Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung [1. Aufl. 2019] 978-3-030-03771-0, 978-3-030-03772-7

Ernst Mach (1838–1916) zählt zu den bedeutendsten Naturwissenschaftlern und Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts. In

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German Pages IX, 169 [172] Year 2019

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Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung [1. Aufl. 2019]
 978-3-030-03771-0, 978-3-030-03772-7

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Nur ein philosophischer „Sonntagsjäger“? – Der Naturforscher Ernst Mach (Friedrich Stadler)....Pages 1-20
Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach (Elisabeth Nemeth)....Pages 21-43
Ernst Mach und Sigmund Freud: Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln? (Patrizia Giampieri-Deutsch)....Pages 45-73
Das bedrängte Ich. Ich-Konzepte bei Freud und Mach (Gerhard Donhauser)....Pages 75-85
Vom Empiriokritizismus zum Empiriomonismus: Aleksander Bogdanovs Rezeption der Epistemologie von Ernst Mach (Maja Soboleva)....Pages 87-97
Ernst Machs Bedeutung für die Herausbildung einer naturwissenschaftlichen Psychologie – Zur Geschichte eines Missverständnisses (Gerhard Benetka, Thomas Slunecko)....Pages 99-109
Ernst Mach und Kinematographie (Regina Jonach)....Pages 111-122
Ernst Mach und der wahre Inhalt von Newtons erstem Gesetz der Bewegung (Martin Černohorský)....Pages 123-147
Mach, Boltzmann und die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (Wolfgang L. Reiter)....Pages 149-165
Back Matter ....Pages 167-170

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Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis

Friedrich Stadler (Hrsg.)

Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung

Wiener Kreis Gesellschaft

Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, Bd. 29 Herausgegeben von: Friedrich Stadler Institut Wiener Kreis, Universität Wien

Wien, Österreich

Diese Reihe, begonnen bei Hölder-Pichler-Tempsky, wird im Springer-Verlag fortgesetzt. Der Wiener Kreis, eine Gruppe von rund drei Dutzend WissenschaftlerInnen aus den Bereichen der Philosophie, Logik, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften im Wien der Zwischenkriegszeit, zählt unbestritten zu den ­bedeutendsten und einflußreichsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, speziell als Wegbereiter der (sprach)analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie. Die dem Wiener Kreis nahestehenden Persönlichkeiten haben bis heute nichts von ihrer Ausstrahlung und Bedeutung für die moderne Philosophie und Wissenschaft verloren: Schlick, Carnap, Neurath, Kraft, Gödel, Zilsel, Kaufmann, von Mises, Reichenbach, Wittgenstein, Popper, Gomperz – um nur einige zu nennen – zählen heute unbestritten zu den großen Denkern unseres Jahrhunderts. Gemeinsames Ziel dieses Diskussionszirkels war eine Verwissenschaftlichung der Philosophie mit Hilfe der modernen Logik auf der Basis von Alltagserfahrung und einzelwissenschaftlicher Emperie. Aber während ihre Ideen im Ausland breite Bedeutung gewannen, wurden sie in ihrer Heimat aus sogenannten „rassischen“ und/oder politisch-weltanschaulichen Gründen verdrängt und blieben hier oft auch nach 1945 in Vergessenheit. Diese Reihe hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese DenkerInnen und ihren Einfluß wieder ins öffentliche Bewußtsein des deutschsprachigen Raumes zurückzuholen und im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zu präsentieren. Weitere Bände in dieser Reihe http://www.springer.com/series/3410 Herausgegeben von: Friedrich Stadler Institut Wiener Kreis, Universität Wien Wiener Kreis Gesellschaft Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften, Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) Wien, Österreich

Friedrich Stadler (Hrsg.)

Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung

Hrsg. Friedrich Stadler Institut Wiener Kreis Universität Wien Wien, Österreich

ISSN 2363-5118     ISSN 2363-5126  (electronic) Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis in Zusammenarbeit mit der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). ISBN 978-3-030-03771-0    ISBN 978-3-030-03772-7  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer Nature Switzerland AG 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Nature Switzerland AG und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Gewerbestrasse 11, 6330 Cham, Switzerland

Editorial

Ernst Mach (1838–1916) zählt zu den bedeutendsten Naturwissenschaftlern und Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Physik als Wegbereiter von Einsteins Relativitätstheorie und Kontrahent von Boltzmanns Atomistik, in der Biologie, Psychologie und Physiologie als Pionier einer empiristischen und gestalthaften „Analyse der Empfindungen“, in der Wissenschaftsphilosophie als Vorbild des Wiener Kreises mit dem Verein Ernst Mach sowie als Wegbereiter einer integrierten Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie. Seine Wirkung reicht weit über die Naturwissenschaft hinaus  – in die Wiener Medizinische Schule und Psychoanalyse (R.  Bárány, J.  Breuer, S.  Freud), in die ­Literatur („Jung Wien“, R. Musil), in die Politik (Friedrich Adler, der Austromarxismus und die Wiener Volksbildung), in die Kunst zw. Futurismus und Minimal Art sowie in die Sozialwissenschaften zwischen der liberalen Schule (J.  Schumpeter, F.A. von Hayek) und der empirischen Sozialforschung (P. Lazarsfeld und M. Jahoda). In der heutigen Pädagogik wird seine genetische Lerntheorie genauso beachtet wie seine Methode in der historischen Epistemologie. Machs internationale Wirkung zeigte sich bereits zu Lebzeiten im amerikanischen Pragmatismus (W. James) und im französischen Konventionalismus (P. Duhem, H. Poincaré). Anlässlich der 100. Wiederkehr des Todestages von Ernst Mach fand ein internationales Symposium zu Leben, Werk und Wirkung dieses Naturforschers und Philosophen statt, der an der Universität Wien und an der Akademie der Wissenschaften viele Jahre lang gewirkt und mehrere Generationen in Wissenschaft, Kultur und Politik maßgeblich beeinflusst hat. Zielsetzung war eine kritische Bestandsaufnahme von Machs Lebenswerk auf dem Stand gegenwärtiger Forschung und Historiografie. In 2016, June 15–18, this Ernst Mach Centenary Conference was organized by the Institute Vienna Circle, University of Vienna and the Austrian Academy of Sciences. This was certainly the biggest international conference dealing with the life, work, and influence of one of the most fascinating man, as a scholar and scientists with impacts up to the present https://mach16.univie.ac.at/.

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We were pleased to have received an enormous amount of submissions from all over the world, from which the Program Committee chose some 60 papers, so that in addition to the invited speakers there was the presentation of nearly 90 papers in four parallel sessions, including three plenary lectures. A selection of the talks in German is presented in this volume. The set of papers in English is being published in the series “Vienna Circle Institute Yearbook” with Springer entitled Ernst Mach – Life, Work, Influence at the same time. It was not by accident that this conference took place also on the occasion of the 25th anniversary of the Institute Vienna Circle as a non-profit society, and the 5th anniversary of the same Institute as a Department (subunit) within the Faculty of Philosophy and Education of the University of Vienna. Pleasingly, also the Vienna International Summer School  – Scientific World Conceptions (USS/SWC)  – was organized for 15 years since its inception in 2001. As it is well known, Mach was one of the most important precursors of the later Vienna Circle around Moritz Schlick, which was also acknowledged by the naming of the “Verein Ernst Mach” (Ernst Mach Society) in parallel. This was only one reason why the Institute Vienna Circle served as the main local organizer for this huge event. In this regard let me thank again to Sabine Koch and Robert Kaller, together with the students supporting the organizational staff (Josef Pircher, Olga Ring, Saskia Haber, and Eren Simsek) One day before the official opening of the conference was started with a public lecture in the main building of the University of Vienna (“Wiener Vorlesungen”) with a panel discussion on Mach’s obvious significance for the relation between the natural, cultural and social sciences, esp. his contributions to an interdisciplinary approach in the age of a growing specialization and differentiation in the sciences. In this regard, the historical and empiricist conception of his “neutral monism” opens still further developments and innovations. Independently, Mach’s significance in physics is still alive with the naming of the Fraunhofer Institute for High-­ Speed Dynamics, Ernst-Mach-Institut, in Freiburg/Br. (Germany), where his archives were located before its transfer to the German Museum in Munich. I do not want to anticipate the contributions of these proceedings, which are dealing more or less with most of these aspects of Mach’s lifework, mainly from a critical and present point of view. I am grateful to the co-organizers and sponsors of the Centenary Conference: the University of Vienna, especially to the Rectorate and to the Deans of 7 Faculties for their support of this representative conference, above all the Faculty of Philosophy and Education with its Dean Elisabeth Nemeth as the leading organizational unit. Furthermore, to Anton Zeilinger, the President of the Austrian Academy of Sciences (ÖAW), who immediately appreciated the cooperation and co-hosting of the conference given the fact that Ernst Mach was Professor at the University of Vienna and also a longterm member of the “Kaiserliche Akademie der Wissenschaften” (Imperial Academy of Sciences). Therefore, the conference ran under the auspices of Rector Heinz Engl and President Anton Zeilinger. Pleasingly, the ÖAW had established a new “Commission for the History and Philosophy of Sciences” where Mach is one of the topics to be investigated following his historical approach in the philosophy of science. Last not least it was the pleasing cooperation with Johannes Feichtinger

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and his collaborators like Cornelia Hülmbauer from the Institute of Culture Studies and Theatre History of the ÖAW, which enabled a smooth and productive planning and organization. It is not by accident that this Institute is running the so-called “Ernst Mach-Forum” for the sciences in dialogue. In this regard it is worth mentioning that the Austrian Agency for International Cooperation in Education and Research (OeAD) is awarding annually a worldwide Ernst Mach Stipend. Ernst Mach was also a Professor at the Charles University of Prague (where he had served as Dean and Rector before the division in a German and Czech university). In this regard we could experience the ongoing appreciation of Mach in Czechoslovakia, where in February 2016 another commemorative plaque was unveiled in the centre of Prague by the Czech and European Physical Society, in addition to the already existing memorial site at Mach’s birthplace in Chrlice near Brno. In this context special thanks go to Martin Cernohorsky and his team in Brno for all these initiatives (e.g., the recurring “Ernst Mach Days”) and the cooperation with our conference by contributing papers and the concluding cultural tour to Mach’s birthplace and to the beautiful City of Brno at the end of the conference. One more pleasing international cooperation was realized with Anastasios Brenner from the University of Montpellier, who organized a symposium on Mach, Pierre Duhem, and French philosophy of science as part of the conference, also on the occasion of the centenary of the death of this renowned French philosopher-­scientist. Furthermore, we are looking forward to another promising cooperative project, the electronic publication of Mach’s correspondence at the Leopoldina in Halle/S. (Germany) conducted by Klaus Hentschel. With reference to the publications of Mach I want to refer to the running “Ernst Mach Studienausgabe” (Ernst Mach Study Edition) published by the small Berlin publisher Xenomoi Verlag, with the publication of Mach’s six main books to date. In the meantime, we have to mourn the death of three prominent Mach scholars who passed away during the preparation of the proceedings: Erik C. Banks (1970–2017), Hayo Siemsen (1970–2018), followed by his father Karl Hayo Siemsen (1944–2018). These colleagues contributed significantly to the research on Mach b­ etween neutral monism and genetic pedagogy. We are honoured that their last manuscripts are being published in this volume as a sort of testimony of their lifelong ­unique expertise in these fields. The publication of both volumes of the proceedings was enabled with the help of Robert Kaller and Josef Pircher, to whom I am grateful for their continuous collaboration. Vienna, May 2018 

Friedrich Stadler (Institute Vienna Circle, University of Vienna)

Inhaltsverzeichnis

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Nur ein philosophischer „Sonntagsjäger“? – Der Naturforscher Ernst Mach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1 Friedrich Stadler

2 Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach . . . . . . . . . . . . . .  21 Elisabeth Nemeth 3 Ernst Mach und Sigmund Freud: Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  45 Patrizia Giampieri-Deutsch 4 Das bedrängte Ich. Ich-Konzepte bei Freud und Mach . . . . . . . . . . . . .  75 Gerhard Donhauser 5 Vom Empiriokritizismus zum Empiriomonismus: Aleksander Bogdanovs Rezeption der Epistemologie von Ernst Mach. . . . . . . . . . .  87 Maja Soboleva 6 Ernst Machs Bedeutung für die Herausbildung einer naturwissenschaftlichen Psychologie – Zur Geschichte eines Missverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99 Gerhard Benetka und Thomas Slunecko 7 Ernst Mach und Kinematographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Regina Jonach 8 Ernst Mach und der wahre Inhalt von Newtons erstem Gesetz der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Martin Černohorský 9 Mach, Boltzmann und die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Wolfgang L. Reiter Personenregister������������������������������������������������������������������������������������������������ 167 IX

Kapitel 1

Nur ein philosophischer „Sonntagsjäger“? – Der Naturforscher Ernst Mach Friedrich Stadler

Zusammenfassung  Ernst Mach war bereits ein international erfolgreicher Experimentalphysiker und Naturwissenschaftler, als er nach Professuren in Graz und Prag am Höhepunkt seiner Karriere im Jahre 1895 den für ihn neu geschaffenen Lehrstuhl für „Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften“ an der Universität Wien übernahm. Was bewog den passionierten „Naturforscher“, der sich Zeit seines Lebens als „Sonntagsjäger“ in der Philosophie betrachtete, gerade diesen wichtigen Lehrstuhl zu übernehmen, der dann die Grundlage für seine Nachfolger Ludwig Boltzmann und Moritz Schlick, dem Begründer des Wiener Kreises, bildete? Um diese Frage zu beantworten, muss man auf Machs geistige Sozialisation zurückgehen: sein Schlüsselerlebnis bei der Lektüre Kants, die Prägung durch den Kantianer Friedrich Beneke, sowie seine Auseinandersetzung mit den philosophischen Zeitgenossen: von Franz Brentano ausgehend, über Wilhelm Jerusalem, hin zu Theodor und Heinrich Gomperz, oder zu Pierre Duhem und William James. Nicht zuletzt spiegelt die pluralistische und differenzierte Rezeption Machs im Wiener Kreis (mit Wittgenstein und Popper) dessen (anti-)philosophisches Erbe, das sich nicht nur in der Aktivität des Vereins Ernst Mach manifestierte. Die späte Entdeckung Machs durch Paul Feyerabend polarisierte genauso wie dessen Streitschrift „Wider den Methodenzwang“. Vor dem Hintergrund dieser breiten und starken Wirkungsgeschichte in der Philosophie ist Machs pessimistisches Resümee erstaunlich, wonach am Beginn des 20. Jahrhunderts wieder eine dominante aprioristische Wende eingetreten sei. Im Artikel werden die Umstände seiner Berufung beschrieben und Machs ­autobiografische Bestandsaufnahme im Vergleich zu seiner pluralistischen Wirkungsgeschichte aus heutiger Sicht neu bewertet  –  was ihn als Vor­läufer einer ­aktuellen historischen Epistemologie und Wissenschaftsphilosophie jenseits von traditioneller „Schulphilosophie“ erscheinen lässt.

F. Stadler (*) Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_1

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Schlüsselwörter  Ernst Mach · Wiener Kreis · Empirismus · Pragmatismus · Naturalismus · Neutraler Monismus · Logischer Empirismus · Evolutionäre Erkenntnistheorie · Historisch-kritische Methode · History and Philosophy of Science

1.1  E  rnst Mach im Kontext – Eine außergewöhnliche Karriere (wider den Zeitgeist) An Ernst Mach (1838–1916) schieden sich schon im Fin de siècle die Geister. Wer war dieser Forscher, der in Philosophie, Politik und Literatur gleichermaßen Aufmerksamkeit erregte und polarisierte – z. B. Materialismus vs. Idealismus, ­Realismus vs. Positivismus, Bolschewismus vs. Austromarxismus, Impressionismus vs. Naturalismus? Und der noch heute für heftige Kontroversen darüber sorgt, ob er als anerkannter Wegbereiter der Relativitätstheorie die Atomistik aus prinzipiellen Gründen abgelehnt habe? Ohne Zweifel steht der Machsche „Positivismus“ – er selbst hat diese Bezeichnung für seine Lehre nicht verwendet – am Beginn eines labyrinthischen Streites seit der Jahrhundertwende um 1900: ausgehend vom angeblichen Gigantenkampf zwischen Mach und Boltzmann, der heftigen Planck-Mach-Kontroverse, dem Frontalangriff von Lenin und Genossen bis hin zum „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“ der 1960er-Jahre. Neben diesen publikumswirksamen Schaukämpfen und Variationen eines ideologisierten „Positivismus-Streites“ vollzog sich in der Naturwissenschaft und Philosophie eine bemerkenswerte Renaissance des Machschen Werkes. Seine erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Arbeiten – über Maßbegriffe, das „Machsche Prinzip“, die „Machsche Welle“, die „Mach-Zahl“, die „Mach-Bänder“ oder das „Machsche Ökonomieprinzip“ – eröffnen noch immer fruchtbare Forschungsperspektiven. In der Psychologie wird Mach als Pionier der Gestaltpsychologie, wegen seiner historisch-­kritischen Methode als Wegbereiter einer integrierten Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie und schließlich auch als Vorreiter der heutigen „Evolutionären Erkenntnistheorie“ (wieder-)entdeckt. Mach erscheint demnach mindestens aus zwei Gründen bedeutsam: erstens als eine intellektuelle Zentralfigur des geistigen Wien der Jahrhundertwende, und zweitens als Naturwissenschaftler, Theoretiker und Historiker der Wissenschaften, nicht zuletzt auch als Didaktiker, Lehrbuch- und Lehrplanautor (genetische Lerntheorie). Machs Versuch einer historisch-sozialen und evolutionären Betrachtungsweise der Wissenschaften entspricht übrigens seiner sozialreformerischen Gesinnung und politischen Praxis. Es gelang ihm, zur Überwindung des mechanischen Materialismus und der metaphysischen Systemphilosophie inmitten der Krise der Naturwissenschaften seine Lehre als empirische Einheit von Physik, Physiologie und Psychologie im Rahmen eines monistischen Weltbilds zu formulieren (Mach 1872, S. 57 ff.):

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„Die Aufgabe der Wissenschaft kann nur sein: 1. Die Gesetze der Verbindung der Vorstellungen zu bestimmen (Psychologie); 2. Die Gesetze der Verbindung der Empfindungen zu entdecken (Physik); 3. Die Gesetze der Verbindung zwischen Empfindungen und Vorstellungen zu erklären (Psychophysik).“

Und viel später bezeichnete er noch programmatisch als Aufgabe der wissenschaftlichen Erkenntnis die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und die Anpassung der Gedanken aneinander (Mach 1905, S. 164 ff.). Damit reagierte Mach auf die durch die „zweite naturwissenschaftliche Revolution“ verursachten erkenntnistheoretischen und methodologischen Probleme mit originellen Lösungsversuchen: Elementenlehre, Ökonomieprinzip und historisch-kritische Methode auf evolutionärer Grundlage bildeten zentrale Bestandteile seiner Wissenschaftsauffassung, wobei er in bewusst aufklärerischer Absicht die Wissenschaft als gesellschaftliches Phänomen in den Dienst der Menschheit gestellt wissen wollte. Wie sehr diese Innovation in der „scientific community“ aber auch auf Widerstand stieß, zeigen nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen Mach, Boltzmann und Planck samt ­Anhängern oder die Briefwechsel mit der wissenschaftlichen Avantgarde seiner Zeit, sondern auch Machs eigene überraschend pessimistische Einschätzung der Wirkung seines Werkes (Mach 1883/Vorwort zur 7. Aufl. 1912, 1982, S. ix): „Zu Ende des abgelaufenen Jahrhunderts hatten meine Ausführungen über Mechanik am meisten Glück; man mochte fühlen, daß die empirio-kritische Seite die am meisten vernachlässigte Seite der Wissenschaft sei. Nun aber machen sich wieder die Kantschen Traditionen geltend; man hat wieder das Bedürfnis nach einer Begründung der Mechanik a priori.“

So verweist die damalige wie gegenwärtige, oft emotionale bis polemische Aufnahme von Machs Werk zugleich auf das Problem eines fächerübergreifenden wissenschaftlichen Weltbildes mit praktischem Anspruch auf Humanisierung von Wissenschaft und Gesellschaft  – dem Mach selbst als Förderer von Volksbildung, Frauenemanzipation, Sozial- und Schulreform gerecht wurde. (z. B. im Briefwechsel mit Bertha von Suttner).

1.1.1  E  rnst Mach – Zu Leben und Werk im Verhältnis zur Philosophie Ernst (Waldfried Josef Wenzel) Mach wurde am 18.02.1838 in Chirlitz in Mähren (heute: Chrlice in Tschechien) bei Brünn (Brno) in der Zeit tiefer politischer Unfreiheit geboren. Sein Vater Johann Nepomuk Mach (1805–1879) war Lehrer und Erzieher, seine Mutter Josefine, geb. Lanhaus (1813–1869), gebar noch zwei Töchter, Octavia und Marie, der wir das zeitdokumentarische Buch Erinnerungen einer Erzieherin (1912), herausgegeben mit einem Vorwort von Ernst Mach, verdanken. Mach selbst erinnert sich, „ein schwaches elendes Kind“ gewesen zu sein, „das sich sehr langsam entwickelte“ (Mach 1913, S. 411). Genauso bemerkenswert ist seine Angabe, vor dem zweiten Lebensjahr lebhafte visuelle Eindrücke gehabt zu

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haben, da mehrere prägnante Kindheitserlebnisse einerseits Machs intellektuelle Entwicklung bestimmten, andererseits  – lange vor Jean Piagets genetischer Erkenntnistheorie  – die geistige Entwicklung des Kindes (speziell seiner eigenen Kinder) eine entscheidende Rolle für Machs Methodik und Didaktik spielen sollte. Beide Faktoren verdichteten sich zu einem der wichtigsten Machschen Prinzipien, nämlich zum historisch-genetischen und evolutionistischen Problemverständnis (ebd., S. 417): „Die einfachen Fragen und Bemerkungen der Kinder gehörten zu dem Anregendsten, was ich erlebt habe. Mein ältester Knabe stellte im Alter von 4 Jahren die Frage: ‚wo das Licht hinkäme, wenn die Kerze gelöscht werde und das Licht nicht mehr in der Stube sei?‘ Ich habe einzelne dieser Fragen in meiner Analyse der Empfindungen notiert, wenn sie mir lehrreich schienen und Forschen nach den Motiven dieser Fragen antrieben. Der Erkenntniskritiker würde viel gewinnen durch den Umgang mit Kindern, deren Altklugheit noch durch keine Schule geweckt wäre. Meine kleine Tochter bemerkte im Alter von 2 Jahren, als sie zum ersten mal aufs Land kam: Wir sind in einer blauen Kugel! Die Welt ist eine blaue Kugel! Das Tapetenmuster der Zimmerwand erschien ihr klein und nahe, als sie die binokularen Bilder durch Schielen zur Deckung brachte. Bei windstillem Schneefall glaubte sie sich mit dem ganzen Haus aufwärts zu bewegen. Wie belehrend die Anfänge der Sprachbildung der Kinder sind, brauche ich dem Kundigen nicht auseinander zu setzen.“

Im Alter von zwei Jahren übersiedelte Mach mit seiner Familie in das niederösterreichische Marchfeld nach Untersiebenbrunn, wo sein Vater eine Landwirtschaft erwarb. Aus dieser Zeit schildert er ein intellektuelles Schlüsselerlebnis (ebd., S. 411): „Es dürfte ungefähr in meinem fünften Lebensjahr gewesen sein, als ich unter Begleitung meines Kindermädchens durch Zufall einen Einblick in eine Windmühle erhielt. Wir hatten eine Post an den Müller zu bestellen. Die stehende Mühle kam bei unserem Eintritt in Gang. Der entsetzliche Lärm, der mich erschreckte, konnte mich nicht hindern, die Verzahnung der Welle zu sehen, welche in die Verzahnung des Mahlgangs eingriff und einen Zahn nach dem andern fort schob. Dieser Anblick wirkte bis in mein reiferes Denken von dem Niveau des wundergläubigen Wilden zum kausalen Denken empor.“

Diese Einsicht führte Mach von einem animistischen Naturverständnis zu rationalem Denken über den Begriff der Ursache im Allgemeinen, besonders thematisiert bei Kant und Lévy-Bruhl. Entscheidend für Machs frühkindliche Entwicklung war die Tatsache, daß er vom siebten bis zum neunten Lebensjahr von seinem Vater privat unterrichtet wurde. Der zarte Junge interessierte sich dabei weniger für Sprachen als für die praktische Technik (ebd., S. 412): „So füllten Maschinen und Maschinenteile meinen kindlichen Kopf. Kaum waren die einfachen Experimente über die Körperlichkeit der Luft, die mir mein Vater an einem Gartenbottich mit Wasser und einem Blumentopf mit etwa 7 Jahren zeigte noch nötig um meine Phantasie im naturwissenschaftlichen Banne festzuhalten. Erst spät lernte ich die Experimente des Philo von Byzanz kennen, von welchen jene des Vaters einfache Modifikationen waren.“

Im Revolutionsjahr 1847/48 trat Ernst Mach in die Gymnasialklasse des Benediktinerstiftes Seitenstetten ein, was er im Nachhinein ironisch kommentiert (ebd.): „Fehlte dem Knaben einerseits die Drillung im Lateinischen, so war andererseits seine Phantasie zu sehr angeregt, um ihn an Sätzen wie ‚Initium sapientiae est timor domini‘ an Deklinationen und Conjugationen den geringsten Geschmack gewinnen zu lassen.“

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So kann es nicht verwundern, daß die Lehrer Machs Vater rieten, den Jungen ein Handwerk oder ein Geschäft erlernen zu lassen. Zum zweiten Mal wurde Ernst Mach zu Hause unterrichtet, wo er durch die Lektüre antiker Autoren einen besseren Zugang zu den klassischen Sprachen fand, jedoch Mathematik und Physik weiter favorisierte. Eine weitere Erinnerung scheint für Machs späteres Theorie-­Praxis-­ Verständnis mit Wertschätzung des Handwerks bedeutsam (ebd.): „Da die Vormittagsstunden für den Unterricht genügten, konnte der Zögling am Nachmittag verschiedene Feldarbeiten ausführen, durch welche Erfahrung er die gebührende Achtung vor dem Handarbeiter gewann.“

Hier scheint sowohl Machs These des Zusammenhangs von Alltag und Wissenschaft präformiert wie auch die aufklärerische und soziale Gesinnung durch die Liberalität seiner Familie gefördert worden zu sein, wenn er schreibt (ebd.): „Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Jugend von E. Mach nach Niederwerfung der Revolution von 1848 in eine sehr reaktionär-klerikale Periode fällt. Deshalb bat der in einer liberalen Familie aufgewachsene Bursche den Vater, ihn das Schreinerhandwerk lernen zu lassen, um eventuell nach Amerika auswandern zu können. Dieser Wunsch wurde auch erfüllt.“

Die zweijährige Tätigkeit als Tischler vermittelte Mach das für seine wissenschaftshistorischen Arbeiten relevante Verständnis für Handarbeit, welches er später als Anhänger der Revolutionen von 1789 und 1848 durch die Solidarität mit der österreichischen Sozialdemokratie aktiv zeigen sollte. Seine aufgeschlossene Erziehung, die das Interesse an Natur und Gesellschaft gleichermaßen weckte, wurde mit dem Eintritt des Fünfzehnjährigen in die sechste Klasse des öffentlichen Piaristengymnasiums in Kremsier (in Mähren) von gymnasialem Schuldrill abgelöst. Als positive Ausnahme erwähnt Mach seinen Lehrer der Naturgeschichte, der die Lamarcksche Entwicklungslehre und die Kant-Laplacesche Kosmogonie unterrichtete, „ohne ein Wort über die Unvereinbarkeit dieser Lehren mit jenen der Bibel zu verlieren“ (ebd., S. 413). Seinem Geschichtslehrer konzedierte Mach umfangreiche Quellenlektüre, durch die niemand den Eindruck gewinnen konnte, „daß die weltlichen und geistlichen Führer der Menschen nur das ihnen ‚von Gott anvertraute‘ Wohl ihrer Untertanen ‚allein‘ im Sinne gehabt hätten“ (ebd.). Schließlich resümierte Mach in seiner freisinnigen Art (ebd.): „Obwohl das gymnasiale Erziehungswesen damals im ganzen klerikalreaktionär angelegt war, gab es damals doch Männer genug, an welchen die Spuren der liberalen Aera Kaiser Josef II. nicht spurlos vorbei gegangen waren und welche in diesem Sinne ihren Lehrberuf auffassten. Das einzig Unangenehme waren die ewigen religiösen Exerzitien, welche übrigens das Gegenteil von dem erzielten, was sie beabsichtigten.“

Diese Erfahrungen bildeten einen wichtigen Motivationshintergrund für Machs wenig beachtete Tätigkeit als Lehrbuchautor, Lehrplanverfasser und Popularisierer wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Schule und in der Volksbildung (Hohenester 1988). So schätzte er die Thun-Hohensteinsche Unterrichtsreform von Exner und Bonitz und ihre Auswirkungen auf das frühe österreichische Gymnasium.

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In dieser Zeit war vor allem ein Buch aus seiner väterlichen Bibliothek eine der wichtigsten Anregungen für Machs kognitive Entwicklung, nämlich Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (Mach 1913, S. 414): „Diese klar und verhältnismäßig leicht geschriebene Schrift verschlang der 15jährige Junge mit Begierde. Sie machte einen gewaltigen Eindruck auf ihn, zerstörte den naiven Realismus des Jungen und gewann sein Interesse für die Erkenntnistheorie und vernichtete durch den Einfluss des Metaphysikers Kant alle Neigungen zur Metaphysik bei ihm. Die Schrift regte in gleicher Weise mein naturwissenschaftliches und psychologisches Denken an. Vom Kantschen kritischen Idealismus kam ich bald ab. Das ‚Ding an sich‘ erkannte ich noch als Knabe als eine unnütze metaphysische Erfindung, als eine müßige metaphysische Illusion. Bald wandte ich mich den bei Kant latent enthaltenen Berkeleyschen Ideen und nach und nach einem kritischen Empirismus zu. Wenn ich nun auch Kants Gedanken nicht festhalten konnte, bleibe ich ihm doch für seine Anregung verbunden, die mich auch zur historisch-kritischen Bearbeitung der Mechanik geführt hat. Derselben Quelle entsprang die Wärmelehre, die Ansätze zur Optik usw.“

Im Alter von 17 Jahren legte Mach am Kremsierer Gymnasium die Reifeprüfung ab und inskribierte an der Wiener Universität Mathematik und Physik (bei von Ettingshausen, Grailich und Petzval), wo der ambitionierte Student Mängel in den naturwissenschaftlichen Fächern beklagte. So musste er sich autodidaktisch ­weiterbilden, und es gelang ihm im Physikalischen Institut ein erster experimenteller Erfolg mit der Konstruktion eines Apparates zum Nachweis der Existenz einer – damals bezweifelten – akustischen Erscheinung, des so genannten „Doppler-Effekts“. Im Jänner 1860, nach fünf Jahren Studium, erlangte Mach den Doktorgrad der Philosophie mit seiner Dissertation „Über elektrische Entladung und Induktion“. In Anspielung auf den antiquierten Prüfungsmodus konnte sich Mach vorstellen, „er sei durch den Nachweis umfassender Unwissenschaft ‚magister liberalium artium‘ geworden“ (ebd.). Die existenzielle Lage des frischgebackenen Doktors war so miserabel, dass er sich mit Nachhilfestunden durchbringen musste – trotzdem konnte sich Mach 1861 als Privatdozent für Physik habilitieren. Er hielt private Vorlesungen über Fechners Psychophysik und Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen. Durch den Kontakt mit den beiden Physiologen Ernst Brücke und Carl Ludwig wurde Machs Interesse an Sinnesphysiologie geweckt, was ihn nach eigenen Angaben zu erkenntnistheoretischen Untersuchungen ermunterte. Diese Verknüpfung von Physik, Physiologie und Psychophysik war und blieb eines der charakteristischen Merkmale von Machs Position des neutralen Monismus. In dieser Zeit als Privatdozent lernte er in Wien seinen lebenslangen Freund, den Literaten, Techniker und Sozialreformer Josef Popper-Lynkeus (1838–1921) kennen, mit dem ihn engste geistige Gemeinsamkeiten verbanden (Belke 1978). Beide unterstützten die Arbeiterbewegung und wirkten zusammen in der „Wiener Fabier-Gesellschaft“ (Feuer 1974, S. 28). Die frühe Lehrtätigkeit führte Mach ferner auf die „historische Darstellung als die einfachste und verständlichste, die allgemeine begriffliche Zusammenfassung enthüllte das ökonomische Motiv der Erkenntnislehre, und die Auffassung der Wissenschaft als Teil einer allgemeinen Lebens- und Entwicklungserscheinung vollendete

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schließlich den Charakter der biologisch-ökonomischen Erkenntnislehre“ (Mach 1913, S. 415). Die Ausrichtung auf Medizin und Physiologie inspirierte den begabten Experimentalphysiker zur Theorie der Pulswellenzeichner und Registrierapparate, vor allem zu zahlreichen Arbeiten über das Gehörorgan, wofür er 1864 eine kleine finanzielle Förderung der Wiener Akademie der Wissenschaften erhielt. Dies ermöglichte indirekt die Erforschung des Labyrinths im Ohr, auf der Josef Breuer weiter aufbauen sollte (Hirschmüller 1978; Swoboda 1988) und die zu den bahnbrechenden Resultaten des späteren Nobelpreisträgers Robert Bárány (1914) führte. Im Jahre 1864 begann Machs wissenschaftlicher Aufstieg mit der Berufung als Ordinarius für Mathematik und von 1866 bis 1867 für Physik an die „etwas vernachlässigte“ Universität Graz (Mach 1913, S. 415). Er las dort über Differentialund Integralrechnung sowie analytische Geometrie. Dort lernte er den Nationalökonomen Emmanuel Hermann kennen, durch den er zum Ökonomieprinzip weiter angeregt wurde; er gewöhnte sich daran, „die geistige Tätigkeit des Forschers als eine wirtschaftliche oder ökonomische zu bezeichnen“ (Heller 1964, S. 15, 1988). Der Lehrstuhl für Experimentalphysik in Prag, auf den Mach im Jahre 1867 berufen wurde, war für ihn eine ideale Position, die er bis zu seinem Abgang nach Wien 1895 innehatte. Hier legte er den Grundstein für seine internationale Reputation (Mach 1913, S. 415): „Die Erkenntnislehre war in früher Jugend konzipiert, wurde aber spät reif; auch die didaktische Ordnung der Vorlesungen reifte langsam; die experimentellen Methoden, die ich selbst eigentlich erst zu lernen hatte, ergaben sich verhältnismäßig schnell durch das gemeinsame Arbeiten mit den Eleven, zunächst durch akustische Untersuchungen, die mir aus meiner physiologischen Zeit näher und geläufiger waren. Viele der auf diese Weise ausgeführten Arbeiten erschienen meist nur unter dem Namen meines Gehilfen in der Wiener Akademie.“

In Prag geriet Mach in den Jahren 1872/73 als Dekan der Philosophischen Fakultät und 1879/80 als Rektor der Prager Universität in den Sog des schwelenden Nationalitätenstreits, der 1882/83 mit der Teilung in eine deutsche und eine tschechische Universität seinen Höhepunkt erlebte. Mach selbst war – als Gegner jedes Nationalismus – vergeblich gegen die Teilung und für eine zweite tschechische Universität eingetreten (Heller 1964, S. 18 f.; Hoffmann 1991). In seinem ersten Prager Jahr veröffentlichte Mach eine kurze Mitteilung „Über die Definition der Masse“, die Friedrich Adler als die entscheidende Schrift in Machs Lebenswerk betrachtet, weil darin zum ersten Mal der mechanische Materialismus aus den Fugen gehoben worden sei, und zwar mit der Frage „Was ist Materie?“ aus vollständig neuer Sicht (Adler 1918, S. 15). Zu den wichtigsten Publikationen Machs aus der Prager Zeit zählen Optisch-akustische Empfindungen (1872), Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen (1875) sowie diverse stroboskopische Untersuchungen. Gleichzeitig nahm Mach – durch Krankheit veranlasst – seine historisch-kritischen Studien wieder auf, welche in die Veröffentlichung von Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit (1872) einmündete. Darin lehnte er jede metaphysische und einseitig mechanische Auffassung der Physik genauso ab wie

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die apriorisch-synthetischen Kategorien der absoluten Bewegung, des absoluten Raumes und der absoluten Zeit als überflüssige Substanzbegriffe. In dieser grundlegenden Arbeit wird das Prinzip der Denkökonomie formuliert und die Vorarbeit für Machs nachfolgende Hauptwerke Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-­ kritisch dargestellt (1883) und Die Prinzipien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt (1896) geleistet. Die Mechanik  – in aufklärender, antimetaphysischer Absicht verfasst  – sollte die historische Analyse der Erkenntnis als die Methode zum Verständnis der Mechanik herausstreichen. Durch die Einbeziehung der Arbeiten von Gustav R. Kirchhoff und Hermann Helmholtz konnte Mach seine Vorstellung von der „Natur der Wissenschaft als einer Ökonomie des Denkens“ (Mach 1883/1933, S. vi) weiter ausarbeiten (ebd.). Die anti-essentialistische Methodologie ist darin genauso vorbereitet wie die sprachkritische, und es wird eine fallibilistische Erkenntnislehre – lange vor Karl Poppers Falsifikationismus – vertreten, wie sie im Spätwerk Erkenntnis und Irrtum als Programm ausformuliert wurde (ebd., S. 465): „Alle Wissenschaft hat nach unserer Auffassung die Funktion, Erfahrung zu ersetzen. Sie muß daher zwar einerseits in dem Gebiet der Erfahrung bleiben, eilt aber doch andererseits der Erfahrung voraus, stets einer Bestätigung, aber auch Widerlegung gegenwärtig. Wo weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung ist, dort hat die Wissenschaft nichts zu schaffen. Sie bewegt sich immer nur auf dem Gebiete der unvollständigen Erfahrung.“

Zur Förderung dieser Zielsetzung verbindet Mach die wissenschaftstheoretischen Kriterien der Einfachheit und Schönheit mit dem Prinzip der Forschungsökonomie. Die historisch-kritische, evolutionäre Methode sowie biologisch-­psychologische Erklärungsmuster lassen ihn die Mechanik aus den „aufgesammelten Erfahrungen des Handwerks durch intellektuelle Läuterung“ beschreiben und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Geschichte, Alltag und Wissenschaft im Längsschnitt herstellen (ebd., S. 485; auch in Thiele 1969). In seiner Wärmelehre explizierte Mach die Grundbegriffe der Temperatur und der Wärmekapazität aus historisch-genetischer Sicht und erläuterte die Prinzipien der Energieerhaltung und der Entropie (Mach 1986a). Bereits seit den 1870er-Jahren hatte er mit Unterbrechungen an einer Geschichte der Optik gearbeitet, deren Veröffentlichung aber immer wieder hinausgezögert, bis er schließlich die posthume Herausgabe durch seinen Sohn Ludwig bestimmte, die im Jahre 1921 mit dem umstrittenen, von Ludwig verfassten, Vorwort gegen die Relativitätstheorie erfolgte. (Wolters 1987). Bereits in seiner Prager Zeit (1886) war das erkenntnistheoretische Hauptwerk Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886) erschienen. Die darin enthaltene Kritik am Kantschen „Ding an sich“ und am „unveränderlichen Ich“ war zugleich eine Absage an das christliche Dogma der persönlichen Unsterblichkeit und ließ Mach eine Verwandtschaft zum Buddhismus erkennen. Sein dortiges Grundanliegen und in dem reiferen Buch Erkenntnis und Irrtum (1905) war nach Mach die These, „… dass sich das ganze Innenleben des Menschen in Elemente auflösen lässt, deren Abhängigkeit von zwei Gruppen dieser Elemente das gesammte Erleben des Menschen darstellt und zwar das Aussenleben, oder das physische oder Empfindungsleben und das Innenleben oder das psychische Leben als Vorstellungsleben. Dass ersteres Leben keine willkürliche

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Schöpfung unserer Phantasie ist, habe ich, wie ich glaube hinreichend deutlich gesagt. Es war also nicht nötig, dass manche Physiker dies missverstehen mussten, noch weniger, dass gewisse Philosophen erstere zu dieser Auffassung anleiten mussten. Ich habe auch von einem Monismus des physischen und psychischen Geschehens gesprochen. Es sind nicht zwei verschiedene Welten, um die es sich hier handelt, sondern nur die Beachtung der Art der Abhängigkeit der einen und der anderen. Zu diesem Monismus bin ich auch gelangt, indem ich mir die Einheitlichkeit des Lebens vor der Unterscheidung des eigenen und des fremden Ich vorgestellt habe“ (ebd., S. 416).

Diese pointierte Selbstdarstellung belegt den klassisch gewordenen psycho-­ physischen Monismus, einen dezidierten Anti-Idealismus (in Anspielung auf Lenin, Planck und andere), schließlich die natürliche, einheitliche Weltauffassung mit einem empiristischen Erkenntnisbegriff (mit Bezug auf Wilhelm Jerusalems Kritik): „Den Fortschritt der Erkenntnis sehe ich, ob es sich nun um die physische oder die psychische Welt handelt, in der Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und in logischer Beziehung in Anpassung der Gedanken (Vorstellungen) aneinander.“ (ebd., S. 417).

So einfach erläutert Mach die ökonomisch und biologisch angeregte Erkenntnistheorie und gesteht in seiner typischen Bescheidenheit die prinzipielle Unabgeschlossenheit seiner Lehre als Diskussionsgrundlage zu, die er in seinen Populärwissenschaftlichen Vorlesungen (1896) weiter präsentieren sollte – ein Sammelband, der zuerst in Englisch erschien und die Verwandtschaft mit dem amerikanischen Pragmatismus (Peirce, James, Dewey) dokumentiert. (Stadler 2017). In der Analyse der Empfindungen (1886) behandelt Mach das zentrale Thema einer empirischen Fundierung der Wissenschaft durch Integration von Philosophie, Physik, Physiologie und Biologie. Die antimetaphysische Elementenlehre wird unter dem Einfluss von Berkeley und Hume sowie der Psychophysik Fechners ausgearbeitet und konstituiert den (fächerübergreifenden) neutralen Monismus (Mach 1918, 7. Aufl., S. vi): „Die Ansicht, welche sich allmählich Bahn bricht, daß die Wissenschaft sich auf die übersichtliche Darstellung des Tatsächlichen zu beschränken habe, führt folgerichtig zur Ausscheidung aller müßigen, durch Erfahrung nicht kontrollierbaren Annahmen, vor allem der metaphysischen (im Kantschen Sinne). Hält man diesen Gesichtspunkt in dem weitesten, das Physische und Psychische umfassende Gebiete fest, so ergibt sich als erster und nächster Schritt die Auffassung der ‚Empfindungen‘ als gemeinsame ‚Elemente‘ aller möglichen physischen und psychischen Erlebnisse, die lediglich in der verschiedenen Art der Verbindung dieser Elemente voneinander bestehen. Eine Reihe von störenden Scheinproblemen fällt hiermit weg. Kein System der Philosophie, keine umfassende Weltansicht soll hier geboten werden. Nur die Folgen dieses einen Schrittes, dem beliebige andere sich anschließen mögen, werden hier erwogen. Nicht eine Lösung aller Fragen, sondern eine erkenntnistheoretische Wendung wird hier versucht, welche das Zusammenwirken weit voneinander abliegender Spezialforschungen bei Lösung wichtiger Einzelprobleme vorbereiten soll.“

Darin wird einmal mehr Machs Abneigung gegen metaphysische Systemphilosophie dokumentiert und die prinzipielle Unvollständigkeit des wissenschaftlichen Weltbildes – mit einer interdisziplinären Ausrichtung – unterstrichen. Im Jahre 1895 war Ernst Mach auf den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für „Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften“ an die Universität Wien berufen worden (Mayerhöfer 1967, S.  12–25;

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Blackmore 1972, S.  145–163). Diese Rückkehr nach Wien wurde in der kurzen Phase einer Koalition der „Vereinigten Linken“ (Deutschliberale, Vereinigte Fortschrittspartei, Deutschkonservative) mit dem Kultusminister Madeyski-Poraj unter „heftigsten Agitationen von clericaler Seite“ (Mach an Meinong, in: Kindinger [Hg.] 1965) durch Mithilfe von Theodor und Heinrich Gomperz auf Universitäts­ ebene ermöglicht. Machs Wiener Lehr- und Forschungstätigkeit wurde jedoch bereits 1898 stark beeinträchtigt, als der 61jährige Forscher einen Schlaganfall mit einer schweren rechtsseitigen Lähmung erlitt, der ihn aber in voller geistiger Frische ließ. Nach mehreren Unterbrechungen musste er schließlich im Jahre 1901 sein Pensionierungsgesuch einreichen (Blackmore und Hentschel 1985, S. 29 f.). Nach der Emeritierung wurde Mach zum lebenslänglichen Mitglied des „Herrenhauses“ ernannt, nachdem ihm 1896 der Titel „Hofrat“ verliehen worden war, doch lehnte er – seiner Gesinnung entsprechend – den angebotenen Adelstitel ab. Trotz seines schlechten Gesundheitszustandes ließ er sich im selben Jahr im Krankenwagen zur Abstimmung über den Neunstundentag ins Parlament bringen – eine Prozedur, die er 1907 bei der Abstimmung über das allgemeine Wahlrecht wiederholte. Bereits in seinem 1899 verfassten Testament schlug sich diese Gesinnung nieder: „Mein Begräbnis soll möglichst wenig kosten, dafür wünsche ich, daß der Volksbildungsverein in Wien und die ‚Arbeiter-Zeitung‘ zu ihrer passenden Verwendung je 50 fl erhalten“ (Adler 1918, S. 27). Diese Haltung hat Mach auch in seinem letzten großen Werk Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (1905) dokumentiert, in der er eine Zusammenfassung speziell seiner Wiener Lehr- und Forschungstätigkeit und seiner gesamten bisherigen Arbeit liefert. Die Naturwissenschaft wird biologisch, psychologisch und sozial erklärt und der Vorrang praktischer Forschungsarbeit gegenüber theoretischer Abstraktion, wie sie nach Mach in der klassischen Philosophie gepflegt wird, betont. Allein diese Ablehnung metaphysischer Systemphilosophie lässt Mach das Bekenntnis ablegen, er sei „gar kein Philosoph, sondern nur Naturforscher“, mit dem Bestreben, „nicht etwa eine neue Philosophie einzuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu entfernen …“ (Mach 1917, S.  vi; Hiebert 1976). Mach liefert aber auch eine Gesamtschau des aktuellen Forschungsstandes in der Psychophysik sowie der Denk- und Wahrnehmungspsychologie. Zukunftsweisend für den späteren Wiener Kreis ist Machs Behandlung des Leib-Seele-Problems als eines Scheinproblems und der hypothetische Charakter unseres Wissens, wenn er folgert, „daß es dieselben psychischen Funktionen, nach denselben Regeln ablaufend, sind, welche einmal zur Erkenntnis, das andere Mal zum Irrtum führen, und daß nur die wiederholte, sorgfältige, allseitige Prüfung uns vor letzterem schützen kann“ (Mach 1917, S. 125) – ein Plädoyer gegen jeden naiven Induktivismus, und für eine empiristische Bestätigungstheorie. Zusammen mit den Prinzipien des Empirismus, Nominalismus, der Denk- und Forschungsökonomie und schließlich mit einem sprachkritischen und wissenschaftsorientierten Philosophiebegriff ist damit der geistige Boden für die Herausbildung des späteren Logischen Empirismus aufbereitet.

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Nach der frühzeitigen Pensionierung war Mach praktisch an sein Wiener Zimmer in Gersthof im 18. Bezirk gefesselt, konnte aber mit Hilfe einer speziellen Schreibmaschine weiter wissenschaftlich tätig sein, wenn auch nicht mehr am Puls der aktuellen experimental-physikalischen Forschung. Das dürfte wohl der Grund dafür gewesen sein, dass er sich in seinen letzten Lebensjahren vorwiegend historisch-­ sozialen und anthropologischen Studien widmete. In seiner letzten Schrift Kultur und Mechanik (1915, Reprint 2015) rekonstruiert er die Entwicklung von Mechanik und Wissenschaft seit der Urgeschichte auf sozioökonomischer Grundlage. Im Mai 1913 übersiedelte Mach zu seinem ältesten Sohn Ludwig nach Vaterstetten bei München. In einem Brief an Friedrich Adler aus dem Jahre 1913 berichtete er über seinen Zustand mit dem für ihn charakteristischen Gleichmut (Adler 1918, S. 28 f.): „Ich bin den ganzen Winter über, durch einen Sturz gelähmt, unbeweglich zu Bett gelegen. Jetzt habe ich mich endlich entschlossen, per Bahn und Krankenautomobil nach München zu meinem ältesten Sohne zu übersiedeln, was ohne meinen Sturz schon im vorigen Herbst hätte geschehen sollen. Mein Sohn wollte in Prag abgebrochene Arbeiten mit mir wieder aufnehmen. An ein praktisches Resultat wird man bei meinen 75 Jahren kaum mehr im Ernst denken. Doch soll die Hoffnungsfreudigkeit der Jugend nicht gestört werden. Vielleicht lerne ich hier noch einmal, zum dritten mal in meinem Leben stehen und gehen. Damit wäre wenigstens die Vorbedingung für das Arbeiten gegeben … Seien Sie nicht zu sehr überrascht, wenn Sie hören, ich hätte mich in das Nirwana zurückgezogen, wozu es ja eigentlich schon Zeit wäre.“

Dort verstarb Mach mitten im tosenden Weltkrieg am 19. Februar 1916 – von seinem Sohn abgeschirmt. Die Feuerbestattung auf dem Münchner Ortsfriedhof fand dem Wunsch des Verstorbenen entsprechend im engsten Kreise statt. Dies erinnert an Machs Einheit von Leben und Werk bis zum Tod, über den er allgemein in der Analyse der Empfindungen radikal geschrieben hatte (Mach 1900, S. 17): „Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben führen zu den absonderlichsten pessimistischen und optimistischen, religiösen und philosophischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit gerne verzichten, und nicht auf das Nebensächliche mehr Wert legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch zu einer freieren und verklärten Lebensanschauung gelangen, welche Mißachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt.“

1.1.2  Mach, die Philosophie und die Wissenschaften Das Gesamtwerk Machs zeigt bis heute einen starken, fächerübergreifenden Einfluss in der Philosophie, in den Natur- und Sozialwissenschaften bis hin zu Literatur und Kunst (Thiele 1963). Diese breite Rezeption erfolgte zeitlich wellenförmig, in geographischer Hinsicht unterschiedlich intensiv – und, was die Inhalte von Machs

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Œuvre betrifft, schwerpunktartig. Während er bis zum Ersten Weltkrieg in Österreich-­Ungarn einen Großteil der Vertreter „wissenschaftlicher Philosophie“ – unter ihnen Wilhelm Jerusalem, Heinrich Gomperz und Adolf Stöhr – zu faszinieren vermochte, dominierte in Deutschland die (nach)idealistische Systemphilosophie bzw. die Lebensphilosophie (Köhnke 1986; Schnädelbach 1983), obwohl die empiristischen Traditionen zunahmen (Damböck 2017). Dies wird plausibel, wenn man die religiös und politisch bedingte geringe Kant- und Hegel-Rezeption in Österreich zugunsten realistischer und phänomenologischer Traditionen (Bolzano, Zimmermann, Brentano-Schule) in Betracht zieht. Natürlich bestätigen auch hier in beiden Staaten Ausnahmen den grundlegenden Trend: einerseits eine spürbare Kant-­ Tradition in Österreich bis zu Robert Reininger, andererseits im deutschen Kaiserreich die Aufnahme des Machschen „Positivismus“ durch naturwissenschaftliche Forscher und Philosophen, wie zum Beispiel bei Josef Petzoldt, Wilhelm Ostwald, Wilhelm Schuppe, Ernst Haeckel, dem Begründer des „Deutschen Monistenbundes“, bis zu einigen Neukantianern (Hans Vaihinger, Alois Riehl). Mach selbst – nach seiner frühen Kant-Lektüre – lobte z. B. den Kant-Anhänger Eduard Beneke (1798–1854). (vgl. das Vorwort zu Erkenntnis und Irrtum). Machs methodologische Positionierung zw. Induktion und Deduktion ist eine Anspielung auf Kants berühmte Antwort auf Humes Problem, wobei er später die absoluten Begriffe von Raum und Zeit kategorisch verwarf. In der gegenwärtigen Forschung gibt es nicht zufällig eine Diskussion über Machs erkenntnistheoretische Einstellung zw. Realismus und Empirismus, z. B. als eines „realistischen Empiristen“ – wie bei Erik Banks (2014). Auf institutioneller Ebene sei die deutsche „Gesellschaft für positivistische Philosophie“ genannt, deren Gründungsmanifest im Jahre 1911 neben Mach auch von Albert Einstein, David Hilbert und Sigmund Freud unterzeichnet wurde. In der Weimarer Republik wurde in der „Berliner Gesellschaft für empirische (wissenschaftliche) Philosophie“ diese Tradition fortgesetzt, während in der Ersten Republik Österreich die starke Aufnahme des Machschen Werkes im Wiener Kreis und – wie der Name schon sagt – in dessen Popularisierungsorgan, im „Verein Ernst Mach“, erfolgte. Diese beiden verwandten Strömungen waren aber eher marginale Rezeptionsspuren in der gesamten österreichischen und deutschen philosophische n Landschaft. So war auf akademischem Boden die Mach-Rezeption vergleichsweise um vieles geringer als im Bereich der Wiener Kulturbewegung, im „Umfeld des Austromarxismus“ (Glaser 1981). Während sich im Wiener Kreis des Logischen Empirismus sich fast alle Mitglieder – wie auch Boltzmann, Einstein, Russell und Wittgenstein – mehr oder weniger stark auf Mach beriefen – was partielle Kritik keinesfalls ausschloss –, wurde im Verein Ernst Mach vor allem das übergreifende Konzept der antimetaphysischen „wissenschaftlichen Weltauffassung“ präsentiert. Nachdem bereits ab 1907 im Urzirkel des Wiener Kreises („Erster Wiener Kreis“) Philipp Frank, Otto Neurath, Hans Hahn und parallel dazu Richard von Mises im Anschluss an Mach über die (Un-)Wissenschaftlichkeit der Philosophie, über eine Synthese von Empirismus und Konventionalismus, namentlich mit Duhem, Poincaré, Brentano, Meinong, Husserl, Helmholtz und Freud, diskutiert hatten, wurde die Auseinandersetzung mit

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dem „älteren Positivismus“ in unterschiedlichen Varianten von Rudolf Carnap, Karl Menger, Moritz Schlick, Herbert Feigl, Bela Juhos und Viktor Kraft, vor allem aber von Philipp Frank und Richard von Mises weitergeführt. Demgegenüber präsentierte Karl Popper in seiner Logik der Forschung (1934) eine Epistemologie, die zwischen Objektivismus und Realismus als Alternative zu Mach bewusst mit der Leninschen Schrift korrespondiert. So versteht sich Popper in seiner intellektuellen Autobiographie als konsequenter Fortsetzer einer realistischen Boltzmann-­Einstein-­ Tradition, die eine positive Mach-Rezeption ausschließt und ihn zum Zertrümmerer des Logischen Positivismus stilisieren ließ. Demgegenüber lässt sich die nicht einheitliche Wirkung und Rezeption im Wiener Kreis folgendermaßen kurz skizzieren: Der Physiker Philipp Frank konnte durch Einbeziehung von Quanten- und Relativitätstheorie die Machsche Methodologie als einen Grundpfeiler des Logischen Empirismus begreifen, der durch formale Logik und Axiomatik ergänzt wurde (Frank 1949b). Mit diesen Bestandteilen wurde der französische K ­ onventionalismus modernisiert und mit dem Machschen Empirismus zur Wissenschaftsphilosophie des Logischen Empirismus weiterentwickelt. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war daher mit Duhem und Neurath ein methodologischer Holismus vertreten worden, der sich später bei Quine wiederfindet (Haller 1982). Otto Neurath vertrat früh einen kohärenztheoretischen Standpunkt mit holistischer und soziologischer Theoriendynamik, die zu entscheidenden Kriterien der empiristischen Einheitswissenschaft, der „Enzyklopädie“, führen sollte. Seine beiden Briefe an Mach aus dem Jahre 1914 illustrieren Machs Bedeutung für die Relativitätstheorie und den Einfluss auf seine eigene Arbeit von der Wissenschaftsgeschichte bis hin zur Wertlehre und Nationalökonomie (Thiele 1978, S.  99–101). Diese Anerkennung konnte auch dadurch nicht gemindert werden, dass in der Programmschrift des Wiener Kreises (1929) Machs Skepsis gegenüber der Atomistik und die sinnesphysiologische Fundierung der Physik kritisiert wird. Neurath teilte jedoch Machs Vorbehalte gegen eine zu starke Formalisierung und meta-­theoretische Ausrichtung der empirischen Wissenschaften. Der Mathematiker Hans Hahn hat vor allem für die Aufnahme der formalen Logik (und Wittgensteins Tractatus) im Wiener Kreis gesorgt und gleichzeitig in einer Schrift das antimetaphysische Ökonomieprinzip  – in Form von „Occams Rasiermesser“ – vehement vertreten. (Hahn 1930). Sein Schüler Karl Menger diskutierte die Möglichkeit einer „positivistischen Geometrie“ und die Fruchtbarkeit des mathematischen Funktionsbegriffes in seiner Anwendung auf die Wissenschaften. Er steuerte schließlich die informative Einleitung zur 6. englischen Auflage von Machs Mechanik bei, in der er die Aktualität von Machs Wissenschaftstheorie betont. (Menger 1979, S.  107–25, 1960, S.  V–XXI). Die wirkungsvollste systematische Verarbeitung all dieser wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Innovationen lieferte ohne Zweifel Rudolf Carnap in seinen beiden Büchern Der logische Aufbau der Welt (1928) und Scheinprobleme der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit (1928). Diese Hauptschriften des frühen Wiener Kreises stellen den – unvollendeten – Versuch dar, ein hierarchisches Konstitutionssystem wissenschaftlicher Begriffe auf empirischer Basis mit Hilfe der Typentheorie zu erstellen,

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und zwar über eine phänomenalistische Sprache, die von den Machschen „Elementen“ als Grundbausteinen ausgeht und als Grundbegriffe die logische Beziehung zwischen solchen Elementen definiert (Carnap 1963, 1979, S. xi). In den dreißiger Jahren wurde von Carnap und Neurath als Sprache der Einheitswissenschaft allerdings die physikalische Sprache vorgeschlagen – eine Entwicklung, die hier nicht weiter diskutiert werden kann (Uebel 1992). Es sei nur kursorisch angemerkt, dass Carnap den Logischen Aufbau auch im Rahmen der gesellschaftlichen Situation der zwanziger Jahre verstanden wissen wollte, die er mit der progressiven Kulturbewegung identifizierte (Carnap 1979, S. xx). Moritz Schlick setzte sich – als gelernter Physiker – in seinem ersten Hauptwerk Allgemeine Erkenntnislehre (1918) kritisch mit Mach auseinander. Er distanzierte sich dort vom „Immanenzpositivismus“ aus der Sicht eines kritischen Realismus, änderte seine Haltung aber vor allem unter dem Einfluss Ludwig Wittgensteins ab 1922 in Richtung eines „konsequenten Empirismus“. Diese ­„sprachliche Wende“ wurde unter anderem von Einstein in seiner einschlägigen Korrespondenz moniert (Hentschel 1986). Die Metamorphose Schlicks wurde von seinem Lieblingsschüler Herbert Feigl nicht goutiert, der sich – in einer Linie mit Viktor Kraft und Karl Popper – eher dem „Realismus“ verpflichtet fühlte. Als Idole seiner Jugend nennt er trotzdem Mach und Ostwald, bis er sich (aufgrund ihrer anti-atomistischen Einstellung) stärker für Boltzmann und Planck begeisterte (Feigl 1981, S. 1, 1969, S. 57–94). Viktor Kraft hatte bereits von 1900 bis 1903 in einem Diskussionszirkel, in dem sich auch der junge Othmar Spann befunden haben soll, Avenarius und Mach gelesen und blieb von da an ein vorsichtiger Mach-Anhänger – trotz seines erkenntnistheoretischen Realismus (Kraft 1912), mit dem er schon sehr früh das „Problem der Außenwelt“ im Sinne des späteren Schlick präzisierte (Blackmore 1972, S. 182 f.). Gerade dieser Aspekt spielte im Mach-Bild des Technikers und Mathematikers Richard von Mises eine sekundäre Rolle. Er lieferte Gesamtdarstellungen wie Ernst Mach und die empiristische Wissenschaftsauffassung (1938) oder Kleines Lehrbuch des Positivismus (1939). Im ersteren liest man einen philosophisch-historischen Exkurs von Hume bis Mach, den „wirksamsten und für unsere Zeit typischesten Aufklärungsphilosophen der letzten Generation“ (von Mises 1963/64, S. 499). In der Erläuterung zu seinem Lehrbuch bezeichnet sich von Mises selbst als Schüler Machs, jedoch mit kritischer Haltung gegenüber dem Problem der Sprache (ebd., S. 524–529). In dieser Argumentationslinie kommentiert auch Béla Juhos die Transformation des älteren Positivismus (1971, S.  27): „Der logisch fundierte Positivismus und Empirismus erweisen sich so als eine erkenntnisanalytische Methode, die von den Satzarten der Wissenschaften und des Alltags, den Methoden ihrer Gewinnung und Nachprüfung und den zu ihrer Darstellung genutzten sprachlogischen Elementen als dem ‚Gegebenen‘ ausgeht.“ Der Philosoph, Soziologe und Volksbildner Edgar Zilsel spielte eine besondere Rolle im und um den Schlick-Zirkel, mit konkreten Beiträgen über Mach als Pionier des Empirismus. In seiner Monographie zur Neurathschen Enzyklopädie (Probleme des Empirismus, 1941) preist er Mach als Zentralfigur zur Überwindung des

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(­dualistischen) mechanistischen Weltbilds mit den Elementen des Fiktionalismus, Konventionalismus und Empirismus, die im frühen 20. Jhdt. zum logischen Empirismus führten. Zur Abrundung dieses kleinen wirkungsgeschichtlichen Exkurses bietet sich der langjährige Freund Ernst Machs, Josef Popper-Lynkeus (1838–1921), an, der selbst als Ingenieur, Literat, Philosoph und Sozialreformer sowie geistiges Pendant Machs zu einem Brennpunkt des sozialliberalen Bürgertums im Fin de siècle wurde. Mit seinem utopischen Werk Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage (1912) schuf er die Grundlage des „Vereins allgemeine Nährpflicht“ in der Ersten Republik und faszinierte beispielsweise auch Otto Neurath sowie Moritz Schlick, Philipp Frank und Richard von Mises durch seine technischen Erfindungen sowie durch seine pointierte Sozialethik und seinen „Empiriokritizismus“, wie sie in den nachgelassenen Fragmenten zur (sprachkritischen) Erkenntnistheorie offenkundig werden (Popper-Lynkeus 1932/33, S. 301–324): „Wenn man sagt: ‚Die Welt erscheint mir so‘, nicht: ‚sie ist so‘, so ist schon eine Hypothese drin. Die Philosophie darf über Erlebtes nicht hinausgehen. ‚Der Rest ist Schweigen.‘ Hierdurch dem Skeptizismus Grenzen gezogen. ‚Unvollständige Weltauffassung ertragen lernen‘ – sagte mir einmal Mach sehr gut. Man könnte es so ausdrücken: Maul halten und weiter – leben.“

Damit wird die gemeinsame Nennung von Mach und Popper-Lynkeus im Wiener Kreis-Manifest von 1929 biographisch, historisch und theoretisch plausibel. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass die Büsten der beiden Freunde gemeinsam im Wiener Rathauspark zu finden sind und nicht in der Ruhmeshalle der Wiener Universität, wo das Fehlen Ernst Machs und Moritz Schlicks an der Stätte ihres langjährigen Wirkens Verwunderung auslöst. Schließlich ist es bemerkenswert, dass Paul Feyerabend, einer der vehementesten Kritiker des „kritischen Rationalismus“ und der analytischen Wissenschaftstheorie, Ernst Machs historisch-kritische Forschungsmethodologie wiederbelebte, um die fruchtbare pragmatisch-historische gegenüber der abstrakt-theoretischen Tradition in der Wissenschaftsgeschichte zu favorisieren (Feyerabend 1978, S.  51–60, 1981). Diese Perspektive scheint ein origineller Versuch, Machs Theorie der Forschung als Kritik an gängigen Konzeptionen zu modernisieren und klassisch gewordene Antagonismen wie Philosophie und Wissenschaft, Positivismus und Realismus oder Idealismus und Materialismus historisierend zu überwinden (Feyerabend 1980, S. 273 f.): „Die Machsche Kritik war Teil einer Reform der Wissenschaften, sie verband Kritik mit neuen Ergebnissen; die Positivisten aber und ihre atemlosen Gegner, die ‚kritischen Rationalisten‘, beginnen mit einigen gefrorenen Bestandteilen der Wissenschaften, die der Forschung nicht mehr zugänglich sind, und verstärken sie mit Hilfe philosophischer Argumente (Poppers ‚Beiträge‘ zum Realismus). Machs Kritik war dialektisch und fruchtbar, die Kritik der Philosophen ist dogmatisch und ohne Ergebnisse.“

Mit diesem Erklärungsansatz würden auch einige Missverständnisse und Scheinprobleme verschwinden, wie sie beispielsweise in der Kontroverse zwischen „Positivisten“ und „Realisten“, namentlich zwischen Mach und Boltzmann, Mach und Planck, Schlick und Planck ausgetragen wurden (Stadler 1983).

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Damit erscheint auch das Resümee des Volksbildners und Philosophen Friedrich Jodl über Machs Erkenntnis und Irrtum in einem anderen Problemzusammenhang: „Nicht alles, was existiert, muß wahrgenommen werden, muß als Empfindung existieren; und nicht alles, was wahrgenommen wird, muß existieren“ (Jodl 1917, S. 467). Aber Ernst Machs Wirkung reichte jedoch weit über die universitäre Philosophie hinaus, vor allem in die seinerzeitige Sprachkritik und Literatur, was vielleicht nicht überrascht, wenn man um Machs Vorliebe für den Aphoristiker Georg Chistoph Lichtenberg weiß. Leider scheinen in der bisherigen Forschung gerade die sprachanalytischen Ansätze im Machschen Werk ausgeblendet zu werden. In dieser Hinsicht dokumentiert der Briefwechsel Machs mit dem jungen Journalisten und Sprachphilosophen Fritz Mauthner eine einzigartige Wirkungsgeschichte, speziell am Beispiel von Mauthners Hauptwerk Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901), in dem eine antimetaphysische und nominalistische Sprachkritik präsentiert wird. Diese Rezeptionslinie reicht zumindest bis Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-­philosophicus (1922) mit einem Direktbezug auf Mauthners Position – wenn auch in abgrenzender Absicht gegenüber dessen psychologisch-historischer Methode: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘. (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.)“ (TLP 4.0031). Dieser Topos lässt sich auch mit den geistesverwandten Denkern Karl Kraus und Adolf Loos komplettieren, die – allesamt Verehrer Lichtenbergs – im Problemzusammenhang von Moral, Sprache und Gesellschaft in verschiedenen Bereichen tätig waren (Janik und Toulmin 1973, S. 120–132). Nicht zuletzt ist eine Wirkung von Mach auf Wittgenstein nachzuweisen, die sich in Bruchstücken des Tractatus und der Philosophischen Bemerkungen aufspüren lässt: Die Unmöglichkeit einer Gesamtaussage über die Welt als Ganzes, der neutrale Monismus auf physikalischer Basis bzw. das instrumentalistische Sprachverständnis, die Genese der Sprache aufgrund des Regelfolgens sowie die Idee des Gedankenexperiments können als konvergente Themen gesehen werden (Hintikka 2001). Wie sehr Ernst Mach zusammen mit Ludwig Boltzmann die moderne Physikergeneration geprägt hat, steht außer Zweifel – was auch die oft strapazierte Urszene vom Gigantenkampf beider Hofräte bestätigt. Die tatsächliche Kommunikation zwischen „Positivismus“ und „Realismus“ ging quer durch alle Lager im In- und Ausland: von Einstein bis zum Wiener Kreis, von Friedrich Adler über Max Planck bis zur Monisten- und Friedensbewegung als „spätaufklärerische“ Vorfeldorganisationen des „Vereins Ernst Mach“. Sie findet sich im umfangreichen Briefwechsel zwischen den damals führenden Wissenschaftlern, speziell über die Quantenthe­ orie, und reicht bis in unsere Gegenwart. Gerade das Verhältnis von Mach und Boltzmann und deren Einfluss auf Einstein ist noch Gegenstand aktueller Forschung. Unbestritten ist die Skepsis, die Mach aufgrund seiner empiristischen Erkenntnistheorie gegenüber einer Atomistik hegte, die mehr sein will als ein hypothetisches Erklärungsmodell der „Wirklichkeit“. Ähnlich war auch Machs Haltung gegen Ende seines Lebens zur Relativitätstheorie, nachdem die Fälschung des Optik-­ Vorworts in Frage gestellt werden konnte (Wolters 1987). Schließlich ist aufgrund der einschlägigen Korrespondenz nach 1900 eine starke theoretische Annäherung zwischen Boltzmann und Mach gegeben. Die bisher veröffentlichte Korrespondenz zwischen Mach und Boltzmann zeigt eine intensive, letzten Endes konvergente

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Diskussion unter Ausblendung der Atomistik – und wohl auch die Unhaltbarkeit der Annahme, dass die Gegnerschaft zu Mach eine Hauptursache für Boltzmanns Selbstmord 1906 in Duino bei Triest gewesen sei. Trotz unleugbarer epistemologischer Differenzen existierte eine gemeinsame Basis hinsichtlich antimetaphysischer Philosophie, Darwinismus und konventionalistischer Methodologie vor einem aufklärerischen, sozialliberalen Hintergrund. Unleugbar ist die von Albert Einstein bezeugte Bedeutung Machs als eines Wegbereiters der Relativitätstheorie, vor allem durch seine Kritik an Newtons klassischer Mechanik, die Einstein durch das „Machsche Prinzip“ inspirierte. Erst in den zwanziger Jahren vollzog Einstein eine philosophische Distanzierung vom „Positivismus“ Machs und näherte sich dem „Realismus“ im Sinne Plancks (Feyerabend 1988). Viele Physiker, nicht zuletzt die Vertreter der „Kopenhagener Interpretation“ der Quantentheorie, betrachteten die Machsche Erkenntnistheorie ähnlich wie Carnap und Schlick als – ontologisch neutralen  – methodischen Phänomenalismus/Empirismus und legten vor allem Wert auf die Fruchtbarkeit der experimentalphysikalischen und historischen Arbeit jenseits epistemologischer Kontroversen (Faye 1991). Eine zusätzliche psycho-­ soziologische Erklärung der Faszination, die Mach auf eine ganze Physikergeneration ausübte, könnte in der kognitiven und emotionalen Identifikation der Gruppe junger revolutionärer Wissenschaftler mit Mach und Popper-Lynkeus als Zertrümmerer der klassischen Mechanik liegen: In ihren Augen bestand eine Analogie zwischen der sozialen und der wissenschaftlichen Revolution bzw. zwischen einem ethischen und einem physikalischen Relativismus (Feuer 1974, S. 42 ff.). Auch für die heutige Bewertung von Machs Werk und Wirkung gilt, was Albert Einstein bereits in seinem Nachruf geschrieben hat: „Tatsache ist, daß Mach durch seine historisch-kritischen Schriften, in denen er das Werden der Einzelwissenschaften mit so viel Liebe verfolgt und den einzelnen auf dem Gebiete bahnbrechenden Forschern bis ins Innere ihres Gehirnstübchens nachspürt, einen großen Einfluß auf unsere Generation von Naturforschern gehabt hat. Ich glaube sogar, daß diejenigen, welche sich für Gegner Machs halten, kaum wissen, wieviel von Mach’scher Betrachtungsweise sie sozusagen mit der Muttermilch eingesogen haben … Von mir selbst weiß ich mindestens, daß ich insbesondere durch Hume und Mach direkt und indirekt sehr gefördert worden bin“ (zit. nach Heller 1964, S. 152 f.).

Es ist hier nicht der Platz, um über die Bedeutung von Mach für die Phänomenologie inklusive wissenschaftlicher Kommunikation mit Brentano und Husserl zu sprechen, auch nicht über seine tragende die Rolle bei der Entstehung der Gestalttheorie zusammen mit Christian von Ehrenfels. Aus philosophischer Sicht kann Mach gegenüber einer kritischen Sicht auf die akademische „Schulphilosophie“ im Umfeld von Pragmatismus, Naturalismus und Relativismus platziert werden. Aus methodologischer Sicht erkennen wir eine fächerübergreifende Theorie der Forschung mit dem regulativen Prinzip einer einheitlichen Wissenschaftsbetrachtung zwischen Induktion, Abduktion und Deduktion. Damit kann Mach zurecht als ein Pionier der heutigen History and Philosophy of Science gesehen werden, der den klassischen Dualismus von Entstehungs- und Begründungszusammenhang durch eine explizite Forschungsheuristik zu überbrücken versucht.

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 er Artikel basiert auf folgenden einschlägigen Publikationen des Autors: D Vom Positivismus zur „Wissenschaftlichen Weltauffassung“. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 bis 1934, Wien/München 1982. Rudolf Haller und Friedrich Stadler. (Hrsg.), 1988, Ernst Mach – Werk und W ­ irkung, Wien 1988. Darin: Friedrich Stadler, „Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung“, S. 11–57. Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext. Springer International Publishing Switzerland: 20152. „Ernst Mach and Pragmatism – The Case of Machs’s Popular Scientific Lectures (1895)“, in: Sami Pihlström, Friedrich Stadler, and Niels Weidtmann (Eds.), Logical Empiricism and Pragmatism. Cham: Springer, S. 3–14. Eine gekürzte Fassung erschien in: Johannes Feichtinger/Marianne Klemun/Jan Surman/Petra Svatek (Hrsg.), Wandlungen und Brüche. Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte. Göttingen: Vienna University Press 2018, S. 43–56. Die Hauptwerke Machs sind erschienen in der Ernst Mach Studienausgabe (Berlin, Xenomoi Verlag), Hrsg. von Friedrich Stadler, zusammen mit Michael Heidelberger, Dieter Hoffmann, Elisabeth Nemeth, Wolfgang Reiter, Jürgen Renn, Gereon Wolters: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886). Hrsg. von Gereon Wolters 2008; Erkenntnis und Irrtum (1905). Hrsg. von Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler 2011; Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt (1883). Hrsg. von Gereon Wolters und Giora Hon 2012; Populärwissenschaftliche Vorlesungen (1896). Hrsg. von Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler 2014; Die Prinzipien der Wärmelehre (1896). Hrsg. von Michael Heidelberger und Wolfgang Reiter 2016; Die Prinzipien der physikalischen Optik (1921). Hrsg. von Dieter Hoffmann (2019).

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F. Stadler

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Kapitel 2

Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach Elisabeth Nemeth

Zusammenfassung  Dieser Artikel ist das Ergebnis eines Versuchs, größere Klarheit über den Status der ‚historisch-kritischen Methode‘ bei Ernst Mach zu gewinnen. Das Thema wurde bei der Tagung anlässlich des 100. Todestags Ernst Machs 2016 in Wien diskutiert. Für meine Überlegungen zum Verhältnis von Mach und Neurath, die ich damals vorgestellt habe, spielt die Frage, worin die historisch-­ kritische Methode bestehen soll, eine wichtige Rolle. Ich hielt es für notwendig, ihr nachzugehen, bevor die weitergehenden Fragen zu Neurath und Mach angegangen werden können. Das Folgende ist ein Zwischenergebnis. Es lässt Fragen offen, wirft auch neue Fragen auf. Es ist als Beitrag zu einer laufenden Diskussion zu verstehen. Schlüsselwörter  Ernst Mach · MacGregor · Relativität · historisch-kritische Methode · Newton

2.1  W  issenschaftsgeschichte zwischen Evolutionismus und historisch-kritischer Untersuchung wissenschaftlicher Begriffe Bevor wir uns dem Hauptthema dieses Artikels, der ‚historisch-kritischen Methode‘ zuwenden, muss festgehalten werden, dass die historisch-kritische Untersuchung von Begriffen einer von zwei Flügeln ist, zwischen denen sich alles, was Mach über die Wissenschaftsgeschichte und mit ihrer Hilfe denkt, aufspannt. Der andere Flügel ist Machs Überzeugung, dass das wissenschaftliche Denken sich wie ein Naturwesen entwickelt und als Teil der natürlichen und kulturellen Evolution betrachtet werden muss. Es ist nicht leicht zu sehen, wie diese beiden Flügel innerhalb des Mach’schen Werks zusammenhängen. Diesem Thema kann im Rahmen dieses Artikels nicht nachgegangen werden. Die wenigen Bemerkungen, die ich in diesem ersten Abschnitt anbiete, haben die Funktion einer Arbeitsskizze, die daran erinnern E. Nemeth (*) Institut für Philosophie, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_2

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soll, dass das, was in der Folge über die historisch-kritische Methode gesagt werden wird, irrführend ist, solange nicht die Beziehungen expliziert sind, in denen sie mit Machs evolutionistischer Sicht der Wissenschaft steht. Beginnen wir mit dem Thema, das wir in diesem Artikel bald wieder verlassen werden, dem Evolutionismus. In seiner Antrittsrede als Rektor der deutschen Universität Prag 1883 „Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken“ bezog Mach seine Sicht der Wissenschaftsentwicklung erstmals ausdrücklich auf die Darwin’sche Evolutionstheorie. Mach war dabei vorsichtiger als es seine späteren Aussagen zur Kontinuität zwischen biologischer und wissenschaftlicher Entwicklung vermuten lassen würden. In Erkenntnis und Irrtum von 1905 ist der Evolutionismus ja durchgängig präsent und unumwunden: „Das wissenschaftliche Denken geht aus dem volkstümlichen Denken hervor. So schließt das wissenschaftliche Denken die kontinuierliche biologische Entwicklungsreihe, welche mit den ersten einfachen Lebensäußerungen beginnt.“1 Im Gegensatz dazu fühlt sich Mach im Jahr 1884, als er seine Antrittsrede publiziert, noch bemüßigt, eine Fußnote betreffend Darwins Theorie an den Beginn zu stellen, die eine gewisse Distanz ausdrückt. Darin weist er zunächst darauf hin, dass er selbst den Gedanken, dass sich das wissenschaftliche Denken wie ein Naturwesen entwickelt, schon früher einmal berührt habe, diesem Gedanken aber keine eigene Untersuchung gewidmet habe. Dann versichert Mach, dass er nicht vorhabe, „in die Biologie überzugreifen“. Und er schließt eine Formulierung an, in der er sich fast entschuldigt dafür, dass er dem Zeitgeist huldigt, indem er die Idee Darwins, „die eben in der Luft“ liege, auf Umbildungsprozesse im naturwissenschaftlichen Denken anwendet.2 Vor kurzem hat Thomas Uebel herausgearbeitet, dass Mach seine Auffassung, dass wissenschaftliches Wissen immer gesellschafts- und interessenabhängig ist, schon früh klar zu Ausdruck gebracht hat, vor allem in der Schrift „Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit“ von 1872. Uebel zeigt auf, dass nicht nur bei Mach, sondern auch bei Boltzmann eine Art zentraleuropäischer Pragmatismus avant la lettre vorliegt, in welchem die enge Verflechtung der Wissenschaftsentwicklung mit Technologien und gesellschaftlichen Interessen anerkannt wird.3 Dieser Befund lässt sich gut mit dem von Swoboda in Verbindung bringen, der darauf hingewiesen hat, dass sich schon in den Vorträgen zur  Êrnst Mach, Erkenntnis und Irrtum, Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig 1905, S. 2.  „Der in den folgenden Zeilen dargelegte Gedanke ist im Wesentlichen weder neu noch fern liegend. Ich selbst habe ihn schon 1866 und auch später mehrmals berührt, ohne ihn jedoch zum Hauptthema einer Untersuchung zu machen (vgl. Artikel 5). Auch von anderen ist diese Idee jedenfalls schon behandelt worden; sie liegt eben in der Luft. Da aber manche meiner Detailausführungen auch in der unvollständigen Form, in welcher sie durch den Vortrag und die Tageblätter bekannt geworden sind, einigen Anklang gefunden haben, so habe ich mich, gegen meine anfängliche Absicht, doch zur Publikation entschlossen. Auf das Gebiet der Biologie wünsche ich hiermit nicht überzugreifen. Man sehe in meinen Worten nur den Ausdruck des Umstandes, dass dem Einflusse einer bedeutenden und weit tragenden Idee sich niemand zu entziehen vermag.“ Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen [(1923, S. 245 f.) 2014, S. 203]. 3  Thomas E.  Uebel, 2017: „American Pragmatism, Central-European Pragmatism and the First Vienna Circle“, in: Sami Pihlström, Friedrich Stadler, Niels Weidtmann (Hrsg): Logical Empiricism and Pragmatism. Vienna Circle Yearbook, Vol. 19, Springer 2017, S. 95. 1 2

2  Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach

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Psychophysik von 1863 evolutionäre Züge in Machs Bild der Wissenschaftsentwicklung finden, und zwar ohne Bezugnahme auf Darwin. Mach habe Darwin erst später rezipiert.4 Die evolutionären Züge in der Psychophysik verdanken sich wahrscheinlich, so Swoboda, anderen Quellen: „Jene evolutionären ‚Obertöne‘, welche in seinen frühen Schriften mitschwingen, verdanken […] ihr Dasein wahrscheinlich methodologischen Reflexionen, seinem Interesse an den historischen Seiten der Wissenschaftsentwicklung und vermutlich auch seiner Bekanntschaft mit den Lehren Lamarcks.“5

Zwar ist Swobodas Darstellung entgegenzuhalten, dass Mach selbst – darauf hat Helmut Pulte hingewiesen – zumindest im Rückblick (in seinen „Leitgedanken“ 1910) auch seine frühen Schriften schon unter dem Einfluss Darwins stehen sah. Pulte macht auch darauf aufmerksam, dass Mach zwischen den Ansätzen von Lamarck und Darwin „eine grundsätzliche Differenz gar nicht vornimmt.“6 Dieser Hinweis relativiert die Bedeutung der Frage nach dem Zeitpunkt, an dem Mach (der jedenfalls Lamarck schon früh kannte) Darwin wirklich rezipiert hat. Jedenfalls ist in späteren Schriften, vor allem in Erkenntnis und Irrtum, eine evolutionäre Sicht der Wissenschaftsentwicklung nicht mehr nur in Obertönen, sondern sehr deutlich wahrzunehmen. Abgesehen vom Einfluss Lamarcks und Darwins dürften sich Machs Vorstellungen von der Wissenschaftsentwicklung zumindest auch methodologischen und historischen – in Uebels Perspektive: proto-pragmatischen – Reflexionen verdanken. Diese Seite seines Denkens kann vielleicht erklären, warum den wissenschafts-, sozial-, technik- und kulturgeschichtlichen Gedanken Machs eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber deren evolutionistischer Deutung zukommt. Meiner Meinung nach ist diese relative Eigenständigkeit der wichtigste Grund dafür dass Machs Sicht auf die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaftsphilosophie sowie den Forschungsfeldern HPS und HOPOS bis heute anregend und überraschend wirken kann. Ein rein evolutionistisches Modell hätte zu den genannten Theoriefeldern heute wahrscheinlich weniger beizutragen als die Gedanken zur Wissenschaftsgeschichte, die Mach vorgelegt hat. Damit kommen wir zu dem Thema, das oben als ‚erster Flügel‘ bezeichnet worden ist: der historisch-kritischen Perspektive auf die Wissenschaftsentwicklung. Das bis heute bestehende Interesse an Machs Gedanken zur Wissenschaftsgeschichte bezieht sich vor allem darauf, dass Mach einen engen Zusammenhang zwischen der historisch-kritischen Untersuchung von Begriffen und Theoremen einerseits und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits sah. Die historisch-kritische Untersuchung tradierter physikalischer Begriffe und Theoreme gehört für ihn in die produktive wissenschaftliche Forschung. Entsprechende Untersuchungen sind für  Die Studien von Blackwell hätten gezeigt, dass Mach nicht vor seiner Lehrtätigkeit in Graz (1864–1867) mit dem genauen Inhalt der Darwinschen Schriften vertraut gewesen sei. (Wolfram W. Swoboda: „Physik, Physiologie, Psychophysik – Die Wurzeln von Ernst Machs Empiriokritizismus“, in: Rudolf Haller und Friedrich Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien, Hölder-Pichler-Tempsky, 1988, S. 383). 5  Swoboda, ibid., S. 383 f. 6  Helmut Pulte: „Darwin und die exakten Wissenschaften. Eine vergleichende wissenschaftstheoretische Untersuchung zur Physik mit einem Ausblick auf die Mathematik“, in: Charles Darwin und seine Wirkung. Hrsg. von E.-M. Engels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 161. 4

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E. Nemeth

sein gesamtes Werk charakteristisch. Die Mechanik und die Wärmelehre führen „historisch-kritisch“ im Titel. In der Schrift Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit von 1872 kommt dieser Ausdruck zwar nicht im Titel vor, aber von der Sache her ist die Schrift zweifellos eine Untersuchung dieses Typs. Darüber hinaus enthält sie besonders eindringliche Äußerungen dazu, welche Bedeutung historische Untersuchungen für Fortschritte in der Theoriebildung haben. Beispielhaft für die Aufmerksamkeit, die Machs historisch-kritischer Zugang zur Physik in letzter Zeit gefunden hat, sei hier Erik Banks’ Buch von 2014 zitiert: „Mach was never bashful about criticizing physics, with excellent results: his searching critiques of concepts of Newtonian physics (space, time, mass, energy) and nineteenth-­century thermodynamics showed his refusal to fall into line and simply recite statements of principle verbatim. He was doing a fresh historico-critical investigation of fundamental concepts, which were the real subjects of all his books. To Mach, science was a system of open critical inquiry, never a set of stock textbook principles and set problems to be learned by rote. Mach was also aware of important gaps in the conceptual structure of physics which he believed only an historical-philosophical analysis of physics could reveal. Long before Thomas Kuhn and the twentieth-century reaction against logical positivism led philosophers to the historico-critical method again, Mach realized that these anomalies in physics are the beginnings of new science and should not be ignored but rather brought to the forefront of inquiry.“7

So treffend Banks die historisch-kritischen Untersuchungen Machs charakterisiert, so notwendig scheint es mir, seine Anspielung auf den Logischen Positivismus zu ergänzen und zu korrigieren. Die Forschung zur Geschichte des Logischen Empirismus der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass wichtige Vertreter des Logischen Empirismus – Philipp Frank, Otto Neurath, Edgar Zilsel – eine enge Beziehung zwischen Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie und historisch-kritischer Rekonstruktion von Theorien sahen. Bekanntlich hat Carnap die Arbeiten Kuhns durchaus positiv beurteilt. Kuhn, der die erste Version von The Structure of Scientific Revolutions 1962 im Rahmen der Encyclopedia of Unified Science veröffentlicht hat, sollte heute nicht mehr gegen den „Logischen Positivismus“ ausgespielt werden, wie es im Zitat von Banks zumindest indirekt geschieht. Neurath hat die historisch-kritische Seite von Machs Werk besonders geschätzt.8 In seinen ökonomischen Arbeiten hat er versucht, diesen Zugang in der Nationalökonomie anzuwenden. Ausgehend von einer historisch-kritischen Untersuchung zentraler wirtschaftswissenschaftlicher Begriffe hat Neurath eine neue begriffliche Struktur der Wirtschaftswissenschaften vorgeschlagen und wollte damit eine Erweiterung der Theoriebildung in der Wirtschaftswissenschaft erreichen. Er war sich darüber im Klaren, dass er damit in die Fußstapfen von Mach zu treten versuchte.9  Banks 2014, S. 39.  In einem Brief an Richard von Mises schreibt Otto Neurath, dass er Machs Schrift Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit besonders hoch schätzte. (Otto Neurath an Richard von Mises, 10. Juni 1937) Zitiert mit Genehmigung der Wiener Kreis Stichting (Amsterdam). Alle Rechte vorbehalten. 9  Siehe dazu: Elisabeth Nemeth: „‚Freeing up One’s Point of View‘: Neurath’s Machian Heritage Compared with Schumpeter’s“, in: E. Nemeth, T. Uebel, S.W. Schmitz (Hrsg.): Otto Neurath’s Economics in Context. Vienna Circle Institute Yearbook Vol. 13, 2007, S.  13–36. Elisabeth Nemeth: „The Philosophy of ‚The Other Austrian Economics‘“, in: H. Andersen, D. Dieks, W. González, T. Uebel & G. Wheeler (Hrsg.), New Challenges to Philosophy of Science. Springer, 2013, S. 339–350. 7 8

2  Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach

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2.2  D  ie „historisch-kritische Methode“ der Theologie des 19. Jahrhunderts als Vorbild für Mach? In seinem Vortrag auf der Tagung zum 100. Todestag Machs 2016 in Wien hat Don Howard die Auffassung vertreten, dass eine Quelle oder zumindest ein wichtiger Bezugspunkt für Machs historisch-kritische Untersuchungen die Bibelforschung des 19. Jahrhunderts gewesen sei, bzw. eben das, was Theologen seiner Zeit unter „historisch-kritischer Methode“ und Hermeneutik verstanden. Don Howard meinte, dass Mach über diese moderne Richtung in der Bibelforschung seiner Zeit wohl Bescheid gewusst habe und dieser Kontext zu einem besseren Verständnis seiner historisch-kritischen Methode beitragen könnte. Zwar halte auch ich es für durchaus einleuchtend, dass Mach von den Entwicklungen in der Bibelforschung seiner Zeit wusste. Immerhin kann die methodische historische Textkritik als eine wissenschaftlich-aufklärerische Strömung innerhalb der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, später auch der katholischen gesehen werden.10 Dennoch bin ich Don Howards These gegenüber skeptisch. Es ist zwar richtig, dass Mach bei seiner historischen Rekonstruktion physikalischer Begriffe immer wieder den historisch-kulturellen Hintergrund berücksichtigt hat. Als Zeugnis für sein Interesse an der kulturellen Einbettung wissenschaftlichen Denkens könnte der Abschnitt „Theologische, animistische und mystische Gesichtspunkte in der Mechanik“11 gelten, in dem Mach die vielfältigen ­Verwicklungen zwischen theologischen und wissenschaftlichen Motiven im Denken großer Naturwissenschaftler beschreibt. Freilich beschreibt Mach die zeitliche Entwicklung als einen langsamen, aber permanenten Prozess der Selbstaufklärung, der die theologischen Einflüsse immer mehr zurückdrängt und der, wie Mach meint, bis in seine Tage nicht abgeschlossen ist. Ausdrücklich erwähnt und positiv kommentiert wird von Mach in diesem Abschnitt nur Edward B. Tylers Buch von 1873 Die Anfänge

10  Dass aufklärerisches Denken in Religionen und Theologien auf der einen Seite und Entwicklungen in den Wissenschaften auf der anderen Seite gewisse Parallelen aufweisen können, hat auch Philipp Frank betont, als er 1951 Entwicklungen im modernen Judentum und Christentum beschrieb: „also liberal Christianity and Reform Judaism are offsprings of the ‚relativity of truth‘.“ Philipp Frank, Relativity – a richer truth, London: Jonathan Cape 1951, S. 45. 11  Ernst Mach, Die Mechanik, in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt, Leipzig: Brockhaus 1912, S. 429–444. Hinweis zu der Zitationsweise: In diesem Artikel muss ich mehrere Auflagen von Machs Mechanik vergleichend verwenden. Ich habe mich zu folgender Zitationsweise entschlossen. In allen Kontexten, in denen die Editionsgeschichte unproblematisch ist, zitiere ich aus der letzten Ausgabe, die Mach redigiert hat, nämlich der 7. Auflage von 1912. Diese Auflage liegt der Studienausgabe zugrunde, die als Band 3 der Ernst Mach Studienausgabe mit einer Einleitung von Gereon Wolters und Giora Hon bei Xenomoi 2012 herausgegeben wurde. Obwohl ich mit dieser Studienausgabe gearbeitet habe, mache ich wegen der Kompatibilität mit anderen Ausgaben Seitenangaben entsprechend der Auflage von 1912. Wenn frühere Auflagen verwendet werden, ist jeweils sowohl die entsprechende Zahl als auch das Erscheinungsjahr angegeben.

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der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Mein Eindruck ist, dass der Ductus von Machs Ausführungen in diesem Abschnitt Ähnlichkeiten mit der frühen modernen Ethnologie aufweist – Edward B. Tyler gilt als einer ihrer Gründer. Dagegen sehe ich darin keinen Hinweis auf die Art von methodischer Textkritik, die für Teile des theologischen Denkens im 19. Jahrhundert bestimmend wurde. Die Textkritik zielte (und zielt) ja darauf ab, einen (biblischen) Text in seinem historischen Kontext zu verstehen und auszulegen. Dabei spielen die Rekonstruktion der vermuteten Vor- und Entstehungsgeschichte des Textes und seine Einbindung in das damalige Geschehen eine besondere Rolle. Zum methodischen Instrumentarium dieses Unternehmens gehören Redaktionskritik, Literarkritik, Form- und Traditionskritik. Nichts davon sehe ich in den Ausführungen Machs zu theologischen Gesichtspunkten in der Mechanik. Freilich finden wir auch in den konkreten historischen Untersuchungen Machs Hinweise auf die historisch-kulturelle Einbettung von Begriffen. So stellt er im Fall des Begriffs des absoluten Raums Einflüsse mittelalterlicher Philosophie im Denken Newtons fest. „Es scheint, als ob Newton bei den eben angeführten Bemerkungen [zur absoluten und relativen Zeit E.N.] noch unter dem Einfluss der mittelalterlichen Philosophie stünde, als ob er seiner Absicht, nur das Tatsächliche zu untersuchen, untreu würde.“12

Aber Mach diagnostiziert diesen Einfluss als Behinderung des ursprünglichen Projekts Newtons, das darin bestanden habe, nur das Tatsächliche zu untersuchen. Mach selbst versteht sich hier als derjenige, der dieses ursprüngliche Projekt Newtons wieder aufgreift und fortführt, indem er die experimentellen Tatsachen von Newtons Eimer-Experiment – unter Verzicht auf die Verwendung von Newtons Begriffen des absoluten Raums und der absoluten Bewegung – neu b­ etrachtet. Ich bezweifle, dass die historisch-kritische Bibelforschung etwas mit der Forderung Machs anfangen könnte, die etablierten Begriffe der Physik durch Rückgang in die Wissenschaftsgeschichte provisorisch außer Kraft zu setzen und „das Tatsächliche“ neuerlich in den Blick zu nehmen. In jedem Fall scheint mir Machs Forderung nicht kompatibel zu sein mit dem, was unter Textauslegung im Sinn der Hermeneutik zu verstehen ist. Wir werden auf diese Frage später zurückkommen, ich möchte aber gleich hier ein mögliches Missverständnis ausräumen. Ich vertrete nicht die Auffassung, dass Mach einen unmittelbaren Zugang zum Tatsächlichen jenseits historischer ­Begriffsbildung annahm. Für Mach sind Erkennen im Allgemeinen und Wissenschaft im Besonderen durch und durch historische Unternehmen. Allerdings spielt in diesen Unternehmen die Beziehung zwischen theoretischen Ausdrücken und dem Tatsächlichen, auf das sie sich beziehen, eine zentrale Rolle. Die Art und Weise, wie Mach diese Beziehung sah, ist meiner Meinung nach im hermeneutischen Rahmen nicht angemessen artikulierbar.

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 Mechanik, 1912, p. 217.

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2.3  Z  ur Bedeutung des Ausdrucks „historisch-kritisch“ bei Ernst Mach Mach hat seine Darstellungsweise physikalischer Theoreme und Begriffe in den Titeln von zwei seiner Hauptwerke, der Mechanik und der Wärmelehre selbst als „historisch-kritisch“ bezeichnet.13 Überraschenderweise wird man aber (fast) nicht fündig, wenn man nach Stellen innerhalb dieser Werke sucht, an denen Mach seinen „historisch-kritischen“ Zugang zur Physik ausdrücklich zum Thema macht. Zwar spielen  – wie Banks im Zitat oben hervorgehoben hat  – historisch-kritische Untersuchungen physikalischer Begriffe nicht nur in diesen beiden Büchern, sondern in allen Werken Machs eine wichtige Rolle. Dementsprechend häufig ist von historischen Beispielen die Rede. Aber Mach äußert sich innerhalb seiner Untersuchungen kaum dazu, was er unter „historisch-kritisch“ versteht. Wenn wir nach dem vollständigen Ausdruck „historisch-kritische Methode“ (meine Hervorhebung) suchen, findet sich, soweit ich sehe, nur eine Stelle, an der er ausdrücklich vorkommt. Sie befindet sich in der Mechanik, und sie stammt ursprünglich nicht von Mach selbst. Vielmehr taucht sie innerhalb der Referenz auf einen Artikel des Physikers MacGregor auf, der die „historisch-kritische ­Methode“ als die Methode Ernst Machs bezeichnete. Dazu werden wir im Abschn.  2.3.2 kommen. Ich plädiere im Folgenden dafür, zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks „historisch-­kritisch“ bei Mach zu unterscheiden: 1. Mit den Ausdrücken „historisch-­ kritische Darstellung“ resp. „historisch-kritische Entwicklung“ verortet Mach seine Darstellung der Wissenschaftsgeschichte in der historistischen Strömung in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts. 2. Der Ausdruck „historisch-kritische Methode“ (meine Hervorhebung) kommt bei Mach nur an der Stelle vor, an der er MacGregor paraphrasiert. Das ist deshalb von Bedeutung, weil Mach dort auch MacGregors Definition dieser Methode übernimmt: nämlich als eine spezifische Methode innerhalb der naturwissenschaftlichen Theoriebildung.

2.3.1  „ Historisch-kritische Darstellung“. Ernst Mach als Beispiel des Historismus des 19. Jahrhunderts Dass Mach es nicht für nötig hielt, über das, was er „historisch-kritische Darstellung“ oder „historisch-kritische Entwicklung“ nannte, von sich aus genauere Auskunft zu geben, legt die Vermutung nahe, dass er den Ausdruck für unproblematisch hielt. Mach war ja nicht der einzige Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts,  Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 1883. Die Principien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt, Leipzig 1896.

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der seine Werke als „historische“ oder auch ausdrücklich als „historisch-kritische“ Darstellungen präsentierte. Mach verweist selbst auf mehrere entsprechende Werke: Georg Friedrich Helm, Die Energetik nach ihrer geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1898;14 Hermann Weißenborn, Prinzipien der höheren Analysis in ihrer Entwicklung von Leibniz bis Lagrange, als historisch-kritischer Beitrag zur Geschichte der Mathematik dargestellt, Halle 1856;15 Ludwig Lange, Die geschichtliche Entwicklung des Bewegungsbegriffs und ihr voraussichtliches Endergebnis. Ein Beitrag zur historischen Kritik der mechanischen Prinzipien, Leipzig 1886;16 Hermann Hankel, Zur Geschichte der Mathematik in Alterthum und Mittelalter, Leipzig 1874.17 Diese Liste von Schriften, auf die Mach verweist und die die Ausdrücke „historisch“, „geschichtlich“ oder „historisch-kritisch“ im Titel führen, ist bestimmt nicht vollständig. Sie soll nur darauf aufmerksam machen, dass sich Mach darüber bewusst gewesen sein muss, dass sein historischer Zugang zur Naturwissenschaft und auch sein historisch-kritisches Selbstverständnis einem Milieu angehörten, das in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts durchaus verbreitet war. In diesem Sinn gehört Mach zur „Strömung des Historismus“ seiner Zeit, wie schon Rudolf Haller hervorgehoben hat. Freilich dürfte Haller das Ausmaß, in dem der Historismus auch in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts präsent war, unterschätzt haben.18 Mach hat der naturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung seiner Zeit kontinuierlich Aufmerksamkeit gewidmet. In die Neuauflagen der Mechanik arbeitete er sukzessive nicht nur neue Literatur zur physikalischen Forschung, sondern auch wissenschaftsgeschichtliche Werke ein. Zwei bekannte Beispiele sind Emil ­Wohlwill und Pierre Duhem.19 Emil Wohlwills Arbeiten zu möglichen Vorläufern

 Mechanik, 7. Auflage, 1912, S. 401. Ein früheres Werk Georg Ferdinand Helms, das Mach freilich nicht zitiert, trägt den Titel: Lehre von der Energie historisch-kritisch entwickelt, nebst Beiträgen zu einer allgemeinen Energetik, Leipzig 1887. Siehe dazu die Anmerkung der Herausgeber in Mach, Mechanik, 2012, S. 401. 15  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 362. 16  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, a.a.O., S. 441. 17  Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, 9. Auflage, Jena 1922, S. 99; Ernst Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 5. Auflage, Leipzig 1923, S. 341. 18  Rudolf Haller, „Grundzüge der Machschen Philosophie“, in: Rudolf Haller und Friedrich Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien 1988, S. 69. Freilich geht aus dieser Stelle auch hervor, dass Haller das Ausmaß, in dem Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts ihre Forschungsrichtung historistisch betrachtet haben, unterschätzt haben dürfte. 19  An den Beispielen Wohlwill und Duhem zeigt sich besonders gut, dass Mach seine Auseinandersetzung mit der historischen Forschung sehr ernst nahm. Seine Ansichten zu Marcus Marci änderte Mach wegen der Forschungen Wohlwills zwei Mal, siehe 2. Auflage, 1889, S.  284 und 7. Auflage, 1912, S.  312  f. (= Mechanik 2012, S.  353). Seine Einschätzung von Descartes korrigierte er auf Grund der Studien Duhems, siehe 7. Auflage, 1912, S. 148 (2012, S.  177). Ein weiteres Beispiel für die große Aufmerksamkeit, mit der Mach die historische Forschung verfolgte, ist sein Hinweis auf die Ergebnisse Wohlwills in Mechanik, 7. Auflage, 1912, S. 76. 14

2  Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach

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Galileis hat Mach ab der 2. Auflage (1889) berücksichtigt.20 Den ersten Band von Wohlwills Buch über Galilei, der 1909 erschien,21 rezipierte er in der 7. Auflage (1912).22 Pierre Duhem wird bereits in der 4. Auflage von 1901 kurz erwähnt.23 In der 6. Auflage (1908) finden sich im Anhang, in dem übrigens auch Vailati rezipiert wird, zwei Zusätze, die ausführliche Auseinandersetzungen mit Pierre Duhems Les origines de la statique (1905) enthalten.24 Mach hat diese Zusätze in der 7. Auflage 1912 in den Text integriert und hat für eine der Textstellen in der neuen Auflage ein paar einleitende Sätze verfasst. Diese sind für die Frage, was „historisch-kritisch“ für Mach bedeutet, interessant: „Die Kenntnis der Entwicklung einer Wissenschaft beruht auf dem Studium der Schriften in der historischen Folge und in ihrem Zusammenhang. Für die antike Zeit fehlen natürlich manche Quellen und für andere ist der Autor unbekannt oder zweifelhaft. In den spätern Jahrhunderten, besonders vor Erfindung des Buchdrucks, herrscht die Unsitte, dass der Autor selten die ihm bekannten Vorgänger anführt, wo er ihre Arbeit benutzt, sondern in der Regel nur dort, wo er meint, den Vorgängern widersprechen zu müssen. Durch diese Umstände wird das bezeichnete Studium sehr erschwert und stellt die höchsten Ansprüche an die Kritik.“25

Mit „Kritik“ ist hier offensichtlich Quellenkritik gemeint, sofern sie darauf abzielt, unbekannte Quellen herauszufinden und die historische Folge der Texte und ihren Zusammenhang richtig zu rekonstruieren. Machs große Aufmerksamkeit für die Forschungen von Wohlwill zeigt, wie wichtig ihm Quellenforschung und die richtige Rekonstruktion der historischen Folge war. Mach zeigt auch eine hohe begriffsgeschichtliche Sensibilität. Das folgende Zitat ist ein schönes Beispiel für seine Kritik an einer unhistorischen Verwendung von Begriffen.

 Bereits in der 2. Auflage 1889 hat Mach im Anhang (Zusatz 1 und Zusatz 5) die Arbeiten Wohlwills zu Vorläufern Galileis kritisch besprochen. Diese Zusätze finden sich ab der 3. Auflage leicht modifiziert im Text integriert wieder. Was Machs Einschätzung von Marcus Marci betrifft, zeigt sich in der 7. Auflage (1912) eine deutliche Veränderung des Textes gegenüber den früheren Auflagen. Während er noch in der 6. Auflage von 1908 die Schriften Marcis für „ein interessantes und wenig beachtetes Object für Geschichtsforscher auf dem Gebiete der Physik“ (Mechanik, 6. Auflage, 1908, S. 349) hielt, hält er 1912 fest, dass nach Wohlwills Untersuchungen Marci „in keiner Weise als Förderer der Dynamik in Galileis Richtung angesehen werden“ könne. [Mechanik (1912, S. 314) 2012, S. 352]. 21  Emil Wohlwill, Galilei und sein Kampf für die Kopernikanische Lehre, 1.Band, Hamburg: Voss 1909. Dazu siehe die Hinweise der Herausgeber in Mach, Mechanik, 2012, S. 62. 22  Mach nennt Duhems L’évolution des théories physiques (1896). Bibliographische Angaben der Herausgeber siehe Mechanik 2012, S. 327. 23  Mechanik, 4. Auflage, 1901, S. 311. 24  Zusatz 1 und Zusatz 2 in Mechanik, 6. Auflage, 1908, S. 555–563. 25  Mechanik, 7. Auflage, 1912, S. 76. Den Absatz 9 im 5. Abschnitt des 1. Kapitels hat Mach erstmals in der 7. Auflage von 1912 eingefügt. Die oben zitierten einleitenden Sätze sind für die Ausgabe von 1912 verfasst, während der gesamte übrige Absatz 9 im 5. Abschnitt des 1. Kapitels Ausführungen über Duhem enthält, die bereits in der 6. Auflage von 1908 enthalten waren, allerdings nur im Anhang als Zusatz 2 (Mechanik, 6. Auflage, 1908, S. 556–565). 20

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E. Nemeth „Es wäre ein Anachronismus und gänzlich unhistorisch, wollte man die gleichförmig beschleunigte Fallbewegung, wie dies mitunter geschieht, aus der konstanten Wirkung der Schwerkraft ableiten. ‚Die Schwere ist eine konstante Kraft, folglich erzeugt sie in jedem gleichen Zeitelement den gleichen Geschwindigkeitszuwachs, und die Bewegung wird eine gleichförmig beschleunigte‘. Eine solche Darstellung wäre deshalb unhistorisch und würde die ganze Entdeckung in ein falsches Licht stellen, weil durch Galilei erst der heutige Kraftbegriff geschaffen worden ist. Vor Galilei kannte man die Kraft nur als einen Druck. Nun kann niemand, der es nicht erfahren hat, wissen, dass Druck überhaupt Bewegung mit sich bringt, noch viel weniger aber, wie Druck in Bewegung übergeht, dass durch den Druck keine Lage und auch keine Geschwindigkeit, sondern eine Beschleunigung bestimmt ist. Das lässt sich nicht herausphilosophieren. Es lassen sich darüber Vermutungen aufstellen. Die Erfahrung allein aber kann darüber endgültig belehren.“26

Soweit ich sehe, kann Machs Zugehörigkeit zu einem historistischen Milieu in den Naturwissenschaften jedenfalls in zwei Hinsichten konkretisiert werden: in der Forderung nach einem kritischen Umgang mit historischen Quellen und der Forderung nach Vermeidung von Anachronismen. Beide Forderungen sind zentrale Bestandteile des Inventars historistischer Methodologie, mit deren Hilfe Historikerinnen und Historiker seit Ranke intersubjektiv überprüfbare Standards in die Geschichtsschreibung einzuführen suchten. Objektivierende Verfahren sollten an die Stelle einer philosophierenden Geschichtsschreibung treten. Solche objektivierende Verfahren haben, wie schon oben gesagt, auch die Theologie des 19. Jahrhunderts bedeutend verändert. In diesem Sinn kann Machs Historismus durchaus in einem Atemzug mit der historisch-kritischen Methode in der Theologie genannt werden. Freilich, so scheint mir, kommen die Gemeinsamkeiten von Bibelforschung und Machs historisch-kritischer Physikgeschichte daher, dass beide den historiographischen Standards gerecht zu werden suchten, die der Historismus im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Die Hermeneutik als Lehre des Verstehens und Auslegens des Sinns von Texten, Kunstwerken und Symbolen ist aus meiner Sicht eine andere Angelegenheit. Auch sie, das ist wichtig zu sehen, wurde im 19. Jahrhundert von einer Philosophie des Verstehens zu einer relativ abgegrenzten Theorie mit eigenem Gegenstandsfeld, die ihre begriffliche und methodische Basis ausdrücklich zu formulieren suchte und das Thema der Geschichtlichkeit von Texten und Symbolen in einer neuen Weise ernst nahm – was dazu führte, dass auch in die Theorie der Hermeneutik neue historiographische Standards einflossen. Aber der springende Punkt in der theoretischen Grundstruktur der Hermeneutik – der „hermeneutische Zirkel“ – ist darüber ­definiert, dass die Interpretin sich in einer immer schon gedeuteten Welt befindet. Sie muss den Sinn eines Texts, den sie erschließen will, voraussetzen und kann ihn per definitionem nicht mit etwas konfrontieren, das außerhalb der Welt von Deutungen liegt. Für Mach dagegen wäre die Geschichte der Naturwissenschaften ohne Blick auf die Beziehung zwischen in historischen Schriften formulierten Begriffen und Theoremen auf der einen Seite und Tatsächlichem auf der anderen Seite gar nicht zu schreiben. Mach war sich darüber im Klaren, dass das Tatsächliche nicht gleichsam rein 26  Mechanik, 1912, S. 132 f. Der gesamte Absatz findet sich übrigens alle Auflagen hindurch unverändert. In ähnlicher Weise argumentiert Mach gegen Anachronismen im Kontext des Materie-Begriffs bei Newton in Mechanik, 1912, S. 189.

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z­ ugänglich ist: auch experimentelle Settings sind ohne Theorie nicht denkbar. Trotzdem oder gerade deshalb bleibt für Mach der springende Punkt der Wissenschaftsgeschichte, dass sie als eine Geschichte des Verhältnisses zwischen Begriffen und Tatsächlichem aufgefasst werden muss. – Natürlich ist das alles ein weites Feld, das hier nicht weiter bearbeitet werden kann. Ohne in Details gehen zu können, möchte ich aber darauf drängen, in Hermeneutik und historisch-kritischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung à la Mach zwei grundverschiedene Projekte zu sehen. Wer dies nicht tut, begibt sich in die Gefahr, die spezifischen Fragestellungen, die in diesen Projekten jeweils erarbeitet worden sind, nicht in ihrem jeweiligen Reichtum wahrnehmen zu können. Weder ungelöste Schwierigkeiten noch die Grenzen des jeweiligen Ansatzes und schon gar nicht die jeweilige Originalität und Leistungsfähigkeit kämen in den Blick, wenn die beiden Projekte gleichsam übereinander geblendet würden. Das Verständnis von Hermeneutik würde auf diese Weise ebenso verdünnt wie das Verständnis der historisch-kritischen Vorgangsweise im Sinne Machs. Auf der Tagung zu Ehren von Michael Heidelberger in Tübingen im Dezember 2017 hat Moritz Epple vorgeschlagen, Machs historisch-kritischen Ansatz in Beziehung zu anderen, in der Mach-Forschung bisher weniger beachteten Beispielen von Historismus in Mathematik und Naturwissenschaften zu setzen.27 Es wäre interessant, wenn solche Untersuchungen auch die Frage behandeln würden, ob in anderen Werken naturwissenschaftlicher Geschichtsschreibung ausdrücklich von einer „historisch-­ kritischen Methode“ die Rede ist und welche Art von Verbindung zur „historisch-kritischen Methode“ in der Theologie des 19. Jahrhunderts bestehen könnte. Dass es bei einer vergleichenden Betrachtung des Historismus in den Naturwissenschaften einiges Überraschendes zu entdecken geben könnte, zeigt z.  B. die kleine Schrift von Hermann Hankel „Die Entwicklung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten“ von 1869.28 Wer sich von dem idealistischen Rahmen und der entsprechenden Terminologie nicht ins Bockshorn jagen lässt, findet mehr Gemeinsamkeiten mit Machs Blick auf die Geschichte der Naturwissenschaften als zu erwarten wäre. Sie reichen von Parallelen in der Metaphysikkritik,29 über die Betonung des Einflusses historisch kontingenter Umstände auf die Entwicklung der Mathematik30 bis hin zum Gedanken, dass wissenschaftlicher „Tact“ unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiche Forschung sei.31  Moritz Epple in Tübingen, 1.–3. Dezember 2017.  Ich danke Moritz Epple für den Hinweis auf Hankel. 29  Hermann Hankel, Die Entwickelung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten. Ein Vortrag beim Eintritt in den akademischen Senat der Universität Tübingen am 29. April 1869, Tübingen, L. Fr. Fues’sche Sortimentsbuchhandlung, 1869, S. 22 f. 30  „Wer die Geschichte der Mathematik kennt und ein offenes Auge für den typischen Charakter einer Zeit hat, kann den Einfluss nicht übersehen den Zeitcharakter und Volkseigenthümlichkeit auf die Entwickelung der mathematischen Wissenschaft ausgeübt haben. Wäre es mir erlaubt, diese Thatsache hier ausführlich zu begründen, so würden Sie, hochverehrte Herren, in dem Zustande der Mathematik in jeder Epoche den Reflex aller der Eigentümlichkeiten erkennen, welche jene Zeit charakterisieren. Es ist eben Mathematik auch eine Wissenschaft, die von Menschen betrieben wird, und jede Zeit, sowie jedes Volk hat nur Einen Geist.“ (Hankel a.a.O., S. 25). 31  Hankel: „Es ist, sozusagen, ein wissenschaftlicher Tact, welcher die Mathematiker bei ihren Untersuchungen leiten, und sie davor bewahren muss, ihre Kräfte auf wissenschaftlich werthlose 27 28

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2.3.2  D  ie „historisch-kritische Methode“: MacGregor und Ernst Mach Soweit ich sehe, taucht die Rede von einer „historisch-kritischen Methode“ (meine Hervorhebung) im Werk Ernst Machs nur als – von Mach positiv übernommene – Fremdzuschreibung auf. In der 5. und in der 6. Auflage von Machs Mechanik (1904 und 1908) findet sich im 2. Kapitel, im berühmten Abschn. 6 „Newtons Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung“ ein Absatz, der mit der Ziffer 12 bezeichnet ist und etwa sechs Seiten umfasst. Er wurde für die 5. Auflage verfasst und beschäftigt sich mit neueren Veröffentlichungen, die Machs Kritik des Begriffs der „absoluten Bewegung“ und die Deutung des Trägheitsgesetzes betreffen.32 Mach weist darauf hin, dass immer mehr Physiker seine Ansicht (die vor zwanzig Jahren fast allgemein Befremden erregt habe) inzwischen teilen, nämlich „dass die ‚absolute Bewegung‘ ein sinnloser, ­inhaltsleerer, wissenschaftlich nicht verwendbarer Begriff sei“.33 Freilich ist für Mach die inzwischen weit verbreitete Akzeptanz dieser Einsicht nur die Voraussetzung für den nächsten Schritt – und auf diesen kommt für ihn nun alles an: „Sind aber die ohnehin ungreifbaren Hypothesen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit nicht mehr haltbar, so entsteht die Frage: Auf welche Weise können wir dem Trägheitsgesetz einen verständlichen Sinn geben? MacGregor zeigt in einer vortrefflichen, klar geschriebenen Abhandlung („Philos.Magaz.“, XXXVI, 1893, S. 233) zwei Wege auf: 1. Den historisch-kritischen Weg, welcher von neuem die Tatsachen ins Auge fasst, auf welchen der Trägheitssatz ruht, welcher ferner dessen Gültigkeitsgrenzen und eventuell eine neue Formulierung in Betracht zieht. 2. Die Annahme, dass der Trägheitssatz in seiner alten Form die Bewegungen genügend kennen lehrt, und die Ableitung des richtigen Koordinatensystems aus diesen Bewegungen. Für die erste Methode ist meine hier gegebene Darstellung ein Beispiel. Dieselbe enthält auch schon den Hinweis auf notwendig werdende Modifikationen des Ausdrucks durch Probleme und abstruse Gebiete zu wenden, ein Tact, der dem ästhetischen nahe verwandt, das einzige ist, was in unserer Wissenschaft nicht gelehrt und gelernt werden kann, aber eine unentbehrliche Mitgift eines Mathematikers sein sollte.“ (Hankel a.a.O., S. 28). Mach: „Trotz seinem metaphysischen Hang fürs Absolute war Newton durch den Takt des Naturforschers richtig geleitet …“ (Mechanik 1912, S. 227). 32  Mach ist ab der 2. Auflage der Mechanik (1889) auf Kritiken und neue Arbeiten zu einschlägigen Themen eingegangen. In der 2. Auflage tat er dies noch in Form von Zusätzen im Anhang. Diese wurden in der 3. Auflage (1897) in den Text integriert. Die Zusätze der 2. Auflage, die dem Abschnitt „Newtons Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung“ gelten, sind in der 3. Auflage unter Absatz Ziffer 9 (des Abschnitts „Newtons Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung“) zu finden, direkt in Anschluss an den ursprünglichen Text von Absatz Ziffer 9. In der 4. Auflage wurden weitere Besprechungen von mittlerweile erschienenen Schriften angefügt. In der 5. Auflage (1904) hat Mach den Absatz Ziffer 9, der in der 4. Auflage durch die vielen Besprechungen lang und unübersichtlich geworden war, in mehrere Absätze aufgeteilt. Absatz Ziffer 9 enthält nun wieder nur den ursprünglichen Text der 1. Auflage. Absatz Ziffer 10 enthält die Besprechungen, die Mach ursprünglich in der 2. Auflage (1889) veröffentlicht hatte, Absatz Ziffer 11 diejenigen, die in der 3. Auflage (1897) dazugekommen waren. Absatz Ziffer 12 enthält die in der 5. Auflage neu hinzugekommenen Besprechungen. 33  Mechanik 1908, S. 257.

2  Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach

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Erweiterung der Erfahrung. Der zweite Weg liegt psychologisch gewiss am nächsten bei dem großen Vertrauen, welches die Mechanik als exakteste Naturwissenschaft genießt. In der Tat ist dieser Weg mit mehr oder weniger Erfolg oft eingeschlagen worden, und ich selbst habe denselben versucht, bevor ich glaubte, den anderen vorziehen zu müssen.“34

Mach hatte auch schon in der 3. Auflage (1897) auf eine Arbeit MacGregors hingewiesen.35 Aber es scheint, als wäre er erst in den Jahren vor der 5. Auflage auf den Artikel MacGregors „On the Hypotheses of Dynamics“ von 1893 gestoßen. James Gordon MacGregor war Professor für Physik am Dalhousie College in Halifax.36 Der Artikel, aus dem Mach zitiert, ist MacGregors Antwort auf Oliver Lodge (Professor für Physik am University College Liverpool), dessen Artikel „The Foundations of Dynamics“ einige Monate früher im selben Journal erschienen war.37 Die Debatte zwischen „Relativismus“ à la Mach (MacGregor) und „Absolutismus“ (Lodge) wurde scharf geführt, und – das ergibt sich aus beiden Schriften – sie hatte schon frühere Phasen durchlaufen. Ein genauerer Blick darauf würde sich meiner Einschätzung nach durchaus lohnen, aber den Rahmen dieses Beitrages bei weitem sprengen. MacGregors Charakterisierung der „historisch-kritischen Methode“ muss Mach als treffend und erhellend für sein eigenes Vorgehen erschienen sein. Andernfalls hätte er dessen Schrift nicht so ausführlich zitiert und paraphrasiert, und er hätte wohl auch nicht die Behauptung MacGregors, diese Methode werde von Mach angewendet, so affirmierend übernommen. Ein Blick auf den Artikel MacGregors im Original zeigt, dass Machs Paraphrasierung den Formulierungen MacGregors sehr nahe folgt. „There would seem to be two legitimate ways of finding dynamical reference systems: (1) by re-studying the experimental results for the deduction of which the laws of motion were enunciated, and re-formulating these laws; and (2) by assuming that, since the laws of motion in their vague form have been abundantly tested in the hands of men enabled by a kind of dynamical instinct to use them aright, there must be axes by reference to which they hold, and proceeding to determine these axes by the aid of the laws themselves. The former method, the historical-critical, is that employed by Prof. Mach.“38

 Mechanik 1908, S. 257 f.  Soweit ich sehe, nennt Mach MacGregor erstmals in der 3. Auflage von 1897, und zwar unter den Autoren, die das Trägheitsgesetz behandeln. Er verweist hier aber nur auf den Vortrag vor der Royal Society of Canada von 1895. (Mechanik, 3. Auflage 1897, 236). In der 6. Auflage von 1908 taucht MacGregor, abgesehen von der oben zitierten Stelle, auch in der Liste der „Relativisten“ auf: „Stallo, J.Thomson, Ludwig Lange, Love, J.G. MacGregor, Pearson, Mansion, Kleinpeter“ (Mechanik 1908, 256, 257). Etwas später hebt er – neben J.Thomson, Tait und Ludwig Lange auch MacGregor nochmals eigens hervor: „Auch MacGregor in seiner ‚Presidential Adress‘ (Transact. R.S. of Canada, Vol. X, 1892, Sect. III, insbesondere S. 5 und 6) finden wir auf demselben Wege.“ Mechanik, 6. Auflage 1908, S. 258). 36  https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/james-gordon-macgregor/. http://www.biographi.ca/en/bio/macgregor_james_gordon_14E.html. 37  J.G.  MacGregor (Dalhousie College, Halifax, N.S.), „On the Hypotheses of Dynamics“, The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science, September 1893, 233–264. Oliver Lodge (University College, Liverpool), „The Foundations of Dynamics“, The London, Edinburgh, and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science, July 1893. 38  MacGregor 1893, a.a.O., S. 236. 34 35

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Übrigens hat MacGregor, der bei P. G. Tait in Edinburgh und bei G. Wiedemann in Leipzig studiert hatte und offenbar gut Deutsch konnte, mit der 2. Auflage der Mechanik von 1889 gearbeitet. Als Belegstellen für das, was er die „historisch-­kritische Methode“ Ernst Machs nennt, verweist MacGregor auf den Absatz Ziffer 6  in „Newtons Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung“. Dieser Absatz blieb alle Auflagen der Mechanik hindurch bis inklusive die 6. Auflage von 1908 unverändert. Auf die Änderungen, die dieser Abschnitt in der 7. Auflage von 1912 erfuhr, werden wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen.39 Zuvor wollen wir noch etwas genauer herausarbeiten, was MacGregor mit Blick auf Ernst Mach unter „historisch-­ kritischer Methode“ versteht, und dann, wie Mach sie mit Blick auf MacGregor für sich übernimmt. Erstens. MacGregor bringt den Begriff „Methode“ ins Spiel, während Mach vor 1904 (dem Jahr, in dem er das Zitat von MacGregor in die 5. Auflage der Mechanik aufnahm) nur von historisch-kritischer „Darstellung“ oder „Entwicklung“ sprach. Das Wichtige ist dabei nicht das Wort „Methode“, sondern die Tatsache, dass MacGregor die Methode differentiell bestimmt: als den einen von zwei legitimen Wegen, dynamische Koordinaten zu finden. Mit dieser Gegenüberstellung zweier legitimer Wege der Forschung ist dem historisch-kritischen Vorgehen gleichsam ein neuer Status  – der Status einer von einer anderen unterscheidbaren Methode  – ­zuerkannt. Zweitens. Die differentielle Bestimmung MacGregors bindet die beiden Wege konzeptionell aneinander: die beiden einander gegenübergestellten Methoden suchen auf jeweils unterschiedliche Weise eine Frage der aktuellen theoretischen Astronomie zu beantworten. Die Frage, um die es im Fall von Machs Mechanik geht, resultiert, so MacGregor, aus der Einsicht, dass die Newton’schen Bewegungsgesetze nur unter auf der Erde festgelegten Koordinaten Geltung beanspruchen können. Für die theoretische Astronomie aber könne offensichtlich nicht angenommen werden, dass die Bewegungsgesetze unter Bezugnahme auf das irdische Koordinatensystem gelten. Somit wird für die theoretische Astronomie die Frage unabweislich, welche Koordinaten als bestimmend für die Bewegungsgesetze betrachtet werden müssen.40 Die „historisch-kritische Methode“, wie MacGregor sie in Machs 39  Als Belegstellen für die „historisch-kritische Methode“ Ernst Machs verweist MacGregor (1893) auf zwei Stellen: Erstens (S. 236) auf den Abschnitt „Newtons Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung“, Ziffer 6 im 2. Kapitel der Mechanik, 2. Auflage 1889, S. 217 f. Dieser Absatz findet sich identisch in der 6. Auflage 1908 auf S. 247 f. wieder. Für die 7. Auflage 1912 hat Mach genau diesen Absatz verändert, siehe Mechanik 7. Aufl. (1912), S. 226 f. Zweitens verweist er (MacGregor 1893, S. 240) auf eine Stelle, die sich in der 2. Auflage der Mechanik von 1889 noch im Appendix befand (S. 481 ff.) und in den Auflagen 1904 und 1908 (S. 252 f.) als Ziffer 10 in den Abschnitt „Newtons Vorstellungen von Raum, Zeit und Bewegung“ integriert ist. In der 7. Ausgabe von 1912 sind die Abschnitte 10 bis 12 gekürzt und umstrukturiert, siehe Mechanik (1912), S. 231–238. 40  In MacGregors eigenen Worten: „But when we come to treat the problems of theoretical Astronomy, it is at once obvious that we cannot assume the laws to hold with respect to these axes [sc. „axes fixed in the earth“ E.N.]; and the question forces itself upon the attention: What are the axes of reference to which they must now be considered to hold? And the question having been raised must be answered.“ MacGregor, 1893, a.a.O., S. 235.

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Texten findet, sieht er als einen von zwei Wegen, auf denen Koordinaten zur Bestimmung der Bewegungsgesetze gefunden werden können. Machs Reaktion auf MacGregors Zuschreibung war, so scheint mir, eine Art Aha-Erlebnis. Dabei ist erstens wichtig zu sehen, dass Mach die gesamte differentielle Bestimmung von MacGregor übernimmt (und nicht etwa die Definition der „historisch-­ kritischen Methode“ aus der von MacGregor formulierten Gabelung herauslöst). Auch Mach meint offenbar, das, was die historisch-kritische Methode leisten kann, am besten dadurch zu verdeutlichen, dass er sie als Alternative gegenüber einer konkurrierenden Methode auffasst. (Dieser wird weder von MacGregor noch von Mach ein eigener Name gegeben. Sie ist dadurch charakterisiert dass sie das richtige Koordinatensystem aus dem Trägheitssatz in seiner bisherigen Form abzuleiten sucht.) Zweitens betont Mach die Verankerung der historisch-kritischen Methode in dieser Alternative sogar noch stärker als MacGregor, indem er darauf hinweist, dass er selbst den zweiten Weg lange Zeit versucht habe. Damit wird die historisch-­kritische Methode tendenziell zu einem Weg, den Wissenschaftler einschlagen (können/sollen), wenn sie die Zuversicht verloren haben, eine wesentliche Erweiterung der Erkenntnis auf Grundlage der bisher ausgesprochenen Gesetze erreichen zu können. Drittens. Banks hat im oben angeführten Zitat Gemeinsamkeiten zwischen Machs historisch-kritischer Methode und Thomas Kuhn angedeutet. Tatsächlich scheinen die zwei Wege möglicher Erkenntniserweiterung à la MacGregor und Mach die Unterscheidung Kuhns zwischen Normalwissenschaft und revolutionärer Wissenschaft bis zu einem gewissen Grad vorwegzunehmen. Ob der Anschein trügt oder ein Stück weit trägt, muss hier offen bleiben. Viertens. Mach sieht in den beiden Methoden zwei Strategien, „dem Trägheitsgesetz einen verständlichen Sinn zu geben“. Diese Formulierung kommt bei MacGregor so nicht vor. Zwar spielt die Frage der „intelligibility“ des Begriffs der ­einförmigen Bewegung und der Newtonschen Gesetze auch in der Debatte zwischen Lodge und MacGregor eine wichtige Rolle. Aber die Art und Weise, wie Mach hier nach einem „verständlichen Sinn“ des Trägheitsgesetzes frägt, verortet diese Frage an einer Scharnierstelle seiner Erkenntnislehre – was hier freilich nur angedeutet werden kann. Der Ausdruck „verständlich werden“ hat bei Mach – trotz der Vagheit des Ausdrucks und der damit einhergehenden semantischen Breite  – einen systematischen Stellenwert. Mach verwendet ihn erstens in einer auf „das Tatsächliche“ bezogenen Weise. Ein „nicht unmittelbar verständlicher“ Befund (oder auch: „Tatsache“) kann „verständlich“ oder „verständlicher“ werden, indem der Befund (die Tatsache) in Zusammenhang mit anderen Befunden (Tatsachen) gebracht wird.41 Die zweite Verwendungsweise von „verständlich werden“ bezieht sich auf den Sinn von theoretischen Sätzen. Machs Frage „Auf welche Weise können wir dem Trägheitsgesetz einen verständlichen Sinn geben?“ gehört in diese Kategorie. Freilich, an entscheidenden Punkten treffen die beiden Verwendungsweisen  Diese Bedeutung von „verständlich werden“ lässt sich durch alle Werke Machs verfolgen. Sie hat oft einen experimentellen Kontext, aber nicht immer.

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von „verständlich werden“ zusammen; sie müssen aber – gerade deshalb – zunächst auseinandergehalten werden. Machs Forderung, dem Trägheitsgesetz einen verständlichen Sinn zu geben, befindet sich an einem jener Kreuzungspunkte. Nun hat die eben erzählte Geschichte von MacGregors Begriff der historisch-­ kritischen Methode und ihrer Aufnahme durch Mach einen entscheidenden Haken. Sie nimmt im Jahr 1912 eine überraschende Wendung.

2.4  Z  u den Veränderungen in der 7. Ausgabe (1912) der Mechanik Schon im Vorwort der 7. Auflage von 1912 erklärt Mach, dass er „[v]iel ältere Polemik, für die sich heute niemand mehr interessiert“ weggelassen habe. Der Charakter des Buchs sei aber geblieben. Tatsächlich wurde ein größerer Teil der 6-seitigen Einfügung, die in den Ausgaben von 1904 und 1908 als Absatz Ziffer 12 des Abschnitts über „Newtons Ansichten zu Zeit, Raum und Bewegung“ enthalten war, gestrichen. Zwar ist unsere Stelle in der Ausgabe von 1912 weiterhin zu finden, diesmal integriert in den Absatz Ziffer 11, aber mit einer wesentlichen Veränderung im zweiten Absatz. (Im folgenden Zitat sind die neuen Formulierungen fett gedruckt. Die Streichungen sind als solche ersichtlich.) „Sind aber die ohnehin ungreifbaren Hypothesen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit nicht mehr haltbar, so entsteht die Frage: Auf welche Weise können wir dem Trägheitsgesetz einen verständlichen Sinn geben? MacGregor zeigt in einer vortrefflichen, für Lange sehr anerkennenden, klar geschriebenen Abhandlung („Philos.Magaz.“, XXXVI, 1893, S. 233) zwei Wege auf: 1. Den historisch-kritischen Weg, welcher von neuem die Tatsachen ins Auge fasst, auf welchen der Trägheitssatz ruht, welcher ferner dessen Gültigkeitsgrenzen und eventuell eine neue Formulierung in Betracht zieht. 2. Die Annahme, dass der Trägheitssatz in seiner alten Form die Bewegungen genügend kennen lehrt, und die Ableitung des richtigen Koordinatensystems aus diesen Bewegungen. Für die erste Methode ist meine hier gegebene Darstellung ein Beispiel. Dieselbe enthält auch schon den Hinweis auf notwendig werdende Modifikationen des Ausdrucks durch Erweiterung der Erfahrung. Für die erste Methode gibt, wie mir scheint, Newton selbst mit seinem in dem mehrfach genannten Corollar V angedeuteten Bezugssystem das erste Beispiel. Diesem liegt es auch schon nahe, auf notwendig werdende Modifikationen des Ausdrucks durch Erweiterung der Erfahrung Rücksicht zu nehmen. Der zweite Weg liegt psychologisch gewiss am nächsten bei dem großen Vertrauen, welches die Mechanik als exakteste Naturwissenschaft genießt. In der Tat ist dieser Weg mit mehr oder weniger Erfolg oft eingeschlagen worden, und ich selbst habe denselben versucht, bevor ich glaubte, den anderen vorziehen zu müssen.“42

Mach hat den Satz „Für die erste Methode ist meine hier gegebene Darstellung ein Beispiel“, der in den Ausgaben von 1904 und 1908 stand, gestrichen und hat an dessen Stelle „Newton selbst mit seinem in dem mehrfach genannten Corollar V angedeuteten Bezugssystem [als] das erste Beispiel“ für die historisch-kritische Methode gesetzt.  Ernst Mach, Mechanik, 7. Auflage, 1912, S. 233 f. (= Mechanik 2012, S. 269 f.) Stellen, die gegenüber der 6. Auflage (1908) verändert wurden, sind in fetter Schrift hervorgehoben; Streichungen sind als solche ersichtlich. EN.

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2  Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach

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Als mir die Unterschiede zwischen der 6. und 7. Auflage an dieser Stelle auffielen, war mein erster Gedanke, dass die Änderungen nur der Straffung geschuldet waren, die Mach im Vorwort der 7. Auflage angekündigt hatte. Die Tatsache, dass der frühere Absatz 12 verschwunden und Teile davon in den Absatz 11 integriert waren, sprach dafür, dass es sich um eine Kürzung handelte. Freilich zeigte sich beim Vergleich der Ausgaben sofort, dass hier nicht nur eine Kürzung vorlag, sondern Mach seinen eigenen Namen als Repräsentanten der historisch-kritischen Methode gestrichen und durch den Namen von Newton ersetzt hatte. Newton als Beispiel der historisch-kritischen Methode? – Was soll das bedeuten? Im Folgenden sollen einige Bausteine zusammengestellt werden, die zur Beantwortung dieser Fragen beitragen können. Zunächst: unsere Stelle ist eine von mehreren Stellen zu Newton, die Mach in der 7. Auflage von 1912 verändert hat.43 An allen diese Stellen weist Mach auf das Corollarium V in Newtons Principia hin, und zwar immer als Beleg dafür, dass Newton dort ohne den Begriff des absoluten Raums ausgekommen sei.44 Für unser Thema – Machs Sicht der historisch-­kritischen Methode – sind nicht nur die Veränderungen an der oben besprochenen Stelle interessant. Ein besonderes Gewicht haben die Veränderungen, die Mach im Absatz Ziffer 6 von „Newtons Ansichten über Raum, Zeit und Bewegung“ vorgenommen hat. Dieser Absatz Ziffer 6 war, wie schon oben gesagt, in allen Auflagen bis zur sechsten Auflage von 1908 gleich geblieben und hat in dieser ursprünglichen Version folgendermaßen gelautet: „6. Wir können über die Bedeutung des Trägheitsgesetzes nicht in Zweifel sein, wenn wir uns gegenwärtig halten, in welcher Weise es gefunden worden ist. Galilei hat zuerst die Unveränderlichkeit der Geschwindigkeit und Richtung eines Körpers in Bezug auf irdische Objekte bemerkt. Die meisten irdischen Bewegungen sind von so geringer Dauer und Ausdehnung, dass man gar nicht nötig hat, auf die Änderungen der Progressivgeschwindigkeit der Erde gegen die Himmelskörper und auf die Drehung derselben zu achten. Nur bei weitgeworfenen Projektilen, bei den Schwingungen des Foucault’schen Pendels usw. erweist sich diese Rücksicht als notwendig. Als nun Newton die seit Galilei gefundenen mechanischen Prinzipien auf das Planetensystem anzuwenden suchte, bemerkte er, dass soweit dies überhaupt beurteilt werden kann, die Planeten gegen die sehr entfernten scheinbar gegeneinander  Mechanik (1912), S. 227, 231 f., 234, 270.  „Corollary V. The motions of bodies included in a given space are the same among themselves, whether that space is at rest, or moves uniformly forwards in a right line without any circular motion. For the differences of the motions tending towards the same parts, and the sums of those that tend towards contrary parts, are, at first (by supposition), in both cases the same; and it is from those sums and differences that the collisions and impulses do arise with which the bodies mutually impinge one upon another. Wherefore (by law II) the effects of those collisions will be equal in both cases; and therefore the mutual motions of the bodies among themselves in the one case will remain equal to the mutual motions of the bodies among themselves in the other. A clear proof of which we have from the experiment of a ship; where all motions happen after the same manner, whether the ship is at rest, or is carried uniformly forwards in a right line.“ (Newton, The Mathematical Principles of Natural Philosophy, transl. by Andrew Motte, London 1729, Vol.1, 88 S.) https://archive.org/stream/newtonspmathema00newtrich#page/n0/mode/1up http://www.gutenberg.org/files/28233/28233-h/28233-h.htm.

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E. Nemeth festliegenden Weltkörper, von Kraftwirkungen abgesehen, ebenso ihre Richtung und Geschwindigkeit beizubehalten scheinen, als die auf der Erde bewegten Körper gegen die festliegenden Objekte der Erde. Das Verhalten der irdischen Körper gegen die Erde lässt sich auf deren Verhalten gegen die fernen Himmelskörper zurückführen. Wollten wir behaupten, dass wir von den bewegten Köpern mehr kennen als jenes durch die Erfahrung gegebene Verhalten gegen die Himmelskörper, so würden wir uns einer Unehrlichkeit schuldig machen. Wenn wir daher sagen, dass ein Körper seiner Richtung und Geschwindigkeit im Raum beibehält, so liegt darin nur eine kurze Anweisung auf Beobachtung der ganzen Welt. Der Erfinder des Prinzips darf sich diesen gekürzten Ausdruck erlauben, weil er weiß, dass der Ausführung der Anweisung in der Regel keine Schwierigkeiten im Wege stehen. Er kann aber nicht helfen, wenn sich solche Schwierigkeiten einstellen, wenn z. B. die nötigen gegeneinander festliegenden Körper fehlen.“45

Unter Hinweis auf genau diesen Absatz hatte MacGregor das, was er historisch-­ kritische Methode bei Mach nannte, belegt.46 Tatsächlich beginnt dieser Absatz mit einem Satz, der geradezu als programmatisch für Machs historisch-kritische Untersuchungen gelten kann: „Wir können über die Bedeutung des Trägheitsgesetzes nicht in Zweifel sein, wenn wir uns gegenwärtig halten, in welcher Weise es gefunden worden ist.“ (Dem Sinn nach sehr ähnliche Sätze finden sich schon 1872.47) In den darauf folgenden Sätzen beschreibt Mach den Schritt, den Newton von Galileis Auffassung der Trägheit hin zu seiner eigenen machte, als Folge von Newtons Versuch, „die von Galilei gefundenen mechanischen Prinzipien auf das Planetensystem anzuwenden“. Der Absatz endet mit den berühmten Formulierungen zu der „von Mach anvisierten ‚Relativität‘ der Trägheit“, die auf das später von Einstein so genannte „Machsche Prinzip“ verweisen.48 In der 7. Auflage von 1912 sind die Formulierungen zur „‚Relativität‘ der Trägheit“ (die mit den Worten „Das Verhalten der irdischen Körper gegen die Erde …“ beginnen) gleich geblieben; sie bekommen in dieser Auflage ein noch größeres Gewicht, weil sie vom oberen Teil abgesetzt werden. Der erste Teil des Absatzes ist insgesamt verändert. Er ist deutlich länger als in den früheren Auflagen. Wir zitieren ihn hier in voller Länge. „6. Als Newton die von Galilei gefundenen Prinzipien der Mechanik musterte, konnte ihm der hohe Wert des einfachen und präzisen Trägheitsgesetzes für deduktive Ableitungen unmöglich entgehen; er konnte nicht daran denken, auf dessen Hilfe zu verzichten. Aber auch in so naiver Weise auf die ruhend gedachte Erde bezogen, war für ihn das Trägheitsgesetz nicht haltbar. Denn für Newton stand die Rotation der Erde nicht mehr in Diskussion; sie rotierte bereits zweifellos wirklich. Galileis glücklicher Fund konnte hier nur für kleine Zeiten und Räume, während welcher die Drehung nicht in Betracht kam, nur annähernd  Mechanik, 6. Auflage, 1908, S. 247 f.  McGregor, a.a.O., S. 236. Die zweite Stelle, die MacGregor als Beleg anführt, findet sich in der 2. Auflage (1889), mit der MacGregor gearbeitet hat, in Zusatz 3 des Anhangs auf Seite 481. Dieser Zusatz enthält Machs Besprechung von Schriften, die seit 1883 erschienen waren. In den Auflagen von 1904 und 1908 erscheint derselbe Text als Absatz Ziffer 10 des Abschnitts „Newtons Ansichten über Zeit, Raum und Bewegung“, S. 252–256. 47  Ernst Mach, Die Geschichte und Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit, (1872) Leipzig 1909, S. 1–4. 48  Siehe dazu die Herausgeber der Mechanik, Ernst Mach-Studienausgabe Bd. 3, 2012, S. 262 f. (Fußnote). 45 46

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gelten. Dafür schienen die Newtonschen Entwicklungen über die Planetenbewegung, auch auf den Fixsternhimmel bezogen, dem Trägheitsgesetz zu entsprechen. Um nun ein allgemein gültiges Bezugssystem zu haben, wagte Newton das Corollar V (S. 19 der ersten Auflage) der Prinzipien. Er denkt sich ein momentanes irdisches Koordinatensystem, für welches das Trägheitsgesetz gilt, im Raum, ohne Drehung gegen den Fixsternhimmel, festgehalten. Ja er kann diesem System auch noch eine beliebige Anfangslage und gleichförmige Translation gegen das erwähnte momentane irdische System erteilen, ohne seine Brauchbarkeit zu verlieren. Die Kraftgesetze Newtons werden dadurch nicht alteriert; nur die Anfangslagen und Anfangsgeschwindigkeiten, die Integrationskonstanten können sich ändern. Durch diese Fassung hat Newton den Sinn seiner hypothetischen Erweiterung des Galileischen Trägheitsgesetzes genau angegeben. Man sieht auch, dass die Reduktion auf den absoluten Raum keineswegs nötig war, indem sich das Bezugssystem ebenso relativ bestimmt wie in jedem anderen Fall. Trotz seinem metaphysischen Hang fürs Absolute war Newton durch den Takt des Naturforschers richtig geleitet, was hier besonders hervorgehoben sei, weil es in den früheren Auflagen dieses Buches nicht genügend geschehen ist. Wie weit und wie genau sich die Konjektur auch in Zukunft bewähren wird, bleibt natürlich dahingestellt. Das Verhalten der irdischen Körper … [Fortsetzung wie in der Auflage von 1908, siehe oben]“49

Meine erste Annahme zur Deutung der Änderungen in der Auflage von 1912 war die folgende: Für Mach zeigte das Corollarium V, dass schon bei Newton selbst die Relativierung des Trägheitssatzes angelegt war, von der Mach in früheren Auflagen meinte, sie gegen Newtons Begriff des absoluten Raums argumentieren zu müssen. Dies kam Mach aus mindestens zwei Gründen sehr entgegen. Erstens wurde damit die von ihm seit vielen Jahren verteidigte „‚Relativität‘ der Trägheit“50 durch den größten Naturforscher der europäischen Geschichte bezeugt und unterstützt. Zweitens erwies sich damit die metaphysische Komponente in Newtons Werk als marginal, zumindest was Newton als Naturforscher betrifft. Mach muss hoch e­ rfreut gewesen sein, darauf hinweisen zu können, dass sich die eigenständige Dynamik wissenschaftlichen Forschens sogar gegen diejenigen metaphysischen Vorannahmen durchzusetzen vermag, die eine Forscherpersönlichkeit aus historischen Gründen mit sich herumträgt. Diese beiden Implikationen des Corollarium V – so ging meine erste Annahme weiter – waren für Mach so wichtig, dass er die „historisch-­ kritische Methode“ zwar verbal weiter bestehen ließ, sie aber wesentlich schwächte oder de facto sogar einebnete: Wer in Newton das erste Beispiel historisch-kritischer Methode sieht, verliert – so dachte ich – das Spezifische dieser Methode aus dem Auge, weil er sie mit Naturforschung überhaupt gleichsetzt. Die beiden genannten Punkte in meiner Annahme halte ich weiterhin für plausibel. Aber inzwischen glaube ich, dass die Folgerungen, die ich in Richtung einer Einebnung der historisch-kritische Methode daraus gezogen habe, ungenau waren und sich so nicht aufrechterhalten lassen. Mach hat, das meine ich jetzt, die Veränderungen in beide Blickrichtungen mit großer Sorgfalt durchgeführt: Er hat nicht nur seinen Blick auf Newton geschärft, sondern auch neu durchdacht, was er unter der „historisch-kritischen Methode“ versteht. 49 50

 Mechanik, 7. Auflage, 1912, S. 226 f.  Siehe Fußnote 45.

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Stellen wir also die beiden Versionen des Absatzes Ziffer 6 einander gegenüber. Beide betrachten dieselbe historische Konstellation der Wissenschaftsgeschichte. Beide sprechen von den Schritten, die vom Trägheitsgesetz bei Galilei zu dessen Formulierung bei Newton führten. In der ursprünglichen Version (in den Auflagen von 1883 bis 1908) benennt Mach das Ziel dieser historischen Betrachtung: Er will „die Bedeutung des Trägheitsgesetzes“ aufzeigen, indem er sich und uns vergegenwärtigt, „in welcher Weise es gefunden worden ist.“ Dieses „Finden“ geht nach Machs Darstellung im Prinzip in zwei Schritten vor sich: Zuerst bemerkt Galilei „die Unveränderlichkeit der Geschwindigkeit und Richtung eines Körpers in Bezug auf irdische Objekte“. Dann überträgt Newton die von Galilei gefundenen mechanischen Prinzipien auf das Planetensystem: Die Planeten verhalten sich nun gegen die „scheinbar gegeneinander festliegenden Weltkörper“ so wie „die auf der Erde bewegten Körper gegen die festliegenden Körper der Erde.“ In der Version von 1912 konzentriert sich Mach von vornherein auf Newton, und die Geschichte, die er erzählt, ist eine andere. Im Mittelpunkt des „Findens“ steht hier nicht mehr der Schritt der Übertragung des irdischen Verhältnisses von bewegten und festliegenden Körpern auf das Verhältnis von Planeten und Fixsternen. Mach richtet jetzt den Focus vielmehr darauf, dass Newton den Trägheitssatz auch unter irdischen Bedingungen nicht mehr so verstehen konnte wie Galilei. Weil für Newton die Drehung der Erde schon eine unbezweifelbare Tatsache war, konnte Newton die Geltung des Trägheitsgesetzes nicht mehr auf eine ruhende Erde bezogen denken. Ihm war für die Bestimmung der Trägheit der ruhende Bezugsrahmen abhandengekommen, der in Galileis Formulierung enthalten war. Anders als in den Auflagen bis 1908 rückt Mach jetzt also in den Mittelpunkt, dass Newton sich die Frage nach dem Sinn des Trägheitsgesetzes neu stellen musste. Vielleicht ist dieser Fokus auf dem Sinn des Gesetzes – und damit komme ich auf meine Überlegungen zu Don Howards These zurück – als Symptom für eine Art hermeneutischer Wende bei Mach gedeutet worden. Aus meiner Sicht wäre dies aber ein Missverständnis. Das Charakteristische am hermeneutischen Vorgehen kommt ja dann zum Tragen, wenn der Gegenstand eines Textes nur über diesen Text zugänglich ist. Genau weil kein anderer Zugang zum gemeinten Gegenstand gegeben ist, muss der komplexe Prozess hermeneutischen Verstehens in Gang gesetzt werden (Vorverständnis, Verschmelzung von Verstehenshorizont und Bedeutungshorizont, Erweiterung des Vorverständnisses …). Machs Frage (und analog dazu: Newtons Frage) nach dem Sinn des Trägheitsgesetzes richtet sich aber auf einen Gegenstand, der, wenn auch nicht direkt, so doch auch mit anderen Mitteln – experimentell – zugänglich ist. Die historisch-kritische Methode à la MacGregor/Mach zielt auf das Verständlichmachen eines physikalischen Satzes ab und kann dies nur entlang der Schnittstellen zwischen dem Verständlichmachen von „Befunden“ und dem Verständlichmachen der gedanklichen Fassung dieser Befunde.51 Dieses Verfahren ist bestimmt nicht weniger komplex als das der Hermeneutik, jedenfalls aber ist es von anderer Art. 51

 Siehe dazu den letzten Absatz des Abschn. 2.3.2 dieses Aufsatzes.

2  Zur „historisch-kritischen Methode“ bei Ernst Mach

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2.5  Abschließende Überlegungen Kommen wir nochmals – im Hinterkopf die Neufassung des Abschnitts Ziffer 6 der Mechanik – auf die „historisch-kritische Methode“ à la MacGregor/Mach zurück. Schon 1904, als Mach die Definition dieser Methode von MacGregor zur Charakterisierung seines eigenen Vorgehens übernahm, betonte er, dass dieser Weg gegangen werden könne, um „dem Trägheitsgesetz einen verständlichen Sinn“ zu geben. Schon damals war klar, dass es sich dabei nicht um einen Weg der Wissenschaftsgeschichtsschreibung handelt, sondern um einen Weg der Erkenntniserweiterung in der Naturforschung. Dies wird 1912 nochmals dadurch verstärkt, dass Mach jetzt Newton als erstes Beispiel dieser Methode einsetzt. Gleichzeitig spitzt er sowohl seine Auffassung von Newtons spezifischer wissenschaftlicher Leistung als auch sein Verständnis der „historisch-kritischen Methode“ zu. Aus der Art und Weise, wie Mach die Leistung Newtons nun charakterisiert, lässt sich entnehmen, dass Mach hier eine bestimmte Struktur der Problemlage und der Reaktion Newtons herausarbeiten wollte. Darin können wir fünf Komponenten unterscheiden. Eine ist im engeren Sinne historisch: Newton übernimmt das Trägheitsprinzip von Galilei, also aus einem früheren Stadium der Naturforschung. Die zweite Komponente kann als pragmatisch bezeichnet werden: Newton hält das Gesetz der Trägheit für die weitere Entwicklung der Physik für unverzichtbar; das Gesetz angesichts von Schwierigkeiten seiner Deutung aufzugeben, ist keine ­Option. Die dritte Komponente ist empirisch: Eine gegenüber der historischen Situation Galileis veränderte Tatsachenlage  – die Drehung der Erde wird nicht mehr in Zweifel gezogen – muss berücksichtigt werden. Die vierte Komponente ist semantisch: die Einsicht, dass der Sinn des Gesetzes entsprechend der neuen  Tatsachenlage neu bestimmt werden muss. Schließlich die fünfte, die ­konzeptionell-konstruktive Komponente: Newton schlägt im Corollarium V einen konzeptionellen Bezugsrahmen vor, in dem der Sinn des hypothetisch erweiterten Gesetzes bestimmt werden kann: „Durch diese Fassung hat Newton den Sinn seiner hypothetischen Erweiterung des Galileischen Trägheitsgesetzes genau angegeben.“52 Mach nützte das Corollarium V einerseits dafür, am Beispiel Newtons die Komponenten der konzeptionellen Leistung auszubuchstabieren, durch die dem Trägheitsgesetz ohne Rückgriff auf den Begriff des absoluten Raums „ein verständlicher Sinn“ gegeben werden kann. Er ergriff dabei andererseits die Gelegenheit, sich vertieft mit der Frage auseinanderzusetzen, was „historisch-kritische Methode“ als Weg der Naturforschung heißen kann. Die Struktur, die er dabei entfaltet hat, weist der Frage nach dem Sinn des Trägheitsgesetzes einen zentralen Stellenwert in der historisch-kritischen Erweiterung der Naturerkenntnis zu. Der springende Punkt dabei ist aber die Art und Weise, wie die Frage nach dem Sinn des Gesetzes – die semantische Komponente – mit den oben genannten Komponenten der historischen Problemlage zusammengespannt und verschränkt wird. Ich sehe nicht, wie sich das Zusammenspiel dieser Komponenten innerhalb des hermeneutischen Rahmens explizieren ließe. 52

 Siehe den Text zu Fußnote 47.

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Mit der Einsetzung Newtons als erstem Beispiel hat Mach die „historisch-­ kritische Methode“ – entgegen meiner ersten Vermutung – nicht geschwächt oder auf Naturforschung überhaupt eingeebnet. Vielmehr hat er die Methode schärfer gefasst und ihr eine neue Rolle im Rahmen seiner Selbstverständigung als Naturforscher zugewiesen. Nachdem Mach 1904 die Formulierung MacGregors zur Charakterisierung seiner eigenen Bemühungen um eine Klärung und Neuformulierung der Trägheit übernommen hat, erkennt er 1912 am Corollarium V, dass die strukturellen Momente, die er über MacGregor in seiner eigenen Auffassung der zu lösenden Aufgabe entdeckt hatte, schon bei Newton selbst zu identifizieren sind. Durch diesen Schritt wird die Struktur der Konstellation, auf die die „historisch-kritische Methode“ in der Fassung von MacGregor/Mach reagiert, deutlicher sichtbar als zuvor. Mir scheint  – und damit gehe ich jetzt über Mach hinaus –, dass sich diese strukturellen Momente von der spezifischen Konstellation der relativistischen Deutung der Trägheit ablösen lassen. Möglicherweise lassen sich andere Konstellationen finden (sei es in der Naturwissenschaft oder auch in anderen Bereichen wissenschaftlichen Forschens), in denen die oben dargestellte Struktur von fünf Komponenten gleichsam als Instrument zur Strukturierung der Problemlage verwendet werden kann – sei es zur Selbstverständigung von Wissenschaftlerinnen im Prozess gegenwärtigen Forschens, sei es in der Arbeit an einem eindringlicheren Verständnis einer bestimmten historischen wissenschaftlichen Leistung in der Vergangenheit. Jedenfalls hoffe ich, deutlich gemacht zu haben, dass das, was Mach in Anschluss an MacGregor „historisch-kritische Methode“ nennt, ein sehr spezieller Fall historisch-kritischer Untersuchung in der Naturforschung ist. Was Mach in diesem speziellen Fall tut, fällt keineswegs zusammen mit der historisch-kritischen Arbeit, die er im Sinn des historistisch naturwissenschaftlichen Milieus seiner Zeit in vielfältiger Weise praktizierte. Meiner Meinung nach darf die „historisch-kritische ­Methode“ à la MacGregor/Mach auch nicht als Paradefall oder leitendes Modell für historisch-kritische Forschungen im Allgemeinen missverstanden werden. In diesem breiteren Kontext können wir sie wahrscheinlich als ein spezialisiertes Instrument betrachten, mit dessen Hilfe strukturelle Momente spezifischer Konstellationen der Wissenschaftsgeschichte eruiert und untersucht werden können. Mein Versuch, einen genaueren Blick auf Machs Verständnis der „historisch-­ kritischen Methode“ zu werfen, hat mich auf eine Entdeckungsreise durch die Editionsgeschichte der Mechanik geführt, die einige Überraschungen bereit hielt. Auch wenn die Sicht, die ich auf dieser Reise gewonnen habe, mit Don Howards Auffassung (falls ich seine Hinweise einigermaßen richtig verstehe) nicht übereinstimmt, verdanke ich die Entdeckungen seiner Anregung. – wofür ich ihm sehr dankbar bin. Was das sehr viel breitere Gebiet historistischer Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften im Werk Machs betrifft, ist es vielleicht kein Zufall, dass die 7. Auflage der Mechanik von 1912 nicht nur die Zuspitzung der „historisch-kritischen Methode“ à la Mach/MacGregor auf Newton enthält, sondern Mach sich hier – wenn ich richtig sehe: erstmals – auch explizit zu Standards der Geschichtsforschung äußert, nämlich zur Bedeutung der Datierung von Quellen und deren

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kritischer Untersuchung.53 Unter Machs Perspektive kann die ganze Bandbreite historischer Forschung der Selbstverständigung der Naturforschung dienen. Eine seiner einprägsamsten Formulierungen dazu stammt schon von 1872: „Lassen wir die leitende Hand der Geschichte nicht los. Die Geschichte hat alles gemacht, die Geschichte kann alles ändern.“54 So einprägsam diese Sätze sind, so offen ist zu diesem frühen Zeitpunkt im Werk Machs noch, was ihre Anwendung in der Naturforschung konkret bedeuten soll. Die Geschichte der Rezeption und Interpretation der „historisch-kritischen Methode“ in der Definition MacGregors kann auch als ein Teil von Machs lebenslanger Bemühung gelesen werden, die Bedeutung dieser Sätze für die Naturforschung zu konkretisieren. Nachsatz: Eine frühere Version des Textes habe ich bei der Tagung zu Ehren Michael Heidelbergers in Tübingen, 1.–3. Dezember 2017 vorgetragen. Ich bin den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung sehr dankbar für die kritischen Diskussionsbeiträge, die mir sehr geholfen haben. Thomas E. Uebel danke für außerordentlich hilfreiche Kommentare zu einer früheren schriftlichen Version des Texts.

 Siehe den Text zur Fußnote 22.  Ernst Mach (1872) 1909: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Leipzig, S. 3. 53 54

Kapitel 3

Ernst Mach und Sigmund Freud: Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln? Patrizia Giampieri-Deutsch

Zusammenfassung  Der Beitrag zeichnet die Werkgeschichte von Ernst Mach und Sigmund Freud anhand ausgewählter Positionen nach, um Intersektionen und Konvergenzen in Grundfragen ausfindig zu machen. Entlang der Darstellung wird dabei der rege Austausch zwischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen verschiedener disziplinärer Provenienz zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Altösterreichischen Wien sichtbar, deren Ideen und Errungenschaften die Wissenschaften nachhaltig beeinflusst haben. Es wird gezeigt, wie die innovativen Leistungen der beiden Forscher dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben. Es finden sich beim Physiker Mach sowie beim Mediziner und Psychoanalytiker Freud Ansätze, die zu jener Zeit die Philosophie mit anderen, neuen Mitteln auf den Weg gebracht haben. Beiden gemeinsam war die Kritik und Abkehr von apriorischer, metaphysischer System-­ Philosophie zugunsten von Methodologien, welche die subjektive Erfahrung sowie Befunde aus den empirischen Wissenschaften miteinbeziehen. Im Rahmen ihrer jeweiligen Forschungen haben sich Mach und Freud gründlich mit der Frage des Verhältnisses zwischen Physischem und Psychischem auseinandergesetzt. Dabei haben sie allmählich Auffassungen entwickelt, welche gegenwärtige Ansätze zur Subjektivitätstheorie vorweggenommen haben. Neben der methodologischen Nähe werden durch die komparative Untersuchung von Begriffen wie „Bewusstsein“, „Ich“ oder „Körper“ auch Differenzen im Ergebnis der Theorien sichtbar gemacht.

P. Giampieri-Deutsch (*) Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Krems, Österreich Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, Österreich Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_3

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3.1  Intersektionen: Verweise in Werken und Briefen1 Ernst Mach kommt in Freuds Gesammelten Werken nur zweimal vor, erstens in Freuds Abhandlung „Das Unheimliche“2 und zweitens als Freund von Josef Popper-­ Lynkeus.3 Dennoch wird Mach auch in Freuds Korrespondenz erwähnt. 1900 verglich Freud seine eigene Ergebnisse zum Verständnis des Traumes mit jenen Machs in einem Brief an Wilhelm Fließ: „Wenn ich aber in den neueren psychologischen Büchern (Mach, Analyse der Empfindungen, 2. Aufl., Kroell, Aufbau der Seele u. dgl.), die alle nach ähnlichen Richtungen zielen wie meine Arbeit, lese, was sie über den Traum zu sagen wissen, so freue ich mich doch wie der Zwerg im Märchen, ‚daß die Prinzessin es nicht weiß‘.“4

Im Gegensatz zu Mach, welcher auf eine erfüllte akademische Laufbahn zurückblickte, war Freud damals eher unbekannt. Sich mit Mach vergleichend freute er sich, dass Mach das Geheimnis des Traumes doch nicht zu entschlüsseln vermochte. Weiter teilte Freud Sándor Ferenczi in einem Brief vom 26. November 19155 mit, dass sich Mach von ihm eine Kopie der Traumdeutung6 schicken ließ, diese aber dann perplex beiseitelegte. In einem Brief an Josef Popper-Lynkeus vom Jahr 1916 deutete Freud über den kurz vorher verstorbenen Mach an, dass die Wege der beiden nicht mehr in dieselbe Richtung weitergegangen waren: „Ich hatte leider von meinem engeren Standpunkt keinen Weg zu ihm gefunden und musste seine Art, von psychischen Dingen zu handeln, unpsychologisch finden. Der Physiker und Psychologie kommen doch schwer zusammen.“7

1  Folgende Ausführungen sind eine Wiederaufnahme, Überarbeitung und Weiterentwicklung des Textes von Patrizia Giampieri-Deutsch, „Mach und Freud: Ein Vergleich“, in: Zeitgeschichte, 17, 7–8, 1990, S. 291–310. 2  Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: Anna Freud et al. (Hrsg.), Gesammelte Werke. 18 Bde. u. ein unnummerierter Nachtragsband (im Folgenden zitiert als GW), GW 12. Frankfurt/Main: Fischer 1987 (1919h), S. 229–268, hier S. 262–263. Die in Klammern ergänzten Jahresangaben geben das Jahr der Erstveröffentlichung an. Im gleichen Jahr publizierte Schriften werden durch Kleinbuchstaben unterschieden. Die nachgestellten Zahlen nennen das Jahr der Niederschrift. Die Jahresangaben zu den Publikationen Sigmund Freuds sind entnommen aus: Ingeborg Meyer-Palmedo/Gerhard Fichtner, Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz. Frankfurt/Main: Fischer 1989, S. 15–90. 3  Sigmund Freud, „Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus“, in: GW 16 (1932c), S. 261–266, hier S. 266. 4  Sigmund Freud, „Brief Nr. 248 vom 12.6.1900“, in: Jeffery Moussaieff Masson (Hrsg.), Bearbeitung und deutsche Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Frankfurt/Main: Fischer 1986, S. 458. 5  Sigmund Freud, „Brief an Sándor Ferenczi vom 26.11.1915, Autogr. 1053/24-10 der Österreichischen Nationalbibliothek, veröffentlicht“ in: Ernst Falzeder/Eva Brabant/Patrizia Giampieri-Deutsch (Hrsg.), Sigmund Freud – Sándor Ferenczi. Briefwechsel. Bd. II/1. Wien/Köln/Graz: Böhlau 1996, S. 159. 6  Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: GW 2/3 (1900a). 7  Sigmund Freud, „Brief an Josef Popper-Lynkeus vom 04.08.1916“, in: Ernst Freud/Lucie Freud (Hrsg.), Sigmund Freud, Briefe 1873–1939. Frankfurt/Main: Fischer 1968, S. 330.

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In „Das Unheimliche“ vom Jahre 1919 behandelte Freud das Thema des Doppelgängers sowie die Wirkung, die in einem Menschen das unerbetene Bild der eigenen Person hervorruft. Dazu gab Freud zwei solche Beobachtungen aus Machs Analyse der Empfindungen wieder: Mach erschrak nicht wenig, als er einmal erkannte, dass das andere Gesicht das eigene im Spiegel war und „das andere Mal fällte er ein sehr ungünstiges Urteil über den anscheinend Fremden, der in seinen Omnibus einstieg, ‚Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein.‘“8 Freud führte anschließend eine eigene analoge Erfahrung an, aus welcher geschlossen werden kann, dass sich Freud von Machs Bemerkung angesprochen fühlte: „Man kennt sich persönlich sehr schlecht.“9 Durch Ernst Brücke und Josef Breuer entstanden mehrfach indirekte Kontakte zwischen Mach und Freud. Das physiologische Institut der Medizinischen Fakultät der Universität Wien arbeitete mit dem Institut für Physik der Philosophischen Fakultät eng zusammen, um nach dem Vorbild der Physik auch für die Physiologie quantitative empirische Forschungsmethoden einzuführen. Ernst Brücke, der spätere Lehrer Freuds, zog den jungen Mach zu Physik-­ Vorlesungen für Mediziner heran, die Mach als Privatdozent ab 1861 hielt. Auch Josef Breuer, der spätere Koautor der Studien über Hysterie,10 stand mit Mach in vertrauter Beziehung. Im Bereich der Akustik hatte Josef Breuer Entdeckungen über die Funktion der Bogengänge im Jahr 1873, also zur selben Zeit und über dieselbe Frage wie Mach, gemacht11 und unterhielt mit ihm wissenschaftlichen Kontakt. 1894 wurde Josef Breuer auf Antrag von Sigmund Exner, Ewald Hering und Ernst Mach zum korrespondierenden Mitglied der k. und k. Akademie der Wissenschaften gewählt. Der achtzehn Jahre ältere Mach schien in seinen Werken vom jüngeren Freud kaum Kenntnis genommen zu haben, obwohl er sich in Die Prinzipien der Wärmelehre auf Josef Breuer und Sigmund Freud berief.12 Dem Psychoanalytiker Sándor Ferenczi, von Mach-Forscher Robert S. Cohen als „the most philosophical of psychoanalytical therapists“ genannt,13 ist diese Bezugnahme nicht entgangen. Bereits in einem ersten Artikel hatte Ferenczi gewisse Parallelen zwischen Mach und Freud hervorgehoben, jedoch erst in seiner zweiten Studie wusste Ferenczi Bescheid, dass Mach die Studien über Hysterie  Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, loc. cit., S. 262.  Ernst Mach, Analyse der Empfindungen. Jena: Fischer 1885 (7. Auflage 1918), S. 3. 10  Josef Breuer/Sigmund Freud, Studien über Hysterie, in: GW 1 (1895d), S. 75–312. 11  Albrecht Hirschmüller, „Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuers“, ­in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 4. Bern: Huber 1978, S. 81–120. 12  Ernst Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt. Leipzig: Barth 1896 (2. Ausgabe), S. 441–442. 13  Robert S. Cohen, „Ernst Mach: Physics, Perception and the Philosophy of Science“, in: Robert S. Cohen/Raymond J. Seeger (Hrsg.), Ernst Mach Physicist and Philosopher. Dordrecht: Reidel 1970, S. 153. 8 9

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tatsächlich zitiert hatte.14 Seine Feinheit als Intellektueller bewahrte Ferenczi vor den Irrwegen eines Psychographie-Versuchs, wie z.  B. die Mach-Studien von Lewis S. Feuer.15 Ferenczis Bemerkungen beanspruchen keine tiefe psychoanalytische Deutung, sondern vermögen gewisse Züge ins Licht zu rücken. Der von Mach zitierte Freud hatte die psychoanalytische Theorie noch nicht entwickelt, war also noch nicht der analytische Freud. Die ersten Mitteilungen von Breuer und Freud werden deshalb von Ferenczi als „beinahe ‚asexuell‘“ bezeichnet. Freud kam lediglich als Koautor von Machs geschätztem Kollegen Breuer vor. Im Mach’schen Zitat ist die Rede von „unangenehmen Gedanken“, die, wenn von sich abgestoßen, in Träumen zurückkommen. Ein weiteres ähnliches Phänomen war das „unbehagliche(s) Gefühl“, wenn Mach seine Hände nach einem Händedruck „von feuchter, schwitzender Hand“ nicht sofort wusch. Dazu schrieb Mach: „Es ist also wohl wahrscheinlich, daß einmal gesetzte Vorstellungen, auch wenn sie nicht mehr im Bewußtsein sind, ihr Leben fortsetzen. Dasselbe scheint dann besonders intensiv zu sein, wenn dieselben beim Eintritt ins Bewußtsein verhindert wurden, die assoziierten Vorstellungen, Bewegungen usw. auszulösen. Sie scheinen dann wie eine Art Ladung zu wirken […] Einigermaßen verwandte Phänomene sind jene, welche kürzlich Breuer und Freud in ihrem Buche Über Hysterie beschrieben haben.“16

Da Mach mit der Theorie des psychischen Konfliktes von Johann Frierdich Herbart bereits vertraut war, nahm er Breuers und Freuds Buch mit Interesse auf. Auch in Machs Kultur und Mechanik17 konnte Ferenczi einige Kontaktpunkte zu Freud ausfindig machen. Mach versuchte aus den Kindheitserinnerungen seines Sohnes dessen Entwicklung in der Mechanik zu rekonstruieren, um die Geschichte der Mechanik selbst wiederzugeben. Nach Mach wird die geschichtliche Entwicklung der Mechanik von der subjektiven Entwicklung wiederholt, da mit Ernst Haeckel die Ontogenese eine Wiederholung der Phylogenese darstellt. Mach hebt einige Punkte hervor, auf die auch Freud aufmerksam machte: die Unauslöschbarkeit der Kindheitserfahrungen; die Idee, dass nicht lediglich Spuren der eigenen Kindheit, sondern auch der Kindheit der Menschheit im Unbewussten erhalten bleiben und die Überzeugung, dass die Kulturgeschichte aus der individuellen Geschichte deshalb rekonstruierbar ist.

 Sándor Ferenczi, „Zur Psychogenese der Mechanik“, in: Imago, 5, 1917–1918, S. 394–401 und „Nachtrag zur ‚Psychogenese der Mechanik‘“, in: Imago,6, 1920, S.  384–386. Aus dem Brief Freuds an Sándor Ferenczi vom 26.11.1915, Autogr.1053/24-10 und aus der Antwort Ferenczis an Sigmund Freud vom 5.12.1915, Autogr.1054/39-9 der Österreichischen Nationalbibliothek, veröffentlicht in: Ernst Falzeder/Eva Brabant/Patrizia Giampieri-Deutsch (Hrsg.), Sigmund Freud – Sándor Ferenczi. Briefwechsel., loc. cit., S. 159 und S. 160–161, erfährt man, dass eine erste Version dieses Aufsatzes schon damals vorlag, in welcher Ferenczi u.  a. Mach als Analytiker bezeichnete, was Freud eher missfiel. 15  Lewis S. Feuer, „Ernst Mach: The Unconscious Motives of an Empiricist“, in: American Imago, 27, 1, 1970, S. 12–40 und ders., Einstein and the Generations of Science. New York: Basic Books 1974. 16  Ernst Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre. loc. cit., S. 444. 17  Ernst Mach, Kultur und Mechanik. Stuttgart: W. Spemann 1905. 14

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Ferenczi bemerkte jedoch, dass Mach mit seinem Sohn die gezielten Erinnerungsversuche wahrscheinlich nicht mit der psychoanalytischen Methode der freien Assoziationen unternommen hatte und dass ihm deshalb manche unbewusste Hintergründe entgingen, z. B. erkannte Mach nach Ferenczi die mindestens zum Teil vom Sexualtrieb bedingte Herkunft von Maschinen nicht. Obwohl Mach die Analogie gewisser Maschinen mit Organen auffiel, verkannte er, dass Maschinen entweder Projektionen von Organen oder Introjektionen eines Teiles der Außenwelt sind.18 In Machs veröffentlichtem Nachlass befinden sich zwei nicht aufgeklärte Spuren: In einem Notizbuch hat eine Handschrift, die offensichtlich nicht Machs eigene ist, „Freud Vorlesungen“ notiert.19 In dem darauffolgenden Notizbuch ist, wieder mit fremder Handschrift, folgendes aufgezeichnet: „Freuds Neurosenlehre von Dr. E.  Hitschmann.“20 Der Psychoanalytiker Eduard Hitschmann war mit Machs Werk vertraut und in den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung sind seine Bemerkungen zu Mach zusammen mit jenen von anderen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern wie Alfred Adler oder Philipp Frey (Pseudonym von Philipp Friedmann) als Beweis einer gewissen Mach-Rezeption, erhalten geblieben.21

3.2  Wandlungen: Die Philosophie und die Wissenschaften Der Physiker Mach und Freud, ein Neurowissenschaftler, der die Psychoanalyse als neue Disziplin gründen wird, kamen beide aus nicht-philosophischen Bereichen und regten dennoch Wandlungen in der Philosophie an. Im historischen Zusammenhang und in der damaligen Landschaft der Philosophie in Österreich weisen die philosophiekritischen Aussagen von Mach und Freud eine gewisse „Familienähnlichkeit“ mit weiteren kritischen Ausdrücken gegenüber der Philosophie auf wie Boltzmanns Diagnose der „geistigen Migräne“ Schopenhauers oder wie Wittgensteins Spruch von „morbus philosophicus“.22 Gegenüber dem Erfolg der Naturwissenschaften distanzierte sich die Philosophie vom systematischen Denken, strebte danach, „wissenschaftlicher“ zu werden und nach einer Wandlung zu einer wie auch immer gearteten „wissenschaftlichen“  Sándor Ferenczi, „Zur Psychogenese der Mechanik“, loc. cit., S. 399.  Ernst Mach, „Notizbuch 64 (27 November 1908)“, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, Wien: Holder/Pichler/Tempsky 1988, S. 208. 20  Ernst Mach, „Notizbuch 65 (6. Juli 1910)“, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, loc. cit., S. 209. 21  Herman Nunberg/Ernst Federn (Hrsg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 4 Bde. Frankfurt/Main: Fischer 1976–1981, Bd. 1, S. 140, S. 303, S. 336; Bd. 2, S. 26; Bd. 3, S. 293 Anm. 22  Ludwig Boltzmann, „Über eine These Schopenhauers“, in: ders., Populäre Schriften. Leipzig: Barth 1905, S. 400. Vgl. Rudolf Haller, Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur österreichischen Philosophie. Amsterdam: Rodopi 1986, S. 15. 18 19

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­ hilosophie zu werden. Am Anfang stand die Kritik der herkömmlichen PhilosoP phie, sei es, um einen neuen Ansatz in der Philosophie anzuregen, wie z. B. Franz Brentano und Edmund Husserl, oder sei es, um eine „Antimetaphysik“ einzuleiten, wie Mach und Freud. Während den erwähnten Autoren die eigene, in ihren Perspektiven begründete Terminologie zugestanden sei, wird die Autorin des vorliegenden Beitrages in weiterer Folge eher von „Philosophie“ anstatt von „Metaphysik“ sprechen. In diesem Zusammenhang sei noch ein Satz von Bertrand Russell zitiert: „Die Anklage, Metaphysik zu treiben, ist in der Philosophie zu einer solchen Anklage geworden, welche man gegen einen für die Sicherheit des Landes gefährlichen Staatsbeamten macht. Meinerseits weiß ich nicht, was man mit dem Wort ‚Metaphysik‘ meint. Hier die einzige philosophische Definition, die ich an jedem Fall für anwendbar gefunden habe: ‚Eine vom Autor nicht behauptete philosophische Meinung‘.“23

Ernst Mach, Universitätsprofessor für „Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften“,24 wollte sich selbst nicht als Philosoph bezeichnen, eher als „Sonntagsjäger“25 oder „Spaziergänger“26 auf dem Gebiete der Philosophie. Er strich hervor, dass er weder ein „Machsches System“, noch eine „Machsche Philosophie“27 vorhatte. Ihm ging es auch weniger darum, „eine neue Philosophie in die Naturwissenschaften einzuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu entfernen“,28 und zwar den mechanistischen Materialismus. Machs philosophische Annahmen sind in seinen Schriften zu wissenschaftlichen Spezialfragen auf den Gebieten der Akustik, Optik, Wärme- und Elektrizitätslehre verstreut sowie in seinen wissenschaftshistorischen Werken wie der Geschichte der Mechanik, der Wärmelehre und des Satzes von der Erhaltung der Arbeit zu finden. Dabei wurden die Grundlagen der Physik mitunter neu betrachtet. An Hans Henning hatte Mach 1910 geschrieben: „Von der Philosophie meiner Jugendstudienzeit 1855–1865 war ich nicht sehr erbaut. Ich hatte auch nie die Absicht Philosophie zu treiben, sondern nur auf dem Naturforscher vertrauten Gebiet Überlegungen anzustellen, welche ihm für seine Arbeit nützlich werden könnten. Auf den Beifall der Philosophen rechnete ich hierbei nicht (…)“29

 Bertrand Russell, Unpopuläre Betrachtungen. Zürich: Europa Verlag 1951.  Josef Mayerhofer, „Ernst Machs Berufung an die Wiener Universität 1895“, in: Clio Medica, 2, 1967, S. 47–55. 25  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum. Leipzig: Barth 1905, S. VII. 26  Ibid., S. 16. 27  Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 300. 28  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, ”, loc. cit., S. VIII. 29  In Hans Henning, Ernst Mach als Philosoph, Physiker und Psycholog. Leipzig: Barth 1915, S. 7–8. 23 24

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Allerdings begann der junge Mach bereits in zwei frühen Werken seine methodologische Position und seine philosophischen Grundsätze zu entwickeln. In Compendium der Physik für Mediciner30 und in Vorträge über Psychophysik31 diente ihm die Logik von John Stuart Mill als Grundlage. Zu dieser Zeit war Mach noch ü­ berzeugt, dass die Wissenschaft nicht nur Beschreibungen, sondern auch Erklärungen liefern kann, eine Annahme, die er später fallen lassen wird. Erste und letzte Aufgabe der Wissenschaft wird für Mach die Beschreibung des Tatsächlichen sein, da Erklärungen gegenüber Beschreibungen keine zusätzliche Erkenntnis bieten können. In den „Antimetaphysischen Vorbemerkungen“ der Analyse der Empfindungen und in dem späteren Werk Erkenntnis und Irrtum wird sich Mach der Philosophie ausführlicher widmen, aber selbst dieses letzte Werk ist weit von einem System entfernt. Mach trat gegen „Systematisieren“32 und gegen „System-Aberglauben“33 auf. Die Philosophie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert scheint dem Vergleich mit den ergebnisreicheren positiven Wissenschaften kaum standhalten zu können. Da sich einflussreiche Universitätsprofessoren zu positivistischen Ansätzen bekennen, verliert die Philosophie an Ansehen, fokussiert sich auf die Wissenschaftsphilosophie und die Methodologien der Wissenschaften. Der Philosoph Heinrich Gomperz, damals Student, bewegte seinen Vater, den Altphilologen Theodor Gomperz, sich für die Berufung von Mach nach Wien einzusetzen. Die Familie Gomperz unterhielt übrigens auch vielfache Beziehungen zu Sigmund Freud: Theodor Gomperz, der Vater, hatte dem jungen Freud eine John Stuart Mill-Übersetzung anvertraut, Elise Gomperz, die Mutter, wurde von Freud, damals noch Nervenarzt, mit Hypnose behandelt, während Freud, dann bei den Anfängen der Psychoanalyse, Heinrich Gomperz, dem Sohn, bereits im November 1899 „Stunden in Traumdeutung“34 gab. Theodor Gomperz trat für Machs Berufung ein. Der Bericht der Berufungskommission vom 13. Dezember 1894 für die philosophische Fakultät bietet einen Einblick in den Stand der Philosophie an der Wiener Universität: „daß das Fach der Philosophie durch deren universellen Charakter beiden Classen der Wissenschaften, welche die nach derselben benannte Fakultät in sich begreift, der philosophisch-­ historischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen gleich nahe steht und daß jede der Beiden, die man kurz als die Classe der Geisteswissenschaften und jene der Naturwissenschaften bezeichnen kann, gleiches Recht besitzt, zu verlangen, daß bei der Besetzung des Fachs auf ihre Interessen gebührende Rücksicht genommen werde.“35

 Ernst Mach, Compendium der Physik für Mediciner. Wien: Braumüller 1863.  Ernst Mach, „Vorträge über Psychophysik“, in: Österreichische Zeitschrift für praktische Heilkunde, 9, 1863. 32  Ibid., S. 16. 33  Ibid., S. 12. 34  Ernst Freud/Lucie Freud (Hrsg.), Sigmund Freud, Briefe 1873–1939, loc. cit. 35  Josef Mayerhofer, „Ernst Machs Berufung“, loc. cit., S. 50. 30 31

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Die Kommission schlug vor, eine Lehrkanzel mit einem Vertreter der Naturwissenschaften und die andere mit einem der Geisteswissenschaften zu besetzen, um eventuellen Einwänden gegen die Berufung von Mach vorzubeugen. Um die Berufung eines Naturwissenschaftlers als Philosophen zu befürworten, wird noch folgendes beteuert: „Bei der Wahl des ersteren, des künftigen Vertreters der naturwissenschaftlichen Richtung in der Philosophie schwebte der Commission die bedeutsame Thatsache vor Augen, daß die Philosophie in jüngster Zeit, wie Beispiele von Johannes Müller, Helmholtz, Fechner, Wundt, Rokitansky u. A. lehren, von Männern, welche nicht Philosophen von Fach, ­sondern Naturforscher waren, theils dankenswerthe Bestätigung, theils anregende Förderung, Unterstützung und um nur eines zu nennen, durch die Einführung eines ganz neuen Gebiets wie das der Psychophysik ist, Erweiterung erfahren hat, ja daß einzelne Naturforscher wie der Physiologe Wundt von ihrem ursprünglichen Lehrberuf zu dem der Philosophie übergangen sind.“36

In der Folge nahm das Professorenkollegium den Bericht an und Mach wurde am 5. Mai 1895 zum Ordinarius ernannt. Wenn sich die Philosophie im Angesicht des Fortgangs der positiven Wissenschaften im Wandel befand, widmeten sich die Naturwissenschaften ihrerseits der Untersuchung der eigenen philosophischen Grundlagen um die Jahrhundertwende. Als Krise der Physik ist jene Periode gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Ideengeschichte eingegangen, in der die Naturwissenschaften und die Physik besonders reich an Entdeckungen waren.37 Im Lauf des 19. Jahrhunderts diente die klassische Mechanik von Newton noch als Vorbild und eine mechanische Interpretation des Naturgeschehens schien möglich. Wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus der Thermodynamik, das Prinzip der Erhaltung der Energie oder die Maxwell’sche Theorie des elektronischen Feldes wurden von der Philosophie rezipiert und das mechanisch-materialistische Denken verbreitete sich. Die Krise der Physik um die Jahrhundertwende kann als Transformation, als Verwandlung der klassischen Physik verstanden werden.38 Auf Grundlage der Newton’schen Mechanik ließen sich nach Mach zu viele Phänomene nicht mehr erklären. Mach behauptete deshalb „daß sie [die Mechanik, Anm. Patrizia Giampieri-Deutsch] der Vielseitigkeit der Erscheinungen nicht mehr zu folgen vermag“,39 sodass dieses Versagen als Ausgangspunkt seines Vorschlags für ein Umdenken diente. Somit ist die Physik angehalten, die eigenen Prämissen zu untersuchen und in Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt40  Josef Mayerhofer, „Ernst Machs Berufung“, loc. cit., S. 50.  Vgl. Aldo Gargani, „Introduzione“, in: ders. (Hrsg.), Crisi della ragione. Torino: Einaudi 1979, S. 5–55 und Patrizia Giampieri-Deutsch, „Einige Aspekte der Rezeption der österreichischen Philosophie im Italien der 80er-Jahre. Eine Bibliographie“, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 1997, 29, 1998, S. 147–165. 38  Vgl. Massimo Cacciari, Krisis. Saggio sulla crisi del pensiero negativo da Nietzsche a Wittgenstein. Milano: Feltrinelli 1976. 39  Ernst Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Prag: Calve 1872, S. 25. 40  Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt. Leipzig: Brockhaus 1883. 36 37

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führt Machs wissenschaftsgeschichtliche Methode zur Kritik an Grundbegriffen der klassischen Mechanik wie jene der absoluten Zeit, des absoluten Raumes, der Sub­ stanz oder der Ursache und zur Negierung einer objektiven Wahrheit der Theorien sowie zur Relativierung der Gültigkeit der mechanischen Theorien. Mach schließt zwar nicht aus, dass die verschiedenen Gebiete der Physik unter einem Prinzip vereinigt werden können, verneint aber, dass dieses Prinzip ein mechanisches sein muss. Die Mechanik ist ein Teil und nicht die Grundlage der P ­ hysik. Mach wendet seine „Antimetaphysische Vorbemerkungen“ der Analyse der Empfindungen gegen die mechanische Metaphysik: „Die großen Erfolge, welche die physikalische Forschung in den verflossenen Jahrhunderten nicht nur auf eigenem Gebiet, sondern auch durch Hilfeleistung in dem Bereiche anderer Wissenschaften, errungen hat, bringen es mit sich, daß physikalische Anschauungen und Methoden überall in den Vordergrund treten, und daß an die Anwendung derselben die höchsten Erwartungen geknüpft wird. […] Diese Wendung muß uns als eine nicht ganz zweckentsprechende erscheinen, wenn wir bedenken, daß die Physik trotz ihrer bedeutenden Entwicklung doch nur ein Teil eines größeren Gesamtwissens ist, und mit ihren für einseitige Zwecke geschaffenen einseitigen intellektuellen Mitteln diesen Stoff nicht zu erschöpfen vermag.“41

In der Analyse der Empfindungen42 betont Mach die „logische Notwendigkeit“ gegenüber der behaupteten „Naturnotwendigkeit“, die nicht existiere. 1896 notiert er: „Eine andere als eine logische Notwendigkeit, etwa eine physikalische, existiert nicht.“43 In einem anderen wissenschaftsgeschichtlichen Werk Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit bemerkt Mach, dass die Physik „jede Erscheinung als Funktion anderer Erscheinungen und gewissen Raum- und Zeitlagen dar(zu)stellen“44 will, aber die funktionale Gleichung a = f(b) (a ist das Bild von b) wird von Mach nicht als die Widerspiegelung realer Beziehungen der Natur, sondern als eine bloße Formel für zweckmäßige Ordnung empirischer Daten gedacht. In Erkenntnis und Irrtum hat Mach dem Unterschied zwischen philosophischem und naturwissenschaftlichem Denken ein Kapitel gewidmet. Mach glaubt an die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie: „Das wissenschaftliche Denken tritt uns in zwei anscheinend recht verschiedenen Typen entgegen: dem Denken des Philosophen und dem Denken des Spezialforschers.“45 Aber worin besteht nun die Wissenschaftlichkeit eines solchen „wissenschaftlichen Denkens“? Nach Mach bedeutet Wahrheit im Alltagsdenken die Anpassung an die Tatsachen. Obwohl das wissenschaftliche Denken aus dem Alltagsdenken stammt, verlangt die Wissenschaftlichkeit dazu die Anpassung der Gedanken

 Ernst Mach, „Analyse der Empfindungen“, loc. cit., S. 1.  Ibid., S. 72. 43  Ernst Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre, loc. cit., S. 435. 44  Ernst Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, loc. cit., S. 600. 45  Ibid., S. 3. 41 42

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aneinander, was Mach als „logische Läuterung des Denkens“46 bezeichnet. Die Figur des „Spezialforschers“ oder der „Spezialforscherin“ wird jener des Philosophen oder der Philosophin gegenübergestellt. Der Philosoph oder die Philosophin suchen eine möglichst vollständige, weltumfassende Orientierung „über die Gesamtheit der Tatsachen“, eine „Weltorientierung“, während der Spezialforscher oder die ­Spezialforscherin ein eher begrenztes spezifisches Gebiet wählen.47 Die Denkweise des Naturforschers oder der Naturforscherin – so wird von hier an der Spezialforscher oder die Spezialforscherin von Mach umbenannt – baut nicht, wie die Denkweise des Philosophen oder der Philosophin, auf Prinzipien auf: der Naturforscher oder die Naturforscherin haben „sich gewöhnt auch seine sichersten, bestbegründeten Ansichten und Grundsätze als provisorisch und durch neue Erfahrungen modifizierbar zu betrachten.“48 1902 wird Mach in sein Notizbuch eintragen: „Meine Lebensaufgabe war es, von seiten der Naturwissenschaft der Philosophie auf halbem Wege entgegenzukommen.“49

3.3  Exkurs: Zu Freuds philosophischer Bildung50 In „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ berichtete Freud von seiner „Gewöhnung […], immer zuerst an den Dingen zu studieren, ehe [er] in Büchern nachsah.“51 und in seiner „Selbstdarstellung“ verkündete er sein geringes Interesse gegenüber jeglicher „Lektüre philosophischer Autoren“: „Auch wo ich mich von der Beobachtung entfernte, habe ich die Annäherung an die eigentliche Philosophie sorgfältig vermieden. Konstitutionelle Unfähigkeit hat mir solche Enthaltung erleichtert.“52 Entgegen anderen irreführenden autobiographischen Aussagen gestand Freud jedoch während einer Sitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 1. April 1908 einmal ein, dass er tatsächlich Philosophie studiert hatte: „Deren ab­ strakte Art“ sei ihm jedoch so wenig kongenial gewesen, „daß er auf das Studium der Philosophie schließlich verzichtet habe.“53  Ibid.  Ibid. 48  Ibid., S. 14. 49  Ernst Mach, „Notizbuch 57 (5. Oktober 1902)“, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, loc. cit., S. 199. 50  Folgenden Ausführungen sind eine Wiederaufnahme des Artikels von Patrizia Giampieri-­ Deutsch, „Nach Leibniz: die Entwicklung der Auffassung eines nicht-bewussten Denkens bei Freud“, in: Studia Leibnitiana. Supplementa, 39, 2017, S. 237–254, hier S. 237–243. 51  Sigmund Freud, „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“, in: GW 10 (1914d), S. 43–113, hier S. 58. 52  Sigmund Freud, „Selbstdarstellung“, in: GW 1(1925d [1924])4, S. 31–96, hier S. 86. 53  „45. Protokoll“, in: H. Nunberg/E. Federn (Hrsg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 4 Bde., Frankfurt/Main: Fischer 1976, Bd. 1, S. 338. 46 47

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Dass Freud ein ehrlicher und leidenschaftlicher Briefschreiber gewesen ist, schien zwar dem von ihm selbst erstellten Selbstbild nachträglich zum Verhängnis geworden zu sein, verlieh jedoch seinem biographisch-geschichtlichen Profil zusätzliche Ernsthaftigkeit und Dichte. Freuds Briefe (1887–1904) an seinen Freund Wilhelm Fließ wurden als Ganzes in den 1980er-Jahre veröffentlicht. Am 25. Mai1895 schrieb Freud an Fließ: „Es ist die Psychologie, von jeher mein fern winkendes Ziel, jetzt seitdem ich auf die Neurosen gestoßen bin, um soviel näher ­gerückt.“54 Und am 1. Jänner 1896 offenbarte Freud, dass: „ich im geheimsten die Hoffnung nähre, über dieselben Wege [das Arztsein, Anm. Patrizia Giampieri-Deutsch] zu meinem Anfangsziel, der Philosophie, zu kommen.“55 Am 2. April 1896 gestand ihm Freud: „Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe, sie zu erfüllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke.“56 Freuds Gebrauch von Philosophie und Psychologie als Synonyme, die Psychologie also als Bestandteil der Philosophie zu betrachten, hing nicht lediglich mit der akademischen Taxonomie zusammen, sondern entsprach dem Programm einer Philosophie der Psychologie als Wissenschaft, die Herbart und Brentano freilich jeweils mit anderen Mitteln verfolgten. Frühzeitig hatte eine bereits 1912 verfasste Studie der Philosophin, Psychoanalytikerin und Mitglieds der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Luise von Karpinska Über die psychologischen Grundlagen des Freudismus57 mit Recht Analogien zwischen Freud und Herbart hervorgekehrt. Wie Johnston später hervorhob, erscheint dies nicht weiter verwunderlich, da Freud, wie die meisten Schüler zur Zeit der Monarchie, seine erste Begegnung mit der philosophischen Psychologie gerade im Rahmen der Herbart’schen Psychologie machte und aus ihr das psychologische Vokabular bezog. Die Wissenschaftshistorikerin Maria Dorer untersuchte schon im Jahre 1932 die Historische[n] Grundlagen der Psychoanalyse58 in einer sorgfältigen gleichnamigen Studie und bot eine Darstellung der Psychologie von Herbart insbesondere anhand dessen Psychologie als Wissenschaft, neugegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik sowie dessen Lehrbuch zur Psychologie59 an. Dorer stellte auch  Sigmund Freud, „Brief 64“, in: J. M. Masson (Hrsg.), Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, ungekürzte Ausgabe, Frankfurt/Main 1986 (1985c [1887–1904]), S. 130. 55  Sigmund Freud, „Brief 85“, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, S. 165. 56  Sigmund Freud, „Brief 93“, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, S. 190. 57  Luise von Karpinska, „Über die psychologischen Grundlagen des Freudismus (1912)“, in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, 2, 1914, S. 305–326. 58  Maria Dorer, Historische Grundlagen der Psychoanalyse, Leipzig: Meiner 1932. 59  Johann Friedrich Herbart, „Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik“, in: G. Hartenstein (Hrsg.), Sämtliche Werke, Bd. 6, Leipzig 1850 und J.  F. Herbart: „Lehrbuch zur Psychologie“, in: G.  Hartenstein (Hrsg.), Sämtliche Werke, Bd.  5, Leipzig 1850 werden in: Maria Dorer, Historische Grundlagen der Psychoanalyse, loc. cit., S. 71–103 ausführlich besprochen. 54

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ihre Beziehung zur Leibniz’schen Philosophie heraus und verglich Herbart und Freud,60 um insbesondere auf die Bedeutung der Herbart’schen Terminologie für Freud aufmerksam zu machen: „Bei Herbart finden sich die Grundbegriffe: Vorstellung, Bewusstsein, Schwelle, Unterschwelligkeit, Hemmung, Verdrängen. Der seelische Mechanismus verläuft streng gemäß naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit; seine Leistungen sind quantitativ bestimmbar; seine Energie liegt in den Vorstellungen. Die Spannungsverhältnisse der Vorstellungen werden bewußt als Gefühle, die Abweichungen der Vorstellungsmassen vom Gleichgewichte als Affekte.“61

Für eine wichtige Quelle der Freud’schen Psychoanalyse hielt Henri F. Ellenberger Herbarts Assoziationspsychologie. In dem Lehrbuch von Lindner,62 „das Freud am Gymnasium benützt hatte, wurde erklärt, dass Assoziationen divergieren und in Knotenpunkten wieder divergieren können.“63 Ellenberger verwies auf die zitierte frühe Studie von Maria Dorer Historische Grundlagen der Psychoanalyse, die zeigen konnte, dass Herbarts Psychologie ein wichtiger Ausgangspunkt der Psychoanalyse war.64 Wie Luise von Karpinska, Maria Dorer und William Johnston65 kam auch Henri F. Ellenberger, der sich auf deren Studien bezog, zum Schluss: „Man weiß nicht, ob Freud Herbart gelesen hat, aber es ist sicher, daß er durch Lindners Lehrbuch während seiner Schulzeit am Sperläum [Freuds Gymnasium, Anm. Patrizia Giampieri-Deutsch] in Herbarts Psychologie eingeführte wurde.“66 Als Ende der 1980er-Jahre Freuds Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871– 1881, von welchen einige schon bekannt waren, im Ganzen publiziert wurden, erhielt das Bild vom jungen Freud als Philosophie-Student deutlichere Konturen. Erst im Laufe seines Studiums der Philosophie bei Franz Brentano wird Freud mit Fragestellungen und Methoden der philosophischen Psychologie und ihren Beziehungen zur Metaphysik und den Naturwissenschaften konfrontiert. Freuds erster Eindruck der Psychologie, vermittelt durch das Lehrbuch des Herbartianers Lindner im Gymnasialunterricht, wird nun auf den Prüfstand gestellt. Mit Franz Brentano verschiebt sich der Schwerpunkt vom Erwerb einer psychologischen Fachsprache, die die Lektüre des Lehrbuchs ermöglicht hatte, zur Frage der methodologischen Grundeinstellung der philosophischen Psychologie. Seinen Studenten gegenüber äußert sich Franz Brentano auch zum Stellenwert der Philosophen in der philosophischen Tradition. Am 15. März 1875 berichtet Sigmund Freud an seinen rumänischen Freund Eduard Silberstein von einem Besuch  Maria Dorer, Historische Grundlagen der Psychoanalyse, loc. cit., S. 103–106.  Ibid., S. 175. 62  Gustav Adolf Lindner, Lehrbuch, der empirischen Psychologie als inductiver Wissenschaft, Wien: Gerold 1872. 63  Henri F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich: Diogenes 1973 (dt. Ü. 1985), S. 674. 64  Ibid., S. 744. 65  William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien/Köln/Graz: Böhlau 1972 (dt. Ü. 1974), S. 288. 66  Henri F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, loc. cit., S. 745. 60 61

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bei Brentano am Sonntagvormittag des 14. März. Während des Sommersemesters 1875 nahm der damals kaum 19jährige Freud (geb. 6. Mai 1856) an der „Philosophischen Lesung“ bei Brentano samstags von 18 bis 19 Uhr teil. Der junge Freud möchte Brentanos Bewertungen seinem Freund Silberstein im Detail erzählen und da begegnet man dem Namen Leibniz, als einem der wenigen von Brentano ernst genommenen Philosophen: „Locke und Leibnitz [sic; kursiv im Original, Patrizia Giampieri-Deutsch] hingegen seien nicht zu umgehn [sic], der erstere ein höchst geistreicher Denker, der letztere nur deshalb oft unzulänglich, weil er sich allzusehr zersplittert, auf die beiden folge die Popularphilosophie, von ihr etwas kennenlernen zu wollen, hätte nur kulturhistorische Wichtigkeit, nicht philosophische.“67

Aus demselben Brief kann man Brentanos Kritik der Herbart’schen philosophischen Psychologie deutlich entnehmen: „Er [Brentano, Anm. Patrizia Giampieri-Deutsch] verdammte gründlich dessen [Herbarts, Anm. Patrizia Giampieri-Deutsch] aprioristische Constructionen der Psychologie, hielt für unverzeihlich, daß es ihm nie eingefallen sei, die Erfahrung oder das Experiment zu Rate zu ziehen und nachzusehen, ob diese auch mit seinen willkürlichen Annahmen stimmten, bekannte sich unumwunden zur empirischen Schule, die die Methode der Naturwissenschaften auf die Philosophie und besonders die Psychologie überträgt (in der That ist das der Hauptvorzug seiner Philosophie, die sie allein mir erträglich macht) und erzählte uns einige merkwürdige psychologische Beobachtungen, die die Haltlosigkeit der Herbartschen Speculation zeigen.“68

In seinen Briefen erzählte Freud seinem Freund Silberstein von weiteren Philosophen wie z. B. Thomas Carlyle, von dem Freud Sartor resartus las,69 oder Ludwig Feuerbach, den Freud aufmerksam studierte und in dessen Biographie er sich vertiefte,70 und von Kant, über den Freud auch einen Vortrag von Johannes Volkelt hörte.71 Beiläufig erwähnt, fehlt unter all diesen Philosophennamen gerade jener von Nietzsche, der im „Leseverein der deutschen Studenten in Wien“ äußerst populär war, auch wenn Freud bis zu dessen Auflösung im Jahr 1878 Mitglied dieses Vereins war. Aus einem Brief vom 22.–23. Oktober 1874 erfährt man, dass Freud den Philosophen John Stuart Mill noch vor seiner Mill-Übersetzung studierte und dass er auch weitere philosophische Vorlesungen besuchte: „Brentano liest zwei Collegien: Mittwoch und Samstag Abends ausgewählte metaphysische Fragen, und Freitag  Sigmund Freud, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, W. Boehlich (Hrsg.), Frankfurt am Main: Fischer 1989, S. 117. 68  Sigmund Freud, „Brief 42 vom 13.–15. März 1875“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, S. 116. 69  Sigmund Freud, „Brief 26 vom 13. August 1874“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871– 1881, S. 60. 70  Sigmund Freud, „Brief 32 vom 8. November 1874“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, S. 82 und Sigmund Freud, „Brief 41 vom 7. März 1875“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, S. 111. 71  Sigmund Freud, „Brief 44 vom 11. April 1875“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871– 1881, S. 125–127. 67

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Abends eine Schrift von Mill über das Nützlichkeitsprincip, die wir regelmäßig ­besuchen.“72 In einem Brief vom 7. März 1875 kündigte Freud an, dass er in Philosophie und in Zoologie zu promovieren plane und dass er Brentano für einen Darwinist halte. So erzählte Freud Silberstein, „daß zumal unter dem zeitigenden Einfluß Brentanos in mir der Entschluß gereift ist, das Doctorat der Philosophie und Zoologie zu ­erwerben.“73 Von seinem Projekt eines Doktorats in Philosophie und Zoologie berichtete Freud am 11. April 1875 weiter: „Wir stehen ja an der Schwelle des zweiten Semesters [bei Brentano, Anm. Patrizia Giampieri-Deutsch], für mich ein neues Leben, wo ich zuerst als Philosoph und Zoolog gelten kann, da ich Psychologie, Logik und zwei zoologische Collegien hören werde.“74 Dem jungen Freud erschien der Philosoph Brentano, der selbst gerne als Darwinist auftrat, neben Naturwissenschaftlern wie Carl Brühl, Carl Claus, Ernst Haeckel oder Salomon Stricker, auch als ein Bote der Entwicklungstheorien von Jean Baptiste Lamarck und Charles Darwin. Durch Freuds Begegnung mit Franz Brentanos Lehre stieg Leibniz in den Freud’schen Olymp der ernstzunehmenden Philosophen auf, während Herbart kurzerhand da­ raus verbannt wurde. In seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) hatte Brentano gegen die Philosophie als System und Weltanschauung deutlich Stellung genommen, indem er seine eigene Philosophie als Kritik der als ein geschlossenes System verstandenen Philosophie, aber nicht ausschließlich als Kritik des deutschen Idealismus präsentierte: „Eine Philosophie, die sich in unseren Tagen für einen Augenblick das Ansehen eines Abschlusses aller Wissenschaft zu geben wusste, wurde sehr bald, nicht als unübertrefflich, wohl aber als unverbesserlich erkannt.“75 In seiner Antrittsvorlesung „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“ (1874) bekräftigte Brentano noch, dass es nicht Aufgabe der Philosophie sei, „mit einem genialen Wurfe das ganze einer vollkommeneren Weltanschauung vorzulegen.“76 Brentanos Haltung gegen systematische Ansätze in der Philosophie wird samt seiner Ablehnung des Herbart’schen Systems vom jungen Freud übernommen und, wenn auch Freud jede Erwähnung Brentanos sorgfältig vermied, so werden Zeichen des Brentano-Erbes sogar beim reifen Freud – zum Beispiel in seiner 35. Vorlesung „Über eine Weltanschauung“77 – kaum zu übersehen sein.  Sigmund Freud, „Brief 30 vom 22.–23. April 1874“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, S. 78. 73  Sigmund Freud, „Brief 41 vom 7. März 1875“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871– 1881, S. 109. 74  Sigmund Freud, „Brief 44 vom 11. April 1875“, in: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871– 1881, S. 123. 75  Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, Hamburg: Meiner 1924, S. 4. 76  Franz Brentano, „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete“, in: ders., Über die Zukunft der Philosophie nebst den Vorträgen „Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiet“ und „Über Schellings System“ sowie den „Fünfundzwanzig Habilitationsthesen“, Hamburg: Meiner 1924, S. 85. 77  Sigmund Freud, „Über eine Weltanschauung“, in: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: GW 15 (1933a, [1932]), S. 170–197. 72

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Auch wenn mehrere Generationen von Gymnasiasten durch die Standardeinführung in die Psychologie des Herbartianers Gustav Adolph Lindner erzogen wurden, so war es Franz Lott, Machs Philosophielehrer und Gönner, der dem jungen erwachsenen Mach erst an der Universität Herbart nahegebracht hat. Mach wird sich während seiner frühen Phase bis Mitte der 1860er-Jahre, als er noch die erfolgversprechende Mechanik als Paradigma für alle anderen Wissenschaften einschätzte, mit ihm beschäftigen. Wenn der junge Mach in frühen Werken evolutionäre Aspekte der Wissenschaften unterstreicht, verdankt er die Evolutionstheorie hingegen Lamarck und nicht Darwin, mit dem er sich bis zu seiner Grazer Periode nicht auseinandergesetzt hatte.78 Mach schrieb: „Als Gymnasiast lernte ich schon 1854 die Lehre Lamarcks durch meinen verehrten Lehrer F.X. Wessely kennen, war also wohl vorbereitet, die 1859 publizierten Gedanken Darwins aufzunehmen. Diese werden schon in meinen Grazer Vorlesungen 1864–1867 wirksam (…)“79

3.4  E  chos der „wissenschaftlichen Weltauffassung“ auch bei Freud Wie hat der reife Freud die Psychoanalyse, in die Diltey’schen Zweiteilung der akademischen Disziplinen eingeordnet? Die Psychoanalyse ist für ihn eine Wissenschaft und gehört als Spezialwissenschaft zur Psychologie, welche nun anders als in den Briefen an Fließ, von Freud eher als Naturwissenschaft verstanden wird.80 Lässt Freud die Möglichkeit einer „wissenschaftlichen“ Philosophie zu? Wenn für Freud die Philosophie als Psychologie akzeptabel ist oder mindestens einmal annehmbar gewesen ist, wenn die Psychologie Wissenschaft ist, kann dann für ihn auch die Philosophie eine Wissenschaft sein bzw. werden? In „Über eine Weltanschauung“ hat Freud die Philosophie als System und Weltanschauung beschrieben, als „eine intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer Übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der demnach keine Frage offen bleibt und alles, was unser Interesse hat, seinen bestimmten Platz findet.“81 Ein Prinzip ermöglicht die Einheitlichkeit und die allumfassende Lückenlosigkeit der  John Blackmore, Ernst Mach. His Work, Life, and Influence. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1972, S. 26–27. 79  Ernst Mach, „Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen (1910)“, in: ders., Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Berlin: Akademie Verlag, 1988, S. 654. 80  Sigmund Freud, „Selbstdarstellung“, loc. cit., S. 84; ders., „Ergänzung zur Selbstdarstellung“, in: GW Nachtragsbd. (1935d), S.  763–764; ders., Abriß der Psychoanalyse, in: GW 17 (1940a [1938], S. 63–138, hier S. 80; ders., „Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis“, in: GW 17 (1940b [1938], S. 139–147, hier S. 142–143. 81  Sigmund Freud, „Über eine Weltanschauung“, in: ders., Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: GW15 (1933a [1932], S. 170–197, hier S. 170. 78

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Erklärung. Ferner bezeichnet Freud die Philosophie als eine Pseudowissenschaft: „sie steht nicht im Gegensatz zur Wissenschaft, sie arbeitet mit den gleichen Methoden wie die Wissenschaft, was sie aber von der Wissenschaft unterscheidet, ist eben ihr Streben nach einem lückenlosen und zusammenhängenden Weltbild.“82 Nach Freud ist die Psychoanalyse eine Spezialwissenschaft, ein Teil der Psychologie, deshalb hat sie keine eigene Weltanschauung, sondern schließt sich jener der Wissenschaft an. Die wissenschaftliche Weltanschauung unterscheidet sich nach Freud von anderen Weltanschauungen in einem wesentlichen Punkt: „Die Einheitlichkeit der Welterklärung wird zwar auch von ihr angenommen, aber nur als ein Programm, dessen Erfüllung in die Zukunft verschoben ist.“83 Die Methode der Wissenschaft verlangt nach Freud als Voraussetzung eine „Einschränkung auf das derzeit Wißbare und die scharfe Ablehnung gewisser, ihr fremder Elemente.“84 Als einzige „Quelle der Welterkenntnis“ verlangt die wissenschaftliche Methode nach Freud „die intellektuelle Bearbeitung sorgfältig überprüfter Beobachtungen, also was man Forschung heißt, daneben keine Kenntnis aus Offenbarung, Intuition oder Divination.“85 Wenn Freud die Beobachtung als „das Fundament der Wissenschaft, auf dem alles ruht“ definierte, da auch „die Psychoanalyse fest auf den Beobachtungen der Tatsachen des Seelenlebens begründet ist“,86 hat er aber doch eine von der heutigen Wissenschaftstheorie geschätzte methodologische Ergänzung hinzugefügt, indem er die Abhängigkeit der Beobachtung von der Theorie festhält. Nach Freud sind Intuition, Introspektion, innere Wahrnehmung als Quellen der Erkenntnis der psychischen Phänomene nicht zulässig. Schon zur Zeit des Briefwechsels mit Fließ beginnt Freud, an der Zuverlässigkeit der inneren Wahrnehmung zu zweifeln. So schreibt er zum Beispiel, dass sein Hauptgedanke durch die Lektüre der Urteiltstheorie von Wilhelm Jerusalem bestätigt wird, der in seiner Urteilslehre behauptete, dass die innere Wahrnehmung nicht auf Evidenz Anspruch erheben kann.87 In der Traumdeutung wird Freud bemerken: „Alles, was Gegenstand unserer inneren Wahrnehmung werden kann, ist virtuell, wie das durch den Gang der Lichtstrahlen gegebene Bild im Fernrohr.“88 Nebenbei bemerkt könnte die Frage entstehen, ob Freud – seinen programmatischen Aussagen gemäß – die Introspektion, die innere Wahrnehmung, die Intuition als Quellen der Erkenntnis während seiner Autoanalyse, für seine psychoanalytischen Behandlungen sowie für manche „spekulative“ Gedanken der Metapsychologie, um nur einige Beispiele zu erwähnen, tatsächlich nicht angewandt hat?  Ibid., S. 173.  Ibid., S. 171. 84  Ibid. 85  Ibid. 86  Sigmund Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, in: GW 10 (1914c), S. 137–170, hier S. 142 und ders., „Psycho-Analysis: Freudian School“, in: GW 14 (1926f), S. 299–307, hier S. 302. 87  Sigmund Freud, „Brief an Fließ Nr. 64 vom 25.5.1895“, in: Jeffery Moussaieff Masson (Hrsg.), Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, loc. cit., S. 131. Wilhelm Jerusalem, Die Urtheilsfunction. Eine psychologische und erkenntniskritische Untersuchung. Wien: Braumüller 1895. 88  Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: GW 2/3 (1900a), S. 616. 82 83

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Um zum Einfluss Franz Brentanos auf Freud noch einmal zurückzukommen, lässt sich in Erinnerung rufen, dass auch Brentano den von Freud gerade ­hervorgekehrten Annahmen zugestimmt hätte, da er selbst in seinem Lebenswerk die Philosophie als geschlossenes System ablehnte und wenn sie nur zum Teil empirisches Material  – wie im Fall von Schelling  – verwandte, als pseudowissenschaftlich ablehnte, aus den Psychologien zu einer Psychologie kommen wollte, der Begrenzung des Naturforschers auf spezielle Probleme zustimmte und die Beobachtung und die Erfahrung als einzige Quellen der Erkenntnis anerkannte. Die Einschätzung der Brauchbarkeit der inneren Wahrnehmung als Erkenntnisquelle ist sozusagen der Scheidepunkt zwischen Brentano und Freud. Wie Brentano hält auch Mach viel von der Introspektion als Erkenntnisquelle. Er fragt sich z. B. in Erkenntnis und Irrtum,89 indem er den Vorgang der Forschung analysiert, woher die neuen Erkenntnisse kommen und antwortet darauf, dass sie aus der Beobachtung stammen, welche in eine „Äußere“ und eine „Innere“ von ihm geteilt wird. Die innere Beobachtung, die Introspektion, betrifft die Vorstellungen. Mach schreibt: „Die Grundlage aller Erkenntnis ist also die Intuition, welche sich sowohl auf sinnlich Empfundenes, wie auf bloß anschaulich Vorgestelltes, als auch auf potentiell Anschauliches, Begriffliches, beziehen kann.“90 Auf die Frage, ob die wissenschaftliche Weltanschauung die einzig wahre ist, oder ob auch andere Auffassungen und „Quellen der Welterkenntnis“ einen „Anspruch auf Wahrheit“ erheben können, antwortet Freud, „daß die Wahrheit nicht tolerant sein kann, keine Kompromisse und Einschränkungen zuläßt, daß die Forschung alle Gebiete menschlicher Tätigkeit als ihr eigen betrachtet und unerbittlich kritisch werden muß, wenn eine andere Macht ein Stück davon für sich beschlagnahmen will.“91 Freud selbst scheint nach Zielen, wie z. B. dem einer Einheitswissenschaft, zu streben, die an die des Wiener Kreises und an dessen Publikumsvereins, den „Verein Ernst Mach“ erinnern. Mach selbst hatte schließlich auch Vorbildfunktion für eine ganze Generation von bedeutenden Österreicherinnen und Österreichern. Das Manifest „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“ war einer der ersten Versuche, eine Geschichte der Philosophie und des Denkens in Österreich zu verfassen. Hervorzuheben ist, dass auch die Psychoanalyse im Manifest des Wiener Kreises anerkennend erwähnt wird: „Von der wissenschaftlichen Weltauffassung wird die metaphysische Philosophie abgelehnt. Wie sind aber die Irrwege der Metaphysik zu erklären? Diese Frage kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus gestellt werden: in psychologischer, in soziologischer und in logischer Hinsicht. Die Untersuchungen in psychologischer Richtung befinden sich noch im Anfangsstadium; Ansätze zu tiefergreifender Erklärung liegen vielleicht in Untersuchungen der Freudschen Psychoanalyse vor.“92

 Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, loc. cit., S. 314–315.  Ibid., S. 315. 91  Sigmund Freud, „Über eine Weltanschauung“, loc. cit., S. 173. 92  Otto Neurath/Hans Hahn/Rudolf Carnap, „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, in: Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Wien: Hölder/ Pichler/Tempsky, 1981 (1929), S. 306. 89 90

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Wenn der Wiener Kreis die Psychoanalyse als eine Möglichkeit, „die Irrwege der Metaphysik zu erklären“ betrachtet, sieht der Wiener Kreis in ihr nicht nur eine gemeinsame aufklärende Absicht, sondern auch die konkrete Chance zur Erklärung des Entstehens desjenigen philosophischen Programms, das er als Metaphysik bezeichnet. So werden Otto Neurath und Rudolf Carnap an die Möglichkeit einer Integration der Psychoanalyse in die angestrebte Einheitswissenschaft mit Zuversicht denken. Darüber hinaus werden im Verein Ernst Mach Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker wie u. a. Heinz Hartmann, Josef Karl Friedjung, Siegfried Bernfeld oder Wilhelm Reich tätig sein. Nicht als psychotherapeutische Methode bietet die Psychoanalyse eine Erklärung der Metaphysik an, sondern als Metapsychologie, also als Theorie des Geistes und als Kritik der Kultur und ihrer Phänomene, welche Illusionen – und demzufolge Wunscherfüllungen – sind. Welche Erklärung der Metaphysik kann die Freud’sche Metapsychologie anbieten? Freud schlug vor, „daß es eine metapsychologische Darstellung genannt werden soll, wenn es gelingt, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben.“93 Beschrieben werden nicht nur die psychischen Vorgänge des einzelnen Subjektes, sondern auch Kulturphänomene. Die Not, Ananke, stellt nach Freud den letzten, ökonomischen Grund jeder Vergesellschaftung dar. Die Dürftigkeit zwingt die Menschen, die eigenen Energien vom Sexualleben auf die Arbeit zu lenken. Wenn einerseits jede Kultur auf Triebverzicht und Arbeit fußt, bietet sie andererseits zur Bindung der unbefriedigten Wünsche und als Entschädigung für diese Opfer Illusionen an: Religion, Philosophie als Metaphysik und Kunst. Die Metaphysik erhebt Wahrheitsansprüche, sie ist aber nur eine Illusion. Die Metapsychologie als Wissenschaft wird diesen Wahrheitsansprüchen genügen können. Freuds Programm wurde schon zur Zeit der Psychopathologie des Alltagslebens 1901 zum Ausdruck gebracht: „Man könnte sich getrauen […] die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen.“94 Die Metapsychologie wird denselben Platz jenseits der Dilthey’schen Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften beanspruchen, welcher der Metaphysik zugestanden worden war, als eine „hinter das Bewußtsein führende Psychologie“,95 die der Psychologie übergeordnet ist. In der Folge wird die Frage nach dem Status der Intuition, der inneren Wahrnehmung, der Introspektion für die Erkenntnis aufgeworfen. Freud problematisiert die Zuverlässigkeit der inneren Wahrnehmung, welche auch täuschen kann und dank den metapsychologischen Instrumenten überprüft und  Sigmund Freud, „Das Unbewußte“, in: GW 10 (1915e), S. 264–303, hier S. 281.  Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: GW 4 (1901b), S. 287. 95  Sigmund Freud, „Brief an Fließ Nr. 160 vom 10.3.1898“, in: Jeffery Moussaieff Masson (Hrsg.), Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, loc. cit., S. 329. 93 94

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korrigiert werden kann. Nachdem Freud auf Kants Unterscheidung zwischen äußerer Wahrnehmung und unerkanntem Wahrgenommenen hingewiesen hat, fügt er hinzu, dass man auch die Bewusstseinswahrnehmung mit den unbewussten psychischen Vorgängen nicht verwechseln darf: „Wie das Physische, so braucht auch das Psychische nicht in Wirklichkeit zu sein, wie es uns erscheint. Wir werden uns aber mit Befriedigung auf die Erfahrung vorbereiten, daß die Korrektur der inneren Wahrnehmung nicht ebenso große Schwierigkeit bietet wie die des Äußeren (…)“96

Bezüglich des erkenntnistheoretischen Status der inneren Wahrnehmung scheinen sich die Wege von Mach und Freud zu scheiden.

3.5  K  onvergenzen: Machs und Freuds kritische Ansätze zur Subjektivitätstheorie und zum psychophysischen Problem Die Urszene der neuzeitlichen Philosophie spielt sich während einer absichtlich schlaflosen Nacht ab: Descartes, der Philosoph, der sich in den Meditationen97 als wacher Denker im Schlafrock beschreibt, bestimmt den Menschen als Subjekt. Über die Schlafgewänder der Philosophinnen und der Philosophen wird sich Freud mit den Versen von Heinrich Heine mokieren: „Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen/Stopft er die Lücken des Weltenbaus“.98 Freud wird jedoch auch sich selbst als Schlafrockträger in seiner persönlichen Doppelgänger-Erfahrung  – anschließend zur eingangs erwähnten verwandten Erfahrung Machs – beschreiben: „Ich saß allein im Abteil des Schlafwagens, als bei einem heftigeren Ruck der Fahrtbewegung die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein älterer Herr im Schlafrock, die Reisemütze auf dem Kopfe, bei mir eintrat. Ich nahm an, daß er sich beim Verlassen des zwischen zwei Abteilen befindlichen Kabinetts in der Richtung geirrt hatte und fälschlich in mein Abteil gekommen war, sprang auf, um ihn aufzuklären, erkannte aber bald verdutzt, daß der Eindringling mein eigenes, vom Spiegel in der Verbindungstür entworfenes Bild war.“99

Freud erzählt weiter, dass ihm der Eindringling im Schlafrock gründlich missfallen hatte und deutet das Missfallen als einen Rest der Angst vor dem unheimlichen Doppelgänger.

 Sigmund Freud, „Das Unbewußte“, loc. cit., S. 268.  René Descartes, Meditationes de prima philosophia (1641). Hamburg: Meiner 1977 (3. Ausgabe), S. 46–47. 98  Sigmund Freud, „Über eine Weltanschauung“, loc. cit., S. 173. Aus Heinrich Heine, „Die Heimkehr. Nr. LVIII“, in: ders., Buch der Lieder. Hamburg: Hoffmann/Campe 1827, S. 231. 99  Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, loc. cit., S. 262–263. 96 97

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Otto Ranks100 mäandrisches Doppelgänger-Essay101 findet in Freuds Studie „Das Unheimliche“ eine Erläuterung: „Dort werden die Beziehungen des Doppelgängers zum Spiegel- und Schattenbild, zum Schutzgeist, zur Seelenlehre und zur Todesfurcht untersucht, es fällt aber auch ein helles Licht auf die überraschende Entwicklungsgeschichte des Motivs. Denn der Doppelgänger war ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs, eine ‚energische Dementierung der Macht des Todes‘ (O.  Rank) und wahrscheinlich war die ‚unsterbliche Seele‘ der erste Doppelgänger des Leibes.“102

Die Bedeutung des Doppelgängers bleibt jedoch nicht länger eine versichernde und schützende, denn die Vorstellung eines Alter-Egos ist, so Freud, in der Phase „der uneingeschränkten Selbstliebe entstanden, des primären Narzissmus […] und mit der Überwindung dieser Phase ändert sich das Vorzeichen des Doppelgängers, aus einer Versicherung des Fortlebens wird er zum unheimlichen Vorboten des Todes.“103 In der Folge wendet sich Freud auf der Suche nach einem treffenden Inhalt für den Begriff des Unheimlichen zuerst dem Gefühl des Unheimlichen selbst zu und nimmt an, „daß jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen läßt, daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist.“104 So erscheint Schellings Bemerkung zum ­Begriff des Unheimlichen Freud schließlich ganz treffend: „Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“105 „[…] dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. Die Beziehung auf die Verdrängung erhellt uns jetzt auch die Schellingsche [Hervorhebung im Original, Patrizia Giampieri-Deutsch] Definition, das Unheimliche sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“106 „Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn v e r d r ä n g t e [Hervorhebung im Original, Patrizia Giampieri-Deutsch] infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn ü b e r w u n d e n e [Hervorhebung im Original, Patrizia Giampieri-Deutsch] primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.“107

Auch auf seine eigenen Doppelgänger-Erlebnisse sowie auf jene des Philosophen Ernst Machs kommt Freud in „Das Unheimliche“ zu sprechen: „Anstatt […] über den Doppelgänger zu erschrecken, hatten beide – Mach wie ich – ihn einfach nicht

 Folgenden Ausführungen sind eine Wiederaufnahme des Artikels von Patrizia Giampieri-Deutsch, „Der Philosoph und sein Doppelgänger. Zu Peter Bieris literarischen Versuchen“, kursiv Jahrbuch 2012. Abgründe. Wien/München: Brandstätter Verlag 2012, S. 76–86, hier S. 78–79. 101  Otto Rank. Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Wien: Turia/Kant 1993 [1914/1925]. 102  Sigmund Freud (1919h), „Das Unheimliche“, loc. cit., S. 247. 103  Ibid. 104  Ibid., S. 354. 105  Ibid., S. 237. 106  Ibid., S. 254. 107  Ibid., S. 263. 100

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agnosziert. Ob aber das Mißfallen dabei nicht ein Rest jener archaischen Reaktion war, die den Doppelgänger als unheimlich empfindet?“108 Sind Freuds und Machs Ablehnungsreaktionen deshalb so intensiv, weil es ihnen das eigene Bild im charakteristisch philosophischen Nachtgewand vor Augen führt? Im Rahmen der eigenen Forschungstätigkeiten als Physiker bzw. als Psychoanalytiker haben sich Mach und Freud gründlich mit der Frage des Verhältnisses zwischen Physischem und Psychischem auseinandergesetzt. Dabei haben sie allmählich Auffassungen entwickelt, die gegenwärtige Ansätze zur Subjektivitätstheorie vorweggenommen haben. In Mach und Freud ist die Verbindung zwischen dem Ich und dem Denken gebrochen. Mach bemerkt: „Wir glauben unser Denken ‚willkürlich‘ zu leiten, aber in Wahrheit ist dasselbe bestimmt durch den immer wiederkehrenden Gedanken des Problems, das mit 1000 Assoziationsfäden unmittelbar oder mittelbar an den Inte­ ressen unseres Lebens hängt, die uns nicht los lassen.“109 Als Leitprinzip der Assoziationskette nimmt Mach Triebe110 wie Ernährungstrieb und Geschlechtstrieb an: „Die Psyche tritt uns in keiner Phase als ‚tabula rasa‘ entgegen. Man müßte mindestens neben den erworbenen Assoziationen auch angeborene Assoziationen annehmen.“ Und genau diese angeborenen Assoziationen werden von Mach als Triebe genannt: „Die angeborenen Triebe […] führt der Biologe auf angeborene organische Verbindungen, insbesondere Nervenverbindungen, zurück.“111 Freud entwickelt eine artikulierte Theorie der unbewussten Gedanken und unterscheidet zwischen dem Denken, dem Ich und dem Bewusstsein. Was Freud als Denken, als Ich, als Bewusstsein bezeichnet, kann zwar manchmal übereinstimmen, aber diese Überlappung ist bloß punktuell. Gegenüber Mach hat sich Freud eine weit komplexere Triebtheorie gebaut, die er auch ein Leben lang kontinuierlich weiterentwickelt hat. Wie Mach nimmt Freud in seiner ersten Triebtheorie anfänglich neben einem Sexualtrieb einen Ich- oder Selbsterhaltungstrieb an. In Letzterem ist auch der von Mach postulierte Ernährungstrieb inkludiert. Der Freud’sche Begriff von Trieb ist jedoch bereits von Anfang an kein biologischer, sondern einer „der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen“.112 Das Freud’sche Unbewusste ist ein System von Inhalten und Mechanismen, das mit einer spezifischen Energie versorgt ist. Diese Inhalte werden als „Triebrepräsentanzen“ bezeichnet, Vorstellungen wie Phantasien, Szenarien oder bildliche Darstellungen der Wünsche, welche die Triebwünsche repräsentieren. Weitere Inhalte sind alles, was verdrängt wurde, allem voran das Infantile. Darüber hinaus entstehen Inhalte aus der Phylogenese, also Inhalte, die nicht vom einzelnen Subjekt, sondern von der Art erworben worden sind. Freud nennt sie „Urphantasien“, und diese umfassen das intrauterine Leben, den elterlichen Coitus,  Ibid., S. 262.  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, loc. cit., S. 63. 110  Ibid., S. 66 ff. 111  Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 196. 112  Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: GW 5 (1905d), S. 27, S. 33–145, hier S. 67. 108 109

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die Kastration oder die Verführung. Die Triebrepräsentanzen werden von Freud als eine Art Delegation des Physischen ins Psychische gedacht. Mach versucht, den Unterschied zwischen res cogitans und res extensa, zwischen denkendem und ausgedehntem Ding, zwischen psychischer Innenwelt und physischer Außenwelt sowie zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben. Mach spricht vom Ich, selten von Subjekt.113 Die Überwindung des psychophysischen Dualismus ist für Mach in der Wissenschaft methodologisch besonders wichtig.114 Durch seine Empfindungs- oder Elemententheorie beschreitet Mach den Weg eines psychophysischen Monismus. Subjekt und Objekt bestehen beide gleichfalls aus „Elementen“ oder „Empfindungen“, die Mach als Synonyme gebraucht. Was Mach „Empfindung“ nennt, soll nicht als die Empfindung eines Ichs verstanden werden. Da die Mach’sche Empfindung nichts Subjektives, nichts Bewirktes sein will, wird Mach lieber von „Element“ oder „Elementenkomplex“, einem von der Philosophiegeschichte weniger abgenutzten Ausdruck, sprechen. Freud spricht vom Psychischen und Physischen, somit den Unterschied zwischen einer psychischen Innenwelt und einer physischen Außenwelt bewahrend, betrachtet sie jedoch als durchgehendes Kontinuum. Das Psychische ist weder durch das Bewußtsein noch durch ein Ich bestimmt. Freud ist bereit, wie in einem Brief aus den 1930er-Jahren zu lesen ist, „eine physische Welt neben der psychischen anzuerkennen in der Art, daß die letztere ein Teilgebiet des ersteren ist. Die Frage der Relation zwischen physisch und psychisch kommt nur für letzteres [das Psychische, Patrizia Giampieri-Deutsch] in Betracht. Die physische Welt hat eine psychische Seite insofern, als auch sie von uns nur durch psychische Wahrnehmung erkannt wird. Andererseits drängen uns unsere psychischen Wahrnehmungen auch die Notwendigkeit der Annahme einer physischen Realität hinter dem Seelenleben auf.“115

Mach definiert das Ich als „funktionalen Zusammenhang der Elemente“ und aus den Empfindungen oder Elementen gebildet oder gebaut. Allerdings „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). Die Elemente bilden das Ich.“ Unter Machs Begriff von Subjekt, auch wenn bei Mach eher von einem Ich die Rede ist, um die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt deutlicher aufzuheben, ist nichts weiteres als Elementenkomplex oder Empfindungskomplex zu verstehen. Das Ich ist ein Elementenkomplex in Relation mit anderen Elementenkomplexen und Mach kann deshalb behaupten, „daß im Leben mehr liegt als im Bewußtsein, daß das Ich mit der bewußte Person nicht zusammenfällt.“116 Was ist das Bewusstsein für Mach? Auch beim Bewusstein handelt es sich um einen Komplex von „Empfindungen, die besonders zusammenhängen“: „Ein ­geordneter,  Eine Unterscheidung zwischen Ich und Subjekt wird in Machs Schriften nicht herausgearbeitet.  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, loc. cit., S. 13. 115  Sigmund Freud, „Brief an Juliette Boutonier vom 11.4.1930“, in: GW Nachtragsbd. (1955e [1930]), S. 672. 116  Ernst Mach, „Notizbuch 63 (14 Juni 1907)“, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, loc. cit., S. 204. 113 114

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geläufiger Zusammenhang der Empfindungen und der Erinnerungen bildet das Bewußtsein.“117 Weiter sind alle Objekte in Elemente (Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten usw.) oder Empfindungen zerlegbar. Mach verwendet unübliche Mehrzahlformen, wie Wärmen und Drücke, um die „Elementarität“ dieser Elemente/ Empfindungen hervorzuheben.118 Anstatt von Objekten, einem „Draußen“ zu sprechen, beschreibt Mach Komplexe von Farben, Tönen, Gerüchen usw., die er mit „ABC“ bezeichnet. Nach Mach ist auch der Leib ein Komplex, den er „KLM“ nennt, während sich das „Drinnen“, das „Subjekt“ – von ihm bezeichnet mit „a, b, g“- aus Willen, Gefühlen, Affekten, Stimmungen, Erinnerungsbildern zusammensetzt. Für Mach gibt es „nur einerlei Elemente (Empfindungen) aus welchen sich das vermeintliche Drinnen und Draußen zusammensetzt.“119 Der neue Anfang bei Mach ist gewagt und in dieser Kühnheit weit aporetischer als bei Freud. „Mit diesem praktisch zureichenden Nebel ist aber methodologisch nichts anzufangen […]“ hatte Mach zu Begriffen wie Subjekt, Objekt u.  a. bemerkt.120 Wenn man in Machs Notizbüchern blättert, taucht jedoch die ganze „metaphysische“ Terminologie wieder auf: das Subjekt mit seinem Objekt, das Physische und das Psychische, das Außen und das Innen, die Ursache mit der Wirkung. Das ist die kaum vermeidliche Aporie, wenn man die tradierte philosophische Sprache mit einem Schlag loswerden will. Eine Zeichnung stellt einen der bekanntesten Verweise auf Mach dar, in welcher sich der Philosoph als liegend auf einer Couch porträtiert: er schließt das rechte Auge und zeichnet, was das linke Auge sieht: in einem von der linken Augenbraue, von Nase und Schnurrbart gebildeten Rahmen ist der auf der Couch liegende Körper des Philosophen und ein Teil des Zimmers zu sehen. Das Gesicht fehlt. Diese Zeichnung illustriert nach Machs Absicht einen Satz des Fichte-Epigonen Christian Friedrich Krause. Der Satz von Krause lautet: „Aufgabe: Die Selbstschauung ‚Ich‘ auszuführen. Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus.“ Mach scheint Krause beim Wort genommen zu haben, also die Selbstschauung ausgeführt und auch zeichnerisch bezeugt zu haben. Das Ich wird in ein beobachtendes und zeichnendes Subjekt (schwarzes Loch, Abwesenheit) und in ein beobachtetes und gezeichnetes Objekt (Leib in einem Zimmer) gespaltet. Wenn Mach bei Descartes geblieben wäre, hätte sich das Ich in eine res cogitans und in eine res extensa gespaltet und nur durch die Ausschaltung des Leibes (Objekt, res extensa) würde das Ich, als bloß denkendes Ich, wieder seine Einheit zurückbekommen. Diese Lösung wird von Mach abgelehnt, da er nach einer Überwindung der Trennung zwischen Leib und Seele strebt und deshalb in Richtung eines Körper-Ich geht. „Mein Leib unterscheidet sich von den andern menschlichen Leibern (…) dadurch daß er nur teilweise und insbesondere  Ernst Mach, „Psychisches und organisches Leben“, in: ders., Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig: Barth 1896, S. 552. 118  Manfred Sommer, Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 93–95. 119  Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 252. 120  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, loc. cit., S. 13. 117

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ohne Kopf gesehen wird.“121 Mach spricht hier vom Leib, aber man darf nicht vergessen, dass diese Zeichnung als Aufführung der Selbstschauung des Ichs gemacht wird. Die Gleichstellung von Ich und Körper wird in einer späteren Aufzeichnung gemacht, als Mach bemerkt: „Selbstanschauung ich Körper. Ohne Kopf (…) Der Körper und das Ich nicht in bestimmter Weise abgrenzbar.“122 Zwei vorbereitende Skizzen aus den Notizbüchern für die endgültige Fassung geben noch einige Hinweise; die eine ohne Datum trägt die Bemerkung: „Wie man die Selbstschauung ausführt.“123 Die Erfahrung der Selbstanschauung war, dass wenn das einsame Ich sich selbst beobachtet, es doch bemerken muss, dass es, wenn nicht schon die anderen Menschen, so doch mindestens einen Spiegel braucht, um ein Gesicht zu bekommen. Im April 1882 hatte Mach in seinem Notizbuch unter einer anderen Skizze für diese Zeichnung notiert: „Identität mehr durch die Umgebung als durch die psychische Identität.“124 Mach deutet an, was Freud mit seiner Identifizierungstheorie entfalten wird. Die Identität des Ich kommt durch die anderen zustande. Bis zu diesem Punkt führt auch die Hegel’sche Theorie, wenn nicht inzwischen das Ich auch in der Philosophie einen Körper durch Mach erhalten hätte. Die späteren phänomenologischen Untersuchungen von Maurice Merleau-Ponty125 werden von Mach vorweggenommen. Das Ich ist nach Freud nicht die Gesamtheit des Subjekts, sondern ein Teil davon, der von Freud in Beziehung mit den anderen Teilen gesehen wird. Nicht erst in Das Ich und das Es wird das Ich eingeführt, sondern es hat eine Vorgeschichte. Aus Freuds theoretischem Gebäude möchte ich manche Punkte hervorheben, die für den Vergleich mit Mach von Relevanz erscheinen. Bei der Darstellung der Genese des Ichs denkt Freud gleichzeitig an zwei Modelle: erstens an das Protozoon, ein einfacher Protokörper, der aber auch bereits ein Körper ist, und zweitens an das Produkt einer Folge von sukzessiven Identifizierungen mit anderen. „Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.“126 In welcher Beziehung steht die Genese des Ichs mit dem Bild des eigenen Körpers? Die Frage wird von „Freuds Festhalten an dem Bild einer lebenden Form, die durch den energetischen Niveauunterschied zum Außen definiert wird und eine Grenze besitzt, die Einbrüchen unterworfen ist, unaufhörlich verteidigt und neu  Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 15.  Ernst Mach, „Notizbuch 50 (Manuskript „Sinnesempfindungen“ 1896)“, in: Rudolf Haller/ Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, loc. cit., S. 193. Vgl. auch Manfred Sommer, Husserl und der frühe Positivismus. Frankfurt/Main: Klostermann 1985 oder ders., Evidenz im Augenblick: eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987. 123  Ernst Mach, „Zeichnung mit Handschrift aus einem nichtkatalogiesierten Notizbuch (ohne ­Datum)“, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, loc. cit., S. 211. 124  Ernst Mach, „Notizbuch Nr. 25 (April 1882)“, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, loc. cit., S. 180 und S. 182. 125  Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard 1945 und ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare. München: Fink 1986, vgl. u. a. S. 22; vgl. dazu auch Jacques Lacan, Le Séminaire de Jacques Lacan. Livre XI. Les Quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1964). Paris: Seuil 1973. 126  Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: GW 13 (1923b), S. 237–239, hier S. 253. 121 122

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g­ ebildet werden muß“127 hervorgerufen. In dem Bild des „Protoplasmatierchens“ von „Zur Einführung des Narzissmus“128 oder des „lebenden Bläschens“129 von Jenseits des Lustprinzips wird ein mit Energie versorgter Körper, in einer mit Energie versorgten Umgebung gezeigt. Gerade der Energieunterschied zwischen diesem fiktiven Protozoon und der Außenwelt bestimmt die Grenzen dieses Bläschen, da dieses gegenüber den Reizen eine reizaufnehmende und reizschützende Rinde bildet. Die interessanteste Version dieses Protozoon ist die Aussage in Das Ich und das Es „Das Ich ist vor allem ein Körperliches.“130 Weder in der Originalausgabe noch in den Gesammelten Werken bot Freud eine erklärende Anmerkung oder Erläuterung an. Erst in der englischsprachigen Version von Freuds Werken, in The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, erschien eine von Freud autorisierte Glosse: „[T]he ego is ultimately derived from bodily sensations, chiefly from those springing from the surface of the body. It may thus be regarded as a mental projection of the surface of the body, besides […] representing the superficies of the mental apparatus.“ „Das Ich ist in letzter Instanz von den körperlichen Empfindungen abgeleitet, vor allem von denen, die von der Oberfläche des Körpers herrühren. Es kann also eine seelische Projektion der Oberfläche des Körpers betrachtet werden neben der Tatsache […], daß es die Oberfläche des seelischen Apparates ist. [dt. Ü. der Autorin/des Autors]“131

Nicht nur den Körper, sondern den eigenen Körper scheinen Mach und Freud als Modell für das Ich genommen zu haben. Für Descartes ist die Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung. Der Traum ist für ihn Täuschung und Einbildung. Die Bedingung des cartesianische Cogito ist, dass der Philosoph, obwohl in der Nacht und im Schlafrock, wach ist. Eine Abgrenzung zwischen Träumen und Wachzustand wird hingegen von Mach verneint: „Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist oder ob wir sie bloß träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn. Auch der wüsteste Traum ist eine Tatsache, so gut als jede andere. Wären unsere Träume regelmäßiger, zusammenhängender, stabiler, so wären sie für uns auch praktisch wichtiger. Beim Erwachen bereichern sich die Beziehungen der Elemente gegenüber jenen des Traumes. Wir erkennen den Traum als solchen. Bei dem umgekehrten Prozeß verengert sich das psychische Gesichtsfeld; es fehlt der Gegensatz meist vollständig. Wo kein Gegensatz besteht, ist die Unterscheidung von Traum und Wachen, Schein und Wirklichkeit ganz müßig und wertlos.“132

 Jean Laplanche/Jean-Baptiste Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd.  1. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1973, S. 198. 128  Sigmund Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, loc. cit., S. 141. 129  Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: GW 13 (1920g), S. 1–69, hier S. 26. 130  Sigmund Freud, Das Ich und das Es, loc. cit., S. 253. 131  Sigmund Freud, The Ego and the Id, in: James Strachey/Anna Freud/Alix Strachey/Alan Tyson. (Hrsg.), The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. London: The Hogarth Press/The Institute of Psychoanalysis, Vols. 1–24, 1953–74, Vol. 19 (1923b), S. 12–59, hier S. 26. 132  Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 9. 127

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Wenn auch das Denken sich im Traum bei Freud vom bewussten oder vorbewussten Denken in wachem Zustand insbesondere in der Interaktion mit der Außenwelt unterscheidet, ist dies nicht wie bei Descartes ein Hindernis für die Erkenntnis ­(entweder cogito oder dormio), sondern eher via regia, der Königsweg, nicht nur zur Erkenntnis des Unbewussten, sondern des ganzen mentalen Lebens des Subjektes. Der eigenen Überlegenheit ist Freud sich schon in den Briefen an Wilhelm Fließ bewusst, indem er seine Erkenntnisse über den Traum mit jenen von Mach aus der Analyse der Empfindungen vergleicht und daraus schließen kann, „‚daß die Prinzessin es nicht weiß‘.“ Das cartesianische Cogito als Ausgangspunkt, in dem das Subjekt und das vernünftige Denken zusammengeknüpft sind, erlaubt eine Demarkation zwischen Traum und wachem Leben. Diese Unterscheidung wird von Mach und von Freud auf verschiedenen Wegen in Frage gestellt. Wenn das Denken unabhängig vom Ich ist, wie bei Mach, wird auch die Kon­ trolle des Ichs über das eigene Denken erlöschen. In Erkenntnis und Irrtum schreibt Mach: „Wir sind nicht Herren darüber, welche Erinnerungen uns auftauchen und welche den Sieg davon tragen.“133 In der Analyse der Empfindungen berief sich Mach auf die philosophischen Bemerkungen von Georg Christoph Lichtenberg: „Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere, glauben wir wenigstens, hingen von uns ab; wo ist die Grenze?“134 Lichtenberg führte ein, was Freud zu Ende denken konnte: „Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt.“135 In den Notizbüchern zeichnet Mach auf: „Sonne geht auf, Erde dreht sich. Ich aufgeben (instinktiv) noch schwer. Aber größere theoretische und praktische Folgen. Kopernikus.“136 Auf Kopernikus griff Freud selbst in „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ zurück, indem er die Folgen der eigenen Auffassungen darstellt. Das Subjekt habe drei Demütigungen erlitten, die erste „kosmologische“ wurde ihm von Kopernikus, welcher der Erde die Zentralstellung im Weltall absprach, zugefügt; die zweite „biologische“ wurde von Darwin bewirkt, der den Ursprung des Menschen in die Tierwelt verlegte; die dritte „psychologische“ Demütigung folgte den Entdeckung der Psychoanalyse, „daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“. 137 Wenn Mach das Ich in Empfindungen/Elementen auflöst und zur Aussage kommt: „Das Ich ist unrettbar“,138 wird das Ich des Subjekts von Freud „als armes Ding“ dargestellt, „welches unter dreierlei Dienstbarkeiten den Drohungen von  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, loc. cit., S. 25–26.  Zitiert nach Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, loc. cit., S. 23. 135  Ibid. 136  Ernst Mach, „Notizbuch Nr. 55 (9.11.1900)“, in: Rudolf Haller/Friedrich Stadler, Ernst Mach. Werk und Wirkung, loc. cit., S. 198. 137  Sigmund Freud, „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“, in: GW 12 (1917a [1916]), S. 3–12, hier S. 11. 138  Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 20. 133 134

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dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-Ichs.“139 Nach Herbert Feigl vertritt Mach die Position des neutralen Monismus.140 Mach wird rückblickend in Die Analyse der Empfindungen bemerken: „Ich bin von dem ursprünglichen F e c h n e rschen [Hervorhebung im Original, Patrizia Giampieri-Deutsch] Parallelismus ausgegangen. Aber selbst die Betrachtung des Psychischen und Physischen als zwei Seiten eines Drittens, kann ich nicht so verächtlich finden. Es liegt ein besonnener Kompromiß des Spiritualismus mit dem Materialismus darin, die zu weiteren wissenschaftlichen Konsequenzen führt. Setzen wir statt dessen z w e i Beobachtungsweisen d e s s e l b e n V o r g a n g e s [Hervorhebung im Original, Patrizia Giampieri-Deutsch], so wird an dieser Formel kein Naturforscher mehr Anstoss nehmen.“141

Freud versteht mentale Phänomene als eine besondere Art physikalischer Phänomene.142 Nach Freuds Position des nichtreduktiven Physikalismus wird der Geist, das Mentale als ein „Teilgebiet“, eine „Seite“ des physikalischen Bereichs angesehen. Das bedeutet, dass für Freud der Geist, das Mentale, physikalisch realisiert, verkörpert, „embodied“ ist. Gegenwärtige Philosophinnen und Philosophen sprechen heutzutage kaum mehr von Substanzen. Wenn sie als Monistinnen oder Monisten einen nichtreduktiven Physikalismus vertreten, sprechen sie lieber von mentalen Eigenschaften, um die Schwierigkeiten des Substanz-Dualismus zu überwinden. Ebenso betrachtete Freud den Geist, das Mentale, nicht als Substanz sondern als eine Eigenschaft, wie Freud im 4. Kapitel „Psychische Qualitäten“ aus dem Abriß der Psychoanalyse143 schrieb. Das Physikalische und das Mentale wurden von Freud von Anfang an und über sein ganzes Leben hindurch als ein kausal zusammenhängendes Kontinuum aufgefasst. 1915 konnte der reife Freud in Das Unbewusste diesen Punkt in einer klaren Art und Weise herausarbeiten, wenn er „die unlösbaren Schwierigkeiten des psychophysischen Parallelismus“ beschrieb,144 und dadurch zeigte, dass er mit der philosophischen Diskussion zu diesem Thema vertraut war.

 Sigmund Freud, Das Ich und das Es, loc. cit., S. 286.  Herbert Feigl, „The ‚mental‘ and the ‚physical‘“, in: Herbert Feig/Michael Scriven/Grover Maxwell (Hrsg.), Minnesota Studies in the Philosophy of Sciences: Concepts, Theories and the Mind-Body-Problem, Vol. 2. Minneapolis: University of Minnesota Press 1958, S. 370–497, hier S. 426; dt. Ü. „Das ‚Mentale‘ und das ‚Physikalische‘“, in: Thomas Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes, Bd.  2, Das Leib-Seele-Problem. Paderborn: Mentis 2007, S.  132–164, hier S. 144. 141  Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 305, Zusatz zu S. 51. 142  Folgende Ausführungen dieses Paragraphs folgen den Arbeiten von Patrizia Giampieri-Deutsch, „Approaching Contemporary Psychoanalytic Research“, in: dies. (Hrsg.), Psychoanalysis as an Empirical, Interdisciplinary Science. Collected Papers on Contemporary Psychonalytic Research. Vienna: Austrian Academy of Sciences Press 2005, S. 18–49, 22–23 und Patrizia Giampieri-­ Deutsch, „Freud, die Psychoanalyse und die Wissenschaften“, in: dies. (Hrsg.), Geist, Gehirn, Verhalten. Sigmund Freud und die modernen Wissenschaften. Würzburg: Königshausen/Neumann 2009, S. 139. 143  Vgl. Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse, in: GW 17 (1940a [1938]), S.  63–138, hier S. 79–86. 144  Sigmund Freud, „Das Unbewußte“, in: GW 10 (1915e), S. 264–303, hier S. 266. 139 140

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Schon in seinem Brief an Fließ am 22. September 1898 schrieb Freud, er sei „gar nicht geneigt, das Psychologische ohne organische Grundlage schwebend zu erhalten.“145 Durch den ganzen „Entwurf einer Psychologie“ hindurch wird der Monismus als eine Einheit, als ein integriertes Ganzes des Physikalischen und Mentalen hervorgehoben.146 In Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie sind die Triebe die Vertretung des somatischen Elements, das die Grundlage des Mentalen bildet: „Unter einem ‚Trieb‘ können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden innersomatischen Reizquelle […]. Trieb ist so einer der Begriffe, der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen.“147 Freud stellte die Möglichkeit einer zukünftigen psychophysischen Gesamtbetrachtung nie in Frage und in jenem, dem biologischen Interesse gewidmeten Kapitel von „Das Interesse an der Psychoanalyse“, wird die Sachlage deutlicher formuliert: „Wir haben es notwendig gefunden, biologische Gesichtspunkte während der psychoanalytischen Arbeit ferne zu halten […] Nach vollzogener psychoanalytischer Arbeit müssen wir aber den Anschluß an die Biologie finden […]“148 Des Weiteren bemerkte Freud in „Zur Einführung des Narzißmus“, „daß all unsere psychologischen Vorläufigkeiten, einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen. Es wird dann wahrscheinlich, daß es besondere Stoffe und chemische Prozeße sind, welche die Wirkungen der Sexualität ausüben und die Fortsetzung des individuellen Lebens in das der Art vermitteln.“149 Freud trennte sich nie von der Ansicht, dass die Psychoanalyse einen Bezug zur Neurobiologie finden würde: „Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll […]“150 1920 hob Freud in Jenseits des Lustprinzips hervor, wie „die Unsicherheit unserer Spekulation zu einem hohen Grade durch die Nötigung gesteigert wurde, Anleihen bei der biologischen Wissenschaft zu machen.“ Seine Aufgeschlossenheit für die biologische Wissenschaft zeigend, setzte Freud fort: „Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf  Sigmund Freud, „Brief 177 vom 22. September 1898“, in: J.M.  Masson (Hrsg.), Briefe an ­Wilhelm Fließ. Frankfurt/Main: Fischer Verlag (1985c [1887–1904]), S. 357. 146  Sigmund Freud, „Entwurf einer Psychologie“, in: GW Nachtragsbd. (1950c [1895]), S. 387– 477, hier S. 357. 147  Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: GW 5 (1905d), S. 27, S. 33–145, hier S. 67. 148  Sigmund Freud, „Das Interesse an der Psychoanalyse“, in: GW 8 (Freud 1913j), S. 389–420, hier S. 410. 149  Sigmund Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, in: GW 10 (Freud 1914c), S. 137–170, hier S. 144. 150  Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: GW 11 (1916–1917a [1915–17]), S. 403. 145

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die von uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde.“151 Wie Freud in Die Frage der Laienanalyse 1926 noch bekräftigen konnte: „Bei dem innigen Zusammenhang zwischen den Dingen, die wir als körperlich und als seelisch scheiden, darf man vorhersehen, daß der Tag kommen wird, an dem sich Wege der Erkenntnis und hoffentlich auch der Beeinflussung von der Biologie der Organe und von der Chemie zu dem Erscheinungsgebiet der Neurosen eröffnen werden.“152 Auch im unvollendeten und erst postum veröffentlichten Manuskript Abriß der Psychoanalyse vom Jahr 1938 zeigte sich Freud der Biologie gegenüber zuversichtlich: „Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflußen. Vielleicht ergeben sich noch ungeahnte andere Möglichkeiten der Therapie; vorläufig steht uns nichts besseres zu Gebote als die psychoanalytische Technik […]“153 Der Neurowissenschaftler Freud musste sich von der Neurobiologie seiner Zeit verabschieden, da diese noch nicht weit genug gediehen war, um ein Modell der Funktionen des Geistes auf der Grundlage ihrer neurobiologischen Mechanismen aufstellen zu können. Zu seiner Arbeit am Manuskript „Entwurf einer Psychologie“154 schrieb Freud an Wilhelm Fließ am 27. April 1895: „Wissenschaftlich bin ich übel daran, nämlich so in die ‚Psychologie für den Neurologen‘ verrannt, die mich regelmäßig ganz aufzehrt […]“.155 In der Traumdeutung156 traf Freud aus diesem Grund die methodologische Entscheidung, sich mit dem psychologischen Gesichtspunkt abzufinden. Die Möglichkeit der Beschreibung eines psychophysischen Kontinuums ist Freuds Erbe an die Psychoanalyse der Gegenwart.157

 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, loc. cit., S. 65.  Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse, in: GW 14 (1926e), S. 207–286, hier S. 264. 153  Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse, loc. cit., S. 108. 154  Sigmund Freud, „Entwurf einer Psychologie“, in: GW Nachtragsbd. (Freud 1950c [1895]). 155  Sigmund Freud, „Brief 63 vom 27. April 1895“, in: J.M. Masson (Hrsg.), Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, op. cit., S. 129. 156  Sigmund Freud, Die Traumdeutung, op. cit., S. 541. 157   Vgl. Patrizia Giampieri-Deutsch, „Neuro-Psychoanalyse“, in: Wolfgang Mertens (Hrsg.), .Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, 4. überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer 2014, S. 617–626. 151 152

Kapitel 4

Das bedrängte Ich. Ich-Konzepte bei Freud und Mach Gerhard Donhauser

Zusammenfassung  In den metapsychologischen Überlegungen Sigmund Freuds wie in jenen Ernst Machs ist das Ich im Fluss begriffen. Es ist weder unveränderlich noch substanzhaft, sondern wird im Verlauf psychischer Prozesse hervorgebracht, wohl auch modifiziert und neu formiert. Bei allen Unterschieden in ihren theoretischen Grundannahmen zur menschlichen Psyche und deren Funktionsweisen, teilen Mach und Freud eine differenzierte Inblicknahme des Ich, die beide Autoren zumindest in Opposition zu vorherrschenden philosophischen und psychologischen Überzeugungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bringt. In diesem Zusammenhang bietet sich naturgemäß die Frage an, welche sonstigen Bezüge sich zwischen den Überlegungen Freuds und Machs zum menschlichen Seelenleben herstellen lassen, jenseits gefälliger lexikalischer Unterscheidungen zwischen Psychoanalyse und Gestalttheorie, aber in stetem Blick auf historische Kontexte und wirkungsmächtige Rezeptionsmodi.

4.1  Einleitung „Das Ich“ sei, so Ernst Mach in seiner 1886 erstmals veröffentlichten „Analyse der Empfindungen“, „unrettbar“.1 Ob dies nun zutreffen mag oder nicht, das Ich ist seitdem weder aus dem allgemeinen Sprachgebrauch noch aus wissenschaftlichen oder philosophischen Diskursen verschwunden. Gerade aus psychologischen Sphären ist es kaum wegzudenken, allein schon im Blick auf die Relevanz von „Ich-­Störungen“ in zeitgenössischer psychologischer, psychiatrischer bzw. psychotherapeutischer Diagnostik. Um aus einem aktuellen Band zum ICD-10-, dem Diagnoseklassifikationssystem der WHO, zu zitieren: „Unter ,Ich-Störungen‘ versteht man Störungen, bei denen die Grenze zwischen der eigenen Person und der Umwelt verändert oder gestört wahrgenommen wird.“2

 Mach (2008), S. 30.  Paulitsch (2009), S. 46.

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G. Donhauser (*) University of Vienna, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_4

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Ich wird hier mit Person synonymisiert – auch dies ein recht komplexer und schillernder Begriff.3 Im alltäglichen Erfahrungshorizont erscheint das „grandiose Ich“ zuweilen als berufliche und ökonomische Erfolgsbasis,4 und nicht zuletzt auf sprachlicher Ebene scheinen auch all jene dem Ich nicht entrinnen zu können, die dies prinzipiell für erstrebenswert halten mögen. Nun bestehen zwischen Ich und Ich teils deutliche Bedeutungsunterschiede im Detail, diachron wie synchron, und das Wort spielte und spielt in unterschiedlichen Kontexten eine teils erhebliche Rolle, so in philosophischen und erkenntnistheoretischen, anthropologischen, psychologischen, theologischen und linguistischen Zusammenhängen. Diese Fülle an Facetten kann im Rahmen eines kurzen Buchbeitrags kaum angemessen behandelt werden, und so sollen im Folgenden einzelne Aspekte beleuchtet werden, nicht zuletzt in begriffsgeschichtlicher und begriffskritischer Perspektive. Ich möchte dabei mit Machs Überlegungen zum Ich, vornehmlich im Rahmen der schon erwähnten „Analyse der Empfindungen“ beginnen, und diese dann mit einem Ich-Konzept kontrastieren, das einige Jahrzehnte später von Sigmund Freud elaboriert wurde. Jenseits wissenschaftlicher und/oder philosophischer Schulstreitigkeiten möchte ich abschließend auf die Frage eingehen, welcher Gewinn heute aus den Überlegungen Machs und Freuds zum Thema Ich gezogen werden kann. Denn das Ich kann, wie erwähnt, heute als so wenig verabschiedet gelten wie die Frage geklärt ist, was Träume denn nun eigentlich seien und wie wir sie korrekt zu beurteilen hätten.5 Gleichwohl kann darüber im Rahmen heutiger philosophischer und wissenschaftlicher Diskurse zweifellos facettenreicher und differenzierter, vielleicht auch entspannter nachgedacht werden als im philosophischen bzw. wissenschaftlichen Mainstream des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts. Der Umstand, dass nach wie vor ein Bedarf daran zu bestehen scheint, ist zumindest geeignet, ein erhellendes Licht auf die menschliche Psyche zu werfen – und darauf, dass es mancherlei bedeutet oder bedeuten kann, ein Ich zu sein oder sich als ein solches zu fühlen.

4.2  Mach und das Ich In seiner „Analyse der Empfindungen“ stellte Ernst Mach das Ich als etwas Vorläufiges dar, dem nur „relative Beständigkeit“ zukomme. Es verändere sich im Lauf der Zeit, langsam zwar, aber doch unweigerlich. Die Langsamkeit der Veränderung begünstige den Eindruck von Kontinuität.6 Die Erinnerung an Montaignes Einsicht, dass „[s]elbst die Beständigkeit […] bloß ein verlangsamtes Schaukeln“ sei, drängt sich beinahe auf.7 3  Zum Schillern dieses Begriffs sowie zu begriffsgeschichtlichen Aspekten vgl. z.  B.  Teichert (2011). 4  Vgl. Haller (2013, S. 17) seqq. 5  Auch damit haben sich sowohl Mach als auch Freud beschäftigt, auch dies mit beachtlichen Unterschieden in Grundannahmen und Ergebnissen – allerdings einer nicht minder beachtlichen Gemeinsamkeit, was wissenschaftlichen Blick und Anspruch in der Auseinandersetzung mit dem Thema anging. 6  Vgl. Mach (2008), S. 13. 7  Vgl. Montaigne (1998, S. 398).

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„Absolut beständig“ sei das Ich laut Mach mithin keineswegs; vielmehr träten „im Laufe der Jahre in einem Menschen […] [g]rößere Verschiedenheiten“ ein als „im Ich verschiedener Menschen“.8 Diese Gedanken lassen auch an David Humes Überlegungen, denen zufolge es ein Ich oder erkennendes Subjekt, das Sinneseindrücke dauerhaft zu verknüpfen vermöge, gar nicht gäbe. Vielmehr erfolge diese Verknüpfung assoziativ, sodass subjektiv der Eindruck eines aktiven Intellekts entstehe.9 Dementsprechend erscheint das Ich für Hume wandelbar, veränderlich über die Zeit hinweg, ohne dass er dies positiv oder negativ bewerten würde. Mach zufolge sei angesichts der Veränderungen des Ich im Lauf des Lebens auch der individuelle Tod nicht zu fürchten, weil das an ihm am meisten Gefürchtete, nämlich „die Vernichtung der Beständigkeit […] im Leben [schon] in reichlichem Maße“ eintrete. „[Z]eitweilig“ könne „der Tod, als Befreiung von der Individualität, sogar ein angenehmer Gedanke sein“.10 Schon allein insofern geht Mach durchaus über David Hume hinaus, der die Wandelbarkeit des Ich betonte, ohne sie deshalb zwangsläufig positiv zu bewerten. Im Übrigen formten, so Mach, soziale Kontexte das individuelle Ich, „die Gemeingefühle“, wie er im Blick auf das Buch „La maladie de la personnalité“ des Philosophen Théodule Ribot (1839–1916), der für seine experimentalpsychologischen Arbeiten bekannt wurde, ausführt.11 Die Illusion der Beständigkeit werde maßgeblich durch „Substanzbegriffe“ wie „Körper“ oder eben „Ich“ erzeugt, zumindest aber unterstützt, obwohl es sich bei allem solcherart Bezeichneten doch stets um Zusammensetzungen handle. „Die Komplexe zerfallen in Elemente, d. h. in letzte Bestandteile, die wir bisher nicht weiter zerlegen konnten.“12 Berücksichtige man dies, so erweise sich die Annahme eines „Ding[es] an sich“ als Scheinproblem, hervorgerufen „durch das Verkennen des Umstandes, dass übersichtliches Zusammenfassen und sorgfältiges Trennen, obwohl beide temporär ersprießlich, nicht auf einmal geübt werden“ könnten.13 Nur so lange man nicht „auf Einzelheiten […] achten“ wolle oder müsse, erscheine ein „Körper“ als „einer und unveränderlich“.14 Je nach Standpunkt können „allgemeinste Abstraktionen“ in den Blick genommen oder Vertiefungen „ins Einzelnste“ erfolgen.15 Mit dem Ich verhalte es sich keineswegs anders.

 Mach (2008), S. 13 seq.  Vgl. dazu ausführlich Donhauser (2015, S. 262). 10  Mach (2008), S. 14. 11  Vgl. Mach (2008), S. 13 seq. 12  Mach, Die Analyse der Empfindungen, loc. cit., S. 14. (Hervorhebungen im Original.) 13  Bei Kant ist die Wendung „Ding an sich“ in so unterschiedlichen Zusammenhängen und Bedeutungsgehalten verwendet, dass ich mich an dieser Stelle nicht in eine nähere Untersuchung desselben einlassen will. Für Mach war es ein „metaphysisches Relikt“, aber auch dies kann hier nicht weiter erörtert werden. 14  Mach (2008), S. 15 seq. (Hervorhebung im Original.) 15  Mach (2008), S. 16. 8 9

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G. Donhauser „Die Komplexe von Farben, Tönen usw., welche man gewöhnlich Körper nennt, bezeichnen wir der Deutlichkeit wegen mit ABC …; den Komplex, der unser Leib heißt, und der ein durch Besonderheiten ausgezeichneter Teil der ersteren ist, nennen wir KLM …; den Komplex von Willen, Erinnerungsbildern usw. stellen wir durch α, β, γ dar. Gewöhnlich wird nun der Komplex αβγ … KLM … als Ich dem Komplex ABC … als Körperwelt gegenübergestellt […]“16

Mach nimmt hier auf eine in der neuzeitlichen europäischen Philosophie gängige Differenzierung Bezug, die den belebten (menschlichen) vom bloßen Körper unterscheidet und als Leib bezeichnet.17 Die einzelnen, jeweils als substanzhaft vorgestellten Elemente würden als voneinander unabhängig gedacht, was jedoch näherer Überprüfung nicht standhalte. „Das Ich“, so Mach, sei „nicht scharf abgegrenzt, die Grenze […] ziemlich unbestimmt und willkürlich verschiebbar.“ „[D]ie vermeintlichen Einheiten ,Körper‘, ,Ich‘“ seien „nur Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung und für bestimmte praktische Zwecke“.18 Sohin ist unschwer zu erkennen, welche Art Ich hier zur Disposition steht, nämlich ein substanzhaft gedachtes Ich, wie es seit Descartes in weiten Teilen der europäischen Philosophie eine mehr oder minder große Rolle gespielt hat. Ich komme später noch darauf zurück. Zugleich steht die „Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Körper und Geist“19 im Fokus von Machs Kritik. „[D]ie große Kluft zwischen physikalischer und psychologischer Betrachtungsweise […] besteht“ demnach „nur für die gewohnte stereotype Betrachtungsweise. Eine Farbe ist ein physikalisches Objekt, sobald wir auf ihre Abhängigkeit von der beleuchtenden Lichtquelle […] achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut […], so ist sie ein psychologisches Element, eine Empfindung. Nicht der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Fällen verschieden […]“20

„Wahrnehmungen“, „Vorstellungen, der Wille, die Gefühle, kurz die ganze innere und äußere Welt“, so legt Mach anhand exemplarischer Beobachtungen dar, setzten sich „aus einer geringen Zahl von gleichartigen Elemente in bald flüchtigerer, bald festerer Verbindung zusammen. Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfindungen. Da aber in diesem Namen schon eine einseitige Theorie liegt, so ziehen wir es vor, kurzweg von Elementen zu sprechen […]“21 „Die Zusammenfassung der mit Schmerz und Lust am nächsten zusammenhängenden Elemente in einer ideellen denkökonomischen Einheit, dem Ich, hat die höchste Bedeutung für den im Dienst des schmerzmeidenden und lustsuchenden Willens stehenden Intellekt. […] Durch ihre hohe praktische Bedeutung nicht nur für das Individuum, sondern für die ganze Art machen sich die Zusammenfassungen ,Ich‘ und ,Körper‘ instinktiv geltend und treten mit elementarer Gewalt auf.“

Allerdings: „Nicht das Ich“ sei „das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen).“22  Mach (2008), S. 17. (Hervorhebungen im Original.)  Vgl. z. B. Husserl (1992a, S. 112) seqq. 18  Mach (2008), 20 seq. 19  Vgl. Mach (2008), S. 21. 20  Mach (2008), S. 24. (Hervorhebungen im Original.) 21  Mach (2008), S. 28. (Hervorhebungen im Original.) 22  Mach (2008), S. 29. (Hervorhebung im Original.) 16 17

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Doch wie steht es um die „Kontinuität“ des Ich? Diese sei ja wohl das Entscheidende, mag es auch mit Abgrenzung zum Körper oder der Unveränderlichkeit des Ich Schwierigkeiten geben. Mach meint, dass die „Kontinuität“ des Ich „nur ein Mittel“ sei, „den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser Inhalt und nicht das Ich“ sei „die Hauptsache“. Die Inhalte seien zwar an Individuen gebunden, nicht aber an ein bestimmtes, weshalb sie „unabhängig von der Person, durch die sie sich entwickelt haben, ein allgemeineres, unpersönliches, überpersönliches Leben“ fortführten. Machs Conclusio: „Das Ich ist unrettbar.“23

„[D]as Subjekt“ baue sich „[a]us den Empfindungen […] auf“, reagiere „dann allerdings wieder auf die Empfindungen“. Generell seien es „Elementenkomplexe“ oder „Empfindungskomplexe“, die „die Körper“ bildeten, nicht umgekehrt. Die Auffassung, „die Körper als das Bleibende, Wirkliche“ zu betrachten, „die ,Elemente‘ hingegen als ihr[en] flüchtige[n] vorübergehende[n] Schein“, verkenne, „dass alle ,Körper‘ nur Symbole für Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe)“ seien. Unter diesen Elementen seien „[d]ie Farben, Töne, Räume, Zeiten … […] für uns vorläufig die letzten […], deren gegebenen Zusammenhang wir zu erforschen haben.“24 All „jene Probleme, die nach dem Verhältnis unserer ,Empfindungen‘, ,Vorstellungen‘, ,Bewusstseinsinhalte‘ zu den ,materiellen Dingen‘ fragen, deren Abbilder, Zeichen usw. die erstgenannten Produkte der Introjektion sein sollen“,

stellten vor diesem Hintergrund „Scheinprobleme“ dar.25 In einer späteren Schrift, „Erkenntnis und Irrtum“ (1905) unterschied Mach zwischen „engere[m] Ich“ und „Ich im weitesten Sinne“, wobei ersteres die „Gesamtheit des nur mir Gegebenem“ umfasse, während „die Gesamtheit meines Psychischen  – die Empfindungen eingerechnet_“ das letztere konstituierten. Aber auch hier wird nicht von einem „materielle[n] Substrat“ des Ich ausgegangen, sondern es werden „lediglich ­tatsächliche oder potentielle Interaktionen bezogen auf eine Raumzeitstelle, als Projektionszentrum“ angenommen.26 Ohne Zweifel ist die alte Körper-Geist-Dichotomie nur im Modus dogmatischer Setzung behauptbar. Seit Descartes, der diesbezüglich im Grunde versucht hat, ein theologisches Konzept in eine säkulare philosophische Sprache zu übersetzen, war sie geeignet, zahlreiche Probleme aufzuwerfen, die zu lösen oder doch wenigstens einer weiterführenden Erkenntnissen dienlichen Erörterung zuzuführen wohl an gewissen inneren Widersprüchlichkeiten des Konzepts gescheitert ist.27 Unabhängig von ihrer nach wie vor ungebrochenen Popularität, nicht nur in Alltagsdiskursen, erhebt sich die Frage, wie die mit Leib, Körper und Geist vermutlich unzulänglich bezeichneten und obendrein noch ontologisierten Aspekte insbesondere menschlicher Existenz im Blick etwa auf psychische Vorgänge adäquat beschrieben werden

 Mach (2008), S. 30. (Hervorhebung im Original.)  Vgl. Mach (2008), S. 32–35. (Hervorhebungen im Original.) 25  Mach (2008), S. 59. 26  Vgl. Mach (2011, S. 14) seq., 16 seq. Vgl. dazu auch Schmitz (2004, S. 161). 27  Vgl. dazu ausführlich z. B. Donhauser (2001, S. 21) seqq. 23 24

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können. Ein rein naturalistischer Ansatz läuft ohne Zweifel Gefahr, in eine mechanistische Betrachtungsweise abzugleiten, ebenso wie diametral entgegengesetzte Ansätze Neigungen zu esoterischen oder – um mit Mach zu sprechen – „spiritualistischen“ Tendenzen erkennen lassen. Bei Edmund Husserl steht der Aspekt des Erlebens im Vordergrund, und dieser ist mit physikalischen Kategorien so wenig zu beschreiben wie die Einsicht in die Unbeständigkeit des Ich „[d]as physiologische Sterben“ in irgendeiner Weise zu „erleichter[n]“ imstande ist.28 Um der Komplexität menschlicher Existenz gerecht zu werden, bedarf es vermutlich eines multiperspektivischen Zugangs, der auch in einer entsprechend vorsichtigen und differenzierten Sprache Ausdruck findet. So stellt sich etwa die Frage, ob die Beschreibung psychologischer Phänomene über bestimmte Sinnesorgane in diesem Zusammenhang hinreichend ist oder ob es dafür nicht zumindest einer anderen Sprache als jener bedarf, die Biologie oder Physik zur Verfügung stellen bzw. stellen können.

4.3  Freud und das Ich bzw. Ichideal Anders als später für Sigmund Freud war es für Mach allerdings offenkundig gar kein Ziel, ein Ich, mag es nun als regulative Idee gedacht sein oder nicht, hervorzubringen, sondern eher, es zu überwinden. Freud hat insgesamt zwei Modelle dessen entwickelt, was er als psychischen Apparat bezeichnete. Das erste stellte er in der „Traumdeutung“ (1899) dar. Es differenzierte zwischen Bewusstem, Unbewusstem und Vorbewusstem. Was ­dynamische psychische Abläufe betraf, so verortete Freud im Unbewussten all das, was aus dem vorbewussten und bewussten System verdrängt worden sei.29 In „Das Ich und das Es“ (1923) stellte Freud ein weiteres Modell vor, das unter anderem eine Erklärung für die Verdrängung mancher Inhalte bieten sollte. Die Elemente dieses Modells heißen Es, Ich und Über-Ich. Es nennt Freud die psychische Sphäre, aus der sexuelle wie aggressive Triebregungen stammen. Durch Erziehung, Orientierung an Normen und Werthaltungen, aber auch kritische und vernünftige Überlegung entstehe das Ich. Erziehung und daraus abgeleitete Normen bilden das Über-Ich. Im Spannungsfeld aus Triebansprüchen und kulturellen Faktoren (im weitesten Sinn), daraus erfließend auch der Fähigkeit zur Sublimierung von Triebenergien, entsteht für Freud das Ich.30 Selbstverständlich ist auch dieses Ich als veränderlich und im Fluss begriffen gedacht. Vor allem aber begleitet es die menschliche Existenz nicht von vornherein, sondern entsteht und verändert

 So Mach (2008), S. 14. Bei Husserls Überlegungen zu „Bewusstseinserlebnissen“ geht es freilich nicht um psychologische Aspekte, sondern um epistemologische Voraussetzungen einer Rede über Gegenstände; vgl. dazu z. B. Vgl. etwa Husserl (1992b, S. 159) seqq. 29  Freud (2000c), S. 513) seqq.; vgl. zusammenfassend auch Donhauser (2015), S. 127. 30  Vgl. Freud (1994a, insbes. S.  288) seqq.; vgl. zusammenfassend auch Donhauser (2015), S. 127. 28

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sich im Lauf der Zeit aus der Aktivität eines komplex gedachten psychischen Apparats heraus. Freud betonte die Ambivalenzen, denen das Ich, das weitgehend auch der bewussten Persönlichkeit des allgemeinen Sprachgebrauchs entspricht, ausgesetzt sei. Aus dieser Sicht ist die Position des Ich prekär, ständigem Druck durch die im Es beheimateten Triebe (keineswegs nur jenen des Eros, sondern auch jenen des Thanatos) und Ansprüchen des Über-Ich ausgesetzt, zwischen denen es nicht nur vermitteln muss, sondern aus denen heraus es geradezu hervorgeht. Das Ich-Ideal ergibt sich aus den Forderungen des Über-Ich und ist für Freud insofern zunächst mit diesem identisch.31 Zehn Jahre später, in den „Neuen Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ wird er diese Ineinssetzung relativieren; das „Über-Ich“, so heißt es dort, „ist auch der Träger des Ichideals, an dem das Ich sich mißt, dem es nachstrebt, […] Niederschlag der alten Elternvorstellung, der Ausdruck der Bewunderung jener Vollkommenheit, die das Kind ihnen damals zuschrieb.“32

Für Freud handelt es sich beim Ich-Ideal um „die Repräsentanz unserer Elternbeziehung“, die sich seiner Theorie zufolge aus der Art und Weise ergibt, auf die der „Ödipuskomplex“ aufgelöst – oder eben nicht aufgelöst – wird.33 Ohne an dieser Stelle auf Inhalte, Vorannahmen und Inhalte dieses Konzepts eingehen zu können, lässt sich konstatieren, dass sich das Ich aus einer Transformation von Inhalten aus dem Es entwickelt: „Das Ich entwickelt sich von der Triebwahrnehmung zur Triebbeherrschung, vom Triebgehorsam zur Triebhemmung. An dieser Leistung hat das Ichideal, das ja zum Teil eine Reaktionsbildung gegen die Triebvorgänge des Es ist, seinen starken Anteil. Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll.“34

In einer weitaus berühmteren Formulierung aus den „Neuen Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ formulierte Freud diesen Anspruch stark verknappt: „Wo Es war, soll Ich werden.“ Schwere „Kulturarbeit“, wie Freud hinzufügt.35 Durchaus in diesem Sinne hieß es bereits in „Das Ich und das Es“: „Aber andererseits sehen wir dasselbe Ich als armes Ding, welches unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und demzufolge unter den Drohungen von drei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es her und von der Strenge des Über-Ichs.“36

So werde „das Ich“ zur „eigentliche[n] Angststätte“; gegenüber dem Es entwickle es einen „Fluchtreflex“, gegenüber dem Über-Ich „Gewissensangst“.37

 Vgl. Freud (2000a), S. 303.  Freud (2000a, S. 503). 33  Vgl. Freud (2000a), S. 303. 34  Freud (2000a), S. 322. 35  Freud (2000a), S. 516. 36  Freud (2000a), S. 322. 37  Freud (2000a), S. 323 seq. 31 32

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Im Detail ließe sich noch Vieles über Freuds Überlegungen zum Ich und zum Ichideal sagen, auch im Blick auf einen früheren Text, „Zur Einführung des Narzissmus“, erstmals veröffentlicht 1914, wo Freud auch den (affektiven) Begriff des Selbstgefühls ein führte, der als Ausdruck von Ichgröße verstanden wird. Durch Erfolge werde das Selbstgefühl, das stark von der narzisstischen Libido abhänge, gesteigert, Reste primitiver Allmachtsgefühle würden potenziert.38 An dieser Stelle bleibt allerdings nur der Hinweis, dass das Ich auch bei Freud als prekär, gefährdet und im Fluss begriffen gedacht wird. Es ist weder unveränderlich noch substanzhaft, sondern wird im Verlauf psychischer Prozesse hervorgebracht, wohl auch modifiziert und neu formiert. Gleichwohl stellt es sich aus psychoanalytischer Perspektive, anders als etwa bei Mach als etwas dar, das nicht aufgegeben werden kann, sondern nachgerade Ziel der psychoanalytischen Arbeit sein soll.

4.4  Resümee Spätestens mit Descartes hatte das Ich als zentrale Figur Einzug in die europäische Philosophie gehalten; der Satz „ego sum, ego existo“, besser bekannt in der Variante „cogito ergo sum“ sollte erfahrungs- und traditionsunabhängige Gewissheit des Denkens verbürgen, weil seine Verneinung zu einem performativen Selbstwiderspruch führen könnte. Was „ego sum“ sagt, ist eine „res cogitans“ (im Gegensatz zur „res extensa“), ein denkendes, zweifelndes und fühlendes Wesen.39 John Locke, dessen Erkenntnistheorie sich doch sehr erheblich von jener Descartes’ unterschied, synonymisierte Ich und Selbst als „bewußt denkende Wesen“, das er auch „Person“ nannte.40 In Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798/1800) wird „das Ich als Subjekt des Denkens (in der Logik)“ bestimmt, „welches die reine Apperzeption bedeutet (das bloß reflektierende Ich), und von welchem gar nichts weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache Vorstellung ist“. Als „Objekt der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes“ ist das Ich dasjenige, „was eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen enthält, die eine innere Erfahrung möglich machen“.41 Bei Johann Gottlieb Fichte läuft der Begriff des Ich zu seiner bekannten Höchstform auf: „Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es; und wie es ist, setzt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin und notwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich.“42

 Freud (1994b).  Vgl. Descartes (1996, S. 7, 28, 34). 40  Vgl. Locke (1981, S. 428). 41  Kant (1998, S. 417). 42  Fichte (1997, S. 16). 38 39

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All diese Ich-Konzepte, die wir im Detail an dieser Stelle naturgemäß nicht erörtern können, sind insofern substantiell, als das Ich jeweils als etwas nicht nur Zentrales, sondern auch Bestimmtes, Feststehendes gedacht wird. Mit primär naturwissenschaftlich orientierten Herangehensweisen an das Ich, wie sie sich bei Mach oder Freud an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert finden, gerät dieser Ansatz in die Kritik. Das Subjekt als Zentralgestirn möglicher Erkenntnis wird durch diverse Kränkungen erschüttert, zu denen Freud das heliozentrische Weltbild, die Darwin’sche Evolutionstheorie und naturgemäß die Psychoanalyse rechnete.43 Für Mach sind physische und psychische Welt nicht zu trennen, wobei er „Erkennen“ als „optimale, das Überleben fördernde Repräsentation der Außenwelt […] in Empfindungen der Innenwelt“ betrachtete; Erkenntnistheorie erschien als „Abbildung oder Repräsentation der äußeren Welt in der inneren neuronalen Welt“, deren „Nachbildungen, da intern, leichter zur Hand“ seien „als die jeweilige Einzel-­Erfahrung selbst“.44 Mach selber verstand sich als „Naturforscher“, nicht als Philosoph, und von daher suchte er die Welt, in der Psychisches und Psychisches eine Einheit bildeten, vom Physischen her zu erschließen. Ein zentraler Anknüpfungspunkt war dabei „die Auffassung der ,Empfindungen‘ als gemeinsame ,Elemente‘ aller möglichen physischen und psychischen Erlebnisse, die lediglich in der verschiedenen Art der Verbindung dieser Elemente, in deren Abhängigkeit voneinander bestehen“.45 Machs Ansatz stellt den physischen Menschen „mit seinem Körper, Nervensystem und Gehirn, die Empfindungen, Vorstellungen, Erinnerungen und Denken in unserem Ich zu einer Einheit verweben, in den Mittelpunkt seiner Erkenntnistheorie“.46 Anbindungen in Psychologie und Psychotherapie waren hingegen eher selten.47 Vermutlich entbehrt dies auch nicht einer gewissen Folgerichtigkeit, denn bei allen Schwierigkeiten mit dem Ich, dem Selbst und der Person scheint eine Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche gleichwohl ohne all dies nicht wirklich auszukommen (und dies bedeutet nicht, dass irgendetwas davon substantialistisch gedacht werden müsste). Bei allen Bemühungen, Physis und Psyche als Einheit zu begreifen, bleibt die Sache bei Mach doch letztlich physiologisch. Möglicherweise hat Freud eine adäquatere Sprache für einen Zugang zur psychischen Welt gefunden, die konsequent nicht-metaphysisch und vom Anspruch her naturwissenschaftlich blieb, ohne die Welt der Empfindungen auf physiologische Abläufe zu reduzieren, und insofern dem Humanen jenen Raum beließ, den es im Prozess seiner Selbst(er)findung eben als Minimum benötigt.48

 Freud (2000b, S. 283) seq.  Zit. nach Leinfellner (1988, S. 117). 45  Mach (2008), S. 5 f. 46  Leinfellner (2008), S. 114. 47  So beriefen sich die frühen Theoretiker der Gestaltpsychologie bekanntlich auf die Gestalttheorie und damit auf Mach. Kritisch z. B. Ley (1994, S. 127) seqq. 48  Zum Sich-Selbst-Erfinden vgl. z. B. Sartre (1985, S. 42); Safranski (1997, S. 11). Zur Selbsterfindung im Modus sprachlicher Sinnstiftung vgl. z. B. Hustvedt (2010, insbes. S. 67) seqq. 43 44

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Nicht ohne Interesse (oder vielleicht auch Ironie) scheint dabei der Umstand, dass dem Ich oder dem (spärlich bis gar nicht davon unterschiedenen) Selbst in einigen Spielarten der Psychoanalyse, etwa in der Ich-Psychologie oder der Selbstpsychologie teils wieder eine weitaus substantiellere Funktion zugesprochen wird als dies noch bei Freud der Fall war.49 Die alte Fichte‘sche Grandiosität erreicht das Ich allerdings auch in diesen Ansätzen nicht. Doch wie auch immer, die Diskussionen um das Ich dürften weder erledigt noch an einen Endpunkt gelangt sein.

Literatur Descartes, René, Hrsg. 1996. Meditationes de prima philosophia in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstratur. Lat.-dt., übers. Hans-Georg Zekl und Lüder Gäbe. In Philosophische Schriften in einem Band. Sonderausgabe Hamburg: Meiner [Getrennte Zählung]. Donhauser, Gerhard. 2001. Kunst  – Erkenntnis  – Deutung. Eine philosophische Annäherung. Wien: WUV. Donhauser, Gerhard. 2015. Psychologie und Philosophie. Wien: öbv. Fichte, Johann Gottlieb. 1997. Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Hrsg. Fritz Medicus und Wilhelm Jacobs, 4. Aufl. Hamburg: Meiner. Freud, Sigmund. 1994a. Das Ich und das Es (1923). In Psychologie des Unbewußten (= Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. III, Hrsg. Alexander Mitscherlich et al.), 7., korr. Aufl., S. 273–330. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, Sigmund. 1994b. Zur Einführung des Narzissmus (1914). In Psychologie des Unbewußten (= Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. III, Hrsg. Alexander Mitscherlich et al.), 7., korr. Aufl., S. 37–68. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, Sigmund. 2000a. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933 [1932]). In Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge (= Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd.  I, Hrsg. Alexander Mitscherlich et  al.), S.  447–608. Limitierte Sonderausgabe Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, Sigmund. 2000b. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17 [1915–17]). In Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge (= Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. I, Hrsg. Alexander Mitscherlich et al.), S. 33–445. Limitierte Sonderausgabe Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, Sigmund. 2000c. Die Traumdeutung (= Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. II. Hrsg. Alexander Mitscherlich et al.). Limitierte Sonderausgabe Frankfurt a. M.: S. Fischer. Haller, Reinhard. 2013. Die Narzissmus-Falle. Anleitung zur Menschen- und Selbsterkenntnis. Salzburg: ecowin. Husserl, Edmund. 1992a. Cartesianische Meditationen, § 50. In Cartesianische Meditationen. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hrsg. Elisabeth Ströker (= Edmund Husserl: Gesammelte Schriften), Bd. 8. Hamburg: Meiner. [Getrennte Zählung]. Husserl, Edmund. 1992b. Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, §  56, Hrsg. Elisabeth Ströker (= Edmund Husserl: Gesammelte Schriften), Bd.  7. Hamburg: Meiner.

 Besonders exponiert in diesem Zusammenhang zweifellos Stern (1985).

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Hustvedt, Siri. 2010. Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Aus dem Englischen v. Uli Aumüller und Grete Osterwald, 4. Aufl. Reinbek: Rowohlt. Kant, Immanuel. 1998. Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798/1800), § 4, Anmerkung. In Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik (= Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden), Hrsg. Wilhelm Weischedel, Bd.  VI, S.  395–690 (Sonderausgabe). Darmstadt: WBG. Leinfellner, Werner. 1988. Physiologie und Psychologie – Ernst Machs ,Analyse der Empfindungen‘. In Ernst Mach – Werk und Wirkung, Hrsg. Rudolf Haller und Friedrich Stadler, 113–137. Wien: hpt. Ley, Michael. 1994. Ernst Mach und die Gestaltpsychologie. In Arbeiten zur Psychologiegeschichte, Hrsg. Horst Grundlach, 123–131. Göttingen: Hogrefe. Locke, John. 1981. Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I: Buch I und II. 4., durchges. Aufl. Hamburg: Meiner. Mach, Ernst. 2008. Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (= Ernst-Mach-Studienausgabe, Bd.  1), Hrsg. und eingel. Gereon Wolters. Berlin: Xenomoi. Mach, Ernst. 2011. Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (= Ernst-Mach-­ Studienausgabe, Bd.  2), Hrsg. und eingel. Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler. Berlin: Xenomoi. de Montaigne, Michel. 1998. Essais. Übers. Hans Stilett. Frankfurt a. M.: Eichborn. Paulitsch, Klaus. 2009. Grundlagen der ICD-10-Diagnostik. Wien: WUV (= UTB 3203). Safranski, Rüdiger. 1997. Das Böse oder Das Drama der Freiheit. München/Wien: Hanser. Sartre, Jean-Paul. 1985. Drei Essays. Mit einem Nachwort v. Walter Schmiedle, 9., durchges. Aufl. Berlin: Ullstein. Schmitz, Ulrich. 2004. Das problematische Ich. Machs Egologie im Vergleich zu Husserls. Würzburg: Königshausen & Neumann. Stern, Daniel. 1985. The interpersonal world of the infant. A view from psychoanalysis and developmental psychology. New York: Basic Books. Teichert, Dieter. 2011. Personen und Identitäten. Nachdruck. Berlin: de Gruyter.

Kapitel 5

Vom Empiriokritizismus zum Empiriomonismus: Aleksander Bogdanovs Rezeption der Epistemologie von Ernst Mach Maja Soboleva

Zusammenfassung  Ernst Machs Philosophie genoss außerordentliche Popularität in Russland anfangs des 20. Jahrhunderts. Seine Anhänger sind vor allem dank Lenins Kritik in seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“, in dem er sie als „Machisten“ bezeichnete, weltweit berühmt berüchtigt geworden. Allerdings wurden Lenins Vorwürfe des Idealismus sowohl von Mach selbst als auch von seinen russischen Nachfolgern als unbegründet zurückgewiesen. Tatsächlich hat der am Bekanntesten von ihnen, als Lenins „Rivale“, Aleksander Bogdanov, seine eigene Erkenntnistheorie entwickelt, die er „Empiriomonismus“ nannte. Mit dieser suchte er einen naturwissenschaftlich fundierten erkenntnistheoretischen Orientierungsrahmen für den sozialen und politischen Marxismus zu erarbeiten und hat dafür eine „sozial-genetische“ Auslegung Machs Lehre vorgeschlagen. Die systematischen Bezüge zwischen Bogdanovs und Machs Theorien rücken ins Zentrum der Analyse. Es wird gezeigt, wie Bogdanov inspiriert vom Machs „physikalisch-­ psychologischen Monadologie“ diese zu einer Art sozialen Epistemologie mit dem Begriff „sozial-organisierte Erfahrung“ als ihren Kern transformiert. Ernst Machs Philosophie genoss in Russland anfangs des 20. Jahrhunderts außerordentliche Popularität. Ein Indiz hierfür ist, dass eine Reihe positivistisch ­ausgerichteter Positionen als Machistische Bewegung in der Philosophie oder „Machismus“1 bezeichnet wurde. Zu nennen sind vor allem die Theorien von Aleksandr Bogdanov, Pavel Jushkevich, Vladimir Bazarov, Valentin Chernov,

 Siehe dazu Georgij Plechanov, Materialismus militans (1908–1910). Otvet gospodinu Bogdanovu, in: Georgij Plechanov, Izbrannye filosofskie proizvedenija. Tom 3. Moskva: Gospolitizdat 1957; Vladimir Lenin, Materializm i empiriokriticizm (1909), in: Vladimir Lenin, Polnoe sobrabie sochinenij. Tom 18. Moskva: Izdatel’stvo politicheskoj literatury 1968. 1

M. Soboleva (*) Institut für Philosophie, Philipps Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_5

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­ ikolaj Valentinov und ­Jakov Berman. Philosophiegeschichtlich ist es bemerN kenswert, dass die Wirkung Machs Ideen nicht auf die Wissenschaft beschränkt war. Die Zuwendung zu ihnen wurde in erster Linie nicht durch das akademische Interesse, sondern durch das politische motiviert. Die Verbreitung Machs Theorie kann damit erklärt werden, dass die russischen Autoren in ihrem Kampf gegen idealistische und religiöse Weltanschauungen der Gesellschaft zu den Mitteln griffen, welche die moderne Wissenschaft und die moderne wissenschaftliche Philosophie für eine Erneuerung des öffentlichen Denkens zur Verfügung stellte. Nicht die spekulative Philosophie à la Hegel, sondern Marxistische Gesellschaftstheorie, Naturwissenschaft und eine positivistische Philosophie sollten die Grundlage für gesellschaftliche Aufklärung liefern. Wie Bogdanov es programmatisch formuliert hat: „Philosophie muß in ihrer Grundlage naturwissenschaftlich sein, wenn sie eine ganze und wahre Weltanschauung für die Gegenwart sein soll.“2 Auf diesem Weg kam es zu einer Synthese der Theorien von Marx und Mach. Da Bogdanov den Marxismus als „eine naturwissenschaftliche Philosophie des sozialen Lebens“3 betrachtete und Machs Stärke gerade „in der Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode zur Erkenntnis des sozialen Lebens“4 sah, interpretierte er dessen Philosophie als „den Gedanken des historischen Materialismus“ nahstehend.5 Er suchte einen naturwissenschaftlich fundierten erkenntnistheoretischen Orientierungsrahmen für den sozialen und politischen Marxismus zu erarbeiten und hat dafür eine „sozial-genetische“6 Auslegung der Epistemologie Machs vorgeschlagen. Die Erkenntnistheorie rückte ins Zentrum der politischen Debatte in Russland, weil sie das Verhältnis zwischen Mensch und Wirklichkeit und die Rolle des Menschen in der Konstituierung der Wirklichkeit erklären sollte. Auf dieser Grundlage sollte später die Theorie des Sozialismus entwickelt werden, der für die russischen Anhänger Machs eine durchgreifende Rationalisierung der Gesellschaft bedeutete.7 Der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Philosophie hat man eine instrumentelle Funktion beigemessen, insofern „sie die organisierte kollektive Erfahrung der Menschen ist und als Werkzeug zur Organisation des sozialen Lebens dient“.8

2  Aleksandr Bogdanov, „Ernst Mach und die Revolution“, in: Die Neue Zeit 26, 1908, 1. Bd., Nr. 20, 698. 3  Ibid., S. 698. 4  Ibid., S. 699. 5  Ibid., S. 700. 6  Aleksandr Bogdanov, Empiriomonizm (1906). Moskva: Respublika 2003, S. 6, 22. 7  Zum Beispiel gab Bogdanov folgende Definition des Sozialismus: „Sozialismus ist die weltweite kameradschaftliche Zusammenarbeit der Menschen, die nicht durch Privateigentum, Konkurrenz, Ausbeutung und Klassenkampf getrennt sind, die über die Natur herrschen und bewusst und planmäßig ihre gegenseitigen Beziehungen, ihr Ideenreich, ihre Organisation des Lebens und der Erfahrung erzeugen.“ (Aleksandr Bogdanov, „Ideal i put“ (1918), in: Ders., Voprosy socializma. Moskva: Izdatel’stvo politicheskoj literatury 1990, S. 349–351. Hier S. 349). 8  Aleksandr Bogdanov, Nauka i proletariat, in: Ders., O proletarskoj kul’ture. Leningrad-Moskva: Kniga 1924, S. 223.

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Dank Plechanov und Lenin gilt Bogdanov traditionell als „Machist“,9 obwohl er selbst sich als ‚Machist‘ nicht betrachtete,10 wie er in seinem Werk „Empiriomonismus“ betont. Er hat jedoch in diesem Buch offen zugestanden, dass „er bei Mach viel gelernt hat“.11 Man kann Machs Empiriokritizismus12 als eine wichtige theoretische Quelle des Bogdanovschen Empiriomonismus wie auch seiner allgemeinen Organisationslehre („Tektologie“) betrachten. In seinem Vorwort zur russischen Ausgabe von Machs „Analyse der Empfindungen“, das auch in der SPD-Zeitschrift „Die Neue Zeit“ veröffentlicht wurde, hat Bogdanov eine hohe Einschätzung der philosophischen und wissenschaftlichen Tätigkeit Machs gegeben: „Die Philosophie von Mach ist ein Ausdruck der am meisten fortgeschrittenen Tendenzen in einem der zwei grundlegenden Gebiete der wissenschaftlichen Erkenntnis – im Gebiet der Naturwissenschaften.“13 Im Ganzen hat er dem Empiriokritizismus von Mach (und Avenarius) folgende Charakteristik gegeben: „Wenn wir diese Weltanschauung als einen kritischen, evolutionären, soziologisch gefärbten Positivismus bezeichnen, dann weisen wir sofort die wichtigsten Strömungen des philosophischen Denkens auf, die in ihr in eine Strömung zusammengeflossen sind.“14 Diesem Zitat ist zu entnehmen, was diese Theorie für Bogdanov attraktiv machte. Das ist erstens der Kritizismus, der ein methodologisches Verbot für die Aufstellung von abgeschlossenen Systemen bedeutet. Das ist zweitens der genetische Ansatz zu der Analyse der Phänomene, der die Forderung der Aufsteigung von Einfachsten zum Komplexen beinhaltet. Letztlich ist es das Moment des Soziologischen, das Bogdanovs eigene Überzeugung von dem sozialen Charakter der Erkenntnis zum Ausdruck bringt. Die Kontroverse zwischen Bogdanov und Mach entfaltete sich um die Methode der Überwindung des von Kant geerbten und im Kreis der russischen Marxisten, vor allem von Plechanov und Lenin, erneut aufgegriffenen Dualismus zwischen Ding-­ an-­sich und Subjekt, d. h. zwischen dem Erkennbaren und dem Erkennenden. Das Problem des Dings-an-sich geriet in den Fokus der philosophisch-politischen Diskussionen in Russland, weil es gesellschaftliche Relevanz hatte. Von dessen Lösung hing es ab, ob „Materie ein Objekt menschlicher Tätigkeit ist“ oder umgekehrt „der Mensch ganz und gar als Objekt materieller Wirkungen angesehen wird“,15 d. h. ob man Erkenntnis als passive Abbildung der Realität oder als einen konstruktiven, schöpferischen Zugang zur Welt versteht. Eine Lösung für dieses Problem zu finden, hielt Bogdanov für eine außerordentlich wichtige Aufgabe, weil man damit 9  Siehe dazu, beispielsweise, Daniela Steila, Nauka i revoljucija. Recepcija empiriokriticizma v russkoj kul’ture (1877–1910). Moskva: Akademicheskij projekt 2013. 10  Die Bezeichnung Bogdanovs als ‚Machist‘ stammt von Plechanov und Lenin. 11  Bogdanov, Empiriomonizm, op. cit., S. 239. 12  Dieser Terminus bezeichnet eigentlich die Theorie von Avenarius, er wurde aber in Russland als gemeinsamer Name für die Theorien von Avenarius und Mach verwendet. 13  Bogdanov, „Ernst Mach und die Revolution“, op. cit., S. 697. 14  Bogdanov, Empiriomonizm, op. cit., S. 12. 15  Aleksander Bogdanov, Filosofija zhivogo opyta. Populjarnye ocherki. Peterburg: Tipografija M.I. Semenova 1913. S. 215.

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eine möglichst vollständige, weltumfassende Orientierung über die Gesamtheit der Tatsachen erhalten würde und den Bruch zwischen Theorie und Praxis vermeiden könnte. Laut Bogdanov hat Mach einen wichtigen Schritt in diese Richtung gemacht. Allerdings fand er das von Mach vorgeschlagene Erkenntnismodell des „psycho-physischen Parallelismus“ unbefriedigend, weil es im Gegensatz zu dem traditionellen ontologischen einen methodologischen Dualismus entwickelt: „Es ist nicht der Dualismus der Realität, sondern der Dualismus der Erkenntnisweise (sposoba poznanija).“16 Dieser methodologische Dualismus besteht für ihn darin, dass „die Verbindung der physischen und die Verbindung der psychischen Reihe prinzipiell verschieden, auf einander nicht reduzierbar sind und keine Vereinigung in irgendeiner dritten, höheren Gesetzmäßigkeit zulassen“.17 Diesem Modell stellte er seinen Empiriomonismus – den methodologischen Monismus – entgegen, der „den Monismus des Typus der Organisation, demnach die Erfahrung systematisiert wird“18 darstellt. Dieser benutzte anstelle der Begriffe ‚psychisch‘ und ‚physisch‘, die bei Mach die metaphysischen Begriffe ‚Geist‘ und ‚Materie‘ ersetzten, die Begriffe ‚individuell gültige‘ und ‚allgemein gültige‘ Erfahrung.19 Somit erhielt der Begriff der kognitiven Erfahrung eine neue Interpretation: nicht als Korrelation zwischen psychischen und physischen Phänomenen, wie Mach es vorschlug, sondern als Übereinstimmung der „individuell organisierten“ mit der „sozial organisierten“ Erfahrung.20 Dementsprechend wurde die Erkenntnis nicht als ein individueller Prozess betrachtet, sondern zu einem sozialen umgedeutet: „Die individuell organisierte Erfahrung findet den Eingang in das System der sozial organisierten Erfahrung als ihr untrennbarer Teil und stellt keine besondere Welt für die Erkenntnis mehr dar. … Die einheitliche Welt der Erfahrung bildet den Inhalt für die einheitliche Erkenntnis. Das ist der Empiriomonismus.“21 Bogdanovs Bemühungen konzentrierten sich vor allem auf den Erfahrungsbegriff. Er strebte an einen solchen Begriff der Erfahrung auszuarbeiten, der es erlaubte, Erkenntnis und die Formen der sozialen Praxis mit einander zu verbinden. Diese Vorstellung von dem sozial bedingten Charakter der Erkenntnis entfaltete sich nicht zuletzt, wie es aus dem oben Gesagten ersichtlich ist, aus der Polemik gegen Mach. Bogdanov setzte sich vor allem mit Machs Werken „Die Analyse der Empfindungen“ (1886) und „Die Wärmelehre“ (1896) auseinander. Zunächst ist festzuhalten, dass diese Werke bereits ein neues Verständnis der wissenschaftlichen Erkenntnis bieten. Die Innovation Machs naturwissenschaftlicher Philosophie kann man darin sehen, dass er zusammen mit anderen philosophierenden Wissenschaftlern seiner Zeit22 einen Paradigmenwechsel in der Epistemologie vollzogen hat. Dieser kann  Bogdanov, Empiriomonizm, op. cit., S. 13.  Ibid., S. 13. 18  Ibid., S. 13. 19  Ibid., S. 27. 20  Ibid., S. 28. 21  Ibid., S. 33. 22  Man kann beispielsweise Wilhelm Ostwalds „Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus“ erwähnen (in: Verhandlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte. 67. Versammlung zu Lübeck. 1. Teil. Die allgemeinen Sitzungen. Leipzig: Vogel 1895). 16 17

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als Übergang von einem substanziellen zu einem funktionalen Weltverständnis interpretiert werden.23 Die anspruchsvollen ontologischen Weltkonstruktionen wurden durch nüchterne Modellierung der Prozesse ersetzt. In diesem Sinne – als eine Naturbeschreibung  – ist auch die Theorie Machs zu verstehen. Dieser liegt eine moderne, dank der zunehmenden Rolle der mathematisierten Theorie in der wissenschaftlichen Tätigkeit entstandene Annahme zu Grunde, dass die Idee der Wahrnehmung des unabhängigen Daseins der Dinge, einer Existenz in dem objektiven Raum und der objektiven Zeit, was in der naturwissenschaftlichen Terminologie am meisten dem Begriff der Materie entsprechen würde, aufgegeben werden soll. Der von Mach entwickelte Ansatz kann phänomenologisch genannt werden, weil er die Welt aus einer anthropologischen Perspektive darstellt. Es geht ihm vor allem darum, eine dem Prinzip der Denkökonomie folgende, d. h. minimalistische Wissenschaftssprache zu entwickeln, welche die beiden kardinalen traditionellen erkenntnistheoretischen Probleme des vom Subjekt unabhängigen, unergründlichen Dinges-an-sich und des ebenso rätselhaften, weltfremden erkennenden Ich beseitigen kann. Diese Wissenschaftssprache nimmt die Form einer „physikalisch-­ psychologischen Monadologie“24 oder eines funktional organisierten psycho-­ physischen Monismus an. Demnach enthalten das Physische und das Psychische gemeinsame Elemente, die sich von der Seite der Physik als Eigenschaften der Dinge und von der Seite der Psychologie als Empfindungen erweisen: „Nicht der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden.“25 In diesem Fall erscheint „die ganze Welt samt meinem Ich“ als „eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend“.26 Die wissenschaftliche Untersuchung besteht dann in der Analyse der funktionalen Abhängigkeit der „Elementenkomplexe“ und „Empfindungskomplexe“ voneinander. Machs Ansatz setzt voraus, dass ein isoliertes Ding gar nicht existiert; jeder Komplex kann nur von dem Hintergrund anderer Komplexe ausdifferenziert werden. Alle Komplexe sind miteinander verbunden, so dass letztendlich auch der Gegensatz der Welt und des Ich „auf demselben graduellen Unterschiede der Abhängigkeiten beruht“.27 Er schlägt eine Beschreibung der Welt vor, in der alles mit allem in Verbindung steht und je nach dem praktischen und wissenschaftlichen Interesse des Erkennenden als Einzelphänomen isoliert werden kann. Die Einheit dieser Beschreibung wird durch den kontinuierlichen Übergang von den einfachen und

 Von dieser paradigmatischen Wende zeugt eine Vielzahl angestellter Reflexionen. Vgl. Pavel Juschkevich „Sovremennaja energetika s tochki zrenija empiriosimvolizma“, in: Ocherki realisticheskogo mirovozzrenija. Sankt Peterburg: Dorovatovskij, Charushnikov 1903; Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Berlin: Bruno Cassirer 1910; Wilhelm Ostwald, „Der energetische Imperativ“. Erste Reihe. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 1912. 24  Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886). Jena: Fischer 1922, S. 24. 25  Ibid., S. 14. 26  Ibid., S. 24. 27  Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum (1905). Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth 1917. § 10. http://www.zeno.org/Philosophie/M/Mach,+Ernst/Erkenntnis+und+Irrtum. 23

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b­ estimmten sinnlichen Vorstellungen über das nicht wissenschaftliche Denken bis hin zu dem abstrakten wissenschaftlichen Denken gewährleistet. Diese von mir hervorgehobenen Aspekte der empiriokritischen Methodologie haben Eingang in Bogdanovs Empiriomonismus gefunden. Wie Mach, rückt auch Bogdanov den Begriff ‚Erfahrung‘ in den Vordergrund seiner Analyse. Ihm folgend nimmt er an, dass moderne Philosophie „die Philosophie der Erfahrung in der Erkenntnis im allgemeinen [ist], nicht aber die Philosophie der einen oder der anderen Wissenschaft“.28 Er modifiziert jedoch diesen Begriff, indem er kognitive Erfahrung von den sozialen Arbeitsbedingungen abhängig macht und eine fundamentale Zirkularität zwischen sozialer Praxis und Erkenntnis, ihre gegenseitige Abhängigkeit und wechselseitige Begründung entdeckt. Erfahrung muss mithin als Funktion zweier Variablen – subjektives Bewusstsein und gesellschaftlich produziertes normierendes Erkenntnisraster – begriffen werden. Bogdanov entwirft somit eine soziale Erkenntnistheorie,29 deren wichtige Aspekte „Soziomorphismus“ und „soziale Kausalität“ sind. Der „Soziomorphismus“ bedeutet die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis von der gesellschaftlichen Lebensform. Da alle Erkenntnis auf der sozialen Erfahrung und folglich auf der kollektiven Arbeit aufbaut, muss sie der „Entwicklung der öffentlichen Arbeit folgen und ihr entsprechen“.30 Bogdanov geht davon aus, dass „praktische Methoden den Grund für die Erkenntnis bilden“.31 Das wirkt sich bis in die konkrete wissenschaftliche Arbeit aus. So spricht Bogdanov in diesem Zusammenhang über die „soziale Praxis“ des Messens, der Setzung von Maß-, Rechen- und anderen Größen. Aller wissenschaftlichen Objektivität wird folglich intersubjektiv geteilte Lebenspraxis vorausgesetzt. Daher heißt für ihn „physisch“ „sozial organisiert“. Der Terminus „soziale Kausalität“ bringt ebenso zum Ausdruck, dass sich gesellschaftliche Organisationsverhältnisse in der Artikulation ihrer Praxisformen und Erkenntnis widerspiegelt. Dadurch unterscheiden sich die Weltauffassungen der nicht ausdifferenzierten Stammesverbände, der „autoritären Gemeinden“ patriarchaler oder feudaler Art, der „individualistischen“ (kapitalistischen) und der sozialistischen Gesellschaft prinzipiell.32 Die soziale Kausalität lässt sich als das Grundprinzip auffassen, aus dem heraus sich gesellschaftliche Totalitätserkenntnis entwickeln und die geschichtliche Veränderung des Charakters der Erkenntnis verfolgt werden kann.33 Den Faktum der sozialen Rückgebundenheit der Erkenntnis bringt Bogdanov auf den Begriff, indem er über das „System der

 Bogdanov, „Ernst Mach und die Revolution“, op. cit., S. 698.  Vgl. dazu Dieter Rink, Der theoretische Beitrag A. A. Bogdanov’s zur Bestimmung der praktisch-gesellschaftlichen und formationsspezifischen Determination des Erkennens. Leipzig: Univ. Diss. 1990. 30  Aleksandr Bogdanov, Iz psichologii obshchestva. Statji 1901–1904 g. Sankt Peterburg: Dorovatovkij, Charushnikov 1904. S. 65. 31  Bogdanov, Empiriomonizm, op. cit., S. 240. 32  Bogdanov, Filosofija zhivogo opyta. op. cit., S. 226–227. 33  Mehr dazu Maja Soboleva, Aleksandr Bogdanov und der philosophische Diskurs in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zur Geschichte des russischen Positivismus. Hildesheim: Olms Verlag 2007, S. 105. 28 29

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Erkenntnis“ spricht: „Mit dem ‚System der Erkenntnis‘ meine ich nicht irgendein individuell entwickeltes philosophisches oder wissenschaftliches System, sondern das gesellschaftliche System der Erkenntnis, d. h. einen Komplex der Begriffe, die in dieser Gesellschaft herrschen.“34 Am Rande sei bemerkt, dass er mit diesem Gedanken dem wissenschaftstheoretischen Denken seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Wie Mach vertritt Bogdanov nicht mehr den ontologischen Realismus, sondern einen epistemologischen. So ist Mach davon überzeugt, dass „das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem Zusammenhang der Elemente … Der Körper ist einer und unveränderlich solange wir nicht nötig haben, auf Einzelheiten zu achten.“35 Der Mensch hat laut ihm „vorzugsweise die Fähigkeit, sich seinen Standpunkt willkürlich und bewußt zu bestimmen.“36 Dementsprechend verändern sich die Dinge. Ähnlich schlägt Bogdanov vor, von einem dynamischen Weltbild zu sprechen und nach einem universalen Mechanismus für die Organization der Erfahrung zu suchen. Diesen findet er im Prozess der „Substitution“ (podstanovka). Er führt aus: „Mittels der ‚Substitution‘ kommunizieren verschiedene einzelne Bewusstseine miteinander, dadurch werden gemeinsame Typen der Organisation von Erfahrung erarbeitet (Zeit, Raum, Kausalität) und ein Teil kollektiver Erfahrung […] erlangt diejenige ‚soziale Organisiertheit‘, die die physische Erfahrung charakterisiert.“37 Seine „Methode der allgemeinen Substitution“ zielt auf die Herstellung eines Weltzusammenhangs und Schaffung eines ‚monistischen‘ Weltbildes. Dieses entsteht dank der Vereinigung der Erfahrungen einzelner Subjekte, mit Bogdanovs Worten, dank ihrer „Interferenz“.38 Die Substitution ermöglicht also Konstitution und Kontinuität der Erfahrung. Andererseits erklärt diese Methode den soziomorphen und daher historisch-genetischen Charakter des menschlichen Wissens, weil es laut Bogdanov verschiedene historische Formen der symbolischen Substitution gibt. Er unterscheidet folgende Formen der Substitution: Substitution des Physischen durch das Psychische (Animismus, Pantheismus), Substitution des Psychischen durch das Physische (naive Formen des Materialismus), Substitution des Physischen durch das Physische (mechanistische naturwissenschaftliche Theorien), Substitution des Psychischen und Physischen durch das „metaphysisch Unbestimmte“ (das Kantische Ding-an-sich) und Substitution der physischen Prozesse durch ihre symbolischen Darstellungen (moderne Naturwissenschaft).39 Der Prozess der Substitution belegt also mit aller Deutlichkeit den sozialen Ursprung des ‚physischen‘ Wissens. Bogdanovs erkenntnistheoretischer Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er gleichzeitig radikal funktionalistisch und konstruktivistisch ist, weil hier behauptet 34  Aleksandr Bogdanov, Poznanie s istoricheskoj tochki zrenija. Sankt Peterburg: Izdanie avtora 1901, S. 156. 35  Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, op. cit. S. 5. 36  Ibid. 37  Bogdanov, Empiriomonizm, op. cit., S. 337. 38  Ibid., S. 87, 107, 338. 39  Bogdanov, Empiriomonizm, op.cit, S. 128–129.

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wird, dass die Welt in mehreren, miteinander konkurrierenden Weisen beschrieben werden kann. Mach vertritt die Ansicht: „Kontinuität, Ökonomie und Beständigkeit bedingen sich gegenseitig; sie sind eigentlich nur verschiedene Seiten einer und derselben Eigenschaft des gesunden Denkens.“40 Den gleichen Prinzipien folgt Bogdanov, wenn er sich im Grenzgebiet von Materie und Geist bewegt. Sein „theoretischer Realismus“41 behauptet eine Abhängigkeit der Ontologie von der Epistemologie, d. h. der Wirklichkeit von den wissenschaftlichen Technologien und Sprachen. Charakteristisch hierfür ist seine metaphorische Beschreibung der Wahrheit, die „kein mehr oder weniger exaktes Porträt der Wirklichkeit“ ist, sondern die „Maschine, mit deren Hilfe man die Wirklichkeit schneidet, zuschneidet und näht“.42 Praktische Tätigkeit schafft die Bedingungen der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens und zugleich die Bedingungen der Objektivität von Gegenständen der kognitiven Erfahrung. Die Dimension der Erkenntnis zieht sich derart durch alle nichtwissenschaftlichen Handlungs- und Organisationsbereiche hindurch, dass sich die Frage nach den Quellen der Erkenntnis und ihrer Objektivität auf die gesellschaftlichen Strukturen im Ganzen erstrecken muss. Der Unterschied zwischen Mach und Bogdanov besteht also darin, dass der Empiriomonismus den Monismus der kognitiven Erfahrung letztendlich in der gesellschaftlichen Pragmatik fundiert. Zwar sind auch bei Mach Aussagen wie folgende zu finden: „Bewußtseinsinhalte von allgemeiner Bedeutung durchbrechen aber diese Schranken des Individuums und führen, natürlich wieder an Individuen gebunden, unabhängig von der Person, durch die sie sich entwickelt haben, ein allgemeineres, unpersönliches, überpersönliches Leben fort.“43 Seine Welt der Erfahrung hat deutlich einen intersubjektiven Charakter als ein Kontinuum individueller Erfahrungen. Allerdings bleibt der Aspekt der Intersubjektivität in seiner Theorie nur angedeutet, aber nicht systematisch und strukturell analysiert. Für Bogdanov stellt dieser Aspekt Machscher Theorie eine Schwäche dar. Er fällt folgendes Urteil: „Was für den Empiriokritizismus charakteristisch ist, ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit ‚meiner Erfahrung‘ und der Erfahrung meiner ‚Mitmenschen‘, sofern diese für mich aufgrund ihrer ‚Aussagen‘ zugänglich ist. Hier gibt es sozusagen einen ‚gnoseologischen Demokratismus‘ (obwohl es noch keinen ‚Sozial-Demokratismus‘ gibt).“44 Bogdanovs epistemologischer „Sozial-Demokratismus“ ist darin zu sehen, dass er Machs These über den psycho-physischen Parallelismus der Elemente gründlich revidiert. Laut ihm geht Mach von der Identität der Elemente der psychischen und

 Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, op. cit. S. 268. 41  Ocherki realisticheskogo mirovozzrenija. Sankt Peterburg: Dorovatovskij, Charushnikov 1904, S. VI. 42  N. Verner (Bogdanov), „Nauka i filosofija“, in: Ocherki filosofii kollektivizma. Sankt Peterburg: Znanie 1909, S. 28. 43  Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, op. cit. S. 19–20. 44  Bogdanov, Empiriomonizm, op.cit, S. 226. 40

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physischen Erfahrung aus,45 während das Verhältnis von Psychischen und ­Physischen „auf keinen Fall als einfache Gleichheit oder Identität oder Parallelismus“ gedacht werden soll.46 „Nein, der physische Komplex ‚Körper‘, zum Beispiel der ‚menschliche Organismus‘, ist inhaltlich viel reicher als die einfache ‚Wahrnehmung‘ oder die ‚Vorstellung‘ des menschlichen Organismus. Der ‚physische Komplex‘ summiert den Inhalt zahlloser Einzelwahrnehmungen und vereint diesen schwankenden Inhalt in das viel mehr beständige Ganze.“47 Die physische Erfahrung, worunter Bogdanov objektive, d. h. intersubjektiv gültige Vorstellungen versteht, hat also die Priorität gegenüber der psychischen, d. h. der individuellen Erfahrung. Dies ist dadurch zu erklären, dass die individuelle Erfahrung einerseits beschränkt und andererseits von der sozialen Erfahrung bis zu einem gewissen Grad abhängig ist. Bogdanov folgt also in seiner Erkenntnistheorie konsequent dem marxistischen Prinzip der „Sozialität der Erkenntnis“.48 Das Ergebnis besteht darin, dass sein erkennendes Subjekt nicht mehr ein individuelles Bewusstsein, sondern eine konkrete Menschengemeinschaft ist, die unter kontingenten soziokulturellen Bedingungen ihr Leben führt. Diese neue Bestimmung des erkennenden Subjekts fordert, dass die realitätsbezogenen Erkenntnisaussagen zugleich intersubjektive Anerkennung gewinnen müssen bzw. sie sind durch diese vermittelt. Eben diesen methodologischen Standpunkt bezeichnet Bogdanov als „gnoseologischer Sozialismus“ und „Sozial-Demokratismus“. Bogdanov hat selbst behauptet, dass er bei Mach nur die Vorstellung von der psycho-physischen Neutralität der Erfahrungselemente entlehnt habe. „In allem Weiteren – in der Lehre über die Genesis der psychischen und physischen Erfahrung, in der Lehre über die Substitution, in der Lehre über die ‚Interferenz‘ der Komplexe-Prozesse, in dem allgemeinen Weltbild, das auf all diesen Voraussetzungen gründet, – habe ich mit Mach nichts Gemeinsames.“49 Der historische Kontext für diese Aussage war der Kampf, den Lenin gegen die sogenannten anti-­ materialistischen Strömungen innerhalb des Marxismus führte, weil er philosophische Differenzen als politische betrachtete. Er benutzte das Wort ‚Empiriokritizismus‘ als Schimpfwort und verurteilte Bogdanovs Empiriomonismus als „Machismus“, den er mit „kleinbürgerlichem Revisionismus“ und „reaktionärem Idealismus“ identifizierte.50 Wie Plechanov, bestritt auch Lenin, dass eine ‚subjektiv-­idealistische‘ Erkenntnistheorie mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und e­inem historisch-materialistischen Marxistischen Denken vereinbar ist. Er hat allerdings s­ owohl  Ibid., S. 225.  Ibid., S. 227. 47  Ibid., S. 227. 48  Ibid., S. 241. 49  Ibid., S. 239. 50  Vladimir Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Übersetzt von Frida Rubiner. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1947. Vgl. Thomas Möbius, Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin, Historische Konstellationen und Bezüge. Mit einem Vorwort von Richard Saage. Berlin, Münster: LIT-Verlag 2015, S. 250. 45 46

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Mach als auch Bogdanov missverstanden. Machs Lehre, so Lenin, sei ein Versuch, die Wirklichkeit vom Subjekt zu lösen. Dies betrachtete er als eine Revision des dialektischen Materialismus, der eine reaktionäre politische Haltung entsprach. Schon Mach empfand die Leninsche Kritik in „Materialismus und Empiriokritizismus“ als grundlos und reagierte darauf in einem Brief an Friedrich Adler wie folgt: „… Übrigens bin ich mir eines Gegensatzes gegen Marx und schon gar gegen die Sozialdemokratie überhaupt nicht bewusst. Jedenfalls sind Tüfteleien nicht am Platze, wo es um politisches Handeln geht.“51 Bogdanov antwortete auf Lenins Kritik in „Materialismus und Empiriokritizismus“ mit dem Buch „Padenie velikogo fetishizma. Vera i nauka“ („Der Sturz des großen Fetischismus. Glaube und Wissenschaft“), dessen Quintessenz, meines Erachtens, in folgenden Worten besteht: „Das Buch, das wir analysieren, lehrt in seinem ganzen Ton und Aufbau an die professionelle Gelehrsamkeit der Spezialisten zu glauben, so wie es lehrt, an Marx zu glauben. Der erste Glaube ist schädlich und lächerlich, der zweite schädlich und schändlich.“52 Mit diesem Buch setzte er seine, seit etlichen Jahren währende Kritik an dem „absoluten Marxismus“53 Plechnov-Leninscher Prägung fort. Seine Distanzierung von Mach war also nicht politisch motiviert, wie manche Forscher glauben. Nun bestätigt auch die vergleichende Analyse beider Konzeptionen, dass der Empiriomonismus eine Kritik und zugleich systematische Weiterentwicklung von Machs Empiriokritizismus darstellt. Während Machs Theorie hauptsächlich die Philosophie der Naturwissenschaften und der Psychologie blieb,54 weitete Bogdanov den Begriff ‚kognitiver Erfahrung‘ zunächst auf die Formen gesellschaftlicher Erkenntnis aus und ging später von der Philosophie zur Wissenschaftstheorie in Form der allgemeinen Organisationslehre, die er „Tektologie“ nannte, über. Er suchte nun nach den universalen Gesetzen der Organisation, die sowohl Natur als auch soziales Leben erklären und zugleich als Handlungsanweisungen für die soziale Praxis dienen können. Die Bausteine seiner Tektologie sind die organisierten Komplexe von Elementen, die funktional von ihrer Umgebung abhängen. Die Idee der semantischen Funktionalität der Elemente hat Bogdanov unter anderen Mach, nämlich seiner Idee der ‚Theoriebeladenheit‘ der Wahrnehmung, zu verdanken. Auch die Idee einer universalen homogenen Systematisierung der Erfahrung nach den universalen Prinzipien der Organisation hat er vor allem bei Mach, in der Idee der Neutralität der Beschreibung, entlehnt. Verallgemeindernd kann man sagen, dass er den größten Verdienst des Empiriokritizismus vor allem in der N ­ euauffassung des Erkenntnisbegriffs in dessen ‚Kritik der Erfahrung‘ sah. Deshalb betrachtete er den Empiriokritizismus Machs als „den geeigneten Ausgangspunkt für die Entwicklung  Brief von E. Mach an F. Adler vom 26. Juli 1909, in: D. Hoffmann und H. Laitko (Hrsg.), Ernst Mach. Studien und Dokumente zu Leben und Werk. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1991, S. 288. 52  Aleksandr Bogdanov, Padenie velikogo fetishizma. Vera i nauka. Sankt Peterburg: Dorovatovskij, Charushnikov 1910, S. 218. 53  Ibid., S. 223. 54  Vgl. Bogdanov („Ernst Mach und die Revolution“, op.cit, S. 697): „Die Philosophie Machs ist die Philosophie der gegenwärtigen Naturwissenschaften.“ 51

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der marxistischen Philosophie, ähnlich wie beispielsweise Demokratismus ein geeigneter Ausgangspunkt für die Entwicklung sozialistischer Ideen ist“.55 Abschließend möchte ich anmerken, dass Bogdanovs Hinwendung zu Machs Theorie eine doppelte Rolle in der Geschichte der russischen Philosophie spielte: Einerseits war Bogdanov einer der wenigen Philosophen in Russland, der das Entwicklungspotenzial des Empiriokritizismus in seiner eigenen Theorie produktiv weiter entfaltet und – nicht zuletzt dadurch – zur Geschichte des russischen Positivismus beigetragen hat. Andererseits war er einer der wenigen Intellektuellen in Russland, der eine positive Einschätzung Machs Lehre gegeben, ihn gegen die Vorwürfe des Solipsismus, des Idealismus und der kleinbürgerlichen Abstammung seitens Plechanov, Lenin56 und anderer so genannter ‚orthodoxer Marxisten‘ verteidigt hat und somit die positive Rezeption seiner Ideen ermöglichte. Er war der Ansicht, dass Machs Philosophie nicht nur im Allgemeinen nötig und nützlich, „sondern gerade auch direkt sub specie revolutionis“57 ist.

 Bogdanov, Empiriomonizm, op.cit, S. 239.  Zum Beispiel schreibt Plechanov: „In der Tat ist der Machismus nichts weiter als Berkeleyanismus, kaum geändert und neu eingepinselt mit der Farbe der ‚Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts‘“ (Georgi Plechanow, „Materialismus militans. Antwort an Herrn Bogdanov“, in: Ders., Eine Kritik unserer Kritiker. Schriften aus den Jahren 1898–1911. Berlin: Dietz 1982. 249–351. Hier 309). Ähnlich äußert sich Lenin: „Mach stellt sich keine so unbequemen Fragen. Er verbindet mechanisch Bruchstücke des Berkeleyanismus mit den Auffassungen der Naturwissenschaft, die spontan auf dem Standpunkt der materialistischen Erkenntnistheorie steht.“ (Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, op.cit., S. 36). 57  Bogdanov, „Ernst Mach und die Revolution“, op.cit, S. 696. 55 56

Kapitel 6

Ernst Machs Bedeutung für die Herausbildung einer naturwissenschaftlichen Psychologie – Zur Geschichte eines Missverständnisses Gerhard Benetka und Thomas Slunecko

Zusammenfassung  Die Bedeutung von Ernst Machs Beiträgen zur Analyse der Empfindungen für die Frühgeschichte der naturwissenschaftlichen Psychologie ist kaum zu überschätzen: Schließlich ist es die Rezeption des Empiriokritizismus gewesen, die dem Wundtschen Methodendualismus, demzufolge die Psychologie der einfachen psychischen Funktionen als Teil der Naturwissenschaften, die Psychologie der höheren psychischen Leistungen aber als Teil der Geisteswissenschaften zu behandeln sei, ein Ende bereiten sollte. Allerdings lässt sich zeigen, dass diese Mach-Rezeption von allem Anfang mit einem Missverständnis belastet war: Machs Rekonstruktion des cartesianischen Dualismus als ein – wenn auch aus dem Prinzip der Denkökonomie begreiflicher – Irrtum wurde nicht einfach nur verkannt, sondern geradezu in Umkehrung seiner Position zur Legitimation einer dualistischen, letztlich durch und durch in Substanzbegriffen fundierten positivistischen Psychologie herangezogen. Schlüsselwörter  Psychophysischer Parallelismus · Empiriokritizismus · KörperGeist-Problem · Dualismus · Anti-Dualismus · Positivistische Psychologie · Fechner, Gustav Theodor · Wundt, Wilhelm · Müller, Georg Elias · Külpe, Oswald

G. Benetka (*) Sigmund Freud Privatuniversität, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] T. Slunecko Institut für Psychologische Grundlagenforschung, Fakultät für Psychologie, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_6

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6.1  D  ie Welt, von der wir doch ein Stück sind, kam uns ganz abhanden Vorneweg: Was uns als Psychologen, als wissenschaftlich sozialisierte Psychologen in der Psychologie umtreibt, ist der Umstand, dass man sich in den Kategorien dieser wissenschaftlichen Psychologie wie in einer falschen Welt fühlt. Sich in einer falschen Welt zu fühlen, sich Welt-fremd zu fühlen, setzt gnoseogene – für Weltflucht und radikale Lösungen empfängliche – Impulse frei (Sommer 1987, S. 54), bei uns zumindest. Das ist ein Motiv, eines unserer Motive, uns als psychologiekritische Psychologen gerade mit dem Gnostiker und Monisten Ernst Mach zu befassen: Denn die Psychologie leidet bis auf den heutigen Tag daran, dass sie dem cartesianischen Fluch, dem dualistischen Denken, nicht und nicht zu entgehen vermag. Um die Misere begreifbar zu machen, wollen wir eine recht merkwürdige Geschichte entfalten: eine Geschichte, in der eine nicht-dualistische Alternative – eben jene Machs – nicht zur Aufhebung, sondern geradezu zur Verfestigung des Dualismus herangezogen wird.

6.2  Fechners psychophysischer Parallelismus Wir lassen unsere Geschichte mit Fechner beginnen: Seine Version eines psychophysischen Parallelismus hat zunächst vieles offen, d. h. auch vieles möglich gelassen. Zur Erinnerung: Fechner, das ist jener von der heutigen Psychologie einseitig vereinnahmte Naturromantiker, der aus der Frage, ob Pflanzen eine Seele haben, einen streng naturwissenschaftlichen Zugang zur mathematischen Behandlung des Psychischen entwickelt hat Fechner war Panpsychist, d. h. er glaubte, dass alles, was körperlich existiert – außer den Menschen auch Tiere, Pflanzen, aber damit nicht genug: auch dieses Pult da und dieser Sessel –, auch ‚seelisch‘ existiert. Psychisches und Physisches sind bloß zwei Weisen, in denen ein und dasselbe Grundwesen erscheint. Alles, was existiert, hat also eine Innen- und eine Außenseite. Die ‚Innenseite‘ ist das, was nur sich selbst erscheint, also nur aus der Innen-Perspektive bzw. der Perspektive der ersten Person zugänglich ist; die ‚Außenseite‘ das, was anderen erscheint, also von anderen, von außen, aus der Perspektive der dritten Person aufgefasst werden kann. Auf das Körper-Geist-Problem hin formuliert: Ein und dasselbe Wesen erscheint sich selbst als ‚Geist‘ und anderen zugleich als ‚Körper‘. Weil es aber doch dasselbe ‚Grundwesen‘ ist und bleibt, das auf diese zwei Weisen erscheint, ist davon auszugehen, dass beide Erscheinungsweisen miteinander zusammenhängen, d. h. sich im Zusammenhang miteinander ändern. Jeder Änderung in dem einen Bereich geht eine Änderung in dem anderen einher (Fechner 1851, Bd. 1, S. 412–413). Womit das ursprüngliche Programm der von Fechner begründeten Psychophysik auch schon formuliert ist: nämlich „die funktionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele, allgemeiner zwischen körperlicher und geistiger, physischer und psychischer Welt“ (Fechner 1860, Bd. 1, S. 8) zu bestimmen. Für die Fortentwicklung von Fechners psychophysischem Parallelismus entscheidend ist, dass diese Überlegungen ihn eigentlich auf eine Maßbestimmung für das

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Psychische hinführen sollen. Wenn Körper und Geist sich in einer funktionalen Beziehung zueinander ändern, so sollte der Angriff einer Messung an der Intensität der körperlichen Vorgänge eine Maßbestimmung der korrespondierenden Intensitäten der psychischen Vorgänge ermöglichen – und zwar dann, wenn man diesen Zusammenhang als Funktionsgleichung allgemein, d. h. mathematisch formulieren kann. Diese Urformel ist Fechner, früh morgens im Bette liegend, am 22. Oktober 1850 eingefallen, als er sich – wachträumend – mit der Möglichkeit der Abbildung geometrischer Reihen auf arithmetische Reihen befasste (Fechner 1851, Bd. 2, S. 375). Von dieser phantastischen Idee, dass sich also Änderungen in der Intensität der psychischen Vorgänge als Logarithmus der Intensität der begleitenden Änderungen der physischen Vorgänge darstellen würden, führt zunächst kein Weg zu einer empirischen Forschung. Und zwar deshalb nicht, weil die den mentalen Akten korrespondierenden physischen oder physiologischen Prozesse nicht eindeutig zu identifizieren und daher auch nicht zu messen sind. Die Lösung, die Fechner sich auf seiner Suche nach einer Maßbestimmung für das Psychische schließlich erfunden hat, lässt sich in einem einzigen Satz prägnant präsentieren: „Wir werden […] den Reiz, das Anregungsmittel der Empfindung, als Elle an die Empfindung anlegen“ (Fechner 1858, S. 4). Inhaltlich bedeutet das, dass stillschweigend die logarithmische Beziehung jetzt auf den Zusammenhang zwischen Reizintensität und Empfindungsintensität Anwendung findet  – eben unter Auslassung der körperlich-­ physiologischen Ebene. Mit dieser Verschiebung des Gegenstandsbereichs geht einher, dass aus der ursprünglich behaupteten funktionalen Beziehung unter der Hand eine kausale wird – und Fechner aus forschungspragmatischen Gründen eben wieder genau an dem Punkt anlangt, den er mit seinem naturphilosophischen Ansatz eigentlich überwinden hat wollen: beim cartesianischen Dualismus, der nun als für die ganze Entwicklung der modernen Psychologie so folgenreiche Gegenüberstellung von Reiz und Empfindung sich fest- und fortschreibt.1

6.3  Wundts Alternative Wir werden im Folgenden den Einfluss, den Machs Analyse der Empfindungen auf den Entwicklungsgang der Psychologie ausüben sollte, in ihrem fachgeschichtlichen Kontext skizzieren. Dazu ist es notwendig, bei Wilhelm Wundt anzusetzen. Ein Gutteil der Geschichte der Psychologie nach Wundt lässt sich nämlich als die Geschichte der Entwicklung einer Denkbewegung schreiben, die direkt gegen die Wundtsche wissenschaftslogische Grundlegung der Psychologie gerichtet war: als Durchsetzung einer szientistischen Psychologie gegen den Psychologismus Wundts.

1  Weil das in der Psychologie-üblichen Lesart der Fechnerschen Psychophysik zumeist nicht klar genug dargestellt wird, sei hier auf die Zirkularität des ganzen Ansatzes verwiesen: Die Gültigkeit des „psychophysischen Grundgesetzes“ ist bereits vorausgesetzt, wenn wir indirekt über die Reizstärke die Empfindungsstärke „messen“. Aber ohne den aus dem physischen Maß hergeleiteten Maßstab und ohne Anleitung, wie man ihn an das zu Messende anlegen soll, ist dieses Grundgesetz selbst empirisch nicht aufzufinden (Sommer 1987, S. 56).

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Wie bei Fechner ist auch bei Wundt die Frage nach der Unterscheidung von Physischem und Psychischem eine Frage der Perspektive. Wundt hat die die ältere philosophische Psychologie – z. B. bei Kant – bestimmende Differenzierung, nach der jene Inhalte, die uns durch die „innere Wahrnehmung“ gegeben sind, das ­Psychische, die Objekte der „äußeren Wahrnehmung“ das Physische ausmachen, von Anfang an entschieden zurückgewiesen. Es gibt keine „innere“ und „äußere Erfahrung“ als zwei gesonderte Erfahrungsbereiche, sondern nur die eine ungeteilte Erfahrung. Es existieren zwar Erfahrungsinhalte, die der psychologischen Untersuchung zufallen, während sie in den Erfahrungsinhalten, mit denen sich die Naturforschung beschäftigt, nicht vorkommen: z. B. Gefühle, Absichten, Willensvorgänge. Dagegen gibt es „keine einzige Naturerscheinung, die nicht auch unter einem veränderten Gesichtspunkt Gegenstand psychologischer Untersuchung sein könnte. Ein Stein, eine Pflanze, ein Ton, ein Lichtstrahl sind als Naturerscheinungen Objecte der Mineralogie, Botanik, Physik usw. Aber insofern diese Naturerscheinungen Vorstellungen in uns erwecken, sind sie zugleich Objecte der Psychologie, die über die Entstehungsweise dieser Vorstellungen und über ihr Verhältniss zu anderen Vorstellungen sowie zu den nicht auf äußere Gegenstände bezogenen Vorgängen, den Gefühlen, Willensregungen u.s.w., Rechenschaft zu geben versucht“ (Wundt 1896a, S. 2). Die Unterscheidung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Erfahrung bezeichnet aus dieser Sicht also bloß zwei verschiedene Perspektiven, unter denen wir bei einer wissenschaftlichen Bearbeitung die an sich einheitliche Erfahrung auffassen. Eine Differenzierung, die durch den Umstand nahe gelegt wird, dass jede Erfahrung sich unmittelbar in zwei Faktoren sondert: in einen Inhalt und in die Auffassung dieses Inhalts. Ersteres bezeichnete Wundt als das „Object der Erfahrung“, Letzteres als das „erfahrende Subject“. Auf der Grundlage dieser begrifflichen Unterscheidung kann nun das Verhältnis von Naturwissenschaft und Psychologie bestimmt werden: „Die Naturwissenschaft sucht die Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen der Objecte zu bestimmen. Sie abstrahirt daher durchgängig, so weit dies vermöge der allgemeinen Erkenntnisbedingungen möglich ist, von dem Subject.“ Die Psychologie hingegen „hebt diese von der Naturwissenschaft ausgeführte Abstraction wieder auf, um die Erfahrung in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zu untersuchen. Sie gibt daher über die Wechselbeziehungen der subjectiven und objectiven Faktoren der unmittelbaren Erfahrung und über die Entstehung der einzelnen Inhalte der letzteren und ihres Zusammenhangs Rechenschaft“ (Wundt 1896b, S. 11–12). Die Erfahrungsweise der Naturwissenschaften ist mithin – weil durch Abstraktion von der unmittelbaren Erfahrung bestimmt – eine „mittelbare“ und weil die Abstraktion vom Subjekt die Einführung hypothetischer Hilfsbegriffe notwendig macht – eine „abstract begriffliche“.2 Die Erkenntnisform der Psychologie dagegen ist „unmittelbar“ und „anschaulich“ (ebd., S. 12). Für das Verständnis der Wundtschen Auffassung des psychophysischen Parallelismus Fechners bedeutsam ist, dass er „Substantialität“ der körperlichen Welt eben als  Sie ist gleichzeitig eine Engführung, insofern qua Abstraktion die unmittelbare Erfahrung bis auf Merkmale aus wenigen Sorten – Merkmale die durch intermomentane und intersubjektive Messbarkeit sowie selektive Variierbarkeit für Experiment und statistische Verarbeitung optimal geeignet sind – ‚abgeschliffen‘ wird (vgl. Schmitz 2012, S. 21). 2

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hypothetisches Konstrukt auffasste, das der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise inhärent ist. Die Inhalte der unmittelbaren Erfahrung sind keine Substanzen, sondern Ereignisse. Erst in der Abstraktion vom Subjekt erscheint uns die Erfahrungswelt als eine „Mannigfaltigkeit in Wechselwirkung stehender Substanzen“ (Wundt 1896a, S. 368–369). Mithin sind auch physiologische Begriffe solche Konstrukte, die aus der unmittelbaren Erfahrung durch Abstraktion gewonnen sind. Reden wir über körperliche Vorgänge, so reden wir über Objekte der mittelbaren Erfahrung; reden wir über Psychisches, dann reden wir über ‚Inhalte‘ der unmittelbaren Erfahrung. Beide Erfahrungsweisen sind – da es sich um miteinander nicht vereinbare Standpunkte der Auffassung handelt – nicht aufeinander reduzierbar. „Hat die Psychologie die unmittelbare Erfahrung zu ihrem Gegenstande, so kann sie ihre eigentlichen Erklärungsprinzipien nur in dieser Erfahrung selbst finden. Sie hat daher zunächst und vor allen Dingen Psychisches aus Psychischem, nicht Psychisches aus Physischem zu interpretiren“ (Wundt 1896b, S. 24). Die der psychologischen Betrachtung eigentümlichen Erklärungsprinzipien hat Wundt in seinem Konzept der „psychischen Kausalität“ zusammengefasst. Weil Affekte und darin wurzelnde Willensvorgänge eine Art „Kraft“ darstellen, für die es in der naturwissenschaftlichen Betrachtung kein Pendant gibt, erfordert die Erklärung psychischer Vorgänge eine grundsätzlich andere als die in der Naturwissenschaft notwendige Kausalbetrachtung: eine regressive, im eigentlichen Sinn historisch-genetische Kausalbetrachtung, die das Resultat eines Vorgangs im Nachhinein aus der Entwicklung des Vorgangs selbst rekonstruiert: Von gegebenen Wirkungen sind also die verursachenden Bedingungen aufzusuchen. Die progressive Kausalbetrachtung der Naturwissenschaften – von gegebenen Ursachen auf künftige Wirkungen zu schließen – spielt in der Psychologie eine nur untergeordnete Rolle. Man sieht an diesem kurzen Aufriss der Wundtschen Wissenschaftslogik sofort, worum es ihm zuvorderst zu tun ist – und das ohne Umweg über die in vielen Teilen so unsägliche Völkerpsychologie: um die Grundlegung einer selbständigen, d.  h. gegenüber den Naturwissenschaften eigenständigen Psychologie. Eben darin wird sich die Psychologen-Generation nach Wundt – und das ist eben jene Generation, die die Verselbständigung des Faches von der Philosophie, den Prozess der Institutionalisierung der Psychologie im deutschen Sprachraum vorantreibt – stoßen: an der Eigenständigkeit der Psychologie gegenüber den Naturwissenschaften.

6.4  Külpes Revision Die Neuorientierung der Psychologie als Naturwissenschaft hat ausgerechnet von Wundts Leipziger Laboratorium ihren Ausgang genommen. Und das, wie wir sehen werden, mit explizitem Bezug auf Mach, allerdings ohne tieferes Verständnis oder Interesse für dessen antimetaphysische und das heißt für seine in ihrem Wesen antidualistische Erkenntnistheorie. Was dabei als Machsche Position ausgegeben wird, ist letztlich die Fechnersche, und zwar die späte: die Position der „äußeren Psychophysik“. Den Weg dazu hat Oswald Külpe gewiesen. Külpe hatte als Assistent Wundts in Leipzig dessen Psychologie-Vorlesungen übernommen und dafür unter dem Titel

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Grundriss der Psychologie (Külpe 1893) ein eigenes Lehrbuch geschrieben. Wundt hatte damit wenig Freude, so wenig Freude, dass er selbst – und zwar bezeichnender Weise unter demselben Titel  – gleich ein neues Lehrbuch schrieb (Wundt 1896a). Külpes Abkehr von der Wundtschen Position offenbart sich gleich auf den ersten Seiten seines Buches, auf denen er über „Begriff und Aufgabe der Psychologie“ handelt. Wie Wundt weist Külpe eine Definition der Psychologie über bestimmte, ihr eigentümliche Gegenstände zurück. Die Tatsachen, mit denen sich alle Wissenschaften zu beschäftigen haben, sind „Erfahrungen“, die Külpe – da Erfahrungen von einem Subjekt gemacht werden müssen – „Erlebnisse“ nennt. Solche Erlebnisse können losgelöst vom Individuum, das sie hat, damit also in Hinblick auf ihre objektive Beschaffenheit, betrachtet, d. h. untersucht werden; oder es wird gerade ihre Beziehung zum Individuum in den Blick genommen. Ersteres ist Aufgabe der Naturwissenschaft, Letzteres eben Aufgabe der Psychologie. Wie aber soll dieses Individuum aufgefasst werden? Külpe bestimmt es – und darin liegt alle Differenz zu Wundt begründet  – nicht als das „psychische“, sondern als das „körperliche Individuum“, also nicht als eine psychische, sondern als eine physische Entität. Seine Definition der Psychologie lautet daher: Psychologie ist die Wissenschaft von den Erlebnissen in ihrer Abhängigkeit vom körperlichen Individuum (Külpe 1893, S. 3). Das „körperliche Individuum“ – Ebbinghaus wird es später durch den Begriff des Organismus ersetzen (Ebbinghaus 1902) – ist als Bezugspunkt der psychologischen Untersuchung im Sinne Wundts ein naturwissenschaftlicher Begriff. Aus dieser Setzung folgt, wie Wundt (1896b, S. 12) daher völlig richtig bemerkt, dass die Psychologie zwangsläufig von einer der Naturwissenschaft „coordinierten“ zu einer ihr „subordinierten“ Wissenschaft werden muss. Gerade darauf ist Külpes Ansatz aber ausgerichtet. Psychisches – so behauptet Külpe gleich zu Anfang seines Lehrbuchs – kann aus Psychischem gar nicht erklärt werden: Weder hängt eine Vorstellung von einer Emotion, noch umgekehrt, eine Emotion von einer Vorstellung ab. Eine Änderung der einen ist nicht notwendig von einer bestimmten Änderung der anderen begleitet. Überhaupt: Das Kommen und Gehen von Vorstellungen, ihre Verbindungen untereinander – all das ist nicht ihrem wechselseitigen Einfluss aufeinander geschuldet, sondern folgt einem – wie Külpe sagt – „Gesetz“, das ihnen „von außen“ auferlegt ist (Külpe 1893, S. 3). „Von außen“ bezieht sich auf körperliche Prozesse, also auf das körperliche Individuum. Das Psychische bildet in sich also keinen geschlossenen kausalen Zusammenhang. Da aber nach dem Prinzip des psychophysischen Parallelismus jedem psychischen Vorgang ein physischer entspricht und das Physische eben eine in sich geschlossene Kausalreihe darstellt, so folgt daraus, wie Wundt kritisch anmerkt, dass eine „Causalerklärung des psychischen Geschehens nur eine physische sein kann“ (Wundt 1896b, S. 16). Damit ist das Wundtsche Prinzip einer besonderen, von der Kausalbetrachtung im Bereich der Naturwissenschaften verschiedenen „psychischen Kausalität“ zurückgewiesen. Und gleichzeitig ist etwas Zweites, nicht minder Wichtiges erreicht: Durch den Bezug auf das körperliche Individuum sichert sich die Psychologie den Vorteil, „lediglich beobachtete oder wenigstens beobachtbare [nämlich physiologische]

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Vorgänge bei der Darstellung und Erklärung seelischer Erscheinungen zu verwenden“ (Külpe 1895, S. 67). Um dem Materialismus-Einwand zu entgehen, muss das der gegenüber Wundt neuen Psychologie nun zugrunde liegende P ­ arallelitäts-­Prinzip nur noch durch die Betonung seines nicht-kausalen Charakters zumindest rhetorisch abgesichert werden: „Von körperlichen Bedingungen des Psychischen wird vielmehr nur in der Weise geredet, wie man in einer mathematischen Function eine Grösse von einer anderen abhängig denkt, sofern gesetzmässige Beziehungen der Veränderung zwischen ihnen stattfinden“ (ebd.).

6.5  Machs Anti-Dualismus Die Quelle seiner Ideen zu einer Reformulierung der Grundlagen der Psychologie hat Külpe in seiner zwei Jahre nach dem Grundriss erschienenen Einleitung in die Philosophie benannt. Dort heißt es, dass „mit voller begrifflicher Klarheit“ die von ihm vorgestellte Auffassung über den Gegenstand der Psychologie zuerst Ernst Mach und Richard Avenarius ausgeführt haben (ebd., S. 63). Külpe selbst war mit den wesentlichen Schriften beider vertraut; er bezog sich aber lieber auf Avenarius, der als Ordinarius für Philosophie in philosophischen Zusammenhängen eher zitierfähig war als der philosophische Autodidakt Ernst Mach, der sich selbst auch nie als Philosoph im eigentlichen Sinn betrachtet hat. Wir brauchen hier nicht darauf einzugehen, dass Mach selbst seinen und den unabhängig von ihm entwickelten Standpunkt von Avenarius in Bezug auf die gemeinsamen Grundlagen, d.  h. in Bezug eben auf die Auffassung des Verhältnisses des Physischen zum Psychischen, als weitgehend übereinstimmend bezeichnet hat (Mach 1886, S. 41). Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die auf Wundt und Külpe folgende Psychologen-Generation kein Problem damit hatte, Mach als einen der Ihrigen zu reklamieren. Aber hat diese Bezugnahme überhaupt etwas mit der Machschen Position zu tun? Versuchen wir uns klar zu machen, worum es Mach mit seinem „neutralen Monismus“ eigentlich zu tun ist. Mach erkennt, dass der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir in einer „Cartesianischen Welt“ (Sommer 1987, S. 154) leben, hoch ist: die Spaltung in ein Innen und ein von diesem Innen aus unerreichbares Außen. Man kann dafür alle die für den Anbruch der Moderne so kritischen Termini einsetzen: Entzauberung der Welt, Entfremdung, etc. Was Mach will, ist, die Ursache für diese Verdoppelung der Welt, diese im cartesianischen Dualismus aufgerissene Kluft zwischen der res cogitans und res extensa, philosophisch zu ergründen – und damit zu überwinden. Dazu muss er letztlich mit vielen der „stillschweigenden Voraussetzungen“ (Benetka 2002) der zeitgenössischen Psychologie brechen. Wesentlich für uns: mit dem Dualismus von Reiz und Empfindung. Bei Fechner ist es offenbar: Dem Reiz folgt die Empfindung. Bei Wundt ist es letztlich ebenso: Das Modell der Ableitung ist bei ihm allerdings komplexer: (äußerer/innerer) Reiz – Empfindung/ Gefühl – Vorstellung (= Objektivierung) – Bewusstsein. Bei Mach allerdings sind Empfindungen nicht das Resultat, nicht die Folge eines Zusammenstoßens mit der Welt, sondern die Grundbausteine, die Elemente, aus

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denen die Welt überhaupt erst entsteht. Am Anfang ist nichts als ein Fließen; alle Worte, Bezeichnungen, Qualifizierungen, mit denen wir dieses Fließen erfassen wollen, kommen aus dem Nachhinein, aus einem Zustand, in dem es dieses ­ungestörte Fließen eben nicht mehr gibt. Am Anfang der Welt war nicht das Wort: am Anfang war die Störung. Die Störung des Flusses erzeugt eine Form, die beharren, die sich erhalten will: „Die organischen Wesen sind nämlich keine starren materiellen Systeme, sondern im wesentlichen dynamische Gleichgewichtsformen von Strömen von ‚Materie‘ und ‚Energie‘. Die Abweichungsformen dieser Ströme von dem dynamischen Gleichgewichtszustand sind es nun, die sich, je nachdem sie einmal eingeleitet wurden, immer in derselben Weise wiederholen. Solche Variationen dynamischer Gleichgewichtsformen hat die anorganische Physik noch wenig studiert. Die Änderung von Flußläufen durch zufällige Umstände, welche Läufe dann beibehalten werden, sind ein ganz rohes Beispiel. Schraubt man einen Wasserhahn so weit zu, daß ein ganz dünner ruhiger Strahl zum Vorschein kommt, so genügt ein zufälliger Anstoß, um dessen labiles Gleichgewicht zu stören und dauerndes rhythmisches tropfenweises Ausfließen zu veranlassen. Man kann eine lange Kette aus einem Gefäß, in welchem sie zusammengerollt liegt, über eine Rolle, nach Art eines Hebers, in ein tieferes Gefäß überfließen lassen. Ist die Kette sehr lang, der Niveauunterschied sehr groß, so kann die Geschwindigkeit sehr bedeutend werden, und dann hat die Kette bekanntlich die Eigenschaft, jede Ausbiegung, die man ihr erteilt, frei in der Luft lange beizubehalten und durch diese Form hindurchzufließen. Alle diese Beispiele sind sehr dürftige Analogien der organischen Plastizität für Wiederholung von Vorgängen und von Reihen von Vorgängen“ (Mach 1886, S. 194 f.).

Erst die Störung erzeugt ein Innen und ein Außen: Das Innen ist das, was beharren will, das Außen das, was das Innen beharren lässt. Dieses Streben zur Selbsterhaltung (Spinozas conatus) ist der Motor für Machs Ökonomieprinzip. Bewusstsein entsteht, weil es für einen Organismus, der beharren will, ökonomisch, d. h. funktional ist. Und ebenso das Denken. Es ist letztlich die Denkökonomie – die Verwendung von Namen und Begriffen –, die das aus dem ursprünglichen Fließgleichgewicht Geratene als Cartesianische Welt zu stabilisieren vermag. Der Dualismus – das ist für Mach ein Irrtum, ein aus dem Prinzip der Selbsterhaltung notwendiger Irrtum. Was Mach uns Cartesianern also zeigen kann, ist, „wie wir wurden, was wir sind“: wie wir „von der frühen Wahrheit zum späten Irrtum gekommen“ sind, „von den fließenden Empfindungen zu den stabilen Substanzen, vom heilen Monismus zum pathologischen Dualismus“ (Sommer 1987, S. 173).

6.6  Külpes ‚halbierte‘ Rezeption Vor diesem Hintergrund müssen wir lesen, was Külpe aus Mach gemacht hat. Wenden wir uns zunächst den kritischen Passagen aus der Analyse der Empfindungen zu. Mach setzt hier den Irrtum schon als gegeben voraus: In der Sprache des neutralen Monismus ist die fortgesetzte Aufspaltung in Ich und Welt, der Zerfall des Einen in Körper, Leib und psychische Zustände nüchtern konstatiert: Die ganze „innere und äußere Welt“ ist aus „einer geringen Zahl von gleichartigen Elementen in bald flüchtigerer, bald festerer Verbindung“ zusammengesetzt (Mach 1886,

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S. 17); diese Verbindungen können als physische Komplexe – als Körper oder als unser „Leib“ – und eben auch als psychische Komplexe aufgefasst werden. Ob ein Element als psychisch oder als physisch zu betrachten ist, hängt davon ab, in welcher Beziehung es zu anderen Elementen aufgefasst wird: „Eine Farbe ist ein physikalisches Objekt, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchtenden Lichtquelle […] achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut […], so ist sie ein psychologisches Objekt, eine Empfindung. Nicht der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden“ (ebd., S. 14). Wobei „Abhängigkeit“ explizit in einem funktionalen Sinn verstanden wird – für „Kausalität“ ist in der antimetaphysischen Wissenschaftsauffassung Machs kein Platz gelassen. Das für Külpes Grundlegung der Psychologie entscheidende Prinzip ist wie folgt formuliert: „Die Komplexe von Farben, Tönen usw., welche man gewöhnlich Körper nennt, bezeichnen wir der Deutlichkeit halber mit A B C …; den Komplex, der unser Leib heißt, und der ein durch Besonderheiten ausgezeichneter Teil der ersteren ist, nennen wir K L M …; den Komplex von Willen, Erinnerungsbildern usw. stellen wir durch α β γ … dar“ (ebd., S. 7). Die die Körper konstituierenden Elemente sind ebenso wie die Körper selbst in spezifischer Art und Weise miteinander verbunden; dies gilt auch für die beiden anderen Bereiche K L M und α β γ . Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass nach Mach sowohl A B C … als auch α β γ … letztlich durch K L M … bedingt sind. Für den Bereich A B C … ist dies offenkundig: „Ein Würfel wird, wenn er nahe, groß, wenn er fern, klein, mit dem rechten Auge anders als mit dem linken, gelegentlich doppelt, bei geschlossenen Augen gar nicht gesehen“ (ebd., S. 7). Für α β γ … ist die Kette der Abhängigkeit dann einfach verlängert. Es lässt sich, so Mach, nicht bezweifeln, dass das Verhalten psychischer Inhalte – trotz der Besonderheit der Verbindungen, die sie untereinander eingehen – letztlich durch A B C … und K L M …, d. h. durch die gesamte physikalische Welt, insbesondere durch unseren Körper, d. h. durch die Funktionsweise unseres Nervensystems bestimmt ist (ebd., S. 29). Tatsächlich lässt sich daraus das Programm einer zukünftigen Psychologie ableiten: Die Psychologie ist eben jene Wissenschaft, die psychische Elemente in ihrer Abhängigkeit von der physikalischen Welt, insbesondere aber von körperlich-­ leiblichen Vorgängen untersucht. Wer dieses Programm wörtlich nimmt, verkennt allerdings, dass es das Programm einer Psychologie ist, die in den Aufenthalt in einer falschen – einer dualistischen – Welt bereits eingewilligt hat. Unter dieser Voraussetzung ist diese Psychologie möglich. Was diese Psychologie aber nicht vermag, ist, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer selbst zu erfassen: Sie kann sich der Täuschung, der sie sich verdankt, nicht bewusst werden – und uns auch nicht aus dieser Täuschung heraushelfen. Darin liegt also die Pointe des Machschen Ansatzes: Die Tendenz zur organismischen Selbsterhaltung bringt zur Abwehr der Störungen von außen Bewusstsein hervor, das Bewusstsein wiederum eine duale Welt. Der Mensch muss sich in dieser Welt einrichten – und damit auch seine Wissenschaft. So versteht sich die Doppeldeutigkeit der Machschen Position: Sie beschreibt affirmativ, was als wissenschaftliche Psychologie möglich ist, und kritisch den Irrtum, auf dem dieses Mögliche beruht.

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6.7  Die Folgen Bezeichnend ist, wie sich die positivistische Psychologie mit und nach Külpe weiter entwickelt hat: Weil nicht die Machsche Philosophie, sondern nur hinsichtlich ihrer Stellung in dieser Philosophie unverstandene Bruchstücke daraus interessierten – nur seine affirmative, nicht seine kritische Perspektive –, wurde der „Irrtum“ prolongiert und weiter verfestigt. Der paradigmatische Text dafür ist zehn Jahre nach der Erstauflage von Machs Analyse der Empfindungen und drei Jahre nach Külpes Lehrbuch erschienen. Er stammt von Georg Elias Müller, dem scharfsinnigsten Methodiker unter jenen Psychologen, die nach 1900 die Psychologie als strenge Naturwissenschaft neu zu begründen versuchten: Es geht um die Axiomatisierung der psychophysischen Parallelitätsannahme, damit um die Grundlagen der Axiomatisierung der Psychologie überhaupt: Die ersten beiden der insgesamt fünf Axiome lauten: „1. Jedem Zustande des Bewusstseins liegt ein materieller Vorgang, ein sogenannter psychophysischer Prozess, zu Grunde, an dessen Stattfinden das Vorhandensein des Bewusstseinszustandes geknüpft ist. 2. Einer Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit der Beschaffenheit der Empfindungen […] entspricht eine Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit der Beschaffenheit der psychophysischen Prozesse, und umgekehrt.“ (Müller 1896, S. 1–2)

Man sieht, wie aus dem, was bei Mach noch „Komplexe“ waren, substantielle ‚Wirklichkeit‘ gezaubert wird. Müllers Text liest sich wie ein Anschauungsbeispiel für Machs Kritik des dualistischen Denkens. Heute wissen wir, worauf diese Formeln hinführen. Was bei Külpe noch explizit als „funktionaler Zusammenhang“ gefasst ist, bleibt bei Müller offen – d. h. auch als kausal interpretierbar: Hirnvorgänge erscheinen dann nicht bloß als notwendige, sondern auch als hirnreichende Voraussetzung des Psychischen. Mit dem Aufstieg der Neurowissenschaften zur Leitwissenschaft der Psychologie ist dieser Ansatz zu einem konsequenten Ende gebracht worden. Infolge der Naturalisierung des Psychischen ist das Psychische überhaupt als Gegenstand der Psychologie verloren gegangen (Werbik und Benetka 2016).

6.8  Schluss Erinnern wir uns nochmals an unseren Ausgangspunkt – an das, was uns an Mach produktiv irritiert hat, an seinen Satz: „Die Welt, von der wir doch ein Stück sind, kam uns ganz abhanden“ (Mach 1886, S. 9). Was uns fasziniert hat, ist der Gnostiker: Sein Versuch, das Leiden am Leben in einer falschen Welt zu lindern, indem er die Notwendigkeit des Irrtums wenigstens aufdeckt. Was wir in unserem Text zeigen wollten, ist, wie im Verlauf der Geschichte die Psychologie den kritischen Ansatz geradezu in sein Gegenteil verkehrt hat: Das Bemühen, das Psychische zu fixieren, indem man es in seiner Beziehung zu physischen Vorgängen untersucht, mündet in dessen Eliminierung ein. Die heutige Psychologie erscheint als eine Art

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Etikettenschwindel: Es tritt etwas unter dem Namen Psychologie auf, was de facto eine Wissenschaft von psychischen Vorgängen ersetzt hat. Cui bono? Michel Foucault hat für den „verfügenden“ Zugriff auf den menschlichen Körper den Begriff der Biopolitik geprägt: Natürliche Prozesse werden unter Kontrolle gebracht – Leben, Fortpflanzung, die ganze Sorge um sich und das eigene Wohlbefinden, von der sportlichen Aktivität bis hin zu gesunden Wohnverhältnissen, ja selbst das Sterben wird zum Gegenstand von Machttechnologien. Der Aufstieg der Neurowissenschaften bedeutet die Ausdehnung dieses instrumentellen Zugriffs, indem nun auch das Psychische qua Beforschung des Gehirns diesem Kalkül der Verfügbarkeit unterworfen wird (Werbik und Benetka 2016). Die Biopolitik hat sich zur Psychopolitik entfaltet (vgl. etwa Han 2014), und zwar paradoxerweise, indem sie sich von einer Wissenschaft zuarbeiten lässt, die das Psychische verabschiedet hat.

Literatur Benetka, Gerhard. 2002. Denkstile der Psychologie. Das 19. Jahrhundert. Wien: WUV. Ebbinghaus, Hermann, (1902). Grundzüge der Psychologie, 1. Band. Leipzig: Veit Fechner, Gustav Theodor. 1851. Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung, 2 Bände. Leipzig: Voß. Fechner, Gustav Theodor. 1858. Das psychische Maß. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N. F. 32:1–24. Fechner, Gustav Theodor. 1860. Elemente der Psychophysik, 2 Bände. Leipzig: Breitkopf & Härtel. Han, Byung-Chul. 2014. Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt: Fischer. Külpe, Oswald. 1893. Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt. Leipzig: Engelmann. Külpe, Oswald. 1895. Einleitung in die Philosophie. Leipzig: Hirzel. Mach, Ernst. 1886. Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena: Fischer. Neunte Auflage unter dem Titel: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 1922. Müller, Georg Elias. 1896. Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. Kapitel 1. Die psychophysischen Axiome und ihre Anwendung auf die Gesichtsempfindungen. Zeitschrift für Psychologie 10:1–82. Schmitz, Hermann. 2012. Entseelung der Gefühle. In Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Hrsg. Kerstin Andermann und Undine Eberlein, 21–34. Berlin: Akademie. Sommer, Manfred. 1987. Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt: Suhrkamp. Werbik, Hans, und Gerhard Benetka. 2016. Kritik der Neuropsychologie. Eine Streitschrift. Gießen: Psychosozial-Verlag. Wundt, Wilhelm. 1896a. Grundriss der Psychologie. Leipzig: Engelmann. Wundt, Wilhelm. 1896b. Ueber die Definition der Psychologie. Philosophische Studien 12:1–6.

Kapitel 7

Ernst Mach und Kinematographie Regina Jonach

Zusammenfassung  Der Beitrag macht auf ein in der Forschungsliteratur bisher nicht beachtetes biographisches Detail aufmerksam: die Präsentation von Ernst Machs Forschungsergebnissen im Zusammenhang mit der Entwicklung des frühen wissenschaftlichen Films zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Obwohl sich die Autorin nur auf den technologischen Aspekt beschränkt, bestätigt der Beitrag, wie intensiv Ernst Mach's Forschungstätigkeit mit der Entwicklung neuer Methoden der Messung, Aufzeichnung und Darstellung und der Beurteilung, der in sie gesetzten Erwartungen befasst war. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass Ernst Mach eine anerkannte und hoch geschätzte Persönlichkeit der Österreichisch-­ Ungarischen Monarchie war und etwas vom modernen Frauenfreundlichen und Pluralistischen, das in dieser Gesellschaft lebendig war. Die Frage, wie der Technologietransfer, der eine der Voraussetzungen für die Ballistische Kinematographie von Carl Cranz darstellte von Österreich-Ungarn ins Deutsche Reich konkret vollzogen wurde, wird noch nicht beantwortet. Schlüsselwörter  Ernst Mach · Kinematografie · Wissenschaftlicher Film · Therese Buckerkandl · Ballistische Kinematografie · Josef Maria Eder · Carl Cranz · Wissenschaftliche Fotografie

R. Jonach (*) Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_7

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In neueren Untersuchungen zu Ernst Mach wurden seine Bedeutung für die Entwicklung und Anwendung der Fotografie als Methode in den Wissenschaften bereits mehrfach besprochen.1 Es wurde bisher noch wenig thematisiert, dass sein Forschungsinteresse auch dem bewegten Bild galt. Mein Ausgangspunkt ist die Entscheidung des Leiters der damaligen K.k. Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt Josef Maria Eder,2 Ernst Mach im Mai 1914, im Rahmen einer als Weltausstellung konzipierten Buch- und Graphikmesse in Leipzig (BUGRA) im Österreichischen Haus als einen der international wichtigen zeitgenössischen Beiträger zur Entwicklung der wissenschaftlichen Kinematographie zu positionieren. Einschränkend möchte ich vorausschicken, dass ich hier nicht versuchen werde alle Spuren zu verfolgen, die von Machs Beiträgen zur Grundlagenphysik, Wahrnehmungspsychologie  – und physiologie und Erkenntnistheorie in die frühe ­Filmtechnik- und theorie einmünden,3 sondern dass ich mich hauptsächlich auf die kinematographische Technologie gewordenen Aspekte konzentrieren werde. DIE EXPONATE dieser Ausstellung wurden von Josef Eder, der auch zu den Kuratoren des Technischen Museums in Wien gehörte 1918 dort archiviert.4 Im Katalog der Ausstellung werden nur zwei der erhaltenen drei Tafeln als Exponate in der Gruppe „Wissenschaftliche Photographie“ mit der Unterabteilung „Kinematographie“ unter der Bezeichnung „Deutsches naturwissenschaftliches Institut der k.k. deutschen Universität in Prag (Hofrat Dr. A.  Lampa): L.  Machs Momentaufnahmen von abgeschossenen Werndl- und Mannlichergewehrprojektilen, Schallwellen, Luftstrahlen und Luftstromlinien, hergestellt nach der Schlierenmethode, zum Teile mit Hilfe des Interferenzrefraktometers. E. Machs Studien über Funkenwellen“5 erwähnt. Eine weitere im Katalog nicht genannte aber archivierte Tafel, die die viel prominenteren6 Geschoßfotografien unter dem Titel „E.  Mach, Salcher u. Riegler. Studien über Projektile“ aufreiht, wurde vielleicht nicht im Areal des Österreichischen 1  Christoph Hoffmann/Peter Berz (Hrsg.), Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien. Wissenschaftsgeschichte o.B. Göttingen: Wallstein 2001. Christoph Hoffmann, „Representing difference: Ernst Mach and Peter Salcher’s ballistic-photographic experiments“, Endeavour, 33, 1, 2009, S.  18–23. Monika Faber, „Josef Maria Eder und die wissenschaftliche Fotografie“ in: Monika Faber/Klaus Albrecht Schröder (Hrsg.), Das Auge und der Apparat. Die Fotosammlung der Albertina. Paris/Seuil: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 141–170. Erin, O’Toole, „Bewegungsstudien“ in: Corey Keller (Hrsg.), Fotografie und das Unsichtbare: 1840–1900. Wien: Brandstätter 2009. 2  Maren Gröning/Ulrike Matzer (Hrsg.), Josef Maria Eder. Photographie als Wissenschaft. Positionen um 1900. München: Wilhelm Fink 2013. 3  Siehe dazu weitere Ausführungen in meiner Masterarbeit. 4  Laut Auskunft von Frau Erika Simoni, Archiv des Technischen Museums Wien. Sign. BPA000051/755/63 5  Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik, Leipzig: Mai bis Oktober 1914; Österreichisches Haus. [Wien]: K.K. Hof- und Staatsdr. 1914, S. 167. 6  Christoph Hoffmann/Peter Bertz, „Die Abhandlung. Einführung“, in: Christoph Hoffmann/Peter Berz (Hrsg.), Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien. loc.cit, S. 144 f.

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Hauses auf der BUGRA gezeigt, sondern war eventuell, worauf eine Rezension der Ausstellung hindeutet, Teil der in der Halle der Kultur von Karl Lamprecht organisierten „Grundausstellung“,7 die bemüht war, die historische Entwicklung der einzelnen photo/graphischen Verfahren nachzuzeichnen.8 Ernst und Ludwig Machs methodische Hilfsmittel sollten in dieser Ausstellung also sowohl als historischer wie zeitaktueller Beitrag zur Kinematographie rezipiert werden.9 Sie selbst dürften an dieser Positionierung keinen Anteil gehabt haben, da sie erst sehr spät, einen Monat vor Ausstellungseröffnung, um die Zustimmung zur Präsentation der Objekte gefragt wurden, die bereits 1911 in Prag in ähnlicher Kombination auch mit den kinematographischen Untersuchungen von Otto Fuchs, jedoch in der wissenschaftlichen Abteilung unter dem Signum (statisches) „Lichtbild“ öffentlich ausgestellt gewesen waren.10 Die Vorlagen für die Exponate gehörten zur Lehrmittelsammlung der Prager Universität, an der Ernst Mach von 1867 bis zum Frühjahr 1895 den Lehrstuhl für Experimentalphysik inne hatte; und wo 1914 Anton Lampa als Professor für Physik tätig war.11 Auf Veranlassung Eders hatte er von der in Prag lebenden Fotografin Therese Zuckerkandl (geb. Kern, verheiratet mit dem an der Prager Universität 7  „Ein Rundgang durch die Ausstellung“, in: Deutscher Buchgewerbeverein (Hrsg.), Archiv für Buchgewerbe, 51, 5, 1914, S. 25. 8  Paul Sorgenfrei, „Die Kinematographie auf der internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik zu Leipzig“, in: Kastalia, 5-6-7, 1914, S. 56. „In einem Sonderpavillion hat Oesterreich ausgestellt [...] Nicht minder interessant sind die Aufnahmen aus den Studien über Funkenwellen von E. Mach (aus den Sitzungsberichten der Wiener Akademie) [...] An der Halle der Kultur [...] findet sich in der Abteilung der wissenschaftlichen Photographie eine kleine kulturhistorische Ausstellung von großem Interesse: eine historische Darstellung der Entwicklung des Kinematographen.[...] Ferner werden hier Versuche vorgeführt, die das Zustandekommen des Bildes demons­ trieren, Anwendungen in Wissenschaft und Technik, z. B. Studium von Geschoßbahnen [...]“. 9  Die anderen Exponate dieser Ausstellung, soweit sie mit Entstehungsdaten aufgelistet werden, sind um 1900 oder danach entstanden; vgl auch Eders Brief an das K.k Minsterium für Kultus und Unterricht vom 1. Dezember 1913, in welchem er erklärt, „daß die Gruppe für wissenschaftliche Photographie im österreichischen Reichs-Pavillon sehr gut vertreten sein wird“ und er sich bemühen werde „die schönen Leistungen Oesterreich’s auf diesem Gebiete in der Internationalen Ausstellung zur vollen Geltung zu bringen.“ Österreichisches Staatsarchiv ÖSTA/AVA/Unterricht Allgemein/Ausstellungen Fasz 2951/3314. Ausstellungen Leipzig/GZ 55000. 10  „Kunst. ‚Das Lichtbild‘. Prager photographische Ausstellung im Drei Reiter-Haus“, in: Prager Tagblatt, 24.3.1911, S. 9. „Besonderes Interesse beanspruchen zwei Rahmen mit Diapositiven, die aus der Zeit stammen, in welcher der jetzt in Wien lebende Hofrat Prof Dr. Mach noch in Prag wirkte. Es sind Studien über Projektilbahnen und Funkenwellen, aufgenommen mittels der eigens hierfür von Mach erfundenen und konstruierten Apparate, ohne die dem genialen Forscher seine epochemachenden Arbeiten auf diesen Gebieten überhaupt nicht möglich gewesen wären. [...] Auch die schwierigen kinematographischen Dampfhammeraufnahmen von Dipl. Ing. Otto Fuchs verdienen uneingeschränkte Anerkennung.“ 11  Anton Lampa hatte bei Viktor Lang und Ludwig Boltzmann studiert und war jedenfalls ab 1900 auch mit Ernst Mach in persönlichen bzw. schriftlichen Kontakt. Ettenreich, „Hofrat Prof. Dr. Anton Lampa (Gest.)“, Elektrotechnik und Maschinenbau 56, 6, 1938, S. 76. ÖSTA/AVA/Allgemeine Reihe/Personalakt Lampa, GZ 8928/1920. Nachlass (NL) Ernst Mach, Deutsches Museum München. Briefe Anton Lampa an Ernst Mach beginnend ab 30.12.1900.

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tätigen Wirtschaftswissenschaftler Prof. Robert Zuckerkandl)12 von Ernst Machs Lehrmitteln Kopien anfertigen lassen.13 Seine Namensnennung im Katalog könnte sich daher auf eine Funktion als Lehrmittelverwalter beziehen und als Hinweis auf die Universität Prag als rechtmäßigen Eigentümer der in Prag hinterlegten Abzüge oder Originale.14 Therese Zuckerkandl war Mitglied des „Klub deutscher Amateurphotographen“, auch Gründungsmitglied der „Freie[n] Vereinigung von Prager Amateurphotographen“ und wird in der zeitgenössischen Kritik zu den feinfühligsten und besten Vertretern dieser Kunst vor Ort gerechnet.15 Sie war auch in der höheren Frauenbildung, als Vorsitzende des „Deutsche[n] Verein[s] zur Errichtung und Erhaltung einer Akademie für höhere Frauenbildung in Prag“16 gemeinsam mit der Botanikerin und Ehefrau Anton Lampas, Emma Lampa17aktiv und konnte vielleicht von daher und aufgrund einer dieses Engagement würdigenden Gesetzgebung den Titel „Professor“18 führen. Sie wird sich 1942 in Jena, wohin sie aus familiären Gründen 1926 übersiedelt war, bereits im hohen Alter, der Deportation durch Selbstmord ­entziehen.19 FUNKENWELLEN.  Mach wurde von seinem Studenten Vinzenz Dvořák auf die Antoliksche Rußmethode aufmerksam gemacht20; persönlich lernte er ihn wahr http://14www3.jena.de/stolpersteine/zuckerkandl.html. Zugegriffen am 19.03.2016. ÖStA/AVA/ Allgemeine Reihe/Personalakt Robert Zuckerkandl. GZ 61531. „Prof. Dr. Robert Zuckerkandl“, in: Wiener Zeitung, 30.5.1926. S. 4. 13  Nachlass Ernst Mach. Brief Anton Lampa an Ernst Mach, 14. April 1914. NL 174/1885 „Vor allem muss ich um nachträgliche Zustimmung ersuchen, dass ich, der Aufforderung des Prof. Eder entsprechend Kopien von den im hiesigen Institut befindlichen Tableaux, die Schießversuche betreffend, herstellen ließ und für die Ausstellung in Leipzig zur Verfügung gestellt habe. Ich bitte auch Herrn Dr. Ludwig Mach in gleicher Weise um seine nachträgliche Zustimmung.“ 14  „Lehrmittelverordnung 1877, erneuert 1896, Verordnung des Ministers für K.u.U vom 30. Jänner 1896, /. 4671 ex 1895, MVBNR.11 ex 1896“, in: Leo Beck Ritter von Mannagetta/Carl von Kelle (Hrsg.), Die österreichischen Universitätsgesetze. Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen Gesetze, Verordnungen, Erlässe, Studien- und Prüfungsordnungen usw. Wien: Manz 1906, S. 365 ff. 15  „Von der Berliner Ausstellung schreibt die ‚Phot. Korrespondenz‘“, in: Prager Tagblatt, 16.9.1906, S.  10. „Freie Vereinigung von Prager Amateurphotographen“, in: Prager Tagblatt, 25.7.1909, S.  10. „Kunst. ‚Das Lichtbild‘. Prager photographische Ausstellung im Drei Reiter-Haus“, in: Prager Tagblatt, 24.3.1911, S. 9. 16  „An die Hörerinnen der Akademie für höhere Frauenbildung“, in: Prager Tagblatt, 11.10.1914, S. 8. „Vereins=Nachrichten. (Deutscher Verein zur Errichtung und Erhaltung einer Akademie für höhere Frauenbildung in Prag.)“, in: Prager Tagblatt, 30.1.1916, S. 7. 17  Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hrsg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben-­WerkWirken. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2002, S. 439. 18  Helmut Engelbrecht, Geschichte des österr. Bildungswesens. 1848-Ende der Monarchie. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1984, 4, S. 70, S. 288, S. 304. 19  http://www3.jena.de/stolpersteine/zuckerkandl.htm. Zugegriffen am 19.03.2016. 20  E. Mach/J. Wosyka, „Über einige mechanische Wirkungen des elektrischen Funkens“, in: Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, IIa. Abtheilung LXXII, I–V, 1875, S. 44. 12

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scheinlich erst bei der Internationalen Elektrischen Ausstellung in Wien 1883 kennen,21 wo Mach als Vortragender und im Sektor Lehrmittel mit dem eigenen Portfolio an Funkenwellen-Rußbildern vertreten war.22 Da einige der Grafiken, die Ernst Machs rekapitulierender und detaillierter Darstellung der Untersuchungsreihe von 1878 beigegeben sind mit den erhaltenen Abzügen übereinstimmen, könnte der Entstehungszeitpunkt der Originale auch in diesem Jahr gewesen sein. Wenn man allerdings Ernst Machs Selbstaussagen berücksichtigt, konnte er Fotografien dieser Objekte erst um 1884 herstellen, da ihm erst zu diesem Zeitpunkt die praktische fotografische Trockenplatte zur Verfügung gestanden habe.23 Therese Zuckerkandls Abzüge würden dann auf Vorlagen, die nicht vor dem Jahr 1884 entstanden sind, beruhen. Weder in Prag24 noch im Nachlass Ernst Machs25 finden sich ähnliche Objekte; (J. Hagmann hat mir freundlicherweise mitgeteilt, dass im letzten Jahr im Nachlass Ludwig Machs weitere Objekte übernommen wurden, bei denen es sich um die originalen Lehrtafeln handeln könnte); sie machen deutlich, dass die von Robert Andres Wood 1943 vorgenommenen nachgestellten und erweiterten Versuche sicher verdienstvoll, aber zum Teil nur vermeintlich erstmalig waren, z. B. die von Seeger so bezeichnete Mach’sche Brücke.26 Die Mach’schen Rußbilder-Untersuchungen, die zur ersten genaueren Beschreibung des Phänomens der Schockwellen führten, sind heute vor allem durch diese Wiederaufnahme bzw. Weiterführung der Ergebnisse von John von Neumann im Rahmen des Manhattan Projekts bekannt. Machs Forschungsaktivität zielte ursprünglich jedoch ganz allgemein auf ein besseres Verständnis von Schallwellen auch in der seiner Ansicht nach noch zu wenig berücksichtigten Abgrenzung zu den

 NL Ernst Mach. Karl Antolik an Ernst Mach, NL174/631 15.4.1884. NL174/632 14. 5. 1884. Gustav Hoffmann, „Internationale Elektrische Ausstellung in Wien 1883. Wissenschaftliche Apparate und Lehrmittel“, in: Elektrotechnische Zeitschrift 5, 1884, S. 176. 22  Gustav, Hoffmann, „Internationale Elektrische Ausstellung in Wien 1883. Wissenschaftliche Apparate und Lehrmittel“, loc.cit., S. 176. 23  Mach erwähnt 1893 in einem Vortrag, den er im Camera Club in London gehalten hatte, „[...] it was not before 1884 that I suceeded, availing myself of dry plates, in photographing sound waves (Anzeiger der Wiener Akademie, 1884, No. 15)“. Ernst Mach, „An Account of Scientific Applications of Photography“, in: The Journal of the Camera Club, VII. April, 83, 1893, S. 110 ff. 1889 hatte man dann überhaupt Experimente wiederholt, um sie fotografisch zu dokumentieren: „Da nun damals die Photographie noch kein Mittel bot, die betreffenden Bilder ausreichend zu fixiren, die flüchtige subjective Beobachtung aber nicht verlässlich genug erscheinen möchte, glaubten wir diesen Mangel beseitigen zu müssen, indem dies heute keiner besondern Schwierigkeit mehr unterliegt.“ E. Mach/L. Mach, „Über die Interferenz der Schallwellen von grosser Excursion“, in: Sitzungsberichte der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Abth IIa XCVIII, I–X, 1889, S. 1334. 24  Laut Auskunft von Hrn Mgr. Jakub Jareš, Karls-Universität Prag, 17.1.2014. 25  Vgl. die via Internet abrufbare Datenbank „Wissenschaftliche Fotografie bei Ernst Mach“ des Deutschen Museum, München. www.deutsches-museum.de/archiv/archiv-online/ernst-mach. 26  Raymond J. Seeger, „On Mach’s Curiosity About Shockwaves“, in: Boston Studies in the Philosophy of Science VI, 1970, S. 60–68. 21

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Lichtwellen27 und auf die Möglichkeiten ein neues Mittel/Medium zur Messung sehr hoher Geschwindigkeiten zu gewinnen.28 Welche Signifikanz haben nun diese Objekte für eine Präsentation im thematischen Rahmen „Wissenschaftliche Kinematographie“ 1914? Weder Ludwig Machs Geschoß-, Luft- oder Schallfotografien noch die mit diesem Tableaux erhaltenen Rußbilder können in eine Serie gebracht werden. Die Rußbilder sind das jeweils statische Ergebnis jeweils individueller Bewegungsereignisse. Zwar denken Mach und Weltrubsky 1878 daran, „dieselbe Welle in zwei aufeinander folgenden Entwicklungsstadien […] [zu] beleuchten“,29 und damit die fotografische Reihe eines Ereignisses herzustellen, was ihnen auch als erreichbares Ziel erscheint,30 aber es gibt bisher keinen weiteren Hinweis darauf, dass das von ihnen auch verwirklicht worden wäre. Ein direkter Weg von den Rußbildern zum bewegten Bild ist im kinematographisch-technologischen Sinne nicht herzustellen, ein indirekter schon. Während dieser Untersuchungsreihe wird auch die Töpler’sche Schlierenmethode, die es erlaubt Wellenphänomene im Medium Luft sichtbar zu machen eingesetzt und – und das ist das Entscheidende – in Bezug auf die momentane Beleuchtung optimiert. Mach, der schon 1876 mit adaptierter Regulierung der Beleuchtung eine größere Regelmäßigkeit der Wellenabfolgen erreicht hatte31 und der 1878 gemeinsam mit Gruss auch die theoretische Erklärung dazu liefert, gelingt es – und ich folge hier der Darstellung Bruno Glatzels – im Unterschied zu August Töpler, unter Berücksichtigung der von Knochenhauer-Oettingen nachgewiesenen Entladungs-­Oszillation zwischen zwei Leidner Flaschen, die bei sehr schnellen Bewegungen für die Momentbildentstehung notwendige minimal verzögerte Auslösung der beiden Funken, kontrollierbar zu machen.32  E. Mach/A. Fischer, „Die Reflexion und Brechung des Schalles“, in: Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, II. Abtheilung LXVII, I–V, 1873, S. 81. 28  E. Mach/J. Wosyka, „Über einige mechanische Wirkungen des elektrischen Funkens“, in: Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, II. Abtheilung LXXII, I–V, 1875, S. 45. 29  E. Mach/J. von Weltrubsky: Über die Formen der Funkenwellen. IN: Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, II. Abtheilung LXXVIII, I–V, 1878, S. 558. 30  Ibid. 31  Ernst Mach, „Ueber die Momentan-Beleuchtung bei Beobachtung der Lichtwellenschlieren“, in: Annalen der Physik 159, 1876, S. 330–331. 32  E. Mach/G. Gruss, „Optische Untersuchung der Funkenwellen“, in: Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, II. Abtheilung LXXVIII, I–V, 1878, S. 468. Bruno Glatzel, Elektrische Methoden der Momentphotographie. Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn 1915, S.  18. Ernst Mach, „Photographie einer abgeschossenen Flintenkugel und anderer sehr flüchtiger Erscheinungen“, in: Photographische Korrespondenz 287, 1884, S. 289: „Die Sichtbarmachung der Schallwellen hat zuerst Töpler erzielt. Ausgedehnte weitere Studien rühren von mir her, insbesondere über die genaue und willkürliche Regulirung der Momentanbeleuchtung.“ Josef Eder, Die Moment-Photographie. Halle a.S.: Knapp 1886, S.  104: „Die Sichtbarmachung der Schallwellen hat zuerst Töpler erzielt. Ausgedehnte weitere Studien rühren von Prof. Mach her, insbesondere über die genaue und willkürliche Regulierung der Momentanbeleuchtung.“ 27

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Damit ist erst eine Grundvoraussetzung für die spätere Kinematographie des Unsichtbar- Schnellen im nicht sichtbaren Medium geschaffen. Die Versuchsanordnung geht als „Machsche Verzögerungsmethode“33 oder „Machsche Schaltung“34 in die einschlägige Literatur ein und ermöglicht es dem Team Mach, Salcher, Riegler jene spektakulären Aufnahmen von Geschoßprojektilen herzustellen.35 Auch bei diesem Projekt in den achtziger Jahren ist Mach offenbar daran gelegen nicht nur Zeugnisse ultrarapider Prozesse mit stereoskopischer Qualität, oder wie er es nennt „optische Bilde[r]“, an deren „Schattirung sich die Condensationen abschätzen“36 ließen, anstatt bloßer zweidimensionaler „Schattenrisse“37 herzustellen, sondern Bewegungsabläufe mittels Serienbildproduktion zu studieren. Aus einem Briefverkehr mit Otto Anschütz, der 1887 gerade mit seinem Elektrischen Schnellseher38 an die Öffentlichkeit getreten war geht hervor, dass Mach ihn zu seinen im September 1887 gemeinsam mit Ludwig Mach auf dem Schießplatz der Firma Krupp in Meppen mit Kanonenkugeln durchgeführten Versuchen einzuladen versuchte. Anschütz lehnt das Angebot aus Mangel an Erfahrung mit „artilleristischen Aufnahmen“ und mit der Anmerkung, dass der Staat für die Entwicklung der. Photographie wohl „reichere Mittel“ aufbringen müsse ab,39 wird jedoch ein Jahr später selbst versuchen, für seine serielle Methode eine Kanonenkugel im Flug aufzunehmen.40 Ernst und Ludwig werden aber ohnehin schon eine „zweimalige Momentbeleuchtung desselben Projectils und photographische Fixierung der Bilder“41 vornehmen und nach der Rückkehr aus Meppen in Prag einen Raum adaptieren „um gefahrlos mit Gewehrprojectilen arbeiten zu können“,42 wobei in der Darstellung Albert Obermayers, „L. Mach die technischen Operationen, die Herstellung der Apparate und der Photographien zufiel“.43 Ausdrücklich empfiehlt Mach 1888, die von Marey seit 188244 praktizierte Methode der fotografischen „Zeitvergrößerung“ (=Zeitlupe) auch zur „Zeitverkleinerung“  Glatzel, Elektrische Methoden der Momentphotographie. loc.cit, S. 21.  Hubert Schardin, „Das Verfahren der Funkenkinematographie“, in: Hubert Schardin (Hrsg.), Beiträge zur Ballistik und Technischen Physik. Leipzig: Barth 1938, S. 143. 35  Albert v. Obermayer, „Übersichtliche Darstellung der optisch-photographischen Untersuchungen der durch bewegte Projectile in Luft erregten Vorgänge“, in: Mittheilungen über Gegenstände des Artillerie- und Genie-Wesens, XXVIII, 1897 S. 821 f. 36  Ernst Mach, „Ergänzungen zu den Mittheilungen über Projectile“, in: Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, II. Abtheilung 101, 1892, S. 983. 37  Ibid. 38  Josef Maria Eder, Geschichte der Photographie. Halle (Saale): Wilhelm Knapp 1932, (4. Aufl), S. 718. 39  NL Ernst Mach. NL 174/628. Otto Anschütz an Ernst Mach, 05.9.1887. 40  Deac Rossell, Faszination der Bewegung. Ottomar Anschütz zwischen Photographie und Kino. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 2001, S. 64 und 185. 41  E. Mach/L. Mach, „Weitere ballistisch-photographische Versuche“ in: Sitzungsberichte der Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien. Mathem. Naturw. Classe, Abth IIa XCVIIII, 1889, S. 1325. 42  E. Mach/L. Mach, „Weitere ballistisch-photographische Versuche“, loc.cit, S. 1310. 43  Albert von Obermayer, „Übersichtliche Darstellung der optisch-photographischen Untersuchungen der durch bewegte Projectile in Luft erregten Vorgänge“, loc.cit, p.S. 827. 44  Josef Maria Eder, Geschichte der Photographie. op. cit., S. 709. 33 34

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(=Zeitraffung) anzuwenden.45 Ebenso ausdrücklich empfehlen Mach und Salcher 1889 „artilleristischen Etablissements“46 die „Einrichtung kleiner auch wenig kostspieliger Stationen für derartige [fotografische] Versuche“47 da es möglich wäre „wesentlichen Nutzen aus solchen Beobachtungen“48 zu ziehen. Dieser publizierten Aufforderung war zwei Jahre früher, eine am 13. Juni 1887 eingelangte schriftliche Bitte Ernst Machs an das Technische Militärkomitee der Österreichisch-Ungarischen Armee vorausgegangen, in der er um Unterstützung zur Fortsetzung der mit Salcher und Riegler durchgeführten Versuche ersucht, auch mit dem Hinweis auf „praktisches Interesse“49 und der Dringlichkeit der Fortführung, denn nach der Publikation der ­Projektilfotografien „befinden [wir] uns auch in einer Zwangslage, denn ohne Zweifel werden unsere Methoden sehr bald andernwärts bekannt und verwerthet werden. Wir dürfen das jetzt nicht abbrechen, wenn wir nicht überflügelt werden sollen.“50

Ernst Mach möchte an „grösseren Projectilen […] die Discontinuität (Vacuumbildung) am Geschossboden genauer“51 studieren und an „kleinen Gewehrprojectilen […] die Geschwindigkeitsabnahme und die Änderung der Luftbewegung“52 untersuchen und vorgeschlagene Projektilformen prüfen, wobei er für die Geschwindigkeitsprüfungen das k.k. Arsenal vorschlägt.53 Und das Technische Militärkomitee „beehrt sich“54 im Antwortschreiben mitzuteilen, dass es „gerne bereit ist, die Bestrebungen E.H. [Euer Hochwohlgeboren] zu fördern“,55 sofern nicht „kostspielige Installationen“ notwendig wären, die einer Genehmigung des Reichskriegsministerium bedürften, ist mit der Durchführung an der „K.K. artilleristischen Anstalt in Wien“56 einverstanden und kommt nach dem Verweis, dass die von Mach geforderten Kaliber „nicht zur Verfügung“57 stehen würden auf Schnellfeuerkanonen zu sprechen, deren Untersuchung aber nur am  Ernst Mach, „Bemerkungen über wissenschaftliche Photographie“, in: Josef Maria Eder (Hrsg.), Jahrbuch für Photographie und Reproductionstechnik für das Jahr 1888. Halle a.S.: Wilhelm Knapp 1888, S. 284 ff. 46  E.  Mach/P.  Salcher, „Über die in Pola und Meppen angestellten ballistisch-photographischen Versuche“, in: Sitzungsberichte der Kais. Akademie d. Wissenschaften in Wien. Mathem. Naturw. Classe, Abtheilung IIa XCVIII, I–X, 1889, S. 50. 47  Ibid. 48  Ibid. 49  ÖStA/KA/TMK/Sekt I. 1883–1887, Karton 84, GZ I 63.210/1887. Ernst Mach an Euer Excellenz! verfasst Prag, 12. Juni 1887/eingelangt Wien, 13. Juni 1887. 50  Ibid. 51  Ibid. 52  Ibid. 53  Ibid. 54  ÖStA/KA/TMK/Sekt I. 1883–1887, Karton 84, GZ I 63.210/1887. 24. Juni 1887. 55  Ibid. 56  Ibid. 57  Ibid. 45

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Standort Felixdorf möglich wäre und wozu Ernst Mach ersucht wird „ein ausführliches Programm über die Anordnung der Durchführung des Versuches mit Kanonen auszuarbeiten.“58 Ein Programm, dass Ernst Mach, wie oben bereits ausgeführt dann in Meppen durchführen wird.59 Die Kgl. Preußische Artillerie-Prüfungskommission wird in den Erinnerungen von Carl Cranz 1892 nur Versuche „mit einer Anordnung, die gewissermaßen eine Kombination der Verfahren von Marey bei ruhender Platte und von Muybridge bzw. Anschütz“60 darstellt, durchführen. 1889 gelingt es Ernst und Ludwig Mach bereits nicht nur klare Projektilfotografien bei 500 m/s herzustellen, sondern von elektrischen Funken erregte Wellen im Glase bei ca 5000 m/s sichtbar zu machen.61 Ludwig Mach entwickelt um 1890 einen Apparat zum schnellen Abspielen von Einzelbildern62 der, wie Christoph Hoffmann und Alexandre Métraux erläutern, in der Reihe der Vorläufer der Kinematographie noch wenig Beachtung gefunden hat,63 für weiterführende Untersuchungen von Luftstrahl- und stromphänomenen 1891 ein optimiertes Interferenzrefraktometer64 und verbessert die Ernst-Mach’sche Verzögerungsschaltung mit einem hölzernen Ring.65 Und obwohl Mach also schon zu Beginn der neunziger Jahre bis auf das durchgehende Filmband alle Komponenten der Ultrarapidkinematographie verfügbar hat und er mit dem Wechsel von einer Position als Experimentalphysiker in Prag auf einen Lehrstuhl der „Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften“66 in Wien seine experimentelle Arbeit nicht aufgibt,  Ibid.  Zur „seltsamen Tradierung“ von österreichisch-ungarischer historischer Wirklichkeit, wie sie bei Christoph Hoffmann (loc.cit 2001, S. 274) über diesen Schriftverkehr erfolgt siehe weitere Ausführungen in meiner Masterarbeit bzw. Folgepublikation. 60  Carl Cranz, Lehrbuch der Ballistik. Experimentelle Ballistik. Leipzig, Berlin: Teubner 1913, 3, S. 296. Vgl. die Darstellung der Entwicklung auch bei Peter Berz, 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts. München: Fink 2001. 61  E. Mach/L. Mach, „Über longitudinale fortschreitende Wellen im Glase“, in: Sitzungsberichte der Kais. Akademie d. Wissenschaften in Wien. Mathem. Naturw. Classe, Abtheilung II a XCVIII, I–X, 1889, S. 1327 ff. 62  Mach, Ludwig, „Ueber das Princip der Zeitverkürzung in der Serienphotographie“, in: Photographische Rundschau 7, 73, 1893, S. 121 ff. 63  Christoph Hoffmann/Alexandre Métraux (Hrsg.), Working with Instruments: Three Papers of Ernst Mach and Ludwig Mach. Berlin: Max Planck Inst. für Wissenschaftsgeschichte 2010. 64  Ludwig Mach, „Über ein Interferenzrefractometer“, in: Sitzungsberichte der Kais. Akademie d. Wissenschaften in Wien. Mathem. Naturw. Classe, II.a. Abtheilung CI, I–X, 1892, S. 5. 65  „L. Mach, der 1892–1893 die Versuche seines Vaters fortsetzte, hat durch die nachstehend angegebene Anordnung Photographien des fliegenden Geschosses erzielt, bei denen das Bild vollkommen frei von Trümmern der Auslöseteile (Glashütchen usw.) ist. In der Schußrichtung ist ein hölzerner Ring R aufgestellt, [....]“ Carl Cranz, Lehrbuch der Ballistik. Experimentelle Ballistik, op. cit., S. 241. 66  Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 143. 58 59

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sondern 1895 im Souterrain der Universität Wien weiterführen wird,67 „scheint“ aber nicht er oder sein Sohn, sondern Carl Cranz, in seiner Darstellung aus dem Jahre 1939 „die erste funkenkinematographische Bilderreihe […] 1898 im Keller der Stuttgarter Oberrealschule mit Hilfe von Influenzmaschine und Leydener Flaschen und in wahrer Größe der Pistole auf ebensovielen ruhenden photographischen Platten ausgeführt“68

zu haben. Im Juli 1898 wird Ernst Mach einen Schlaganfall erleiden,69 1901 wird er sich verpflichtet fühlen „das Locale in der Universität“70 wieder freizugeben; seinem anlässlich seiner Pensionierung eingebrachten Ansuchen um „Belassung der von ihm [zuzüglich zu seinem Gehalt an der Wiener Universität seit der Bestellung 189571] bezogenen Personalzulage von 1800K […] [wird] infolge Ablehnung von Seite des fin Min. keine Folge gegeben“72 werden (erst 1910, wird man sich wohl nicht zufällig aber sehr spät wieder darauf besinnen, ihm „zur Förderung seiner wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit eine Subvention [von] jährlich 2000 Kronen zu bewilligen“,73 die er für die Jahre 1910, 1911 und 1912 auch dankbar bezieht.74). 1903 wird Carl Cranz von der Militärtechnischen Akademie Berlin mit dem Aufbau eines ballistischen Laboratoriums beauftragt.75 Er wird Ernst Mach im Juli 1907  in Wien besuchen und dabei sein Projekt zur Sprache bringen, „Geschosse von sehr verschiedener Spitzenform […] kinematographisch nach Ihrer photographischen Methode“76 zu messen und den das Gespräch zusammenfassenden Brief damit beschließen, Mach zu versichern, dass er „längst […] eine meiner hauptsächlichen Lebensaufgaben darin [sähe], Ihre schöne Methode für die Praxis  „Mach hatte sich im Souterrain der Universität zwei Zimmer einrichten lassen, wo er ungestört experimentieren konnte.“ Wilhelm Jerusalem, „Erinnerungen an Ernst Mach“, in: Neue Freie Presse, 2. 3. 1916, S. 3. 68  Carl Cranz, Entwicklung der Funkenkinematographie. Physikalische Vorgänge bei hohen Belastungen und Belastungsgeschwindigkeiten von Hubert Schardin. Vorträge gehalten in der 5. Wissenschaftssitzung der ordentlichen Mitglieder am 23. Juni 1939. (Schriften der deutschen Akademie der Luftfahrtforschung, Heft 40). München: Oldenbourg 1941, S. 5 f. 69  Österreichisches Staatsarchiv/AVA/Unterricht Allgemein (1848–1940), Universität Wien, Philosophie, Professoren Lu-Mi, Ktn. 674, Sign 4.Personalakt Ernst Mach. GZ 28.327/1901. Ernst Mach an Hohes k k Ministerium f C u U! 22.4.1901. 70  NL Ernst Mach. NL174/2020. Ernst Mach an Ludwig Mach, 12.4.1901. 71  ÖStA/AVA/Unterricht Allgemein (1848–1940), Universität Wien, Philosophie, Professoren Lu-Mi, Ktn. 674, Sign 4.Personalakt Ernst Mach. GZ 21235 zu GZ 28327/1901/Paginierung Seite 10/ 21.9.1901. „Allergnädigster Herr!“ 72  ÖStA/AVA/Unterricht Allgemein (1848–1940), Universität Wien, Philosophie, Professoren Lu-Mi, Ktn. 674, Sign 4. Personalakt Ernst Mach. GZ 8792/1910. > liegt bei 26G3 Mach. KK Min. für Kultus und Unterricht, 2.3.1910. 73  Ibid. 74  Ibid. 75  Hubert Schardin, „C.  Cranz“, in: Hubert Schardin (Hrsg.), Beiträge zur Ballistik und Technischen Physik. loc. cit. S. 1. 76  NL Ernst Mach. NL 174/968-978. Carl Cranz an Ernst Mach, 2.8.1907. 67

7  Ernst Mach und Kinematographie

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zu verwerten“.77 Carl Cranz wird seinen Ballistischen Kinematographen dann bereits 1909 entwickelt haben78 aber für diesen Zusammenhang bedeutender, damit bei der im September 1913 in Wien stattfindenden 85. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, in der auch von Josef Eder kuratierten79 Begleitausstellung über „Anwendung der Photographie in Naturwissenschaft und Medizin“80 groß herauskommen. Und Erzherzog Karl Franz Josef wird beim in diesem Rahmen stattfindenden Empfang bei Hofe, sich bei Josef Eder erkundigen, „ob die Österreicher stark und interessant vertreten“81 seien und „insbesondere […] nach den kinematographischen Aufnahmen für wissenschaftliche Zwecke“82 fragen. Dass Josef Eder vom technologischen Gesichtspunkt aus, Vorarbeiten zur ballistischen Kinematographie (wie er sie als solche dann auch in der vierten Auflage seines Photographischen Handbuchs 1932 einordnet)83 im nächsten Jahr in Leipzig selbst als wissenschaftliche Kinematographie auftreten lässt, ist meiner Ansicht nach sehr eng mit diesem Ereignis verbunden. Interferenzen von wissenschaftlich technologischer Entwicklung mit politischen Ambitionen werden hier momentan deutlich im öffentlichen Diskurs einer im Mai 1914 als transnationalen Friedensausstellung eröffneten, dann aber rasch absinkenden und im Oktober 1914 als nationalistische Kriegsausstellung geschlossenen Schau.84 Die kulturelle Selbstbehauptung gegenüber dem Deutschen Reich in einem eigenen Pavillon als Österreichisches Haus wurde ja schon bei den Vorbereitungen zur Ausstellung 1912 als Notwendigkeit empfunden85 und hatte bei den im Oktober 1913 in Leipzig stattfindenden 100-Jahr-Feiern zur Völkerschlacht bei Leipzig 1813, eine Bestätigung erfahren, die in den Erinnerungen des Feldmarschall Conrad durch „Unterschätzung der österreichischen Leistungen in den Befreiungskriegen“86 zu einem

 Ibid.  Carl Cranz, Lehrbuch der Ballistik. Experimentelle Ballistik. op. cit., S. 301. 79  „Zur Ausstellung über „Anwendung der Photographie in Naturwissenschaft und Medizin“ Wien 1913“, in: Photographische Korrespondenz, 49, 637, 1913, S. 437. 80  Katalog der Ausstellungen der 85. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte: 18.–30. September 1913 im Gebäude der K.K. Universität in Wien. Wien: Mosse 1913. 81  „Die Eröffnungssitzung der 85. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte“, in: Photographische Korrespondenz 49, 637, 1913, S. 432. 82  Ibid. 83  Josef Maria Eder, Geschichte der Photographie. op. cit., S. 734. „Bei dem E. Machschen Verfahren war es immer nur möglich eine einzelne Aufnahme des Projektils zu machen. Den Bemühungen des Professors C. Cranz in Berlin war es 1909 gelungen, einen ballistischen Kinematographen zu konstruieren [...].“ 84  Deutscher Buchgewerbeverein (Hrsg.), Archiv für Buchgewerbe, 61, 5, 1914. 85  ÖSTA/AVA/Handel, KK Min für öffentliche Angelegenheiten. Allgemeine Registratur, Faszikel 308, GZ 35065_IIa 1912. „Protokoll der Sitzung des engeren Komitees für die Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig 1914“, 14. Juni 1912. 86  Feldmarschall Conrad: Aus meiner Dienstzeit 1906–1918. 1913 und das erste Halbjahr 1914. Der Ausgang des Balkankrieges und die Zeit bis zum Fürstenmord in Sarajewo. Wien, Leipzig, München: Rikola Verlag 1922, 3, S. 469 ff. 77 78

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p­ enetrant deutsche Vorherrschaft zelebrierenden Event inszeniert worden war, der dann auch prompt einen diplomatischen Eklat hervorgebracht hatte.87 Josef Eder reklamiert Ernst Mach in Leipzig erneut technologisch für den öffentlichen Diskurs eines gerade hochaktuellen Themas,88 in den er bereits mit dem ­geflügelten Wort „Die Kinematographie gibt uns die Möglichkeit, Maßstab und Vorzeichen der Zeit beliebig zu ändern.“89 eingeschrieben war.

 Feldmarschall Conrad: „Ich begab mich zu Kaiser Wilhelm, der auf die serbische Frage zu sprechen kam. [...] Nach diesen Worten sagte der Kaiser: „Es sind mehrere Ihrer Oberste da, die ich noch nicht kenne, bringen Sie sie mir her.“ Ich ging nun daran, mit Hilfe Baron Bienerths die Herren zusammenzurufen. Plötzlich trat raschen Schrittes und aufs höchste erregt Erzherzog Franz Ferdinand an mich heran und fragte barsch: „Was geschieht da?“ Ich erwiderte: „Der Deutsche Kaiser hat mir befohlen, ich solle ihm unsere Oberste bringen.“ Darauf herrschte mich der Thronfolger im heftigsten Tone an: „Das ist meine Sache. Sind Sie der Armeekommandant? Das werde ich mir ausbitten!“ Ich antwortete: „Ich bitte Eure Kaiserliche Hocheit zu entschuldigen, aber der Deutsche Kaiser hat mich beauftragt.“ Hierauf der Erzherzog: „Das hätten Sie mir melden sollen!“ Diese Szene war das peinlichste, was ich je erlebt hatte, umsomehr, als sie vor fremden Persönlichkeiten, fremden Generalen und Offizieren vor sich gegangen war. Seine Kaiserliche Hochheit stellte heirauf die mittlerweile versammelte ö.-u. Deputation dem Deutschen Kaiser vor;[...]“ Ibid. 88  1912 finden europaweit gleich drei kinematographische Kongresse statt: im März der 1. Internationale Kinematographische Kongreß in Paris (Paul von Schrott, „Kinematographie“, in: Josef Maria Eder (Hrsg.), Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1912. Halle a.S.: Knapp 1912, S. 229.), im Oktober die I. Internationale Kino-Ausstellung in Wien („Der Verlauf der I. Internationalen Kino-Ausstellung Wien 1912“, in: Kinematographische Rundschau, 27. Oktober 1912, S. 11) und im Dezember 1912 in Berlin der erste deutsche Kinokongress (Neues Wiener Journal, 18. Dezember 1912, S. 8). 89  Karl Wilhelm Wolf-Czapek, Die Kinematographie. Berlin: Deutsche Verlagsgesellschaft 1911, S. 118. Heinrich Lehmann, Die Kinematographie. Ihre Grundlagen und ihre Anwendungen. Leipzig: Teubner 1911, S. 92. Paul Ernst, „Die Kinematographie in ihrer Bedeutung für Wissenschaft und Schule“ Vortrag, gehalten in der 85. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, in: Kastalia, III, 1, 1914, S. 2. 87

Kapitel 8

Ernst Mach und der wahre Inhalt von Newtons erstem Gesetz der Bewegung Martin Černohorský

Zusammenfassung  In diesem physikalisch-historisch-linguistischen Aufsatz ist der Beweis erbracht, dass Newtons erstes Gesetz der Bewegung (EGB) mehr beinhaltet als allgemein angenommen. Es ist nicht nur das Trägheitsprinzip der gleichförmigen geradlinigen Translation, d. h. das, was bis jetzt allgemein als Inhalt des ersten Gesetzes gemeint und in der physikalischen Literatur angegeben wird. Es ist auch das Trägheitsprinzip der gleichförmigen Rotation des Körpers um eine im Raume unverändert orientierte Achse, die sich entweder in Ruhe befindet oder sich in einer Gerade gleichförmig bewegt. Die Diskrepanz zwischen der bisherigen Vorstellung und dem wahren Inhalt des Gesetzes dauert von der ersten Übersetzung von Motte (1729) durch beinahe drei volle Jahrhunderte hindurch bis zur Gegenwart an. Die Ursache liegt in verschiedenen Deutungen des Terminus in directum. Die Übersetzer verstehen ihn ausnahmslos synonym mit in linea recta, bzw. secundum lineam rectam, während er sich bei Newton auf von Newton präzise formulierte Fälle der fortschreitenden oder/und rotierenden Körper bezieht. Ernst Mach hat Newtons erstes Gesetz ebenfalls nur in der allgemein gewohnten Weise verstanden. Zufälligerweise hat er aber bei seiner Interpretation eine Formulierung benutzt, die sich auch für den wahren Inhalt des EGB als außerordentlich geeignet zeigt. Machs Kritik an Newtons Positionen benötigt also gewisse Korrekturen. Die hervorragende Beweismöglichkeit ist dem NEWTON Project (http://www. newtonproject.ox.ac.uk/texts/newtons-works/scientific), Viewing 63, zu danken. Der so offene Zugang zu Newtons relevanten Manuskripten, nicht nur im „Normali­ zed Text“ und im arbeitsaufwändigen „Diplomatic Text“, aber besonders auch in den „Manuscript Images“, spielt in dieser Studie die ausschlaggebende Rolle. Newtons Gedankengang konnte in einzelnen Schritten im vollen Verständnis nachvollzogen und die Überlegungen zum Beweis des wahren Translation-Rotation-Inhalts des EGB angestellt werden.

M. Černohorský (*) Institut für theoretische Physik und Astrophysik, Masaryk Universität, Brno, Tschechische Republik E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_8

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Präambel Dem Trägheitsprinzip von Descartes und Galilei kommt nach Ernst Mach’s Äußerung (Absatz 5.1) in der postnewtonschen Zeit die Würde und die Unantastbarkeit eines „päpstlichen“ Ausspruchs zu. Sollte diese Charakteristik unverändert tatsächlich mit Recht auf Newtons erstes Gesetz der Bewegung übertragen werden, müssten die bisherigen Übersetzungen den wahren Inhalt der Newtonschen Formulierung des Gesetzes darstellen. Das ist aber nicht der Fall, denn Newtons erstes Gesetz beinhaltet außer dem innewohnenden Trägheitsprinzip für die fortschreitende Bewegung auch das Trägheitsprinzip für rotierende Körper. Die hundertste Wiederkehr von Ernst Mach’s Todestag (19.2.1916) bietet eine willkommene Gelegenheit, eine bis jetzt unbekannte an Ernst Mach gebundene kuriose Einzelheit zu präsentieren, die mit seinem Grundwerk „Die Mechanik in ihrer Entwicklung  – Historisch-kritisch dargestellt“ (Mach 2012) in Verbindung mit seiner Schrift „Erhaltung der Arbeit“ (Mach 1872) zusammenhängt. Ernst Mach beteiligt sich damit am Hauptthema dieses Aufsatzes, dem wahren Inhalt Newtons erstem Gesetz der Bewegung, recht seltsamerweise und völlig unbewusst. Seine Formulierung, gemeint für die fehlerhaft verstandene Formulierung des ersten Gesetzes von Newton, ist nämlich für deren wahren Inhalt hervorragend verwendbar. Es ist ein gutes Beispiel, welche Rolle der Zufall auch in der Physik spielen kann: Die von Newton beabsichtigte Deutung seiner lateinischen Formulierung des ersten Gesetzes der Bewegung blieb beinahe drei Jahrhunderte in den Übersetzungen unerkannt, wobei eben Mach’s Wortlaut eine sehr geeignete Formulierung darstellt.

8.1  Hauptaspekte des Aufsatzes (1) Mathematisch: Konstante Vektoren v = v0, ω = ω0 als mathematische Charakteristik des wahren Inhalt von Newtons ersten Gesetzes der Bewegung (EGB). (2) Physikalisch: Der wahre Inhalt des EGB: 1 – Trägheitsprinzip bei der Translation, 2 – Trägheitsprinzip bei der Rotation. (3) Historisch: In Newtons Zeiten war der zweite Impulssatz noch nicht zur Verfügung – ein historischer Umstand, maßgebend für die Rechtfertigung Newtons Qualifikation des EGB als „Axiom, sive Lex motus“. (4) Linguistisch: Das linguistische Problem der Mehrdeutigkeit des Terminus in directum blieb in den beinahe vollen drei Jahrhunderten nicht erkannt, was die bisherige mangelhafte Interpretation des EGB verursacht hat.

8.2  L  inguistische Voranzeige zur Benennung der behandelten Bewegungen Man kann sich verabreden, dass man für die fortschreitende geradlinige Bewegung nach vorne auch eine der Termini direkte Vorwärtsbewegung, direkte fortschreitende Bewegung, direkte progressive Bewegung, direkte Fortschreitung, direkte

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Progression festlegt. Ähnlich kann man sich verabreden, dass man für die Drehbewegung des Körpers um eine Achse, die entweder in der Ruhe ist oder in einer Gerade mit dem getragenen rotierenden Körper fortschreitet, wobei ihre Lage zu den früheren parallel bleibt, ebenfalls die Bezeichnung Bewegung direkt vorwärts festlegt, hier für Drehbewegung verstanden. Im Einzelfall muss man sagen, welche Bewegung gemeint ist, ähnlich wie bei dem Terminus Geschwindigkeit: man muss wissen, ob vielleicht nicht die Winkelgeschwindigkeit gemeint ist. Ist die spezifische Angabe nicht klar gegeben, muss man beide Möglichkeiten zulassen, es sei denn, dass die Sachlage aus dem Zusammenhang zu verstehen ist.

8.3  N  ewtons erstes Gesetz der Bewegung (EGB) – ein Spezialfall des zweiten Gesetzes? Sollte das EGB tatsächlich ein Spezialfall des zweiten Gesetzes sein, dann würde Newton Autor eines fehlerhaften Systems der Axiome. Das erste Gesetz muss unter diesem Aspekt untersucht werden. Vorerst werden in diesem Absatz relevante Übersetzungen präsentiert, um festzustellen, inwieweit das EGB als eigenständig anzusehen ist.

8.3.1  Newtons Gesetze der Bewegung L E X I. Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus a viribus impressis cogitur statum illum mutare. Projectilia perseverant in motibus suis, nisi quatenus a resistentia aeris retardantur, & vi gravitatis impelluntur deorsum. Trochus, cujus partes cohaerendo perpetuo retrahunt sese a motibus rectilineis, non cessat rotari, nisi quatenus ab aere retardatur. Majora autem Planetarum & Cometarum corpora motus suos et progressivos et circulares in spatiis minus resistentibus factos conservant diutius. L E X II. Mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressæ, et fieri secundum lineam rectam qua vis lila imprimitur. L E X III. Actioni contrariam semper et aequalem esse reactionem: sive corporum duorum actiones in se mutuo semper esse æquales et in partes contrarias dirigi. Diesen Wortlaut (Motte 1729, S. 644), haben Newtons Gesetze der Bewegung, AXIOMATA, SIVE LEGES MOTUS, in allen drei Ausgaben Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687, 1713, 1726) mit Ausnahme des ersten Gesetzes in der dritten Ausgabe (1726), dessen dortige minuziöse Abänderung lautet L E X I. Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus illud a viribus impressis cogitur statum suum ­mutare.

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8.3.2  Irrweg der ersten Interpreten des EGB Die ersten Interpreten der Prinzipien waren Andrew Motte (1696–1734) mit der Übersetzung ins Englische 1729 (Motte 1846) und PP. Thoma le Seur und Francis­ cus Jacquier mit der außerordentlich umfangreich kommentierten Prinzipien-­ Ausgabe (I – 1739, II – 1740, III – 1742) (Newton 1822). Die Kommentare und Erklärungen sind ein Vielfaches des Textes der Prinzipien. Motte’s Übersetzung des EGB lautet (Motte 1846, S. 9): Law I. Every body perseveres in its state of rest, or of uniform motion in a right line, unless it is compelled to change that state by forces impress’d thereon. Cajori hat diesen Wortlaut nicht eingehalten und hat „continues“ statt „perseveres“ gewählt (Motte 1729, S. 13). Diese Verschiedenheit ist im Vordergrund der ausführlichen, die grundsätzlichen Aspekte des EGB analysierenden und bewertenden Abhandlung von Galili und Tseitlin 2003. Dort steht meritorisch als Pendant Paar „quantitatives perseveres“ vs. „zeitliches continues“ und ist auf Krilov’s (1864–1945) vereinigende Formulierung in der englischen Übersetzung aus dem russischen (Principia waren übersetzt von Krilov im Jahre 1915) hingewiesen: „Every body continues to persevere in its state … until it is and so far as …“ (s. Absatz 3.3). Trotz dem großen Aufwand, mit welchem T. le Seur und F. Jacquier sein Werk bearbeiten hatten, ist auch ihnen der wahre Inhalt des EGB, bzw Newtons Impulse zu dessen Erkennung entgangen, wie man aus ihrem Kommentar zum EGB, in dem sich keine Angaben zur Drehbewegung befinden, sieht: „Ex hâc primâ lege quam (9) demonstravimus, sequitur omnem motum esse naturâ suâ aequabilem et rectilineum, adeóque nec illium velocitatem retardari, nec directionem mutari, nisi aliqod obstaculum mobili offeratur; …“ „Aus diesem ersten Gesetz, welches (9) wir gezeigt haben, geht hervor, dass jede Bewegung in ihrer Natur gleichförmig und geradlinig ist und ihre Geschwindigkeit nicht verlangsamt und seine Richtung nicht verändert, wenn der Bewegung kein Hindernis im Wege steht; …“

Die ersten Interpreten zeigen sich also als Anweiser eines Irrwegs, der den wahren Inhalt des EGB verfehlt.

8.3.3  F  ehlerhafte Übersetzungen präsentieren EGB als einen Spezialfall des zweiten Gesetzes Zu den ersten Interpreten des EGB kann man auch die Autoren der ersten französichen der ersten deutschen Übersetzung beireihen: La Marquise Du Chastellet (1759) LOI I. Tout corps persévère en son état de repos ou de mouvement rectiligne uniforme, sauf si des forces imprimées le contraignent d’en changer. J. Ph. Wolfers (1872) Grundsätze oder Gesetze der Bewegung 1. Gesetz. Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.

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Geschosse verharren in ihrer Bewegung, insofern sie nicht durch den Widerstand der Luft verzögert und durch die Kraft der Schwere von ihrer Richtung abgelenkt werden. Ein Kreisel, dessen Theile vermöge der Kohäsion sich beständig aus der geradlinigen Bewegung entfernen, hört nur insofern auf, sich zu drehen, als der Widerstand der Luft (und die Reibung) ihn verzögert. Die großen Körper der Planeten und Kometen aber behalten ihre fortscheitende und kreisförmige Bewegung, in weniger widerstehenden Mitteln, längere Zeit. 2. Gesetz. Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt. Nicht nur in diesen historischen, sondern auch in allen weiteren Übersetzungen in jedweder Sprache, von Motte (1729) bis in die Gegenwart, zeigt sich das EGB für den Fall, wenn das Resultat der einwirkenden Kräfte gleich Null ist, als ein Spezialfall des zweiten Gesetzes. Eine vereinzelte Ausnahme (Cohen und Whitman 1999) folgt in Absatz 3.4. E. Mach (1872, S. 47). Jeder Körper behält seine Richtung und Geschwindigkeit bei, solange dieselbe nicht durch äußere Kräfte abgeändert wird. Bemerkung: Mach erklärt in seinen Worten den Inhalt des EGB, es ist nicht Übersetzung. Hier ist es zum Vergleich eingereiht. Wolfers’ Platz (ebenfalls 1872) wäre hier der nächste nach Mach. W. Thomson, P. G. Tait (1879) Every body continues in its state of rest or of uniform motion in a straight line, except in so far as it may be compelled by force to change that state O. D. Chvolson (1897) Всякое тело сохраняет состояние поқоя или равномерново прямолинейново двиҗения, поқа действие сил не заставит его изменить своего cостяния (двиҗения). A, N Krilov (1915) Every body continues to preserve its state of rest or uniform motion in a right line, until it is and so far as it is not compelled to change that state by forces impressed upon it (emphasis added). (Übersetzung aus dem Russischen. Entnommen aus (Galili und Tseitlin 2003)) F.-M. Biarnais (1985, S. 40) Loi I.  Tout corps persévère en son état de repos ou de mouvement rectiligne uniforme, sauf si des forces „imprimées“ le contraignent d’en changer. S. Hawking (1985, Préface, S. 10) Tout corps demeure à l’état de repos, ou poursuit un mouvement rectiligne uniforme, à moins qu’il ne soit soumis à une force extérieure. C. L. Tascón (1998) Primer postulado: concepto de la inercia

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POSTULADO 1O: Toda particula material persevera en su estado de reposo o de movimiento uniforme en linea recta, salvo que se vea forzada a cambiar ese estado por acción de una fuerza impresa. Cohen (1999, S. 416) Every body perseveres in its state of being at rest or of moving uniformly straight forward, except insofar as it is compelled to change its state by forces impressed.

8.3.4  C  ohens vereinzelter Versuch zugunsten der Eigenständigkeit des EGB Einen ernsten Versuch zugunsten der Eigenständigkeit des EGB liefert Cohen in seinem Werk Guide zu Newtons Principia (Motte 1729, S. 109), Absatz 5.2. „5.2 The First Law; Why Both a First Law and a Second Law?“ „… Often the question has been raised why there are both a first and a second law since, as Rouse Ball put it, the first law „seems to be a consequence of the second law,“ so that „it is not clear why it was enunciated as a separate law“.3 (3. W. W. Rouse Ball, An Essay on Newton’s „Principia“ (London:Macmillan and Co., 1893; reprint, with an introd. by I.  B. Cohen, New  York and London: Johnson Reprint Corp., 1972), S. 77.) That is, if the second law is that … F = mA or F = m dV/dt = = d(mV)/dt, then it follows that if F = 0, A = dV/dt = 0. The only trouble with this line of thought is that F = mA = m dV/dt is the second law for a continually acting force F, whereas Newton’s second law (as stated in the Principia) is expressed in terms on an impulsive force. For such a force, the „force“ is proportional to the change in momentum and not to the rate of change in the momentum. Thus a possible clue to Newton’s hinking is found in the examples used in the discussion of the first law, analyzed below, each one of which is (unlike the forces in law 2) a continually acting force. Accordingly, we may conclude that law 1 is not a special case of law 2 since law 1 is concerned with a different kind of force. …“

Für eine solche Vorstellung, im EGB mit seinem anderen Kraftbegriff zu arbeiten als im zweiten Gesetz, findet man bei Newton kaum eine Stütze. Nichtsdestoweniger ist Cohens Hauptgedanke, Newtons drei Axiome sind untereinander unabhängig, stark zu bejahen. Auf Cohens „straight forward“ (geradeaus vorwäts, direkt vorwärts) in seiner Übersetzung des EGB werden wir noch im Zusammenhang mit in directum am Ende des Absatzes 6 hinweisen.

8.4  V  ertrauen in Newtons Axiomatik: Newton hat doch das EGB durch Trägheit der Drehbewegnng vom zweiten Gesetz losgelöst Die Hypothese, dass Newtons Axiomatik völlig vertrauenswürdig ist, hat gewiss Berechtigung. Die festgestellte Rotation im EGB sichert dessen Unabhängigkeit vom zweiten Gesetz. Und es ist offensichtlich der Terminus in directum, der in der Formulierung des EGB die Schlüsselrolle spielt.

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Man kann die EGB-Abhängigkeit als eine in der physikalischen Literatur eindeutig gegebene Tatsache mit der Begründung ablehnen, dass ein Axiom-System, dessen Gestalter Newton ist, ganz bestimmt keine solche Abhängigkeit beinhaltet. Dann aber muss das EGB etwas in seinem Inhalt haben, was die angebliche Abhängigkeit von dem zweiten Gesetz nicht zulässt. Auf den ersten Blick sieht man etwas derartiges vielleicht nicht. Wenn man aber den Kommentar mit seinen drei Sätzen als einen unteilbaren Bestandteil des EGB auffasst, liegt schon der Gedanke nahe, dass auch Drehbewegung in das erste Gesetz hineingehört. Heutzutage sind natürlich beide Trägheitsprinzipien längst als Spezialfälle der Impulssätze ableitbar und keinesfalls als selbstständige Axiome auszuweisen. Zu Newtons Zeiten konnte man aber die Trägheit einer Drehbewegung aus dem zweiten und dritten Gesetz noch nicht ableiten. Das EGB war sonach von Newton mit Recht als „Axiom, sive Lex motus“ bezeichnet. Die Struktur des Kommentars mit dem ersten Satz „Translation“, mit dem zweiten „Rotation“, und dem dritten als „Superposition von diesen beiden“ stellt ein bedeutsames „Kennwort“ zu der hier vorgelegten Denkweise dar. Bei Newton war diese keinesfalls neu, wie man z. B. bei Herivel (Motte 1846, S. 82), sieht. Herivels „The Background to Newton’s Principia, A study of Newton’s Dynamical Researches in the Years 1664–1684“ (Herivel 1965) hat in Kap. 5 „The motion of extended bodies“ Subkap. 5.3 Dynamics of a single rotating body (S. 81) diesem Text (S. 82) Free rotation of an extended body „In § 8 of the same MS. V Newton gives a wonderfully just physical appreciation of the free rotation of an extended body. In the first place every such body keeps the same real quantity of circular motion so long as it remains undisturbed. This is the principle of circular motion for rotating bodies. Moreover, it continues to rotate about the same axis which always remains parallel to itself provided the endeavours of its four quarters away from the axis of rotation balance. […] It is to be regretted that Newton did not proceed to give a quantitative treatment of this problem. It is clear that his unerring intuition had led him to an almost perfect physical appreciation of the problem.“

Newton ist nicht bis zum zweiten Impulssatz gelangt. Deswegen hat er das Trägheitsprinzip als eigenständige Gesetzmäßigkeit behandelt, in das EGB eingegliedert und gleichzeitig in linea recta durch mehrdeutiges in directum ersetzt. Der Termin in directum wurde aber in seinem spezifischen Ausdruck von den Übersetzern nicht erkannt und weiterhin als Synonym mit in linea recta allgemein irrtümlich gehalten. Das EGB blieb so als ein Spezialfall des zweiten Gesetzes verstanden.

8.5  Ernst Mach zu EGB. Stellen in den Prinzipien mit EGB In der übersichtlichen Kritik der Newtonschen Aufstellungen ((Mach 2012), II. Kapitel, Absatz 7, S. 273–280) zeigt sich Ernst Mach völlig in Übereinstimmung mit der in der physikalischen Literatur allgemein angenommenen und vertretenen Ansicht, dass das erste von Newtons drei „Axiomata, sive Leges motus“ ein Spezialfall des zweiten ist. Durch diese Abhängigkeit sind die Erfordernisse der Axiomatik nicht erfüllt, was man bei Newton als sehr überraschend und eher unmöglich

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v­ orfindet. Den Anlass für die Abhängigkeit sieht man in allen Übersetzungen, beginnend 1729 mit Motte’s Übersetzung bis in die Gegenwart. Es ist eine interessante Kuriosität, dass nur Mach, allerdings unbewusst, den Inhalt des EGB so formuliert hat, dass es auch für die Rotation, d.  h. für den wahren Inhalt des EGB geeignet ist.

8.5.1  E  GB: Von Galileis „bloßer Bemerkung“ zum postnewtonschen „päpstlichen Ausspruch“ Gleichfalls wie alle Übersetzer berührt auch Mach bei der Interpretation Newtons EGB bezüglich der Trägheit nur die uniforme geradlinige Bewegung. In Erhaltung der Arbeit (Mach 1872) schreibt er über das Trägheitsgesetz folgendes: Mach (1872, S. 10), Zeilen 8–20: „Huygens, in allen Stücken ein Nachfolger Galileis, fasst das Trägheitsgesetz schärfer und verallgemeinert den für Galilei so fruchtbar gewordenen Satz über die Steighöhe. Letzteren verwendet er zur Lösung des Problems vom Schwingungsmittelpunkt und spricht sich da­ rüber vollkommen klar aus, dass der Satz über die Steighöhe identisch sei mit dem Satze vom ausgeschlossenen perpetuum mobile. Es folgen die wichtigen Stellen: Hugenii, horologium oscillatorium, pars secunda. Hypotheses: Si gravitas non esset, neque aẽr motuio corporum officeret, unumquodque eorum, acceptum, semel motum continuaturum velocitate aequabili, secundum lineam rectam.1)“ (Hinweis auf Note 1, (Mach 1872, S. 47), Zeilen 1–17): „N o t e n. Das Trägheitsgesetz ist nachher von Newton (Philosophiae naturalis principia mathematica Amstelodami 1714 tom.1. P.12) folgendermaßen formuliert worden: Axiomata sive leges motus. Lex I. Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus a viribus impressis cogitur statum illum mutare.“

Hierauf bezügliche Stellen finden sich noch S. 2 und S. 358. Seit Newton hat nun das Trägheitsgesetz, welches bei Galilei noch eine bloße Bemerkung ist, die Würde und Unantastbarkeit eines päpstlichen Ausspruchs. Man kann dasselbe vielleicht am besten so aussprechen: …“ (Fortsetzung nach den von Mach angegebenen Stellen in den Prinzipien.) Die erwähnten Stellen in den Prinzipien: Newton (1723, S. 2), Zeilen 1–4: „D E F I N I T I O III. Materiæ vis insita est potentia resistendi, qua corpus unumque, quantum in se est, perseverat in statu suo vel quiescendi vel movendi uniformiter in directum.“ Definition 3. Die Materie besitzt das Vermögen zu widerstehen; deshalb verharrt jeder Körper, soweit es an ihm ist, in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen oder rotierenden Bewegung gerade aus vorwärts.

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Newton (1723, S. 2), Zeilen 19–21: „D E F I N I T I O IV. Vis impressa est actio in corpus exercita, ad mutandum eius statum vel quiescendi vel movendi uniformiter in directum.“ Definition 4. Die wirkende Kraft ist an dem Körper durchgeführte Aktion, welche seinen Zustand entweder der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung geradeaus vorwärts ändert. Newton (1723, S. 358), Zeilen 10–12: „Corpora omnia mobilia esse, & viribus quibusdam (quae vires inertiae vocamus) perseverare in motu vel quiete, ex hisce corporum visorum proprietatibus colligimus“. Alle Körper sind beweglich, und durch gewisse Kräfte (die wir Trägheitskräfte nennen) verharren in der Bewegung oder in der Ruhe, wovon man auf die Eigenschaften der betrachteten Körper schließt. „Fortsetzung im Absatz 5.2.“ Die im vorigen Absatz angekündigte Fortsetzung: „… Man kann dasselbe vielleicht am besten so aussprechen: Jeder Körper behält seine Richtung und Geschwindigkeit bei, solange dieselbe nicht durch äußere Kräfte abgeändert wird.1 Ich habe nun schon vor vielen Jahren bemerkt, dass in diesem Trägheitsgesetz eine große Unbestimmtheit liegt, indem nicht gesagt wird, gegen welche Körper die Richtung und Geschwindigkeit des bewegten Körpers gemeint ist.“ Mach hat also Newtons Formulierung des EGB gleicherweise wie die Anderen verstanden, d. h. als ob es sich nur um eine gleichförmige fortschreitende Bewegung in einer geraden Linie handelte. Mit Richtung und Geschwindigkeit versteht Mach hier die Richtung und die Geschwindigkeit, wie sie der Vektor der fortschreitenden Geschwindigkeit v bestimmt. Man kann aber zulassen, dass nicht die fortschreitende Geschwindigkeit, sondern die Winkelgeschwindigkeit ω = ω0 gemeint ist. In dem Fall ist Mach’s Formulierung eine geeignete Formulierung des wahren Inhaltes des EGB. Mach’s Formulierung des EGB-Translation-Inhalts ist auch für EGB-­Translation-­ Rotation-Inhalt anwendbar Es ist auch zu bemerken, dass statt „äußere Kräfte“ besser „einwirkende Kräfte“ zu verwenden wäre, denn den Bewegungszustand des Körpers können auch die inneren Kräfte ändern. Mach’s Formulierung ist also auch für den wahren Inhalt des EGB sehr gut geeignet. Ein konstanter Vektor der fortschreitenden Geschwindigkeit charakterisiert eine Klasse von besonders einfachen Translationsbewegungen, ähnlich ein konstanter Vektor der Winkelgeschwindigkeit ω charakterisiert eine Klasse von besonders einfachen Drehbewegungen. Mach meint mit seinem Wortlaut nur das erste. Da er sich 1  Fettdruckbetonung M.C. Diese Formulierung hat man am 15. November 1871 in der kaiserlichenköniglichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften im Mach’s Vortrag gehört (Mach 1872), falls Mach darüber gesprochen hat. Im Jahre 1872 ist die Übersetzung der Prinzipien von J. Ph. Wolfers erschienen, dessen Übersetzung Mach übernommen und in seiner Mechanik (Mach 2012) benutzt hat.

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aber nicht spezifisch ausgedrückt hat, kann man seine Formulierung auch folgendermaßen auslegen: Jeder Körper behält seine Richtung (Richtung der Bewegung, d. h. konkret je nach dem, um was für eine Bewegung es sich handelt, Richtung einer fortschreitenden Bewegung oder Richtung einer Drehbewegung die ist durch die Lage und Orientation der Rotationsachse gegeben und Geschwindigkeit (fortschreitende Geschwindigkeit oder Winkelgeschwindigkeit) bei, solange dieselbe nicht durch äußere Kräfte abgeändert wird. Mathematisch ausgedrückt: (1) v = v0, oder (2) ω = ω0, oder (3) beides: v = v0, ω = ω0.

8.5.2  Mach’s Stellungnahme zu Newtons Axiomata Die vorangegangenen Definitionen spielen eine wichtige Rolle in Mach’s Mechanik, Zweites Kapitel „Entwicklung der Prinzipien der Dynamik“, 7. „Übersichtliche Kritik Newtons Aufstellungen“. Die Kritik ist dort unberechtigt, wo sie von der Ansicht ausgeht, dass das erste Gesetz nur das Translationsträgheitsgesetz formuliert und daher ein Spezialfall des zweiten Gesetzes ist. Die zu beachtenden Stellen sind diese Auszüge (Mach 2012, S. 274): „Definition 3. Die Materie besitzt das Vermögen zu widerstehen; deshalb verharrt jeder Körper, soweit es an ihm ist, in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung.“ „Definition 4. Eine angebrachte Kraft ist das gegen einen Körper ausgeübte Bestreben, seinen Zustand zu ändern, entweder den der Ruhe oder den der gleichförmigen geradlinigen Bewegung.“

Mach (2012, S. 276): „… Prinzipiell ist gegen Newtons Definitionen nichts einzuwenden“. 3. Es folgen nun die Axiome oder die Gesetze der Bewegung, von welchen Newton drei aufstellt: „1. Gesetz. Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.“ „2. Gesetz. Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der gegebenen Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.“ „3. Gesetz. Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Köper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.“

Diesen drei Gesetzen schließt Newton mehrere Zusätze an. Der 1. und 2. Zusatz bezieht sich auf das Prinzip des Kräfteparallelogramms, der 3. auf die Gegenwirkung erzeugte Bewegungsquantität, der 4. auf die Unveränderlichkeit des Schwerpunkts durch die Gegenwirkung, der 5. und 6. auf die relative Bewegung. 4. Man erkennt leicht, dass das 1. und 2. Gesetz durch die vorausgehenden Kraftdefinitionen schon gegeben ist. Nach denselben besteht ohne Kraft keine Beschleunigung und demnach nur Ruhe oder geradlinige gleichförmige Bewegung.“

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Die Rotation erscheint weder in Newtons Definitionen, noch in Mach’s Kommentaren, denn Newtons in directum ist in fehlerhafter Übersetzung dargestellt. Mach befasst sich so nicht mit dem wahren Inhalt Newtons Formulierungen, sondern mit dem Inhalt der fehlerhaften Übersetzungen.

8.6  Z  wei kritische Stellen in Herivel’s Liste mit Newtons Formulierungen des EGB 1662–1684 In Herivels Liste (Herivel 1965, S. 29–30), sieht man die Reihenfolge Newtons Formulierungen des EGB. „First law. This law, inherited by Newton from Galileo and Descartes, formed the central element of his dynamical thought and method. Fortunately it is well documented, appearing in some form or other in most of the major documents throughout the period 1664– 84. The various expressions given to the principle by Newton in these manuscripts are listed below. MS. II, Ax.1, 2. If a quantity once moves it will never rest unless hindered by some external cause and a quantity will always move on in the same straight line (not changing the celerity or determination of its motion) unless some external cause divert it. MS. II, Ax. 100. A body once moved will always keep the same celerity, quantity and determination of its motion. MS. VI, § 4. et multo magis quod corporis sine impedimentis moti velocitas non dici potest uniformis, neque linea recta in qua motus perficitur. MS. VIII, Hyp. 1. Bodies move uniformly in straight lines unless so far as they are retarded by the resistance of the medium or disturbed by some other force. MS. IXa, Hyp. 2. Corpus omne sola vi insita uniformiter secundum rectam lineam in infinitum progredi nisi aliquid extrinsecus impediat. MS. IXc, Lex 1. Sola vi insita corpus uniformiter in linea recta semper pergere si nil impediat. MS. Xa, Lex 1. Vi insita corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in linea recta nisi quatenus viribus impressis cogitur statum illum mutare. MS. XI, Lex 1. Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus a viribus impressis cogitur statum suum mutare.“

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In Herivel’s Liste sind zwei kritische Stellen: Kritische Stelle MS Xa: In diesemManuskript hat Newtons Formulierung des EGB zwei Sätze. Hier ist nur der erste Satz. Kritische Stelle MS XI: Unauffällig erscheint hier der Termin in directum, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit zu erwecken. Eine Ausnahme bildet Cohens Guide (Newton 1999, S. 299): Wherever possible, we have tried to follow Newton’s own choices. For example, on a number of occasions, as in law 1, Newton writes of motion „uniformiter in directum“ which we have rendered „uniformly straight forward,“ where „straight“ has the sense of „in a straight or right line.“ We avoided introducing the words „straight line,“ which Newton himself had consciously abandoned after having written „in linea recta,“ in the tract De Motu in a preliminary version of the first law.9 Clearly, motion „uniformly straight forward“ must be of necessity rectilinear. Of course, every translation is a continuous interpretation.“ 9 Whiteside (Math. Pápers 6:97), using British English, prefers „moving uniformly straight on“.

Wiewohl dieser Standpunkt plausibel erscheint, der Sachverhalt fordert eine klare Differenzierung zwischen in linea recta und in directum. Die Tragweite des Übergangs von in linea recta zu in directum erscheint im rechten Ausdruck in Verbindung mit der Behebung des Mangels in der Formulierung des EGB im Fall MS.  Xa. Dort steht nämlich nur der erste von zwei Sätzen, in denen das EGB formuliert ist.

8.7  Newtons Formulierung des EGB in zwei Sätzen Newton formuliert das EGB .im MS Xa (Herivel 1965, S. 307), folgedermaßen: „Lex 1 Vi insita corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in linea recta nisi quatenus viribus impressis cogitur statum illum mutare. Motus autem uniformis hic est duplex, progressivus secundum lineam rectam quam corpus centro suo aequabiliter lato describit et circularis circa axem suum quemvis qui vel quiescit vel motu uniformi latus semper manet positionibus suis prioribus parallelus.“ „1. Gesetz. jeder Körper beharrt durch inhärente Kraft in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern. Diese gleichförmige Bewegung ist jedoch zweierlei, fortschreitende in der Gerade, die der Körper mit seinem gleichmäßig getragenen Schwerpunkt beschreibt, und rotierende um eine seine Achse, welche entweder in der Ruhe ist oder getragen in gleichmäßiger Bewegung mit ihren früheren Lagen stets parallel bleibt.“

Newton formuliert also in dem Manuskript „De motu corporum in mediis regulariter cedentibus“ (Über die Bewegung der herunter regelmäßig fallenden Körper) das

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EGB explizit mit dem Trägheitsprinzip für fortschreitende sowie für rotierende Körper. Das bedeutet selbstverständlich noch nicht, dass Newton dabei bleibt. Herivel hat es auch in folgender Weise im letzten Absatz des Kap.  5 (Herivel 1965 S. 86), ausgedrückt: „Apart from the reference to axes and centre of matter in Definitions 2 and 5 there is no further reference to rotating bodies in the lectures de Motu. Not is there any indication of any further development of Newton’s thought on this topic in the Principia itself. On the contrary, his erroneous treatment of the precession of the equinoxes would seem to point to a definite retrogression in the thought on this subject compared with the original treatment of it in the problem of the collision of two rotating bodies. There is, however, a very interesting reference to rotation at the end of his enunciation of the principle of inertia in MS. Xa: there he continues Motus autem uniformis hic est duplex, progressivus secundum lineam rectam quam corpus centro suo aequabiliter lato describit et circularis circa axem suum quemvis qui vel quiescit vel motu uniformis latus semper manet positionibus suis prioribus parallelus. It would seem, therefore, that originally Newton had in mind a principle of inertial rotatory motion besides that of translatory motion.“

Dieser Herivels Meinung entspricht jedoch Newtons Vorgehen nicht. Newtons Formulierung des EGB in zwei Sätzen war eine Zwischenstufe zur Formulierung in einem Satz mit einem Kommentar, dessen Inhalt die Aufgabe des Erklärungssatzes übernimmt (Absatz 11, Stadium 5).

8.8  B  eweis der Trägheit der Drehbewegung in EGB durch Newtons Hinweis in den Prinzipien Bei den damaligen Kenntnissen der hervorragenden Gleichmäßigkeit der täglichen Bewegung der Planeten ist verständlich, dass Newton der Trägheit dieser Bewegung den Status eines Gesetzes zuerkannt und in DBG eingegliedert hat. Im dritten Buch der Prinzipien befindet sich nämlich diese Stelle: Principia, Liber Tertius, S. 377: PROPOSITIO XVII.  THEOREMA XV. Planetarum motus diurnos uniformes esse, et librationem Lunæ ex ipsius motu diurno oriri. Patet per motus Legem I. & Corol. 22. Propos. LXVI. Lib. I. Dazu diese Feststellungen: (1) Relevante Angaben könnte man erwarten vor allem von den Autoren der außerordentlich ausführlichen Erklärungen zu den Prinzipien in Lateinischem. PP. Le Seur und F. Jacquier kommentieren diese Propositio XVII (in den Prinzipien ein Drittel der Seite 377) auf drei Seiten Kleinschrift (Newton 1822, Vol. III, S. 51–53), d. h. effektiv mehr als das Zehnfache des kommentierten Textes. In ihrem Kommentar befindet sich aber kein Anzeichen betreffend Newtons Hinweis auf das EGB.

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(2) Wolfers’ Übersetzung: (Wolfers 1872, S. 399): „ §. 21. L e h r s a t z. Die tägliche Bewegung der Planeten ist gleichförmig, und die Libration des Mondes entspringt aus seiner täglichen Bewegung. Dies erhellt aus dem ersten Gesetze der Bewegung und aus §. 107., Zusatz 22. Des ersten Buches.“

Anmerkung zur Numerierung: J. Ph. Wolfers, der Herausgeber, im Vorwort (Wolfers 1872, S. V): „Ueber die Einrichtung dieser Uebersetzung, im Vergleich mit dem Original, bedarf es nur weniger Worte. Sie stimmt im Wesentlichen mit dieser [Druckfehler: diesem] überein, nur hat sich der Herausgeber erlaubt, die einzelnen Sätze mit fortlaufenden Paragraphen zu versehen; hauptsächlich um die einzelnen Sätze auf einfachere Weise anführen zu können.“

(3) Bei Motte, bzw. Cajori heißt es (Newton 1973, S.  423): „PROPOSITION XVII. THEOREM XV That the diurnal motions of the oplanets are uniform, and that the libration of the moon arises from its diurnal motion. The Proposition is proved from the firs Law of Motion, and Cor. XXII, Prop. LXVI, Book I.“ (4) Bei Cohen (Newton 1999, S. 820): Proposition 17 The daily motions of the planets are uniform, and the libration of the Theorem 15 moon arises from its daily motion. This is clear from the first law of motion and book one, prop. 66, corol. 22 Es wäre nicht überraschend, wenn gerade im Cohens gründlichen Guide ein relevanter Kommentar zu dieser Stelle zu finden wäre. Es ist nicht der Fall, der zuständige Text lautet (1999), S. 233: „The next group of propositions deals with the state of rest of the aphelia and nodes of planetary orbits (prop. 14), the principal diameters of these orbits (prop. 15), and the method for finding the eccentricities and aphelia of the orbits (prop. 16). This leads to prop. 17 on the uniformity of the daily motion of the planets and the libration of the moon.“

Es ist also festzustellen, dass diese auf Rotation im EGB ausdrücklich hinweisende Stelle den Übersetzern der Prinzipien offensichtlich entgangen ist und dass dadurch der unbewussten Missinterpretation des Terminus in directum nicht vorgebeugt wurde.

8.9  D  as Schlüsselmanuskript aus dem Winter 1684/85. „Normalized version“. „Diplomatic version“. „Manuscript Images“ Newton hat sein Vorhaben, das EGB in einem Satz zu formulieren, nicht aufgegeben. The NEWTON Project (http://www.newtonproject.ox.ac.uk/texts/new­tons-works/ scientific) ermöglicht seinem Vorgehen in entscheidenden Einzelheiten zu ­folgen.

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Aus Newtons Manuskript (http://www.newtonproject.ox.ac.uk/texts/newtons­works/scientific) bearbeitet im Winter 1684/85 erfahren wir, wie Newton das Trägheitsgesetz für rotierende Körper zusätzlich in das EGB eingeführt hat. Hätten wir nur die definitive Version des Manuskripts zur Verfügung, wäre es unbekannt ­geblieben. Erst The NEWTON Project hat es ermöglicht, durch Veröffentlichung der Texte online in Normalized und Diplomatic Versionen (NV, DV) und sogar, und das ist in unserem Fall grundsätzlich ausschlaggebend, in Manuscripts Images (MI), die Entstehung Newtons Formulierung des EGB zu erforschen. Dadurch hat man den wahren Inhalt des EGB kennengelernt.

8.9.1  „Normalized Version“ Die „normalized Version“ ist der Schlusstext, der keine Angaben über den anfänglichen Wortlaut und dessen Veränderungen darbieten kann. Sie wird hier stark gekürzt präsentiert. De motu corporum in medijs regulariter cedentibus. Definitiones. In diesem Teil des Manuskripts sind die Definitionen in zwei Garnituren präsentiert, mit 12 und mit 18 Definitionen. In der ersten Garnitur verdient Aufmerksamkeit die Definition 10, bzw. ihr Nachsatz. Def. 10. Velocitas est quantitas translationis quoad longitudinem itineris certo tempore confecti. Iter verò est quod corporis puncto medio describitur a Geometris dicto centro gravitatis. Loquor de motu progressivo. Mit dem Nachsatz „Ich spreche von der fortschreitenden Bewegung“ Newton betont, dass die Winkelgeschwindigkeit hier außer Acht ist, die Drehbewegung ist nicht eingeräumt. (Bemerkung: Man kann auch bei einer progressiven Bewegung von der Winkelgeschwindigkeit sprechen, wenn es sich um eine zirkuläre progressive Bewegung handelt.) In der zweiten Garnitur der leere Raum zwischen Definitionen 7 und 12 bei Locus, Quies, Motus, Velocitas (Lage, Ruhe, Bewegung, Geschwindigkeit) Anzeichen sein könnte, dass Newton auch die Drehbewegung einbeziehen wollte. 7 Per pondus ... gravitatio non consideratur.] 8 Locus 9 Quies 10 Motus 11 Velocitas 12 Quantitas motus est quæ oritur ... Leges motus Nach den Definitionen kommen fünf Gesetze, von denen wir das Bild des inhaltlich uns schon bekannten EGB formulierten in zwei Sätzen (Absatz 8.7)mit dem Text des EGB in Diplomatic Version vergleichen konnen.

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Lemmata Die “normalized Version” ist mit zwei Lemmata abgeschlossen. Das erste Lemma (Kräftenarallelogram) erscheint in den Prinzipien unmittelbar nach den axiomatischen Gesetzen als Corollarium I. Es könnte berechtigt als Gesetz-Axiom qualifiziert werden. Newtons Vorgehen zeigt, wie anspruchsvoll er in der Sache Axiomatik war.

8.9.2  „Diplomatic version“ De motu corporum in medijs regulariter cedentibus. Definitiones. Nach den Definitionen folgen sechs Gesetze, von denen hier nur das erste ­gebraucht wird: Leges motus. Lex 1. Vi insi {illeg}ta corpus semper \omne/ perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformitèr in linea recta \in linea recta/ nisi quatenus viribus impressis et impedi\m/entisur cogitur statum illum mutare. Motus autem |uniformis hic est duplex, progressivus secundum lineam rectam quam corpus centro suo æquabilitur lato describit & circularis circa axem suum quemvis qui vel quiescit vel motu uniformi latus semper manet sibi ipsi{illeg} positionibus suis {illeg} |prioribus| parallelus.| Aus der „Diplomatischen Version“ ist schon die „Normalisierte Version“ klar ersichtlich: Lex 1. Vi insita corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformitèr in linea recta nisi quatenus viribus impressis cogitur statum illum mutare. Motus autem uniformis hic est duplex, progressivus secundum lineam rectam quam corpus centro suo æquabilitur lato describit & circularis circa axem suum quemvis qui vel quiescit vel motu uniformi latus semper manet positionibus suis prioribus parallelus. in der „Diplomatic version“, ist mit der dort benutzten Symbolik deutlich veranschaulicht, dass gestrichenes in linea recta durch wieder in linea recta „ersetzt“ wurde. Was aber von der Diplomatic version nicht zu erwarten ist, ist die Veranschaulichung der seltsamen Einschiebung, resp. Platzierung des zweiten „Erklärungssatzes“. Hier spricht auch ohne Worte die so außerordentlich wertvolle „Manuscript Images“ version (Abb. 8), deren ausschlaggebende Schlüsselrole nun geschildert wird. „Manuscript Images“. Seite 45/23r. MI. mit dem EGB.

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Abb. 8.1  The NEWTON Project. Scientific Papers. (http://www.newtonproject.ox.ac.uk/texts/ newtons-works/scientific), Viewing 63

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8.10  N  ewtons Gedankengang im Übergang vom Translation-­ EGB zu Translation-Rotation-EGB Manuscripts Images of The NEWTON Project (http://www.newtonproject.ox.ac. uk/texts/newtons-works/scientific) ermöglichen in Newtons Handschrift seinem Gedankengang Schritt für Schritt zu folgen und den Weg zur Formulierung des EGB mit dem Trägheitsgesetz für Rotation, wie es in einem Satz in den Prinzipien steht, zu beschreiben. Newton hat zunächst in Einvernehmen mit seinen vorherigen Formulierungen des Trägheitsgesetzes für die progressive Bewegung und den dafür geeigneten ­eindeutigen Terminus in linea recta verwendet (Stadium 1): Das entspricht dem ursprünglichen Aussehen der Seite des Manuskripts, wo noch keine Abänderungen gemacht wurden (Stadium 1): Stadium 1 Leges motus. Lex 1. Vi insita corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformitèr in linea recta nisi quatenus viribus impressis cogitur statum illum m ­ utare. Lex 2. Mutationem motus proportionalem esse vi impressæ et fieri secundum lineam rectam quâ vis illa imprimitur. {…} Als Newton den Beschluss gefasst hat, auch das Trägheitsgesetz für Rotation im EGB auszudrücken, musste statt des nur „progressiven“ in linea recta ein Terminus, der sich auch als „drehtauglich“ zeigt, gefunden werden, Das einseitige in linea recta ist deswegen entschieden zu ersetzen, wird es also gestrichen (Stadium 2): Stadium 2, Stadium 3 Leges motus. Lex 1. Vi insita corpus omne perseverare in statu suo quies-cendi vel movendi uniformitèr nisi quatenus viribus impressis cogitur statum illum mutare. In dem Augenblick, in dem Newton in linea recta gestrichen hat, hatte er aber den begehrten Terminus noch nicht vorbereitet. Es folgt also an die Reihe das Suchen eines geeigneten Terminus (Stadium 3). Wie lange das dauerte, wissen wir nicht, es konnten wenige Minuten, es konnten viele Wochen sein, nach denen sich Newton entschloss mit dem Suchen aufzuhören und seinen Beschluss bezüglich der neuen Fassung des EGB sehr verständlich klarzumachen. Er nimmt den vorherigen Wortlaut mit in linea recta wieder auf, schreibt in linea recta über das schon gestrichene wieder, und fügt einen langen Erklärungssatz bei. Man sieht in der Handschrift, dass nur die zwei ersten Worte und ein Teil des dritten Wortes des Erklärungssatzes (Motus autem uni) auf der Zeile Platz haben, auf welcher der ursprüngliche Text des EGB endet. Der Satz setzt fort zusammengedrückt quer auf dem rechten Rande der Seite. (Bemerkung: Im Diplomatischen Text ist der Erklärungssatz fehlerhaft als schon Bestandteil der ursprünglichen Wortlautes des EGB dargelegt.) So ist die Grundlage für die Formulierung des EGB, wie sie in der „normalized version“ steht, entstanden (Stadium 4). Stadium 4 Leges motus. Lex 1. Vi insita corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformitèr in linea recta nisi quatenus viribus impressis cogitur statum illum mutare. Motus autem uniformis hic est duplex, progressivus secundum lineam rectam quam corpus centro suo æquabiliter lato describit & circularis circa axem suum

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quemvis qui vel quiescit vel motu uniformi latus semper manet positionibus suis prioribus parallelus. Newtons Bestrebungen das EGB in einem Satz zu formulieren dauern an. Er ist zu seinem Ziel gelangt, nachdem er sich entschloss in directum als den wissenden Terminus zu wählen. Gleichzeitig führt er den Inhalt des Erklärungssatzes metaphorisch im zugefügten Kommentar an und gibt dem ersten Gesetz der Bewegung diese für Principia festgelegte Formulierung (Stadium 5): Stadium 5 LEX I. Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendiuniformiter in directum, nisi quatenus a viribus impressiscogitur statum illum mutare. Projectilia perseverant in motibus suis, nisi quatenus a resistentia aeris retardantur, et vi gravitatis impelluntur deorsum. {Motus autem uniformis hic est duplex, progressivus secundum lineam rectam quam corpus centro suo æquabilitur lato describit …} Trochus, cujus partes cohaerendo perpetuo retrahunt sese a motibus rectilineis, non cessat rotari, nisi quatenus ab aere retardatur. {… & circularis circa axem suum quemvis qui vel quiescit …} Majora autem Planetarum et Cometarum corpora motus suos et progressivos et circulares in spatiis minus resistentibus factos conservant diutius. {vel motu uniformi latus semper manet positionibus suis prioribus parallelus.} Die Parallelität des Inhaltes der drei Sätze des Kommentars mit dem Inhalt des Erklärungssatzes ist so auffällig, dass sie bezüglich Newtons Gedanken keine weitere erläuternde Interpretation braucht. Erwähnenswert ist jedoch der Fakt, dass Newton den Wortlaut, wie schon gesagt (Abs. 8.3.1), doch minuziös abgeändert hat (Principia 1726) in einer Weise, die seinen Sinn für die kleinsten Feinheiten erweist. Das mehrdeutige in directum hat er jedenfalls nicht verlassen, ähnlich wie den Hinweis im Dritten Buch, dass die gleichförmige Rotation der Planeten in Übereinstimmung mit dem ersten Gesetz ist.

8.11  P  rincipia: Indizien und Beweis. The NEWTON Project: Dokumentation von Newtons Gedankengang Das Thema des Inhalts des EGB ist nicht neu. Es war schon 1975 angetastet (Černohorský 1975), indem die Translation-Rotation-Struktur des Kommentars als Impuls, der die Aufmerksamkeit erweckt und zu Erwägungen betreffend die Rotation geführt hat. Die Übersicht vieler verschiedensprachigen Übersetzungen (Černohorský 1977) hat die allgemein ausnahmslos angenommene Ansicht, dass das EGB ein Spezialfall des zweiten Gesetzes ist, bestätigt. Im Aufsatz (Černohorský 1979) ist aber schon auf Newtons Formulierung des EGB in zwei Sätzen in einem Manuskript hingewiesen, mit ausführlicher Beschreibung der Bewegungen, die im EGB von Newton gemeint werden. Der wichtigste Hinweis betrifft den Beweis der Präsenz der Rotation im EGB. Wenn Newton im Dritten Buch der Prinzipien von der Planetenbewegung spricht, sagt er explizit, dass die Gleichmäßigkeit der Tagesbewegungen, d. h. deren gleichförmige Rotation, durch das EGB gegeben ist. In diesen Zusammenhängen ist auch der Übergang im linguistischen Paar in linea recta/in directum diskutiert.

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Mit den erwähnten Argumenten ausgestattet kam das Problem bei verschiedenen Gelegenheiten zu Veröffentlichung (Černohorský 1987, 1991, 2003, 2010, 2012; Černohorský und Fojtíková 1988). So überzeugend die Präsentation des Problems erscheinen mag, ist es doch nicht überraschend, dass man immer noch an irgendwelche noch unbekannte Tatsachen denken könnte, die im Sinne Mach’s Hinweises die Würde und die Unantastbarkeit des „päpstlichen Ausspruch“ zweifellos wahren würden. Diesen eventuellen Bestrebungen hat in unserem Fall The NEWTON Project Hoffnung auf Erfolg genommen, indem es durch online Veröffentlichung von Newtons Manuskripten in ihrer originalen handschriftlichen Form keine Zweifel bezüglich Newtons Vorhaben zulässt[Abs. 8, 9, Abb. 8.1].

8.12  M  ach’s Formulierung (1872) nach anderthalb Jahrhunderten (2016) verwertbar In Paraphrase an Mach (Abs. 8.5.1) kann man auch von dem wahren Translation-­ Rotation-­Inhalt des EGB mit seinen Worten sagen „Man kann das vielleicht am besten so aussprechen: Jeder Körper behält seine Richtung und Geschwindigkeit bei (beides bezogen auf die progressive Bewegung sowie auch auf die Drehbewegung), solange dieselbe nicht durch einwirkende Kräfte abgeändert wird.“

Mach’s äußere Kräfte ist mit einwirkende Kräfte zu ersetzen, denn auch innere Kräfte können Richtung und Geschwindigkeit des Körpers ebenfalls ändern. Betreffend Mach’s Kritik an Newton, dass „das 1. und 2. Gesetz durch die vorausgehenden Kraftdefinitionen schon gegeben ist“, die bleibt aufrecht. Newton hat den vorherigen Manuskript-Terminus in linea recta für Principia durch in directum natürlich sowohl in den Definitionen wie auch in den Gesetzen ersetzt. Was man aus dem „pleonastischen“, wie es Mach charakterisiert, ausscheiden muss, ist die Ansicht, dass das EGB ein Spezialfall des zweiten Gesetzes ist, und dessen Folgerungen. Was nicht ohne Erwähnung bleiben sollte, ist der Fakt, dass Mach’s Formulierung fachliche Aufmerksamkeit verdient, wie sie im physikalischen Unterricht behilflich sein kann.

8.13  Textuelle und mathematische Form Newtons EGB Wichtiger als der Beweis des wahren Inhalts des ersten Gesetzes der Bewegung erscheint der Beweis Newtons mangelfreier Axiomatik. Die Prinzipien der Trägheit für Translation und für Rotation sind aus den beiden Impulssätzen ableitbar, und zum Ausbauen dieser genügt das 2. und das 3. Gesetz. In Newtons Zeit war der zweite Impulssatz noch nicht zur Verfügung und das Prinzip der Trägheit für

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­ otation fand also zu Recht seinen Platz im ersten Gesetz und rechtfertigte seine R Eigenständigkeit, wörtlich ausgedrückt 1. Gesetz. Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, resp. der gleichförmigen Bewegung um eine unverändert orientierte Achse, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern, und in Vektorschreibweise kurzgefasst: 1. Gesetz: v = v0, ω = ω0.

8.14  Zusammenfassung Zusammenfassend kann man den wahren Translation-Rotation-Inhalt des ersten Gesetzes der Bewegung durch drei Tatsachen eindeutig bewiesen sehen. Sie sind in verschiedener Verbindung mit den Prinzipien. Die erste Tatsache liegt außerhalb der Prinzipien. In deren Vorgeschichte war der terminologische Übergang von in linea recta zu in directum, von der expliziten Formulierung des Translation-Rotation Inhaltes des ersten Gesetzes mit in linea recta in zwei Sätzen zu der Formulierung in einem Satz mit in directum. Die zweite Tatsache verbindet die erste mit der Prinzipien-­Formulierung mittels des Kommentars mit der Struktur Translation-­Rotation-­Superposition. Die dritte Tatsache ist Newtons Hinweis in den Prinzipien, dass die gleichförmige Rotation der Planeten durch das erste Gesetz gegeben ist. Sie ist in ihrer klaren Aussage selbsttragend und braucht keine Stützen, dessenungeachtet ist aber ihre Bedeutung in verständnisvoller Mitwirkung mit den beiden ersten auch für Befürworter der „Würde und Unantastbarkeit“ der während drei Jahrhunderten benutzten Formulierung doch besser zu verstehen. Ernst Machs eigentümliche lapidare Formulierung hat die „Würde und Unantastbarkeit“ des Gewohnten nicht verletzt. Mach konnte nicht wissen, dass seine „mathematische“ Formulierung auch für das von Newton gemeinte gehaltsreichere Gesetz vorzüglich geeignet ist  – er hat den wahren Inhalt des ersten Gesetzes doch nicht gekannt und nicht erkannt. The NEWTON Project hat also zum Beweis des wahren Inhalts von Newtons erstem Gesetz der Bewegung nicht nur beigetragen, sondern seine Eindeutigkeit meritorisch verständlich ermöglicht: Newton wollte zwei Gesetzmäßigkeiten in einem kurzen Satz formulieren. Das ist ihm beim Beibehalten der gewohnten Formulierung des Trägheitsprinzips für fortschreitende Bewegung durch Substituierung in directum für in linea recta gelungen. Machs Formulierung „Jeder Körper behält seine Richtung und Geschwindigkeit bei, solange dieselbe nicht durch äußere Kräfte abgeändert wird“, gemeint nur für fortschreitende Bewegung, bedarf bei Anwendung auf die Rotation des Körpers keiner Änderung, nur muss man wissen, dass die Termini Richtung und Geschwindigkeit bivalent verstanden werden sollen.

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8.15  Epilog Newtons Vorhaben entspricht der Ansicht, dass das, was zusammengehört, zu vereinigen ist. Anläßlich der Mach Gedenkveranstaltungen 2016 kann man metaphorisch an ein Beispiel für den mit Mach assoziierten Antagonismus erinnern. Die Mach-Gedenktafel aus dem Jahre 1938 trägt Mach’s Relief und den Text „In diesem Hause ist der große Naturforscher und Philosoph geboren“ nebeneinander vereinigt. Heute sieht man den Text und das Relief an der Frontwand des Chirlitzer ehemaligen Erzbischofschlösschens, Machs Geburtshaus, den Text und das Relief nicht vereinigt, sondern geteilt. Die Geschichte Mitteleuropas der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und verschiedene Umstände haben es so mit sich gebracht (Černohorský und Fojtíková 1988; Černohorský 2003; Dub und Musilová 2010): Die Gedenktafel wurde (1) 1938 feierlich installiert, (2) 1943 bei hellem Tag öffentlich für die Kriegsmetallsammlung weggebracht (aber doch gerettet, nicht bekannt, wie). (3)1948 wurde die Tafel ohne irgendeinen Akt an seinem ursprünglichen Ort zwar wieder angebracht, aber (4) 1950 in dunkler Nacht heimlich von den damaligen Machthabern weggeräumt (Černohorský und Fojtíková 1988) und später absichtlich beschädigt. In den sechziger Jahren hat dieses Kunstwerk sein Schicksal im Einschmelzen gefunden. Die Zweigstelle Brno der Tschechoslowakischen Union der Mathematiker und Physiker hat es noch anderthalb Jahre vor der Samtenen Revolution November 1989 mit Erfolg ereicht, die ersten Brünner Ernst Mach-Tage zu veranstalten und in deren Rahmen eine bescheidene Granitsteingedenkplatte am Geburtshaus des Naturforschers und damals immer noch unerwünschten Philosophen erscheinen zu lassen (Abb. 8.2 und 8.3). Die Enthüllung der neuen Gedenktafel und des Reliefs waren Höhepunkte der ersten (1988) und der zweiten (2008) Brünner Ernst Mach-Tage. Im Lichte der Vereinigungbestrebungen von Isaac Newton und der durch äußere Umstände

Abb. 8.2  Ernst Mach-Gedenktafel aus dem Jahre 1938. Enthüllt am 13.02.1938

8  Ernst Mach und der wahre Inhalt von Newtons erstem Gesetz der Bewegung

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Abb. 8.3  Ernst Mach-­Gedenktafel und Mach-Relief. Die Gedenktafel enthüllt am 14.05.1988, das Relief enthüllt am 17.05.2008

verursachten Teilung des Textes und des Reliefs bei Ernst Mach wird einem umsomehr auch hundert Jahre nach seinem Tode der Wert der Einheitlichkeit seines vielseitigen hinterlassenen Gedankengutes bewusst.

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M. Černohorský

Černohorský, M. 1979. Das Problem der Interpretation Newtons Formulierung des ersten Gesetzes der Bewegung (in Tschechisch). Folia facultatis scientiarum naturalium Universitatis Purkynianae brunensis 20 (1979), Physica 28, opus 3, S. 5–32. Brno: Univerzita J. E. Purkyně. Černohorský, M. 1987. The rotation in Newton’s wording of his first law of motion. In Proceedings of the Lublin Tercentary Celebration „Isaac Newton’s Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“, Hrsg. W. A. Kamiński, 15–17 Oct 1987, Lublin, S. 28/46, 219 S. Černohorský, M. 1991. Mach’s criticism on Newton’s axiomatization and the rotation in Lex I. In Ernst Mach and the development of physics. Conference papers, Hrsg. V. Prosser und J. Folta, 267–270. Prague: Karolinum, 531 S. Černohorský, M. 2003. Dreimalige Anbringung der Ernst-Mach-Gedenktafel in Brünn-Chirlitz. Würzbutger medizinhistorische Mitteilungen 22:345–371. Černohorský, M. 2010. Newtons Translation/Rotation-Formulierung des ersten Gesetzes der Bewegung (in Tschechisch). In Ernst Mach – Physik– Philosophie – Bildung (in Tschechisch), Hrsg. P. Dub und J. Musilová, 248–254. muni PRESS, Masaryk Universität, 284 S. Černohorský, M. 2012. Translation-Rotation erstes Axiom 1687 (1726) im Lichte Newtons Handschriften (in Tschechisch). Tschechoslowakische Zeitschrift für Physik Čs. čas. fyz 52:331–340. Černohorský, M., und M. Fojtíková, Hrsg. 1988. Hommage à Ernst Mach. Brünner Ernst Mach-­ Tage 1988. Fachgruppe Pädagogische Physik der Union der tschechoslowakischen Mathematiker und Physiker. Brno, 180 S. (In Tschechisch.) Chvolson, O. D. 1923. Kurs fiziki I. Izd. 5. Gosudarstvennoe Izdatelstvo (Izd. I.: 1897), Berlin, 676 S. Dub, P., und Musilová, J., Hrsg. 2010. Ernst Mach – Physik – Philosophie – Bildung. Brünner Ernst Mach-Tage 2008. muni PRESS. Masaryk Universität, Brno, 284 S. (In Tschechisch.) Galili, I., und M. Tseitlin. 2003. Newton’s first law: Text, translations, interpretations and physics education. Science & Education 12:45–73. Herivel, J. 1965. The background to Newton’s Principia. Oxford: Clarendon Press. Mach. 1872. Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Vortrag gehalten in der k. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften am 15. Nov. 1871. Prag: J. G. Calve’sche k. k. Univ.-Buchhandlung. Mach, E. 2012. Die Mechanik in ihrer Entwickelung. Historisch-kritisch dargestellt. Ernst Mach-Studienausgabe, Bd. 3. Eingeleitet und bearbeitet von Gereon Wolters und Giora Hon. Berlin: XENOMOI Verlag. Newton, I. 1723. Philosophiae Naturalis Principia Mthematica. Amstelodami: Sumptibus Societatis. Newton, I. 1822. Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Perpetuis commentariis illustrata, communis studio PP. Thomae Le Seur et Francisci Jacquier. (Editio nova. Glasguae, Bd. I, II, III – 1822. Romae: Editio prima, Bd. I – 1739; Bd. II – 1740; Bd. III – 1742.) I – 431 S; II – 320 S; III – 344. Newton, I. 1846. The mathematical principles of natural philosophy by Isaac Newton. Translated by Andrew Motte. 1846. The first „American“ edition of Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Edited by N. W. Chittenden. New York. https://en.wikisource.org/wiki/The_Mathematical_Principles_of_Natural_Philosophy_(1846) Newton, I. 1872. Sir Isaac Newton’s Mathematische Principien der Naturlehre. 1872. Mit Bemerkungen und Erläuterungen herausgegeben von Prof. Dr. J. Ph. Wolfers. Berlin: Verlag von Robert Oppenheim, 686 S. Newton, I. 1973. Sir Isaac Newton’s Mathematical principles of natural philosophy and his system of the world. Translated into English by Andrew Motte in 1729. 1934. The translation revised, and supplied with an historical and explanatory appendix, by Florian Cajori. Berkeley/Los Angeles: University of California Press; London: Cambridge University Press, Bd. I – sixth printing 1966; Bd. II – seventh printing, 1973, 680 S. Newton, I. 1936/1989. Mathematical principles of natural philosophy. Moscow: Nauka, Translated into Russian by A. N. Krilov. (Zitiert nach Galili und Tseitlin 2003) Newton, I. 1966. Principes Mathématiques de la Philosophie Naturelle. Traduction de la Marquise Du Chastellet augmentée des commentaires de Clairaut. Paris: édition Blanchart (fac-simile d’une édition de 1759).

8  Ernst Mach und der wahre Inhalt von Newtons erstem Gesetz der Bewegung

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Newton, I. 1985. De Philosophiae Naturalis Principia Mthematica. LesPrincipes Mathématiques de la Philosophie Naturelle. Préface de Stephen Hawking, S.  10. Traduction nouvelle par Marie-­Françoise Biarnais. Christian Bourgoi Éditeir, Ort der Ausgabe nicht angegeben, 379 S. Newton, I. 1999. THE PRINCIPIA. Mathematical principles of natural philosophy. A new translation by I. Bernard Cohen and Anne Whitman assisted by Julia Budenz. Preceeded by a guide to Newton’s PRINCIPIA by I. Bernard Cohen. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Newton, I. 2010. The NEWTON Project. Scientific papers. Viewing 63. http://www.newtonproject.ox.ac.uk/texts/newtons-works/scientific. Tascón, C. L. 1998. Mecánica Newtoniana. Bogotá: Academia Colombiana de Ciencias Exactas, Físicas y Naturales, 277 S. Thomson, W., und P. G. Tait. 1879. Treatise on natural philosophy. Bd. I. Part I. New Edition. Cambridge: Cambridge University Press, XVII + 508 S.

Kapitel 9

Mach, Boltzmann und die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien Wolfgang L. Reiter

Zusammenfassung  Die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien entwickelte sich mit ihrer Gründung 1847 und zunehmend ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert neben den Universitäten der Monarchie als einer der zentralen Orte des wissenschaftlichen und akademischen Lebens. Die Mitgliedschaft in der Akademie als Gelehrtengesellschaft gewann damit einen hohen Stellenwert im akademischen Gratifikationssystem der Zeit. In diesem biographisch und institutionengeschichtlich orientierten Beitrag werden Ernst Mach und Ludwig Boltzmann im Kontext ihrer Mitgliedschaften in der Wiener Akademie der Wissenschaften näher betrachtet, da deren Wirken in der Akademie bisher in der einschlägigen Literatur nur sporadisch und kaum systematisch gewürdigt wurde. Ausgehend von der Darstellung des formalen Vorgangs bei den Wahlen zu korrespondierenden bzw. wirklichen Mitgliedern der Akademie werden die Aufnahmen von Mach und Boltzmann in die Akademie in ihren zeitlichen Verläufen präsentiert und deren Mitwirkung und Funktionen in Kommissionen, Redaktionen, Archiven und anderen Einrichtungen der Akademie dargestellt. Hervorzuheben ist auch die Rolle der Akademie und deren Publikationsorgane für die Verbreitung der wissenschaftlichen Arbeiten der beiden Gelehrten und deren Rezeption im beginnenden Wandel einer sich herausbildenden Internationalisierung der wissenschaftlichen Kommunikation. Schlüsselwörter  Ernst Mach · Ludwig Boltzmann · Wiener Akademie der Wissenschaften · Gelehrtengesellschaft · Mitgliedschaft in der Akademie · Karriereverlaeufe · Thermodynamik · Atomistik · Energetik

Mein besonderer Dank gilt Dr. Stefan Sienell, Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, für seine stete Hilfe, kompetente Beratung und kritische Durchsicht des Manuskripts. Jakob Yngvason, Herbert Matis und Bettina Reiter danke ich für ihre Anregungen, Hilfe und Kritik. W. L. Reiter (*) Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7_9

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W. L. Reiter

Ort, Zeit: Die Wiener Akademie der Wissenschaften, gegründet 1847, neun Jahre, nachdem Ernst Mach (1838–1916) und drei Jahre, nachdem Ludwig Boltzmann (1844–1906) das Licht der Welt erblickten. Die Akademie erreichte das Licht einer verzögerten Aufklärung in Österreich mit dem späten Segen des allmächtigen Staatskanzlers, des Fürsten Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) am Vorabend der 1848er Revolution, die ihn im März dieses Jahres zum Rücktritt und zur Flucht nach London zwang.1 Am 26. Oktober 1903 hält Boltzmann seinen „Antrittsvortrag zur Naturphilosophie“ in der Nachfolge der an der Wiener Universität seit 1901 verwaisten Lehrkanzel Machs zur „Philosophie, insbesondere Geschichte der induktiven Wissenschaften“, die nunmehr zum Lehrauftrag an Boltzmann mit der Dedikation „Philosophie der Natur und Methodologie der Naturwissenschaften“ abgemagert worden war. Boltzmann erinnert sich bei seinem Antrittsvortrag, als „in gewisser Hinsicht Nachfolger Hofrat Machs“, an gemeinsame Begebenheiten: „Ich debattierte einmal im Sitzungssaal der Akademie aufs lebhafteste über den unter Physikern gerade wieder akut gewordenen Streit über den Wert der atomistischen Theorien mit einer Gruppe von Akademikern, unter denen sich Hofrath Professor Mach befand. […] In jener Gruppe von Akademikern sagte bei der Debatte über die Atomistik Mach plötzlich lakonisch: ‚Ich glaube nicht, daß die Atome existieren.‘“2 Die an dieser Episode sich emporrankenden Interpretationen reichen bis zur Unterstellung, Boltzmanns Freitod wäre eine Folge des „Atomismusstreits“ zwischen Mach und Boltzmann gewesen. Boltzmann selbst bleibt in seinem Vortrag ganz kühl: „Dieser Ausspruch ging mir im Kopf herum.“ Die Kontroversen um die Atomistik und die Gemeinsamkeiten der beiden in ihrem Ringen um wissenschaftsphilosophische und im Besonderen epistemologische Probleme der Naturwissenschaften sind zusammen mit ihren Lehrtätigkeiten an der Universität Wien im Bereich der Philosophie die Klammer dieser beiden freundschaftlich verbundenen Physiker-Philosophen, die als Mitglieder der Akademie in persönlichem Kontakt standen. Dies ist nicht der Ort, diesem Verhältnis weiter zu folgen. Vielmehr soll hier in gebotener Kürze zusammenfassend dem in der einschlägigen Literatur nur sporadisch behandelten Werdegang Machs und Boltzmanns als Mitglieder der Wiener Akademie nachgegangen werden: den Prozeduren der Wahlvorgänge zu „korrespondierenden“ und „wirklichen“ Mitgliedern und beider Aufgaben und Funktionen im Rahmen der Akademie. Zum Verständnis der formalen Erfordernisse und Vorgänge der Wahlen und der organisatorischen Rahmenbedingungen sei hier einleitend kurz der Aufbau und die organisatorische Gliederung der Wiener Akademie skizziert, insoferne sie für unsere Darstellung relevant sind. 1  Hedwig Kadletz-Schöffel, Der Tarpäische Fels ist die wahre Wohnstätte der Geister. Der Briefwechsel zwischen Erzherzog Johann und Metternich als Quelle für die Gründungsgeschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, in: Günther Hamann (Hrsg.): Aufsätze zur Geschichte der Naturwissenschaften und Geographie. Wien 1986 (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse. 475.), S. 119–135. 2  Populäre Schriften von Prof. Ludwig Boltzmann, Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth 1905, Nr. 18, Ein Antrittsvortag zur Naturphilosophie. S. 338–344. Ludwig Boltzmann: Die Prinzipien der Mechanik (1902) und Ein Antrittsvortrag zur Naturphilosophie (1903). Kommentar von Wolfgang L. Reiter. In: Thomas Assinger/Elisabeth Grabenweger/Annegret Pelz (Hg.), Die Antrittsvorlesung. Wiener Universitätsreden der Philosophischen Fakultät. Göttingen: V&R unipress Vienna University Press 2019, 148.

9  Mach, Boltzmann und die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien

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Die Gelehrtengesellschaft der Wiener Akademie der Wissenschaften ist in zwei Klassen gegliedert, die philosophisch-historische (bis Mai 1848 historisch-philologische) und die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse mit jeweils 54 wirklichen Mitgliedern und 72 je zur Hälfte inländischen (36) und ausländischen (36) korrespondierenden Mitgliedern; sowie weiters 8 inländischen und 16 ausländischen Ehrenmitgliedern – gemäß der Geschäftsordnung der Akademie von 1859. Wirkliche Mitglieder werden in geheimen schriftlichen Wahlen durch die Gesamtsitzung aufgrund von Wahlvorschlägen einer Klasse gewählt, wobei für jeden zu besetzenden Platz ein Dreiervorschlag (Terne) zu erstellen ist und die Abstimmung über die Terne bis zum Erreichen einer absoluten Stimmenmehrheit erfolgt. Als Kriterien für die Erstellung eines Wahlvorschlags einer Klasse gelten (a) die ausreichende Vertretung eines der jeweiligen Klasse zugehörigen Fachs oder (b) ohne Berücksichtigung dieser auf die Vollständigkeit der Vertretung abzielende Vorgangsweise, die Wahl bloß nach anerkannten wissenschaftlichen Leistungen vorzunehmen. Wahlvorschläge werden von den wirklichen Mitgliedern eingebracht und in einem doppelten Wahlvorgang werden sodann von den Mitgliedern der Klasse Wahllisten mit den Namen jener zu wählenden Mitglieder erstellt, die in einem zweiten Wahlgang drei oder mehr Stimmen erhalten haben. Für die Wahlen zu korrespondierenden Mitglieder gilt eine leicht modifizierte Vorgangsweise; die Wahlen von Ehrenmitgliedern wird ohne die Bildung einer Terne in einer Wahlsitzung der Gesamtakademie vollzogen. Die Wahl bedarf der Allerhöchsten Bestätigung durch Sr. Kais. und königl. Apost. Majestät, die von dem vom Kaiser bestellten Kurator der Akademie zu erwirken ist. Die Ernennung durch den Kaiser erfolgt aufgrund des Ternenvorschlags, wobei dieser die jeweils an erster Stelle genannte Person wählt und so dem Vorschlag der Akademie folgt.3 Die Leitung der Geschäfte der gelehrten Gesellschaft obliegt dem Präsidenten und seinem Stellvertreter, dem Vizepräsidenten, die beide auf drei Jahre gewählt werden, sowie den Sektretären der beiden Klassen, bestellt auf vier Jahre, wobei einer der beiden die Funktion eines geschäftführenden Generalsekretärs innehat – Präsident und Vizepräsident sowie Generalsekretär und Sekretär müssen dabei jeweils verschiedenen Klassen angehören. Diese Personen bilden das Präsidium der Akademie. Die Gesamtsitzungen der beiden Klassen sowie die Klassensitzungen werden von Präsidenten oder Vizepräsidenten geleitet; die jährliche, um den Jahrestag der Gründung der Akademie (30. Mai) stattfindende feierliche Sitzung dient dem Rechenschaftsbericht über das abgelaufene Jahr. Wenngleich die Akademie mit ihrem Sitz in Wien ein deutliches Übergewicht von in Wien ansässigen Mitgliedern aufwies, so war es die klare Gründungsabsicht, die Wiener Akademie Wissenschaftlern aus allen Ländern Österreichs zu öffnen.4

3  Wahlordnung gemäß Geschäftsordnung der Kaiserlichen Akademie 1859. Vgl. dazu auch Alfons Huber, Geschichte der Gründung und der Wirksamkeit der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften während der ersten fünfzig Jahre ihres Bestandes. Wien: In Kommission bei Carl Gerold’s Sohn 1897; Richard Meister, Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847– 1947. Wien: Druck und Verlag Adolf Holzhausen Nfg. 1947, S. 221–235. 4  Die urspüngliche Regelung, wonach 24 wirkliche Mitglieder ihren Wohnsitz in Wien haben müssen (Richard Meister, a.a.O., S. 221, 222), wurde schon 1848 fallen gelassen.

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Die Jahresdotation aus dem „Staatsschatze“ betrug gemäss Statut 1847 40.000 fl. C.M. und wurde 1897 auf 50.000 fl. (100.000 Kronen) nominell erhöht, was jedoch eine Wertminderung der Dotation gegenüber 1847 bedeutete;5 hiezu kamen eine Druckkostenpauschale sowie Druckkostenzuschüsse für die Finanzierung der ausgedehnten Publikationstätigkeit der Akademie (Denkschriften, Abhandlungen, Sitzungsberichte, Anzeiger, Almanache sowie verschiedene Werke, deren Herausgabe nicht anders zu bewerkstelligen war). Ein wesentliches Element der Publikationstätigkeit der Akademie war der Schriftentausch mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen im Inland und im Ausland, wobei dieser Schriftentausch signifikant zu einer weiten Verbreitung der Publikationen der Akademie auch im Ausland beitrug.6 Bedienten sich Mach und Boltzmann verschiedener, auch ausländischer Zeitschriften für die Veröffentlichung ihrer Forschungen, so sind es die beiden Publikationsorgane der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien, die Sitzungsberichte und der Anzeiger, die von ihnen in einem hohen Ausmass, auch wegen deren Sichtbarkeit in der Fachwelt, wozu u. a. der Schriftentausch nicht unwesentlich beitrug, für die Publikation ihrer experimentellen und theoretischen Arbeiten herangezogen wurden.7 Der Anzeiger und vor allem die Sitzungsberichte waren bis zum Ende der Monarchie die dominante und repräsentative Publikationsplattform für die mathematische und naturwissenschaftliche Forschung in Österreich. Neben der Verbreitung der Druckschriften als zentralem Ort der wissenschaftlichen Produktivität der Akademie wurden statutengemäß für eingereichte Abhandlungen je zwei von den Klassen ausgelobte Preise vergeben, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts durch namhafte Legate verschiedener Mäzene erweitert wurden (so z.  B. durch den 1862 gestiftete Ignaz-L.-Lieben-Preis, dotiert aus den Zinsen des Stiftungskapitals in der Höhe von 6000 fl., der erste und renommierteste Förderungspreis auf dem Gebiet der Naturwissenschaften in Österreich).8 Nicht unerwähnt  Die Summe von 40.000 fl. (1847) entspricht einem heutigen Gegenwert von ca. 635.000 EURO, 50.000 fl. (1897) entsprechen 590.000 EURO. 6  Im Jahr 1885 belief sich die Gesamtzahl der getauschten Schriften auf 697, davon die der math.-nat. Kl. auf 293 (95 mit dem Inland, 198 mit dem Ausland), die der phil.-hist. Kl. auf 136 (48 mit dem Inland, 88 mit dem Ausland) und jene der Gesamtakademie auf 268 (171 mit dem Inland, 97 mit dem Ausland); die Gesamtzahl der getauschten Schriften wuchs im Jahr 1895 auf 987, davon die der math.-nat. Kl. auf 616 (241 mit dem Inland, 375 mit dem Ausland) und die der phil.-hist. Kl. auf 371 (186 mit dem Inland, 185 mit dem Ausland); zu beachten ist, dass für das Jahr 1885 die Schriftentauschpartner in drei (Almanach 1885), im Jahr 1895 in zwei Kategorien (Almanach 1895) aufgeteilt wurden; dies bedeutet, dass in der für die Gesamtakademie 1885 ausgewiesenen Zahl auch math.-nat. Publikationen enthalten sind. Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 35. Jg, Wien: In Kommission bei Carl Gerold’s Sohn 1885, S. 65 und Almanach, 45. Jg, Wien: In Kommission bei Carl Gerold’s Sohn 1895, S. 83. 7  Für die Bibliographien von Mach und Boltzmann siehe Joachim Thiele, Ernst Mach – Bibliographie, Centaurus 1963, Bd. 8, S. 189–237 und Ilse Maria Fasol-Boltzmann und Gerhard Ludwig Fasol, Ludwig Boltzmann (1844–1906). Zum hundertsten Todestag. Wien/New York: Springer 2006, S. 175–188. 8  6000 fl. (1862) entsprachen ca. 15 % der Gesamtdotation der Akademie und entsprechen heute einem Betrag von ca. 85.000  EURO.  Zum Ignaz-L.-Lieben-Preis vgl. http://www.i-l-g.at (10.1.2017). R. Werner Soukup (Hrsg.): Die wissenschaftliche Welt von gestern. Die Preiträger des 5

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kann eine weitere Aktivität der Akademie bleiben, da sie darauf abzielte, aktuellen wissenschaftlichen Fragen und längerfristigen Vorhaben den nötigen organisatorischen Rahmen durch die Gründung von Komissionen zu bieten, in denen auch Mach und Boltzmann aktiv waren. Die Selbsterneuerung der Akademie im Wege der Zuwahl von neuen wirklichen Mitgliedern der beiden Klassen und die damit einhergehende Rekrutierungsstrategie der als peers fungierenden Klassenmitglieder folgt einer einfachen zweistufigen Vorgangsweise: (1) der Wahl zum korrespondierenden Mitglied (k. M.) im Inland gefolgt im zeitlichen Abstand von mehreren Jahren und abhängig von einer entsprechend verfügbaren Position in einer der Klassen bzw. deren Fachgebieten von (2) der Wahl zum wirklichen Mitglied (w. M.). Durchgehend kann man feststellen, dass die Wahl zum w. M. zeitlich in der Regel erst nach einer Berufung auf eine ordentliche Professur an eine der österreichischen Universitäten erfolgte. Das Alter als Parameter für die Zuwahl als wirkliches Mitglied hängt auf Grund der Deckelung deren Anzahl u. a. von Eintrittsalter der schon gewählten Mitglieder seit 1847 ab (unter der Annahme einer vergleichbaren Lebenserwartung der Beteiligten); so verwundert es nicht, dass etwa Josef Stefan (1835–1893) 1865 in seinem 30., Viktor von Lang (1838–1921) 1867 in seinem 29. Lebensjahr zu w. M. gewählt wurden, Mach 1880 in seinem 42. Lebensjahr und Boltzmann 1885 erst in seinem 47. Lebensjahr zu w. M. gewählt wurden, wobei sogleich angefügt sei, dass Mach 1867 bereits in seinem 29. Lebensjahr und Boltzmann 1874 im 30. Lebensjahr zu k. M. gewählt wurden. Ein ähnlicher Trend ist bei dem etwas jüngeren Franz S. Exner (1849–1926) erkennbar, der 1885 in seinem 36. Lebensjahr zum k. M. und 1896 in seinem 47. Lebensjahr zum w. M. gewählt wurde.9 Dieser erkennbar leichten Verschiebung zu einem wenig erhöhten Lebensalter bei der Wahl zum w. M. steht allerdings der Befund einer insgesamt relativ jungen Kohorte von w. M. gegenüber, die (lange) vor ihrem 50. Lebensjahr Aufnahme in die Akademie fanden. Für unseren Betrachtungszeitraum 1850–1890 kann man also von einer durchaus „jungen Akademie“ sprechen, ein Befund, der auf die weitere Entwicklung der Wiener/Österreichischen Akademie der Wissenschaften im nächsten Jahrhundert nicht zutrifft, die ausgeprägte Überalterungstendenzen zeigte. Und nun zum „bureaukratischen“ Vorgang der Wahlen von Mach und Boltzmann zu k. M. und w. M. der Akademie: Erstmals 1863 stellen die w. M. Andreas von Ettingshausen (Physik, Mitbegründer der Akademie), Wilhelm von Haidinger (Geologie und Mineralogie, Mitbegründer der Akademie), Anton Schrötter von Kristelli (Chemie und Mineralogie, Ignaz-L.-Lieben-Preises 1865–1937 und des Richard-Lieben-Preises 1912–1928. Ein Kapitel österreichischer Wissenschaftsgeschichte in Kurzbiografien (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 4, Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag 2004. Wolfgang L. Reiter, Mäzenatentum, Naturwissenschaft und Politik im Habsburger Reich und in der Ersten Republik Österreich. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25/2014/3, S. 212–247. Weder Mach noch Boltzmann erhielten den Lieben-Preis. 9  Eine Ausnahme bildet Josef Loschmidt (1821–1895), der erst in seinem 46. Lebensjahr 1867 zum k. M. und in seinem 49. Lebensjahr 1870 zum w. M. gewählt wurde, was mit seinem verspäteten Eintritt ins akademisch/universitäre Leben erklärbar ist.

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­ itbegründer der Akademie), Karl von Littrow (Astronomie), Karl Ludwig (PhyM siologie) und Andreas von Baumgartner (Physik, zugleich Präsident der Akademie, Mitbegründer der Akademie) mit Datum vom 14. Mai den Antrag auf Wahl Ernst Machs zum korrespondierenden Mitglied der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse (math.-nat. Klasse) der Akademie, der in der außerordentlichen (a. o.) Gesamtsitzung vom 28. Mai 1863 keine Mehrheit findet. Im folgenden Jahr 1864 wird Mach auf eine Professur für Mathematik an die Karl-Franzens-Universität in Graz berufen und erhält von der Akademie die Summe von 500  fl. zuerkannt.10 Abermals 1865 stellen mit Datum vom 15. Mai Andreas von Ettingshausen, Anton Schrötter von Kristelli, Ernst von Brücke (Physiologie) und Karl von Littrow einen Antrag auf Wahl Machs zum korrespondierenden Mitglied, der wiederum in der a. o. Gesamtsitzung vom 27. Mai 1865 keine Mehrheit fand. 1866 erfolgt die Ernennung Machs zum Professor für Physik an der Karl-Franzens-Universität in Graz und 1867 wird Mach Professor für Physik an der Karl-Ferdinands-Universität in Prag und zum Direktor des Physikalischen Instituts ernannt. Ein neuerlicher Antrag von Josef Stefan, Karl von Littrow, Andreas von Ettingshausen und Ernst von Brücke vom 14. Mai 1867 führt in der a. o. Gesamtsitzung vom 29. Mai 1867 bei der zweiten Abstimmung um den dritten Platz der Terne zu einer Mehrheit und Mach ist somit in seinem 29. Lebensjahr k. M. der Akademie. Zu diesem Zeitpunkt weist das Publikationsverzeichnis Machs bereits 38 Einträge auf. Die Sitzungsberichte und der Anzeiger der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften dienen Mach in überwiegendem Ausmaß als Publikationsorgane seiner experimentellen Arbeiten. Mach hatte bei den Wahlvorschlägen überaus prominente Befürworter, die Mitglieder der Akademie seit der ersten Stude waren: Andreas von Ettingshausen, Wilhelm Haidinger, Anton Schrötter von Kristelli und Andreas von Baumgartner. Da jedoch die Archivalien der Vorschläge keine meritorischen Hinweise geben, wäre es lediglich Spekulation, daraus Schlüsse für eine wie immer geartete „Promotionsseilschaft“ zu sehen; dies gilt vice versa auch für alle anderen hier behandelten Wahlvorgänge. Allerdings ist die Prominenz und Seniorität seiner Unterstützer unter den w.M. unübersehbar und Machs breites, fächerübergreifendes wissenschaftliches Oeuvre (Physik bis Physiologie) schon in jungen Jahren beachtlich. 1873 findet Mach auch Aufnahme in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina und in die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Es dauert bis 1875 bis erstmals ein Antrag auf Ernennung zum w. M. der math.-nat. Klasse gestellt wird, diesmal von dem Physiologen Ewald Hering aus Prag, sowie den Wienern Victor von Lang (Physik) und Josef Stefan (Physik), dem 1879 ein nächster Vorschlag von Hering und Eduard Linnemann (Chemie, Prag) und Ernst von Brücke (Physiologie) folgt, sowie ein weiterer Vorstoss von Josef Stefan, Josef Loschmidt, Victor von Lang und dem Wiener Astronomen Edmund Weiss. In der a. o. Gesamtsitzung vom 28. Mai 1879, in der über zwei zu besetzende Stellen für w. M. abgestimmt wird, ist die Reihenfolge der Ternen für den 1. Platz: Ludwig von Barth, Adolf Lieben, Ferdinand von Hebra und der für den 2. Platz: Lieben, Hebra, Mach. An diesem Abstimmungsergebnis wird deutlich, dass bei einem 10

 500 fl. (1864) entsprechen einem heutigen Gegenwert von ca. 7000 EURO.

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nächsten Wahlgang wohl gute Chance bestehen, auf den ersten Platz vorzurücken. Diese eröffnete sich mit einem Prager Antrag vom 8. Mai 1880, gezeichnet von Linnemann, Hering und dem Zoologen Friedrich von Stein, der in der a.  o. Gesamtsitzung vom 28. Mai des Jahres zur Abstimmung kommt und im 3. Wahlgang Mach in seinem 42. Lebensjahr vor Emil Weyr und Boltzmann auf den ersten Platz bringt. Im Zusammenhang mit seiner Wahl zum w. M. verfasst Mach eine doppelseitige Autobiographie, gez. Prag, 26. September 1880.11 Über seine ersten Jahrzente schreibt Mach: Ich bin am 18t Februar 1838 zu Turas in Mähren geboren. Mein Vater war der Sohn eines wohlhabenden Bürgers von Liebenau bei Reichenberg, meine Mutter die Tochter des fürst-erzbischhöflichen Rentmeisters Lanhaus in Chirlitz bei Turnau. Mein Vater, der früh seine Eltern und bald darauf auch sein Vermögen verloren hatte, studierte in Prag und Wien. Sein Trieb nach Unabhängigkeit veranlasste ihn bald, die Gelehrtenlaufbahn aufzugeben, und er kaufte ein Bauerngut in Siebenbrunn bei Wien. Theils daselbst, theils in Wien habe ich mit wenigen Unterbrechungen meine Jugendzeit vom 2t bis zum 26t Lebensjahr zugebracht.12

Auf das Rektorat Machs in den Jahren 1882 bis 1884 an der Prager Universität in der schwierigen Zeit der Spaltung in eine deutsche und tschechische Fakultät sei hier nur hingewiesen. Eine besondere Ehrung seitens der Akademie stellt das Ersuchen um Übernahme des Festvortrags anlässlich der Feierlichen Sitzung vom 25. Mai 1882 dar; Mach spricht zum Thema „Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung“.13 Hier die Anfangs- und Schlußworte aus Machs Vortrag: „Wenn das Denken mit seinen begrenzten Mitteln versucht, das reiche Leben der Welt wiederzuspiegeln, von dem es selbst nur ein kleiner Theil ist, und das zu erschöpfen es niemals hoffen kann, so hat es alle Ursache, mit seinen Kräften sparsam umzugehen. Daher der Drang der Philosophie aller Zeiten, mit wenigen organisch gegliederten Gedanken die Grundzüge der Wirklichkeit zu umfassen. ‚Das Leben versteht den Tod nicht, und der Tod versteht das Leben nicht.‘ So spricht ein alter Philosoph. Gleichwohl war man, die Summe des Unbegreiflichen zu mindern, unablässig bemüht, den Tod durch das Leben und das Leben durch den Tod zu verstehen.[…] In scharfen Linien vermögen wir die Wissenschaft der Zukunft nicht zu zeichnen. Allein ahnen können wir, dass dann die harte Scheidewand zwischen dem Menschen und der Welt allmälig verschwinden wird, dass die Menschen nicht nur sich, sondern der ganzen organischen und auch der sogenannten leblosen Natur mit weniger Selbstsucht und einem wärmeren Gefühl gegenüberstehen werden. Eine solche Ahnung mochte wohl vor 2000 Jahren den grossen chinesischen Philosophen Licius ergreifen, als er auf altes menschliches Gebein deutend, in dem durch die Begriffsschrift dictirten Lapidarstil zu seinen Schülern die Worte sprach: ‚Nur diese und ich haben die Erkenntnis, dass wir weder leben noch todt sind.‘“

Mit der Berufung an die Universität Wien im Jahr 1895 und der Übernahme des Lehrstuhl für „Philosophie, insbesondere Geschichte der induktiven Wissenschaften“  Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (AÖAW), Personalakt Ernst Mach.  AÖAW, Personalakt Ernst Mach (ad Nr. 824, ex 1880). Eine vollständige Transskiption des Manuskripts findet sich bei John T. Blackmore, Three Autobiographical Manuscripts by Ernst Mach. Annals of Science, 35 (1978), 401–418. 13  Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 32. Jg, Wien: In Kommission bei Carl Gerold’s Sohn 1882, S. 293–319. 11 12

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fand Mach nach den lediglich sporadischen Besuchen aus Prag nunmehr regelmässig Gelegenheit, sich am wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Akademie zu beteiligen. Die hier eingangs von Boltzmann erwähnte Episode der Diskussion über den Atomismus ist wohl diesen Jahren zuzuordnen – Boltzmann spricht von einem „gerade wieder akut gewordenen Streit“, als es im selben Jahr 1895 anlässlich der 67. Versammlung der Gesellschaft der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Lübeck in September zu einem heftigen Streitgespräch zwischen den Exponenten der Energetik, dem physikalischen Chemiker Wilhelm Ostwald (1853–1932) und dem Mathematiker Georg Helm (1851–1923) und Boltzmann kam.14 Im November 1894 wurde Mach in die Kommission für Schweremessungen (errichtet 12. Juli 1894), (Mitglieder: Suess, Weiss, Mojsisovics, Mach (seit 4. November 1894) und v. Sterneck) und später in die Erdbeben-Kommission (errichtet 25. April 1895), (Mitglieder: Lang, Mach (seit 14. November 1897), Tschermak, Mojsisovics, Becke, Exner und Hann) berufen. Mit dem 28. Oktober 1897 wurde Mach  – nach dem Julius Hann aufgrund seiner Berufung nach Graz sein Amt niedergelegt hatte  – zum provisorischen Sektretär der math.-nat. Klasse gewählt und ein Jahr später (28. Juli 1898) in dieser Funktion bestätigt, die er jedoch kurz danach (8. September 1898) nach seinem Schlaganfall zurücklegen musste. 1901 tritt Mach in den Ruhestand und wird in diesem Jahr zum Mitglied des Herrenhauses ernannt. Für die folgenden Jahre bis zu seiner Übersiedlung nach Vatterstetten bei München wird Mach, bedingt durch seine eingeschränkte Beweglichkeit, wahrscheinlich nur in geringem Ausmass aktiv am akademischen Leben teilgenommen haben. Anlässlich seiner Übersiedlung stellt die Akademie fest, dass dadurch keine Änderung des Personalstandes der math.-nat. Klasse eingetreten ist, also Mach weiterhin als w. M. geführt wird.15 Im April 1913 verfasst Mach einen mit Schreibmaschine geschriebenen Brief an den Generalsekretär der Akademie, den Mineralogen Friedrich Becke (1855–1931). Dieser Brief, der mit der berühmt gewordenen Metapher von „Charon, dem alten Schalk“ schliesst, ist Machs an die Mitglieder der Akademie gerichtetes Abschiedsund Dankschreiben. Er sei hier in voller Länge wiedergegeben:

 „Das Referat für die Energetik hatte Helm – Dresden; hinter ihm stand Wilhelm Ostwald, hinter beiden die Naturphilosophie des nicht anwesenden Ernst Mach. Der Opponent war Boltzmann, sekundiert von Felix Klein. Der Kampf zwischen Boltzmann und Ostwald glich, äusserlich und innerlich, dem Kampf des Stieres mit dem geschmeidigen Fechter. Aber der Stier besiegte diesmal den Torero trotz all seiner Fechtkunst. Die Argumente Boltzmanns schlugen durch. Wir damals jüngeren Mathematiker standen auf der Seite Botzmanns; es war uns ohne weiters einleuchtend, dass aus der einen Energiegleichung unmöglich die Bewegungsgleichungen auch nur eines Massenpunktes, geschweige denn eines Systems von beliebigen Freiheitsgraden gefolgert werden könnten.“ Arnold Sommerfeld, Das Werk Boltzmanns. Vorlesung aus Anlass des 100. Geburtstages von Ludwig Boltzmann. Zit. nach Erhard Scheibe, Die Philosophie der Physiker, München: C. H. Beck 2006, S. 105–106. 15  AÖAW, Protokoll der Sitzung der math.-nat. Klasse vom 23. Mai 1913 (B 1893), und Protokoll der Sitzung der phil.-hist. Klasse vom 4. Juli 1913 (C 1894). 14

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Herr Generalsekretär! Hochgeehrter Herr College! Schon im Herbst des verflossenen Jahres hatte ich die Absicht zu meinem ältesten Sohn in die nächste Umgebung Münchens zu übersiedeln. Wegen eines unglücklichen Sturzes, der mich 5 Monate ans Krankenlager fesselte, wurde mein Plan aufgeschoben, so dass ich jetzt erst wagen kann, den Umzug auszuführen. Ich fühle nun das Bedürfnis, mich von der Akademie zu verabschieden, der ich nicht nur als Gesamtheit, sondern auch ihren einzelnen Mitglieder, in mehr als einer Richtung zu besonderem Dank verpflichtet bin. Vielfache Anregung verdanke ich endlich den Mitgliedern der Akademie seit jener Zeit, da ich der Akademie selbst als Mitglied angehöre. Könnte ich hier vollständig genau sein, so würde wol [sic!] kaum ein Name des Personalstandes, namentlich der naturwissenschaftlichen Classe der Akademie ungenannt bleiben. Wenn ich nun der gelegentlichen Unterredungen mit Eduard Suess, v. Tschermak, Lippich, v. Pfaundler, Grobben, Uhlig, v. Lang, F. u. S. Exner, v. Escherich, Mertens, Wirtinger, Lieben, Barth gerne erinnere, besonders aus den achtziger und neunziger Jahren, da ich selbst noch einer lebhaften Konversation fähig war, so darf ich auch nicht der Aufklärungen vergessen, welche mir Mitglieder der philos.-historisch. Classe, wie Gomperz, Heinzel, David Heinrich Müller, Reinisch u. A. freundlich aus ihrem Vorrat mitteilten. Indem ich nun für alle [sic!] dies der Akademie und deren Mitgliedern meinen herzlichsten Dank sage, empfehle ich mich allseitig mit den besten, wärmsten Glückwünschen. Sollte dieser Brief mein ltzter [sic!] sein, so bitte ich nur anzunehmen, dass Charon[,] der alte Schalk, mich nach einer Station entführt hat, welche noch nicht dem Welt-Post-­ Verein angehört. Wien, 28/IV, 13. Hochachtungsvoll Ihr treu ergebener Dr. Ernst Mach (Namensstempel) 18, Höhnegasse 25.

Bemerkenswert an diesem Schreiben ist die Auswahl der namentlich angeführten Mitglieder der math.-nat. und der phil.-hist. Klasse, deren sich Mach für „Unterredungen“ und „Aufklärungen“ explizit erinnert, da der Name Ludwig Boltzmann fehlt. Kommentieren wir es mit Isaak Newton: Hypothesis non fingo! In den noch friedlichen Monaten des Jahres 1914 wird die Akademie aktiv und unterbreitet der Gesamtsitzung vom 26. Mai 1914 den Vorschlag, Ernst Mach zum Ehrenmitglied der Gesamtakademie zu wählen, die höchste Auszeichnung, die sie zu vergeben hat.16 Das vom Meteorologen Julius von Hann (1839–1921) unterfertigte Schreiben trägt die Unterschrift von weiteren zwölf Mitgliedern der Akademie: Die Unterzeichneten schlagen als Ehrenmitglied der Gesamtakademie vor Prof. Dr. Ernst Mach Ernst Mach ist seit 1888 [recte: 1880] wirkliches Mitglied der kaiserl[ichen] Akademie und war 1897 u. 1898 Sekretär der mathematisch naturwissenschaftl. Classe. Mach war Prof. der Physik an der Universität in Prag und Prof. der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung auf Geschichte und Theorie der inductiven Wissenschaften in Wien, gehört demnach beiden Classen der kaiserl. Akademie an. Über den Ruf und die wissenschaftliche Bedeutung von Ernst Mach an dieser Stelle weitere Worte zu verlieren hiesse, um eine etwas abgenützte Phrase zu gebrauchen, die aber deshalb hier nicht unterdrückt werden soll, „Eulen nach Athen tragen“. Ernst Mach lebt jetzt im Ausland, in München, kann deshalb an den Sitzungen der Akademie nicht teilnehmen, er ist aber österreichischer Staatsangehöriger geblieben. Mach ist lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses und kaiserl. königl. Hofrath. 16

 AÖAW, Personalakt Ernst Mach, 546 ex 1914.

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J Hann [Gustav von] Tschermak[-Seysenegg], E[dmund] Weiss, [Victor von] Ebner[-Rofenstein], [Guido] Goldschmied, [Hans] Molisch, K[arl] Mertens, C[arl] Toldt, [Anton] Weichselbaum, [Rudolf] Wegscheider, [Wilhelm] Wirtinger, [Richard von] Wettstein[-Westersheim], F[ranz Seraphin] Exner

Die Gesamtsitzung hatte über zwei zu wählende Ehrenmitglieder (Zahl der Votanten 49, Majorität der Stimmen 25) abzustimmen. Neben Ernst Mach wurden Erzherzog Leopold Salvator von Habsburg-Lothringen (1863–1931) und Franz I., regierender Fürst von und zu Liechtenstein (1853–1938) in Vorschlag gebracht. Liechtenstein erhielt 42, Salvator 39 und Mach 17 Stimmen. Mäzenatentum (Liechtenstein), Adel und angestammtem Kaiserhaus wurde die Reverenz erwiesen; Mach blieb Dritter und ohne Ehrentitel der Kaiserlichen Akademie.17 Mach verstirbt am 19. Februar 1916 in Vaterstetten bei München. Die lebenslang währende Ruhelosigkeit in Boltzmanns universitätem Lebenslauf findet sich auch in deutlichen Spuren bei den Ernennungen in die Wiener Akademie. Nach seiner Berufung an die Karl-Franzens-Universität in Graz auf die Lehrkanzel für Mathematische Physik 1869 erfolgt 1872 (Boltzmann ist im 28. Lebensjahr) der erste Vorschlag auf Ernennung zum korrespondieren Mitglied der math.nat. Klasse, die von Josef Stefan (Physik), Anton Winckler (Mathematik), Adam von Burg (Mathematik, Technologie), Karl von Littrow (Astronomie), August Emanuel Reuss (Medizin, Geologie, Paläontologie), Victor von Lang (Physik), Ernst von Brücke (Physiologie) und Anton Schrötter von Kristelli (Chemie) unterstützt wird. In der a. o. Gesamtsitzung vom 13. Juni 1872 wird Julius Hann gewählt, Boltzmann verfehlt in der Abstimmung die Mehrheit der Stimmen. Im Folgejahr nach seiner Ernennung zum o. ö. Professor für Mathematik an der Universität Wien 1873 wird der Vorschlag mit den Unterschriften von Josef Stefan, Victor von Lang, Josef Loschmidt, Heinrich Hlasiwetz (Chemie), Ernst von Brücke, Anton Winckler, Karl von Littrow und Anton Schrötter von Kristelli erneuert und in der a. o. Gesamtsitzung von 28. Mai 1874 bestätigt; mit Allerhöchster Entschliessung von 9. Juli 1874 wird Boltzmann zum k. M. der math.-nat. Klasse ernannt. Bis zu diesem Jahr veröffentlichte Boltzmann 27 Arbeiten, die Mehrzahl davon, wie auch in späteren Jahren, in den Sitzungsberichten und im Anzeiger der math.-nat. Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien. 1875 erhält er für seine „Bestimmung der Dielektrizitätskonstanten einer Reihe von Körpern“, eine wichtige experimentelle Bestätigung der Maxwellschen Theorie des Elektromagnetismus, den Baumgartner-Preis der Akademie mit der namhaften Summe von 1000 fl.18 1876 wechselt Boltzmann  Charles Robert Darwin (1809–1882), mit dessen evolutionstheoretischen Konzeptionen der biologischen Entwicklungen das philosophische Denken Machs und Boltzmanns zur historischen Entwicklung der Naturwissenschaften vielfach verbunden ist, wurde 1871 zum korrespondierenden Mitglied der math.-nat Klasse im Ausland gewählt und 1875 zu ihrem Ehrenmitglied. 18  Die Summe von 1000 fl. entspricht einem heutigen Betrag von ca. 10.500 EURO, die jährliche Remuneration eines Extraordinarius betrug zum damaligen Zeitpunkt ca. 1200 fl. Ludwig Boltzmann, Experimentelle Bestimmung der Dielektrizitätskonstante von Isolatoren, Sitzungsber. d. Akad. d. Wissen. Math.-naturw. Cl. II.  Abt. 67 (1873), 17–80; idem, Experimentelle Bestimmung der Dielektrizitätskonstante einiger Gase, ibid. 69 (1874), 795–813; idem, Über einige an meinen 17

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von Wien nach Graz als o. Professor für Physik der Karl-Franzens-Universität und Leiter des Physikalischen Instituts. Der von Stefan, Brücke, Loschmidt, Weiss und Lang am 15. Mai 1879 eingebrachte Vorschlag auf Ernennung zum w. M. der math.-nat. Klasse findet in der a. o. Gesamtsitzung von 28. Mai des Jahres keine Mehrheit. Auch ein im Folgejahr 1880 neuerlicher Vorschlag von Stefan, Hann, Brücke, Lang, Weiss und Loschmidt findet in der a. o. Gesamtsitzung vom 28. Mai 1880 nicht die erforderliche Mehrheit, als Boltzmann nach Mach und Emil Weyr lediglich auf den 3. Platz der Terne gewählt wird. Auch ein erneuerter Vorstoss 1882 von Stefan, Weiss, Hann und Lang führt noch nicht zum Erfolg; die Abstimmung in der a. o. Gesamtsitzung vom 24. Mai 1882 ergibt folgendes Ergebnis: 1. Terne: Theodor Oppolzer, Emil Weyr, Julius von Wiesner; 2. Terne: Weyr, Wiesner, Hubert Leitgeb; 3. Terne: Wiesner, Leitgeb, Boltzmann. Das Ende der Leiter zum 1. Platz in der Terne scheint nun doch greifbar nahe zu sein; noch aber müssen die vor ihm positionierten Anwärter das Ende der Leiter erklimmen und gewählt werden. Es bleibt eine Frage der Zeit, bis das einmal begonnene Reproduktionsverfahren für wirkliche Mitglieder (vom k. M. im Inland zum w. M.) zum rituellen Erfolg verhilft. Im Jahr 1885, Boltzmann steht im 41. Lebensjahr, wird der Vorschlag von Stefan (Präsident der Akademie bis 1885, dem Eduard Suess folgt), Loschmidt, Lang, Lieben, Weiss und Mach erneut eingebracht und in der a. o. Gesamtsitzung vom 20. Mai 1885 zur Abstimmung gebracht: 1. Terne: Boltzmann, Victor von Zepharovich, Carl Claus; 2. Terne: Zepharovich, Claus, Friedrich Moritz Brauer; 3. Terne: Claus, Brauer, Leopold Pfaundler. Boltzmann wird im vierten Anlauf w. M. der math.-nat. Klasse der Kaiserlichen Akademie! In einem Brief vom 21. Jänner 1886 wendet sich der Präsident der Akademie Eduard Suess an Boltzmann mit der Bitte, den Vortrag anlässlich der Feierliche Sitzung vom 29. Mai 1886 zu übernehmen. Boltzmann wählt das Thema „Der Zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie“.19 Mit der Übersiedlung Boltzmanns an die Ludwig-Maximilian-Universität in München auf die Professur für Theoretische Physik 1890 und seiner Entlassung aus dem österreichischen Staatsdienst im August dieses Jahres erfolgt 1891 der statutengemässe Übertritt zum k. M. im Ausland.20 Schon 1894 kehrt Boltzmann an die Universität Wien zurück und übernimmt eine Professur für Theoretische Physik; Versuchen über die elektrostatische Fernwirkung dielektrischer Körper anzubringende Korrektionen, ibid. 70 (1874), 307–341; Wiederabdruck in Wissenschaftliche Abhandlungen. Band I. 1865– 1874, Fritz Hasenöhrl (Hrsg.), Leipzig: J. A. Barth, 1909; S. 411–471, 537–555, 556–586. Vgl. dazu auch: Klemens Rumpf and Petra Granitzer, Ludwig Boltzmann als Experimentalphysiker, Physik in unserer Zeit 5 (2006), 228–234. Ludwig Boltzmann, Wissenschaftliche Abhandlungen: https://phaidra.univie.ac.at/view/o:63668. Zugegriffen am 10.01.2017. 19  Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Jg. 36, Wien: In Kommission bei Carl Gerold’s Sohn 1886, S.  225–259. Wiederabdruck in: Ludwig Boltzmann, Populäre Schriften. Leipzig: Verlag J. A. Barth, 1905, S. 25–50. https://phaidra.univie.ac.at/view/o:63638. Zugegriffen am 10.01.2017. 20  AÖAW, Personalakt Ludwig Boltzmann, Nr. 947, praes 21. Oktober 1890, eigenhändiges Schreiben Boltzmanns vom 19. Oktober 1890 an die hohe Akademie mit der Information seiner Annahme der Münchner Professur.

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zugleich wird er aus dem bayrischen Staatsdienst entlassen. Und wie gestaltet sich seine Rückkehr an die Wiener Akademie? Das Protokoll der a. o. Gesamtsitzung vom 28. Mai hält dazu fest: „Das w. M. Mach regt an, den Fall in Erwägung zu ziehen, der durch den Wiedereintritt des Prof. Boltzmann als inländisches Mitglied geschaffen werden dürfte. Nach längerer Diskussion […] wird der Antrag Benndorf – Tschermak, dahingehend, daß für diesen Fall das Präsidium ersucht werde, das hohe Curatorium zu bitten, die nötigen Schritte zu tun, daß Prof. Boltzmann im Falle als seine Berufung perfect wird, als supernumeräres wirkliches Mitglied in die Akademie wieder eintreten könne. Antrag wird angenommen.“

Und neuerlich kommt es zu einer Wahl: Auf Vorschlag von Lang, Mertens, Escherich, Tschermak, Hann und Claus wird in der a. o. Sitzung vom 29. Mai 1895 abgestimmt: 1. Terne: Boltzmann, Zdenko Hans Skraup, Franz Exner; 2. Terne Karl Grobben, Skraup, Franz Exner. Resultat: Wiederwahl von Boltzmann als w. M. der math.-nat. Klasse der Akademie! Und diese bürokratisch-statutarischen, ein wenig herzmanovskyisch anmutenden Vorgänge folgen dem nomadischen Leben Boltzmanns: 1900 erneute Entlassung aus dem österreichischen Staatsdienst, Antritt der ordentlichen Professur für theoretische Physik an der Universität Leipzig, Übertritt zum k. M. im Ausland, Rückkehr nach Wien 1902, Wiederverleihung des Titels eines „Hofrathes“ (laut Dekreten vom 4. Juni und 14. Juli 1902),21 Boltzmann wird nun k. M. im Inland. 1904 erfolgt der abermalige „Vorschlag zur Ernennung zum w. M. für das corr. M., das schon w. M. war und durch Übersiedlung ins Ausland in die Reihe der corr. M. trat.“, der die Unterschriften von Viktor von Lang, Zdenko Hans Skraup (Graz), Franz Mertens, Edmund Weiss, Victor von Ebner-Rofenstein, Julius von Hann, Franz Steindacher, Gustav von Escherich und Adolf Lieben zum 28. April 1904 trägt. In der a. o. Gesamtsitzung vom 20. Mai 1904 wird mit der Terne: Boltzmann, Albrecht Penck, Berthold Hatschek die Wiederwahl Boltzmanns zum w. M. der math.-nat. Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften vollzogen. Im selben Jahr ersucht Boltzmann um Dispens seines Lehrauftrags aus dem Jahre 1903 über „Philosophie der Natur und Methodologie der Naturwissenschaften“. Nur erwähnt sei eine von der Akademie Boltzmann im Jahre 1905 gewährte Subvention unter dem Titel „Ballonfahrt zu luftelektrischen Messungen“ aus der Treitl-Erbschaft, die dem Forschungsprogramm Franz S. Exners zuzuordnen ist und das in der Folge 1912 zur Entdeckung der kosmischen Strahlung durch Victor Franz Hess (1883–1964) beitrug, der seinerseits dafür 1936 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Bei seiner letzter Amerika-Reise nahm Boltzmann im Rahmen der Weltausstellung in St. Louis im September 1904 als Vertreter der Akademie an der Konferenz über „Internationale Verabredung über Sonnenforschung“ teil und traf dort zu ­gemeinsamen Beratungen u. a. Henri Poincaré (1854–1912) und den Astronomen George Ellery Hale (1868–1938) und hielt einen vielbeachteten Vortrag.22  Ilse Maria Fasol-Boltzmann und Gerhard Ludwig Fasol, Ludwig Boltzmann (1844–1906). A.a.O., S. 172. 22  Ludwig Boltzmann, The Relations of Applied Mathematics, in Howard J. Rogers, ed., Congress of Arts and Science Universal Exposition, St. Louis, 1904. Vol. IV., Physics, Chemistry, Astronomy, Sciences of the Earth. Boston and New York: Houghton, Mifflin, 1906, S. 591–603; 21

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Am 5. September 1906 setzt Boltzmann seinem Leben in Duino ein Ende.23 Lassen wir nochmals die akademischen Karriereverläufe der beiden Protagonisten unter den Aspekten ihres jeweiligen Lebensalters und der erreichten Positionen (siehe dazu auch die tabellarische Übersicht im Anhang) Revue passieren: Mach und Boltzmann promovieren mit 22, die Habilitation erfolgt mit 23 (Mach) und 24 (Boltzmann), der erstmalige Antrag auf Ernennung zum k. M. mit 27 (Mach) bzw. mit 28 (Boltzmann), die Wahl zum k. M. mit 29 (Mach) bzw. mit 30 (Boltzmann). Der erste Vorschlag auf Ernennung zum w. M. mit 35 (Boltzmann) und mit 37 (Mach), die Wahl zum w. M. mit 41 (Boltzmann) und mit 42 (Mach). Die „Wartezeit“ zwischen der Wahl zum k. M. und zum w. M. beträgt bei Boltzmann 11 Jahre und bei Mach 13 Jahre. Leicht pejorativ formuliert, könnte man von einem akademischen Synchronschwimmen sprechen, das – einmal angepfiffen – ohne Hürden in die hohen Hallen der Akademie führt, anscheinend keiner weiteren Bedingung folgend als dem erstmaligen Vorschlag auf Ernennung zum k. M. im Inland. Ist dieser Schritt getan, so läuft eine eingespielte Prozedur los, die die Selbsterneuerung der Akademie als Wissenschafts-Meritokratie gewährleistet. Lobbying für Kandidaten wird es wohl auch damals gegeben haben, doch die Archivalien des Akademie-­ Archivs, die die Akademie-internen Prozesse nachvollziehbar machen, geben darüber natürlich keine Auskunft. Freilich ist es gewagt, aus den Karriereverläufen von lediglich zwei Personen auf ein Muster zu schliessen; auch solange keine systematische prosopographische Bestanderhebung einer repräsentativen Kohorte von Funktionsträgern der Akademie über einen grösseren Zeitraum vorliegt, sind weitergehende Interpretationen, insbesondere solche, die eine gezielte „Wahlpolitik“ vermuten, spekulativer Natur.24 Die Aussage, einer Wahl zum k. M. folge nach einer Zeit des Abwartens (nahezu zwingend) die Wahl zum w. M., ist jedenfalls für die Periode 1860 bis 1890 nicht belegbar: Von den 28 k. M. im Inland, die zwischen 1860 und 1869 in die math.-nat. Klasse gewählt wurden, wurden „nur“ 19 w. M. (also rund 2/3); analoges gilt für die 1890er-Jahre, als aus 27 der gewählten k. M. im

Wiederabdruck in Katherine R. Sopka, ed., Physics for a New Century: Papers Presented at the 1904 St. Louis Congress, New York: Tomash Publishers and American Institute of Physics 1986, S. 267–279. 23  Nachzutragen bleiben hier noch Boltzmanns Tätigkeiten für die Akademie im Rahmen ihrer Kommissionen: Kommission für die Herausgabe der „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften“ (Mitglieder: W. Dyck (Vorsitz), Boltzmann, G. v. Escherich, F. Klein, E. Weiss; eingesetzt 1896); Kommission für die Gründung eines phonographischen Archivs (Mitglieder Hartel, Jagič, Heinzel, Reinisch, Schippe, S.  Exner, v. Lang, F.  Exner, Boltzmann, Lieben; eingesetzt 1899); Kommission für Sonnenforschung (Mitglieder: Weiss, v. Lang, F.  Exner, Lieben, Boltzmann; eingesetzt 1905). 24  Der bei der Wiederwahl Boltzmanns zum w. M. der math.-nat. Klasse 1904 erwähnte Zoologe Berthold Hatschek (1854–1941) wurde bereits 1896 zum k. M., jedoch erst 1932 zum w. M. gewählt. Hatschek konnte die in ihn gesetzten wissenschaftlichen und organisatorischen Erwartungen als Universitätslehrer und Forscher nach 1918 aufgrund zunehmender Depressionen nicht mehr erfüllen. Seine späte Wahl zum w. M. ist als verspätete Anerkennung seines Lebenswerks deutbar. Von den Nationalsozialisten wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunft im April 1938 seines Postens an der Universität enthoben und im Jahr seines Todes aus seiner Wiener Wohnung vertrieben.

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Inland „nur“ 19 (ca. 70 %) später zu w. M. gewählt wurden.25 Einschränkend sei hinzugefügt, dass die Vermutung des Fehlens einer gezielten „Wahlpolitik“ in engeren Sinne und einer politisch-weltanschaulich geprägten Wahl von Mitgliedern der Akademie für die zeitliche Periode 1850 bis 1900 zwar zutreffen mag, dass jedoch in Zeiten intensiver gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen und Konflikte ein Durchgreifen dieser auch auf das akademische Leben plausibel erscheint. Zudem wäre es auch naiv anzunehmen, dass in der hier mit den Namen Mach und Boltzmann verbundenen Periode lediglich wissenschaftliche Exzellenz das Auschlag gebende Element für die Aufnahme in die Akademie war und nicht auch Partikularinteressen der Klassen und der dort vertretenen Fächer, mithin die wirklichen Mitglieder mit ihren unterschiedlichen fachlichen, politischen und weltanschaulichen Einstellungen und Ideosynkrasien das Geschehen formierten.26 Doch: Die beobachtete Parallelität der Akademie-Viten von Mach und Boltzmann ist wohl auch der zeitlich durchaus ähnlich verlaufenden akademischen Vita der beiden und deren weithin anerkannte wissenschaftliche Exzellenz, die auch in ihren zahlreichen Mitgliedschaften in ausländischen Akademien zum Ausdruck kommt, geschuldet. Diese doch einigermassen formalistisch-langweilige Darstellung der Karrieren Machs und Boltzmanns in der Wiener Akademie ruft danach, die zentrale Auseinandersetzung der beiden Antagonisten im „Atomismusstreit“ zu guter Letzt kurz aufzugreifen und an die zu Beginn dieser Arbeit zitierten Worte Boltzmanns – „Dieser Ausspruch ging mir im Kopf herum.“ – anzuschliessen. Im Zentrum von Boltzmanns lebenslänglicher Auseinandersetzung mit der Physik und Philosophie seiner Zeit und dem – nie schriftlich ausgetragenem – Disput mit seinem akademischen Mitstreiter Mach stand die (physikalische) Realität des Atoms. In den 1870er-Jahren, als Boltzmann im Zenith seiner wissenschaftlichen Schaffenskraft stand, gab es keine wie immer geartete Evidenz für die Existenz des Atoms. Sein Standpunkt war von einen Kampf an zwei Fronten bestimmt: (1) Für seine Überzeugung der (physikalischen) Realität von Atomen gegen Mach und die Empiristen und (2) für die statistische Interpretation des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik, sein revolutionärer und dauerhafter Beitrag zur Physik bis heute, im Konflikt mit den Einwänden seiner Zeitgenossen Loschmidt, Zermelo, Poincaré und anderen. Aus heutiger Sicht ist dieser Zweifronten-Krieg Boltzmanns von tiefer Ironie gezeichnet, wie der theoretische Physiker Leo P. Kadanoff (1937–2015) anmerkt: „Mach was wrong about atoms and wrong in demanding that science only include the immediately visible, but right in demanding a different philosophical outlook for kinetic theory. Boltzmann was right about atoms but utterly wrong in believing that atoms provided a necessary basis for thermodynamics. The second law does not require atoms.“27

 Ich danke Dr. Stefan Sienell, Archiv der ÖAW, für diesen Hinweis.  Inwieferne in dieser Periode politische Antagonismen zwischen den „alten“ Liberalen und den sich formierenden deutschnationalen und christlichsozialen Kräften, sowie ein stetig wachsender Antisemitismus (u. a. das „Waidhofener Prinzip“ 1896 der deutsch-völkischen Studentenverbindungen Österreichs der Nicht-Satisfaktionsfähigkeit von Juden) das Reproduktionsverhalten der Akademie beeinflussten, ist ein Desideratum für weiterführende Untersuchungen. 27  Leo P. Kadanoff, Boltzmann’s Science, Irony and Achievement, Science 291, Issue 5513, (March 30, 2001), 2553–2554; on 2553. 25 26

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Mit anderen Worten, die Thermodynamik ist völlig neutral gegenüber Modellen der Mikrowelt. Boltzmanns Anspruch der Begründung des Verhaltens der physikalischen Welt durch rigoros definierte physikalische Entitäten, die wohl definierten Regeln gehorchen, verbleibt bis heute eine offene Fragestellung, die um die Begründung des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik kreist, ein Gesetz, das Albert Einstein (1879–1955) als unerschütterliche und fundamentale Säule der physikalischen Realität erachtete. Er schrieb: „Eine Theorie ist desto eindrucksvoller, je grosser die Einfachheit ihrer Prämissen ist, je verschiedenartigere Dinge sie verknüpft, und je weiter ihr Anwendungsbereich ist. Deshalb der tiefe Eindruck, den die klassische Thermodynamik auf mich machte. Es ist die einzige physikalische Theorie allgemeinen Inhalts, von der ich überzeugt bin, dass sie im Rahmen der Anwendbarkeit ihrer Grundbegriffe niemals ungestossen wird (zur besonderen Beachtung der grundsätzlichen Skeptiker).“28

Elliott H. Lieb und Jakob Yngvason gelangen in ihrer fundamentalen Arbeit zur Begründung der Thermodynamik zum Schluss, dass eine allgemein gültige Herleitung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik aus der statistischen Mechanik ein Ziel darstellt, das sich bislang auch tiefen Denkern entzogen hat. Ihre axiomatische Annäherung an dieses fundamentale Problem erlaubt es ihnen, den zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik ohne konzeptiven Rückgriff auf die Vorstellung eines Atoms zu formulieren, die für Boltzmann epistemisch und physikalisch zentral war und Mach epistemologisch zurückwies.29 Heraklit lächelt verschmitzt …

Anhang Mach und Boltzmann Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien Ernennnungen Tabellarische Übersicht nach Lebensalter geordnet Lebensalter 22 23 24 25

Mach (geb. 1838) Promotion Habilitation/Privatdozent

Boltzmann (geb. 1844) Promotion Habilitation/Privatdozent

Wahlvorschlag zum k. M. der math.-nat. Kl., 14. Mai 1863 keine Mehrheit (Fortsetzung)

 Albert Einstein, Autobiographical Notes, in Paul Arthur Schilpp, Hrsg., Albert Einstein: Philosopher-Scientist, Evanston, Ill.: The Library of Living Philosophers, 1949, S. 32. 29  Elliott H. Lieb and Jakob Yngvason, The Physics and Mathematics of the Second Law of Thermodynamics, Physics Reports 310 (1999), S. 1–96; on 5. Idem, A Fresh Look at Entropy and the Second Law of Thermodynamics, Physics Today 53 (April 2000), S. 32–37; Letters: Entropy Revisited, Gorilla and All, ibid. (October 2000), S. 11–12, 14, 106. 28

164 Lebensalter 27

W. L. Reiter Mach (geb. 1838) Wahlvorschlag zum k. M. der math.-nat. Kl., 15. Mai 1865 keine Mehrheit

Wahlvorschlag zum k. M. der math.-nat. Kl. a. o. Gesamtsitzung 13. Juni 1872, keine Mehrheit

28

29

Wahlvorschlag zum k. M. der math.-nat. Kl., 14. Mai 1867 Wahl zum k. M. der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, math.-nat. Kl. Wahl zum k. M. der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, math.-nat. Kl., 29. Mai 1874 Wahlvorschlag zum w. M. der math.-nat. Kl., Gesamtsitzung, 28. Mai 1879, keine Mehrheit Wahlvorschlag zum w. M. der math.-nat. Kl., a. o. Gesamtsitzung, 28. Mai 1880, Wahlvorschlag: Mach, Weyr, Boltzmann

30

35

36

37

Boltzmann (geb. 1844)

Wahlvorschlag zum w. M. der math.-nat. Kl.

38

41

Wahlvorschlag zum w. M. der math.- nat. Kl. a. o. Gesamtsitzung, 28. Mai 1879, Wahl für 2 Stellen w. M. 1. Platz: v. Barth, Lieben, v. Hebra; 2. Platz: Lieben, v. Hebra, Mach

42

Wahlvorschlag das k. M./Prag als w. M. zu ernennen, Prag, 8. Mai 1880 a. o. Gesamtsitzung, 28. Mai 1880, Mach wird im 3. Wahlgang auf den 1. Platz gewählt; Wahlvorschlag: Mach, Weyr, Boltzmann Wahl zum w. M. der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, math.- nat. Kl.

Wahlvorschlag zum w. M. der math.- nat. Kl. erneuert 11. Mai 1882 a. o. Gesamtsitzung vom 24. Mai 1882, 1. Terne: Oppolzer, Weyr, Wiesner; 2. Terne: Weyr, Wiesner, Leitgeb; 3. Terne: Wiesner, Leitgeb, Boltzmann Wahlvorschlag zum w. M. der math.-nat. Kl. erneuert 15. Mai 1885, a. o. Gesamtsitzung, 20.5.1885; 1. Terne: Boltzmann, Zepharovich, Claus 2. Terne: Zepharovich, Claus, Brauer 3. Terne: Claus, Brauer, Pfaundler Wahl zum w. M. der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, math.-nat. Kl.

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Weiterführende Literatur Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.: Personalakt Ludwig Boltzmann, Personalakt Ernst Mach; Protokolle der außerordentlichen Sitzungen der math.-nat. Klasse; Protokolle der außerordentlichen Gesamtsitzungen. Boltzmann, Ludwig. 1906. Nekrolog mit Portrait, verfasst von Generalsekretär Viktor von Lang. Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 56:307–309. Mach, Ernst. 1916. Nekrolog mit Portrait, verfasst von Generalsekretär Friedrich Becke. Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 66:328–334.

Personenregister

A Adler, A. 49 Anschütz, O. 117, 119 Avenarius, R. 105

Dorer, M. 55, 56 Duhem, P. 28, 29 Dvořák, V. 114

B Banks, E. 24, 27, 35 Barth, L. v. 154, 157 Baumgartner, A. v. 154 Becke, F. 156 Bernfeld, S. 62 Biarnais, F.-M. 127 Boltzmann, L 22, 150, 153, 155, 157–162 Brauer, F.M. 159 Brentano, F. 50, 55–58, 61 Breuer, J. 47, 48 Brücke, E. 47, 154, 158, 159 Brühl, C. 58 Burg, A.v. 158

E Ebbinghaus, H. 104 Ebner-Rofenstein, V.v. 160 Eder, J.M. 112, 121, 122 Einstein, A. 38, 163 Ellenberger, H.F. 56 Epple, M. 31 Escherich, G.v. 157, 160 Ettingshausen, A.v. 153, 154 Exner, F.S. 153, 156, 157, 158, 160 Exner, S. 47

C Cajori, F. 126, 136 Carlyle, Th. 57 Carnap, R. 24, 62 Chvolson, O.D. 127 Claus, C. 58, 159, 160 Cohen, I.B. 128, 136 Cohen, R.S. 47 Cranz, C. 119–121 D Darwin, C. 23, 58, 59, 70 Descartes, R. 63, 67, 69, 70, 78, 79, 82, 124, 133

F Fechner, G.Th. 52, 100–102, 103, 105 Feigl, H. 13, 14, 71 Ferenczi, S. 46–49 Feuer, L.S. 48 Fichte, J.G. 82 Fließ, W. 46, 55, 59, 60, 70, 72, 73 Foucault, M. 109 Frank, Ph. 12, 13, 15, 24 Franz I., Fürst von und zu Liechtenstein 158 Freud, S. 46, 49–51, 65, 66, 69, 71–73, 76, 80, 81, 83, 84 Frey, Ph. 49 Friedjung, J.K. 62 Fuchs, O. 113

© Springer Nature Switzerland AG 2019 F. Stadler (Hrsg.), Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 29, https://doi.org/10.1007/978-3-030-03772-7

167

168 G Galilei, G. 29, 30, 37, 38, 40, 41, 124, 130 Glatzel, B. 116 Gomperz, E. 51 Gomperz, H. 51 Gomperz, Th. 51 Gomperz, K. 157, 160

H Haeckel, E. 12, 48, 58 Hagmann, J. 115 Haidinger, W. v. 153, 154 Hale, G.E. 160 Haller, R. 13, 28 Hankel, H. 28, 31 Hann, J. 156–160 Hartmann, H. 62 Hatschek, B. 160 Hawking, S. 127 Hebra, F. v. 154 Heidelberger, M. 31, 43 Heine, H. 63 Helm, G.F. 28, 156 Helmholtz, H. v. 12, 52 Herbart, J.F. 48, 55, 56–59 Hering, E. 47, 154 Herivel, J. 129, 133–135 Hess, V.F. 160 Hitschmann, E. 49 Hlasiwetz, H. 158 Hoffmann, Ch. 119 Howard, D. 25 Hume, D. 77 Husserl, E. 50, 80

J Jacquier, F. 126, 135 Jerusalem, W. 1, 9, 12, 60 Johnston, W. 55, 56

K Kadanoff, L.P. 162 Kant, I. 57, 63 Karl Franz Josef, Erzherog 121 Karpinska, L. v. 55, 56 Knochenhauer 116 Kopernikus, N. 70 Krause, Ch.F. 67 Krilov, A.N. 126, 127 Külpe, O. 103–108 Kuhn, Th. 24, 35

Personenregister L Lamarck, J.B. 5, 23, 58, 59 Lampa, A. 112–114 Lampa, E. 114 Lamprecht, K. 113 Lange, L. 28 Lang, V.v. 153, 154, 157–160 Leibniz, G.W. 28, 57, 58 Leitgeb, H. 159 Leopold Salvator von Habsburg-Lothringen, Erzherzog 158 le Seur, Th. 126, 135 Lichtenberg, G.Ch. 70 Lieb, E.H. 163 Lieben, A. 154, 157, 159, 160 Lindner, G.A. 56, 59 Littrow, K.v. 154, 158 Locke, J. 57, 82 Lodge, O. 33, 35 Loschmidt, J. 154, 158, 159, 162 Lott, F. 59 M MacGregor, J.G. 27, 32–36, 38, 40–43 Mach, E. 22–24, 26, 27, 32–37, 39–41, 46, 47, 49, 50, 52, 59, 61, 63, 65, 66, 68, 69, 71, 75, 76, 83, 100, 105, 106, 108, 112, 113, 115, 118, 120, 122–124, 127, 129, 143, 150, 153, 156–158, 161 Mach, L. 112, 113, 115, 117, 119 Marey, E.-J. 117, 119 Merleau-Ponty, M. 68 Mertens, F. 157, 158, 160 Métraux, A. 119 Metternich, K.W.L.v. 150 Mill, J.S. 51, 57 Mojsisovics, E. 156 Motte, A. 123, 126–130, 136 Müller, G.E. 108 Müller, J. 52 Muybridge, E. 119 N Neumann, J.v. 115 Neurath, O. 12–15, 21, 24, 62 Newton, I. 123–141. 157 Nietzsche, F. 57 O Oettingen, A. 116 Oppolzer, Th. 159 Ostwald, W. 12, 14, 156

Personenregister P Penck, A. 160 Pfaundler, L. 157, 159 Poincaré, H. 160, 162 Popper-Lynkeus, J. 6, 15, 17, 18, 46 Pseudonym von Philipp Friedmann 49, Siehe Frey, Ph. R Ranke, L. 30 Rank, O. 64 Reich, W. 62, 72 Reuss, A.E. 158 Ribot, Th. 77 Riegler, S. 112, 117, 118 Rokitansky, K. 52 Rouse Ball, W.W. 128 Russell, B. 12, 50 S Salcher, P. 112, 117, 118 Schrötter von Kristelli, A. 153, 154, 158 Seeger, R.J. 115 Silberstein, E. 56–58 Skraup, Z.H. 160 Spinoza, B. d. 106 Steindacher, F. 160 Stein, F.v. 155 Stricker, S. 58 Suess, E. 156, 157, 159 Swoboda, W.W. 7, 22, 23 T Tait, P.G. 34, 127 Tascón, C.L. 127 Thomson, W. 127

169 Töpler, A. 116 Tschermak, E. 156–158, 160 Tyler, E.B. 25, 26

U Uebel, Th. 14, 22, 43

V Volkelt, J. 57

W Weiss, E. 154, 156, 158–160 Weißenborn, H. 28 Weltrubsky, J. 116 Wessely, F.X. 59 Weyr, E. 155, 159 Wiedemann, G. 34 Wiesner, J.v. 159, 164 Winckler, A. 158 Wittgenstein, L. 1, 12, 13, 16, 49, 52 Wohlwill, E. 28, 29 Wolfers, J.Ph. 126, 127, 136 Wood, R.A. 115 Wundt, W. 52, 101–105

Y Yngvason, J. 149, 163

Z Zilsel, E. 14, 24 Zuckerkandl, R. 114 Zuckerkandl, Th. 113–115