu tun‘, wie die ordentlichen Leute sagten“.147 Aber alle drei Söhne gleichen dem Vater und fühlen sich ihm verbunden. Und vertraut war der Vater ihnen nicht allein deshalb gewesen, weil er das gleiche Haar und die gleiche leise und unregelmäßige Gesichtsform hatte. Es war auch das Unnahbare des Gesichtes gewesen, nicht etwa eine hochmütige Unnahbarkeit, sondern das Zugeschlossene des Andersseins, das Versunkene.148

Als in der kleinen Stadt, wo die drei Brüder das Gymnasium besuchen, ein Brand das Armenviertel zerstört, geben die Brüder ein Wohltätigkeitskonzert für die Geschädigten. Nachher sagt der Direktor der Schule: „Sie haben nicht für die Abgebrannten gespielt. Sie haben für ihren Vater gespielt“.149 Der Roman Missa sine nomine spielt in Westdeutschland in den ersten Nachkriegsjahren nach der Vertreibung. Doch die drei Brüder Liljecrona sind immer noch Vertreter des ostpreußischen Adels und in ihrer Persönlichkeit geprägt von den Idealen der preußischen Erziehung.150 Dazu gehören Selbstdisziplin, Pflichterfüllung, Verantwor146 Der Vater schaut den Sohn „gütig“ an, als er seine Frage beantwortet. Die Söhne werden ebenso wie er „das Senfkorn“ sammeln, während andere nur Materielles sammeln. „,Denn alle andern hier‘ – und er hatte mit der Hand eine weite, alles umschließende Bewegung gemacht -, ,alle andern sammeln das Fett der Erde‘“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 20). 147 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 25. 148 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 20. 149 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 25. 150 Noch deutlicher vertritt oder besser: symbolisiert der alte Kutscher Christoph das alte Ostpreußen und die nunmehr verlorene Heimat. Er hat in aufrechter Haltung den Treck geführt und in den Jahren nach der Vertreibung in unverbrüchlicher Treue seiner Herrschaft gedient. Seit Generationen dienten seine Vorfahren den Vorfahren des Adelsgeschlechtes, und seine geheimnisvollen Geschichten beginnen stets: „Einmal, als mein Urahn den Freiherrn fuhr…“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 422). Bei seinem Tode wird den Brüdern Liljecrona und ihren Leuten, die sich im Westen zusammengefunden haben, bewusst: „Er war das Kostbarste gewesen, was sie aus der Heimat mitgebracht hatten, und mit ihm versank der lichte Glanz einer gewesenen Zeit“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 422).

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tungsbewusstsein (der älteste Bruder Erasmus leidet für immer darunter, dass er seinen Gutsleuten nicht helfen konnte, als der Treck von russischen Panzern überrollt wurde) und auch die Zurückhaltung von Gefühlen mitunter bis zur Unterdrückung oder gar Leugnung gefühlsmäßiger Regungen. Die Brüder Liljecrona erfahren die mangelnde Zuwendung durch die Mutter, dem Vater hingegen bleiben sie ihr Leben lang durch ein besonderes Gefühl verbunden. In der Novelle „Der Vater“ (1933/34) thematisiert Wiechert den preußischen Offizier und eine differenzierte und bewegende VaterSohn-Beziehung.151 Es ist der Erste Weltkrieg, und die Menschen in der ostpreußischen Landschaft leben „unter seinem Schatten“.152 Eingebunden in die Ereignisse des Krieges aber ist die Familie des Gutsherrn. Der verwitwete Freiherr Ägidius – der Hausname des Adelsgeschlechtes wird nie genannt – hat seine drei Kinder im Feld. Die beiden Töchter sind Lazarettschwestern, der Sohn steht vier Jahre lang an der Westfront. Der Freiherr selbst, siebzigjährig und herzkrank, will unbedingt den Dienst für das Vaterland wahrnehmen, und da er nicht mehr fronttauglich ist, übernimmt er das Kommando eines Gefangenenlagers, was er selbst verächtlich den „Posten eines Krüppels“ nennt. Auch diesen Posten muss er im letzten Kriegsjahr aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, während seine Kinder weiterhin im Feld sind. „Er wurde zum Obersten befördert, empfing einen Orden und fand sich mit Mühe in das Leben eines Gutsherrn zurück“.153 Seine Kinder hat er während der ganzen Kriegsjahre nicht gesehen. Der Freiherr Ägidius tut sich schwer mit seiner Rolle als Vater. Es scheint vorwiegend an seinem Alter zu liegen, denn er hatte nach früher Verabschiedung und später Ehe erfahren müssen, daß es nicht leicht sei, mit fünfzig Jahren ein Kind an der Hand zu führen, weil in diesem Alter die laute Sorglosigkeit der Jugend schon ein Traum und die Missa sine nomine ist der erste Vertriebenen-Roman der Nachkriegs-Literatur. Das Schicksal des deutschen Ostens wird darin ebenso verarbeitet wie die Judenvernichtung an der Gestalt des fliegenden Händlers Jakob, der, selbst einer der „displaced persons“, mit seiner Weisheit dem Freiherrn Amadeus die Bitterkeit nimmt. Die sozialen Strukturen durch die Besatzung werden geschildert sowie die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit bei dem Prozess gegen den Förster Buschan oder bei der Verfolgung eines Massenmörders. 151 Ernst Wiechert: Der Vater. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 660 – 682. 152 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 675. 153 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 663.

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stille Weisheit des Greises noch ein zu Erwerbendes ist. Und da auf diese Weise seine Kinder immer etwas zu jung für ihn blieben, so wie er selbst für seine Kinder immer etwas zu alt blieb, hatte der Abschied zu Beginn des Krieges sich ohne sichtbare Schmerzen vollzogen, wenn auch unerkennbar geblieben war, was hinter dem Sichtbaren den Raum der Herzen erfüllte.154

Doch es liegt nicht nur an dem Altersunterschied und an der späten Vaterschaft, dass Gefühle schwer erkennbar und schwer zu zeigen sind. Zu der Haltung eines preußischen Offiziers, zu der „Contenance“, passen Gefühle nicht, so dass auch der Freiherr, „durch die lange Schule und Laufbahn eines preußischen Offiziers unmerklich verleitet, Wortkargheit und Strenge als einen Schild vor die Güte menschlicher Natur zu stellen“,155 seinen Kindern auch dann emotionale Zuwendung verweigert, als sie im Krieg und in ständiger Lebensgefahr sind. Von den Töchtern ist nicht weiter die Rede, thematisiert und problematisiert wird das Verhältnis zum Sohn. Dieser schreibt im ersten Kriegsjahr als Zwanzigjähriger aus Frankreich einen Satz in einen Brief, der – wie vorgeschrieben – einen genauen Bericht über die Vorgänge an der Front und in diesem Falle den „Bericht über den schweren und niederdrückenden Rückzug seines Regiments“ enthält: „In diesen Stunden habe ich viel an Dich gedacht, mein lieber Vater.“156 Dieser Satz wirft den Vater aus der Bahn. Er grübelt lange darüber nach, wie mit dieser „Briefstelle“ zu verfahren sei, und kommt zu der Entscheidung, dass es nötig sei, „jene Briefstelle aus dem Leben des Geschlechtes auszulöschen, wie man einen Schild reinigt, bevor der Kampf beginnt“. „Denn ob nun Zärtlichkeit oder Verzagtheit dem Schreibenden die Hand geführt haben mochte, so war beides einem preußischen Offizier gleich unangemessen“.157 Seine Antwort an den Sohn fällt entsprechend aus. Er teilt ihm mit, daß in einem Kriege das Geschlecht seines Namens es immer so gehalten habe, daß die Gedanken der Waffentragenden sich wohl zu jeder Minute auf den kaiserlichen Herrn, das Vaterland und die Pflicht zu richten hätten, niemals aber auf die Gestalt des Vaters, da diese vor der des Vaterlandes gänzlich unwichtig, ja verkleinernd dastehe und nur die Gefahr in sich trage, vor ein tapferes Auge den Schleier der Gefühle zu legen.158 154 155 156 157 158

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7,

S. 660. S. 660. S. 661. S. 662. S. 662.

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„Pflicht“ und „Gefühl“ sind unversöhnliche Gegensätze. Verpflichtet ist man dem Vaterland, dem Kaiser und dem eigenen Namen, den eigenen Vorfahren. Der alte Freiherr empfindet diese Verpflichtung zutiefst, als er die Ahnenbilder im Kaminzimmer seines Schlosses betrachtet. Daß er bis in sein kühles Mark erbebte unter der Last dieses ganzen Geschlechts. Daß alle Verse durch ihn rauschten, die einmal die erkalteten Lippen der Vorfahren durchglüht hatten, aller Ruhm und alle Gewalttat. Und daß alles Blut ihn durchrann, das sie gewonnen und verloren hatten. Daß er der letzte Bewahrer eines ungeheuren Erbes war, unsäglich alt und unsäglich einsam.159

Denn den Vater hat ein Schicksalsschlag getroffen. Im vierten Kriegsjahr kommt ein Brief an den Sohn zurück mit dem Vermerk „Vermisst“. Das Wort trifft ihn mehr als die Nachricht über das Schicksal seines Sohnes. „,Gefallen‘, das blieb ein stolzes Wort“. „Aber ,vermißt‘ war kein adliges Wort. Es war ein Wort der Polizeiberichte […] und ein abenteuerlicher, entwürdigender Klang haftete daran“.160 Er lässt mitteilen, dass der junge Baron gefallen sei, und „empfing alle Beileidsworte mit unbewegtem Gesicht“. Nachforschungen über das Schicksal seines Sohnes stellt er nicht an, weil es ihm „ungehörig“ erscheint, „dem Los eines einzelnen eine solche Bedeutung zumessen zu lassen“. Die Menschen seiner Umgebung verstehen ihn. „So daß mit einer leisen Scheu in der Landschaft von ihm gesprochen wurde, als dem Muster eines Soldaten und Edelmannes“.161 Die Kantische Idee der Pflicht hat sich für den Baron auf die Erfüllung des Dienstes am Vaterland und auf die Wahrung der soldatischen Ehre reduziert. Der Kategorische Imperativ verlangt die Handlung aus Pflicht, da nur dann gewährleistet ist, dass eine Maxime zum allgemeinen Gesetz werde.162 Eine Handlung aus einem subjektiven und zufälligen Gefühl heraus kann diesen Anspruch kaum erfüllen. Kant geht so weit zu erklären, dass eine Handlung nur dann moralisch zu 159 160 161 162

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 667. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 666. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 668 – 669. „Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum ALLGEMEINEN NATURGESETZE werden sollte.“ (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Reclam jun., Stuttgart 1974, S. 68).

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nennen ist, wenn sie aus Pflicht und nicht aus Neigung erfolgt, ja wenn sogar alle Neigungen ausgeschaltet sind.163 Die Ausschaltung der Neigung bei der Erfüllung der Pflicht ist eine Forderung, die bereits Schiller kritisch hinterfragt hat, so sehr er den großen Philosophen Kant verehrte.164 Der Freiherr Ägidius unterliegt dem Missverständnis, Gefühle ganz ausschalten zu müssen, ja er begeht sogar einen im Kantischen Sinne schwerwiegenden Fehler, denn eine weitere Formel des Kategorischen Imperativs lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“165 Das „Los eines einzelnen“ müsste demnach eine unbedingte Bedeutung haben, denn jeder Mensch muss der Zweck (das Ziel) der Handlungen und Bemühungen sein, auch der eigene Sohn. Der Freiherr Ägidius irrt. Sein Fehlverhalten, das dem Vater nirgendwo als Schuld angerechnet wird, wird ihm jedoch nachdrücklich vor Augen geführt. Ein Kriegskamerad des vermissten Sohnes, der sich als sein naher Freund vorstellt, schickt ihm dessen Tagebuch zu, das der junge Baron ihm zur Aufbewahrung anvertraut hat. Der Briefschreiber bittet um eine Bestätigung, dass das versiegelte Buch in unversehrtem Zustand an den Vater gelangt ist. Dass der Freiherr Ägidius das Siegel öffnet und das Tagebuch liest, geschieht nicht aus Neugier. Für ihn stellt es sich so dar, dass er den Sohn damit für tot erklärt und ihm den Makel des „Vermissten“ nimmt, denn „der Makel des verschollen Gewesenen trennte ihn nach des Freiherrn Meinung von der Gemeinschaft aller Adligen“. So öffnet er das Siegel im Kaminzimmer vor den Ahnengemälden. „Erst der Tote kehrte heim in die Reihe der Vorfahren, nicht ein einzelner mit einem 163 „Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht… fremde Not rührte ihn nicht… und nun, da keine Neigung ihn mehr anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdann hat sie allererst ihren echten moralischen Wert“ (Kant, Metaphysik, S. 35 – 36). 164 „In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen“ (Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde. In: Schiller, Werke, Bd. 4, Schriften. Frankfurt/M. 1966, S. 170). 165 Kant, Metaphysik, S. 131.

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einzelnen Recht und einem einzelnen Grabe, sondern ein Verpflichteter aller derer, die von den Wänden blickten“.166 Als er liest, wird er mit einer Wahrheit konfrontiert, die seine Hände zittern lässt. Er wird Zeuge der Seelenqualen seines Sohnes, der sich vergeblich um die Liebe des Vaters bemüht. Die Enttäuschung des Sohnes, vom Vater keine Zuwendung zu erhalten, geht so weiß, dass er sich den Tod wünscht. Er schreibt in sein Tagebuch: „Bin angehalten worden, nicht an die Gestalt des Vaters zu denken, sondern an Pflicht und Vaterland. ( … ) Er weiß nicht, daß ohne Vater kein Vaterland. Daß die Väter uns tragen und nicht ihr Land“.167 Er fühlt sich „verworfen“ und möchte ein „Sohn des Todes“ werden. In seinem Tagebuch spricht der Sohn mit dem Vater und nennt ihn „mein lieber Vater“, was er in seinen Briefen nicht darf. Die fehlende Vaterliebe hat ihn schon vor der Schlacht zu einem Toten gemacht, und er spricht es schonungslos aus. „Ich bin als ein Geschlagener hierhergekommen, der seine Schlacht schon vor ihrem Beginn verloren hatte, denn ich habe um Deine Liebe gekämpft und Du hast mir den Sieg nicht gegeben“.168 Franz Kafkas „Brief an den Vater“ fällt dem Leser wieder ein, der eine Abrechnung, eine Klärung und eine immerwährende Bitte um väterliches Verständnis und väterliche Liebe enthält. Die problematische Beziehung zum Vater prägt, wie Kafka erkennt und bekennt, sein Schreiben, also gerade den Bereich, in dem er sich vom Vater loslösen konnte. „Hier war ich tatsächlich ein Stück selbständig von Dir weggekommen“. Dennoch: „Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte“.169 Doch bei Wiechert bleibt der Vater-Sohn-Konflikt nicht ungelöst. Der Vater macht einen harten Lernprozess durch. Bei seinen inneren Kämpfen beruft er sich auf die Vorfahren und ihre Traditionen und Normen. „Nicht er hat verworfen, sondern sie alle, denen er unterworfen ist. […] … das Geschlecht kennt nicht Vater und Sohn. Das Geschlecht kennt nur Namen und Schild“.170 Zudem quält ihn die Ungewissheit, was sich genau auf dem französischen Schlachtfeld abgespielt haben mag, als sein Sohn nicht mehr aufgefunden wurde. Gefangenschaft gilt ebenfalls als nicht ehrenhaft. 166 167 168 169 170

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 670. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 672. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 672 u. 671. Franz Kafka: Brief an den Vater. In: Er, S. 172 u. 173. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 672.

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Der Sohn kommt zurück und wird vom Vater empfangen, der seine Uniform mit allen Orden angelegt hat. Eine Änderung aber ist bereits eingetreten. „Es kam allen Versammelten wohl seltsam vor, daß der junge Freiherr (er trägt eine weiße Binde um die Stirn) in musterhafter Haltung eine militärische Meldung zu machen schien, aber dann umarmten Vater und Sohn einander“.171 Es folgt eine lange Aussprache zwischen Vater und Sohn. Der alte Freiherr erfährt die näheren Umstände, unter denen sein Sohn vermisst wurde. Er war in französische Gefangenschaft geraten, sei mit seinen Kameraden geflohen und habe sich zur Front zurück gekämpft, was ihm als besonderes Verdienst angerechnet worden sei. Das kann der Vater nicht recht nachvollziehen. Der Sohn erklärt ihm, dass die Maßstäbe sich geändert hätten, und als der Freiherr Ägidius die alten Werte beruft, „daß ein Offizier nur einen Vertrag zu schließen habe, den mit der Pflicht, und daß sein Bedroher nicht der Tod sei, sondern die Feigheit etwa oder die Lüge oder der Ungehorsam“,172 erzählt ihm der Sohn umständlich die Geschichte von einem einfachen Soldaten, dessen Mutter ihm beim Abschied versichert hat, dass sie immer seine Mutter sein werde, auch wenn er ihr Unehre machen sollte.173 Von einem Offizier seiner Kompanie hat er diese Begebenheit gehört, und dieser hat ihm beigebracht: „Sehen Sie, Erasmus, dieses ist es: man hat gedacht, die Pflicht sei größer als die Liebe, aber das ist nicht wahr. Mit der Liebe steht es sich leichter auf als mit der Pflicht“.174 Der Vater, der vor fast fünfzig Jahren am Krieg 1870/71 teilgenommen hat, begreift, dass die Generation seines Sohnes in den Materialschlachten des modernen Krieges andere Erfahrungen gemacht und einen „Vertrag mit dem Tode“ geschlossen hat. Er erkennt ihre „andere Welt“. „Einer Welt, die keinen Zutritt hatte für seinesgleichen, sondern die sich zuschloß, schweigend und in tödlichem Ernst, allein sich bewahrend für jene nachfolgenden Geschlechter, die in vier Jahren jenes Mietrecht erworben hatten, von dem vorher die Rede gewesen war, das Mietrecht am Tode“.175 Im Angesicht des Todes gelten andere Gesetze und Werte, jedenfalls dann, wenn der Tod solche Massen von Menschen verschlingt. „Es 171 172 173 174 175

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7,

S. 675. S. 678. vgl. S. 679 – 680. S. 679. S. 681.

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habe der Krieg wohl die Einfachheit vergangener Zeiten verloren und es werde mit anderen Maßstäben gemessen als etwa noch vor fünfzig Jahren“, sagt der junge Freiherr. „Und auch der Tod, setzte er mit leiser Stimme hinzu, messe anders als früher… ja… nicht nur der Menge nach“.176 Der Vater begreift, dass Liebe und Leben von größerer Bedeutung sein können als Pflicht und Sterben für eine Sache, wenn er auch beides verbinden will. „… vielleicht ist auch die Liebe verschlungen in die Pflicht, wie der Sieg verschlungen ist in den Tod … in der Bibel steht es wohl so…“,177 sagt er zu seinem Sohn. Pflicht und Liebe sollen einander nicht mehr ausschließen. Er durchbricht sogar das unumstößliche Gebot „Du sollst nicht lügen“, als sein Sohn ihn nach dem Tagebuch fragt. Hatte er noch zuvor auf die Frage des Sohnes, ob er glaube, dass die Vorfahren niemals eine Lüge gesprochen hätten, kategorisch geantwortet: „Ich habe es zu glauben“,178 so sagt er ihm nun die Unwahrheit. Er habe das Tagebuch versiegelt ins Feuer gelegt, „weil er geglaubt habe, den Willen eines Toten damit zu erfüllen“. So wird der Sohn nie erfahren, dass der Vater Zeuge seiner Enttäuschungen und Qualen geworden ist. Aber er erlebt die Erlösung von diesen Qualen, als der Vater den Arm um seine Schultern legt, ihn auf die Stirn küsst und sagt: „Mein lieber Sohn“.179 Der Freiherr Ägidius ist lange Zeit bereit, seinen Sohn zu opfern, für das Vaterland, wegen der Verpflichtung gegenüber den Vorfahren und dem Geschlecht, aus Verbundenheit mit der Tradition und wegen der unveräußerlichen Bindung an den preußischen Ehrbegriff. Persönliche „Befindlichkeiten“ treten völlig zurück. Erst nach einem schmerzhaften Reifungsprozess wird ihm das Leben des Sohnes wichtiger und wertvoller. Dem stellt Wiechert einen einfachen Mann gegenüber, der ebenfalls bereit ist, seinen Sohn zu opfern, aber aus persönlicher Schuld und individuellem Leid heraus. Der Großknecht Andreas Niederlechner, der Protagonist der Erzählung „Der brennende Dornbusch“ (1931),180 dient auf einem Berghof im Bayrischen Wald, „ein breiter, schwerer und 176 177 178 179 180

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 676 – 677. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 681. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 678. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 681 u. 682. Ernst Wiechert: Der brennende Dornbusch. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 571 – 588.

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stiller Mensch“,181 der nur die Bibel und seine Arbeit kennt, sich von Vergnügungen fernhält, Hilfsbedürftigen beisteht und allgemein geachtet ist. Als „der Große Krieg“ ausbricht, verweigert er den Kriegsdienst. „Vaterland“, „Heldentum“, „Tapferkeit“ und „Feind“ sind für ihn unverständliche Begriffe. Für ihn gilt das Gebot „Du sollst nicht töten“. Er versteckt sich, wird gefunden und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach dieser „Schande“ wird er Soldat, aber er weiß das Töten zu vermeiden. „Niemand bemerkte, daß die Mündung seines Gewehres immer um ein Weniges über die Stirnen der Feinde hinausgerichtet war, daß seine Handgranaten hinter den Graben fielen, daß seine Feldflasche immer leer, seine Verbandpäckchen immer verbraucht waren.“182 Aber dann tötet er doch, ohne Absicht, durch einen unglückseligen Zufall. Er steht an der Westfront, „in den flandrischen Gräben“,183 als er beim Häuserkampf über eine Stacheldrahtrolle stolpert. Ein Schuss aus seinem Gewehr löst sich und trifft einen jungen Franzosen an der Stirn. Auch dabei liegt ein verhängnisvoller Zufall vor: der „Gegner“ hat seinen Stahlhelm verloren und wird daher sofort tödlich getroffen. Der Vorfall wird in dem Getümmel gar nicht bemerkt. Andreas Niederlechner nimmt die Erkennungsmarke und ein silbernes Kreuz von dem Toten an sich und begräbt ihn unter einer Eiche. Er weiß seinen Namen: Jan. Der Tote wird fortan sein ständiger Begleiter, den er sieht, mit dem er spricht. Er könnte zu den „Geistersehern“ gehören, die mehr wahrnehmen als die „Vernünftigen“, wie der Vater Fahrenholz oder der kleine Judokus Häberlein, aber seine Umgebung bemerkt es nicht. Der tote Soldat Jan gehört fortan zwar zu seinem Leben, aber „soweit es nach innen in das Unsichtbare ging“.184 Der Krieg geht zu Ende, der Knecht kehrt auf seinen Hof zurück, wird dort mit Hochachtung und „verlegenem Dank“ empfangen, da der schmähliche Ausgang des Krieges seiner Kriegsdienstverweigerung Recht zu geben scheint, heiratet eine junge Magd, „deren Sinn dumpf und zu Zeiten leise verwirrt war“,185 und bekommt einen Sohn, der

181 182 183 184 185

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7,

S. 571. S. 575. S. 575. S. 577. S. 577.

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blond ist wie der gefallene Franzose Jan. Gegen die Einwände des Pfarrers nennt er ihn „Jan-Isaak“. Die Namensgebung zeigt die Gedanken und Konflikte, die sich in dem einfachen Mann aus dem Bayrischen Wald abspielen. In Worte fassen kann er seine inneren Nöte sicherlich nicht. Sein Sohn soll den Namen des Getöteten tragen, damit das Andenken an den Toten erhalten bleibt, ja, damit dieser vielleicht in dem Sohne weiterlebt. Dieser Sohn wurde dem Vater in einem vorgerückten Alter geschenkt („Das Haar an den Schläfen des Knechtes war schon grau, als er seinen Sohn über der Taufe hielt“),186 ähnlich wie Abraham seinen Sohn Isaak im hohen Alter bekommen hat. Und der Vater ist von Anfang an bereit, seinen Sohn zu opfern, wie und wofür, wird er kaum mit Worten ausdrücken können, aber mit der Wahl des Namens zeigt er, dass eine göttliche Macht etwas Bedeutsames von ihm fordern wird und dass er gehorchen muss.187 Vater und Sohn Niederlechner gehen von Anfang an eine innige Beziehung ein. Für den Vater „verflocht sich von diesem Tage ab sein Lebensbaum auf eine seltsam innige Weise mit dem jungen Reis seines Kindes.“188 Der Sohn vertraut dem Vater ohne jede Einschränkung, und auch wenn er die Worte des Vaters nicht versteht, pflichtet er ihm bei; der Vater hat für ihn die Bedeutung einer letzten, ehrfurchtgebietenden Instanz.189 „Friedensfürst…“, sagte er einmal, als das Kind über den gepflügten Acker zu ihm heraufgestiegen kam, ein Brot in der einen Hand und eine weiße Aster in der andern, beides vor sich hertragend wie einen heiligen Schrein. „Friedensfürst müßtest du heißen, Jan…“ „Ja“, antwortete das Kind und sah ihn ohne Verwunderung an, wie ihm alles untastbar war, was der Vater sagte oder tat.190 186 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 578. 187 Ihm steht Abraham vor Augen, der jeder Forderung Gottes Folge leistet, auch als er seinen Sohn opfern soll. „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer […]. Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte.“ (1. Mose 22, 2 – 3). 188 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 578. 189 Während bei Kafka der Vater die letzte, aber furchterregende Instanz ist, ist in der Erzählung von Wiechert das Verhältnis von Vater und Sohn von uneingeschränkter Liebe bestimmt. 190 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 578.

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Zwanzig Jahre trägt Andreas Niederlechner an seiner schweren Schuld, die es nach „vernünftigen Maßstäben“ gar nicht gibt; zwanzig Jahre währt seine Buße, wie er selber sagt. Dann macht er sich mit seinem Sohn auf, um die Familie des Gefallenen aufzusuchen. Es ist eine flämische Bauernfamilie in einem kleinen Dorf.191 Pieter Streuvels, der Vater des Gefallenen, ist allgemein bekannt. Ein junger Mann, der Deutsch spricht, erklärt den Fremden den Weg zu dem Hof. „Pieter Streuvels, ein großer Mann, ja, aber mit viel Kummer, seit sein einziger Sohn verschollen sei im Kriege.“192 Der Weg zu dem Gehöft ist begleitet von den symbolhaften Gesten des Vaters. „Dem Knaben war es feierlich zu Mute, weil der Vater seine Hand hielt und er sich nicht erinnern konnte, daß es daheim jemals so gewesen wäre.“ „Und vor dem Hoftor nahm er (der Vater) die Mütze ab und hielt sie mit beiden Händen vor die Brust, wie er in der Kirche daheim zu tun pflegte, wenn der Pfarrer das Vaterunser sprach.“193 Sie betreten die Bauernstube, die an ein Gemälde niederländischer Meister erinnert.194 Nun erfüllt sich auch gleich die Ahnung oder der Wunsch des Bauern Niederlechner, in seinem Sohn möge der getötete Jan weiterleben. Die alte, gekrümmte Großmutter hält Jan für ihren Enkel. „Ihre welken Hände tasteten über seinen Scheitel, seine Stirn, seine Wangen. ,Is tis Jan?‘“195 „Realistische“ Überlegungen, dass der blonde Knabe dort nicht ihr vor zwanzig Jahren verschollener Enkel sein kann, denn der wäre doch ein erwachsener Mann geworden, stellt sie nicht an. Sie erkennt die tiefere Wahrheit, die der Vater stets in der

191 Das Land „Morija“ liegt in Belgien. Die geografische Genauigkeit tritt in den Hintergrund. Sie würden nach Frankreich reisen, erklärt Andreas Niederlechner seinem Sohn. „Die Mutter verstand nur, daß sie fortgingen. Sie wußte nicht, was Frankreich war […].“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 580) Das ist auch unerheblich, ebenso wie der getötete „Feind“ mal als „junger Franzose“ bezeichnet wird und dann als ein flandrischer Bauernsohn identifiziert wird. Es ist das Land, in dem sich das Schicksal des bayrischen Knechtes vollzieht, in dem er tötet und Blutschuld auf sich lädt, in dem er Buße tut und Versöhnung und Frieden stiftet. 192 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 581. 193 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 582. 194 „(…) dunkles Holz an den Wänden und ein Herdfeuer in der Ecke, Bänke und ein schwerer Tisch, Teller auf Wandregalen, eine Lampe auf einem zweiten runden Tisch, Knechte und Mägde, Schnitzwerk und eine Alte über einem Spinnrad…“ (Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 582/83. 195 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 583.

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Existenz seines Sohnes gesehen hat, und die Antwort des Knaben: „,Ja‘, sagte der Knabe laut, ,ich bin Jan‘“, gibt ihr Recht.196 Andreas Niederlechner bekennt seine Schuld und bittet den Vater des Getöteten um Vergebung. Dann liest er aus seiner Bibel das 22. Kapitel aus dem ersten Buch Mose. Er kommt bis zu der Stelle, wo der Sohn geopfert werden soll. „,Und als sie kamen an die Stätte‘, fährt er fort, ,die ihm Gott sagte, baute Abraham daselbst einen Altar, und legte das Holz darauf, und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf’ den Altar oben auf das Holz. Und reckte seine Hände aus, und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachte…“197 Und wieder verstehen ihn die Hinterbliebenen des gefallenen Soldaten. Sie verstehen die Sprache nicht, in der er liest – nur der Vater kann Deutsch sprechen, weil er in deutscher Kriegsgefangenschaft war –, aber sie begreifen, dass hier ein schreckliches Opfer gebracht werden soll. Hier bietet sich der Sohn selbst an, der die Geschichte wörtlich nimmt. „,Ja, Vater‘, sagte er mit seiner hellen, gleichsam besinnungslosen Stimme, du kannst es nun tun, Vater.‘ Und er bückt sich und zieht aus dem Stiefelschaft sein Messer mit der festen Klinge …“198 Der Vater selbst aber wollte ihn keineswegs töten, sondern nur das Gleichnis darlegen, aber er kann das auch in seiner eigenen Sprache nicht erklären. Das braucht er auch nicht. Der flämische Bauer hat schon vorher auf den Fortgang der alttestamentarischen Geschichte hingewiesen, indem er den deutschen Vater aufforderte, weiter zu lesen, wohl bis zu der Stelle, wo dem Abraham Einhalt geboten wird. Doch deutlicher und symbolträchtiger ist die Reaktion der Mutter. Sie umschlingt den Knaben. Sie reißt ihn gleichsam aus dem Dasein der anderen heraus und in sich hinein. Sie küßt sein blondes Haar, sie breitet die Hände um seinen jungen Scheitel, nicht als schütze sie ihn gegen Andreas, sondern gegen jeden Mann der Welt, zurück bis zu dem gläubigen Mörder Abraham.199

Es ist die Bestimmung der Mütter, die Söhne zu schützen, auch wenn die Väter glauben, auf einen höheren Befehl hin handeln zu müssen. Die Bäuerin Streuvels steht in einer Reihe mit Gina Karsten aus Jedermann und Kleine Passion, mit den Müttern in den Märchen und mit der 196 197 198 199

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7,

S. 583. S. 586. S. 586 – 587. S. 587.

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Mutter des Hirten Michael aus der „Hirtennovelle“. Sie alle verstehen die Söhne und stehen ihnen bei. Dem Vater aber kommt in der Gestalt des Knechtes Andreas die Aufgabe der Friedensmission zu. Er nennt seinen Sohn „Friedensfürst“, und er schafft durch ihn Frieden zwischen den ehemaligen Gegnern. Der Sohn Jan bleibt eine Zeitlang bei der neuen Familie; die beiden Väter verabreden es so. Der tote Jan wird von ihnen ausgegraben und wird wohl seine Ruhestätte auf dem heimatlichen Kirchhof erhalten. Andreas kennt die Stelle genau, wo er einst sein Opfer begraben hat, und findet sie wieder trotz mancher Veränderung. Die Eiche ist nicht mehr da, und der Wald ist über seinen alten Rand gewachsen. Aber Grab und Sterne sind nicht gewandert, und auch Andreas, der dort im fremden Lande steht, unter dem riesigen Gewölbe des fremden Himmels, ist es, als sei er nicht fortgewesen. Als hätten sie hier gewartet, zwanzig Jahre lang, in der Achse der flimmernden Sternenbahnen, das Grab und er, bis das Recht gesprochen würde über Leben und Tod.200

Es ist für ihn heiliges Land, Land, das man nicht mit Schuhen betreten darf, wie die Stimme aus dem brennenden Dornbusch befiehlt. Gott sprach zu Moses: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“ (2. Mose 3, 5) 201 Der bayrische Bauer will seinen Sohn hergeben für Vergebung und Versöhnung. Der Richter in der gleichnamigen Novelle von 1946 will seinen Sohn hergeben,202 indem er ihn unter das Recht stellen will, auch er einer der guten Väter mit einem hohen moralischen Bewusstsein und der daraus resultierenden Verantwortung. Die Geschichte spielt zu einer Zeit, da „gingen die Rechtlichen nicht mehr zu denen, die das Recht hätten hüten sollen, aber nur der Gewalt dienten.“ Es ist „kurz vor dem zweiten großen Kriege“, also im August 1939.203 In einer kleinen bayrischen Gemeinde wird eine Leiche gefunden, ein junger Mensch, mit dem der Sohn des Richters in der Kindheit befreundet war. „Der 200 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 587 – 588. 201 Wie Moses wird auch Andreas sagen können: „Ach, mein Herr, ich bin von jeher nicht beredt gewesen, auch jetzt nicht, seitdem du mit deinem Knecht redest; denn ich habe eine schwere Sprache und eine schwere Zunge.“ (2. Mose 4, 10). 202 Ernst Wiechert: Der Richter. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 743 – 762. 203 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 743.

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Bärbel Beutner

Richter hatte ihn von Kind auf gekannt. Er war der Sohn armer, sehr frommer Häusler, und sein tapferer, gerechter, fast wilder Sinn hatte ihn früh zu den radikalen Gemeinschaften des Volkes getrieben. Und daran war auch die Freundschaft mit Christean jäh zerbrochen.“204 Denn der Sohn des Richters war „ein Jugendführer in dem kleinen Ort“, der Getötete war Kommunist und für die Machthaber ein „Lump“.205 Der Richter weiß bald, dass sein Sohn mit dem Mord zu tun hat, denn er hat bei dem Toten einen Brief gefunden, den der Mörder verloren haben musste, und auf diesem Umschlag stehen der Vorname und der Zuname seines Sohnes. Der Richter ist verwitwet, und die Tochter Barbara sitzt im Rollstuhl. Auch sie kannte den Ermordeten von Kind auf. Es dauert nicht lange, und der Sohn bekennt dem Vater die Tat. Erst rechtfertigt er sich: der Getötete sei ein „Feind und Verräter“ gewesen, und der Vater könne die „neue Zeit“, in der andere Gesetze herrschen, eben nicht begreifen. Aber der Vater denkt in anderen Zeiträumen. „,Was Abel widerfuhr, ist alt‘, erwiderte der Richter, ,uralt. Und auch das Zeichen ist nicht neu, das Kain trug…‘“206 Auch der neuen Lehre, auf die der Sohn sich beruft, stellt der Vater andere moralische Werte entgegen. „Blut war immer etwas Heiliges für uns.“207 „Minderwertiges Blut“ gebe es nicht. Er ist bereit, gegen den Sohn zu zeugen, um der Gerechtigkeit und um eines höheren Sittengesetzes willen. Das väterliche Denken über Recht und Gerechtigkeit geht schließlich auf den Sohn über, als der Vater ausspricht, wie schwer ihm ein solches Zeugnis fallen würde. Gerade damit macht er die enge, existenzielle Bindung zwischen Vater und Sohn deutlich. Er streichelt die Hände „seines Kindes“ und sagt „voller Liebe“: „Es gibt nur zwei, Kind, die es können […]. Der Vater oder der Sohn. Und meinst du nicht, daß es dem Vater zukomme, das Schwere zu tun, wenn der andere noch ein Kind ist?“208 Der Sohn ist nun bereit, sich selbst „dem Recht“ zu stellen – aber die Machthaber weisen ihn ab. Der Kreisleiter erklärt ihm, er habe eine Belohnung verdient, und der Staatsanwalt antwortet auf seine Selbstanzeige, man habe keine Zeit, sich mit einer solchen Marotte zu be204 205 206 207 208

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7,

S. 746. S. 745. S. 752. S. 753. S. 753.

Väter bei Ernst Wiechert

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schäftigen. Als der Sohn dem Vater davon berichtet, herrscht eine endgültige Übereinstimmung zwischen Vater und Sohn. „Ich habe ihm geantwortet, daß das Recht bei uns keine Marotte sei“, berichtet der Sohn. Und der Vater vergewissert sich dieser Übereinstimmung. „,Hast du ,bei uns‘ gesagt?‘, fragte der Richter nach einer Weile. ,Ja, Vater.‘“ Und nicht nur das: der Sohn will Buße tun und ist zutiefst verzweifelt, als man sie ihm verwehrt. „,Hilf mir, lieber Vater!‘ sagte er endlich. Er hatte es seit Jahr und Tag nicht gesagt: ,Lieber Vater!‘, und es ergriff sie (seine Gesichtszüge) mehr als die Verstörung seiner Augen.“209 Der Vater hilft dem Sohn, indem er ihn vor „ein letztes Gericht“ führt. Sie gehen zu den Eltern des Toten. Der tote Sohn ist „in dem niedrigen Raum, der nur an Sonntagen benutzt wurde“, aufgebahrt.210 Christean fällt vor den Eltern auf die Knie und bekennt seine Tat. Es fallen wenige Worte, auch ein Wort der Vergebung wird nicht ausgesprochen. Doch eine Geste der Mutter zeigt die Vergebung. Sie wendet „langsam, ganz langsam ihr erloschenes Gesicht von dem Schein der Kerzen in den Blick des Richters, und ohne ihn von dort zu wenden, löste sie eine ihrer alten, zitternden Hände von dem schwarzen Gesangbuch und ließ sie einmal ganz leise und behutsam über das helle Haar des zu ihren Füßen Knienden gleiten.“211 Beide, Vater und Mutter, fühlen besonders mit dem Vater des jungen Mörders. Den schaut der Vater des Getöteten nicht an, sondern den Vater, den Richter, als er sagt: „Und auch dies möchte der Herr Richter seinem Sohn sagen, daß kein Herz in dieser Kammer Schwereres zu tragen hat als des Herrn Richters Herz.“212 Der Richter legt sein Amt nieder, Christean verlässt das Land und entzieht sich dem Krieg, der drei Tage später beginnt und für den er bereits ein Menschenleben geopfert hat. Er hat Blutschuld auf sich geladen, aber mit dem Vater, der „letzten Instanz“, ist er ausgesöhnt.

209 210 211 212

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7, Bd. 7,

S. 758. S. 759. S. 761. S. 760.

Das Kind in Ernst Wiecherts Novellen jrgen fangmeier Ernst Wiechert hat sich stark mit seiner eigenen Kindheit beschäftigt und auch allgemeiner mit dem Thema Kind, Kinder, Kindheit. Letzteren soll in seinen Novellen und Erzählungen nachgegangen werden. Zuvor ein Wort zu Wiecherts Befasstsein mit der eigenen Kindheit. Sie liegt insbesondere in Wlder und Menschen vor.1 Im Band Novellen und Erzhlungen gehören hierher „Geheimnis eines Lebens“ und „Der siebente Tag“,2 beide von 1928. Letztere beginnt mit dem Knaben Ernst und seinem Kranich. Und es kommt da der Satz vor: „Ich liebe Gott, die Kinder und die Tiere“.3 Zu bedenken ist darüber hinaus, dass Ernst Wiechert Lehrer junger Menschen gewesen ist. Mir ist keine Arbeit bekannt, die sich bereits speziell mit dem hier zu behandelnden Thema befasst hätte.4 Als Theologen bewegen mich freilich auch theologische Motive in Zusammenhang mit den Wiechertschen Kindergestalten. In der Anordnung der Novellen gehe ich nicht streng chronologisch nach den Jahren des Erscheinens vor; ich habe mich für eine kleine Wanderung durch die Thematik entschieden, weil sie mir sinnvoll erscheint.

1 2 3 4

Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. In: Ernst Wiechert: Sämtliche Werke. München 1957, Bd. 9, S. 5 – 196. Ernst Wiechert: Geheimnis des Lebens. Ernst Wiechert: Der siebente Tag. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 458 – 462 u. S. 463 – 467. Wiechert, Der siebente Tag, S. 464. Folgende autobiografische Anmerkung sei mir gestattet, die mich vielleicht ein Stück weit für dieses Thema legitimiert: Ich bin aufgewachsen als Sohn des Leiters eines Kinder- und Jugendheims und faktisch mitten darin. Ich habe als junger Theologe zeitweilig mit meinem Vater zusammengearbeitet und ihn regelmäßig vertreten. Ich habe neben der Theologie auch Psychologie und Pädagogik studiert und meine Dissertation hatte ein pädagogisches Thema. Ich bin selbst Träger eines indischen Waisenhauses.

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Geschichte eines Knaben (1928) 5 Mit dieser Novelle fange ich an, weil das schon der Titel nahelegt. Es empfiehlt sich im Folgenden jeweils eine kurze Inhaltsangabe. Da ist der Knabe Percy,6 in Batavia auf Java geboren. Die Mutter ist bei der Geburt gestorben. Die Amme ist, wie die ganze Umwelt, malaiisch, der Vater indes ein deutscher Handelsherr, Percy aber dem malaiischen Wesen ergeben. Durch den Ersten Weltkrieg gehen der Familie ihre Güter verloren. Vor dem Verlassen des Landes macht der Knabe einen Fluchtversuch, der misslingt – einen Fluchtversuch, um in seiner malaiischen Welt zu bleiben. Es folgt die Übersiedlung nach Ostdeutschland, wo für Percy alles grau ist. Er findet kein positives Verhältnis zum Großvater dort, ebenso wenig wie zum Vater, auch nicht zu Mitschülern und Lehrern. Wohl aber zu einem Schulkameraden, Graf Holger Einsiedel. Er wird von dessen Eltern für die Ferien eingeladen. Die Einsiedels haben ein tropisches Gewächshaus, das Percy sehr heimatlich berührt. Er beschwört die Schlangen. Nach den Ferien hat sich daheim eine Klavierlehrerin eingemietet, die auch „eine Fremde“ ist. Er (Percy) erschließt sich ihr, nimmt auch Stunden bei ihr. Sie macht ihn darauf aufmerksam, dass sich bei ihm wohl eine Tuberkulose entwickle. Einen Antrag seines Vaters nimmt sie nicht an – und bekennt Percy ihre Liebe zu ihm. Sie verlässt das Haus. Percy selber auch. „Auf dem Tisch (seines leeren Zimmers) stand der kleine Buddha, die Hände segnend erhoben.“7 Percy sucht und findet den Tod im Tropenhaus, durch eine Schlange. Der „malaiische“ Urwald mutet an Wiecherts masurische Wälder an. In der „Ostdeutschen Stadt“ leidet Percy wie der junge Ernst in Königsberg. Eine „nihilistische Neigung jenes ( jugendlichen) Lebensalters“, bei den beiden Freunden beobachtet,8 ist auch Ernst Wiechert nicht fremd gewesen. Percys Entdeckung von Frau Lida (der Klavierlehrerin) erinnert an Wiecherts Entdeckung seiner späteren Frau Lilje. Es fehlt also nicht an autobiographischen Momenten. Öfters spielen bei Wiechert in Jungen5 6 7 8

Ernst Wiechert: Geschichte eines Knaben. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 37 – 92. Die englische Aussprache des Namens kann von der Tätigkeit des Vaters in einer britischen Firma her naheliegen. Mit Blick auf die Herkunft des Namens von Parzival wird von mir die deutsche Aussprache bevorzugt. Wiechert, Geschichte eines Knaben, S. 91. Wiechert, Geschichte eines Knaben, vgl. S. 63.

Das Kind in Ernst Wiecherts Novellen

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Geschichten Frauen herein: Die Klavierlehrerin hier, eine Malerin dort, wie in der „Hirtennovelle“, eine Arztfrau in der „Kleinen Chronik“. Percy – ein Unverstandener, ähnlich dem Dichter selbst; und so hat er es denn gern mit Unverstandenen. Das Ende ist hier ein früher Tod, noch dazu ein Freitod. Kein Wunder, dass der Nationalsozialismus sich mit diesem Wiechert doch nicht anfreunden konnte. Dies war zu wenig „positiv“. Modern könnte dieser Ernst Wiechert indes durchaus sein. Jugendliche Suizide sind nicht seltener geworden. Dass Percys Suizid, und somit Suizid als menschliche Möglichkeit, vom Dichter verherrlicht werde, wäre allerdings ein Missverständnis. Wohl ist dieses Ende nicht ohne Trost: Da steht der segnende Buddha9 und steht, als letztes Wort, auf dem Grabstein „Weltevreden“.10 Aber der Trost verdeckt die Vielfalt des Scheiterns nicht. Und das gerade diejenigen, die Verständnis für Percy haben, ihm zu diesem Ende verhelfen, ist die Tragik in dieser Geschichte. Der Kinderkreuzzug (1926) 11 Ein Bauernsohn ist wegen unpassender Heirat des Hofes verwiesen worden. Auch als Fronturlauber wird er vom Vater abgewiesen. Daheim in der Stadt darbt die Familie. Klein Eva singt: „Mutter, ach Mutter, es hungert mich. Gib mir Brot, sonst sterbe ich.“12 Aber da ist auch Sohn Jürgen. Von ihm wird gesagt, „dass seine Seele … von Jugend auf um Gottes Füße ging“.13 Er hat vom Hof des Großvaters paradiesische Vorstellungen, die der Vater genährt hat. Und er hat vom Pfarrer vom mittelalterlichen Kinderkreuzzug vernommen.14 Einen solchen organisiert er nunmehr, mit zwölf Kindern zum Großvater. Drei Tage Marsch mit Leiterwägelchen. Der Großvater aber empfängt sie als „Vagabunden“! 15 So ziehen sie gleich wieder ab, mit ihren blutenden Füßen und desillusioniert. Aber der Hirt des Hofes, mit einem 9 Wiechert, Geschichte eines Knaben, vgl. S. 91. 10 Wiechert, Geschichte eines Knaben, S. 92. 11 Ernst Wiechert: Der Kinderkreuzzug. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 127 – 160. 12 Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 136. 13 Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 137. Vgl. auch Wiecherts Selbstaussage in: Der siebente Tag, vgl. S. 465. 14 Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 136. 15 Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 146.

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Arm aus dem Krieg zurückgekehrt, nimmt die Kinder mit zum Schafstall. Er wird ihnen zum „Stall von Bethlehem“.16 Jürgen wehrt der Aussage des Hirten, dass Gott gestorben sei. Er veranlasst eine Fußwaschung vor ihrem abendlichen Mahl; das Lamm, das sie essen, ist ihm das Osterlamm.17 Acht Tage bleiben „die Kreuzfahrer … im gelobten Lande“, beim Hirten.18 Dieser organisiert über den Pfarrer die Heimreise per Bahn und nahrhafte Mitbringsel für die Familien. Jürgen kehrt heim „eines Lichtes voll, das niemals mehr verglühen konnte.“19 Die Not der Kriegskinder – heute im Weltmaßstab nicht weniger aktuell – und kindliches Nicht-verstanden-Werden – Wiechert trägt beidem Rechnung. Da ist Jürgen mit seinem Idealismus und seinem biblischen Glauben – ein Stück von Ernst Wiechert selber. Tiefe EntTäuschung und trotzdem Erfüllung und Bestätigung eines ,erläuterten Glaubens‘: dies ist eine Geschichte mit positivem Ausgang. Allerdings zwei Jahre vor der „Geschichte eines Knaben“ geschrieben. Chuchollek (1932) 20 Wiechert kennt natürlich auch das Gemeine im Kinderland. Diese Geschichte ist als sein eigenes Erleben gekennzeichnet, als er Quartaner in Königsberg war und Nebenmann von Chuchollek. Der ist verlogen und durchtrieben. Immer hat er ein graues Speichelbläschen im Mundwinkel. Ernst leidet, duldet, bis er endlich angesichts einer Tierquälerei – ein Maulwurf soll ertränkt werden – sich zur Wehr setzt und seine ganze Not herausschreit. Man wird an Theodor Zerrgiebel in der „Kleinen Passion“ erinnert. Und auch in „Das Männlein“ haben die Geschwister Ulrich und Elisabeth schon „breite und unschöne Köpfe“.21 Ernst Wiechert tritt nicht an, um überall bei Kindern etwas Positives, ein Geheimnis zu erspüren. Er kennt eben das Gemeine auch und sieht für dasselbe nicht viel Hoffnung. Chuchollek bleibt, wie er ist. 16 17 18 19 20

Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 152. Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 157. Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 159. Wiechert, Kinderkreuzzug, S. 160. Ernst Wiechert: Chuchollek. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 598 – 604. 21 Ernst Wiechert: Das Männlein. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 635.

Das Kind in Ernst Wiecherts Novellen

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Das Kind und die Wçlfe (1928) 22 Der dreijährige Junge eines Moorbauern lässt sich durch den Ruf des Pirols aus der Kate locken, immer tiefer in den Wald. Er hält beim Eindunkeln einen Wolf für einen Hund. Am dritten Tag wird das Kind mit Hilfe von Hunden in der Wolfshöhle mit zwei Jungtieren zusammen gefunden. Es spricht nicht mehr, ist und bleibt auf die gefangenen jungen Wölfe und die ums Haus streichende Wölfin fixiert – und stirbt beim Todesschuss auf die Wölfin, statt dass er nunmehr von ihr loskäme! Man fragt sich und soll sich offenbar fragen: Ist die Welt der Tiere die bessere Welt? Die Gebrde (1932) 23 Die Geschichte von Eli Kaback, der in der Schule leiden muss, weil er anders ist, in diesem Fall: Er ist Jude. Immer neue Demütigungen werden gegen ihn ausgedacht. Auch an den Lehrern hat er keine Hilfe. Seine Geschichte endet, nachdem seine Klassenkameraden bei einem Klassenjubiläum ihren Gemeinheiten die Krone aufgesetzt haben, mit Suizid. Hier stehen wieder die Gemeinheit der Meute und der einzelne Unverstandene im Mittelpunkt. Diese Erzählung ist zudem ein besonderes Dokument von Wiecherts Eintreten für die Juden. Von den bisherigen fünf Beispielen haben schon drei mit dem Tod geendet. Das wird bei Wiechert nicht zur Stereotypie, hat aber Gewicht, wenn nicht ein Übergewicht. Auch in der „Hirtennovelle“ ist der Ausgang tödlich, aber anders zu gewichten; und in „Der brennende Dornbusch“24 wird der Tod angeboten, tritt aber nicht ein. Diejenige Positivität, die bestimmte Kreise von Wiecherts jungen Gestalten begehrten, ist aber nur zum geringeren Teil vorhanden. Es fällt auf, dass Wiechert durchweg Knabengestalten schildert.25 Das hängt gewiss damit zusammen, dass der Dichter selbst ein Junge 22 Ernst Wiechert: Das Kind und die Wölfe. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 468 – 474. 23 Ernst Wiechert: Die Gebärde. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 605 – 612. 24 Ernst Wiechert: Der brennende Dornbusch. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 571 – 589. 25 In Wiecherts Märchen finden sich dagegen paritätische Figurenkonstellationen. Vgl. die Märchen „Bruder und Schwester“, „Die Schwestern“ und „Die

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gewesen war und als Junge gelitten hatte. Auch hatte er ja keine Schwester, wohl zwei Brüder. Auch keine Schulkameradinnen. Frauengeschichten gibt es aus seiner Feder sehr wohl, indem er eben Mann und als solcher auf Frauen bezogen ist.26 Dass in die Geschichten von Knaben Frauen hereinspielen, wurde bereits vermerkt: die Klavierlehrerin Lida, die Malerin Tamara, ebenso wie eine Arztfrau in der Kleinen Passion. Hirtennovelle (1934) 27 Eine der bekanntesten und beachtetsten Novellen des Dichters. Allein sie ist aus unserer heutigen Auswahl in Kindlers Literaturlexikon besprochen, allerdings als antiquierte Lebenswelt – ein Hirte! 28 Michael erlebt als kleiner Holzfällerssohn den Unfalltod des Vaters. Er wird eingeschult als „einer Witwe Sohn“.29 Mit zwölf Jahren wird er der Hirt des Dorfes. Er schlägt den Nachbarhirten Laban aus dem Feld. Einmal im Sommer gibt es ein nächtliches Pferdehüten zusammen mit seinen Altersgenossen, die zum Gymnasium gehen. Die Malerin Tamara, ein Gast aus der Stadt, nervt ihn; dass sie ihn nackt malt, empört ihn, den inzwischen 16-Jährigen. Besuche seines alten Lehrers Elwenspök hingegen werden für beide eine Bereicherung. Dann kommt die Walze des Krieges. Michael sucht und findet einen sicheren Zufluchtsort für die Herde und die Menschen des Dorfes. Schließlich aber steht durch eine Nachzüglerin und deren Lamm alles auf dem Spiel. Michael ist entschlossen, taktisch wohl verkehrt, auch das Lamm zu retten, verteidigt es gegen die Kosaken und wird selber dafür getötet. Auch hier stirbt der junge Mensch, aber als Held. Er hat für sein ganzes Dorf Schutz und Sicherheit besorgt, und er stirbt für ein verirrtes Schaf. Abbild des biblischen Guten Hirten, wie sein alter Lehrer beim

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Brüder“, „Sieben Söhne“, „Die arme Magd“, „Das Mädchen ,Namenlos‘“, „Das Hexenkind“. Ernst Wiechert: Frauengeschichten. München 1984. Ernst Wiechert: Hirtennovelle. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 493 – 551. Ernst Wiechert: Hirtennovelle. In: Kindlers Literatur Lexikon. Sonderausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Darmstadt, Bd. V, 1971, S. 4463 – 4464. Wiechert, Hirtennovelle, S. 500.

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Begräbnis selber sagt.30 Gibt es eine größere Ehre für einen jungen Menschen als gerade dies? Pan im Dorfe (1928/29) 31 Eine gewisse Ähnlichkeit hat die wohl weniger bekannte Erzählung „Pan im Dorfe“. Man kann sie auch als Bindeglied zwischen den beiden so unterschiedlichen Werken „Hirtennovelle“ und „Geschichte eines Knaben“ sehen. Da ist Silvestris, Sohn der Förstersfrau und eines musizierenden Zigeuners. Die Mutter stirbt bei der Geburt, er wächst im Försterhaus auf und übt mit seinem Flötenspiel magische Gewalt aus. Er ist geheimnisumwittert und wie nicht von dieser Welt. Es treten um ihn auch parapsychologische Phänomene auf.32 Der Förster, der ihn hasst, wird ermordet. Steckt Silvestris irgendwie dahinter, wird natürlich gefragt. Er wird Hirt eines Dorfes. Sein Flötenspiel zieht Frauen so unwiderstehlich an, dass der Pfarrer es ihm zu verbieten versucht – vergeblich – und dass die Männer des Dorfes, ihn hassen. Sie steinigen ihn gar, da er das Vieh für den Winter ins Dorf treibt – „bis ein Hügel sich türmte, wie auf einer Schädelstätte“.33 Ein junger Mensch mit einem Geheimnis.34 Dieser junge Bursche lässt mit seiner überirdisch wirkenden Hirtenflöte Ernst Wiechert an Pan denken, den arkadischen (griechischen) Gott der Hirten, wonach die ganze Sammlung, in der diese Novelle erschien, „Die Flöte des Pan“ hieß. Wiechert hatte einen gewissen Zug dahin, Gott auch als Pan zu sehen und zu verehren. „Pan“ heißt: das Ganze. Trotzdem deutet ja das Bild der Schädelstätte am Ende noch in eine andere Richtung.

30 Wiechert, Hirtennovelle, in: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, vgl. S. 550. 31 Ernst Wiechert: Pan im Dorfe. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 329 – 353. 32 Wiechert, Pan im Dorfe, vgl. S. 352. 33 Wiechert, Pan im Dorfe, S. 353. 34 Ich habe einmal im Zusammenhang mit einer Predigt über den zwölfjährigen Jesus im Tempel die Frage gestellt, ob nicht vielleicht jeder junge Mensch sein Geheimnis hat.

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Das Mnnlein (1933) 35 Jodokus ist ein sehr sensibles Kind, für das außer der Mutter, der er gleicht, niemand Sinn hat: der Vater, ein Spengler, nicht und die schon äußerlich groben Geschwister nicht, die Schule, ob Kinder oder Lehrerschaft, auch nicht, und schließlich die Kirche, hier die katholische, ebenso wenig! Jodokus sieht Dinge, die nicht da sind, sei es, dass es sie in der Wirklichkeit nicht gibt, wie eine Kröte mit Krönlein, oder dass die anderen Leute sie nicht sehen. Durch das Männlein, das er in einem Winkel des elterlichen Hauses gewahrt, entsteht ein solcher Aufruhr, dass Jodokus der Schule verwiesen und der Betrieb des Vaters ruiniert wird. Jodokus verschwindet auf einem Gang mit der Mutter im Walde, vielleicht vom fernen Ruf eines Schwarzspechts angezogen.36 Ein Mensch hat ihn noch angetroffen, mit einer großen Blume in der Hand immer tiefer ins Gehölz gehend. Er bleibt unauffindbar. Ein Kind „wie nicht von unserer Welt“37 – wiederum oder hier erst recht. Es wird in der Erzählung selbst nach Ursachen für sein Sosein gefragt: Wirkt sich aus, dass er ein unerwünschtes Kind war? Spielt bei der Erscheinung des Männleins eine Rolle, dass die Mutter früher an Heinzelmännchen geglaubt hatte? Und es will in der Erzählung beachtet sein, dass später bei handwerklichen Arbeiten im Hause das von Jodokus geschaute Männlein tatsächlich als gemaltes Bild entdeckt wird. Ein unverstandenes Kind, das weiter war als die so verständigen Leute, die es verkannten. Solche Kinder sollten ganz anders geachtet werden. Doch ist die Meute wohl stets zu zahlreich, zu mächtig, zu roh, zu sensationslüstern. Immerhin geht in diesem Fall der Vater des Kindes schließlich in sich und hört nicht auf, Jodokus zu suchen.

35 Ernst Wiechert: Das Männlein. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 634 – 654. 36 Wiechert, Männlein, S. 651. 37 Wiechert, Männlein, S. 651.

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Der brennende Dornbusch (1931) 38 Eine vielleicht weniger bekannte Erzählung – aber ein ganzer Ernst Wiechert! Ein Knecht aus dem Bayrischen Wald – es muss ja bei Wiechert nicht immer Masuren sein – wird sehr gegen seinen Willen Soldat im Ersten Weltkrieg, in Flandern. Obwohl er beim Schießen absichtlich seine Ziele verfehlt, über die Köpfe schießt, löst sich einmal ein Schuss aus seinem Gewehr und tötet einen jungen flämischen Soldaten – den er dann in äußerster Betroffenheit selber beerdigt und dessen Erkennungsmarke und Schmuck-Kreuz er behält. Er kann nicht mehr Soldat sein, desertiert und kommt mit dem Leben davon. Wieder daheim, erhält sein erster Sohn den Namen Jan, so hieß der flämische Soldat: Jan Isaak. Nachdem er zu einem jungen Burschen herangewachsen ist – er ist sehr anhänglich an seinen Vater und für den gleicht er jenem flämischen Soldaten –, da suchen Vater und Sohn jene flandrische Familie, finden sie auch, und der Vater liest ihnen nach Übergabe der Hinterlassenschaft des Toten 1. Mose 22, die Geschichte von Isaaks Opferung. Dann zieht Jan Isaak seinerseits spontan sein Messer und sagt, er sei bereit! So ist es aber nicht gedacht gewesen, und dem wehrt auch die Mutter des Gefallenen ganz energisch. Sie erkennt in diesem Jungen ihren Jungen wieder. Jan Isaak wird nun jährlich eine Weile dort leben, zunächst bleibt er für ein halbes Jahr. Dies ist eine Geschichte, die einem Ernst Wiechert besonders liebenswert erscheinen lässt. Der Titel „Der brennende Dornbusch“ (nach 2. Mose 3) bedeutet wohl, dass in dieser Gewissensnot eines Menschen und in dessen Frieden-Machen sich Gott als ganz nahe erweist. Jan Isaak, ein Junge mit einem ganz besonderen Opfersinn und ohne intellektuelles Format, von ungewöhnlicher Reinheit, gleichsam ein Jons Ehrenreich Jeromin in einer Novelle. Ernst Wiechert findet, es gebe solche jungen Menschen und es lohne sich, auf sie aufmerksam zu sein. Sie seien heimliche Säulen dieser Welt und atmeten Gottes Nähe.

38 Ernst Wiechert: Der brennende Dornbusch. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 571 – 589.

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Schlussbetrachtung Bei Ernst Wiechert leiden Kinder als Unverstandene, wie Percy in der „Geschichte eines Knaben“; das Kind, das bei Wölfen war; der jüdische Knabe Eli Kaback; Jodokus in „Das Männlein“. Wiechert kennt und zeichnet auch junge Helden mancherlei Art wie Jürgen im „Kinderkreuzzug“, Michael in der „Hirtennovelle“, Jan Isaak in „Der Brennende Dornbusch“. Wiechert verklärt nicht alle Kinder, nicht das Kind überhaupt. Da sind z. B. auch Chuchollek und die Geschwister und Schulkameraden von Jodokus. Aber es soll wohl doch genug solcher geben, die ein besonderes Geheimnis haben, ob als Wolfskind, als musikalisches Wunder wie Silvestris, als Wanderer mit der großen Blume oder schlicht als Jude Eli. Das „Paradiesische“ aus Wiecherts eigener Kindheit – „Geheimnis eines Lebens“, „Der siebente Tag“ – begegnet durchaus nicht durchgängig bei den Kindergestalten seiner Novellen. Etwas davon gewahren wir bei Percy in seiner malaiischen Heimat, bei den Kreuzfahrer-Kindern in der Woche im Schafstall, vielleicht auch bei dem Kind, das bei den Wölfen weilt. Es begegnet mehr die Vertreibung aus dem Paradies. Auffallend ist der Bezug zur Welt der Religionen – zu Buddha (Percy); zu Pan (Silvestris); aber auch zur Bibel des Alten und Neuen Testaments. „Der Kinderkreuzzug“ führt zum Stall von Bethlehem, Eli Kabacks Blick ging so weit zurück, „als reiche er bis an die Schwelle des Tempels Salomonis“,39 „und seine traurigen Hände sahen wie gekreuzigt aus“.40 Michael lässt als Hirt sein Leben für ein Schaf, und angesichts der Flammen eines unseligen Krieges kann doch auch der „Brennende Dornbusch“ Ereignis werden. Es ging in diesem Beitrag um Wiechertsche Novellen, nicht um die großen Romane oder die Schauspiele, wie „Der armen Kinder Weihnachten“. Ähnlichkeiten drängen sich indes auf, von den Blauen Schwingen 41 über die Kleine Passion 42 bis zu den Jerominkindern. 43 Ich habe 39 Wiechert, Gebärde, S. 608. 40 Wiechert, Gebärde, S. 607. 41 Ernst Wiechert: Die blauen Schwingen. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 339 – 432. 42 Ernst Wiechert: Die kleine Passion. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 5 – 303. 43 Ernst Wiechert: Die Jerominkinder. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 5 – 978.

Das Kind in Ernst Wiecherts Novellen

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z. B. Johannes Karsten aus der Kleinen Passion vor Augen und seinen Kameraden Klaus Wirtulla. Chuchollek aus „Chuchollek“ ist eine Art Theodor Zerrgiebel, aber es lässt auch Graf Holger Einsiedel an Percy Pfeil, aus Jedermann 44 denken. Und die Jerominkinder sind eben Jeromins Kinder – sehr verschieden auch sie und von recht unterschiedlicher Würde, aber miteinander einen großen Roman der deutschen und europäischen Kultur wert. Ernst Wiechert hat das Kind als Kind ernst genommen, den jungen Menschen als jungen Menschen. Das war, als er als Gymnasiallehrer in Königsberg wirkte, trotz Jugendbewegung und Jahrhundert des Kindes,45 noch oder wieder oder gerade dort eine seltene Tugend. Und wo sie damals aufkeimte, wurde sie häufig gleich nationalsozialistisch verbogen. Jüngst hat Christian Tilitzki aufgewiesen, wie es darum zum Zerwürfnis am Königsberger Hufen-Gymnasium gekommen ist.46 Wiechert dürfte als Seelsorger junger Seelen Geltung gewinnen. Zu Ernst Wiecherts eigener Kindheit hat ebenso wie das Paradiesische auch das Leid gehört, auch wenn mancher nicht vom Paradies sprechen will. Ich sehe in Ernst Wiechert eben auch einen Seelsorger und zitiere des Dichters Satz: „Ich erinnere mich, dass ich viel geweint habe, über eigenes Leid und fremdes Leid.“47 In „Geheimnis eines Lebens“ und „Der siebente Tag“ ist das Wort „Paradies“ im Zusammenhang mit der Verstoßung aus demselben verwendet. Das schließt jedoch nicht aus, sondern ein, dass dem Leben des Kindes Ernst in Kleinort paradiesische Züge eigneten, was wiederum nicht heißt, dass sein Leben keine Beschwernisse gekannt hätte. Auch auf den Tod des einzigen eigenen Kindes Ernst Wiecherts nach nur drei Tagen darf in diesem Zusammenhang hingewiesen werden. Ja, man darf auch sagen, dass die schweren Züge in den Novellen, Kindergestalten betreffend, die ernsten Seiten der eigenen Kindheit des Dichters unterstreichen.

44 Ernst Wiechert: Jedermann. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 303 – 538. 45 Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Berlin 1921. 46 Christian Tilitzki: Abschied vom Hufengymnasium. Vgl. den Nachdruck in diesem Band. 47 Geheimnis eines Lebens, S. 459.

Das Bild des Lehrers im Werk Ernst Wiecherts brbel beutner Ein Landsmann Ernst Wiecherts, der Barockdichter Simon Dach (1605 – 1659), aus Memel gebürtig und in Königsberg wirkend, arbeitete eine Zeitlang als Hauslehrer bei einem kneiphöfschen Ratsherrn, der ihm 1633 eine Anstellung an der Kathedralschule besorgte. Dort wurde er später Konrektor, bis er an die Universität berufen und 1639 zum „Professor für Poetik“ ernannt wurde. Der Schuldienst muss ihm sehr schwer gefallen sein. In einem Gedicht an seinen Freund Robert Robertin „Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen … geschrieben 1647. 30. Julij“1 heißt es: „So hat der Schulen Staub mir meiner Jugend Blüte / Nicht wenig auffgezehrt“,2 und: „O Schule, du hast Schuld, daß schier mein Geist erlieget / Und keinen rechten Danck des wackern Fleisses krieget“.3 Denn die Schule muss ihn sehr beansprucht und angestrengt haben. „Der Tag sampt allen Stunden / Hatt an die Kinderzucht mit Fesseln mich gebunden“,4 und auch Nachtarbeit muss es für ihn gegeben haben. „Die Nacht, die Ruh sonst hegt bey Menschen und bei Thieren / Hat mehr als einmahl mich gezwungen zu verlieren / Des Schlaffes Süssigkeit, daß klägliche Latein / Der Jugend musste da durch mich gebessert seyn“,5 eine Erfahrung, die alle Lehrer mit Korrekturfächern mit ihm teilen. Robertin, der ihm an die Universität verholfen hat, verdanke er die Befreiung „Von dieses Kerckers Wust“.6 Den geplagten, schlecht verdienenden, aus welchem Grunde auch immer von den Schülern geärgerten Lehrer finden wir bei Wiechert in vielfachen Beispielen, und das, wo er selbst diesen Beruf, wie man weiß, mit großem Engagement ausübte. Er schildert damit nicht nur eigene Erfahrungen, sowohl aus seiner eigenen Schulzeit wie aus seiner 1 2 3 4 5 6

Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis. Hg. v. Alfred Kelletat. Stuttgart 1986, S. 79. Dach, S. 81. Dach, S. 82. Dach, S. 82. Dach, S. 82. Dach, S. 82.

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Lehrtätigkeit, sondern er fügt sich damit in eine literarische Tradition ein. „Also lautet der Beschluß, / Daß der Mensch was lernen muß“, heißt es bei Wilhelm Busch zur Einführung des Lehrers Lämpel, dem Max und Moritz übel mitspielen.7 „Denn wer böse Streiche macht, / Gibt nicht auf den Lehrer acht“,8 lautet die Erklärung. Max und Moritz überlegen nun, „Ob vermittelst seiner Pfeifen / Dieser Mann nicht anzugreifen“,9 und der Leser verfolgt nicht ohne Vergnügen, wie sie Schießpulver in seine Pfeife füllen, die dann, als er es sich gerade in seinem Lehnstuhl, seinem „Sorgensitz“ gemütlich gemacht hat, explodiert, wobei alle Attribute bürgerlicher Behaglichkeit, „Kaffeetopf und Wasserglas, / Tobaksdose, Tintenfaß, / Ofen, Tisch und Sorgensitz“, im „Pulverblitz“ umherfliegen,10 das Ganze eine bitterböse Warnung vor dem biedermeierlichen Rückzug ins Private, während die sozialen und wirtschaftlichen Probleme draußen in der Politik „explodieren“. Eine zugleich lächerliche und tragische Figur schuf Jacob Michael Reinhold Lenz hundert Jahre früher in seinem Stück „Der Hofmeister“,11 das zugleich eine herbe Kritik am ostpreußischen Landadel enthält. In der Komödie „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ von Christian Dietrich Grabbe (1801 – 1836) tritt ein „Schulmeister“ auf, der sich gleich in der ersten Szene des ersten Aufzugs als Trinker und Bauernfänger profiliert. „Utile cum dulci, Schnaps mit Zucker! – Es wird heute ein saurer Tag, – ich muß den Bauernjungen die erste Deklination beibringen“,12 erklärt er seine notwendige Stärkung. Der „schiefbeinige Tobias“13 kommt mit seinem Sohn, den der Lehrer zu einem Gelehrten, möglichst zu einem Pastor machen soll, denn das Gottliebchen hat die Würmer, und deshalb meinen der Bauer und seine Frau, „daß aus ihm noch einmal ein Gelehrter würde“.14 Der Schulmeister macht sich vor der Aufgabe nicht bange, als er hört, dass sein Honorar neun fette Gänse zum Martinstag und ein Fass Schnaps sein solle. Entscheidend ist dabei das „Stückfaß voll Schnaps“: „Jeder Zoll 7 Wilhelm Busch: Und die Moral von der Geschicht. Hg. v. Rolf Hochhuth. Gütersloh o. J., S. 39. 8 Busch, S. 39. 9 Busch, S. 40. 10 Busch, S. 43. 11 Jacob Michael Lenz: Der Hofmeister. In: Jacob Michael Lenz: Werke in 12 Bänden. St. Ingbert 2001, Bd. 3, S. 5 – 164. 12 Christian Dietrich Grabbe: Werke in einem Band. Hamburg o. J., S. 203. 13 Grabbe, S. 203. 14 Grabbe, S. 204.

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ein Schnaps! Ihr Sohn gehört zu den eminentesten Köpfen!“15 Seine Pädagogik beschränkt sich auf Ohrfeigen. Erschrick nicht, mein Söhnchen! Utile cum dulci, ein Ohr, weil es nützlich ist, und eine Feige, weil sie süß ist, also eine Ohrfeige. Es gehört zu den Feinheiten meiner Erziehungsmethode, mußt du wissen, dass ich dem Schüler bei jeder interessanten Lehre eine markdurchdringende Maulschelle erteile, denn späterhin wird er alsdann immer, wenn er sich an die Maulschelle erinnert, sich auch an die Lehre erinnern, welche sie begleitete.16

Während die Lehrer-Karikatur bei Grabbe schon fast surrealistische Züge annimmt, kommen die ironisch geschilderten Lehrergestalten in den Buddenbrooks einigen Lehrern bei Wiechert recht nahe. Da nennt Thomas Mann unter anderem den Oberlehrer Ballerstedt, der Religion unterrichtet. Er hatte ehemals Prediger werden wollen, war dann jedoch durch seine Neigung zum Stottern wie durch seinen Hang zu weltlichem Wohlleben bestimmt worden, sich lieber der Pädagogik zuzuwenden. Er war Junggeselle, besaß einiges Vermögen, trug einen kleinen Brillanten am Finger und war dem Essen und Trinken herzlich zugetan.17

In der modern ausgestatteten Schule, die Johann Buddenbrook, der Letzte des Geschlechtes, besucht, gibt es den „feinen Oberlehrer“ Doktor Goldener, der ein Knabenpensionat für Söhne des Adels unterhält und der sich auf eine unpassende Weise herausputzt. „Er trug buntseidene Krawatten, ein stutzerhaftes Röckchen, zartfarbene Beinkleider, die mit Strippen unter den Sohlen befestigt waren, und parfümierte Taschentücher mit farbigen Borten“.18 Dagegen fallen bei dem Direktor Wulicke, der über eine „ungeheure Autorität“ verfügt, die ihn „schauerlich launenhaft und unberechenbar“ macht,19 äußere Unzulänglichkeiten auf. Er ist „ein außerordentlich langer Mann mit zu kurzen Beinkleidern und trichterförmigen Manschetten, die stets sehr unsauber waren“.20 Neben dem Doktor Marotzke, Naturwissenschaftler und Reserveoffizier („Er hielt von allen Lehrern am meisten auf Disziplin, musterte die Front der strammstehenden Schüler mit kritischem 15 Grabbe, S. 203 – 204. 16 Grabbe, S. 206. 17 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt / Gütersloh 1957, S. 658. 18 Mann, S. 663. 19 Mann, S. 667. 20 Mann, S. 666.

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Blick und verlangte kurze und scharfe Antworten“),21 der zugleich einen seltsamen Hang zum Mystizismus hat, erscheint „ein kleines, schwaches und ausgemergeltes Männchen mit dünnem weißen Bart, dessen rotes Hälschen aus einem engen Klappkragen hervorragte“:22 Professor Hückopp, den die Schüler „die Spinne“ nennen.23 Am ausführlichsten aber wird die Lateinstunde bei dem Ordinarius (Klassenlehrer) Doktor Mantelsack beschrieben. „ … es war Sitte, vor dem Ordinarius Respekt zu haben“, und dieser Mann mit „dünnem, ergrautem Haar, einem krausen Jupiterbart und kurzsichtig hervortretenden saphirblauen Augen“ hat eine besondere Eigenart.24 Er hat stets „Lieblinge“, die mit Vornamen und mit „du“ angeredet und in jeder Hinsicht bevorzugt werden. Der Status kann sich allerdings von heute auf morgen ändern, denn es gibt keinerlei Kriterien für diese Bevorzugung. Kein Schüler sagt etwas dagegen, denn alle haben die Hoffnung, auch einmal zu einem „Liebling“ zu werden. Dabei ist Doktor Mantelsack „von einer ganz ausnehmenden, grenzenlos naiven Ungerechtigkeit“, die sich auch auf seine Zensurengebung auswirkt. Diesen Glückseligen pflegte er die Fehler in den Extemporalien ganz leicht und zierlich anzustreichen, so daß ihre Arbeiten auch bei großer Mangelhaftigkeit einen reinlichen Aspekt behielten. In anderen Heften aber fuhr er mit breiter und zorniger Feder umher und überschwemmte sie mit Rot, so daß sie einen abschreckenden und verwahrlosten Eindruck machten. Und da er die Fehler nicht zählte, sondern die Zensuren je nach der Menge roter Tinte erteilte, die er an eine Arbeit verausgabt hatte, so gingen seine Günstlinge mit großem Vorteil aus der Sache hervor.25

Dennoch übernehmen die Schüler kollektiv diese Maßstäbe, und wenn sie auswendig gelernte Ovid-Verse aufsagen müssen, diese versteckt aus dem Buch ablesen und eine befriedigende Note dafür bekommen, so wird das von allen als richtig befunden. Wer nicht ablesen kann, wie der kurzsichtige Mumme, oder wer sich dabei erwischen lässt, einen „Schlüssel“ benutzt zu haben, fällt der allgemeinen Verachtung anheim. Thomas Mann schildert diese Betrügereien – das Wort wird durchaus gebraucht – witzig und erheiternd. Bei Wiechert fallen dazu härtere Urteile. 21 22 23 24 25

Mann, Mann, Mann, Mann, Mann,

S. 678. S. 662. S. 662. S. 668. S. 669.

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Man befindet sich bei Hanno Buddenbrook und seinen Klassenkameraden in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, nach dem Sedan-Sieg und der Reichsgründung, als „Sitten von rauher Männlichkeit“ viel galten. „Trink- und Rauchtüchtigkeit, Körperstärke und Turnertugend standen sehr hoch in der Schätzung, und die verächtlichsten Laster waren Weichlichkeit und Geckenhaftigkeit“.26 Opfer in dieser Welt ist der Kandidat Modersohn. Er wird erbarmungslos geärgert, wehrt sich nicht gegen die Lauten und Frechen und wird schließlich zum Opfer dieser „rohen Masse“, wie Wiechert die Schüler seiner eigenen Schulzeit nennt. Alle Unarten, die sich Schüler ausdenken können, werden an diesem „kleinen unansehnlichen Mann, der beim Gehen eine Schulter schräg voranschob“, ausgelassen.27 Es wird ein Tannenzapfen in die Türspalte gesteckt, es wird Tinte auf das Pult geschmiert, eine Knallerbse ausgelegt, man ahmt Tierstimmen nach, schießt mit Erbsen und scharrt mit den Füßen. Kandidat Modersohn „war in furchtbarer Verlegenheit … zwinkerte … mit seinen blanken Augen, zog den Atem ein und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Aber er fand nicht die Worte, die nötig waren“.28 Das plötzliche, unangekündigte Erscheinen des Direktors beendet seine Lehrtätigkeit vermutlich für immer. Thomas Mann gibt eine Erklärung für dieses missliche SchülerLehrer Verhältnis: es ist die Diskrepanz zwischen Schulwissen und Schulanforderungen und dem „realen Leben“, in das die jungen Leute hinaus wollen. Doch nicht nur das. Unter Direktor Wulicke war die Schule, an der zuvor „klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte“, „ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen“.29 In Wlder und Menschen schildert Ernst Wiechert sein Schülerleben in Königsberg um die Jahrhundertwende.30 Ein ganzes Kapitel widmet er in seiner 1936 erschienenen Autobiografie den Lehrern und Mitschülern, und die Überschrift lautet „Steine und 26 27 28 29 30

Mann, S. 664. Mann, S. 679. Mann, S. 680. Mann, S. 666. Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. In: Ernst Wiechert: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 5 – 196.

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Brot“. War schon der Aufbruch „in die Stadt“ und damit in die feindliche Zivilisation eine schmerzliche Trennung von der Heimat in den Wäldern, so schienen die Erfahrungen in der Königlichen Oberrealschule auf der Burg nicht dazu angetan, dem Heranwachsenden einen Halt zu bieten, ebenso wenig wie das Leben in der Pension. Ein Leben lang wird es für ihn die Zweiteilung der Welt in das gesunde, naturverbundene, moralisch-fromme Leben auf dem Lande und das unnatürliche, unsittliche, ungesunde, zerstörerische Leben in der Stadt geben, was sich motivisch durch sein ganzes Werk zieht. Wiechert beginnt die Vorstellung seiner Lehrer apologetisch. „Meine Schule wird nicht besser und nicht schlechter gewesen sein als andere auch“. „Ein Kind vermag ja noch nicht zu abstrahieren und aus der Summe der Einzelerscheinungen den Typus zu erkennen“.31 Aber er schildert Lehrergestalten, die sowohl als Opfer wie als Täter auftreten, die eine komische Figur abgeben, aber auch erschreckende Züge offenbaren. Wenige charismatische Pädagogen erscheinen; denen wird jedoch ein besonderes Denkmal gesetzt. Relativ harmlos ist der Zeichenlehrer, der auf Fragen nach Farbe und Perspektive, die die Schüler stellen, weil sie „brennen vor Sehnsucht, hinter das Geheimnis der Kunst zu kommen“, antwortet: „Das moß so sein, du schweinsdommes Rend!“.32 Auch ein Musiklehrer, „der im Musikleben der Stadt eine große Rolle spielte, der durch seine Körperlänge und die Höhe seines Zylinders alles Volk um Haupteslänge überragte“, ist eigentlich nur komisch, obwohl er in seiner äußeren Erscheinung etwas von einem Grandseigneur hat. Nur bemerkt der Schüler das Unpassend-Lächerliche, als er „mit Zylinder und Hohenzollernmantel […] auf unsrem sommerlichen ,Schulspaziergang‘ uns durch die ernste, schweigende Nehrungslandschaft vorauswallte, ein groteskes Beispiel für die Art, wie man vor wenig mehr als dreißig Jahren Natur- und Wanderfreude zu pflegen liebte“. Seine pädagogischen Fähigkeiten scheinen nicht sehr ausgeprägt zu sein. „Er ist dann früh pensioniert worden, weil wir in seinen Stunden Skat zu spielen und Zigaretten zu rauchen pflegten“.33 Da ist der ständig betrunkene Lehrer für Botanik und Zoologie, „der fast zu jeder Stunde betrunken erscheint und vergeblich versucht, 31 Wiechert, Wälder, S. 94 – 95. 32 Wiechert, Wälder, S. 99. 33 Wiechert, Wälder, S. 96 – 97.

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seinen Hut auf den dazu bestimmten Haken zu hängen“,34 schon ein ernsterer Fall. Auch er geht vorzeitig in Pension und wird Blaukreuzler. Einsicht in seine Krankheit ist bei ihm also eingetreten, und seine Schüler haben offenbar keinen nennenswerten Schaden an ihm genommen. Schaden an der Seele aber richtet der Religionslehrer an, der die Beziehung zur Religion bei den Schülern zerstört. […] wir lernen Sprüche, Lieder und Psalmen, und wenn jemand stockt, hagelt es Ohrfeigen. Wo sind die ergreifenden Gestalten meiner Kinderzeit, Ruth und Joseph und das Heilandskind? Sie sterben vor meinen Augen, den Tod des ,Geistes‘, und erst viel später, jenseits von Schule und Kirche, feiern sie eine späte Auferstehung.35

Das sagt der Dichter, der in Erinnerung an den Privatunterricht in seinem Elternhaus, dem Forsthaus Kleinort, bekennt: „Aber nichts hat mit solcher Kraft und Innigkeit in jenen Jahren an meiner Seele geformt und gebildet wie das Buch der Bücher“.36 Die Gestalten der Bibel wurden für ihn als Kind lebendig in seiner eigenen Umgebung. […] daß der Stern von Bethlehem über unsrem Stalldach leuchtete; daß die Ährenleserin Ruth über unsere Roggenstoppel ging; daß Joseph seine Brüder mit dem Silberbecher dort einholte, wo die Landstraße aus unsren Wäldern trat; und daß auf unsrem Hofe der Hahn krähte, bei dessen Ruf sich Petrus umwandte, um bitterlich zu weinen.37

Der Religionslehrer, der diese Gestalten sterben lässt, bekommt keinen Namen, keine individuellen Züge, sein Äußeres, das Wiechert bei anderen Personen zum Charakteristikum werden lässt, was ihn, ebenso wie Thomas Mann, als Nachfahren des literarischen Realismus ausweist, wird nicht einmal angedeutet. Nichts gibt es über diesen Mann zu erwähnen als nur sein unheilvolles Wirken. Genauer und daher noch erschreckender wird der Lehrer für Geschichte und Erdkunde geschildert. Er hat einen „Wegweiser“ herausgegeben. „In ihm sind alle Städte, Gebirge und Flüsse unsres Vaterlandes aufgezeichnet, und ihn müssen wir auswendig lernen“. Es wird zweimal betont, dass er „ein gutmütiger Mensch“ ist, und so groß muss die Angst der Schüler vor ihm nicht gewesen sein, denn seine langweiligen Stunden „beleben wir […] auf unsre Art, indem wir 34 35 36 37

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Wälder, Wälder, Wälder, Wälder,

S. 98. S. 98 S. 31. S. 31 – 32.

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Knallerbsen und Stinkbomben werfen“. Das scheint der „gutmütige(r), riesige(r) Mann mit Plattfüßen“ wohl nicht zu bemerken, keine Gnade aber kennt er, wenn es um das Auswendiglernen geht. „Er verlangt eine wörtliche Wiedergabe des Pensums, und bei der ersten Abweichung zieht er den langen Rohrstock aus dem Pult“. Er schlägt grausam und unbarmherzig, und sein menschenverachtender Kommentar: „Dummes Luder, hascht nich gelernt!“ passt dazu. Unmenschlichkeit und Gutmütigkeit gehen bei ihm eine unheimliche Verbindung ein, zumal er sich auch der Kreatur liebevoll zuwendet. „Dabei ist er ein gutmütiger Mensch, überall geachtet und geliebt, aber das Amt ist für ihn das eines Scharfrichters, und nach der Hinrichtung wäscht er sich die Hände und füttert seine Vögel mit Hanfsamen“.38 „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – das wäre eine andere Dimension.39 Hier scheint eher die makabre, schizophrene Szenerie des KZ-Alltags vorweggenommen. Menschenverachtendes, ja tödliches „Handwerk“ verbindet sich mit kleinbürgerlicher Gemütlichkeit (das Wohnzimmer der Aufseher Wand an Wand mit der Häftlingsbaracke). Die Abspaltung, die der „gutmütige Mensch“ vornimmt, wenn er seines Amtes waltet, verhindert jede Reflexion und jede Gewissensregung – Voraussetzung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Massenmord. Vielleicht findet man auch hier eine Bestätigung der These Leonore Krenzlins, bei Wiecherts Jugenderinnerungen „Wälder und Menschen“ handle es sich nicht um die „Besonderheit des erzählten Lebensweges“, sondern um eine Auseinandersetzung mit den politischen Erfahrungen der dreißiger Jahre. „Doch geht es mir hier weder um eine Interpretation noch um eine ideologiekritische Erörterung des Wiechertschen Buches, sondern um das Bewußtmachen des Zeithorizonts, in dem diese scheinbar so zeitenthobenen Jugenderinnerungen stehen“.40 Mit Sicherheit findet sich eine Warnung vor dem neuen Zeitgeist angesichts der Reaktionen der Schüler auf ein autoritäres, pädagogisch fragwürdiges System und seine Repräsentanten. Die Schüler verrohen. Es sind ähnliche Streiche wie die im Lübecker Realgymnasium, und das 38 Wiechert, Wälder, S. 98. 39 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Erster Teil. Hamburger Lesehefte. Husum o. J., S. 34. 40 Leonore Krenzlin: Autobiografie als Standortbestimmung. Ernst Wiecherts „Wälder und Menschen“ im Kontext der Entstehenungszeit. In: Zuspruch und Tröstung. Über Ernst Wiechert. Hg. v. Hans-Martin Pleßke u. Klaus Weigelt, Frankfurt a. M. 1999, S. 133.

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Ziel sind auch hier die Probekandidaten wie der arme Modersohn. Aber während Thomas Mann das Verhalten der Realuntersekunda mit ihrem Entwicklungsstand begründet („Die ungeordneten Instinkte ihrer sechzehn, siebzehn Jahre wurden wach“),41 sieht Wiechert darin einen moralischen Untergang, der in Gewaltherrschaft endet. Man behandelt uns grausam, und wir zahlen mit der gleichen Münze. Probekandidaten erscheinen, gutmütige und unglückliche Wesen, und die Tyrannei einer geballten Masse von vierzig Jungen überflutet und begräbt sie. Wir stellen ein Schwein aus Seife auf ihr Pult und setzen ihm eine Brille auf. Wir tragen Kneifer ohne Gläser und behaupten, wir seien plötzlich taub geworden. Wir schießen Papierkugeln in das gequälte Gesicht vor uns. Wir sind ohne Mitleid, ohne Erbarmen, ohne alles, was ein frommes Elternhaus in unsere kindlichen Seelen gepflanzt hat.

Während der Leser noch unwillkürlich lachen musste über das bebrillte Schwein oder über die fliegenden Papierkügelchen, so sieht er sich nun mit der Definition von Masse und Demagogie konfrontiert. „Wir sind wie die Masse aller Zeiten und allen Alters: roh, blutdürstig, bereit, uns von den Bösesten widerstandslos führen zu lassen“.42 Die literarische Verarbeitung dieses Opfers „grausamer“ Schüler ist Wiecherts Novelle „Der Todeskandidat“.43 Die harmlosen Streiche wie die Behauptung der Schüler, sie seien plötzlich taub geworden – dem Kandidaten Modersohn gegenüber wird behauptet, die von ihm aufgerufenen Schüler seien verstorben oder dem Wahnsinn verfallen -, sind in der Novelle zu einem ausgeklügelteren System geworden. „Jonas, eines Niederungsbauern Sohn, zum vierten Male sitzengeblieben, breit und stämmig wie ein Memelkahn“, erklärt den neuen Lehrern gegenüber, er sei gelähmt von Kindesbeinen an und müsse den ganzen Vormittag stehen. „Dies ist der Augenblick der Entscheidung“. Die Reaktion des neuen Lehrers entscheidet über sein weiteres Verhältnis zur Klasse, und er hat wenig Chancen. „Fast alle scheitern schon an diesem Augenblick“. Jonas ist der Rädelsführer in dieser Klasse. Wenn der Neue, der Kandidat, Unsicherheit oder gar Mitgefühl zeigt, wendet sich „Jonas, die Mundwinkel verächtlich herabgezogen, … langsam zur Klasse, hebt die Hand mit zur Erde gekehrtem Daumen und läßt sich nachlässig in seiner Bank nieder. Das Urteil ist gefällt“.44 41 Mann, Buddenbrooks, S. 682. 42 Wiechert, Wälder, S. 99 – 100. 43 Ernst Wiechert: Der Todeskandidat. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 613 – 620. 44 Wiechert, Todeskandidat, S. 614 – 615.

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Bei dem Kandidaten Georgesohn steigern die Schüler ihre Streiche. „Er war lang und hager, und seine großen Füße stießen überall an. Sein Gesicht erschrak bei jedem Laut, und in der ersten Stunde entdeckten wir, daß er unter dem Katheder seine Hände faltete“. Außerdem nennt er Jonas „mein Kind“. „,Mein Kind‘ entschied den Fall“. Die Komik lässt sich nicht überhören, wenn auch das Ärgern des Kandidaten als „gefährliches Spiel“ bezeichnet wird. Das gefährliche Spiel steigert sich zum „ruchlosen Spiel“, als ein Schüler sich bei einem Wutausbruch des Kandidaten tot stellt. Der kleine Adomeit spielt seinen Part perfekt. Er „stürzte aus der Bank und lag regungslos auf der Erde“, wobei sogar, „sorgsam geübt, das Weiße des Augapfels“ erscheint. Wieder ist es Jonas, wohl der „Böseste“, von dem sich die Masse widerstandslos führen lässt, der in dieser Szene die Regie übernimmt. „,Sie haben ihn getötet, Herr Kandidat.‘ Dann drückte er dem Toten die Augen zu, legte ihm die Hände über der Brust zusammen und sprach mit seiner erschreckend tiefen Stimme: ,Lasset uns beten!‘“45 „Ruchlos“ ist dieses Spiel. Der Kandidat ist mit der Situation völlig überfordert, seine Reaktion rührt die Halbwüchsigen, doch als seine großen Füße an der letzten Bank hängen bleiben, schlägt alles ins Lächerliche um, „und ein brüllendes Gelächter geleitete ihn auf den Gang, über die Treppen, bis in den unbekannten Schlupfwinkel, in dem seine Verstörung sich verbarg“. Das „ruchlose Spiel“ wird weiter geführt. „Von dieser Stunde an hieß er der Todeskandidat“. Der Erzähler kann sich selbst der Komik nicht entziehen, der Leser merkt es und fühlt Lachen in sich aufsteigen, aber das „Spiel“ nimmt für alle ein bedrückendes Ende. Andere Klassen machen die Szene nach, „bis eines Tages der Direktor die Tür öffnete und vor seinen Füßen ein ,Toter‘ lag. Der Tote wurde erweckt, auf eine unangenehm eindringliche Weise, aber Georgesohn kam nicht wieder“. Das wiederum verstört die Schüler. „Seltsam war, daß wir von dem so plötzlich Verschollenen zu sprechen vermieden“.46 Das Wort „ruchlos“ oder auch „verrucht“ steht bei Wiechert für die größte moralische Verfehlung und Unmenschlichkeit.47 Es muss auch bei diesen Schülerstreichen so verstanden werden. Denn das, was die Schüler dem Kandidaten angetan haben, lässt sich offenbar nur durch 45 Wiechert, Todeskandidat, S. 615 – 616. 46 Wiechert, Todeskandidat, S. 617. 47 Vgl. Bärbel Beutner: Das moralische Gesetz im Werke Ernst Wiecherts. In: Von bleibenden Dingen. Über Ernst Wiechert. Hg. v. Bärbel Beutner u. HansMartin Pleßke. Frankfurt a. M. 2002, S. 164 – 165.

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den Tod sühnen. Der „Große Krieg“ kommt, und als man sich nachher wieder trifft, sind von den sechsundvierzig Tertianern, die sich seinerzeit auf Georgesohn stürzten „wie ein Rudel junger Hyänen“, nur noch sechzehn aus dem Krieg zurückgekehrt. Nun ist es Jonas, „mit einem leeren Ärmel an seinem grauen Rock“, der sagt: „Dreißig haben es also wieder gutgemacht […]“.48 Das „ruchlose Spiel“ ist, wie Jonas erzählt, auf erschütternde Weise Wirklichkeit geworden. 1916 treffen vier aus der Klasse den Kandidaten an der Front wieder. Sie sind Unteroffiziere, er ist Oberleutnant, sie erkennen ihn sofort, er reagiert nicht auf sie und ihre Namen. Zwei Jahre sind sie alle fünf zusammen, ohne dass er ein Wort verliert. Dann wird einer der ehemaligen Schüler – „seine Henker“ nennt Jonas sie jetzt – tödlich verwundet. „[…] Hotop bekam das Sprengstück in die Brust. Er lag da, und Georgesohn kniete neben ihm und hielt ihm den Kopf. ,Nicht verlassen […]‘, flüsterte Hotop, ,Herr Kandidat, bitte nicht verlassen […]‘“. Georgesohn bleibt bei dem Sterbenden, beruhigt ihn, streicht mit der Hand über seine Stirn. „Und dann starb Hotop […] und dann […] ja, dann drückte er ihm die Augen zu und legte ihm die Hände über der zerrissenen Brust zusammen und sah uns an“. Der Blick trifft die ehemaligen Schüler bis ins Innerste, „bis zu unsren Kindesbeinen“. Auch das letzte Detail des „ruchlosen Spiels“ wiederholt sich auf dem Schlachtfeld. „,Lasset uns beten […]‘, sagte er leise, sprach das Vaterunser, stand auf und ging davon, ohne uns anzusehen, durch das Feuer hindurch, nach der Stellung zurück. Er wurde am gleichen Abend verwundet und kam nicht wieder“.49 Im Angesicht des Todes bekommt der „Kandidat“ seine wahre Bedeutung. So ganz kann er als Pädagoge nicht gescheitert sein, denn er bleibt den Schülern nicht nur unauslöschlich in Erinnerung, sondern sie lassen ihm eine besondere Ehre zuteil werden. Auf der Tafel in der Aula stehen die Namen der Toten des „Großen Krieges“, und sein Name erscheint in einem goldenen Schriftzug. Kann die ruchlose Tat auf der einen Seite offenbar nur mit dem Tode gesühnt werden, so steht dem doch die erlösende Macht der Liebe gegenüber, ein Grundgedanke im Werke Wiecherts. Der scheinbar unfähige Pädagoge gewinnt siebzehn Jahre später, in der Extremsituation des Krieges, die Hochachtung seiner Schüler, er wiederum leistet Beistand in der schwersten Stunde, weitab von jeder Vergeltung. 48 Wiechert, Todeskandidat, S. 614 u. 618. 49 Wiechert, Todeskandidat, S. 619 – 620.

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Der charismatische Pädagoge, der ohne Krise und „Umweg“ seine Schüler gewinnt, kommt in der Gestalt des „Charlemagne“ und „Freundchens“ in Wiecherts Jugenderinnerungen vor. Letzterem widmet er ein eigenes Kapitel, und „Charlemagne“, sein verehrter Ordinarius, erhält in den Jerominkindern ein literarisches Denkmal. In Wlder und Menschen wird er nur an einer Stelle als einer der Oberlehrer geschildert, deren äußere Erscheinung „einen Schimmer der Vornehmheit“ trug. Unser erster Klassenlehrer zum Beispiel kam niemals anders zur Schule als mit einem wunderbar glänzenden Zylinder auf seinem herrlich frisierten und pomadisierten Haupte, mit Anzügen, deren Eleganz musterhaft war, mit einem Ebenholzstock mit Elfenbeinkrücke, und alles an ihm war so, daß jede Bühne es sich zur Ehre angerechnet haben würde, ihn als einen älteren Bonvivant mit urbanen Umgangsformen zu gewinnen.

Es kommt hinzu, dass seine Frau aus einem reichen Hause stammt, und „etwas von dem Glanz ihrer Herkunft fiel somit auch auf ,Charlemagne‘ und sein sonst vielleicht nicht besonders hochgeachtetes Gewerbe“.50 Das „nicht besonders hochgeachtete Gewerbe“ des Lehrers ist eine Konstante nicht nur in der Literatur. „Charlemagne“ hat zudem noch einen Vorläufer, der zwar kein Lehrer, sondern ein Oberförster ist, aber durch die Herkunft seiner Frau ein „herrschaftliches“ Haus führt, der Oberförster Ring in Fontanes Effi Briest. Der Damast, die Weinkühler, das reiche Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit über oberförsterliche Durchschnittsverhältnisse hinaus, was darin seinen Grund hatte, daß Rings Frau, so scheu und verlegen sie war, aus einem reichen Danziger Kornhändlerhause stammte.51

„Charlemagne“, der sich also durch zwei Gegebenheiten aus den Reihen seiner Kollegen heraushebt, durch sein weltmännisches Auftreten und durch seine reiche Heirat, ist jedoch auch ein außergewöhnlicher Pädagoge und Seelenkenner. Das offenbart die fiktive Gestalt in dem Roman Die Jerominkinder, die nach der Vorlage des damaligen Ordinarius von Wiechert geschaffen worden ist.52 Der Protagonist Jons Ehrenreich Jeromin, Sohn eines Fischers und Köhlers, 50 Wiechert, Wälder, S. 96. 51 Theodor Fontane: Effie Briest. In: Theodor Fontane: Werke in fünf Bänden. 3. Bd., München 1974, S. 342 – 343. 52 Ernst Wiechert: Die Jerominkinder. Bd. 1. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 5 – 520.

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kommt in die Stadt auf das Gymnasium, ein Neuer „aus dem Wald“. In seinem ersten Klassenlehrer Charlemagne findet er einen verständnisvollen Lehrer. Er lässt sich von Jons Ehrenreich von dessen Heimat erzählen und „sah ihn nachdenklich an. ,Eine neue Welt bringst du uns, Jons‘, sagte er, ,und wir können sie brauchen […] wir sind ein bißchen versteinert hier […]‘“. Er erkennt sofort und intuitiv die heilende, erlösende Wirkung des Lebens mit der Natur, dessen der Stadtmensch besonders bedarf, und er erkennt die besondere Begabung des Jons Ehrenreich. „Dieser kleine Mann aus dem Walde wird euch alle schlagen“, prophezeit er den Mitschülern, die sich über Jons lustig machen wollen.53 Jons Ehrenreich leidet genau wie der junge Wiechert unter den Unzulänglichkeiten der Lehrer, die er vom Dorf her als Respektspersonen anzusehen gewöhnt ist. „Es gab einige, die so eitel waren wie Mädchen, und einige, die wie ein Apriltag waren, fröhlich und zornig nach Laune, einige, die unsauber und träge waren […] und einen, der trank“. Unter diesen fragwürdigen Vertretern des Lehrberufes bildet Charlemagne eine Ausnahme. Mit untrüglichem Blick bemerkt er, wenn sein Schüler Jons etwas Außergewöhnliches oder Bedrückendes erlebt hat. So hat sich Jons an einem Morgen gegen einen Bäckerjungen gewehrt, der ihn stets beleidigte, und zwar mit einem gekonnten Judogriff. Charlemagne hat den Vorfall offenbar gesehen und spricht Jons darauf an, und zwar sehr freundlich. „[…] in der großen Pause legte auf der Treppe Charlemagne den Arm um seine Schulter und sagte: ,Nun, Jons, was war denn heute früh?‘“. Jons erzählt wahrheitsgemäß, dass er lange provoziert worden sei und „es nicht ertragen könne, wie ein Strolch behandelt zu werden“, und Charlemagne hat Verständnis für seine Reaktion, rät ihm jedoch, die Gewalt zu vermeiden. „Es sei nicht gut, sich auf der Straße zu prügeln, wenn man eine bunte Mütze trage, nicht wahr?“54 Besonderen Beistand erhält Jons Ehrenreich von Charlemagne bei seinem Kampf gegen Chuchollek. Dieser ist die Personifizierung des Bösen, ein Junge aus einem offenbar verwahrlosten Elternhaus, der Jons zu seinem „Sklaven“ macht. „[…] er war ein Parasit, der das Blut aus Jons heraustrank“. Jons ist diesem Jungen, der ihn tyrannisiert und ausnutzt, hilflos ausgeliefert. „Er hatte nicht gewußt, daß ein Mensch so sein konnte, und er unterlag dem Unbekannten“. Er will sich in seiner 53 Wiechert, Jerominkinder, S. 116 u. 122. 54 Wiechert, Jerominkinder, S. 122 u. 124.

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Not an Charlemagne wenden, schafft es aber nicht. „Dreimal stand er vor der Tür von Charlemagne, und dreimal kehrte er wieder um. Sein Leben war vergiftet, und er konnte das Gift nicht aus seinem Körper treiben“.55 Die „Erlösung“ gelingt ihm, als Chuchollek bei einem Schulausflug einen Maulwurf ertränken will. Da fällt Jons über ihn her und schlägt ihn zusammen. Charlemagne sieht den Gewaltakt, und obwohl er das Verhalten von Jons noch nicht einordnen kann, hat er gemerkt, dass die Ursache dafür bei Chuchollek liegt. Jons ist zusammengebrochen und wird von Charlemagne mit nach Hause genommen, wo er im Arbeitszimmer des Lehrers zur Ruhe gelegt wird. Dann erzählt er alles, in einer vertraulichen Atmosphäre, und der Lehrer fällt ein sehr hartes, für einen Pädagogen erstaunliches Urteil über den doch auch noch sehr jungen Chuchollek. „Du hast zum erstenmal das Böse gesehen, Jons, und das Böse hat eine dunkle, gefährliche Gewalt. Man muß es ausbrennen, und du hast es getan“.56 Zugleich öffnet er Jons die Augen über ihn selbst, und nun vertieft sich seine Aussage über die Bedeutung von Jons, die er gleich bei dessen Ankunft als „Neuer“ gemacht hat. Jons wird gebraucht, in dieser Schule und später. „Du kommst aus dem Walde, und aus dem Walde ist uns noch immer Gutes gekommen“. Jons soll der Natur, dem „Walde“ und damit dem ihm innewohnenden guten Gesetz verbunden bleiben. „Werde kein Städter, spotte nicht, prahle nicht. Dein Blut ist gut, bewahre es dir!“.57 Jons steht er in jeder Lebenssituation bei, so auch, als sein Bruder Friedrich erschossen wird. Ebenso bleibt sein Urteil über Jons’ Klassenkameraden so hart wie einst das über Chuchollek. Zugleich aber spricht er damit eine Prophetie über die politische Zukunft aus. „Ein Geschlecht von Wölfen, sage ich dir, Jons, das heraufwächst“, weist er Jons’ Versuch, seine Klassenkameraden zu verteidigen, zurück. „Gib ihnen eine Gelegenheit später, und du wirst sehen, was sie dann spielen werden“. Aber gültig für alle Zeiten ist seine Feststellung: „Eine verfaulte Zeit, in der die Bildung denen beigebracht wird, deren Väter sie bezahlen können“.58 55 Wiechert, Jerominkinder, S. 127. 56 Wiechert, Jerominkinder, S. 130. – Vgl. Beutner, Das moralische Gesetz, S. 160 – 161. 57 Wiechert, Jerominkinder, S. 130. 58 Wiechert, Jerominkinder, S. 202 – 203.

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Neben Charlemagne steht in Wiecherts Erinnerungsbuch „Freundchen“, der Deutschlehrer der letzten beiden Jahre vor der Reifeprüfung. In dem Kapitel, das nach ihm benannt ist – die Schüler nannten ihn „Freundchen“, weil er sie seinerseits so nannte -, nimmt er relativ wenig Raum ein. Das Kapitel setzt sich mit der Oberstufe des Gymnasiums auseinander, jener Zeit, der Wiechert „mit Dankbarkeit“ gedenkt, besonders des Direktors. „[…] mein Direktor lehrte mich das Kostbarste, was er lehren konnte: die Furchtlosigkeit vor Menschen und Menschenmeinung“.59 „Freundchen“ wird geradezu überschwänglich beschrieben. „Er war ein gleichsam unwiderstehlicher Mensch. Nicht etwa, daß er schwärmte oder glänzte oder fortriß. Viel eher war etwas Nüchternes in seiner Erscheinung und Führung, etwas gänzlich Phrasenloses“.60 Mit besonderer Intensität werden zwei Episoden aus der Schulzeit geschildert, bei denen „Freundchen“ prägend wirkte. Die erste spielte sich auf der Treppe der Oberrealschule ab, als Wiechert, selbst Tertianer, die jüngeren Schüler ärgerte und sich von „Freundchen“ eine wortlose Ohrfeige einhandelte, die zweite betraf den Oberprimaner Wiechert, der in einem Deutschaufsatz ein vernichtendes Urteil über Schillers „Braut von Messina“ geschrieben hatte. „Freundchen“ enthält sich jeglichen persönlichen Urteils über den Aufsatz, den er mit „gut“ zensiert hat, sondern zitiert lediglich die schärfste Stelle des Verrisses, als ob Schiller sie auf seinem Krankenbett gelesen habe. „Er (Schiller) läßt das Heft sinken und schließt die Augen, und um seine Lippen werden zwei dünne scharfe Linien des Grames sichtbar, als hätte dieses Urteil sie in das edle Gesicht eingegraben […]“. Der junge Wiechert versteht, dass er einen schweren Fehler begangen hat: er hat die Achtung vor der Würde eines Menschen verletzt. Eine Lebenslehre wird ihm erteilt. „Aber in diesen wenigen Sekunden ist mehr in mir vorgegangen als sonst in Monaten und Jahren: die tiefe und segensvolle Beschämung eines Menschen, der vergessen hatte, was noch den Geringsten unter uns adeln und bewahren kann: die Pietät!“.61 „Freundchen“ wird zum Vorbild für den späteren Pädagogen Wiechert. Beide erlauben ihren Schülern, sie zu Hause zu besuchen, und beide werden zum Berater und Helfer der jungen Menschen. 59 Wiechert, Wälder, S. 136. 60 Wiechert, Wälder, S. 141. 61 Wiechert, Wälder, S. 143.

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Seine Petroleumlampe aus blankem Messing mit dem grünen Schirm beschien ein Heim der Ordnung, der Arbeit, der Kunst und des Friedens, und bei ihrem sanften Licht haben viele von uns die beste Hilfe erfahren, die das Leben ihnen jemals beschert hat. Ihr Licht ist auf meine ersten Bekenntnisse und auf meine ersten Manuskriptblätter gefallen, und immer in meinem Leben, wenn Trostsuchende und Verzweifelte bei mir gesessen haben – und es sind nicht wenige gewesen -, hat dieses Licht vor meinen Augen gestanden, eine sanfte und eindringliche Mahnung, und kann es wohl eine schönere Unsterblichkeit für einen Erzieher geben als eine solche? 62

Seine Aufgabe als Erzieher ist Wiechert schon früh klar geworden; er sah sie darin, „den ganzen Menschen“ darzubieten und selbst ständig ein Lernender und Reifender zu sein. Nur dann kann das gelingen, was der eigentliche Sinn der pädagogischen Tätigkeit ist: die Führung junger Menschen. „Nein, ich war nicht ohne Glück in meinem Beruf. Schon an seiner Schwelle erkannte ich, daß die Vermittlung des Wissens ein untergeordnetes Handwerk war, so nötig es sein mochte, aber daß die Führung junger Menschen eine Gnade war, wenn sie gelang“.63 Ihm ist sie seinem Zeugnis nach gelungen, und zwar wegen seiner eigenen Hingabe. „Mein Herz war mit Liebe und sogar mit Begeisterung erfüllt, und ich gab das Beste, was ich zu geben hatte“. Die Frucht seines Einsatzes ist die Liebe seiner Schüler und das Vertrauen der Eltern, aber auch das Misstrauen und die Ablehnung der Kollegen. Ich wurde geliebt, und von allen Kränzen, die ein Erzieher, ja, die ein Mensch gewinnen kann, ist dieser der kostbarste … Aber wenn ich einen Blumenstrauß bekam, der mehr von der Mutter des Schülers als von diesem selbst stammte, runzelten einige der alten Herren die Stirn, und einige ließen es an bissigen Bemerkungen nicht fehlen. Auch dort war es nicht gut, einen bunten Rock zu tragen und geliebt zu werden.64

Die Liebe und Treue der Schüler gipfelt darin, dass sie ihm beistehen, als er als ein Geächteter aus dem Schuldienst scheidet. Es ist das für Wiechert schicksalhafte Jahr 1930. Er hat Paula Marie Junker, geb. Schlenther kennengelernt, eine Frau, die in einer unglücklichen Ehe lebt. Beide sind entschlossen, sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, eine Entscheidung, auf die Wiecherts Frau Meta zuerst mit Verzweiflung, dann mit Nervenzusammenbrüchen und schließlich mit 62 Wiechert, Wälder, S. 144. 63 Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 331 – 800, vgl. S. 439. 64 Wiechert, Jahre, S. 437.

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Selbstmord reagiert. Schon die räumliche Trennung des Ehepaares hat zu einem Skandal in Königsberg geführt, eine Kampagne gegen Wiechert setzt ein, die, wie man heute weiß, auch politische Hintergründe hatte.65 Er kündigt seinen Dienst und beschließt, als freier Schriftsteller zu arbeiten. Er wird zum Ausgeschlossenen und Geächteten („Menschen weichen mir aus, die sich sonst um meine Gunst beworben haben“) 66, aber er erfährt auch viel Zuwendung von treuen Freunden, besonders von seinen Schülern. „Aber am wenigsten haben meine Schüler mich verlassen. In der Dämmerung stehen sie vor der Tür, und dann sitzen sie bis zur Mitternacht bei mir … Sie bringen mir ihre Sorgen und Verzweiflungen, ihre Pläne und Manuskripte“. Hier fällt der Name Peter Heller, der unter Hitler nach Uruguay emigrierte. „Und anderthalb Jahrzehnte später bin ich für ihn ,der einzige Deutsche‘, an den er schreiben möchte und schreibt“.67 Das bewegendste Zeichen der Treue und Verehrung seiner Schüler ist deren Verhalten beim Tode von Wiecherts Frau. „Meine Schüler legten Blumen in den Sarg und schlossen den Deckel. Keine Hand konnte behutsamer sein als ihre Hände. Kein zarteres Herz war auf dieser Erde als ihre Herzen“.68 Eine Begründung, eine Erklärung gibt Wiechert wenige Seiten vorher. „Ich hatte ihnen das Beste gegeben, was ich besaß, und sie gaben es mir nun tausendfältig zurück, und dieses Beste war eben die Liebe. Weder Kenntnisse noch Wissenschaft, weder Regeln noch Fertigkeit. Nur die Liebe“.69 Während Gymnasiallehrer wie „Charlemagne“ und vor allem Dorfschullehrer in Wiecherts Werk als bemerkenswerte Persönlichkeiten auftreten, ist kaum ein Hochschullehrer als fiktionale Gestalt anzutreffen. Dabei beschreibt Wiechert die Professoren der Albertina, die er als Student erlebte, in Jahre und Zeiten sehr detailliert und nennt auch Namen, sodass ein wertvolles Zeitzeugnis vorliegt. Auch hier stehen neben skurrilen Originalen mit fragwürdigen wissenschaftlichen und pädagogischen Fähigkeiten interessante Per65 Den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Schwierigkeiten, die für Ernst Wiechert 1929 / 30 in Königsberg entstanden, legt Christian Tilitzki detailliert dar in seiner Untersuchung: Abschied vom Hufengymnasium. Ernst Wiechert in der Königsberger Schulpolitik gegen Ende der Weimarer Republik. Vgl. S. 59 – 85 in diesem Band. 66 Wiechert, Jahre, S. 596. 67 Wiechert, Jahre, S. 591 – 592. 68 Wiechert, Jahre, S. 597. 69 Wiechert, Jahre, S. 592.

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sönlichkeiten, die den Studenten Wiechert beeindrucken. Die erste Gruppe erfährt eine ironische, fast schon sarkastische Darstellung; bei ihnen erlebt der Student „die Eiseskälte der Wissenschaft und der vielen, die sie lehrten“. Da ist ein Kolleg „über die Geschichte der Pädagogik, von einem uralten Greise murmelnd vorgetragen, als bete er zu seinen Penaten“. Der Professor der Botanik steht in dem Ruf, Morphinist zu sein, „ein alter, schmaler, gebeugter Mann mit einem zerstörten Gesicht“. „Ob seine Wissenschaft ihm lebendig war, weiß ich nicht, aber daß er zu uns sprach, als ob wir Tote wären, weiß ich noch sehr wohl“. Von dem Professor für Zoologie ist zu sagen, dass er „mit ,markigen Knochen‘ auf der ,festgegründeten Erde‘ stand und über seine Würmer so dozierte, als hätte er sie selbst aus dem Nichts erschaffen und als würde es ihnen schlecht bekommen, wenn sie den Versuch machen sollten, sich seinen Klassen und Systemen zu entziehen“. Den Germanisten Schade nennt Wiechert mit Namen. Der Mann auf dem Katheder war der alte Geheimrat Schade, ein berühmter Germanist, der ein althochdeutsches Wörterbuch geschrieben hatte und der nun über Wolframs Parzival las. Er hockte hinter dem hohen Pult wie eine uralte Eule, den schönen, ehrwürdigen Kopf tief über seine Blätter geneigt, und es sah aus, als hätte er ebenso gelesen, wenn statt hundert lebendiger junger Menschen hundert Speerschäfte zwischen den Bänken gestanden hätten. Die schreckliche Beziehungslosigkeit der Wissenschaft, insbesondere der philologischen, zum Herzschlag des Menschen hat sich mir damals auf eine unverlierbare Weise eingeprägt.70

Dagegen denkt er an den alten Geheimrat Baumgart, der „über Lessing oder Schiller oder über allgemeine Literaturgeschichte las“, mit Verehrung und Dankbarkeit. „Dieser hochgewachsene Mann mit den halbgeschlossenen Augen war nun wirklich ein Sohn des wahren Humanismus und, was mehr ist, der wahren Humanität“. Zwar kommen einige Kritikpunkte zusammen, was sein Urteil über Kunst und Literatur betrifft, und wenn ihm Wiechert auch „äußersten Konservatismus“ bescheinigt, „so war die Fülle seines Wissens doch so groß und die Vornehmheit seiner menschlichen Haltung so einleuchtend und bezwingend, dass ich dankbar der langen Jahre gedenke, die ich zu seinen Füßen sitzen durfte“.71 Mit tiefer Sympathie gedenkt Wiechert des alten Geheimrates Hahn, „eine der rührendsten Erscheinungen der Universität“, der 70 Wiechert, Jahre, S. 343 – 346. 71 Wiechert, Jahre, S. 349 – 350.

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Geograph war und seine Marotten hatte. „Aber er lehrte eine lebendige Wissenschaft. Er lehrte sie sanft, wie es seine Art war, aber ihm verdanke ich, daß ich mich auf der Welt zu Hause fühlte und daß die Grenzen meines Vaterlandes früh aufhörten, die Grenzen meines Lebens oder Denkens zu sein“. Eine zwar auch beeindruckende, aber geradezu dämonische Erscheinung war dagegen der Germanist Meißner, der in den Jahren seiner Lehrtätigkeit an der Albertina das ganze brave, vielleicht etwas zu bürgerliche Königsberg in seinen Bann zog, obwohl er Neuartiges verkündete. Zu seinen öffentlichen Vorlesungen, über Björnson und Ibsen etwa, drängte sich die ganze Stadt, insbesondere die Professorenfrauen aus allen Fakultäten, und es muß ihm wohl ein diabolisches Vergnügen gewesen sein, alles Ketzerische seiner Urteile und Formulierungen in die frommen Gesichter seiner Zuhörer zu schleudern.

Er las über moderne Literatur, so über Wedekinds „Frühlings Erwachen“, und verkörperte den „Typus eines neuen Germanisten …, die Einleitung eines neuen Zeitalters, an dessen Schwelle die alte Humanität versank“.72 Die Albertina aber brachte zu Wiecherts Zeiten offenbar Persönlichkeiten hervor, die aus Hoffmann’s Erzählungen zu kommen schienen, und einem der „wirklich ,Wunderlichen‘, wie sie mir aus dem baltischen Hause bekannt waren“, widmet er mehrere Seiten. Der Germanist Uhl war schon durch seine äußere Erscheinung auffällig. „Er hatte über einem ungeheuren Körper ein wahres Löwenhaupt“, „ungeheure Plattfüße“ und dazu noch die Angewohnheit, alles Mögliche von der Straße aufzuheben.73 Seine Beziehung zu seiner Wissenschaft hatte, wie Wiechert beobachtet, etwas Tragisches. Für die Germanistik hatte er eine Offizierslaufbahn aufgegeben, aber Karriere machte er nicht. Wiechert gibt unbewusst eine mögliche Erklärung dafür, dass er kein Ordinariat erhielt, keine Prüfungen abnehmen durfte und nur wenige Studenten in seinen Vorlesungen vorfand. Dann begann er seine großen Buchstaben mit einer pedantischen Genauigkeit an die Tafel zu malen und dazu seine Sätze zu wiederholen, immer wieder, halb wie ein Schlafender, halb wie ein Trunkener, und den Umfang seines Kollegs anzudeuten, bei dem er doch niemals über den Anfang hinauskam. 72 Wiechert, Jahre, S. 405 – 407. 73 Wiechert, Jahre, S. 407.

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Seine Erfolglosigkeit zeichnete ihn. „Eine tiefe Resignation war über sein ganzes Wesen gebreitet, von bitteren Adern durchzogen“, aber Verbitterung lag ihm offenbar fern. Seinen wenigen Studenten blieb er zugetan, und Wiechert, der „lange Zeit … an jedem Sonntag sein Mittagsgast“ war, spricht von „einer rührenden Liebe“. Die Schwierigkeit bei seiner akademischen Laufbahn („Keine Universität bot ihm eine Professur an“) und auch sein offenbar unsystematisches wissenschaftliches Arbeiten machen ihn zu einem Nachfahren Hamanns, erst recht sein Privatleben. „Er lebte mit seiner Haushälterin, von der er zwei stille, liebenswerte Kinder hatte, und kurz vor seinem Tode hat er sie noch geheiratet“, im damaligen Königsberg „ein Skandal“.74 Wiechert schildert einfühlsam diese skurrile und zugleich tragische Existenz. Seine fiktionalen Verwandten bei E.T.A. Hoffmann oder auch bei Jean Paul tragen zum Teil boshafte oder gar dämonische Züge, so der unheimliche Professor Spalanzani in dem Nachtstück „Der Sandmann“, der eine mechanische Puppe herstellt und diese als seine Tochter ausgibt75 oder auch der geizige Dr. Katzenberger bei Jean Paul, der eine Badereise macht, „um da seinen Rezensenten beträchtlich auszuprügeln und ihn dabei mit Schmähungen an der Ehre anzugreifen“.76 Der Königsberger Germanist Uhl dagegen, der im Stadtbild auffällt und in der Junkerstraße für amüsierte Blicke sorgt, behält „eine(r) bestimmte(r) Kindlichkeit seines Wesens“, und für Wiechert „war dies Hoffnungslose und Wunderliche von einem rührenden Zauber“.77 Es ist wohl diese „Kindlichkeit seines Wesens“, die ihn den einfachen Dorfschullehrern ähnlich macht, die bei Wiechert eine durchgehend positive Rolle spielen. So erkennt der alte Lehrer Stilling aus dem Dorf Sowirog die Bestimmung des kleinen Jons Ehrenreich Jeromin. Jons erhält bei ihm Privatunterricht, und die Begegnung mit diesem Kinde bringt dem alten Lehrer das Glück eines großen pädagogischen Erfolges, aber auch tiefste Zweifel und Bedenken. Wiechert zeichnet die Weltweisheit eines Mannes, der sein Leben mit Fischern und Köhlern geteilt hat und in dem Dorf mit „den dumpfen Rohrdächern“ 74 Wiechert, Jahre, S. 408. 75 E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. In: Sämtliche poetische Werke. Bd. 1, Berlin 1963, vgl. S. 630 – 636. 76 Jean Paul: Dr. Katzenbergers Badereise. In: Jean Paul: Werke. Bd. 1, Berlin 1962, S. 503. 77 Wiechert, Jahre, S. 407 – 409.

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die Gesetzmäßigkeit der Geschichte erkennen konnte. Zunächst beglücken ihn an dem begabten Schüler der Wissensdurst und die Aufnahmebereitschaft. Endlich kann er unbeschränkt weitergeben. Er ist wie einer, „der das Zauberwort sprach, und bei seinem Klang leuchteten die jungen Augen auf. Er konnte schenken, statt zu bewahren“.78 Seine pädagogischen Möglichkeiten waren stets beschränkt gewesen in diesen Wäldern und bei diesen Menschen, vor denen der Pfarrer bereits resigniert hatte, „der es müde geworden war, das Evangelium über einen dornigen Acker zu sprechen, auf dem er nichts wachsen sah als Diebstahl, Trunkenheit, Prozeßsucht und Heimtücke“.79 So fühlt sich auch Stilling nach fast vierzig Jahren „hier im Amt, nicht viel anders als ein Verbannter auf einer steinigen Insel“, aber er hat die Hoffnung nicht verloren, einmal etwas wachsen zu sehen, „eine Flechte, ein Moos und vielleicht auch einmal eine Blüte“. Er vertritt Wiecherts Glaubensbekenntnis. „Es war doch nicht so, daß die Eiferer die Welt gewannen […], sondern daß die Liebe sie gewann, wenn sie überhaupt zu gewinnen war“.80 Jons Ehrenreich scheint seine Hoffnung zu erfüllen und sein Leben als Lehrer mit einem späten Sinn zu erfüllen. „Er hob sich mit Flügeln auf über Länder und Meere, und er wußte, daß er sein Leben nicht vertan hatte, daß es späte Frucht trug und daß sie süße Speise werden würde in den jungen Händen“.81 Doch ebenso schwerwiegend sind die Zweifel. Stilling erreicht, dass Jons Ehrenreich das Gymnasium „in der Hauptstadt der Provinz“ besucht. Damit verlässt das Kind seine Welt, „den Hirten Piontek … oder den Meiler, oder die Insel, über die der Fischadler strich“, und das fällt ihm schwer. Stilling macht sich Vorwürfe. „Er hätte es im Frieden leben lassen können, als ein Köhler oder Fischer etwa, im Engen und Halbdunklen, aber für den Gang der Erde so notwendig wie seine Väter und Ahnen“.82 Mehr noch bedrückt ihn dabei „das Herz seines kleinen Schülers“, das […] schon zu unterscheiden begann und […] bei dem Schicksal von Völkern anders schlug als bei den Bahnen der Sterne“. Es wird ihm klar, dass Jons einmal für die Gerechtigkeit eintreten und gegen die Gewalt eintreten wird. Das erschreckt ihn sehr, „da er wußte, daß kein Weg dieser Erde dornenvoller war und kein Schicksal gewisser 78 79 80 81 82

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Jerominkinder, Jerominkinder, Jerominkinder, Jerominkinder, Jerominkinder,

S. 74. S. 47. S. 53. S. 74. S. 76.

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als das derjenigen, die gegen die Gewalt aufbegehrten“. Er fühlt sich verantwortlich für den weiteren Weg seines Schülers und gibt sich die Schuld für dessen unausweichlich schweres Schicksal. […] daß die Gerechtigkeit also ein Traum war wie das Reich Gottes, nie zu erfüllen auf dieser Erde, aber mit Opfern zu bezahlen, als könnte sie erfüllt werden. Eine große Pflicht oder eine große Täuschung, wie alles andre, ein Ungewisses, das nur zu glauben war, und in das er das Kind hineinstieß.83

Noch unerbittlicher geht er mit sich ins Gericht, wenn er nach seinen Motiven fragt. „Tat er das Gute um des Guten willen […] oder war nicht auch Eitelkeit dabei? Einsamkeit des Alters und das Begehren, ein Korn aufgehen zu sehen, nachdem er Tausende verstreut hatte?“84 Dann aber, angesichts des schlafenden Dorfes, in dem er vierzig Jahre lang für die Menschen „der Moses in der Wüste“ gewesen war, von dem sie hörten, was in der Welt geschah,85 und angesichts des herbstlichen Waldes und des Sternenhimmels kommt ihm die Erkenntnis, dass der Pädagoge letztlich nur das wecken und fördern kann, was zu einer Entwicklung bestimmt ist. „,Wir wollen es wachsen lassen‘, dachte er. ,Es wächst ja doch alles zu Gott‘“.86 Pädagogische Hybris, es komme nur auf die richtige Methode und Förderung an und jeder Mensch sei „begabbar“, liegt jenseits seiner Einsicht in die Grenzen allen menschlichen Bemühens. Diese Einsicht hat er aus seinem Leben als „Dorfschulmeister“ gewonnen, so wie seine Kollegen auch. Wer in dieser Welt der Armut und Einsamkeit und Rückständigkeit sein Amt übernimmt, mag von großen Plänen und Zielen bewegt sein, „Nachglanz jugendlicher Tage, in denen sie davon geträumt hatten, Führer und Propheten ihrer Dörfer zu werden“. Doch diese Träume erfüllen sich nicht angesichts einer Realität aus harter Arbeit, karger Lebensführung und dadurch bedingter Gesetzesübertretung. „Sie hatten alle verzichtet. Ihre Träume waren verwelkt, ihre Kränze hingen immer noch unter den Sternen. Ihre Worte waren kleiner geworden […]“.87 Jeder reagiert auf seine Weise auf diesen „Verlust der Träume“. Es gibt welche, „die an der Öde ihrer Welt verzweifelt waren und als stille 83 84 85 86 87

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Jerominkinder, Jerominkinder, Jerominkinder, Jerominkinder, Jerominkinder,

S. 73 – 77. S. 76. S. 39. S. 77. S. 40.

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und wilde Trinker ihr Leben dahinbrachten“. Aber die meisten arrangieren sich. Es gab solche unter ihnen, die ihre Bienen pflegten, und solche, die am Abend bei offenen Fenstern auf ihrer Geige spielten. Solche, die in den Hügeln nach alten Waffen gruben und solche, die mit einer grünen Trommel über der Schulter in den Wäldern verschwanden, um nach Pflanzen zu suchen.88

Ein solcher ist Stilling. „In der Hauptstadt der Provinz lebte ein Professor mit einem berühmten Namen, zu dessen Füßen viele Studenten saßen, und für ihn grub und sammelte und erforschte er alles, was unter den hohen Fichten oder zwischen den Moorgräben wuchs, aus lange vergangenen Zeiten, als noch das Eis über dem Lande gelegen hatte oder der Steppenwind über die Öde gestrichen war. Empfing er Brief und Dank von dort, so schien ihm sein bescheidenes Leben angeknüpft an das große Gewerbe der Welt, ja es war ihm, als sei er ein Schüler jener Großen der Forschung und als trage auch er seinen demütigen Teil dazu bei, daß die Flamme der Wissenschaft nicht erlösche, sondern von Hand zu Hand gereicht werde, bis zu den fernen Grenzen hin, die Gottes Weisheit dem Menschensinn gesteckt habe“.89 Unrichtig ist sein Empfinden nicht. Die Dorfschullehrer waren Träger des geistigen Lebens ihrer Umgebung. Sie waren Kantor und Chronist, Chorleiter und Theaterregisseur, AnlaufsteIle für Probleme und Fragen, Vermittler zu den Behörden und Gerichten, Ratgeber und Streitschlichter. So auch Stilling, zumal er auch aus ärmlichen Verhältnissen stammt, „armer Waldarbeiter Kind“. „So war er, lange bevor sein Haar sich weiß gefärbt hatte, einer der Ihrigen geworden […] Der ihre wenigen Briefe schrieb und die vielen Kinder begrub. Und der alles umsonst tat, das Gute wie das Mühevolle“. Stilling und seine Amtskollegen auf dem Lande müssen die idealistischen Träume ihrer Jugend aufgeben. Aber sie gewinnen dabei etwas, „wovon man ihnen auf dem Seminar nie etwas gesagt hatte: das Leben. Die Armut und die Bürde, die Größe und Heiligkeit des Lebens. Auch des kleinsten und niedrigsten, des verlassensten und verachtetsten“. Stilling setzt diese Erkenntnis um. „Auch ihm war die Forderung tief ins Herz gefallen, als er sie zum erstenmal vernommen hatte, daß der Mensch edel, hilfreich und gut zu sein habe, aber ungleich vielen anderen machte er nicht den Text einer Predigt daraus, sondern meinte, 88 Wiechert, Jerominkinder, S. 39 – 40. 89 Wiechert, Jerominkinder, S. 42.

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daß man das Wort des großen Dichters auch erfülle, wenn man beim Kalben einer Kuh helfe, bei Krankheit und Trübsal, bei Trunksucht und Unfrieden […]“. Stilling hat etwas von dem alten Faust, der sich dem tätigen Leben zuwendet. Doch ihn zeichnet noch mehr aus: das reine Herz. Das ahnen auch seine Mitbewohner, die Köhler und Fischer in dem Dorf Sowirog. „Der einzige unter ihnen, der ganz reinen Herzens war und an dem sie ahnten, daß es noch eine bessere Welt geben müsse als die ihrige, wenn sie ihnen auch für immer verschlossen bleiben würde“.90 Hier mag auch der tiefere Grund für den Erfolg der Prüfung liegen, zu der der Lehrer Stilling Jons Ehrenreich in die „Hauptstadt der Provinz“ begleitet. „Es war beschlossen worden, dass der Lehrer Jons begleiten sollte, weil keiner von ihnen geeignet war, eine solche Reise zu bestehen“.91 Der Lehrer berichtet dem Vater von Jons jede Einzelheit. „Und dann war die Prüfung am nächsten Tag. Das war großartig, Jeromin. Zuerst hatten sie uns so komisch angesehen, der Direktor und alle die gelehrten Herren. Und einer hatte gefragt, ob ich auch wirklich Lehrer sei“. Stilling hatte vorher schon bemerkt, dass er im Straßenbild der „Provinzhauptstadt“ (Königsberg ist gemeint) fremdartig wirkte, aber er nahm es mit Souveränität und mit leisem Humor zur Kenntnis. „[…] aber ich weiß, daß sie auf meinen Mantel und auf meinen Zylinder starrten. Sie wußten wohl nicht, ob ich ein russischer Fürst oder ein Kutscher in Livree war“. Aber nach der Aufnahmeprüfung von Jons Ehrenreich sind die Gymnasiallehrer zutiefst beeindruckt von dem Wissen, das der einfache Dorfschullehrer vermittelt hat. „[…] da kamen sie alle und sagten, es sei ,phänomenal‘. Und sie schüttelten mir die Hand …“.92 Ähnlich wie Stilling findet der Lehrer Elwenspök in der „Hirtennovelle“ im Alter eine besondere Erfüllung durch einen Schüler.93 Es ist der Hirtenjunge Michael, „einer Witwe Sohn“, wie der Lehrer „feierlich sagt“, „als er die Namen der Jüngsten in sein großes Buch geschrieben hatte, und somit gleichsam alttestamentlichen Glanz um die Stirn des Ärmsten der Klasse gelegt“.94 Michael hat im Alter von sechs 90 91 92 93

Wiechert, Jerominkinder, S. 40 – 41. Wiechert, Jerominkinder, S. 94. Wiechert, Jerominkinder, S. 101 – 102. Ernst Wiechert: Hirtennovelle. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 493 – 551. 94 Wiechert, Hirtennovelle, S. 500.

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Jahren miterlebt, wie sein Vater, der Holzfäller, von einem Baum erschlagen wurde, und er hatte stundenlang bei dem Toten und bei seinem sterbenden Kameraden gewacht, um die Fliegen zu vertreiben. „[…] die Achtung der Großen und seiner Altersgenossen fiel ihm unverlangt zu“, und schon früh übertrug man ihm Aufgaben, „die man solcher Jugend sonst nicht überwies“,95 und im Alter von zwölf Jahren „übertrug das Dorf ihm die Hut der gesamten Herde“.96 Michael verbringt seine Tage einsam im Wald und auf den Waldwiesen und lernt von der Natur. Voll von Geschichten ist seine Seele. Der Wald brütet sie aus, die Einsamkeit, das Schweigen. Er braucht keine lateinischen Oden zu lernen, aber es gehen Wochen dahin, in denen der Regen auf die Wälder rauscht, indes er unter einer Schirmfichte liegt, in seinen Hirtenrock gehüllt, und den Stimmen der Tiefe lauscht.97

Michael kann den Söhnen der „Oberschicht“, dem Sohn des Schulzen, den Söhnen des Försters und dem Sohn des Gutsbesitzers allerhand beibringen. Sie sind „gelehrige und dankbare Schüler in der Wissenschaft des Horstausnehmens, des Kreuzotterfanges oder der Krebsjagd“.98 Und sie bringen ihm echte Freundschaft und Achtung entgegen, nachdem er bei einem Kampf um das Weideland den Hirten des Nachbardorfes besiegt hat und als Held gilt. Seine Freunde besuchen höhere Schulen und leben in der Stadt und kommen nur noch in den Ferien heim mit „veränderten Augen“, aber wenn sie mit ihm zusammen sind, „so würde keiner auch nur einen Augenblick gezaudert haben und bunte Schlipse, Mädchen und die Kenntnis lateinischer Oden mit verächtlichem Lächeln für die Kunst hingegeben haben, den Stein schleudern zu können wie Michael oder das Rindenhorn so in den Abendhimmel zu heben, daß selbst die Wolken vor den Klängen zu erglühen schienen“.99 Und schließlich wird der alte Lehrer Elwenspök Michaels Schüler. Er hatte, vom Schulrat mit der goldenen Brille auf sein hohes Alter aufmerksam gemacht, sein Amt zu Beginn des Herbstes niedergelegt und ging nun, als ein Herr seiner Zeit, viele Stunden des Tages durch Heide und Moor, um 95 96 97 98 99

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Hirtennovelle, Hirtennovelle, Hirtennovelle, Hirtennovelle, Hirtennovelle,

S. 498. S. 502. S. 521. S. 516. S. 518.

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sein großes Buch mit getrockneten Pflanzen zu erneuern, und, wenn das Glück es fügen sollte, auch zu vergrößern.

Dabei trifft er Michael, findet bei ihm „unvermutete Unterstützung seiner Tätigkeit“, da Michael ihm die Fundstellen seltener Pflanzen zeigen kann und sich gemeinsame wissenschaftliche Interessen zwischen den beiden ergeben. Doch der alte Lehrer nimmt nicht nur Michaels Erfahrenheit mit der Natur dankbar an, er findet in ihm auch einen Zuhörer, dem er „sich öffnen“ kann, wie die Schüler sich dem Pädagogen Wiechert anvertrauten und wie dieser einst seinen Lehrer „Freundchen“ aufsuchte. „Dann öffnete das alternde Herz des Lehrers sich noch einmal, der ein Leben lang, Jahr für Jahr, die einfachen Dinge hatte lehren müssen und der niemals von den anderen Dingen hatte sprechen können, die in seiner Jugend sein Herz durchflammt hatten, wie sie jede Jugend durchflammen“. Die Vertrautheit mit Michael, „die der sein Leben Beendende als ein spätes Geschenk […] empfing“, lässt Michael für ihn wie ein Enkel werden. Im Gegenzug kann der Lehrer Michael seine Lebensweisheit und Lebensphilosophie darlegen, die er aus seiner jahrzehntelangen pädagogischen Tätigkeit gewonnen hat. Es waren viele Leben gewesen, die in ihrem Beginn durch seine behutsamen Hände gegangen waren, und da er, wenn auch von ferne, zugesehen hatte, wie aus diesem Beginn die Lebensbahnen weitergelaufen waren und wie manche sich zu einem frühen Tod gesenkt hatten, so konnte er wohl mit vorsichtigen Worten ein stilles Gesetz aus der Wirrnis dieses Gewebes lösen, und er konnte nicht anders, als daß es, auch jetzt noch, ihm auf den ,Geist Gottes‘ anzukommen schien, der einen Menschen erfülle oder nicht erfülle.

Doch scheint der Lehrer hier der Nehmende zu sein, der dankbar für diese „späte Freundschaft mit jener stillen Jugend“ ist,100 so wie Wiechert selbst in seiner „Rede an die Abiturienten“ 1929 sagte: „Daß ich euch danke für diese Jahre, wißt ihr“.101 Es ist nur der natürliche Lauf der Dinge, dass der Lehrer vor dem Schüler stirbt. So stirbt auch Michael vor dem alten Lehrer Elwenspök, als er im Ersten Weltkrieg von einer Kosakenlanze getroffen wird. Es ist ihm gelungen, das Dorf zu retten; als er ein Lamm verteidigen wollte, indem er wie der junge David einem der Verfolger einen Stein gegen die Stirn schleuderte, traf ihn der Lanzenstich. 100 Wiechert, Hirtennovelle, S. 539 – 542. 101 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 347.

Das Bild des Lehrers im Werk Ernst Wiecherts

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„Da der Pfarrer, von einem Säbelhieb vor der Kirchentür getroffen, nicht hatte kommen können, hielt der Lehrer Elwenspök nach alter Sitte der Landschaft die Totenrede“. Er trauert tief. Er begann mit der hellen und tapferen Stimme, die sie alle, Erwachsene und Kinder, an ihm kannten, aber schon nach den ersten Sätzen war es, als zerbreche etwas in seiner Brust, vor die er plötzlich die gefalteten Hände hob, und er sprach so leise, als stehe er vor einem Schlafenden statt vor einem Toten.

Er gesteht seinem Schüler, der später sein Lehrer wurde, die größere Reife zu, und groß ist sein Dank. „In diesem jungen Leben sei auf eine herrliche Weise gewesen, wozu die andern siebzig oder achtzig Jahre zu brauchen pflegten: der Kampf, die Liebe und der tapfere Tod. Und er selbst, als ein alter Mann, bekenne an diesem Grabe, daß die späte und milde Sonne seines Abends ihm von diesem Kinde gekommen sei“.102 Der einfache Dorfschullehrer, der sein Leben in Armut und Entsagung in „verlorenen Dörfern“ zugebracht hat, ist der einsichtige Pädagoge, das Gegenbild zu den skurrilen Gelehrten in der Stadt. Er hat auch den pädagogischen Erfolg, kann einen Jons Ehrenreich auf seinen Weg führen und in dem einfachen Hirtenjungen erkennen, „daß jedes Amt, in Treue verwaltet, seine stille Krone trage“.103 Er hat auch ein ausgeprägtes Verständnis für die Kunst, wie der „hochbetagte Schulmeister des ärmsten deutschen Dorfes im Norden der kurischen Nehrung“ in der Erzählung „Der Jünger“.104 Einen Namen erfährt der Leser nicht, nur die materiell erbärmlichen Lebensumstände dieses Mannes werden ihm vor Augen geführt. Der Schulmeister, obwohl von Kind an ein sonderlicher und der Welt abgewandter Mensch, hatte sich trotzdem mit den Widerlichkeiten des Lebens nicht ganz ohne Erfolg abgefunden, bis die politische Verworrenheit seiner Heimaterde und der Tod seines Vaters, dessen große Schuldenlast er übernahm, ihn aller bescheidenen Behaglichkeit beraubt und ihn in eine Dürftigkeit versetzt hatte, die kaum mehr als Bank und Bett ihr eigen nannte.105

Die Musik muss der Mittelpunkt seines Lebens sein, denn „nach dem Verlust seines alten und zerspielten Flügels“ „stand er da wie ein 102 Wiechert, Hirtennovelle, S. 549 – 550. 103 Wiechert, Hirtennovelle, S. 541. 104 Ernst Wiechert: Der Jünger. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 655 – 659. 105 Wiechert, Jünger, S. 655.

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Mensch, dem sie die Hände abgeschlagen“.106 Nur Beethovens zerlesene Klavierwerke sind noch in seinem Besitz. Nun feiert man „allenthalben in der Welt mit Messen und Symphonien, mit Quartetten und Sonaten das Gedächtnis des vor hundert Jahren verklärten Beethoven“, und der Schulmeister aus dem Nehrungsdorf erfüllt sich einen Wunsch, indem er ein Konzert in Königsberg besucht; für die „beseligende Karte“ hat er ein Jahr gespart. Vier Tage lang geht er zu Fuß „die sich sanft begrünende Nehrung hinab“, übernachtet bei seinen Amtsbrüdern und „traf so, ermüdet, aber mit hellem innerem Leben, am Abend des vierten Tages vor der Konzerthalle ein“.107 Sein Aussehen „in dem langen Rock seines Großvaters und den schweren Schuhen seines rauhen Landes“ muss in der Stadt ebenso Aufsehen erregen wie das Stillings im langen Mantel und Zylinder, „da seine Erscheinung einer vergangenen Zeit anzugehören schien“. Die Besucher im Konzertsaal schauen ihn denn auch verwundert an, so wie die Leute auf der Straße Stilling anstarren. Doch während Stilling diese Blicke bemerkt und versteht, ohne sich jedoch darum zu kümmern, reagiert dieser „Jünger der Musik“ wie ein unwissendes Kind. „ … doch erstarb jedes Lächeln auf spöttischen Lippen, wenn unter der reinen Stirn seine Augen sich aufschlugen und mit sanfter und fast demütiger Frage sich zu dem Neugierigen wandten“.108 Diese Kindlichkeit teilt er mit Stilling und Elwenspök. Stilling hat ein reines Herz, das ihm die Ehrfurcht der Köhler und Fischer einbringt. Elwenspök errötet auf eine Frage Michaels. „Hier errötete der alte Lehrer auf eine kindliche Weise“.109 Und die „reine Stirn“ des Dorfschullehrers von der Nehrung beschämt die, die sich über ihn lustig machen wollen, und bringt sie zum Schweigen. Im Alltagsleben des namenlosen alten Lehrers gibt es keine Töne mehr, seit der Flügel verkauft worden ist, aber der Musik hat er doch Eingang verschafft. Er besitzt ein hölzernes Brett, „das jedem Kinde ehrfürchtig bekannt war, das mit weißem und schwarzem Papier beklebt war und das doch weder Saiten und Töne besaß“. Er hört die Musik mit seinem Inneren, so wie Beethoven, als er taub war, wie es ihm bei dem Konzert bewusst wird. „War nicht auch jener arm ge106 107 108 109

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Jünger, S. 655 – 656. Jünger, S. 655 – 656. Jünger, S. 656. Hirtennovelle, S. 542.

Das Bild des Lehrers im Werk Ernst Wiecherts

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wesen und einsam im dunklen Gemach? War er nicht taub gewesen und ein Gast des Himmels wie der Hölle?“ Beethovens Musik, bei der „ein Schwert seine Seele durchbohrte wie jener Mutter Gottes“, hat ihm „etwas Köstliches“ gegeben, das er mit sich heim trägt, „wie Kinder wohl in aller Unschuld eine Blume von einem Friedhof heimtragen“.110 Er ist einem Kinde ähnlich, und er ist dem Genie ähnlich. Er geht zu Fuß zu seinem Dorf zurück und steht allabendlich „eine Weile auf dem Kamm der Düne, wo Haff und Meer sich grau und weit erstreckten und der Sand wie Säulen über die bleichen Berge schritt“. „Er stand da, ein wenig gebeugt, das Haar über die Stirn geweht und die Hände über dem Rücken zusammengelegt, nicht unähnlich dem großen Toten, von dessen Gedächtnis er kam und dessen Klänge gleich einer Flamme ihn wärmend erfüllten“.111 Stilling erkennt die Begabung eines Jons Ehrenreich, Elwenspök die Reife eines Hirtenjungen, der Dorfschullehrer von der Nehrung erkennt das Unsichtbare und hört Unhörbares. Die Fischer des einsamen Dorfes beobachten ihn um Mitternacht mit derselben Ehrfurcht wie die Kinder, die das hölzerne Brett kennen. Er ist einer der ihren, wie Stilling und Elwenspök auch. Sie schauen durch das Fenster „in ihres Schulmeisters Stube“ und sehen ihn vor dem Brett mit dem weißen und schwarzen Papier sitzen. Darüber stand neben einer niedrigen Kerze ein zerrissenes und vielfach beklebtes Notenheft, und davor saß der Schulmeister mit geneigter Stirn, und seine alten und schon etwas unruhigen Hände glitten in demütiger Beugung über das bewegungslose Holz, es hier sanft streifend, dort lange wie nachklingend verharrend, während sein Ohr den unhörbaren Tönen versunken nachlauschte und um seine Lippen die Gebärde des Rufers war, der am Ufer eines breiten Stromes steht, während jenseits der rauschenden Wasser eine andere Stimme erklingt […].112

110 Wiechert, Jünger, S. 657 – 658. 111 Wiechert, Jünger, S. 658. 112 Wiechert, Jünger, S. 659.

Leiden und Erlösung in den Werken Ernst Wiecherts: Offenbarung und Eingang in eine andere Welt walter t. rix Der Mensch im Werk Ernst Wiecherts begegnet der Welt als Leidender, er ist ein Bruder des Todes. Sein Weg ist ein Weg der Qualen und des Schmerzes, dessen Anfang bereits auf den Tod als Ziel gerichtet ist. Die Erkenntnis des Lebens gewinnt er ausschließlich über die Erfahrung des Todes. Diese Überzeugung des Autors verbindet eng mit den Lebenswegen seiner Gestalten im Werk. „Der Begriff des Leidens verflocht sich für alle Zeit unlöslich mit dem Leben“,1 sagt der Dichter von sich in seinem „Selbstporträt“. In seinen Gedanken über die „Gesichter des Todes“ spricht er vom Tod als „das gewisseste, unverlierbarste, das seinen Weg niemals verfehlt“.2 So unergründlich und unerbittlich, wie der Tod zunächst auch sein mag, für Ernst Wiechert geht er mit Erkenntnis einher und erlangt dadurch eine völlig neue Bedeutung. Er verweist in diesem Zusammenhang auf seine erste Berührung mit dem Tode, als er auf dem Hof der väterlichen Försterei ein totes, blutendes Reh erblickt: „Es graute mir von diesem Bilde, aber in diesem Grauen begriff ich zum erstenmal. Nicht den Tod, sondern das Leben“.3 Diese Bewegung von der schmerzvollen Begegnung mit der Welt zur Erkenntnis vollzieht sich in extremer Zeitraffung. Dabei schlägt zweifelndes Fragen in Gewissheit um. Urplötzlich stellt sich eine Umwandlung der Welt ein, die eine völlig neue Sicht, ja sogar eine grundlegend gewandelte Daseinsform mit sich bringt. In der Erlangung dieser neuen Sicht liegt die Legitimation aller Leiden und zugleich deren Überwindung. Der Tod ist nicht mehr Ende, „sondern die Vollendung“.4 Erkenntnisvermittlung und Daseinswandel fallen auf 1 2 3 4

Ernst Wiechert: Selbstporträt. In: Ernst Wiechert: Sämtliche Werke. Wien/ München/Basel 1957, Bd. 10, S. 724. Ernst Wiechert: Gesichter des Todes. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 718. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 718 – 719. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 721.

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diese Weise zusammen: „Und in diesem Augenblick der Vollendung lag die Überwindung des Todes“.5 Das Ideal des Dichters ist eine mit der bestehenden Realität nicht zu vereinbarende Herzensursprünglichkeit, die sich in einer Art paradiesischem Zustand entfaltet. Der Sündenfall des Menschen liegt in der von ihm geschaffenen Zivilisation. Erst mit der Überwindung dieser Zivilisation eröffnet sich ihm eine andere Welt, die dem Bestehenden so absolut entgegengesetzt ist, dass sie einen Seinswandel des Menschen voraussetzt. Über den Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn merkt Ernst Wiechert in Jahre und Zeiten an,6 und der Tenor dieser Aussage gilt für sein gesamtes Schaffen: „Nicht einmal, ob ich das nackte Leben retten würde aus dieser Welt des Todes. Nur das wußte ich, daß ich mich retten müßte in eine andere Welt, und wenn sie auch nur auf den weißen Blättern stand, die ich mit meiner Schrift bedeckte“.7 Offenbarung und Erkenntnis sind fundamentale religiöse Erfahrungen. Sie treffen den Menschen mit ungeheuerer Wucht und versetzen ihn in eine vorher nicht gekannte Welt. Er lässt jetzt alles Vordergründige hinter sich und wird frei. Die Loslösung von allem Irdischen aber ist der Tod. Ernst Wiechert sagt in diesem Zusammenhang über seine erste Begegnung mit dem Tode: „Ich fürchtete mich nicht mehr, ich wußte nun, was das Bibelwort bedeutet ,Habt nicht Angst in der Welt‘“.8 In seinem Werk lässt sich nun das wiederkehrende Muster des unendlichen Leidensweges, der plötzlichen Offenbarung und Erkenntnis sowie einer sich abzeichnenden Erlösung, dem Teilhaftigwerden der anderen Welt, nachweisen. Autor und die von ihm geschaffene literarische Welt sind hier kaum voneinander zu trennen, denn Standpunkte des Autors und Lebenswege seiner Figuren konvergieren aufs engste. Der Dichter selbst hat die Schaffung einer anderen Welt als sein innerstes Anliegen beschrieben. So heißt es in Jahre und Zeiten bezeichnenderweise: „In meiner gefährdeten Welt fühlte ich den tiefen Segen, daß ich eine andere Welt erschaffen konnte, eine stellvertretende gleichsam, und ich konnte aus der meinigen heraustreten, 5 6 7 8

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 721. Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S- 331 – 800. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 490. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 720.

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wenn sie mir eng und zu Boden drückend erschien“.9 Die Verwendung des Begriffes ,Segen‘ lässt dabei erkennen, dass es sich um eine tief religiöse, jedoch durch das Medium Kunst bestimmte Haltung handelt. Überhaupt weisen die Ausführungen des Dichters ausnahmslos die Bibel als unterlaufenden Text, als Subtext, aus. Indem Text und Subtext beständig aufeinander bezogen sind, kann Ernst Wiechert sein Verständnis der Bibel und seine Sicht christlicher Grundsätze gestalten. Und da die Kirche als Institution nach dem Sündenfall des Menschen entstanden ist, kulminiert dieser textinterne Diskurs in einer harschen Zurückweisung christlicher Dogmatik. Das Kundwerden einer Wirklichkeit, die ihrem Wesen nach dem Menschen für gewöhnlich verschlossen ist, führt über die Offenbarung zur Erlösung. Die literarische Gestaltung dieses Phänomens ist keineswegs ein nur für den ostpreußischen Dichter gültiger Einzelfall. Sie findet sich z. B. häufig in der von Ernst Wiechert geschätzten russischen Literatur oder auch bei dem Iren James Joyce. Im gleichen Jahr wie Wiecherts erster Roman Die Flucht (entstanden 1913/14) 10 erscheint auch James Joyces Portrt des Knstlers als junger Mann. 11 Hier erlebt der Jesuitenzögling Stephen Daedalus, nachdem er einen langen Leidensweg durch verschiedene Institutionen hinter sich hat, an der Bucht von Dublin eine Offenbarung in Form einer Epiphanie, die das traditionelle Gottesverständnis aufhebt und ihn selbst zu einem gottartigen Künstler macht, der die Welt aus sich heraus erschafft. Auch hier dient die Bibel als Subtext, der sich die Aussage des Textes entgegenstellt.

Welt und Gegenwelt der frühen Romane Bereits der erste Roman Die Flucht weist Strukturmerkmale und Motivmuster auf, die in den folgenden Werken wiederkehren und hier weiterentwickelt werden. Unverkennbar ist jedoch die ausgeprägte Nähe zu zeitgenössischen Vorbildern. So ist der Roman durchzogen von der neurasthenischen Brüchigkeit des französischen psychologischen Romans des fin de siècle. Ganz offensichtlich trägt der Held Peter 9 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 452. 10 Ernst Wiechert: Die Flucht. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 5 – 238. 11 James Joyce: Porträt des Künstlers als junger Mann. Süddeutsche Zeitung (SZ) Bibliothek, Bd. 14, 1972. Die englische Ausgabe: A Portrait of the Artist as a young man erschien 1916.

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Holm die Züge des dekadenten Helden der Jahrhundertwende. Seine geistige Nahrung bezieht er u. a. aus der Zeitschrift „Die Jugend“,12 ein Sprachrohr des jugendlichen Aufbegehrens gegen die überkommene bürgerliche Ordnung. Ganz im Sinne zeittypischer Vorstellungen kennt das Weiblichkeitsbild des Romans auch nur die Extreme, nämlich Heilige (Leonore Koske) und Hure (Margot Mertins). Unverkennbar ist der Einfluss Selma Lagerlöfs, der auch im Gesamtwerk hervortritt. In „Selma Lagerlöf zum Gedächtnis“ berichtet Ernst Wiechert 1940 über seine erste Begegnung mit der schwedischen Dichterin, die ihn in eine neue Welt versetzt. In einer einzigen Nacht verschlang er als Schüler die Gçsta Berling Saga: Ich las die ganze Nacht, und als das Öl in der Lampe verbrannt war und Straßen und Häuser dumpf erwachten, war das geschehen, an das ich mich erinnere: das Leben hatte mich angesehen, das ganze, ungeteilte, Gott und Teufel, Kain und Abel, Himmel und Hölle. Es ließ mich zurück, vernichtet und beseligt, aber es hatte mich in seinen Fäden eingesponnen wie der Zauberer den ferne Fliehenden. Es würde mich nicht mehr loslassen, ich würde ihm verfallen bleiben. Und mein Leben würde erst dann ein Leben sein, wenn es mir gelänge, zu diesen zu gehören, die den Lehm der Erde noch einmal formten, um Menschen und Schicksale aus ihren Händen fallen zu lassen. Es würde erst dann ein Leben sein, wenn dieser Mensch, der dieses Buch geschrieben hatte, mich einmal viel, viel später ansehen und sagen könnte: ,Mein Bruder, du hast dir Mühe gegeben …‘. Dieser Mensch war Selma Lagerlöf, und dieses Buch war der ,Gösta Berling‘.13

Neben dem künstlerischen Bekenntnis zu Selma Lagerlöf enthält die Aussage durch den biblisch konnotierten Begriff ,Lehm‘ auch den Anspruch, nach dem Vorbild der Schwedin eine andere Welt zu gestalten. Es ist dies eine Haltung, die so fest begründet ist, dass sie sich durch das Leben Ernst Wiecherts zieht: „Von jenem Winterabend vor fast vierzig Jahren bis zum heutigen Tage hat das Werk dieser großen Toten unveränderlich nahe an meinem Herzen gestanden“.14 Tatsächlich bekennt er am Anfang von Jahre und Zeiten, dass „die Welt so groß und wunderbar vor mir aufgetan [war] wie vor Gösta Berling“. Und er wiederholt dies ausdrücklich wenige Zeilen später, indem er die Welt mit den Augen Gösta Berlings sieht, dass „die Welt vor mir lag wie vor 12 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, vgl. S. 94, 98, 227. 13 Ernst Wiechert: Selma Lagerlöf zum Gedächtnis. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 917 – 918. – Selma Lagerlöf: Gösta Berling. Stockholm 1891. 14 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 920.

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Gösta Berling“.15 In welchem Maße Gösta Berling für ihn auch im täglichen Leben gegenwärtig war, zeigt sich an seiner Neigung, Personen seines Bekanntenkreises durch Figuren des schwedischen Romans zu charakterisieren.16 Mit der Verehrung Selma Lagerlöfs steht Ernst Wiechert in seiner Zeit keineswegs alleine da. Am 14. August 1939 schreibt Nelly Sachs in einem vierseitigen Brief an die schwedische Dichterin u. a.: „Einst, da die Fünfzehnjährige [Nelly Sachs] Ihren Gösta Berling glücktaumeld las, begann die große Liebe in ihrem Herzen zu seiner Schöpferin“.17 Der Kreis jener, die Selma Lagerlöf nicht nur verehrten, sondern sie auch rezipierten und sogar in persönlichem Kontakt mit ihr standen, reicht von Nelly Sachs, Gerhart Hauptmann, Ina Seidel und Hermann Hesse bis hin zu Gustav Frenssen.18 Dem deutschen Publikum war die schwedische Dichterin äußerst gegenwärtig: Im Buchhandel, neben den zahlreichen unautorisierten Übersetzungen, durch die „Einzige autorisierte deutsche Originalausgabe“ des Münchener Verlags Albert Langen/Georg Müller in 25 Bänden, im Theater durch die zahlreichen Bühnenadaptionen ihrer Werke von bekannten deutschen Autoren19 und durch die zahlreichen Filme. Die schwedische Verfilmung des Romans Kçrkarlen erlebte bereits 1921 als „Der Fuhrmann des Todes“ in Berlin ihre deutsche Erstaufführung. Die deutsche Uraufführung der schwedischen Verfilmung von Gçsta Berling fand am 20. August 1924 in Berlin im Theater am Nollendorfplatz statt. Die Terra-Film Produktion plante 1939 eine deutsche Verfilmung von Gçsta Berling, die jedoch infolge des Kriegsausbruches nicht mehr zustande kam. Mit seiner Verarbeitung der Gedanken Selma Lagerlöfs steht Ernst Wiechert somit im geistigen Strom seiner Zeit, denn bis unmittelbar nach dem Zweiten 15 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 337. 16 So wird z. B. die Gutsherrin auf Barsenicken im Samland, Margarete Fink, Tante des Kabarettisten Werner Fink, nach einer zentralen Gestalt in Gçsta Berling von ihm „die Majorin auf Ekebey“ [sic] genannt. Vgl. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 565. 17 Zitiert nach: Wunderbare Reise … Materialien zur Rezeption des Werkes Selma Lagerlöfs in Deutschland. Eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek Marburg vom 28. April bis 30. Mai 1998. Marburg 1998, S. 79. (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 85). 18 Hierzu insbesondere: Jennifer Watson: Swedish Novelist Selma Lagerlöf, 1858 – 1940, and Germany at the Turn of the Century. 0 Du Stern ob meinem Garten. Lewiston/Queenston/Lampeter 2004. (Scandinavian Studies, Vol. 12). 19 Watson, Swedish Novelist. Die Autorin gibt auf S. 191 – 192 eine Aufstellung von Bühnenadaptionen durch bekannte deutsche Autoren.

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Weltkrieg spielte die schwedische Dichterin offensichtlich eine viel beachtete Rolle im deutschen Geistesleben. In Die Flucht wird ausdrücklich auf die Nähe des Helden Peter Holm zu Gçsta Berling verwiesen.20 Parallelen zwischen beiden Werken sind offensichtlich: Die zentralen Themenbereiche in Gösta Berling wie der Ausbruch aus der scheinbar geordneten Welt, der innere Tod des Helden, die Rolle der Majorin Margareta Celsing,21 die Tragik des Ehebruchs, die Bedeutung des Gutes Ekeby, die religiöse Offenbarung, der Wiederaufbau des Zerstörten, das hymnische Bekenntnis zur Arbeit und schließlich Offenbarung und Erlösung, das sind alles Motive, die auch wieder bei Ernst Wiechert auftauchen,22 nicht ohne dass das romantische Pathos von Selma Lagerlöf ebenfalls anklingt. Nach einem langen Weg der Irrungen und des Leidens wird dem aus seinem Amt entfernten Pastor Gösta Berling schließlich die Erlösung zuteil. Nachdem „Gottes Sturm […] über das Land hingegangen“ ist,23 offenbart sich eine andere Wirklichkeit für Gösta Berling, so dass er nunmehr in der Gewissheit der „Wiederkehr des Reiches Gottes“ im „Gefilde der Seligen“ leben kann.24 Die sich hier abzeichnende Folge von Leiden-Offenbarung/Erkenntnis-Erlösung ist ein Grundmuster, das der Welthaltung Ernst Wiecherts entspricht und von ihm strukturell und inhaltlich adoptiert wird. Der Gegensatz von Natur und Zivilisation bei Selma Lagerlöf findet seine Entsprechung bei Ernst Wiechert in der Antithetik von Wald und Stadt. Dabei erfährt der Wald als eine Art Abbild des Paradieses eine mythische Erhöhung und wird zur magischen Sphäre. Als Kind des Waldes empfindet der ostpreußische Junge den Wechsel vom elterlichen Forsthaus in die Stadt wie eine Vertreibung aus dem Paradies. In Wlder und Menschen reflektiert er in folgender Weise darüber: 20 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, vgl. insbesondere S. 178. 21 Aspekte dieser Figur in Gösta Berling verarbeitet Ernst Wiechert später auch in seinem Roman Die Majorin (1932). 22 Überdies zeichnet sich in diesem Roman offensichtlich auch der Einfluss von Knut Hamsun ab: Besonders eng ist die Verwandtschaft Peter Holms zu Johann Nilsen Nagel in dem Roman Mysterien (1892). Die Psychogramme beider entsprechen sich in zentralen Punkten. Verzehrt sich Hamsuns Held zwischen der unschuldigen Pfarrerstochter Dagny Kielland und der erfahrenen Weiblichkeit Martha Gudes, so zerbricht Peter Holm zwischen der reinen Leonore Kostre und der lasziven Margot Mertins. Nach langem Leidensweg bereiten beide Helden ihrem Leben ein Ende durch Selbstzerstörung. 23 Selma Lagerlöf: Gösta Berling. München 1933, S. 434. 24 Lagerlöf, Gösta Berling, S. 433.

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Vielleicht habe ich damals schon den tiefen Zwiespalt zwischen Natur und Zivilisation zu ahnen begonnen, und meine Liebe zum Wald, zum Tier, zur ,großen Ordnung‘ würde wohl niemals das Leidenschaftliche, ja das Verzehrende ihrer Kraft erreicht haben, wenn nicht zu früh mein Paradies ein verlorenes Paradies geworden wäre.25

Da das Spannungsverhältnis laufend ontologische Reflexionen stimuliert, führen beide Bereiche zu einer diskursiven Ebene, deren zentrale Thematik das Numinose ist. Als entscheidender Wendepunkt erweist sich dabei eine plötzliche Offenbarung, die durchaus religiöser Natur ist, sich jedoch nicht in das Schema traditionellen Christentums einordnet. In Die Flucht entflieht dann auch der Lehrer Peter Holm der Stadt mit ihrer „Entgötterung der Natur“,26 weil er „einem ewigen, nutzlosen, widersinnigen Kreislauf“ entgehen will.27 Noch ist der Hass wie auch in den folgenden Werken eine treibende Kraft: „Ich hasse das alles, Menschen, Straßen, Beschäftigung, Licht und Lärm! Es quält mich wie ein körperlicher Schmerz“.28 In dem Augenblick der Vereinigung mit der reinen und zarten Leonore Koske, die wie er aus den Wäldern Masurens kommt, offenbart sich ihm das eigentliche Leben. Jenseits von Rationalität schaut er das letzte Geheimnis, so dass sich alle Gegensätze aufheben und das Gefühl ewiger Ruhe entsteht. Diese Offenbarung geht einher mit einer Seinsumwandlung, einer Entgrenzung des Ich und einem Aufgehen in der Schöpfungsuniversalität, ausgedrückt durch die Bildlichkeit von Bächen, Strom und insbesondere Meer: Das war also das heißersehnte Leben! Wie zart und leise das war! Er legte sein Ohr auf die Brust, unter der das Leben schlug. Das also war das ganze Geheimnis. Wie göttlich klar und einfach! […] Es war ihm, als ob seine Gedanken und Vorstellungen die sich kreuzenden Bahnen verließen, stiller und stetiger wurden, sich vereinigten wie tausend Bäche zu einem einzigen, geruhig schwellenden, leuchtenden Strome und in seliger, einander tragender Gemeinschaft in das Meer mündeten, dessen leise Atemzüge er an seinem Ohre spürte.29

Wem sich das letzte Geheimnis enthüllt, der zählt nicht mehr zu den Bewohnern der alltäglichen Welt. In der magischen Sphäre des Waldes, hinter dem Pflug auf seinem Hof Malinowko, versucht Peter Holm, ein 25 Ernst Wiechert: Wälder und Menschen. Eine Jugend. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 85. 26 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 88. 27 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 40. 28 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 79. 29 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 110.

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Leben nach der absoluten Erkenntnis zu gewinnen. Hingegen muss er erkennen: „Wer leben will, muß sterben und lieben“.30 Das Leben in der profanen Welt wird jetzt zu einem sehnsuchtvollen Umherirren, und das Heraustreten aus diesem Leben wird zur sinnerfüllten Vollendung des Kreises, dem Eingehen in die Unendlichkeit: „Ein Punkt ist’s wo du aufgehst im All, wo das Individuum in dir stirbt, weil du das gefunden hast, was dich ergänzt. Weil du den Kreis schließest, auf dessen halber Bahn du sehnsuchtvoll herirrtest.“31 Die im Roman Die Flucht angeschlagene Thematik wird in dem Roman Der Wald (entstanden 1920) wieder aufgenommen und erweitert.32 In ersterem stehen sich Stadt und Wald noch antithetisch in einer Weise gegenüber, dass die Flucht aus dem urbanen Bereich in die Natur zu einer Bewegung in den Tod wird. Im Grunde setzt der Tod unmittelbar mit der Offenbarung ein, denn kurz darauf heißt es von Peter Holm, er „glaubte von neuem, daß er lebte“.33 Erkenntnis und Erlösung fallen zusammen. Aber die einmal gewonnene Erkenntnis erlaubt kein Leben mehr in der bestehenden Ordnung. Erfüllt vom Pessimismus Schopenhauers und beeinflusst durch die Melancholie Theodor Storms, endet Peter Holm in der Selbstzerstörung. In Der Wald nimmt die Fluchtdarstellung nur einen ganz geringen Raum ein, und die Bewegung aus der Stadt in die Natur gleicht mehr einer planmäßigen Handlung als einer Flucht. Durch ein Telegramm seines Onkels Franziskus Wittig wird der Hauptmann a. D. Henner Wittig aus dem von revolutionären Wirren geschüttelten Berlin an dessen Totenbett gerufen. Schon für den Onkel war der Wald ein Heiligtum, eine Sphäre der Unberührbarkeit, die dem sakrilegen Zugriff der Zivilisation entzogen werden musste. In der Nachfolge seines Onkels wird Henner Wittig zum Hüter des Waldes bestellt. Nachdem er sich von der entgötterten Welt der Städte gelöst hat, erlebt er in der Begegnung mit der magischen Sphäre des Waldes die Offenbarung jenes Gottes, nach dem er strebte: Alles Leid versank, vergangenes und kommendes, vor der Erkenntnis, daß eine Stelle in seinem Leben war, wo er bis ins Mark getroffen werden konnte. […] ohne dies konnte man nicht leben, ohne den Atem der Erde, 30 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 218. 31 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 217. 32 Ernst Wiechert: Der Wald. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 433 – 637. 33 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 188.

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ohne das Rauschen des grünen Gottes. Die Worte des Traumes standen auf wie mit fernen Posaunenklängen: ,Wo ist Gott? Im Walde! Im Walde!‘ Leid und Haß der Zeit berührten ihn nicht mehr. Wesenlos war der Wald als Besitz, als Gut, als Macht. Aber Gott lebte in ihm, sein Gott, der Gott seiner Erde. Er kniete auf den Stufen eines Tempels, der nur für ihn gebaut war, in dem nur sein Gott lebte.34

Die Schändung des Tempels droht jetzt von offizieller Seite. Der noch im Roman Die Flucht namenlose Direktor einer Lehranstalt gewinnt jetzt individuelle Konturen in der Figur des Dr. Matthias Plurr, Rektor eines im Aufbau befindlichen Realgymnasiums der Kreisstadt. Dr. Plurr vertritt die typischen reformpädagogischen Grundsätze der Weimarer Zeit. Sein Anliegen ist, wie er von sich behauptet, die „Volksbildung“. Und da der „Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung“ einen Wandertag verordnet hat, will der Rektor seine Schüler ausgerechnet in Henner Wittigs Wald führen. Bezeichnend ist, dass Dr. Plurr über das Thema „Entwicklung des monistischen Gedankens als Kulturferment der Zeiten“ promoviert hat und damit die Gegenposition zu Henner Wittigs grünem Gott vertritt. Für den Autor Ernst Wiechert, der das Numinose eher im griechischen Gott Pan verkörpert sieht,35 übersetzt der Schulpädagoge damit lediglich die starre Dogmatik des Christentums in die innenweltliche. sozialpolitische Dogmatik der Weimarer Zeit. Alle hehren und menschenbeglückenden Argumente scheinen auf der Seite von Dr. Plurr zu sein, aber hinter der Fassade des akademischen und pädagogischen Anspruchs kommen die Ressentiments des materialistischen Massenmenschen zum Vorschein. Letztlich geht es nur um die Entweihung des Heiligen, um die Entwürdigung des höchsten Wertes und um die Vernichtung des Aristokratischen. Mit der Stellvertreterfigur Dr. Plurr bricht die materialistische Fortschrittsideologie des 20. Jahrhunderts ein in eine Welt der Ehrfurcht vor der Schöpfung. Damit wird der Kampf um den Wald zum Sinnbild eines weltanschaulichen Konflikts. Unter geschickter Ausnutzung eines neuen „Reichswaldgesetzes“ und unter Mithilfe des Ministeriums gelingt es Dr. Plurr, die Welt Henner Wittigs planmäßig zu zerstören und die Natur einem strengen Nutzungskonzept zu unterwerfen. In seinem

34 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 528. 35 Hierzu u. a.: Patricia Merivale: Pan the Goat-God. His Myth in Modern Times. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Pr., 1969; John Boardman: The Great God Pan: The Survival of an Image. London 1997.

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„Hohenpriesteramt“36 bleibt dem Verteidiger des Waldes nur noch eine Möglichkeit: Und so rüstete er sich mit ernstem Antlitz zu dem letzten Kampf, den er herannahen fühlte. Je höher das Bild seines Gottes emporstieg, desto tiefer verblaßte das Bild der Welt, der Menschheit, und er sah ihm [Dr. Plurr] nur in die Augen, um zu wissen, wann es Zeit sein würde, die Büchse zu heben und die Fackel der Vernichtung zu entzünden.37

Der Schluss berührt sich eng mit der Philosophie Friedrich Nietzsches.38 Das vorletzte Kapitel „Das Frühlingsopfer“ nimmt den Gedanken des „Honigopfers“ aus Also sprach Zarathustra wieder auf, und das letzte Kapitel heißt bezeichnenderweise „Die Götterdämmerung“. Indem Henner Wittig den gesamten Wald in Feuer aufgehen lässt, nimmt er eine kompromisslose Tempelreinigung vor und entzieht das Heiligtum gleichzeitig dem sakrilegen Zugriff der neuen Zeit. Seine Äußerungen sind jetzt ein Echo dessen, was Nietzsche im Zarathustra über den Schaffenden sagt, wenden die Gedanken jedoch in das Pantheistische: „Ich kann Götter töten und Götter erschaffen! Ich kann den Tempel zerstören, ich kann die Altäre stürzen und das Bild Gottes vernichten, aber sein Odem führt weit über die Welt […] Er ist nicht einzig, er ist überall […] er ist ewig und unendlich …“.39 Das Ende des Romans schließt mit dem Bild der Kahnfahrt, das seit der Antike mit seinem festen Bedeutungsinhalt Wandel in ein anderes Sein versinnbildlicht. Man denke nur an die Kahnfahrten in der romantischen Lyrik. In dem berühmten Gemälde „Überfahrt am Schreckenstein“ (1837) von Adrian Ludwig Richter konzentriert sich der Geist einer ganzen Epoche. Zeitgleich mit Die Magd des Jrgen Doskocil erscheint Jochen Kleppers 36 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 589. 37 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1. S. 583. 38 Nicht ohne Grund erscheint der Roman Der Totenwolf 1922 im Leipziger Verlag Naumann, der dem Sohn des ersten Nietzsche Verlegers gehörte. Offensichtlich spielten die Nietzsche-Fermente bei der Aufnahme in das Verlagsprogramm eine Rolle. Später gelangt Ernst Wiechert allerdings zu einer sehr differenzierten Sicht Nietzsches, so z. B. in Jahre und Zeiten: „Daß das Übermenschliche mit dem Unmenschlichen unlösbar verbunden war, brauchte ich nicht mehr aus Nietzsches Büchern zu lernen“ Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 613. – Aufschlussreich ist auch ein Vergleich des Romans Der Totenwolf mit dem Roman Der Werwolf. Eine Bauernchronik (1910) von Hermann Löns. 39 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 617. – Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Leipzig 1930, vgl. S. 261 – 265.

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Roman Der Kahn der frçhlichen Leute. 40 Die nächtliche Kahnfahrt von Henner Wittig symbolisiert die Erlösung von der bestehenden Welt und die Fortsetzung der Gottsuche in einer anderen Welt. In Jahre und Zeiten nennt Ernst Wiechert den Roman „ein Buch der Sehnsucht“ und merkt dazu an: Noch wußte ich nicht, wo hinaus es mit mir gehen würde. Nicht einmal, ob ich das nackte Leben retten würde aus dieser Welt des Todes. Nur das wußte ich, daß ich mich retten müßte in eine andere Welt, und wenn sie auch nur auf den weißen Blättern stand, die ich mit meiner Schrift bedeckte.41

Der Totenwolf (entstanden 1922) ist die Schilderung einer qualvollen Gottsuche aus dem Bewusstsein einer sich selbst zerstörenden Welt. Lässt die Eigenart des Romans heute viele Leser ratlos zurück, wenn nicht gar ablehnend, so findet man Zugang, bedenkt man, dass sich hier Sprache und Gedankengänge Nietzsches mit der symbolistischen Todeseindringlichkeit des damals viel beachteten Dramatikers Maurice Maeterlinck verbinden. Sowohl im Wald als auch im Totenwolf muss überdies eine damals weit verbreitete Grundstimmung zum Ausdruck gekommen sein, die dem Empfinden vieler junger Menschen entsprach. Nicht ohne eine gewisse Form von Irritation erinnert sich Ernst Wiechert rückblickend, „daß junge Menschen diese Bücher [Der Wald, Der Totenwolf] vielfach wie eine Offenbarung aufgenommen haben und mich noch heute vorwurfsvoll daran erinnern als an etwas Großes, das ich nun verraten hätte“.42 Vermag sich der Dichter auch nicht ganz vorbehaltlos zu seinen ersten drei Romanen zu bekennen, so geht aus dieser Bemerkung jedoch hervor, dass die damalige jüngere Generation die hierin angelegte Tendenz der Offenbarung und Erlösung erkannte und sich davon angesprochen fühlte. Wolf Wiedensahl, der Welteroberer und Welterneuerer, verkündet als Prophet einer neuen Ordnung den Tod des alten Gottes. In einer Zeit der Götterdämmerung folgt er Nietzsches Lehre vom freien Tode. Die Menschen seiner Umgebung wertet er lediglich als „Tempelschänder“ und als „letzte Menschen“. Sein Streben nach Umwertung aller Werte lässt ihn auch die letzten Tafeln zerbrechen. In der Vorahnung eines anderen Gottes strebt er nach der großen Stunde, in der er sich als Selbstopfer mit dem Göttlichen vereinigt. In seinem Krieg mit 40 Jochen Klepper: Der Kahn der fröhlichen Leute. Stuttgart 1933. 41 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 490. 42 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 482.

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der Menschheit wird er zu einem „zwangsgetriebenen Zerstörer, der die Erde zerschlägt und dessen Blicke die neue Saat erst hinter Schleiern der Ferne sehen“.43 Die bereits bildkräftigen Gedanken Nietzsches werden von Ernst Wiechert in sein eigenes Symbolsystem übertragen und bilden hier die Partitur seiner Aussage. Noch während sich Wolf Wiedensahl als Kind in die Welt tastet, strebt er nach der für ihn gültigen Offenbarung: „Zwischen Tag und Sternen glitt des Knaben Seele durch die Zeit […] Da würde Gott schweigend stehen und ihm die Waffen reichen, da würde der Feind sein und der Kampf und der Tod. Da würden die Masken fallen, die die Welt verhüllen und das Leben, da würde man wissen, wozu man über die Erde ging“.44 Die Szenen der Qual, der Zerstörung und des Tötens überlagern und verdichten sich mit einem derartigen Grad an Intensität, dass eine Entladung nicht mehr aufzuhalten ist. Am Ausgang seines Lebens sieht sich der Totenwolf in einer Situation, in der Offenbarung und Erkenntnis, Tod in der alten Ordnung und neues Leben in einer anderen Welt zusammenfallen: An dem Wendepunkt des Lebens, nach Kerker, Brand und Qual, vor den Stufen des neuen Weges, den die Sterne der nächsten Nacht schon überleuchten sollten, gewann die Seele des Heimatlandes noch einmal Gestalt, schob die Wände des irdischen Lebens auseinander und enthüllte noch einmal die fiebernd geträumte Ferne, das neue Land, das neue Haus, den neuen Gott.45

Die letzte Erkenntnis ist der Schritt in den Tod. Wieder stößt man am Ende des Romans auf die Meeressymbolik und die Metapher der Kahnfahrt als Verweise auf Erlösung und Entgrenzung des Ich. Während Peter Holm in Die Flucht Hand an sich legt, stirbt Wolf Wiedensahl durch die Kugel der Menschen, die er bekämpft, nicht ohne vier von ihnen mit in den Tod zu reißen. Der Augenblick des Todes ist ein Moment „greller Klarheit des Bewusstseins“.46 Er stirbt in dem Bewusstsein, „Gottes Werkzeug“47 zu sein und erkennt: „[…] die Welt ist der Liebe nicht reif“48. Der Mensch muss erst das Stadium des ab-

43 44 45 46 47 48

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2,

S. 244. S. 111. S. 245. S. 248. S. 250. S. 252.

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soluten Hasses durchlaufen, ehe er die vollkommene Liebe erlangen kann. Das Verhältnis des Dichters zu seinen ersten drei Romanen ist höchst gespalten. So konzidiert er: „Psychologen und Psychoanalytiker mögen daraus eine Reihe mehr oder weniger zuverlässiger Erkenntnisse gewinnen“.49 Nicht ohne Grund verweist er in diesem Zusammenhang auf den psychologischen Bereich, denn die Niederschrift dieser Romane war ganz offensichtlich ein notweniger Akt der Selbsttherapie, wenn auch das Ergebnis mit einigem Unbehagen registriert wird, weil „[…] ich diese Bücher nicht über mich hinaus, sondern gegen meine Natur schrieb. Sie waren nicht eine Korrektur meines Seins, nicht eine Ergänzung. Sie waren ein unheilvoller Rausch, und sie waren Spiegelbilder eines Lebens, das noch keinen neuen Grund gefunden hatte“.50 Und dennoch war die Niederschrift nötig, denn sie war der Versuch des Autors, Erlösung zu erlangen und sie war zugleich die Intention, diesen Versuch literarisch zu gestalten. Zwar war dieser Versuch nicht hinreichend: „Auch erlöste das Buch [Die Flucht] mich nicht. Und wie sollte Verzweiflung erlösen können?“,51 aber sie war im Sinne der literarischen Entwicklung absolut notwendig. Der Dichter selbst betont dies, wenn er über seine ersten Romane sagt: „Mit ihnen erst wurde ich frei für die reine Menschlichkeit, die ich, als ein unendliches Ziel, nie mehr aus den Augen verloren habe“.52

Streben nach Erlösung und kein Ende Der in Jahre und Zeiten als zentrales Anliegen herausgestellte Hinweis, dass nach der frühen Phase das Prinzip der ,Humanitas‘ immer mehr in den Vordergrund drängt, schließt keineswegs aus, dass die in den ersten drei Romanen angelegten Grundmuster weiter entwickelt und differenziert werden. Unschwer lässt sich dies in den folgenden Werken nachweisen. In Der Knecht Gottes Andreas Nyland (entstanden 1925/26) gewinnt das Element der Offenbarung eine ganz besondere Bedeu-

49 50 51 52

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9,

S. 512 – 513. S. 513. S. 451. S. 483.

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tung.53 Zwar verwendet der Roman die Versatzstücke einer realen Welt, aber diese dienen in ihrer eigentlichen Funktion als Symbole einer grundsätzlich religiös verstandenen Welt. Die einzelnen Episoden des Romans gleichen den Stationen eines Kreuzweges. Das Wiederauftreten der Figuren in immer unterschiedlichen Situationen verdeutlicht überdies den allegorischen Charakter. Die Bezüge zu Dostojewski lassen außerdem erkennen, dass Ernst Wiechert hier Gedanken des russischen Dichters zur Gottsuche aufgreift. Aber im Vergleich zu den frühen Werken wird deutlich, dass er hier zu einer weitaus eigenständigeren Sprache und Form findet. Zwar ist die Sprache durch die Metaphorik der Bibel geprägt, aber aus der diskursiven Beziehung von Text und Subtext erwächst eine neue Sprache, die über das Alte hinausgreift. Durch die Art der Sprache ist das Geschehen auch nicht mehr zeitgebunden, sondern spielt sich in einem zeitlosen Raum ab, der fast gleichnishaften Charakter hat. Das dem Roman vorangestellte Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Dem unbekannten Gott“ fasst die Gedanken der vorausgegangenen Werke in gedrängte Form zusammen. Nur wenige Zeilen mögen dies veranschaulichen:

Ich hab’ die Schale dir gefüllet Mit Blut und Leid … jetzt bin ich leer. Ich hab’ das Schwert auf dich geworfen, Ich nahm das Kreuz: dein Lächeln blieb. Mein Haß wie meine Liebe gingen Durch deine Ferne wie ein Sieb.54

Die hierin angesprochenen Themen von Leiden, Qualen, Kämpfen und Teilhabe an dem anderen Göttlichen führen in das Zentrum des Romans. Auch der Kandidat der Theologie Andreas Nyland sagt von sich „Ich bin aus dem Walde oder aus den Wäldern. Sie sind groß und weit“.55 und umschreibt damit die Art seines Wesens. Wie der Totenwolf oder Michael Fahrenholz hat auch er das Grauen des Krieges hinter sich und tritt im doppelten Sinne aus der Gefangenschaft in die Welt, die er als Tal der Tränen erlebt. Als „Bruder Christi“ trägt er „Das 53 Ernst Wiechert: Der Knecht Gottes Andreas Nyland. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 254 – 634. 54 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 257. 55 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 265.

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Leid des Menschen, der seinen Gott begräbt“.56 Seine Taten, die an die Wunder Jesu erinnern, lässt ihn selbst den „Hauch der Erlösung“57 verspüren. Was ihn umtreibt, ist der Drang, den Menschen zu seiner Erlösung zu verhelfen. Auf dem Gut des Herrn Bulck, das als „Reich des Bösen“ geschildert wird, muss er bei allen wundertätigen Erfolgen jedoch erkennen, dass eine wirkliche Erlösung nur durch reine Wahrhaftigkeit möglich ist: Aber plötzlich, ohne Übergang und Anlaß, hörte er […] eine laute Stimme in seiner Brust. Sie sprach nicht vernehmbare Worte, sie war wie unter Decken erstickt, aber sie rief, drängend beschwörend, sie jammerte, sie schrie, so daß er in seinem Zimmer aufsprang. […] Sein Blick fiel auf das weiße Kruzifix, das vom Altar in mattem Schimmer leuchtete, und in jäher Wendung, als stoße ihn Gottes Hand, kehrte er um […] 58

Jetzt verfügt er über die Kraft, im „Reich des Bösen“ die Lüge auszuräumen und damit den Heilsweg für sich und andere zu gewinnen. Aus der lauteren Wahrheit bezieht er zugleich die Stärke, sich noch in der Hochzeitsnacht von der ihm angetrauten Martha Bulck zu trennen, weil diese sich durch Abtreibung gegen das Leben versündigt hat. „[…] wie ein Bettler kam ich her, und wie ein König gehe ich davon“59 sagt er von sich, als er den Gutsbezirk verlässt. Noch entschiedener als zuvor folgt er seiner Berufung als Erlöser, allerdings noch immer nicht ohne Anfechtungen. In dem ehemaligen Klassenkameraden Kascheike trifft er eine weitere Verkörperung des Bösen. Als er erfährt, dass Kascheike den von ihm liebevoll beschützten einäugigen Hund, das Sinnbild seiner Anima, brutal getötet hat, brechen aus ihm die Worte Jesu am Kreuze hervor: „,Mein Gott‘, flüsterte er, ins Leben zurücktastend, mein Gott, weshalb hast du mich verlassen?‘“60 Die Gegenbewegung erfolgt in Form einer Offenbarung. Der zweite Teil des Romans setzt ein mit dem langanhaltenden Ruf eines im Moor Versinkenden. Diese Beschreibung des Menschen, der seinen Gott verloren hat, erfährt ein Gegenbild in den über dem Moor kreisenden Vögeln. In dieser Situation vernimmt Andreas Nyland den Ruf Gottes:

56 57 58 59 60

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2,

S. 291. S. 283. S. 412. S. 418. S. 468.

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In den Knien lag Andreas, die blinden Augen mit den Händen deckend. Nachtleuchtend wie einer Flamme Glanz sah er das Bild der Vögel, und in dem Schmerz, der ohne Erbarmen war, wußte er, daß Gott gerufen hatte, den Namenlosen und ihn selbst. Und nach drei Tagen und Nächten ging er aus der Öde in das Leid, und er wußte, daß er in der Rüstung war.61

Diese Worte spielen an auf die Worte Christi am Kreuz und verweisen auf die Auferstehung. Nach dem Beispiel Christi überwindet auch Andreas Nyland nach drei Tagen und drei Nächten die Anfechtung: Im Glauben gefestigt, kehrt er nunmehr als Erlöser aus seiner Isolation in die menschliche Gemeinschaft zurück. Nach langer Wanderschaft erfährt er eine weitere Offenbarung, die ihm seinen Schicksalsweg weist. Die Rückkehr auf das Gut seines Schwiegervaters lässt in ihm die Gewissheit reifen, dass ein weiteres Zusammenleben mit seiner Frau Martha unmöglich ist. Sie, die als Fortführung von Margot Mertins in Die Flucht von sinnlicher Besessenheit geprägt ist, erweist sich als eine Mischung aus Medusa und Salome. Für sie sind Sündenfälle „das Schönste auf der Erde“.62 Es erschüttert Andreas Nyland daher zutiefst, als er entdeckt, dass der zarte blinde Junge im Gutshaus mit dem Namen des Propheten Johannes sein Sohn und doch nicht sein Sohn ist. Johannes ist die Frucht von Kascheikes Beziehung zu Martha: Ein Schrei gellte durch alle Räume des weiten Hauses, ein heiserer, aufspringender und jäh zerbrechender Schrei, von einem dumpfen Laut gefolgt. Dann klang des Weinen des Kindes durch das sich wieder schließende Schweigen. Sie fanden ihn [Andreas Nyland] auf den Dielen des Ganges, besinnungslos, den Strick zusammengerollt in den Händen, und trugen ihn in sein altes Zimmer. Sein Antlitz sah aus, als habe eine furchtbare Erscheinung es mit kalter Hand berührt und für immer gezeichnet.63

In der schmerzlichen Entdeckung des nicht von ihm stammenden und doch als Sohn angenommenen Kindes wird Andreas Nyland deutlich, dass sich der Leidensweg, die Qualen, das Suchen, das Streben nach Erlösung in der Generationsfolge immer wiederholen wird. Und stets vermag der Mensch in diesem Leben das letzte nicht zu erkennen; als Blinder bleibt er stets ein Tastender. Damit werden auch die für den Menschen geltenden Grenzen der Erlösung deutlich. Zwar erlöst Andreas Nyland den alten Bulk. Dieser wandelt sich von der Verkörperung 61 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 2. S. 487. 62 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 621. 63 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 582.

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des Todes zu einem liebenden Großvater. Aber es ist Andreas Nyland nicht möglich, seinen Sohn zu erlösen: Johannes Nyland ertränkt sich, ohne dass der Vater ihn retten kann. Erst durch den Tod erlangt Johannes die erstrebte Gottesnähe, erst der Tod macht den blinden Jungen sehend. Angstvoll klingt dies bereits in einem Gespräch mit dem Vater an: „,Wenn ich einmal tot bin‘, sagte das Kind, ,werde ich dann auch sehen?‘ ,Gewiß, Johannes, Gott wird den Schleier von deinen Augen nehmen, und du wirst mehr sehen als wir‘“.64 Der Besuch des Meeres durch Andreas Nyland ist eine symbolische Vorwegnahme seiner Umwandlung und Entgrenzung. Auf der Rückreise löst der anfahrende Zug eine weitere Offenbarung aus: Dann begannen die Räder sich zu drehen, und Andreas, der zu den Winkenden zurückblickte, wußte, daß es die Lösung vom Menschen war, die ihn ergriff, und daß Gott vernehmlich zu ihm gesprochen hatte: ,Gehe aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft in ein Land, das ich dir zeigen will‘.65

Am Anfang des Romans steht eine Szene, in der Andreas Nyland zu Weihnachten das von ihm vor zehn Jahren vergrabene Kruzifix wieder aus der Erde holt und an seinen rechtmäßigen Platz in der Kirche zurückbringt. Das zweitletzte Kapitel trägt die bezeichnende Überschrift „Bethlehem“. Hier lässt Andreas Nyland auf dem Gelände des Gutes seines Schwiegervaters ein Haus errichten. Aus dem biblischen Stall von Bethlehem wird ein stattliches Haus. Aber: „Das Haus war ein Totenhaus. […] Nirgends war das stille Schutzgefühl geschlossener Räume“.66 Die letzte Mauer reicht „an das Unendliche“, denn für die Bewohner des Hauses kennt das Streben nach Erlösung kein Ende. Der Mensch wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen; er kann seinen eigenen Willen nicht von Gott herleiten. So muss Andreas Nyland erkennen: „Er [Gott] will immer das andere. Er will nicht, daß wir erlösen mit unseren plumpen Händen“.67 Der Mensch kann nur Knecht Gottes, jedoch niemals selbst Erlöser sein. Diese Fähigkeit steht allein Gott zu. So vollzieht sich am Ende dieses Romans jene Bewegung, die sich auch in den anderen Werken findet. Der Held tritt „aus der Zeit wie aus einem Raume heraus, verrinnend wie ein Strom“68 64 65 66 67 68

Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke, Werke,

Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2,

S. 609. S. 603. S. 615. S. 620. S. 634.

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und taucht ein in die Göttlichkeit eines symbolischen Waldes. Von Andreas Nyland heißt es: „Es wurde erzählt, daß er das Moor verlassen habe und in weiter Ferne in großen Wäldern lebe“.69 Begann der Roman mit einer Gegenhandlung zur Grablegung Christi, so endet das letzte Kapitel „Und Gott begrub ihn“ mit dem Hinweis auf die Übereinstimmung von Moses und Andreas Nyland: „[…] daß Gott ihn begrub in einem Tale, und daß niemand sein Grab gesehen hat bis auf diesen heutigen Tag“.70 Bei aller konkreten Bildlichkeit wird Andreas Nyland damit der Realität enthoben und zu einem zeitlosen Beispiel menschlichen Strebens nach Erlösung gemacht.

Jenseits der bestehenden Welt In Die Magd des Jrgen Doskocil (entstanden 1932) kristallisiert die Problemdarstellung in dem Bild der Kahnfahrt und dem damit verwandten Bild des Fährmanns.71 Unter Hinweis auf die antike Metapher des Fährmanns hat Ernst Wiechert 1933 in seinem Eassay „Geleit in die Heimat“ dieses Bild mit den folgenden Worten gedeutet: Sie sagten in alter Zeit, daß der Fährmann die Toten geleite über das dunkle Wasser bis an das jenseitige Reich. Es war schön, daß sie eine Brücke des Übergangs bauten, vom Bekannten in das Unbekannte hinein, und es muß schön gewesen sein, seine Hand zu fassen, eine gleitende Hand, die von den Riegeln der kommenden Tore wußte. Und es ist schön, zu wissen, daß ich die Hände derer nehmen soll, die in das Tor meiner Heimat eingehen wollen, als ein Fährmannn zum Rand ihrer Seele. Nicht als ein Führer der Toten in ein totes Land, aber als ein Führer der Unbekannten in ein unbekanntes Land.72

Auch hier wird wieder deutlich, dass sich Ernst Wiechert als Autor in seine Texte einbringt. Der Fährmann Jürgen Doskocil wird damit zu einer auktorialen Projektionsfigur, er agiert innerhalb der fiktionalen Welt als Stellvertreter des Autors. Wie der Dichter auch, stellt er als Fährmann die Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Welten her. In der Kahnfahrt, die sich als Bild durch den Roman zieht, ist daher bereits der Erlösungsgedanke angelegt. Wie ein aus der Natur er69 Wiechert, Sämtliche Werke, 70 Wiechert, Sämtliche Werke, 71 Ernst Wiechert: Die Magd Werke, Bd. 4, S. 5 – 177. 72 Wiechert, Sämtliche Werke,

Bd. 2, S. 634. Bd. 2, S. 634. des Jürgen Doskocil. In: Wiechert, Sämtliche Bd. 10, S. 599.

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wachsener menschlicher Atavismus ragt der Fährmann Jürgen Doskocil in die ländliche Gemeinschaft hinein, die in diesem Teil Ostpreußens bereits ursprünglich genug ist. Als Verkörperung eines naturhaften Lebens fern der zivilisatorischen Normen sieht es sich den ständigen Anfeindungen seiner Umgebung ausgesetzt. Zum Brennpunkt der Auseinandersetzungen wählt der Roman das Problem der Sexualität und greift somit ein im öffentlichen Diskurs der Weimarer Zeit höchst brisantes Thema auf. Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges hatten in nahezu allen Bereichen zu einem völlig neuen Körperverständnis geführt und das Verhältnis der Geschlechter zueinander geradezu revolutioniert. Es war nicht nur so, dass in den Großstädten alle Hemmungen fielen und Josephine Baker in ihrem berühmten Bananenkostüm über die Bühne tanzte, sondern durchaus ernstzunehmende Reformbewegungen, neue Theorien in der Pädagogik, revolutionäre Ansätze in der Psychologie und Soziologie und selbst unbürgerliche Positionen innerhalb bestimmter politischer Strömungen führten zu einem grundlegend gewandelten Verständnis der Geschlechterrollen.73 In diesen Diskurs schaltet sich Ernst Wiechert mit seinem Roman ein. Ausführlich und psychologisch detailliert wird die seelische und auch körperliche Beziehung von Jürgen Doskocil zu der mit ihm zusammenlebenden Magd Marte geschildert. Ihre Verbindung ist trotz aller Probleme und von außen kommenden Gefährdungen nahezu paradiesisch, weil sie, durchaus in Übereinstimmung mit damals propagierten Theorien, der Natur entspringt und frei ist von verklemmenden zivilisatorischen Normen. Die Antithese hierzu stellen die Werte und Verhaltensweisen der bestehenden zivilisatorischen Ordnung dar. Um die Fremdartigkeit des hieraus fließenden Denkens noch zu unterstreichen, wählt der Roman die aus den USA hereinbrechende Lehre der Mormonen aus. Vertreten wird sie durch den Prediger MacLean, eine uneingeschränkte Verkörperung des Bösen. Für Ernst Wiechert ist die Lehre der Mormonen der auf die Spitze getriebene Monotheismus, dessen Dogmen den Menschen nur in eine widernatürliche Lebensform zwingen kann. Diese Dogmen zerstören die ländliche Gemeinschaft und lassen sogar die Felder verdorren. Mehr 73 Gunter Schmidt: Sexualität und Spätmoderne: Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Stuttgart 1998. – Malte Hagener: Geschlecht in Fesseln: Sexualität zwischen Aufklärung und Ausbeutung im Weimarer Kino 1918 – 1933. München 2000.

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noch: unter dem Deckmantel von Heiligkeit und Frömmigkeit erlauben sie ihrem Wortführer MacLean, seine Machtgelüste in Form von perversen Sexualpraktiken auszuleben. Letztlich entfaltet sich damit vor dem ostpreußischen Hintergrund die zeitgenössische Kontroverse zwischen natürlicher Geschlechtlichkeit und zivilisatorischer Sexualität. Mit dem missionierenden Mormonenprediger MacLean, der unter Benutzung sophistischer theologischer Argumente seiner Frau Marte infam und lüstern zusetzt, hat Jürgen Doskocil zwei schicksalhafte Begegnungen. Beim ersten Mal verbiegt er mit seinen Bärenkräften ein in der Unterkunft MacLeans befindliches Kruzifix. Erst danach wird ihm bewusst, dass er damit gegen das Prinzip des Göttlichen rebelliert, wohingegen er die Person MacLeans als die pervertierte Vertretung des Göttlichen treffen möchte. Er sucht die Hütte MacLeans ein zweites Mal auf und biegt das Kruzifix in seinen alten Zustand zurück. Damit ordnet sich für ihn die auseinandergefallene Welt wieder, und er gewinnt neue Kraft. Symbolisch wirft er einen Stein ins Wasser, das wie eine beseelte Sphäre den Wandel zum Ausdruck bringt und mit seiner Reaktion auch den Kahn erfasst: „Das Wasser spritzte auseinander wie glühendes Metall, der stumpfe Schlag erschütterte das ganze Strombett, und der Kahn hob und senkte sich auf den Wellen, die in großen Kreisen über das Wasser liefen“.74 Während der folgenden Kahnfahrt erlebt der Fährmann seine zweite Offenbarung: Auch seine Gedanken hatten ein zweites Gesicht, das im Dunklen umherging, und alle stillen und bescheidenen Erkenntnisse seines Lebens pflegten sich nicht zu entwirren, langsam und mühselig, wie Fäden eines Gewebes unter vorsichtigen Händen, sondern plötzlich aus einem dunklen Hause herauszutreten, wie Kinder, die sich den Schlaf aus den Augen reiben.75

Das Bild der aus dem Schlaf erwachenden Kinder verweist auf Unschuld. Das Reine liegt in der Natur, das Sündhafte in der Dogmatik. Mit der Natur, der das Göttliche innewohnt, zu leben, heißt, auf dem Weg der Erlösung zu sein. Für den Status des Fährmanns und seiner Frau gilt: „Es gab keine Widersprüche oder Dunkelheiten, nur die Blindheit eines fanatischen Glaubens“.76 Selbst dort, wo man nach dem Gesetzbuch schuldig wird, bleibt man nach dem natürlichen Gesetz unschuldig. Marte wehrt sich gegen die psychologisch geschickt ein74 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 128. 75 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 128 – 129. 76 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 171 – 172.

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gefädelten sexuellen Expressungen MacLeans und in höchster Not ersticht sie ihn. Sie konnte nicht anders handeln, denn sie musste sich aus den Griffen MacLeans befreien, wollte sie Jürgen Doskocil ein Kind schenken: „Es ist sein Kind, das ich trage, seins allein, und er wird es Innozenz taufen, denn das heißt ,der Unschuldige‘“.77 Damit kehrt die Darstellung wieder zum Bild des Waldes zurück. Jürgen Doskocil trägt seine Frau aus dem Gerichtssaal, dessen Besucher sich gleichsam zu den Bäumen eines Waldes wandeln, die Reflektion des Bewusstseins von beiden: „… er nahm Marte behutsam in seine Arme und trug sie aus dem Saal, als seien keine Menschen um ihn, sondern ein schweigender Wald, zwischen dessen Stämmen er vorsichtig hindurchging“.78 Der Roman schließt mit einem visionären Bild, das in der Harmonie von Mensch und Natur das Ende des Leidensweges und den Wandel zu einer natürlichen Ordnung zum Ausdruck bringt. Auch hierin klingt der Erlösungsgedanke wieder an: Und er [ Jürgen Doskocil] sieht ein Feld mit grünen Halmen, die gelb werden und sich unter Ähren neigen. Und er sieht ein Kind, das unter diesen Halmen liegt und schläft, indes ein Mann und eine Frau das Korn schneiden und binden und die Garben aufstellen.79

Der Roman Die Majorin (entstanden 1933) greift das insbesondere im expressionistischen Drama vertretene Motiv des heimkehrenden Soldaten auf.80 Das Eingangsbild zeigt dann auch einen Mann, der über das Moor kommt und in expressionistischer O-Mensch-Manier beide Arme nach oben in den Himmel wirft. Es ist der totgeglaubte Soldat Michael Fahrenholz, der nach 20 Jahren eines verlorenen Lebens „am Rand der großen Wüste“81 als Opfer der Zivilisation in die Heimat zurückkehrt. Die Rückkehr in die Heimat ist jedoch kein Wiederfinden des alten Ich, denn auch sie ist von einer Zeit geprägt, in der „die Toten lange leben“.82 Selbst der Vater des heimkehrenden Soldaten kann seinen Sohn nicht als lebend anerkennen, und es muss erst eine Akte angelegt werden, die ihn als lebend registriert. Der vertraute Rhythmus des ländlichen Lebens entpuppt sich lediglich als die Verkleidung einer 77 78 79 80

Wiechert, Sämtliche Wiechert, Sämtliche Wiechert, Sämtliche Ernst Wiechert: Die 726. 81 Wiechert, Sämtliche 82 Wiechert, Sämtliche

Werke, Bd. 4, S. 170. Werke, Bd. 4, S. 175. Werke, Bd. 4, S. 177. Majorin. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 179 – Werke, Bd. 4, S. 188. Werke, Bd. 4, S. 256.

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Totenwelt. Auch Michael Fahrenholz, der das Trauma von Krieg und französischer Kriegsgefangenschaft mit sich herumschleppt, reiht sich trotz seiner bitteren Erfahrungen in diese Welt ein. Als Leidender fügt er auch anderen nur Leid zu. Infolge seiner psychischen Deformation findet er nicht die Kraft, nach einem Weg der Erlösung zu suchen: „Und ein Mann, der die Arme hebe, könne dabei sehr weit vom Beten entfernt sein“.83 Gleich zu Beginn des Romans findet eine schicksalhafte Begegnung des heimkehrenden Soldaten mit der Herrin eines großen ostpreußischen Gutes statt. Diese wird allgemein nur die „Majorin“ genannt; man erfährt auch noch, dass sie Baronin ist, aber ansonsten bleibt sie in seltsamer Weise fast wie eine allegorische Figur namenlos. Da sie durch den Tod ihres Mannes in Frankreich, durch den Kosakeneinfall, durch Revolution und Inflation sowie durch missgünstige Nachbarn ebenso gezeichnet ist wie der Heimkehrer, versteht sie ihn sehr gut und versucht, ihn in das Leben zurückzuführen. Ihre Maßnahme, ihn als Waldhüter in einer abgelegenen Hütte einzusetzen, ist als Therapie durchaus der richtige Weg. Da nun aber beide mit versteinerten Herzen aneinander hängen, vermag in dieser Konstellation auch der Wald keine heilsame Wirkung auszuüben. So wie Michael Fahrenholz kann auch die Majorin nicht zur Natürlichkeit zurückfinden, weil sie sich in diesem Zustand „nackt“ finden würde: „Und nun zittert die Majorin, weil sie nackt ist. Jedesmal, das sie in der Hütte gewesen ist, ist sie nackt gewesen, ein preisgegebener Mensch vor den Augen eines Fremden“.84 Dies gilt nicht nur in ihrer Beziehung zum Waldhüter, sondern wird auch ausgeweitet in Bezug auf die menschliche Gemeinschaft: „Sie sieht sich selbst gerade und unberührt über ein Totenfeld gehen […] und sie hat nichts anderes zu verschenken außer ihrem Kleid, und sie kann doch das Kleid nicht abstreifen und nackt unter allen Toten stehen“.85 Die Erlösung kann nur durch das Abstreifen des zivilisatorischen Kleides erfolgen. Hier stößt man wieder auf die Thematik des vorausgegangenen Romans Die Magd des Jrgen Doskocil. Im Vergleich zu den Darstellungen des Waldes in den anderen Werken hat er hier einen etwas anderen Charakter. Als mythische Sphäre ist er geprägt von der Allgegenwart eines „Totenvogels“, einer Eule, deren Schreie wie das Echo des Weinens der vielen Toten klingt. 83 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 249. 84 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 269 – 270. 85 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 287.

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Erst nach langen Mühen gelingt es Michael Fahrenholz, diesen „Totenvogel“ zu erlegen. Durch diesen Akt ist der Kreislauf des Todes gebrochen: „Ein neuer Schein, der aufflammt über der ganzen Welt“,86 macht sich plötzlich bemerkbar. Nunmehr kann der Leidende aus dem Schatten seines Traumas heraustreten und eine andere Welt gewinnen: „Und hier schon, an dieser Stelle, geschieht das Merkwürdige, daß der Jäger die Augen niederschlägt vor der Freiheit und nach innen sieht“.87 Jetzt entdeckt er, „daß der Spaten wohl nicht schlechter sei als ein Gewehr, und das sei für ihn immerhin eine große Entdeckung, weil er geglaubt habe, niemals mehr einen Spaten anfassen zu können“.88 Und zugleich vollzieht sich mit der Majorin ebenfalls ein grundlegender Wandel, indem sie aus der todesähnliche Erstarrung heraustritt und „ein reines Herz“ wiedergewinnt: Ganz aus der Nähe sind die Augen der Majorin ein unbegreifliches Wunder für den Jäger. Es ist nicht der Kranz von kleinen goldenen Sternen, der auf dem blauen Untergrunde schwebt, sondern es ist die tiefe Stille, aus der er heraufsteigt, das von Innen leuchtende und Erwärmende, das er vielleicht nicht mehr gesehen hat, seit er ein kleines Kind gewesen ist.89

Der Roman schließt mit einem tableauartigen Bild, das die Vision am Ende von Die Magd des Jrgen Doskocil verwirklicht: Der Jäger Michael schneidet das Getreide und die Majorin bindet die Garben. Die Majorin erscheint jetzt „ohne ihren Reitanzug und die hohen Stiefel“90 und bekennt sich über alle Schranken hinweg zum Jäger Michael. Zusammen verkörpern sie das Beispiel einer neuen Ordnung. In Das einfache Leben (entstanden 1938/1939) verlässt der demobilisierte Korvettenkapitän Thomas von Orla die fiebrige Großstadt der Inflationszeit und begibt sich in das weite Land des Ostens mit seinen schweigenden Wäldern.91 Bereits während er sich den weiten Wäldern Ostpreußens nähert, scheint es ihm, als sei hier die Antwort auf all jene Fragen verborgen, die seine Entwurzelung ausgelöst hat: „Indessen wuchs das Gesicht der Wälder immer näher und deutlicher in ihm auf, und es war ihm, als sei dort eigentlich erst das verborgen, was den Sinn 86 87 88 89 90 91

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 311. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 316. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 306. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 332. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 331. Ernst Wiechert: Das einfache Leben. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 357 – 726.

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der Landschaft ausmachte und dazu auch das, was zu suchen er ausgezogen sei.“92 Strukturell verbindet der Roman zwei zentrale Motiv: die Kahnfahrt und die Insel.93 Thomas von Orla lässt sich in einer halbzerfallenen Fischerhütte auf einer kleinen Insel in einem masurischen See nieder. Der Graf Natango Pernein mit seinem Schloss und der General mit seinem Gut am Seeufer wirken dabei wie Mittlerstationen zwischen der Insel und der Außenwelt. Die Kahnfahrt von und zur Insel wird mehr und mehr symbolisch aufgeladen und gewinnt damit allmählich den Charakter einer Erkenntnisreise in eine andere Wirklichkeit. Aus der Art der Darstellung geht der Symbolcharakter der Kahnfahrten unverkennbar hervor: Er fuhr stehend hinüber, da die Ruderbänke naß waren. Das Boot hatte einen flachen Boden, und mit jedem Schlag des langen Ruders hob die Spitze sich leise rauschend aus dem Wasser. […] Es war ihm, als sei er immer so gefahren, als brauchte er nicht aufzuhören und als seien Schiffe und Meer nur ein Traum gewesen, eine gespenstige Vergrößerung aus unruhigem Schlaf, und nun ziehe sich alles wieder zurecht zu geordneter und bescheidener Wirklichkeit. Der flache Kiel stieß leise auf den Sand des Ufers, und er stieg aus.94

„Er wollte nur eine Welt erfahren, die er nicht kannte“,95 heißt es über die Ausgangssituation von Thomas von Orla. Auf der Insel, dem Urbild der Utopie, gewinnt er die erstrebte Erkenntnis, und es offenbart sich ihm eine neue Welt. Der konzentrierte Raum der Insel führt zu einer Intensivierung der Einsichten, er wird gleichsam ein Robinson der Erkenntnis. „Er habe das Meer fahren lassen und sei ein Mann der Insel geworden“96 heißt es am Ende über seine Welthaltung. Bei seinem Ausbruch aus der Großstadt suchte er in seiner seelischen Not einen Pfarrer auf, der ihn auf den 90. Psalm hinwies: „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz“.97 Auf er Insel erschließt sich ihm der Sinn dieser Aussage, und er vermag unter den Bedingungen des ,einfachen Lebens‘ eine neue Wahrheit daraus abzuleiten: „Wer einmal die Phrase 92 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 387. 93 Vgl. Horst Brenner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur. Stuttgart: Hetzler, 1967. (Germanistische Abhandlungen, Bd. 21) 94 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 408. 95 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 371. 96 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 723. 97 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 377.

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hinter sich gelassen hat, für den ist der Pflug oder das Ruder oder die Büchse oder der Spaten kein Ersatz glaube ich, sondern die Wahrheit, eine einfache, unverdorbene und große Wahrheit“.98 Er war ausgezogen um seinen neuen Gott zu suchen, jenseits des traditionellen christlichen Gottes: „Ich muß ganz von vorne anfangen. Mein alter Gott ist gestorben, und der neue noch nicht auf den Thron gestiegen. Ich weiß noch nicht einmal, wie er aussehen wird“.99 Eines ist ihm jedoch gewiss, dass es nicht der gepredigte christliche Gott sein wird, „von dem“, wie er als Kriegsteilnehmer sagt, „man anstimmen wird: ,Nun danket alle Gott!‘, wenn man eben tausend oder zehntausend Menschen erschlagen hat“.100 Die letzte Kahnfahrt zur Insel ist ein bewusster Akt der Trennung von dem Bestehenden, denn alte Welt und neue Welt sind miteinander unvereinbar. Das Leiden an der Welt hat für Thomas von Orla auf seiner Insel ein Ende gefunden, denn hier kann er nach jenen Gesetzen leben, die sich ihm offenbart haben. Über der Insel liegt der Abglanz der eigentlichen, göttlichen Ordnung. Heißt es in Die Majorin, dass der Jäger Michael und die Majorin gemeinsam die „Krone“ als Symbol der eigentlichen Ordnung erlangt haben, so bleibt die „Krone“ in Das einfache Leben als Verheißung auf dem Grund des masurischen Sees liegen. Aber nur derjenige, dem die Offenbarung zuteil wurde, weiß um die Existenz dieser Krone. Und so ziehen, wenn man von der Insel über das Wasser blickt, nächtlich Zeichen auf, die von der „Krone“ künden. Am Ende des Romans heißt es entsprechend: „Und manchmal konnte man es in den Nächten über das Wasser blitzen sehen, einen stillen, rötlichen Schein, und konnte meinen, daß er von der goldenen Krone herrühre, die auf dem Grunde lag“.101 Noch bleibt der Mensch unerlöst an seine bisherige Existenzform gebunden.

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Wiechert, Wiechert, Wiechert, Wiechert,

Sämtliche Sämtliche Sämtliche Sämtliche

Werke, Werke, Werke, Werke,

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S. 617. S. 619. S. 620. S. 726.

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Liebe und Weltwandel In dem programmatischen Titel Missa sine nomine (1950) kommt bereits der Wandel vom Opfer zur Vollendung zum Ausdruck.102 Wieder kreuzt sich der literarische Weg Ernst Wiecherts mit dem Werk Selma Lagerlöfs. Die Gösta Berling eng verwandte Figur Sven Liljecrona des Romans Liljecronas hem/Liljecronas Heimat (1911) findet in der Figur des Freiherrn Amadeus von Liljecrona bei Ernst Wiechert eine Entsprechung.103 Wie sein Vorbild erlangt der Freiherr nach einem langen Leidensweg durch die Überwindung des Ich seine Vollendung in der Liebe und kann damit auch seine Welt verwandeln. Ganz ähnlich dem Ausklang von Gçsta Berling ist auch das Ende von Missa sine nomine durch eine vorparadiesische Atmosphäre gekennzeichnet. Damit münden beide Werke in den Erlösungsgedanken ein. Obgleich man hinsichtlich der literarischen Qualität den Einwand gelten lassen muss, dass sich politische Zeitbezüge und christologische Elemente in fast schon aufdringlicher Weise häufen, kommt man nicht umhin, die eigenständige Sprache und Bildlichkeit anzuerkennen. Ernst Wiechert geht von dem linearen Erzählduktus ab und gestaltet ein Geflecht episodischer Szenen, die mit impliziter und auktorialer Sinndeutung verschmelzen. Nach dem Muster der anderen Werke nimmt der Freiherr Amadeus von Liljecrona das Kreuz auf sich, um den Menschen von der Last seiner Sünden zu befreien. Barbara, die 17jährige Tochter seines Försters Buschan, der ihn bei den Behörden denunzierte, ist immer noch der nationalsozialistischen Weltanschauung verfallen. Das Kind, das sie von einem ehemaligen Henker des Regimes erwartet, gleicht einer Frucht des Bösen. In ihrem Hass gegen Amadeus geht Barbara sogar so weit, dass sie drei jüngere Männer veranlasst, ihn zu ermorden. Der Anschlag schlägt fehl, aber der Freiherr wird schwer verletzt. Dennoch spürt er die wachsende Verpflichtung, die junge Frau aus ihrer Besessenheit zu befreien und dem Kind eine Geburt in Unschuld zu ermöglichen. Der Weg zu dieser Entscheidung öffnet sich für Amadeus in außerrationaler Weise als Offenbarung: Nun würde eine schwere Zeit kommen, zusammen mit der ,jungen Frau‘, und noch immer wußte er nicht, wie er sie in eine gute Zeit verwandeln 102 Ernst Wiechert: Missa sine nomine. In: Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 5 – 441. 103 Selma Lagerlöf: Liljecronas Heimat (Liliecronas hem). 1911.

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würde. Aber es würde ihm eingegeben werden, davon war er überzeugt. Nicht vom Verstande eingegeben. […] ohne Nachdenken, leise, so leise, wie der Tau eben auf sie fiel.104

So wie Andreas Nyland Marthas Kind vom Teufel Kascheike angenommen hat, so tritt Amadeus jetzt als Vater des Kindes ein, das Barbara vom „Dunklen“ hat. Wie auch im Falle von Andreas Nyland wird die Darstellung von christologischen Elementen bestimmt: „Einmal muß das Jesuskind gekommen sein“, sagt Amadeus zu Barbara, „am heiligen Abend vielleicht, von dem Christoph erzählt hat, und hat es aus seinen Händen in meine Hände gelegt. Er wollte, daß es mein Kind sei. Daß es unser Kind sei“.105 Und die Umstände der Geburt gleichen jenen der Geburt im Stall zu Bethlehem. Jetzt hat die Menschheit „das schwere Buch unter dem Kopf“106 als Verpflichtung für die Zukunft. Was sich daran anschließt, ist eine Weltveränderung, deren Ausgangspunkt aus einer Mischung von Offenbarung und Erkenntnis besteht und die den Keim der Erlösung in sich trägt.

Pan und Paradies Ernst Wiechert und Selma Lagerlöf berühren sich in einem entscheidenden Punkt. Beide ringen in einer Zeit der Krise um eine gültige Gottvorstellung. Diese soll nicht tradierte Grundsätze weiterführen, sondern in einer neuen heraufziehenden Zeit durch ein grundlegend verändertes Verständnis eine absolute Bedeutung gewinnen. Die schwedische Dichterin schreibt in einer Zeit, in der sich ein allmählicher Wandel von einer Agrar- zur Industriegesellschaft vollzieht und damit auch die überkommenen Werte in Frage stellt.107 Ernst Wiechert sieht sich den brüchigen Werten des ausgehenden Kaiserreichs gegenüber und erlebt die Erschütterungen beider Weltkriege. Danach kann das Christentum nicht mehr seinen alten Gott predigen. Neben der Kritik an der bestehenden Kirche agieren daher jene Vertreter des Glaubens im Werk des ostpreußischen Dichters, die Geist und Le104 105 106 107

Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 308. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 327. Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 321. Gerd Wolfgang Weber: Selma Lagerlöfs ,Dramatisches Erzählen‘. Ein Essay. In: Sibylle Schweitzer: Selma Lagerlöf. Eine Bibliographie. Marburg 1990, S. VIIXXXII.

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bensweg Gösta Berlings nahekommen. Nicht ohne Grund sagt der von kindlichem Glauben geprägte Pfarrer Wittkop in Missa sine nomine von sich: „Und deshalb passe ich auch in keine Kirche […] was ich sage, hallt nicht so wider von den steinernen Wänden wie in einer Kirche“.108 Von theologischer Seite bisher nur ansatzweise untersucht, setzt sich die Kunst nach dem Ersten Weltkrieg unter Einschluss selbst exotischer Kulturen mit den tradierten Gottvorstellungen auseinander. Der norddeutsche Lyriker Wilhelm Lehmann schreibt hymnische Gedichte an seinen Grünen Gott, und der Bildhauer Johann Bossard entwirft bei Jesteburg in der Nordheide ein Universum an Skulpturen, die die Götter der unterschiedlichsten Religionen verkörpern. Zur gleichen Zeit durchläuft der Schriftsteller Manfred Hausmann seine stürmische pantheistische Phase, die jedoch durch den Einfluss des Theologen Karl Barth jäh beendet wird.109 Auch Ernst Wiechert mit seinen „in religiösen Dingen immer mißtrauischen Augen“110 ist von diesem Geist erfasst. In der „Eiseskälte der Wissenschaft“ erblickt er eine säkularisierte Religion, die sich der „Entzauberung einer kindlichen Welt“111 schuldig macht. Grundlage dieser lebensfeindlichen Entwicklung ist die „Welt des westlichen Rationalismus“, der er die „östliche Erde“ entgegenstellt, „die aus dem großen Ring noch nicht herausgetreten war, der den Schöpfer wie das Geschöpf umschließt“.112 So ringt er immer wieder mit sich, nicht der Anziehungskraft dieser Geisteshaltung zu erliegen: „War ich auf dem rechten Wege, oder war der magische Ursprung meines Lebens schon zerfressen von der Säure der Ratio?“.113 Das Grundübel der Zeit liegt nach seiner Auffassung in einer rationalistischen Zergliederung einer ursprünglich magischen Welt, die zu einer Entgötterung führt. Bereits während seines Studiums in Königsberg beunruhigt ihn diese Entwicklung zutiefst: „Die große Entgötterung des Menschen, die schon ganz leise vor den Kathedern der hohen Schule begonnen hatte, und die sich von hier aus fortsetzte, ganz langsam und immer zunehmend […]“.114 108 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 363. 109 Es ist bezeichnend, dass Manfred Hausmanns Roman Lampioon küsst Mädchen und kleine Birken (1928) das Streben eines Mörders und Vagabunden nach Erlösung zum Thema hat. 110 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, 389. 111 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 346. 112 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 561 – 562. 113 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 415. 114 Wiechert, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 489.

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Die Gesetze des Rationalismus führen zwangsläufig zur Dogmatik. Als „einer, den Pan berührt hatte, aber der nun vor anderen Göttern knien mußte“,115 war Ernst Wiechert als Mensch niemals bereit, sich diesen kanonischen Regeln zu unterwerfen. Er hofft zugleich, „daß es nicht nur religiöse Dogmen gibt, aber auch überall das Herz des Menschen die Kraft hat, sich über Dogmen zu erheben“.116 Als Autor schafft er sich daher eine andere Welt jenseits jeglicher dogmatischer Enge, die zugleich eine Wegweisung für den Leser ist: „In meiner gefährdeten Welt fühle ich den tiefen Segen, daß ich eine andere Welt erschaffen konnte, eine stellvertretende gleichsam, und ich konnte aus der meinigen heraustreten, wenn sie mir eng und zu Boden drückend erschien“.117 Eine hiervon ausgehende Religiosität muss sich als ein offenes System darstellen, dessen Göttlichkeit unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen und verschiedenen Namen tragen kann. In Jahre und Zeiten hat er diesen Standpunkt mit sehr deutlichen Worten dargelegt: Was die Theologen verächtlich einen ,billigen Pantheismus‘ nennen, ist vielleicht nicht so billig, wie sie meinen, und es kann wohl sein, daß unter seinen verstandesmäßigen Deduktionen ein uraltes Stück des Menschheitsanfanges liegt, ein Rest jenes schönen Heidentums, in dem das All auf eine tiefere und bescheidenere Weise aufgefaßt war als in allen monotheistischen Religionen; und daß in der kindlichen Belebung der Natur eine tiefere Weisheit und eine tiefere Frömmigkeit lag als in den nüchternen Ergebnissen der Mikroskope. Vielleicht ist mir mein Leben lang Pan der liebste und wahrste aller Götter gewesen.118

Entscheidend ist daher nicht die Bezeichnung des Gottes, sondern die vorbehaltlose Anerkennung eines göttlichen Prinzips. So bekennt der Autor: „Aber daß die Lehre des Buddha mir ebensoviel war wie des Mohammed oder die Mose oder Christi. Ebensoviel an Recht, an Wahrheit, an Offenbarung“.119 Es geht, wie Ernst Wiechert nicht müde wird zu betonen, um das Erkennen des ,Ganzen‘. Diese Erkenntnis lässt jedoch keine Grenzen der Sprache, des Denkens und der Bildlichkeit zu. Es ist dies genau die Erkenntnis, die Thomas von Orla am Ende von Das einfache Leben gewinnt: „Ein Größeres stand über allem, ein Unerkennbares, eben ,das Ganze‘. Sein Anblick machte fromm, aber es gab 115 116 117 118 119

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Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9, Bd. 9,

S. 419. S. 382 – 383. S. 452. S. 360. S. 390.

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weder Kirche noch Altar für diese Frömmigkeit. Kein Bildnis, kein Gleichnis, nicht einmal einen Namen“.120 Im Anhang zum „Spiel vom deutschen Bettelmann“ (1932) sagt der Dichter von sich: „Am Anfang war Gott, und nun gehe ich in keine Kirche mehr, weil jede Kirche zu klein ist“.121 Sein Lebensweg ist die Suche nach seiner Kirche, und sein literarisches Werk ist das Dokument dieser Suche. Er bezeichnet sich als „ein Kind der Wälder, das heißt, ich bin ein Kind des Dunklen“.122 Das „Dunkle“ darf dabei nicht abwertend verstanden werden, es bezeichnet vielmehr die Fähigkeit, das Göttliche mit dem Herzen zu erfassen. Es geht also darum, die Kälte des Verstandes zu überwinden und zu einer instinkthaften Ursprünglichkeit zurückzukehren. Die Hingabe an die westliche Welt der Ratio schildert Ernst Wiechert stets mit Bedauern: Aus „der ,magischen Welt‘ […] ging ich in die westliche, in die der Ratio, und daraus erklären sich alle ,Interferenzen‘ des Lebens und des Werkes“.123 Nur mit einem vom Herzen kommenden Weltverständnis, und darin kulminiert die Aussage seines Werkes, lässt sich jene Kirche errichten, die ohne Dogmen das Göttliche vermittelt. Damit greift er das Prinzip von Selma Lagerlöf wieder auf: Amor vincit omnia, denn eine Welt ohne Gott kennt keine Erlösung.

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Bd. 4, S. 712 – 713. Bd. 10, S. 712. Bd. 10, S. 822. Bd. 10, S. 723.

Autorenverzeichnis Dr. Brbel Beutner, geb. 1945 in Stolp/Pommern auf der Flucht aus Heiligenwalde/Kreis Königsberg (Ostpreußen). Studium an der Wilhelms-Universität Münster (Germanistik, Philosophie, Latein). Promotion zum Dr. phil. 1971 (Die Bildsprache Franz Kafkas). Seit 1972 am Friedrich-Bährens-Gymnasium in Schwerte/Westfalen (Deutsch, Philosophie). Monographische Veröffentlichungen über Agnes Miegel, Hermann Sudermann und Ostpreußen. 1999 Gründung des Kleinverlages „Heiligenwalde“ in Unna. Erste Veröffentlichung: G. G. Artemjew „Susannenthal“ (Novelle, 2000). Seit 2002 Vorsitzende der IEWG. Dr. Matthias Bttner, geb. 1967. Studium der Klassischen Philologie und Germanistik an den Universitäten Bamberg und Erlangen. Nach der Magisterprüfung 1993 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Griechisch der Universität Erlangen bis 1996. Erstes Staatsexamen 1994/95. Referendariat in Erlangen und Aschaffenburg 1996 bis 1998. Im Anschluss an das Zweite Staatsexamen Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch und Deutsch in Passau, seit 1999 in Bamberg. Promotion zum Dr. phil. an der Universität Bamberg 2003: Einleitung, Herausgabe und Übersetzung der lateinischen Tragödie Sedecias des portugiesischen Jesuiten Luís da Cruz (1543 – 1604), erschienen in der Reihe Classica et Neolatina. Studien zur lateinischen Literatur, hrsg. von Rudolf Rieks, Bd. 3, 2004 (Peter Lang Verlag). Prof. Dr. Jrgen Fangmeier, geb. 1931 in Neuwied/Rhein. Studium der ev. Theologie, Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Bonn, Tübingen, Basel und Wuppertal. Dr. theol. Basel 1963. Seit 1968 Pfarrer in Schöller/Wuppertal, ab 1969 Dozent für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. 1987 und 1990 Gastdozent in Hyderabad/Indien. Theologische Veröffentlichungen u. a. Über Karl Barth und Beiträge über Ernst Wiechert. Dr. Marcin Gołaszewski: geb. 1980 in Łódz´/Polen. Promotion in der deutschen Literaturwissenschaft zum Thema: ,Nec laudibus nec timore’. Predigten und Hirtenbriefe Clemens August Graf von Galens im

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Autorenverzeichnis

Nationalsozialismus; zwei Jahre lang Lektorin für Polnisch am Institut für Slavistik der JLU Gießen; Artikel zu Ernst Wiechert und Clemens August Graf von Galen. Werner Kotte, geb. 1943 in Dresden; legte nach entsprechender Vorbildung eine kirchenjuristische Ausbildung für den höheren kirchlichen Verwaltungsdienst am Oberseminar in Naumburg mit anschließendem Referendariat ab. Später jahrzehntelange Tätigkeit als juristischer Kirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens in Leipzig. Lebt als Ruheständler in Leipzig, wo er eine umfangreiche Ernst-Wiechert-Sammlung betreut. Dr. Leonore Krenzlin, geb. 1934 in Leipzig. Studium der Germanistik ab 1953 an der Humboldt-Universität. 1970 – 1990 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Promotion zum Dr. phil. (Hermann Kant, Leben und Werk; 1978 auch als Buch). Forschungen und Veröffentlichungen zur Literatur im nationalsozialistischen Deutschland (u. a. über Ernst Wiechert, Friedrich Griese, Studie zum Begriff „Blut und Boden“), zum Problem der Remigration nach 1945 sowie zur Literatur der DDR. Dr. Hans-Martin Pleßke, geb. 1928 in Strenznaundorf (Mansfelder Seekreis). Buchhändler, Diplombibliothekar. 1949 – 1993 Wissenschaftlicher Bibliothekar in der Deutschen Bücherei Leipzig. 1974 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Leipzig (Das Leipziger Musikverlagswesen und seine Beziehungen zu einigen namhaften Komponisten). Monographische Publikationen über R. C. Muschler, L. Fürnberg, E. Wiechert, A. Goes und S. Berger. Walter-Bauer-Preis für Literatur (1994) der Städte Leuna und Merseburg. Von 1997 – 2001 Vorsitzender der IEWG. Ernst-Wiechert-Preis der Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) 2009. Dr. Walter T. Rix, geb. 1941 in Altlandsberg/Mark Brandenburg. Studium der Anglistik, Germanistik und Nordistik in Münster, Aberdeen, Manchester und Kiel, Promotion zum Dr. phil. 1969 – 2006. Wissenschaftlicher Direktor am Englischen Seminar der Universität Kiel und Redakteur der Zeitschrift „Literatur und Wissenschaft im Unterricht“, Gastdozenturen in Pécs/Fünfkirchen, Salt Lake City und Königsberg/Kaliningrad. Seit 2006 Vorsitzender des „Kuratorium Arnau

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e. V.“, zahlreiche Veröffentlichungen zur englischsprachigen und ostdeutschen Literatur. Dr. Christian Tilitzki, geb. 1957 in Schleswig, aufgewachsen in Kappeln/Schlei. Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie, Germanistik, Geschichte in Kiel und Berlin. Jur. Staatsexamina, Tätigkeit als Rechtsanwalt. 1999 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit zur Geschichte der deutschen Universitätsphilosophie von 1918 – 1945. 2000 – 2003 wiss. Mitarbeiter an der Universität Leipzig, Arbeit an einer Geschichte der Universität Königsberg (1870 – 1945), Bd. I erscheint im Herbst 2010. Klaus Weigelt, geb. 1941 in Königsberg (Pr). Studium der ev. Theologie, Pädagogik und Volkswirtschaftslehre in Hamburg, Tübingen und Freiburg; Diplom-Volkswirt. Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) und der Stiftung Königsberg im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft. Gründungsmitglied und Stv. Vorsitzender der IEWG. Hg. (mit Guido Reiner) von Band 1 der Schriften der IEWG „Ernst Wiechert heute“ (1993) und von Band 2 „Zuspruch und Tröstung“ (mit Hans-Martin Pleßke, 1999).