Ernst Forsthoff: Kolloquium aus Anlaß des 100. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst Forsthoff [1 ed.] 9783428509393, 9783428109395

"In den letzten Monaten habe ich mich aus vielerlei Gründen, nicht nur bei der Vorbereitung dieses Kolloquiums, ein

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Ernst Forsthoff: Kolloquium aus Anlaß des 100. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst Forsthoff [1 ed.]
 9783428509393, 9783428109395

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W i l l i Blümel (Hrsg.)

Ernst Forsthoff

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 30

Foto: Karl J. Mauch

Ernst Forsthoff

Ernst Forsthoff K o l l o q u i u m aus Anlaß des 100. Geburtstags v o n Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst Forsthoff

In Gemeinschaft mit Karl Doehring und Hans H. Klein herausgegeben von W i l l i Blümel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-10939-2

Vorwort A m 13. September 2002 versammelten sich in der Aula der Alten Universität Heidelberg Kollegen, Schüler und Freunde sowie die Familie Forsthoff, um Ernst Forsthoff s 100. Geburtstag zu feiern. Gekommen waren über 160 Personen. Zu dem Kolloquium eingeladen hatten Karl Doehring, Hans H. Klein und der Unterzeichnete als habilitierte Schüler von Ernst Forsthoff, nicht - wie beim 100. Geburtstag von Gerhard Anschütz am 10. Januar 1967, als Ernst Forsthoff die Gedächtnisrede hielt (Der Staat 1967, S. 139 ff.) - die Juristische Fakultät der Universität Heidelberg. Es war eine würdige Geburtstagsfeier. Der vorliegende Band enthält die vier Referate des Kolloquiums - von Karl Doehring, Hans H. Klein, Matthias Herdegen und Michael Ronellenfitsch, ferner das Schlusswort des Unterzeichneten. Aus technischen Gründen musste auf eine Aufnahme und Wiedergabe der Diskussionsbeiträge verzichtet werden, in denen auch andere Themen aus dem breiten Wirken von Ernst Forsthoff angesprochen wurden. Ein Bericht über das Kolloquium aus der Feder von Bernhard Stüer wird im „Deutschen Verwaltungsblatt" erscheinen. Außerdem wird auf den Beitrag von Jürgen Kaube, Die Vorsorgemaschine (Zum einhundertsten Geburtstag des Juristen Ernst Forsthoff) in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Nr. 214 vom 14. September 2002 (S. 34) verwiesen. Der Dank der Veranstalter gilt allen, die zum Gelingen des Kolloquiums beigetragen haben, ferner dem Verleger Norbert Simon für die Aufnahme des Bandes in seine renommierte Reihe „Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte". Wilhelmsfeld / Speyer, im Oktober 2002

Willi Blümel

Inhaltsverzeichnis Ernst Forsthoff als Hochschullehrer, Kollege und Freund Von Prof. Dr. Dres. h.c. Karl Doehring, Heidelberg

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„Der totale Staat" - Betrachtungen zu Ernst Forsthoffs gleichnamiger Schrift von 1933 Von Prof. Dr. Hans H. Klein, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., Pfinztal / Göttingen 21 Ernst Forsthoffs Sicht vom Staat Von Prof. Dr. Matthias H erde gen, Bonn

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Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff - Aktuelle Entwicklungen im nationalen und europäischen Recht Von Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch,

Tübingen

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Schlusswort Von Prof. Dr. Willi Β lume /, Wilhelmsfeld / Speyer

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Ernst Forsthoff als Hochschullehrer, Kollege und Freund Von Karl Doehring

Meine Damen und Herren, liebe Kollegen und Freunde, liebe Familie Forsthoff! Seien Sie herzlich begrüßt zu dieser akademischen Gedenkfeier, die Herr Blümel, Herr Klein und ich selbst privatissime veranstalten. Dieses Auditorium ist so eindrucksvoll zusammengesetzt, dass ich einzelne nicht begrüßen kann unter den Mitgliedern juristischer Fakultäten, der Anwaltschaft, der industriellen und kommerziellen Gesellschaft, der Ministerien und der Hohen Gerichtsbarkeit. Es geht hier um die Ehrung einer außergewöhnlichen Persönlichkeit der Zeitgeschichte - in allen ihren Stärken und auch Grenzen. Es geht nicht um eine Heiligenverehrung, sondern um eine Rückbesinnung auf eindrucksvolle juristische und menschliche Entwicklungen, die uns alle auch geprägt haben. Im Jahre 1950 nahm Ernst Forsthoff seine Tätigkeit als Hochschullehrer an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg wieder auf, nachdem die Nationalsozialisten ihm in Wien die Lehre untersagt hatten und die amerikanische Hochschulaufsicht in Heidelberg 1945 ein gleiches Verbot aussprach. Wäre Ernst Forsthoff zu dieser Zeit in der Sowjetischen Besatzungszone gewesen, wäre ihm wohl auch dort die Lehre untersagt worden. In einem strafrechtlichen Seminar kündigte 1950 Karl Engisch den Studenten an, es werde demnächst nun an der Fakultät ein Professor wieder tätig werden, von dem er meine, es handele sich um den derzeit bedeutendsten Hochschullehrer des Öffentlichen

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Rechts. Wir nahmen diesen Hinweis gerne auf, und für viele von uns war er wohl für die spätere Lebensgestaltung entscheidend. Aber bevor ich darauf eingehe, warum das so war, möchte ich doch die Atmosphäre des damaligen Studiums und diejenige der Universität in Kürze charakterisieren. Zu einem großen, wenn nicht gar zu einem überwiegenden Teil bestand die Hörerschaft damals aus Kriegsteilnehmern. Sie kamen in gewisser Weise desillusioniert aus der Gefangenschaft, aus Lazaretten, aus zerstörten Städten und aus Tätigkeiten, die dem nackten Uberleben dienten, was geradezu wörtlich zu nehmen ist. Für ehemalige Offiziere war die Immatrikulation mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, denn sie wurden verdächtigt, treue Anhänger des NS-Regimes gewesen zu sein, auch wenn sie selbst meinten, nur ihre Pflicht getan zu haben. Die meisten von den Älteren kannten noch die Weimarer Verfassung und jeder kannte das NS-Regime. Die Hörsäle waren überfüllt, sicherlich aus Wissensdurst, aber weitgehend wohl deswegen, weil die Berufsausübung sobald als möglich gewollt war. Langzeitstudenten gab es nicht; jeder wollte so schnell wie möglich fertig werden. Der Lehrstoff war begrenzt. Das Grundgesetz trat während unserer Studienzeit in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht war noch nicht tätig geworden. Das Verwaltungsrecht war unkodifiziert, und alles war noch der Auslegung zugänglich. Ich erinnere mich an eine Hausarbeit, in der ich schrieb, es könne doch sein, dass eines Tages im Bundestag und im Bundesrat verschiedene politische Mehrheiten bestünden, und dann sei die Konfliktlösung schwierig. Das war in einer Übung bei Walter Jellinek. A m Rande meiner Arbeit stand die Bemerkung: „völlig abwegig". Es ist offenbar nicht auszuschließen, dass die juristische Phantasie eines Studenten auch einmal weiter reicht als die eines Professors. Im Zivilrecht hörten wir von Prof. Kunkel, dem berühmten Römischrechtler, er sei gerade zu einem Besuch in den USA gewesen, aber er müsse feststellen, eigentlich hätte er sich mit amerikanischen Physikern besser unterhalten können als mit juristischen Kollegen. Der hierbei anwesende Ernst Rabel rettete dann die Reputation des common law.

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Im Strafrecht debattierten wir über die Frage, ob denn nulla poena sine lege im Nürnberger Prozess hätte gelten sollen. In einem der ersten Seminare von Ernst Forsthoff ging es darum, ob nun Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht angemessener sei, oder ob ein Streikrecht der Gewerkschaften nicht eigentlich die Rechtsordnung zerstöre und Faustrecht gegenüber Vertragsrecht prämiere. Sich heute noch an diese Fragen der Frühzeit des Grundgesetzes zu erinnern, könnte manchmal hilfreich erscheinen. Neben einem Studenten, der den Arm verloren hatte, saß ein anderer, der nur noch ein Bein hatte, dann kam ein Rollstuhlfahrer. Wir alle wollten nun wissen, wie die öffentliche Ordnung eingerichtet werden sollte, und wir wollten wissen, was denn nun der neu proklamierte Rechtsstaat für uns bedeute, die wir doch einem Unrechtsstaat fast unser Leben geopfert hätten. Viele der Besten, die hier hätten mit uns nachdenken können, waren gefallen. In dieser Atmosphäre lernten wir nun Ernst Forsthoff näher kennen. Wir trafen einen ganz anderen Hochschullehrer, verglichen mit vielen, die wir sonst um uns sahen. Keine päpstliche Distanz zu uns, ein zutiefst ernsthaftes Bemühen, die Problemsicht zu vertiefen, ein etwas hintergründiges Lächeln, wenn wir z.T. recht strikt und voraussetzungslos unsere Meinung äußerten. Wenn einer meinte, das Berufsbeamtentum habe doch wohl seine Bedeutung verloren, nachdem das Dienen am Staat in persönlicher Hingabe desavouiert worden sei, oder wenn jemand meinte, der Staat sei doch nur ein Vorschriftenbündel, das Opferbereitschaft nicht mehr verlangen könne, wurde die Auskunft von Ernst Forsthoff nicht trocken dogmatisch gegeben, nicht unter Hinweis auf angeblich unumstößliche Grundsätze, sondern geduldig mit Blick auf historische Entwicklungen und mit einem vollen Verständnis für Probleme, die heute kaum noch jemand beim Namen nennt, oder denen wegen ihrer Unauflöslichkeit schweigend ausgewichen wird, hat doch die Bindung an das Richterrecht der hohen Gerichtsbarkeit einer Art von Dezisionismus Vorrang vor der Rechtsphilosophie verschafft.

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Nach solchen Seminaren gingen wir zusammen in das Mainzer Rad, und dort gingen die Debatten weiter. Dann bot er uns an, wir sollten seine Seminare in seinem Haus in Schlierbach abhalten. A m ersten Abend dort las er uns aus Sartre's Werken vor. Das hatten wir nicht erwartet. Wir wurden in hintergründige Gedankengänge eingeführt, die uns schon dumpf beschäftigt hatten und so nun klare Konturen erhielten. Wir blieben weit über das erste Staatsexamen hinaus mit ihm auf der Suche nach dem Sinn des Rechts und seiner Ordnung. Niemals haben wir von ihm eine abschliessende Bemerkung gehört, aber immer das Bekenntnis zu Prinzipien, die er selbst nicht aufzugeben bereit war, auch wenn er anderen konzedierte, sie nicht anzuerkennen. Die menschliche Atmosphäre im Hause Forsthoff, die so liebenswürdige Betreuung auch durch seine leider so früh verstorbene liebenswerte Frau und seine Kinder, erzeugten ein Vertrauensverhältnis, eigener Art, eine geistige Heimat. Tochter Susanne ist nun leider nicht mehr unter uns. Forsthoffs Vorlesungen waren „klassisch". Es gab keine Zwischenfragen im Sinne der sog. Sokratischen Methode. Er versuchte, das Gebäude seiner Gedanken in großer Geschlossenheit vorzuführen. Jede Zwischenfrage hätte die Konstruktion dieses Gebäudes undurchsichtig gemacht. Im Verwaltungsrecht ging es zuförderst nicht darum, wie man sich vor der Verwaltung schützt, sondern wie man gut verwaltet; der Gerichtsschutz war nicht Selbstzweck, sondern Korrektur. Die Freiheit zu guter Verwaltung, entnahm er dem Ermessensbegriff. Die Freiheit zu guter Regierung leitete er ab von einem Vertrauensvorschuss, wobei die Möglichkeit seines Mißbrauchs ihn beunruhigte. Als er 1967 sein Amt niederlegte, sagte er anlässlich eines Fackelzuges, der ihm dargebracht wurde, es sei nicht die Norm, sondern der Mensch, der dem Recht seine Würde verleihe. Das war wohl das Credo seiner Rechtsauffassung. Vielleicht kann ich Forsthoffs Verhältnis zu seinen Schülern am besten damit charakterisieren, wenn ich an meine eigene Dissertation erinnere. Ich hatte ein Argument verwendet, das ich für besonders gut hielt. Forsthoff sagte mir, mein Argument sei

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schlüssig, aber es gefalle ihm dennoch nicht. Hier paarten sich Toleranz und das Festhalten an seiner eigenen Auffassung. Es gab keine Auflage zur Drucklegung der Dissertation. Darin lag die Anerkennung des Anderen. Spätere Erfahrungen zeigten mir, dass das keine Selbstverständlichkeit war. Wie oft habe ich erlebt, dass Doktorväter Arbeiten nicht passieren ließen, wenn sie ihre Auffassungen nicht übernahmen.

Ernst Forsthoff als Kollege Er wurde in sein volles Lehramt erst 1952 wieder eingesetzt. Das war eine Unterbrechung von vielen Jahren, in denen er als Hochschullehrer nicht tätig sein konnte. Er hatte dann ein Angebot, einen Lehrstuhl in Frankfurt am Main zu übernehmen, was aber daran scheiterte, dass zwar die Fakultät ihn haben wollte, das Ministerium ihn aber ablehnte. Kurz bevor er seinen Lehrstuhl wieder erhielt, hatte ihn noch ein Ruf nach Kiel erreicht. Es deprimierte ihn etwas, dass die Heidelberger Fakultät sich nicht früher und stärker für seine Wiedereinsetzung engagiert hatte. Hieran lag es wohl auch, dass er im Rahmen der Fakultät sich ein wenig als Außenseiter fühlte. Allerdings nahm dieses Gefühl in den folgenden Jahren wohl auch wieder ab. Trotzdem blieb er immer eine singuläre Figur. Nachdem ich 1962 habilitiert war, waren es noch sechs Jahre bis ich dann auf seinen Lehrstuhl berufen wurde. So war ich noch lange Zeit als Privatdozent, als Honorarprofessor und als sein Nachfolger aktiv mit ihm in der Fakultät tätig. Seine Position war in gewisser Weise distingiert. Seine wissenschaftliche Kompetenz war völlig unumstritten. Sie wurde bewundert, aber auch von manchen etwas neidvoll betrachtet. Aber es wäre undenkbar gewesen, ihm bei gegensätzlichen Auffassungen mit Schärfe zu begegnen. Ich habe manchmal mit Bedauern erlebt wie jüngere Kollegen recht respektlos älteren gegenüber traten. Doch das wäre bei Ernst Forsthoff nicht vorstellbar gewesen. Wenn es in der Fakul-

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tat gegensätzliche Meinungen gab, replizierte er in gleich vornehmer Weise wie in seinen Seminaren. Es ging ihm nicht so sehr darum, das Argument des anderen zu widerlegen, sondern seine eigene abweichende Auffassung aus ihr selbst zu begründen. Er sagte nicht, warum die andere Auffassung falsch sei, sondern warum er seine eigene für überzeugend halte; er griff nicht auf Temperamentsaufwallungen zurück, um seine Auffassung eindrucksvoll zu machen, aber doch war er bereit, einen leisen Sarkasmus zu praktizieren. Seine diesbezügliche Formulierungsgabe ist bekannt. Er wurde hin und wieder im Kollegenkreis offen oder verdeckt wegen seiner Haltung im Dritten Reich kritisiert. Das geschah zwar recht selten, aber Anwürfe aus dem Kreise der Staatsrechtslehrer erreichten ihn doch. Zum Teil war er darüber amüsiert, denn es fiel manchmal nicht schwer, Kritiker auf die frühere eigene Vergangenheit zu verweisen. Ich könnte hier Beispiele nennen, aber neue Verletzungen möchte ich nicht erzeugen. Nicht wegen seiner Vergangenheit, sondern aus aktuellem Anlass wurde er auch von Fakultätskollegen kritisiert. Er erzählte mir einmal, zwei Kollegen hätten ihm bedeutet, er solle sich politisch zurückhalten, sonst wäre es vielleicht nicht angebracht, dass er Dekan würde. Forsthoff hatte sich mit seinem verhaltenem Sarkasmus über die Persönlichkeiten hoher Staatsorgane geäußert. Doch seine eigene Fairness im Kollegenkreis war großartig. Kollegen, von denen er wusste, dass sie mitgewirkt hatten, ihn zu Ende des Krieges von seinem Lehrstuhl zu entfernen, trat er dennoch angemessen und vornehm gegenüber. Als ich ihn einmal besuchte und ihn um Rat bat, weil ich in einer Zeitung wegen politischer Äußerungen unfair kritisiert worden war, war seine Antwort entwaffnend. Er sah mich an, lächelte und sagte: Sie sind nicht trainiert. Später war ich trainiert. Zwei Vorgänge waren es, die mir zeigten, dass Forsthoff doch auch verletzlicher war als ich glaubte. Diese Ereignisse, die ihn schockiert hatten, hatten zwar politische Gründe, aber sie berührten ihn menschlich mehr als politisch. Ein Ereignis war die Aufforderung an ihn, auf der Staatsrechtslehrertagung 1965 in Basel zu sprechen. Er war vom Vorstand der

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Vereinigung aufgefordert worden, ein Referat zu halten, und er hatte dieses Angebot gerne angenommen. Dann aber erhoben sich Bedenken sowohl auf schweizerischer als auch auf deutscher Seite. Man wies den Vorstand daraufhin, dass ein Referat von Forsthoff unangemessen sei; man könne ihn im Ausland wegen seiner politischen Vergangenheit nicht präsentieren. Hierauf sagte Forsthoff sein Referat ab, und die Tagung wurde nach Würzburg verlegt. Forsthoff war zutiefst verletzt. Er sagte mir, eine Zweiklassengesellschaft könne er in der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer nicht akzeptieren. Man könne die Staatsrechtslehrer nicht in solche einteilen, die im Ausland sprechen dürfen und solche, bei denen das zu verhindern sei. Forsthoff erklärte seinen Austritt aus der Vereinigung. Wenn es um Aufrechnung gehe, sagte er mir, stünde er nicht schlecht da. Aber er könne einer Vereinigung nicht länger angehören, die ihn diskriminiere und desavouiere. Ich versuchte ihn umzustimmen, denn er sei „trainiert"; aber er wollte an dem Austritt aus der Vereinigung festhalten. Zu Beginn der dann folgenden Tagung in Graz bat ich noch vor der Mitgliederversammlung den damaligen Vorstand, er möge auf einen Beschluss der Vereinigung hinwirken, mit dem Forsthoff zum Verbleib in ihr aufgefordert würde. Da wurde mir recht rigoros geantwortet, der Vorstand würde das nicht versuchen; man wolle „die Sache vom Tisch" haben. Ich stellte dann den Antrag persönlich in der Mitgliederversammlung - zusammen mit einigen Kollegen - , und er wurde in der Weise angenommen, dass nun ein älterer Kollege Forsthoff aufsuchen sollte, um ihm mitzuteilen, die Vereinigung bedaure seinen Austritt und würde es begrüßen, wenn er bliebe. So geschah es, und Forsthoff blieb Mitglied. Aber die Narbe verheilte wohl nie ganz. Der zweite Fall, in dem ich Ernst Forsthoff verletzt gesehen habe, war die Sechshundert-Jahrfeier der Universität Wien. Ihre Juristische Fakultät hatte beschlossen, ihm die Ehrendoktorwürde zu verleihen, wohl auch in dem Gedanken daran, dass er in Wien unter dem NS-Regime keine Vorlesung halten durfte.

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Kurz vor der Feier wurde Ernst Forsthoff mitgeteilt, dass höhere Instanzen der Verleihung nicht zugestimmt hatten, bzw. die Zustimmung zurückgezogen hatten. So fuhr Forsthoff natürlich nicht nach Wien; es verletzte ihn aber nun umso mehr, dass Kollegen, die er für seine engeren Freunde gehalten hatte, nichts unternahmen, um der Wiener Universität ihr Missfallen auszudrücken, sondern die Angelegenheit stillschweigend übergingen. Die Wiener Fakultät hat an ihrem Beschluss festgehalten, Forsthoff die Ehrendoktorwürde zu verleihen, und später geschah das dann auch in kleinem Kreis in Heidelberg. Doch blieb ein Schatten über dieser Verleihung, die mit einer Desavouierung begonnen hatte und auch durch Kollegialität nicht kompensiert wurde. Forsthoff legte 1967 sein Amt nieder. Als dann 1968 die ersten Studentenunruhen begannen, meinte er, dieser sein Entschluss sei richtig gewesen; das sei nun nicht mehr seine Universität.

Ernst Forsthoff als Freund Von seinem Freundeskreis kann ich nur für die Jahre nach 1945 persönlich etwas eingehender berichten, aber selbstverständlich war dieser Kreis von demjenigen früherer Zeiten nicht zu trennen. Würde ich Namen nennen, könnte es sein, dass mein Bericht Irrtümern unterliegt. Aber die Atmosphäre kann ich doch schildern. Forsthoffs Freundeskreis war so weit wie sein ungewöhnlich breites intellektuelles, geistiges und wissenschaftliches Interesse reichte, d. h. weit über die reine Jurisprudenz hinaus. Philosophen und Geistliche, Verleger, Industrielle, Schriftsteller und Künstler waren einbezogen. Das wurde wohl auch durch den Teilnehmerkreis an den regelmäßigen Seminaren in Ebrach bestätigt, und das entsprach auch seiner Auffassung von der Funktion des Rechts in der Gesellschaft. Sicherlich war der Kontakt mit denen, die eine geistige Gleichstimmung mit ihm empfanden, durchaus enger. A m engsten war die Verbindung wohl zu denjenigen, die mit ihm das Gefühl hatten, unser Staatswesen nach 1945 habe sein Fundament verloren, seine Grundsubstanz, die den Staat aus-

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mache. Für ihn war das Grundgesetz - wie er oft sagte und schrieb - das Ergebnis einer „Lage", nicht einer Grundkonzeption als historisch-politischem Phänomen. Für ihn waren die Vermeidung von Weimar und die Tendenzen der Besatzungsmächte die stärksten Faktoren für die Erfindung unserer neuen Verfassung. Einen besonderen Platz in seinem Freundeskreis nahm wohl ohne Frage Carl Schmitt ein. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn in den Jahren von 1936 bis 1945 war die Verbindung unter ihnen unterbrochen. Die Gründe hierfür sind bekannt; sie beruhten u. a. auf einem Auftritt von Carl Schmitt auf der Rechtswahrertagung von 1936, auf der dieser die strikte Ausgrenzung der jüdischen Kollegen aus der Rechtswissenschaft forderte. Das war das Ergebnis der Auffassung, dass der Staat sich der national-sozialistischen Bewegung unterzuordnen habe, vergleichbar dem Marxismus des Einparteiensystems, in dem die Parteiführung des Staates auch die Verfassungsauslegung authentisch vornahm, und so sich das Recht der politischen Führung zu beugen hatte. Ernst Forsthoff hatte im „Totalen Staat" darauf hingewiesen, dass die „Bewegung" nicht dem Staat als Rechtserzeuger übergeordnet sein könne, wolle der Staat sich nicht aufgeben. Der NS-Ideologe Rosenberg hatte - wie Forsthoff mir erzählte - das nachhaltig kritisiert. Mit dieser Tagung endete - zunächst - die Verbindung von Forsthoff zu Carl Schmitt. Forsthoff hatte schon 1935 sich vom Nationalsozialismus abgewendet. Dennoch haben beide nach 1945 wieder zueinander gefunden. Ich habe mit Ernst Forsthoff über diesen mich überraschenden Wandel gesprochen, wenn auch nur in Andeutungen, auf die ich alsbald zurückkommen werde. Ich habe nur wenig Erklärungen für dieses wieder entstandene Zusammengehörigkeitsgefühl; die eine ist eine tiefe Dankbarkeit Forsthoff's dafür, dass Carl Schmitt ihm als jungem Mann den Zugang zur Rechtswissenschaft erschlossen hat. Forsthoff sagte mir, dass die ersten juristischen Vorlesungen von Carl Schmitt für ihn eine Art Schlüsselerlebnis gewesen seien. Ein anderer Grund mag darin zu sehen sein, dass beide insofern ein gemeinsames Schicksal hatten, als sie nach 2 Blümel

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1945 von den Siegermächten ihrer Ansicht nach gleichermaßen diskriminiert waren; Forsthoff durch den Verlust seines Lehrstuhls - Carl Schmitt in gleicher, wenn auch nachhaltigerer Weise. Sie meinten, ihrem Staat - wenn auch recht verschieden - gedient zu haben und wurden nun zu Feinden ihres Staates deklariert. Es mag noch weitere Gründe gegeben haben, nur sind sie mir verschlossen, obwohl ich - mit aller Vorsicht - Aufklärung versuchte, denn was Ernst Forsthoff gegenüber Carl Schmitt als Lehrer empfand, verband mich auch und gerade mit Ernst Forsthoff. Daher lassen sie mich einige recht persönliche Bemerkungen machen, die aber durchaus zum Thema gehören. Für eine Art väterlicher Freundschaft war unser Altersabstand zu kurz, für eine Art brüderlicher Freundschaft zu groß. Das erzeugte eine Art der Partnerschaft mit selbsverständlicher Anerkennung seiner hohen Autorität. Immerhin aber kam ich als Offizier aus dem Kriege und hatte Erfahrungen sammeln können, die er nicht haben konnte. Die letzten Jahre seines Lebens war ich wohl einer derjenigen, die ihm besonders nahe standen. Seit der Staatsrechtslehrertagung in Graz 1966 teilte ich seine persönlichen Sorgen im Kollegenkreis. Wir reisten zusammen gerade dann, wenn er deprimiert schien. Meine Frau und ich begleiteten ihn auf dem Wege seiner Krankheit, und es gab zuletzt kaum zwei Wochen, in denen wir nicht lange Abende zusammensaßen. Doch ist immer eine gewisse Distanz geblieben, obwohl unser Vertrauensverhältnis auch aus seiner Sicht recht eng war. Trotz dieser recht engen persönlichen Verbindung hat mich Forsthoff nicht zu den Tagungen seines Seminars in Ebrach eingeladen, an denen häufig Carl Schmitt teilnahm. Ich erwähne das deshalb, weil es für den Charakter dieses besonderen Menschen aufschlussreich sein kann. Andererseits hat er durchaus und gern mit mir Themen erörtert, die für Ebrach in Betracht kommen könnten. Ich hatte Carl Schmitt in den frühen fünfziger Jahren im Haus Forsthoff kennen gelernt. Er wusste, welchen Belastungen meine

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Familie im Widerstand gegen den NS-Staat ausgesetzt war. Er wusste, was mein Vater für die Familien v. Schleicher und v. Bredow nach der Ermordung dieser Generäle im sog. Röhm-Putsch gegen das Regime unternommen hatte, und er kannte die Konsequenzen. Er wusste, dass ich „Der Führer schützt das Recht" gelesen hatte, und er wusste, dass ich für einen Staat als Soldat gekämpft hatte, der meinen Vater eingesperrt hatte, und den Vater meiner Nichte Dorothea Koch, den Rechtsanwalt Koch, ermordet hatte. Diese Spannung kam in meiner Begegnung mit Carl Schmitt im Hause Forsthoff nicht offen zum Ausdruck, aber Forsthoff befürchtete sie wohl für spätere Begnungen. Ich sagte ihm bei späteren Unterhaltungen, ich verstünde seine geistige Anhänglichkeit zu Carl Schmitt nicht ganz. Ich hätte Hochachtung vor Carl Schmitt als Denker, als umfassenden Geist, der mit unendlicher Bildung die Weltpolitik betrachte; aber letztlich könne ich nicht erkennen, dass Carl Schmitt ein Visionär des Rechts gewesen sei, sondern eher ein politischer Pragmatiker der Macht, der dann in diesem Pragmatismus nicht gezögert habe, eigene Grundpositionen zu verändern. Das nähme ich Carl Schmitt auch gar nicht übel, aber es hindere mich letztlich an einer Art Bewunderung. Er, Ernst Forsthoff, habe für mich in allen seinen Ausführungen ein doch ganz anderes Fundament der Rechtsanschauung geboten; er habe die Ethik nicht ausgeklammert, denn nach seiner Auffassung sei es der Mensch, der dem Recht seine Würde gebe, nicht die Norm. Das „konkrete Ordnungsdenken" Carl Schmitts passe dazu nicht, und auch nicht der nackte Dezisionismus. Ich habe auf diese Frage keine klare Antwort erhalten, obwohl ich das feste Gefühl hatte, durchaus Verständnis zu finden. Es war diese letzte Reserve, die er nicht aufgab. A n seinem Grabe habe ich Conrad Ferdinand Meyer in seinen Gedanken an Martin Luther zitiert: „Sein Geist war zweier Zeiten Schlachtgebiert, mich wundert's nicht, wenn er Dämonen sieht". Er verkörperte selbst den Menschen, der dem Recht seine Würde gibt, und der die Norm als Ausdruck dieser Würde versteht. Ich habe viele bedeutende Juristen gekannt, aber wohl kaum einen, der so hinter2*

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gründig und immer wieder fragend über die Funktion des Rechts nachgedacht hat. Das mag auch daran gelegen haben, dass er dreimal - Weimar - NS-Regime - Grundgesetz - seine eigene hohe Auffassung von der Funktion des Rechts überprüfen mußte, dem nie ausgewichen ist, aber sich auch der Möglichkeit des Irrtums bewusst war. Forsthoff sagte mir einmal, die Helden unserer Zeit seien die Gescheiterten. Wenn er sich selbst dazu gerechnet haben sollte, hat dieser aussergewöhnliche Mensch sich hier nun geirrt; hätte er recht, hätte diese heutige Zusammenkunft nicht stattgefunden. Er ist nicht gescheitert, denn seine Gedanken haben sich, wie wir noch hören werden, eindruckvoll fortgesetzt. Alles was ich hier nun gesagt habe, ist selbstverständlich subjektiv, aber ich hoffe doch, dass man in meiner Darstellung den Menschen wiederfindet, um den es hier geht. Gerne lasse ich mein Bild korrigieren, wenn andere Ernst Forsthoff anders begegnet sind und menschliche Züge entdeckt haben, die mir entgangen sind. Ich bittte sehr herzlich um solche Korrekturen. Und ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Der totale Staat" Betrachtungen zu Ernst Forsthoffs gleichnamiger Schrift von 1933 Von Hans H. Klein

Wir werden ein wenig zu wild geboren und heilen die gärenden Fieber durch Tränke von bitterer Art. Ernst Jünger, Afrikanische Spiele, Nr. 29 Nur das feurige Roß, das mutige, stürzt auf der Rennbahn, mit bedächtigem Paß schreitet der Esel daher.

Johann Wolfgang von Goethe, Die Sicherheit

I. Vorfeld Eine protofaschistische Staatsrechtslehre hat es in Deutschland nicht gegeben1. Aber überwiegend konnte die Staatsrechtswissenschaft der Weimarer Zeit kein positives Verhältnis gewinnen zur demokratischen Republik und ihrer Verfassung. Sie blieb auf der Suche nach der über den Parteiungen der Gesellschaft anzusiedelnden Einheit des Staates und beklagte den Verlust des Dualismus von Staat und Gesellschaft' 2. Eine gewisse Prädisposition für eine die plurale Struktur der Gesellschaft und ihren durch Parteien und Verbände vermittelten Einfluss auf den Staat hinter sich lassende Form der Regierung war gegeben. Der Staat, so lautete der auf breite Zustimmung stoßende Vorwurf Carl Schmitts, sei 1 H. Dreier; Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, WDStRL 60 (2001), S. 9 (14); s.a. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 3. Band: 1914 bis 1945,1999, S. 202. 2 Vgl. die „Schlußbemerkungen" in E. Forsthoffs 1931 veröffentlichter Habilitationsschrift „Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat", S. 180 ff.

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zur „Selbstorganisation der Gesellschaft" geworden 3. Der Staat, so hat Ernst Forsthoff diese Äußerung Schmitts interpretiert, „wurde grenzenlos, es vollzog sich die Wendung zum totalen Staat und damit bekam jedes gesellschaftliche Geschehen politische Qualität" 4 . Der hier von Forsthoff 5, soweit ersichtlich, erstmals verwendete Begriff des totalen Staates beschreibt die - in Anlehnung an Johannes Popitz und Carl Schmitt - „polykratisch" oder „pluralistisch" genannte Herrschaftsstruktur des Weimarer Staates, der seine Neutralität gegenüber der Gesellschaft aufgibt und sich mit ihr identifiziert. Der Begriff war also kritisch gemeint, denn er kennzeichnete einen Staat, der seiner Autorität über die Gesellschaft und damit der Fähigkeit verlustig gegangen war, den Bürgerkrieg, der sie stets latent und in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auch sichtbar bedrohte, zu verhindern 6 . Parteienkonkurrenz und Parteienstreit, Verbands- und Gewerkschaftsmacht, die Politisierung der Gesellschaft, damit der Verlust des staatlichen Monopols auf das Politische und folgeweise auch die liberalen Freiheitsrechte, unter deren Schutz diese Erscheinungen standen, galten nicht nur den Extremen von rechts und links, sondern auch konservativen Theoretikern als die eigentlichen Ursachen der augenfälligen Schwäche, die das politische System von Weimar zumal seit der Weltwirtschaftskrise beutelte. Ihm wurde zudem, wie bekannt, die Schmach des Frie3 Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 78. 4 Wie Fn. 2, S. 182; ausführlich: Schmitt, wie Fn. 3, S. 79. 5

Zu Forsthoff vgl. v.a.: K. Doehring, Ernst Forsthoff. Leben und Werk, in: Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 bis 1986, Band I I I (1985), S. 437; ders., Ernst Forsthoff, in: Juristen im Portrait. Verlag und Autoren in 4 Jahrzehnten. Festschrift zum 225-jährigen Jubiläum des Verlages C.H. Beck, 1988, S. 341; ders., Widmung in: Festgabe für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 1; K. Frey, Vorwort, in: Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1976, S. IX; P. Häberle, Zum Staatsdenken Ernst Forsthoffs, ZSchweizR N.F. 95 (1976), 1. Halbb., S. 477; K. Vogel, Ernst Forsthoff f, Die Verwaltung 8 (1975), S. 1; R. Mußgnug, Ernst Forsthoff, Badische Biographien I, 1982, S. 121; H. H. Klein, Forsthoff, Staatslexikon, Band 2 /1986, Sp. 649. - S.a. die Nachweise in weiteren Fußnoten. 6

Dazu: U. Storost, Die Verwaltungsrechtslehre Ernst Forsthoffs als Ausdruck eines politischen Verfassungsmodells, in: E. V. Heyen (Hrsg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, 1984, S. 163 (164).

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dens von Versailles zur Last gelegt. Bestimmend war nicht die Einsicht, dass die „Einheit" des Staates, sofern sie nicht erzwungene Uniformität sein soll, nur aus einem dialektischen Prozess streitiger Auseinandersetzung frei konkurrierender Ideen und Interessen hervorgehen kann, sondern die Vorstellung einer im Staat auf „organische" Weise zu verwirklichenden politischen Einheit des Volkes, der „Gemeinschaft" im Unterschied zur parzellierten „Gesellschaft" 7. Zu Beginn der dreißiger Jahre war das Vertrauen in die Fähigkeit der Institutionen des demokratischen Rechtsstaats - Gewaltenteilung, Parlamentarismus, Grundrechte - , die Krise zu bewältigen, zerbrochen 8. Auf festen Beinen hatte es ohnehin nie gestanden. Auf der Suche nach Auswegen und in dem Bestreben, die von Kommunisten und Nationalsozialisten angebotenen Radikallösungen zu vermeiden, wurden Pläne zur Reichsreform geschmiedet und das Projekt eines „präsidialautoritativen Staates", einer „Regierung über den Parteien", entwickelt 9 . Die „dritte Antwort auf die Frage nach dem Staate des 20. Jahrhunderts", wie sie Heinz O. Ziegler in seiner viel gelesenen Schrift „Autoritärer oder totaler Staat?" (1932) zu geben versuchte, zielte auf die „Sicherung einer Herrschaftsmöglichkeit überhaupt", „auf den Staat als Regierung, wobei als notwendige Ergänzung die Frage nach der Gliederung des Volkskörpers auftaucht" 10 . Ziegler wandte sich gegen die Demokratie, denn sie hebe „grundsätzlich die Selbständigkeit und über der politischen Parteiung stehende Autonomie des politischen Bereichs auf"; sie ermangele einer Instanz, die fähig wäre, den gesellschaftlichen Antagonismus „autoritär zu ordnen", und führe zur „Mediatisierung der Regierung" 1 1 . Demgegenüber beruhe der autoritäre Staat auf „Personalität, Unabhängigkeit, Autorität und Eigenverantwortlichkeit der 7 H. H. Klein in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 21 Rdnr. 77. Vgl. auch D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 4. Aufl., 2001, § 38 IV (S. 337 ff.). 8 Stolleis (Fn. 1), S. 200. 9 Willoweit (Fn.. 7), § 38 V 2 (S. 341).

10 Op.cit., S. 8. n Ebenda, S. 22, 26.

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Regierung" 12 . So stellte sich denn auch für Forsthoff im Jahr 1931 „für die Gegenwart ... die Aufgabe, ein allerorts durchlöchertes und verschwommen gewordenes System durch eine Ordnung zu ersetzen, die sich durch Übersichtlichkeit und klar verteilte Verantwortlichkeit auszeichnet" 13 . Ziegler war einer der Wortführer der „Konservativen Revolution" 1 4 , welcher auch die so genannten Jungkonservativen zugerechnet werden, eine (nach Möhler) zwischen „Völkischen" und „Nationalrevolutionären" einzuordnende Gruppe 15 . Als einer der Ihren gilt auch Ernst Forsthoff In ihren Zeitschriften, dem „Ring" insbesondere und dem „Deutschen Volkstum", hat er unter verschiedenen Pseudonymen in den Jahren 1930 bis 1935 vielfach publiziert 16 . Was die Vertreter dieser Richtung eint, ist die Gegnerschaft gegen „die gesamte kontinentale Herrschaftsentwicklung seit der französischen Revolution" 17 : Volkssouveränität, Parlamentarismus und Liberalismus. Nicht dass sie Reaktionäre gewesen wären! Zurück zur Monarchie wollten sie nicht. Mit Moeller van den Bruck 18 verstanden sie „das Konservative nicht als ein Hängen an dem, was gestern war, sondern als ein Leben aus dem, was immer gilt" 1 9 . Die gesellschaftlichen Gegensätze sollten im Hegeischen Sinne aufgehoben werden 20 . Ein „Staat des Volkes" sollte entstehen, „eine organische Einheit von Führung und Geführten, handlungsfähig und von einem einheitlichen Willen beseelt" 21 . Von der Annahme ausgehend, dass die Menschen ein12 Ebenda, S. 29. 13 WieFn.2,S. 186. 14

A. Möhler; Die konservative Revolution in Deutschland 1918 bis 1932, 5. Aufl. 1999; kritisch: S. Breuer; Anatomie der konservativen Revolution, 1993, der von einem „Konstrukt" spricht (S. 5). 15 Wie Fn. 14, S. 138 ff. 16 Vgl. die Bibliographie in: R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 2. Aufl. 1974, S. 495 (501 f., 536 f.). 17 H. O. Ziegler, Autoritärer oder totaler Staat?, 1932, S. 8. 18 Zu ihm: Möhler (Fn. 14), S. 401 ff. 19 Zit. nach Möhler (Fn. 14), S. 116. 20 Stolleis (Fn. 1), S. 320. 21 Ebenda, S. 321.

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ander nicht gleich sondern ungleich seien, zeigten sich die Jungkonservativen fasziniert von dem „Bild einer gegliederten Gestalt" 2 2 des Volkes. Abgestoßen von dem die Völker trennenden und einen „egalitären Kollektivismus" 23 im Innern befördernden Konzept der Nationaldemokratie, versuchten sie eine Wiederbelebung des Reichsgedankens in gewandelter Form. Sie dachten weder in den Kategorien des Klassenkampfes noch des Rassismus oder des Imperialismus, sahen aber die Deutschen durchaus in einer die gewollte neue Ordnung Europas tragenden Rolle. Eine gewisse Nähe zum italienischen Faschismus ist unverkennbar: der faschistische Staat sei interessant als der Versuch, auf die drängenden Fragen der Gegenwart eine Antwort zu geben, denn er kenne keine Volkssouveränität mehr, sondern setze den Staat selbst als Herrschaftsstaat souverän 24. Bedauernd vermerkt im Rückblick auf den „Staat von Weimar" auch Forsthoff, dass sich auf der Grundlage des Art. 165 WRV „unschwer... ein stato corporativo im Sinne der Carta del Lavoro oder ein deutscher Ständestaat hätte aufbauen lassen" 25 . Ungleich schwerer als mit der Bestimmung dessen, was es zu beseitigen galt, taten sich die Jungkonservativen mit Aussagen darüber, wie der „autoritäre Staat" der Zukunft beschaffen sein sollte. Ziegler etwa stellte sich die Repräsentation des nationalen Willens durch eine Elite vor, die konsequente Monopolisierung des Politischen bei einer staatstragenden Schicht und folgeweise die Entpolitisierung der Gesellschaft 26. Staat und Gesellschaft sollten erneut getrennt, die „Souveränität des Staates über die der antagonistischen Wirtschaftsgesellschaft gesetzt" werden. Möhler verweist auf eine 1927 gehaltene Rede Hugo von Hofmannsthals; der Dichter sieht hier die konservative Revolution durch zwei Vorgänge charakterisiert: das Suchen nach Bindung, welches das 22 Möhler {Fn. 14), S. 139. 23 liegler (Fn. 17), S. 21. 24 Ebenda, S. 37. 25 Der totale Staat, 1933 (im Folgenden: I), S. 19 f., 43 f.; 2. Aufl. 1934 (im Folgenden: II), S. 22 f. 26 Wie Fn. 17, S. 39.

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Suchen nach Freiheit ablöst, und das Suchen nach Ganzheit, Einheit, welches von allen Zweiteilungen oder Spaltungen wegstrebt 27 . Das Einheitsdenken verlangte folgerichtig nach Ausgrenzungen, es war für die Rassenideologie des Nationalsozialismus anfällig. Für den heutigen Betrachter ist das wabernde Gebräu solch mythisch verklärter Irrationalismen augenfällig. Aus seinen Verschwommenheiten resultierte die politische Kraftlosigkeit des autoritären Staatskonzepts28. Sie erklärt seine Unterlegenheit gegenüber dem brutalen Machtwillen der nationalsozialistischen „Bewegung" und der Entschlossenheit, mit der sich ihre Führung des Staates bemächtigte. Der Konturenlosigkeit dieses konservativen Denkens ist es auch zuzuschreiben, dass nicht wenige seiner literarischen Verfechter sich nach dem 30. Januar 1933 schnell der Illusion ergaben, ein durch die ratio status gebändigter Nationalsozialismus könne tatsächlich die N o t von Volk und Reich - wie es im Titel des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 hieß in geordneten Formen beheben, ohne zu bemerken oder bemerken zu wollen, dass sie ihre Idee des überparteilichen Staates damit aufgaben. Zudem gab es manche Gemeinsamkeiten: „die Romantik des Realismus, den Kult der Wirklichkeit, der Gemeinschaft und des Blutes" 29 . Wenn sie den Nationalsozialisten eher zur propagandistischen Verbrämung ihrer wahren Zwecke dienten, die Konservativen meinten es ernst damit. Der Zynismus, mit dem die „Bewegung" und ihr „Führer" die gewonnene Macht zur 27 WieFn. 14, S. 10. 28

Die Unklarheiten dieses Konzepts spiegeln sich auch in den diversen Verfassungsplänen, wie sie in Kreisen der Widerstandsbewegung erwogen wurden. Überblick bei J. Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, 1994, S. 140 ff.; Willoweit (Fn. 7), § 40 IV (S. 360 f.), macht darauf aufmerksam, dass es dem deutschen Widerstand vor allem um die Wiederherstellung des Rechts ging, nicht der parlamentarischen (Parteien-)Demokratie. Auch in den Kreisen des Widerstands verfolgte man den Gedanken eines gestuften Staatsaufbaus. S. ferner: G. Ritter; Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, 1984, S. 286 ff., 569 ff.; H. Rothfels., Deutsche Opposition gegen Hitler, 1969, S. 206 ff.; U. Karpen /A. Schott (Hrsg.), Der Kreisauer Kreis, 1996. 29 Zitat: R Bahners, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. September 2001.

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Verfolgung ihrer verbrecherischen Ziele zu nutzen entschlossen waren, lag jedenfalls zu Beginn außerhalb bürgerlicher Vorstellungswelten. II. Aussagen 1. Schon in einem 1932 erschienenen Aufsatz hatte Forsthoff den „Rechtsstaat in der Krise" gesehen30. Der Glaube an die Möglichkeit einer prinzipiell unbegrenzten Freiheit, der dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip zugrunde liege, sei erloschen. Diese These wird am Beispiel einer ihren Zielen nach revolutionären Partei erläutert, die die vom Staat verliehenen Freiheiten gegen den Staat selber wende. Der liberale Rechtsstaat wird aufgerufen, eine sehr konkrete Freund-Feind-Unterscheidung vorzunehmen und dadurch die Fähigkeit zur Politik zurückzugewinnen. Die von Carl Schmitt zu dieser Zeit in den Reichspräsidenten gesetzten Hoffnungen hält Forsthoff nicht für gerechtfertigt. 2. Die im Mai 193331 auf Herrenchiemsee im Auftrag einer konservativen Partei, die nicht die NSDAP war 3 2 , entstandene Schrift „Der totale Staat" darf als der ambitionierte Versuch gelten, auf die zu dieser Zeit in vollem Gange befindliche nationalsozialistische Neuordnung Einfluss zu nehmen. Die im Sommer 1934 erschienene 2. Auflage hat demgegenüber eher den - erkennbar resignativen - Charakter einer Deutung. a) Die Stoßrichtung ist klar. Der - nunmehr ins Positive gewendete 33 - „totale Staat" wird als das Gegenteil des liberalen Staates vorgestellt. Es ist der Staat mit umfassender inhaltlicher Fülle im Unterschied zum inhaltlich entleerten, durch Autonomisierungen, d. h. juristische Sicherungen vorausgesetzter Eigen30 Friedrich Grüter, Der Rechtsstaat in der Krise, Deutsches Volkstum 1932, S. 260 ff. Es handelt sich um eine Rezension der 1930 erschienenen Schrift F. Darmstaedters, Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaats. 31 11,7. 32 Mitteilung von Herrn Dr. Martin Forsthoff. 33

Vgl./ Meinck, Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, 1978, S. 33.

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gesetzlichkeiten minimalisierten und nihilisierten liberalen Staat (I, 7; II, 9). Der Liberalismus habe „den Staat in den luftleeren Raum des Begriffs" erhoben (I, 9; II, 12); er verlege „alle bewegende Kraft... in ... das Individuum" (I, 10 f.; II, 13 f.) und rechtfertige die Staatsorganisation nurmehr „als eine Versicherung auf größtmögliche Ungestörtheit in der privaten Existenz, die man Freiheit nannte" (I, 11; II, 14). Gegeißelt wird die Verdrängung der Persönlichkeit durch die Institution des Amtes (I, 11; II, 14). Der Rechtsstaat sei ein „Staat ohne Gehalte", der „Prototyp einer Gemeinschaft ohne Ehre und Würde" (I, 13; II, 16), und deshalb außer Stande, „sachliche Unterscheidungen (zu treffen) wie wahrunwahr, gerecht-ungerecht, gut-böse, sittlich-unsittlich" (I, 13 f.; II, 16 f.). Die Weimarer Reichsverfassung, restaurativ in ihren die parlamentarische Demokratie und die Grundrechte gewährleistenden Bestimmungen, habe nicht eine Ordnung umschrieben, „sondern ein Verfahren . . . , nach dem jeweilige Parteimehrheiten ihren jeweiligen Parteikoalitionswillen durchsetzen konnten" (I, 20; II, 23). Jeder Staat habe „eine Substanz, die er nicht schafft, sondern voraussetzt, aus der er seine Kraft bezieht... Die Weimarer Verfassung ... bedeutete den Versuch zum Staat ohne Substanz" (ebenda). Die Kombination von „Demokratismus" und nach dem Wegfall der Monarchie funktionslos gewordenen liberalen Gegengewichten habe den „Ansatz zu einem spezifisch deutschen Staat (verfehlt), der sich dadurch auszeichnen muß, dass er aus dem Reichtum und aus der Fülle deutschen Wesens erwächst" (1,24; 11,27). b) Forsthoff unternimmt es, „das Ziel der nationalsozialistischen Revolution in dem totalen Staat zu fixieren" (I, 29). Als Ziel schwebt ihm eine um der Autorität des Staates willen von der „Volksordnung" zu unterscheidende, wenn auch nicht getrennte „Herrschaftsordnung" vor, die eigenen Rang besitze, welchen das Volk anzuerkennen, aber nicht zu verleihen habe (I, 30). Das persönliche Führer-Gefolgschaftsverhältnis sei nicht geeignet, solchen Rang zu begründen. Indem Hitler der Führer des Reiches wurde, sei er unter ein neues Gesetz getreten. „Die Bewegung kann aufgehen in der Person des Führers. Der Staat kann es nicht... Der Staat ist gebunden an Tradition, Gesetz und Ord-

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nung" (I, 31) 34 . Das wird in der 2. Auflage so nicht wiederholt. Hier erscheint Hitler als „Walter des Jahrtausende alten deutschen Staatstums", die Bewegung (von der es in der 1. Auflage noch geheißen hatte, sie sei mit dem Staat nicht identifizierbar) wird nun „zur eigentlichen Trägerin des deutschen Staatstums" (II, 35). Der Staat, so Forsthoff 1933, bedürfe zu seiner Legitimation einer ihm zugeordneten Weltanschauung, die er freilich nicht oktroyieren dürfe, die aber vorgelebt werden müsse (I, 32). Ziegler folgend nimmt Forsthoff die Aufgabe der Regierung für eine nach eigenen Gesetzen lebende, besonderen geschichtlichen Verantwortlichkeiten unterworfene, rassisch und geistig überragende Schicht in Anspruch, aus dem Volke in einem aristokratischen Sinne herausgehoben, aber nicht von ihm getrennt (I, 33). Innerhalb dieses „Führerstandes" dürfe es keine Gleichheit geben, denn das auszeichnende Merkmal einer autoritären Ordnung sei die Befehlsförmigkeit ihrer Gliederung (I, 34). Den „Apparaturstaat" gelte es abzubauen, aber einer Bürokratie könne auch der autoritäre Staat angesichts der Versorgungsansprüche weitester Kreise nicht entraten (I, 35, 37). Neben die bürokratische, vom Berufsbeamtentum geprägte Verwaltung trete der Kommissar, der politisch, d. h. nach dem Willen der Führung, entscheide (I, 36). Das Reichsstatthaltergesetz (Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich) vom 7. April 1933 (RGBl. I S. 173) wird als vorbildlich bezeichnet (I, 37). Es wird also ein „dual state" gefordert 35 , der einerseits berechenbar-bürokratisch bleibe, andererseits aber „in den Formen einer persönlichen Herrschaft organisiert werden" müsse (I, 38). c) Es fällt auf, dass hier von der dominierenden Rolle der nationalsozialistischen Bewegung nicht die Rede ist. Das ändert sich in der 2. Auflage unter dem Einfluss der Kritik, die Alfred Rosenberg und Roland Freisler 37 an dem von Forsthoff vorgeleg34 Deshalb erschien Forsthoff im Rückblick (Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 53 f.) „die Formel vom totalen Staat ... schief, wenn nicht falsch". Denn der Totalitarismus sei „mit dem Wesen des Staates als eines Garanten von Recht und Ordnung unvereinbar". Dieser „auf Missbrauch beruhende(n) Entartung des Staates" versuchte er entgegenzutreten. 35 E. Frankel, Der Doppelstaat, engl. 1940, dt. 1974. 36

Völkischer Beobachter vom 9. Januar 1934, S. 1 f.

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ten Konzept eines totalen Staates geübt hatten, allerdings ohne seinen Namen zu nennen 38 . Freister hatte die Gefahr erkannt, dass der Staat wieder als Selbstzweck angesehen werden könne, und verlangte deshalb, den neuen Staat als einen nationalsozialistischen zu bezeichnen, weil es die nationalsozialistische Bewegung sei, die sein Werden und Leben bestimme. Auch Carl Schmitt hatte in seinem Pamphlet „Staat, Bewegung, V o l k " 3 9 die Befürchtung geäußert, liberales Denken könne die Bewegung erst in den Staat drängen und dann über den Rechtsstaat wieder zurück in das liberale System des 19. Jahrhunderts 40 . Forsthoff hielt zwar an seinem Titel fest, nahm jedoch schon einleitend den Begriff des „nationalsozialistischen Staates" auf (II, 9), hob hervor, dass der Rang der neuen Herrschaftsordnung „aus den elementarischen Voraussetzungen des Blutes und der Rasse" erwachse (II, 34), und betonte die Einheit von Staat und Partei - immerhin in dieser Reihenfolge (II, 36). Er unterstrich die Einheit von Führer und Gefolgschaft 41, die nicht logisch begreifbar sondern nur erfahrbar sei, unter der Vorbedingung existenzieller Gleichartigkeit stehe und vom totalen äußeren und inneren Einsatz der Gefolgschaft geprägt sei (II, 37, 39). Wird in der 1. Auflage, wie es dem Konzept des autoritären Staates entsprach, in Abgrenzung zur „demokratischen Identitätslehre" auf die Unterscheidung von Regierenden und Regierten großer Wert gelegt (I, 33), so sieht die 2. Auflage „das Neue und Entscheidende der Führerverfassung" darin, „daß sie die demokratische Unterscheidung zwischen Regieren37 Deutsche Justiz 1934, S. 43 ff. - Freister war damals Staatssekretär im Preußischen Justizministerium. 38 Dazu: W. Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, WDStRL 60 (2001), S. 73 (80 f.). Vgl. auch Storost (Fn. 6), S. 55 f. 3 * 3. Aufl. 1933. 40 S. 33. 41 „Die Gefolgschaft stellt eine Kameradschaft dar, deren höchstes Ziel die Mannentreue gegenüber dem Führer ist" - H. Planitz, Deutsche Rechtsgeschichte, 1950, S. 10. Unter Verdrängung der Tatsache, dass Gefolgschaftstreue nach germanischer Anschauung ein Herr und Gefolgsmann wechselseitig verpflichtendes Rechtsverhältnis war, knüpfte das NS-Regime bewußt an diese Vorstellung an. Dazu K. Kroescbell, Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, 1992, S. 102 f.

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den und Regierten in einer Einheit überwindet, zu der Führer und Gefolgschaft verschmolzen sind" (II, 37). d) Zur Volksordnung wird bemerkt, Volk sei eine auf einer seins- und artmäßigen Gleichartigkeit beruhende Gemeinschaft. Die Gleichheit wird, allerdings nicht ausschließlich, rassisch verstanden, auszugrenzen ist der Jude (I, 38 f.; II, 42). Artverschiedenheit begründe die Verschiedenheit der Völker, bedeute aber darum noch nicht Feindschaft. Der Jude sei nur darum zum Feind geworden, weil er das Volkstum, den geistigen Lebensraum der Deutschen angetastet habe (I, 39; II, 43). Andererseits könnten auch wie im Falle der Kommunisten eine gewisse Toleranzgrenze überschreitende Meinungsverschiedenheiten zur Auflösung der seinsmäßigen Bindung an das deutsche Volk führen (I, 39; etwas verändert II, 43). Es gelte eben, die „Verschiedenheit des Meinens und Wollens von der Feindschaft" zu erkennen, nur dann könne die von der Regierung Hitler eingeleitete Säuberungsaktion erfolgreich sein - die dabei zugunsten der jüdischen Frontkämpfer (zunächst) gemachte Ausnahme wird ausdrücklich als sinnvoll bezeichnet (I, 40). In der 2. Auflage ist diese Aussage getilgt, es wird im Gegenteil gerügt, die Gesetzgebung des Jahres 1933 habe eine allgemeine Regelung zum Schutz der deutschen Rasse nicht gebracht (II, 44). Wieder stößt man auf die Spuren Zieglers, wenn Forsthoff der Demokratie vorwirft, sie habe das Volk, indem sie es als Masse zur Macht führen wollte, in Wahrheit entmachtet. Denn es sei nicht Masse, sondern gegliederte Gemeinschaft (I, 41). Gliederung des Volkes heiße Auswägung von Freiheit und Gebundenheit. Freiheit dürfe aber nicht als individuelle Freiheit missverstanden werden, diese sei „ein Postulat menschheitlichen Denkens" und gehöre der Geschichte an. Aber „Freiheit im Sinne eines persönlichen Handlungsspielraums" sei „unzerstörbar und unverzichtbar" (I, 41 f.; II, 45). Forsthoff scheint hier freilich nur zu meinen, dass der einzelne, um für sein Handeln verantwortlich gemacht werden zu können, nicht in einen engen Kokon verbindlicher Befehle - „der überhand nehmenden Normierungen und Mechanisierungen des sozialen Lebens" (I, 41; II, 45) - eingesponnen

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werden dürfe. Denn (so lautet der wohl meistzitierte Satz): „Der totale Staat ... stellt die totale Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Nation dar. Diese Inpflichtnahme hebt den privaten Charakter der Einzelexistenz auf" (I, 42; II, 46). Dafür bedürfe es zum einen einer neuen Staatsgesinnung und zum anderen der - indessen nicht wie in der Vergangenheit an partikularen Interessen, sondern berufsständisch orientierten - organisatorischen Erfassung des gesellschaftlichen Lebens (I, 43 ff.; II, 46 ff.: die Bedeutung der berufsständischen Gliederung tritt hier zugunsten „konkreter Ordnungen" zurück). Der totale Staat - in der 2. Auflage heißt es „der deutsche Staat" und es fehlt der Bezug auf den zu dieser Zeit bereits in Ungnade gefallenen Ernst Jünger - sei ein totaler Arbeitsstaat (I, 47; II, 48). Man liest in der 2. Auflage die erstaunlichen Sätze: „Seine (d.i. des Staates) geistige Struktur ist bestimmt durch den deutschen Sozialismus. Deutscher Sozialismus ist die Bereitschaft zum Arbeitseinsatz für die Nation und Wertung des einzelnen Volksgenossen nach Maßgabe seiner Leistung für die Nation" (II, 48) 42 .

III. Versuch einer Deutung 1. Ernst Forsthoff ist wie so viele anfänglich dem „Zauber Hitlers" 4 3 erlegen. Fasziniert war er von der Idee eines starken - „autoritären" - Staates, der von den partikularen gesellschaftlichen Interessen unabhängig zu agieren und sie zu beherrschen vermag. Dem bürgerlichen Rechtsstaat bescheinigte er zwar „eine 42

Dazu: Stolleis (Fn. 1), S. 368, unter Hinweis auf E. R. Hubers 1934 publizierte Schrift „Die Gestalt des deutschen Sozialismus". 43 Fest (Fn. 28), S. 141. - In einem mir von Herrn Prof. Dr. Alexander Hollerbach freundlicherweise zugänglich gemachten Brief an Enk Wolf vom 8. November 1945 schreibt Forsthoff unter Bezugnahme auf seine Anhörung vor einem Ausschuss des Akademischen Senats der Universität Heidelberg: „Ich habe in dieser Verhandlung geltend gemacht, dass ich in der Tat zunächst auf den Nationalsozialismus große Hoffnungen gesetzt habe und ihm positiv gegenüberstand, dass ich aber im Jahre 1935 meinen Irrtum eingesehen und aus einem Anhänger zu einem entschiedenen Gegner geworden bin und mich als solcher auch betätigt habe."

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achtunggebietende Tradition von hohem geistigen Rang" 4 4 , aber er hielt diese Tradition für überholt. Zu dieser Erkenntnis war er nicht nur unter dem weit verbreiteten Eindruck des Versagens der Weimarer Republik und ihrer Verfassung gelangt, sondern auch im Blick auf die freilich erst zu einem späteren Zeitpunkt deutlicher artikulierte existenzielle Abhängigkeit der Menschen von staatlicher „Daseinsvorsorge". Forsthoff teilte die Sorge, dass das auf Vernunft gegründete, zweckrationale Konstrukt des liberalen Rechtsstaats45 der Masse des Volkes sinnentleert erscheine. Auch der Gegenwart ist die Frage nicht fremd, ob es in der säkularisierten Welt nicht mindestens auch die Sache des Staates sei, mitzuwirken an sinnstiftender Wegweisung 46 . Damals mochten sich nur wenige mit jenem „großen Wagnis" abfinden, das der freiheitliche Staat eingehen muß: von Voraussetzungen zu leben, die er selbst nicht garantieren kann 47 . Die Skepsis gegenüber Parlamentarismus und Demokratie war zu Beginn der dreißiger Jahre weit über Deutschland hinaus verbreitet 48 . Sie beruht auf der gerade auch in der Weimarer Staatsrechtslehre vielfach geteilten Illusion, es könne eine über den Parteien angesiedelte, von gesellschaftlichen Interessen unbeeinflußte Staatsführung geben 49 . 44

Wie Fn. 30, S. 262. Der totale Staat I, 11; II, 14. - Schon H. Herrfabrdt, der sich - nach Stolleis (Fn. 1), S. 287 - selbst „wenn auch nicht ganz linientreu, für den Nationalsozialismus" profilierte, hat Forsthoff in seiner Besprechung des „Totalen Staates" vorgeworfen, in seiner Deutung des Rechtsstaats sowohl die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts als auch die liberale Idee verfälscht zu haben: Politische Verfassungslehre, ARSP XXX (1935/36), S. 104 (107). 46 Dazu die unter dem Titel „Grundwerte und Staat" in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geführte Diskussion - s. die Nachweise bei H. H. Klein, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, WDStRL 37 (1979), S. 53 (104 f.). 47 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 75 (93); auch in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 ff. 48 Dazu: Dreier (Fn. 1), S. 144. 45

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Diese Illusion lebt auch heute fort in dem Widerwillen gegen das „Gezänk" zwischen und - beispielsweise - in den Parteien und in den über die Bekämpfung einzelner Mißstände hinausgehenden Angriffen H. H. von Arnims auf „Das System" (so der Titel einer 2001 in Buchform erschienenen Polemik). „System" und „Systemparteien" waren bekanntlich auf die Diskriminierung 3 Blümel

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Zuflucht zu bieten schien die Idee einer im Staat geeinten Nation, einer wie immer beschaffenen Volksgemeinschaft 50. Aber während sich die Theoretiker des „autoritären" Staates meist in blutleeren Vorstellungen über neue „Ordnungen der Ungleichheit" 5 1 ergingen, wartete der Nationalsozialismus mit seiner von „Blut und Boden" bestimmten „völkischen" Ideologie auf, die das Bewußtsein großer Teile des Volkes auf einer emotionalen, „metaphysischen" Ebene durchdrang 52 . Konservativen Bestrebungen zur Rückgewinnung einer von der Gesellschaft emanzipierten Staatlichkeit eignete Klarheit nur in der Negation. Der bewußt auf die Irrationalität ihrer Vorstellungen setzenden Propaganda der Nationalsozialisten hatten sie nichts entgegenzusetzen.

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Forsthoff befand sich bei der Niederschrift des „Totalen Staates" in der Verlegenheit, sein Staatsmodell auf die durch die nationalsozialistische Revolution entstandene Wirklichkeit zuzuschneiden, eine Wirklichkeit, der er Gestalt zu geben versuchte. A n der Anerkennung des Führerstaates kam er dabei nicht mehr vorbei, und er wollte es wohl auch nicht, denn er teilte mit vielen die Hoffnung, es ließen sich mit ihm die beklagten Mißstände beseitigen. So hat er es 1933 unternommen, namentlich durch den Appell an die Verantwortlichkeit einer - freilich imaginären - fühdes demokratischen Rechtsstaats zielende Begriffe im „Kampf gegen Weimar, Genf, Versailles". Ihre Wiederbelebung ist mindestens instinktlos. 50 Nicht erst die nationalsozialistische Staatsrechtslehre suchte den der liberalen Demokratie vorgeworfenen „antithetischen Zerreißungen" (vgl. C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, 3. Aufl. 1933, S. 16, 22 f.; aber auch schon ders., Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 79) eine Theorie der Einheit entgegenzusetzen. Sie schloss auch für Forsthoff einen politischen Geltungsanspruch aller partikularen gesellschaftlichen Kräfte einschließlich der Kirchen aus. Auch sie könnten keine „selbständigen Gebilde innerhalb des Staates und neben dem Staate" sein (Friedrich Grüter, Gegen ein evangelisches Konkordat, Deutsches Volkstum 1933, S. 788). Forsthoff hatte dabei (1933) allerdings nicht die Herstellung von Einheit durch das Diktat der nationalsozialistischen Weltanschauung im Sinn, sondern seine Idee eines das Politische monopolisierenden, gegenüber der Gesellschaft „souveränen" Staates (vgl. auch: Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, S. 183). 51

Dies der Titel eines 2001 erschienenen Buches von S. Breuer. 52 Vgl. Dreier (Fn. 1), S. 35 m.N.

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renden Schicht, dem rein personalistisch verstandenen Führerprinzip der nationalsozialistischen Bewegung eine dem Prinzip der Gesetzlichkeit und Berechenbarkeit verpflichtete Konstruktion entgegen zu stellen: Forsthoffs Schrift war, wie Stolleis schreibt, „antibürgerlich, antiformalistisch und darum tendenziell freiheitsvernichtend", aber der schieren Willkür suchte sie Grenzen aufzuzeigen.

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Es war ein Versuch am untauglichen Objekt mit untauglichen Mitteln. Der nationalsozialistische Bewegungsstaat - Bewegungsstaat nicht nur in dem Sinne, dass er zum Instrument der NSDAP denaturierte 54 , sondern auch in der Bedeutung des unablässig von seinen revolutionären Ursprüngen angetriebenen, der vulkanistischen Knallkraft äolischer Dünste 55 ausgelieferten Staates - entzog sich jedem Versuch normativer Disziplinierung. Die stürmisch lebendige Flut des Zeitgeschehens zu bändigen, überstieg des Verständigen Kraft 5 6 . Was galt, war nurmehr der Wille des Führers 57 . Mit der Machtergreifung Hitlers fiel der Staat als Gegenstand normativer Betrachtung aus 58 , der Ausnahmezustand erwuchs in Permanenz. Zwar eröffnet Forsthoff die im Sommer 1934 erschienene 2. Auflage seiner Schrift mit der Feststellung, der nationalsozialistische Staat bedeute die Rückkehr des deutschen Volkes zur staatlichen Form (II, 9). Dennoch spricht alles dafür, dass er mittlerweile klar erkannt hatte, dass der Nationalsozialismus vielmehr 53 Wie Fn. 1, S. 333. 54

Vgl. E. R. Huber; Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 1939, S. 222 f., 289 ff. 55 Vgl./. W. von Goethe, Faust. Zweiter Teil, Vers 7866. 56 Vgl./. W. von Goethe, Pandora, Verse 183 ff. 57 Dreier (Fn. 1), S. 59; auch zum Dynamismus und Daueraktivismus des NS-Regimes - es handelt sich um ein allgemeines Merkmal totalitärer Systeme. S.a. Pauly (Fn. 36), S. 79, der vom „Strukturnihilismus des zunehmend polykratischen Führerstaats" spricht und damit darauf aufmerksam macht, dass subalterne Machthaber in ihrem Zuständigkeitsbereich durchaus nach eigener Willkür zu handeln im Stande waren - solange sie dabei dem „Führer" nicht in die Quere kamen. 58 Dreier; ebenda.

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auf die Auflösung aller Form gerichtet war 5 9 . Indem er „die Verbindlichkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung und Programmatik für den Staat in allen seinen Daseinsäußerungen" (II, 36) akzeptierte, gab Forsthoff jedenfalls den Versuch auf, dem NS-Staat eine seinen Dezisionismus bändigende Struktur zu verleihen. Forsthoffs Beharren darauf, auch der nationalsozialistische Staat bedürfe, wo es auf die Berechenbarkeit und Präzision seines Handelns ankomme, der bürokratischen, nach festen Regeln verfahrenden Verwaltung - die Versorgung der Arbeitslosen, die Steuer- und bemerkenswerterweise auch die Polizeiverwaltung werden beispielhaft genannt (II, 40 f.) - zeigt immerhin an, dass er sich auf der Suche nach einem verbliebenen Gegenstand rechtswissenschaftlichen Bemühens befand. Denn die Verfassungsfrage, so schrieb er wenig später - wie Dreier anmerkt: so einsilbig wie doppeldeutig - , habe mit der Errichtung des Führerstaates ihre Erledigung gefunden 60. 2. Ein Stein des Anstoßes sind die in der Schrift über den totalen Staat enthaltenen, später nicht wiederholten 61 , antisemitischen Äußerungen. Thomas Nipperdey hat davor gewarnt, die Geschichte des deutschen Antisemitismus „nur vom Ergebnis her", also im Blick auf Auschwitz, zu schreiben 62. Zwar dürfen wir diese Perspektive nicht unbeachtet lassen, aber auch nicht übersehen, dass jenes „Ergebnis" im Jahre 1933 nicht einmal denkbar gewesen ist. Schon in der Frühzeit des zweiten Kaiserreichs war die Neigung verbreitet, für Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus und Internationalismus „dem Judentum" die Schuld zu 59 Vgl. seinen Aufsatz „Der Formalismus im öffentlichen Recht", DR 1934, S 347, in dem er ausführte, der Formalismus im öffentlichen Rechte stehe im Dienste des liberal-humanitären politischen Gestaltungswillens, weshalb es die vornehmlichste Aufgabe nationalsozialistischer Rechtserneuerung sei, ihn zu überwinden. 60 Das neue Gesicht der Verwaltung und die Verwaltungsrechtswissenschaft, DR 1935, S. 331 (331). 61 Im Jahre 1936 gab eine antijüdische Hetzrede Carl Schmitts Forsthoff Anlass, die Kontakte zu seinem akademischen Lehrer für mehrere Jahre abzubrechen - s. Dreier (Fn. 1), S. 17 Fn. 39, 31 Fn. 106 m.N. 62 Deutsche Geschichte 1866 bis 1918, 2. Band: Machtstaat vor der Demokratie, 3. Aufl. 1995, S. 289 f.

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geben, für alles mithin, was den im weitesten Sinne konservativen Kreisen des Adels und des Bürgertums, aber auch der Landwirte und der Arbeiterschaft aus den unterschiedlichsten Gründen zuwider war. Im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert gewann die in pseudowissenschaftlichem Gewand daher kommende völkische Rassenideologie - keineswegs nur in Deutschland - an Boden, zumal sie mit dem Nationalismus eine unheilschwangere Verbindung einging. Schon vor 1914 sprach Friedrich Naumann von einer „antisemitischen Gesamtstimmung" 6 3 . Sie steigerte sich nach 19 1 8 6 4 . Hitler mit seiner Intuition, „sich zum Lautsprecher der geheimsten Wünsche, der häufig unbekennbaren Instinkte ... eines Volkes zu machen" 65 , fiel es leicht, seine abscheuliche Saat auf gedüngtem Boden auszubringen. Ein Opfer dieser „Gesamtstimmung" war - vorübergehend auch Ernst Forsthoff 6. IV. Ausblick Die Sorge um den Staat und die Verarbeitung seiner Wirklichkeit 6 7 haben Forsthoff bis zuletzt beschäftigt. Darin liegt die Kontinuität seines wissenschaftlichen Werkes - trotz der Brüche, die es aufweist 68 , Brüche, die der Generation seiner Schüler erspart geblieben sind. „Jugend! ach! Ist dem Alter so nah, durchs Leben verbunden, / wie ein beweglicher Traum Gestern und Heute verband", dichtete Goethe 1797 auf seiner dritten Reise in die Schweiz, die ihn eigentlich nach Italien hätte führen sollen 69 . 63 Ebenda, S. 309. 64 An den Mord an Walter Rathenau und die ihn begleitenden antisemitischen Hassausbrüche sei erinnert, auch wenn das wichtigste Motiv der Täter ein anderes gewesen sein dürfte; vgl. E. R. Huber; Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 7. Band, 1984, S. 250 ff.; H. A Winkler, Weimar 1918 bis 1933,2. Aufl. 1994, S. 173 f. 65 Otto Strasser,; zit. nach G. A. Craig, Deutsche Geschichte 1866 bis 1945, 3. Aufl. 1981, S. 479. 66 Vgl. auch Doehring in: Semper apertus (Fn. 5), S. 441 f. 67 Vgl. Haberle (Fn. 5), S. 478, 480. 68 Ahnlich Doehring in: Juristen im Portrait (Fn. 5), S. 342. 69 Schweizeralpe in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, 1982, S. 475.

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Hans H . Klein

Forsthoffs

Sorge u m die deutsche Staatlichkeit, mag sie auch i n

seinen späteren Jahren v o n einer nicht durchweg gerechtfertigten Skepsis getragen gewesen sein, erscheint auch heute nicht unbegründet. D i e Vorstellung des Staates „als eines den sozialen G r u p pen übergeordneten, sie beherrschenden u n d ihren Wirkungskreis umgrenzenden Hoheitsverbandes", die er 1932 f o r m u l i e r t e 7 0 , ist nicht an das Konzept des „autoritären" oder „totalen" Staates gebunden, sie beschreibt, obschon nicht vollständig, auch ein Problem des demokratischen Verfassungsstaates m i t seiner zunehmend nach innen w i e nach außen „verantwortungsdiversifizierten

Ge-

m e i n w o h l k o n k r e t i s i e r u n g " 7 1 . Wenn der Staat, so die zutreffende Feststellung v o n Udo Di Fabio - Forsthoff

hätte ihr zugestimmt - ,

„bei allem Wandel der entscheidende Garant für die Freiheit, Sicherheit u n d die M ö g l i c h k e i t v o n Wohlstand" b l e i b t 7 2 , dann muß er auch die A u t o r i t ä t 7 3 , d.i. die Fähigkeit zur Erfüllung die-

70 Um die kommunale Selbstverwaltung, ZPol 1932, S. 248 (260). An gleicher Stelle (S. 261) ist auch die „Ausdehnung der Garantiefunktion der Grundrechte" kritisch angesprochen (mit dem heute nicht mehr akzeptablen Hinzufügen, dies sei „Ausdruck einer Haltung, die die absolute Überwertigkeit des Staates gegenüber dem Individuum und den sozialen Gruppen nicht mehr anerkennt"), die die Gegenwartsliteratur nicht zuletzt im Blick auf die mit ihr einhergehende Ausweitung der Macht der Gerichte lebhaft beschäftigt. Dazu etwa auch: E. Forsthoff \ Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 126 ff., 147 ff. 71 W. Höfling, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, WDStRL 61 (2002), S. 260 (298). Zum Problem: U. Di Fabio. , Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 100 ff. 72 Wie Fn. 71, S. 99. - Die von Thomas Hobbes, De cive, 13. Kapitel, dem Herrscher zugeschriebenen Pflichten sind die des Staates: „1. ut ab hostibus externis defendantur, 2. ut pax interna conservetur, 3. ut quantum cum securitate publica consistere potest, locupletuntur, 4. ut libertate innoxia perfruantur." S.a. R. Herzog in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Band, 1988, § 58 Rdnrn. 24 ff. - Dass die Möglichkeiten des Sich-Bereicherns am Staat (locupletari) das sich ausdehnende System staatlicher Umverteilungen, den Sozialstaat auf eine harte Probe stellen würden, wenn die Grenze der Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft erreicht ist, hat Forsthoff wiederholt hervorgehoben - zu Recht, wie die seit Jahren anhaltenden Bemühungen um eine Reform der Systeme der sozialen Sicherung belegen. 73 E. Forsthoff Das politische Problem der Autorität in: ders., Rechtsstaat im Wandel (Fn. 5), S. 14 ff. S.a. K. Doehring, Der Autoritätsverlust des Rechts in: R. Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 2. Aufl. 1974, S. 103 ff.

„ D e r totale Staat"

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ser Aufgaben besitzen - in „pragmatischer Kooperation mit den gesellschaftlichen Kräften" 7 4 und, heute weit mehr als früher, im vielfach geschichteten Zusammenwirken mit anderen Staaten. Das Unbehagen freilich, das Forstboff gegenüber der nüchternen Zweckrationalität des demokratischen Rechtsstaats empfand, ist auch gegenüber jenem intransparenten und in tausendfältige Netzwerke der Kooperation verstrickten Mehrebenensystem verbreitet, in welchem sich Politik in der Gegenwart vollzieht, besser vielleicht: verliert 75 , und nicht einmal mehr Verfassungspatriotismus zur Einheit verbindet. Man könnte, in Anlehnung an Forsthoff, versucht sein, von einer gemeinschaftsideologischen Unterbilanz 76 zu sprechen, wäre der Ideologiebegriff nicht so negativ besetzt. Mag es auch nicht die Aufgabe der deutschen Staatsrechtslehre sein, die Frage zu beantworten, was Europa im Innersten zusammenhält, so steht sie doch ein weiteres Mal, wie Ernst Forsthoff es mehrfach - mit wechselndem Erfolg - vorgemacht hat, vor der Notwendigkeit, neue Wirklichkeiten zu verarbeiten. Dem „Totalen Staat" hat Forsthoff ein martialisches Zitat aus Goethes Festspiel „Pandora" vorangestellt 77 : „ N u r Waffen schafft! Geschaffen habt Ihr alles dann, auch derbster Söhne übermäßigen Vollgenuß." Lassen Sie mich schließen mit einem anderen Zitat aus dem gleichen Stück (Vers 27): Doch Menschenpfade, zu erhellen sind sie nicht.

74 Di Fabio (Fn. 71), S. 109. 75 Auch dazu: Di Fabio (Fn. 71), S. 126 f. 76 Vgl. das Kapitel „Rechtsstaat mit ,staatsideologischer Unterbilanz'" in: Forsthoff Rechtsstaat im Wandel (Fn. 5), S. 14 ff. 77 Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band V, 1952, S. 332 (Vers 308 f.). Das Fragment gebliebene Stück behandelt das Thema von Trennung und Einheit, die Zwischenzeit zwischen Pandoras erstem Erscheinen und ihrer Wiederkunft, eine Zeit des Leidens, in der es Waffen zu schmieden gilt.

Ernst Forsthoffs Sicht vom Staat Von Matthias Herdegen

I. Das Staatsdenken Forsthoffs im Widerstreit: Ephemeres und Durables Wer sich Forsthoffs Sicht vom Staat, d. h. des verfassten Staates, nähert, braucht nicht mehr den Pulverdampf des Meinungskampfes zu durchschreiten, der sich lange über das Staatsdenken von Ernst Forsthoff gelagert hat und ähnlich dem sfumato italienischer Gemälde weicheren Konturen gewichen ist. Die Anziehungskraft von Forsthoffs Staatsdenken als Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung liegt nicht in der Zuspitzung, sondern in der Klarheit des gedanklichen Duktus. Im „Staat der Industriegesellschaft" 1 hat Forsthoff seiner Sicht vom Staat in glänzender Verdichtung einen ebenso kristallinen wie suggestiven Ausdruck gegeben. Daneben erschließt sich Forsthoffs Sicht von Staat und Verfassung vor allem in dem (von ihm selbst noch vor seinem Tode in zweiter Auflage vorbereiteten) Sammelband „Der Rechtsstaat im Wandel" 2 . In der Gesamtschau fügen sich diese Schriften zu einer unvollendeten, aber in sich stimmigen Staatsrechtslehre 3. 1 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik, 1971. Hierzu die Rezensionen von W. Euchner, AöR 99 (1974), S. 179 ff.; P. Häberle, Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische „Gesellschaftslehre"?, ZHR 136 (1972), S. 425 ff.; W. v. Simson, Der Staat in der Industriegesellschaft, Staat 11 (1972), S. 51 ff. 2 Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1954-1973, 2. Aufl., hrsg. von K. Frey, 1976; hierzu P. Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung? Zum wissenschaftlichen Werk von Ernst Forsthoff, JZ 1975, S. 685 ff.; ders., Zum Staatsdenken Ernst Forsthoffs, ZSR 95 (1976), S. 477 ff. 3 Vgl. auch Häberle (Anm. 2), ZSR 95 (1976), S. 488: „Umrisse einer ganzen Staatsrechtslehre".

Matthias Herdegen

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Manches von dem, was dem Leser der 70er Jahre als zeitbedingte Auseinandersetzung erschienen sein mag, hat längst den Charakter der dauerhaften Betrachtung gewonnen, weil der Gegenstand von Forsthoffs Analyse sich selbst als Konstante in der staatlichen und staatsrechtlichen Entwicklung erwiesen hat. Mit dem Mut zu einer subjektiven Akzentsetzung seien wenige große Themen herausgegriffen, welche in besonderer Weise Forsthoffs Ringen um den Rechtsstaat prägen: die Sorge über eine Vermengung von Staat und Gesellschaft, die Aushöhlung des Rechtsstaats durch eine Hypertrophie sozialstaatlicher Forderungen, die Blässe der staatlichen Selbstdarstellung, der freie Flug einer methodisch unzureichend gebändigten Verfassungsgerichtsbarkeit und schließlich die gewaltige Wirkungsmacht der von Forsthoff so genannten „technischen Realisation".

II. Forsthoffs Staatsbegriff Forsthoffs staatliches Leitmodell ist der durch das Korsett des liberalen Rechtsstaates domestizierte, vom Vertrauen in eine positivistische Rechtskultur und durablen politischen Verhältnissen getragene Staatsverband4. Dieser nicht von den gesellschaftlichen Kräften beherrschte, sondern sie dominierende (und in diesem Sinne souveräne) Staat5 leistet als zuverlässiger Wächter dem Einzelnen wirksamen Schutz gegenüber den aus der Gesellschaft drohenden Gefährdungen 6. Dahinter steht nicht etwa die zuweilen behauptete Faszination Forsthoffs durch einen „spätabsolutistischen" Herrschaftsbegriff 7, sondern vielmehr die Absage an einen von organisierten Verteilungsinteressen vereinnahmten Staat. 4

Forsthoff y Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 15 ff. Zum Staat als Herr, nicht bloß Funktion der Gesellschaft Forsthoff Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, in: Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 239. 6 Forsthoff Verfassung und Verfassungswirklichkeit, in: Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 35. 7 Häberle (Anm. 2), ZSR 95 (1976), S. 483. 5

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Den Staat als „geistig-politische Potenz mit anerkannter Autorität" 8 , kontrastiert Forsthoff mit dem bloßen interessengeleiteten Zweckverband 9. Folgerichtig siedelt Forsthoff die Verantwortung für das Gemeinwohl allein beim Staat an, dessen Sorge für das Gemeinwohl an seiner Durchsetzungsschwäche gegenüber organisierten gesellschaftlichen Interessen nachhaltig leidet 10 . In der Aufnahme des Widerstandsrechts ins Grundgesetz (Art. 20 Abs. 4 GG) kulminiert für Forsthoff die Unsicherheit staatlichen Selbstbewußtseins, ja die Verkennung der Staatlichkeit schlechthin 1 1 . Die Blässe des staatlichen Selbstbewußtseins, die für die 60er Jahren prägende Ängstlichkeit in der Selbstdarstellung des Staates, hat Forsthoff in die Formel von der „staatsideologischen Unterbilanz" der Bundesrepublik Deutschland gefaßt 12. Forsthoff mahnt damit keine Staatsideologie, sondern eher eine „Staatsidee" an 13 . Die scharfkantige und ein wenig böse Formel von der „staatsideologischen Unterbilanz" hat auch als zeitgeschichtliche Momentaufnahme die politische Realität der Bundesrepublik Deutschland überzeichnet, aber gerade in der Ubersteigerung eine pädagogische Funktion erfüllt. Dieses aufstachelnde Schlagwort mußte die Ängstlichkeit staatlicher Selbstdarstellung kultivierenden (und oft zugleich an ihr leidenden) Strömungen empfindlich treffen. Wie aktuell das Thema einer Herrschaftsverbände tragenden „Staatsidee" ist, zeigt die gegenwärtige Diskussion um eine „Verfassung" für den europäischen Staatenverbund. Viele verbin8 Forsthoff\ Von der Staatsrechtswissenschaft zur Rechtsstaatswissenschaft, in: Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 191 mit Hinweis auf K. Doehnng, Der Autoritätsverlust des Rechts, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 103 ff. 9

Forsthoff „Wer garantiert das Gemeinwohl?", in: Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 42. 10 Forsthoff „Wer garantiert das Gemeinwohl?", in: Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 49. 11 Forsthoff Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 64. 12 Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, in: Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 184. 13 Häberle (Anm. 2), ZSR 95 (1976), S. 482.

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den mit einer derartigen Verfassung gerade ein über spröde Zweckrationalität und ein bloßes Organisationsstatut hinausweisendes Wertordnungsgerüst.

III. Staat und Gesellschaft Für Forsthoff ruht der rechtsstaatlich verfaßte, Freiheit gewährende Staat auf der Trennung von Staat und Gesellschaft, auf der klaren Scheidung der staatlichen Sphäre und gesellschaftlicher Interessen 14. In dieser scharfen Trennung folgt ihm ein beachtlicher Teil der deutschen Staatsrechtslehrer auch heute noch 1 5 ; andere Stimmen plädieren dagegen je nach Funktionszusammenhang für eine Trennung oder Verbindung von Staat und Gesellschaft und müssen dabei eine gewisse Verunsicherung des Verfassungsgefüges in Kauf nehmen 16 . Für Forsthoff ist die Konkurrenz des Staates mit den gesellschaftlich organisierten Interessen (insbesondere der Wirtschaft) geradezu eine Schicksalsfrage des modernen Staates17. Die zentrale Aufgabe des Staates liegt für Forsthoff im Schutz vor und in der Bändigung von organisierten gesellschaftlichen Interessen 18. Die wesentliche Herausforderung für den Staat liegt dabei in der Austarierung von gesellschaftlich bedingter Ungleichheit und staatlich gewährleisteter Freiheit 19 . Die Sicherung individueller Freiheit rückt für Forsthoff so weit in den Vordergrund, dass aus seiner Sicht das Problem des Rechtsschutzes als Zentralthema sogar die Organisation der Staats14

Forsthoff\ Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 21 ff. E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 1973; H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972; siehe auch E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, 1976; H. H. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 28. 16 Vgl. Κ Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, S. 437 ff. (442). 17 Forsthoff, Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 17 f., 21 ff. 18 Forsthoff, Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 121. 19 Forsthoff, Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 23. 15

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Willensbildung verdrängt 20 . Es ist bezeichnend, dass Forsthoff die Präsidentschaft des Verfassungsgerichtshofs von Zypern niedergelegt hat, weil die Regierung sich weigerte, eine Entscheidung zum Minderheitenschutz anzuerkennen. 21 Forsthoffs Sorge über eine Verquickung staatlicher Willensbildung und gesellschaftlicher Interessen hat mittlerweile eher an Bedeutung gewonnen. Das Auspaktieren von Gesetzen und gesetzesvertretende Absprachen etwa auf dem Energie- und Gesundheitssektor oder im Arbeitsrecht höhlt den Parlamentarismus aus. Es entstehen neue para-konstitutionelle Akteure, die in der Verfolgung ihrer (ohnehin grundrechtlich geschützten) Interessen keinen staatsrechtlichen Bindungen unterliegen. In unmißverständlicher Distanzierung zu seiner Schrift aus dem Jahre 1933 22 deutet Forsthoff den „totalen Staat" als eine auf Mißbrauch gegründete Perversion des Staates23. Zugleich warnt Forsthoff vor einem grundlegenden Mißverständnis. Die (deutsches Staatsdenken lange traumatisierende) Gefahr einer totalitären Ordnung drohe nicht vom Staat, sondern vom Volk 2 4 . Es darf bezweifelt werden, dass diese Einsicht von unseren politischen Pädagogen hinreichend verinnerlicht worden ist. Immerhin hat die jüngere Auseinandersetzung mit der Staatsrechtslehre in der Zeit des Dritten Reiches die Einsicht belebt, dass das nationalsozialistische Rechtsdenken nicht auf eine Überhöhung des Staates zielte, sondern vielmehr auf seine Relativierung und auf die allmähliche Auflösung des staatlichen Organisationsgefüges im Zuge einer fortschreitenden Uberwucherung durch die Partei. 2 5 Die aktuellen Vorstellungen der Europäischen Kommission 20 Forsthoff; 21

W D S t R L 18 (1960), S. 177.

Doehnng, Ernst Forsthoff, in: Juristen im Portrait. Festschrift zum 225jährigen Bestehen des Verlages C. H. Beck, 1988, S. 341 ff. (346); Häberle (Anm. 2), JZ 1975, S. 685. 22 Forsthoff, Der totale Staat, 1933. 23 Forsthoff Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 54 f. 24 Forsthoff, Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 54. 25 H. Dreier; Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, WDStRL 60 (2000), S. 10 ff. (35 f., 40 ff.).

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von einem „europäischen Regieren" in und mit der „Zivilgesellschaft" 26 , welche vor lauter Interaktion gemeinschaftlicher Hoheitsgewalt mit Nichtregierungsorganisationen und gesellschaftlichen Interessengruppen überquellen, läßt ahnen, dass uns Forsthoffs Thema der Scheidung von Herrschaftsverband und Gesellschaft auch auf europäischer Ebene nachhaltig beschäftigen wird. Auch der oft ebenso anmaßend wie erfolgreich vorgetragene Anspruch von internationalen Nichtregierungsorganisationen bildet nur eine Variation des Forsthoff sehen Grundthemas. Neue Rechtssetzungsmechanismen wie der „soziale Dialog" 2 7 oder das Verlagern von Gesetzgebungsaufgaben auf von Interessenverbänden ausgehandelte Vereinbarungen etwa zum Schutz vor Diskriminierung 28 wären vielleicht selbst für Forsthoff überraschende Formen der Renaissance eines Neo-Korporatismus.

IV. Rechtsstaat und Sozialstaat Idealtypisch sieht Forsthoff eine den deutschen Verhältnissen angemessene parlamentarische Demokratie im Zusammenspiel von Parlament und außerparlamentarischen Interessengruppen einerseits und einem starken, direkt gewählten Staatspräsidenten und einem neutralen Berufsbeamtentum als „Element neutraler Staatlichkeit" andererseits verwirklicht 29 . Forsthoff räumt freilich ein, dass dieses der Weimarer Republik nachempfundene Modell mit der Funktionsfähigkeit des Parlaments steht und mit der parteipolitischen Zersplitterung fällt 3 0 . Die Polarität von Rechtsstaat und Sozialstaat hat Forsthoff etwa in seinem kontroversen Referat auf der Staatsrechtslehrertagung von 1953 31 entwickelt 26 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europäisches Regieren Ein Weißbuch, COM (2001) 428 endgültig, insbesondere S. 19 ff. 27 Art. 138 f. EG.

28 § 5 Behindertengleichstellungsgesetz, BGBl. I 2002, S. 1467. 29 Forsthoff\ Verfassungsprobleme des Sozialstaates, in: Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 61. 30 A.a. 0.,S.61. 31 Forsthoff (1954), S. 8 ff.

Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, WDStRL 12

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und auf Verfassungsebene zugunsten des Rechtsstaats aufgelöst. Sein Rechtsstaatsbegriff beruht auf einer formalen Konstruktion und verzichtet auf eine ins Normative gewendete materiale Wertethik 3 2 . Dem unter den Segnungen der grundgesetzlichen Ordnung Aufgewachsenen mag dieser formale Rechtsstaatsbegriff allzu spröde und karg erscheinen. Aber die Perversion des Rechts im NS-Staat hat sich wesentlich dadurch entfaltet, dass nationalsozialistisches Naturrechtsdenken bei der Interpretation die Gesetzesbindung aufgelöst hat 3 3 . Vor diesem Hintergrund ist es nicht ohne gewisse Brisanz gewesen, dass Forsthoff in seinem Vortrag zu den „Grenzen des Rechts" auf der Kant-Feier der Universität Königsberg von 1941 - bei allem semantischen Tribut an eine vom Volks bewußtsein getragene Rechtskultur - für den Normenvollzug eine „strikte Gesetzesfolge" angemahnt hat und dabei vor einer „primitiven Dorflindenromantik" gewarnt hat 3 4 . Dabei verwirft Forsthoff mit aller Klarheit die „bloß privatethisch fundierte freie Entscheidung" des Rechtsanwenders 35. Diese Warnung erstreckt Forsthoff auf den Richter und alle „übrigen Wahrer des Rechts". Es bedarf keines prononcierten Wohlwollens in der Ausdeutung, um Forsthoffs Mahnung auch auf die Spitze des Führerstaats zu erstrecken, die exponierte Staatsrechtslehrer nach dem Aö/?ra-Massaker mit der Weihe eines obersten Gerichtsherrn und in freier Dezision agierenden Wahrers des 32

Forsthoff y Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff. (61) = Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), S. 152: „Der Rechtsstaat ist seinem Wesen nach nicht eine organisierte Gesinnungs- oder Erlebniseinheit, sondern ein institutionelles Gefüge oder, um es kraß zu formulieren, ein System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit". 33 Vgl. O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994; B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung: zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 5. Aufl., 1997, S. 175 ff.; G. Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 40 ff. 34 Forsthoff Grenzen des Rechts, 1941, S. 21. Zur gebotenen Gesetzesbindung der Verwaltung schon Forsthoff Von den Aufgaben der Verwaltungsrechtswissenschaft, DR 1935, S. 399. 35 Forsthoff Grenzen des Rechts (Anm. 34), S. 21.

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Rechts versehen hatten. 36 Unter Hinweis auf den Triumphzug des „gesunden Volksempfindens" und der materialen Wertordnung (spezifisch nationalsozialistischer Prägung) betont Forsthoff in seinem Königsberger Vortrag „die zeitlose Wahrheit der Kantschen Scheidung von Moralität und Legalität" und prognostiziert: „Der Versuch einer völligen Überführung der materialen Ethik in die Rechtsgebote muß ... entweder scheitern oder die Ethik vernichten" 37 . Im Bemühen, die freiheitssichernde Funktion des Rechtsstaats ungeschmälert zu erhalten, reduziert Forsthoff das Bekenntnis des Grundgesetzes zum Sozialstaat auf eine „an das Ermessen gerichtete und für die Gesetzesauslegung verbindliche Staatszielbestimmung" 38 . Aus dieser Sicht wird Häberle mit seiner Würdigung von Forsthoffs Werk zum Verwaltungsrecht als großartigen Beitrag zum Sozialstaatsprinzip der Forsthoff sehen Perspektive durchaus gerecht. 39 Die Antinomie von Rechtsstaat und Sozialstaat hat später Karl Doehring in einer kleinen Monographie als eine im Grundgesetz selbst angelegte (und nicht durch bloße Reduktion des Sozialstaatsprinzips auf eine nachrangige, Gesetzesauslegung und Ermessen steuernde Maxime auflösbare) Spannung in meisterlicher Weise ausgeleuchtet40. Die Verdrängung des Sozialstaatsprinzips vom verfassungsrechtlichen Podest der auch den parlamentarischen Gesetzgeber steuernden Zielbestimmungen ist nicht gelungen 41 . Dies liegt 36 c Schmitt, Der Führer schützt das Recht; DJZ 1934, S. 945 ff.; dazu Werle (Anm. 33), S. 146 f., 687 ff. 37

Forsthoff Grenzen des Rechts (Anm. 34), S. 22. 38 Forsthoff (Anm. 31), WDStRL 12 (1954), S. 36 (Leitsatz XIV). 39 Häberle (Anm. 2), JZ 1975, S. 689. 40

K. Doehnng, Sozialstaat, Rechtsstaat und freiheitlich demokratische Grundordnung, in: Die politische Meinung 1978, Sonderheft, S. 7 ff. Siehe auch Doehring, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1984, S. 251 ff. 41 Siehe etwa E. Schmidt-Aßmann, Rechtstaat, in: J. Isensee /P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 24 Rn. 95 m.w.Nachw. Immerhin hat die Forsthoffsche These einer Antinomie von Rechtsstaat und Sozialstaat in der politischen Wissenschaft beachtliche Resonanz gefunden; siehe etwa H. Maier, Politische Wissenschaft in Deutschland, erweiterte Neuausgabe, 1969, S. 179 ff.

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nicht nur am Bekenntnis zu den materiellen Voraussetzungen individueller Inanspruchnahme von Freiheitsrechten. Vielmehr verfügt der freiheitssichernde Rechtsstaat beim noch herrschenden Verständnis der Eigentumsgarantie nur über ein recht stumpfes Instrumentarium, um die Umverteilung durch den Steuerstaat nachhaltig in die Schranken zu weisen 42 . Schließlich hat die von Forsthoff selbst beschriebene „soziale Realisation" 43 einen unvergleichlichen Prachtbau sozialer Errungenschaften unter das besitzstandswahrende Dach rechtsstaatlicher Garantien gebracht. Der von Forsthoff schon im Jahr 1955 beklagte „Immobilismus der Daseinsverhältnisse", ja der Innenpolitik schlechthin 44 - mit den von Interessenverbänden eifersüchtig gehüteten Besitzständen, welche sich grundlegenden Systemkorrekturen entgegenstellen, könnte auch als Motto über dem Wahljahr 2002 stehen. Die schroffe Scheidung von Rechtsstaat und Sozialstaat mit dem absoluten Primat rechtsstaatlicher Garantien auf der verfassungsrechtlichen Ebene darf nicht den Blick auf Forsthoffs ausgeprägtes Sensorium für die Forderung der sozialen Gerechtigkeit „im Sinne einer gerechten Zuteilung der Lebensgüter" 45 verstellen.

V. Verfassungsgerichtsbarkeit Einen wesentlichen Platz nimmt in Forsthoffs Staatsverständnis die Rolle der Justiz, insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit ein. Entscheidend ist dabei auch Forsthoffs Begriff von der Verfassung als Verfassungs-Gesetz 46. Die unter der Geltung des Grundgesetzes betriebene Wertordnungsjurisprudenz birgt für Forsthoff die Gefahr einer „Abdankung der juristischen Methode 42 Vgl. M. Herdegen, Garantie von Eigentum und Erbrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 273 ff. (273 ff., 284 ff.) m.w.Nachw. 43 Forsthoff y Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 32 f. 44 Forsthoff Hat der Staat noch Autorität?, Christ und Welt 1955, Nr. 46, S. 8. 45 Von Forsthoff schon in seinem Königsberger Vortrag von 1941 (Anm. 34), S. 19, betont. 46 Forsthoff Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (Anm. 32).

4 Blümel

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zu Gunsten irgendwelcher geisteswissenschaftlicher Arten der Deutung" 4 7 . Die Exegese des Verfassungstextes verliert an Rationalität, Prognostizierbarkeit und löst sich in schlichte Kasuistik auf 48 . Forsthoff diagnostiziert darin einen Mißstand der Verfassungsinterpretation und nimmt damit die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 49 vorweg. Eine aktuelle Bestätigung des Forsthoff sehen Befundes liefert die Volksgemeinschaft der Verfassungsinterpreten mit der Diskussion über die normativen Grenzen der modernen Biomedizin. Die Mutation des Verfassungsstaates zum Justizstaat mit einer dominanten Verfassungsgerichtsbarkeit 50 hat sich in den letzten Jahrzehnten eher noch verstärkt. Die Einhegung der verfassungsgerichtlichen Abwägungskontrolle durch die subtile Typisierung von gesetzgeberischen Gestaltungsspielräumen 51 vermag die Gefahr einer Überkonstitutionalisierung der Rechtsordnung zu dämpfen, beseitigt sie aber nicht. Die politischen Organe und die politische Klasse insgesamt hat sich damit abgefunden, dass verfassungsgerichtliche Kontrolle und Nachbesserung integraler Bestandteil des Gesetzgebungsprozesses sind. Dies schließt selbst Verteilungseffekte kraft Richterspruches in einer volkswirtschaftlichen Größenordnung mit ein. Ob sich die Akzeptanz eines derartigen verfassungsgerichtlichen Aktivismus unter der Geltung des Grundgesetzes auch in 47

Forsthoff Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (Anm. 32), S. 41. Zu Forsthoffs Kritik an einer wertorientierten Verfassungsordnungsinterpretation A. Höllerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? AöR 85 (1965), 241 ff. Gegen das Verständnis von Verfassungsnormen als syllogistisch traktierbaren Obersätzen F. Müller.; Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 87. Vorsichtige Zustimmung zur Gefahr subjektiver Wertbekenntnisse als interpretationsleitende Parameter vom Boden einer materialen Verfassungstheorie aus bei H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 51; gegen „methodologische" Einwände aber R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., 1996, S. 138 ff. 48 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (Anm. 32), S. 51, 55. 49 Häberle (Anm. 2), ZSR 95 (1976), S. 488. 50

Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (Anm. 32), S. 60. Zur Abschichtung von „strukturellen" und „epistemischen" Gestaltungsspielräumen R. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht - Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, WDStRL 61 (2001), S. 7 ff. (15 ff.). 51

Ernst Forsthoffs Sicht vom Staat

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Zeiten härterer Verteilungskämpfe hält, läßt sich schwer vorhersagen. VI. Die „technische Realisation" im Staat der Industriegesellschaft Besondere Originalität entfaltet das Staatsdenken Forsthoffs in der Analyse der modernen Industriegesellschaft und deren Auswirkungen auf den Staat der Bundesrepublik Deutschland. Die Industriegesellschaft geleitet von einer von „Eigeninteresse geprägten Rationalität" 52 , ist als eine Art selbstgenügsames System in hohem Maße stabil und vermag damit zugleich dem Staat ihre Stabilität mitzuteilen 53 . Die „technische Realisation" 54 zwingt dem Staat durch ihre Affinität zur Macht und durch die von ihr ausgehenden Sachzwänge neue Gesetze des Handelns auf. Die Regulierung technischer Prozesse und der Austrag der von der technischen Realisation ausgehenden Interessenkonflikte drängt den Staat in eine besondere Verantwortung mit der Chance, sich als „reale, präsente, souveräne Macht" zu bewähren 55 . Heute gehören das Risikomanagement moderner Hochtechnologien und die gesetzliche Bewältigung der Bedingungen empirischer Ungewißheit zu den großen Regelungsaufgaben des Staates. Fortführen läßt sich dieser gedankliche Ansatz im Hinblick auf eine moderne Art der „ökonomischen Realisation", welche auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Währungspolitik den Staat als Regelungsinstanz zunehmend mit einer eigenen, empirisch gestützten Rationalität konfrontiert. Für die Bundesrepublik Deutschland wirken im wesentlichen drei normative Stränge im Sinne eines derartigen Korsetts ökonomischer Rationalität zusammen: die Regeln des europäischen Binnenmarktes einschließlich der EG-Wettbewerbsordnung, das Regime der Haushaltsdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und schließlich die Rationali52

Forsthoff, 53 A. a. O., S. 54 A. a. O., S. 55 A. a. O., S. 4*

Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 57. 56 f. 30 ff. 46 f.

52

Matthias Herdegen

tätsstandards für Handelsbeschränkungen im WTO-Recht. Diese Standards vermögen immer wieder Kräfte freizusetzen, die bei einer völlig introvertierten Diskussion an organisierten Besitzstandsinteressen scheitern würden.

V I I . Ausblick Forsthoffs scharfsichtige Analyse der technisch-wissenschaftlichen Prozesse und der von empirischen Standards genährten Rationalität verlangen, das Bild Forsthoffs als eines großen konservativen Staatsrechtslehrers 56 um sein Ringen mit und um moderne Herausforderungen und Chancen zu ergänzen. Die Schlußbetrachtungen im „Staat der Industriegesellschaft" sind das vielleicht ansprechendste Zeugnis des Anliegens, welches hinter dem Staatsdenken Forsthoffs steht: Die Verknüpfung normativ, rechtsstaatlich gebundener Macht mit der Sicherung von Humanität 57 . Bereits sein Königsberger Vortrag von 1941 betont die Sorge um die Persönlichkeit des „konkreten Menschen" und beschwört die Gefährdung durch die „Dämonien der Vermassung" 58 . Forsthoffs Vision internationaler Organisationsformen als Hüter der Humanität 5 9 schlägt die Brücke zur modernen Völkerrechtsordnung. Dass sich hier eine in geistesgeschichtlichen Grundlagen des Rechtsstaates wurzelnde Wertordnung Boden bricht 6 0 und unter Führung der nordatlantischen Gemeinschaft der Wille zur Durchsetzung elementarer Humanitätsstandards sichtbar wird, hätte Ernst Forsthoff vielleicht mit Zuversicht erfüllt.

56

K. Frey, Rechtsstaat im Wandel (Anm. 2), Vorwort, S. XV. Forsthoff Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 169. 58 Forsthoff Grenzen des Rechts (Anm. 34), S. 20.

57

59

Forsthoff Industriegesellschaft (Anm. 1), S. 168. Zum modernen Völkerrecht als Wertordnung etwa M. Herdegen, Völkerrecht, 2. Aufl. 2002, § 5 Rn. 8 ff. m.w.Nachw. 60

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff Aktuelle Entwicklungen im nationalen und europäischen Recht Von Michael Ronellenfitsch

I. Vorbemerkung Ein Kolloquium aus Anlass des 100. Geburtstags von Ernst Forsthoff soll die Erinnerung wach halten, aber nicht ausschließlich vergangenheitsgerichtet sein. Mit der Schöpfung des Rechtsbegriffs der Daseinsvorsorge hat Forsthoff Weichen gestellt, deren Bedeutung in Deutschland und Europa erst in der Gegenwart voll bewusst wird. Von Interesse ist nicht nur, welchen Weg Forsthoff vorgab, sondern mehr noch, wohin die Reise seither ging und künftig gehen sollte.

II. Forsthoffs Konzeption der Daseinsvorsorge 1. Zeitliche Situation bei Entwicklung der Konzeption a) Akademischer Werdegang Forsthoffs Forsthoffs Konzeption der Daseinsvorsorge hängt eng mit seinem akademischen Werdegang zusammen1. Forsthoff studierte in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg an den Universitäten Frei1 Vgl. die Kurzbiographie von Hans Schneider; Ernst Forsthoff 70 Jahre, NJW 1992, 1654; ders., Ernst Forsthoff f, DÖV 1974, 596 f. Daran ist richtig zu stellen, dass Forsthoff zwar in Mülheim/Ruhr aufwuchs, jedoch in Duisburg geboren wurde. Ausführlicher Doehring, Ernst Forsthoff, in: Juristen im Portrait, Festschr. 225 Jahre Beck-Verlag, 1988, S. 341 ff.; ders., Ernst Forsthoff. Leben und Werk, in: Doerr (Hrsg.), Semper apertus, Sechshundert Jahre

54

Michael Ronellenfitsch

burg, M a r b u r g u n d Bonn, w o er v o n Carl Schmitt des öffentlichen Rechts verwiesen w u r d e

2

auf die Bahn

und 1923 promovierte 3 .

1930 habilitierte er sich i n Freiburg für das Fach „Öffentliches Recht" m i t einer A r b e i t über „ D i e öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat" 4 . Sein erster Ruf erfolgte 1933 an die Universität Frankfurt / M a i n . D i e Zugehörigkeit

zur

Carl-Schmitt-Schule

5

und vordergründige p r o - N S Bekundungen dürften sich dabei nicht nachteilig ausgewirkt haben. Schon bald konnte er auch an die Universität H a m b u r g wechseln. Bereits dort geriet er auf Gegenkurs zu den damaligen Machthabern. A l s Forsthoff

1936

einen R u f an die Universität Königsberg erhielt, w u r d e n bezeichnender Weise keine Bleibeverhandlungen geführt 6 . N a c h der Zeit des „Ausweichens u n d der Ruhe" i n Königsberg 7 konnte er das Lehramt auf dem 1941 übernommenen Lehrstuhls an der U n i v e r Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986, Bd. III, 1985, S. 437 ff.; Kaube, Die Vorsorgemaschine, FAZ 214/14. 9. 2002, S. 34. s.a. Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung? Zum wissenschaftlichen Werk von Ernst Forsthoff, JZ 1975, 685 ff.; ders., Zum Staatsdenken Ernst Forsthoffs, Zeitschr. f. Schweizerisches Recht n.F. 95 (1976), S. 477 ff. 2 Vgl. Quaritscb, Erinnerung an Ernst Forsthoff, NJW 1974, 2120. 3 „Der Ausnahmezustand der Länder", abgedruckt in: AnnDR 1923/25, S. 138 ff. 4 Untertitel: „Eine Untersuchung über die Bedeutung der institutionellen Garantie in den Artikeln 127 und 137 der Weimarer Verfassung", 1931. Zur Habilitation und Privatdozentur Forsthoffs in Freiburg Hollerbach, Kirchenrecht an der Freiburger Rechtsfakultät 1918-1945, ZevKR 23 (1978), S. 23 ff. (35 ff.). In Freiburg hielt Forsthoff keine verwaltungsrechtlichen Vorlesungen. Auch seine schriftstellerische Tätigkeit konzentrierte sich auf das Staatsrecht. An größeren Publikationen sind zu nennen (zusammen mit Tula Simons), „Die Zwangsvollstreckung gegen Rechtssubjekte des öffentlichen Rechts", 1931; „Die Krise der Gemeindeverwaltung im heutigen Staat", 1932. Geradezu schulmäßig dogmatisch im Sinne der klassischen Lehre gehalten ist der Aufsatz „Die unmittelbare Reichsauf sieht", AöR 58 (1930), 61 ff. Aufschlussreich für das methodische Verständnis war dann aber der Besprechungsbericht „Staatswissenschaft und Weltkrieg", Blätter für Deutsche Philosophie, 1931, 292 ff. 5 Vgl. auch den Auszug aus dem Brief an Carl Schmitt vom 13. 10. 1933 bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland III, 1999, S. 266 Fußn. 125. 6 Vgl. aber auch Stolleis, Geschichte., S. 273 f. 7 Stolleis, Geschichte, S. 285.

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

55

sität Wien wegen des Widerspruchs des Reichstatthalters nicht ausüben. Der Ruf nach Heidelberg im Jahr 1943 brachte ihn aus der Schusslinie8. 1945 auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung aus dem Dienst entlassen, durfte Forstboff erst 1952 auf seinen Heidelberger Lehrstuhl zurückkehren. Er nutzte die Zwischenzeit insbesondere zur Fertigstellung seines Lehrbuchs des Verwaltungsrechts, das von 1950 bis 1973 in zehn Auflagen erschien9.

b) Wandel der verwaltungsrechtlichen Methode Forsthoff begann seine wissenschaftliche Laufbahn in einer Zeit, in der soziale Belange die Gemüter bewegten. Auf der Verfassungsebene gelang es nicht, die Daseinssicherung zu verankern, obwohl Art. 151 Abs. 1 Satz 1 W V bestimmte: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen". Lehmanns Anregung, aus dieser Bestimmung aktuelle, Gerichte und Verwaltungsbehörden bindende Rechte abzuleiten 10 , stieß auf Ablehnung der maßgeblichen Kommentatoren der W V 1 1 und des StGH 1 2 . Für Kritiker des Weimarer 8 Vgl. Stolleis, Geschichte, S. 275. 9

Lehrbuch des Verwaltungsrecht, 1. Bd.: Allgemeiner Teil, 1. Aufl., 1950; 2. Aufl., 1951; 3. Aufl., 1953; 4. (unveränderte) Aufl., 1954; 5. (unveränderte) Aufl., 1955; 6. Aufl., 1956; 7. Aufl., 1958; 8. Aufl., 1961; 9. Aufl., 1966; 10. Aufl., 1973. 10 In: Nipperdey, (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Komm, zum Zweiten Teil der Reichsverfassung, Bd. 3, 1930, S. 125 ff. (127,134). 11 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Komm., 14. Aufl., 1933, S. 700. Für Anschütz war Art. 151 Abs. 1 WV ohnehin eine verfassungsmäßige Festlegung für eine von der Gesetzgebung der letzten Jahrzehnten befolgten Richtlinie: „Dass hierin ein neuer Geist wehe, von dem das alte Staatswesen nichts gewusst habe, kann nur behaupten, wer unser altes Staatswesen nicht kennt." (ebd., S. 699); vgl. ferner Giese, Grundriss des Reichsstaatsrechts, 4. Aufl., 1926, S. 204 f.; kritisch Poetzsch-Heffter,; Handkommentar der Reichsverfassung, 3. Aufl., 1928, S. 480. 12 Lammers / Simons (Hrsg.), Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, Bd. 4, 1932, S. 199.

56

Michael Ronellenfitsch

Systems 1 3 , namentlich aus dem konservativen Lager, bedeutete die NS-Machtergreifung die Versuchung, die staatsideologische U n t e r b i l a n z 1 4 der vorangegangenen Epoche zu beheben u n d sich hierbei der Terminologie der neuen Machthaber zu bedienen 1 5 . Forsthoff

nahm die Nationalsozialisten beim W o r t , u m sie auf

sublime Weise doch wieder dem Recht zu unterwerfen 1 6 . D i e latente Ironie seiner nationalsozialistischen

Bekenntnisformeln

fiel unangenehm auf. N i c h t v o n ungefähr stieß die schon i m M a i 1933 erschienene Schrift „ D e r totale S t a a t " 1 7 auf wenig Gegenliebe bei den orthodoxen Nationalsozialisten 1 8 . I n H a m b u r g legte

13

Symptomatisch sind die zahlreichen Krisenschriften; vgl. Forsthoff\ Die Krise der Gemeindeverwaltung im heutigen Staat, 1932; ders., (unter dem Pseudonym Georg Holthausen), Justizkrise und Krisenjustiz, Der Ring. Konservative Wochenschrift 1931, S. 653 ff.; ders. (unter dem Pseudonym Dr. Friedrich Grüter), Der Rechtsstaat in der Krise, Deutsches Volkstum. Monatsschrift für deutsches Geistesleben 1932, S. 260 ff. Zum Positivismus äußerte sich Forsthoff in den Blättern für Deutsche Philosophie 1931, 292 ff. (294) wie folgt: „Seitdem der Irrtum des Positivismus und der normlogischen Methode evident geworden ist, sieht sich die Staatsrechtslehre der geistig-politischen Situation und allen ihren Verlegenheiten und Schwierigkeiten ausgeliefert. Das ist selten so klar geworden, wie in der heutigen Zeit. Das Fundament, auf dem die Staatsrechtslehre ruht, zerbröckelt, die überkommenen politische Begriffe und Formen zerrinnen und verflüchtigen sich oder gewinnen einen neuen, vielfach unerwarteten Gehalt." 14 Zu diesem Terminus vgl. etwa die Uberschrift I I I in der Aufsatzsammlung von Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., 1974. 15 Vgl. etwa Forsthoff (unter dem Pseudonym Dr. Friednch Grüter), Die Gliederung des Reiches, in: Günther (Hrsg.), Was wir vom Nationalsozialismus erwarten - Zwanzig Antworten, 1932, S. 81 ff. 16 Vgl. Forsthoff, Deutsches Recht 1935, 398 ff. (398): „Denn nur dann wird es gelingen, die Rechtssätze des nationalsozialistischen Verwaltungsrechts als Ausdruck planvoller realer Ordnungen zu erkennen, wenn die Wissenschaft auch die ungeschriebenen Lebensgesetze der modernen Verwaltung in ihre Betrachtung einbezieht." 17

1. Aufl., 2. Aufl. 1934. Nach eigener Bekundung stand diese Schrift „nicht im Dienste des historischen Erkennens, sondern der politischen Aktion" (S. 7). Vorüberlegungen finden sich schon im der Weimarer Zeit, als Forsthoff an Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung, in: ders. (Hrsg.) Krieg und Krieger, 1930 = Werke, Bd. 5, o.J., S. 123 ff. sowie an Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, anknüpfte; vgl. Forsthoff, Blätter für Deutsche Philosophie 1931, 292 ff. (293 f.). Die Diskrepanz der beiden Auflagen beleuchtet H. H. Klein in diesem Band S. 19 ff.

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

57

sich Forsthoff mit dem Gauleiter an, der von den Richtern verlangt hatte, die Gesetze auf Grund des Parteiprogramms zu interpretieren. Forsthoff konterte, gute Nationalsozialisten könnten es nicht zulassen, dass das Parteiprogramm revisibel und vom Reichsgericht ausgelegt würde. Forsthoff setzte sich nicht durch; unter der Ordnungsnummer 1, unter der heute das Grundgesetz abgedruckt ist, fand sich in der Gesetzessammlung von Schönfelder das Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920 mit redaktionellen Hinweisen auf die „Ausführungsgesetze". Der Versuch, Hegels „List der Vernunft" zu aktualisieren, war gescheitert, als Forsthoff sich nach Königsberg absetzte19. Erörterungen von Verfassungsfragen waren unerwünscht. Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen blieb nur noch der Staat auf der „unterpolitischen" Ebene der Verwaltung 20 . Noch in Hamburg schrieb Forsthoff 1935: „Die vordringlichen Aufgaben öffentlich-rechtlicher Wissenschaft liegen heute auf dem Gebiet der Verwaltung. Der Verfassungsaufbau des nationalsozialistischen Staates ist im allgemeinen beendet. Die durch das Führertum bestimmte Verfassung stellt die Wissenschaft nicht vor Interpretationsprobleme, wie sie das Verfassungsgesetz von Weimar enthielt. Anders die Verwaltung".

Forsthoff forderte eine grundlegende Wandlung der verwaltungsrechtlichen Methode. Das war an sich nichts Neues, da die Kritik an der auf die Eingriffsverwaltung zugeschnittenen liberalen Dogmatik des Verwaltungsrechts schon längst dem Zeitgeist entsprach, auch wenn es sich um einen Nebenkriegsschauplatz in der nach 1918 einsetzenden Auseinandersetzung um den Rechtspositivismus handelte 21 . Forsthoff beschränkte sich jedoch nicht nur auf Kritik, sondern führte aus, das verwaltungswissenschaft18

Vgl. Alfred Rosenberg, Totaler Staat?, Völkischer Beobachter vom 9. 1. 1934, S. 1 f.; Freisler, Totaler Staat? - Nationalsozialistischer Staat!, Deutsche Justiz 1934, 43 f. 19 Storost, Staat und Verfassung bei Ernst Forsthoff, 1979, S. 55. 20 Storost, Staat und Verfassung, S. 81. 21 Hierzu Stolleis, Geschichte, S. 91 ff.

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Michael Ronellenfitsch

liehe Denken müsse von einer Kenntnis des Wesens der Verwaltung und ihrer sozialen Funktionen getragen sein, auf die eine normativistische Verwaltungsrechtswissenschaft vielleicht ohne größeren Schaden habe verzichten können . Was die soziale Funktion der Verwaltung betrifft, schied Forsthoff den zugänglichen und den beherrschten Lebensraum, in dem der Mensch sein Dasein zubringt. Der einem Menschen allein zugängliche beherrschte Lebensraum (Hof, Acker, Haus) habe sich im Lauf des 19. Jahrhunderts stark verringert oder sei ganz verschwunden, während sich der zugängliche Raum, in dem sich das Leben tatsächlich vollzieht, dank der Ausbildung des modernen Verkehrswesens außerordentlich vergrößert habe. Mit der Verringerung oder dem Verschwinden des beherrschten Lebensraums verliere das Dasein an Sicherheit, da es aufhöre, in hohem Maße in sich selbst zu ruhen. Es werde sozial empfindlich. Darum müsse schon in normalen Zeiten ein großer Verwaltungsapparat aufgeboten werden, damit die Befriedigung der Lebensbedürfnisse, deren Vorsorge der Einzelne aus der Hand gegeben habe, gesichert sei. In Zeiten der Krise trete dann die soziale Empfindlichkeit des modernen Massendaseins voll in Erscheinung. Mit diesen wenigen Andeutungen wollte Forsthoff zeigen, welche Macht die moderne Verwaltung über die Menschen gewonnen habe: „Die Lebensmöglichkeiten von Millionen Volksgenossen hängt daran, dass die Wasserversorgung funktioniert, dass die Verkehrsmittel die Verbrauchsgüter in die Großstädte bringen, dass die Renten der Sozialversicherung und die sonstigen Unterhaltsleistungen pünktlich nach Satz und Tarif zur Auszahlung kommen. Es geht darum an der Wirklichkeit völlig vorbei, im überkommenen Sinne zu behaupten, in der Verwaltung verwirkliche ,der Staat' seine Zwecke. Ein weiter Teil der Verwaltung ist zunächst zu keinem anderen Zwecke da als dem, die Lebensvoraussetzungen des deutschen Volkes in einem ganz elementaren Sinne sicherzustellen. Andererseits kann auch kein Zweifel darüber bestehen, dass ein Staat, der in seiner Verwaltung das Lebensschicksal von Millionen in der Hand hält, über Möglichkeiten der Formung und Umgestaltung des Daseins verfügt, die dem Staat des 19. Jahrhunderts nicht zu Gebote standen. Die moderne Verwaltungspraxis - man 22 Aus dem „Vielleicht-Satz" lässt sich ohne weiteres eine Verbeugung vor den liberalen Verwaltungsrechtslehrern ableiten. Auch die Kritik der namentlich genannten Otto Mayer,; Fleiner und Jellinek drückt allein durch die Erwähnung der Autoren deren Anerkennung aus.

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Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

denke an die Maßnahmen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit - ist reich an Beispielen dafür, dass von diesen Möglichkeiten auch Gebrauch gemacht wird." 2 3 I m Spannungsbogen Führung, verstanden als gestaltende geschichtliche Tat, u n d Verwaltung ordnete Forsthoff

die „Daseins-

fürsorge u n d Vorsorge für das Alltägliche" der Verwaltung z u 2 4 u n d entzog sie dadurch dem Einfluss der Partei 2 5 . Diesen Ansatz griff Forsthoff

i n seiner Königsberger Schrift v o n 1938 „ D i e Ver-

w a l t u n g als Leistungsträger" a u f 2 6 . Forsthoff

warf der ü b e r k o m -

menen D o g m a t i k des Verwaltungsrecht vor, sie ignoriere, dass der zugängliche Lebensraum, Forsthoff

nannte i h n nunmehr effek-

tiven Lebensraum, wachse, während der beherrschte Lebensraum zurückgehe. D a d u r c h entstehe eine Lage, i n welcher die Lebensgüter nicht durch die N u t z u n g eigener Sachen, sondern i m Wege der A p p r o p r i a t i o n zugänglich gemacht werden müssten 2 7 . D i e 23 Deutsches Recht 1935, 398 f. 24 Ebd. S. 400. 25 Ebd. „Dadurch, daß die Dienststellen der Partei von der Verwaltungsorganisation des Staates getrennt, Parteiaufbau und Staatsaufbau gesondert sind und sich nur an der Spitze treffen, wird die Partei von der Einbeziehung in die Alltäglichkeit des Verwaltungsdienstes bewahrt." Vgl. auch „Der totale Staat", S. 37: „Die Massenfürsorge, die Notwendigkeit, in einem übervölkerten Lande ein geordnetes Sozialleben aufrecht zu erhalten und die Verwaltungsbedürfnisse von Millionenstädten zu befriedigen, machen ein Berufsbeamtentum, eine berechenbar und präzise funktionierende Bürokratie unentbehrlich. Autorität und Totalität aber fordern ein persönliches, befehlsförmiges Regiment. Bürokratische und befehlsförmige Verwaltung müssen darum nach den Erfordernissen der staatlichen Aufgaben angesetzt, balanciert und in einer sinnvollen, die Einheit der gesamten Verwaltung verbürgenden Verbindung gehalten werden." Ahnlich der Beitrag „Führung und Bürokratie / Einige grundsätzliche Erwägungen", in: Deutsches Adelsblatt 1935, 1339 f.: „Die bürokratische Verwaltung ist zunächst und in erster Linie für das Alltägliche, Sicherung der Daseinsbedingungen des deutschen Volkes. Sie ist nicht gestaltende geschichtliche Tat, sondern schafft die Voraussetzungen geschichtlichen Handelns. Denn alle weitschauenden Pläne, jede in die Zukunft gerichtete Politik im vollen Sinne des Wortes werden zunichte, wenn das alltägliche Dasein nicht in Ordnung ist." 26

Später teilweise abgedruckt in „Rechtsfragen der leistenden Verwaltung",

1959. 27 Die Verwaltung als Leistungsträger, S. 5 unter Verweis auf Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (ohne Nachweise der Auflage), S. 23 u. pass. = Stu-

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Michael Ronellenfitsch

Veranstaltungen zur Befriedigung der Appropriationsbedürfnisse bezeichnete Forsthoff nunmehr als Daseinsvorsorge 28. Zunächst machte er nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex der Daseinsvorsorge, die Darbietung lebensnotwendiger Leistungen, zum Gegenstand rechtlicher Überlegungen 29 . Würden solche Leistungen vom Staat erbracht, so ergebe sich das Problem der Teilhabe: „Was wird, wenn der Staat die Abhängigkeit des Einzelnen von ihm zum Mittel der Beherrschung macht?" 30 . Forsthoff gab die Antwort: Auch die Daseinsvorsorge ist öffentliche Verwaltung und unterliegt öffentlich-rechtlichen Bindungen, gleichgültig, in welcher Rechtsform sie erfolgt 31 . Später gab Forsthoff die rechtliche Beschränkung der Daseinsvorsorge auf lebensnotwendige Leistungen auf 32 , hielt aber an der Verengung des Begriffs auf die Vitalsphäre fest. Das verhinderte gleichwohl nicht die Kritik mangelnder Konturenschärfe, von der noch zu sprechen sein wird.

dienausgabe (hrsg. v. Winckelmann), 1. Halbbd., 1964, S. 31 ff. „Eine geschlossene soziale Beziehung kann monopolisierte Chancen den Beteiligten a) frei oder b) nach Maß und Art reguliert oder rationiert oder c) den Einzelnen oder Gruppen von ihnen dauernd und relativ oder völlig unentziehbar appropriiert garantieren". 28 Ebd., S. 6. 29 Ebd., S. 7. In diesem Zusammenhang erwähnt Forsthoff allerdings die „Verkehrsmittel jeder Art". 30 Ebd., S. 15 ff. Ein ähnlich kritischer Ansatz findet sich bei Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, 1978, S. 13 ff. 31 Anders noch in „Der totale Staat", S. 13: „Der Apparaturstaat ist ein Staat ohne Gehalte, und wo sich ihm Gehalte aufdrängen, wo er den Versuch macht, sie in sich aufzunehmen, da zerstört er sie, er nimmt ihnen ihr spezifisches Wesen, indem er sie auflöst in seine Normierungen und Berechenbarkeiten. Hans Freyer hat in seiner auch heute noch sehr bemerkenswerten Schrift Revolution von rechts' darauf hingewiesen, wie dieser Staat in seiner Sozialgesetzgebung und -Verwaltung die Substanz des Sozialen, die christliche Charitas, zerstörte und aus Liebe Gesetz, aus Christentum Politik, aus freiwilliger Handreichung das einklagbare Recht machte, eine Wohltätigkeit mit Kartothek, eine Liebe mit Instanzenzug organisierte." 32

Rechtsfragen, S. 12.

61

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

2. Geistesgeschichtlicher Forsthoff

Hintergrund

versuchte zwar, ohne Erfolg, den Nationalsozialisten

seine Lehren vorwiegend m i t deren eigenen W o r t e n schmackhaft zu machen. Seine „immense Kenntnis geistiger Strömungen i n Geschichte u n d G e g e n w a r t " 3 3 schimmerte jedoch durch die A r gumentation hindurch. Wer sehen wollte, der konnte die Querverbindungen zu Hegel 34,

Ortega

Y Gasset 35,

Max Weber

gar zur Existenzphilosophie, namentlich z u Heidegger

37

36

und

sehen,

während der Plagiatsvorwurf i m H i n b l i c k auf den (von Forsthoff selbst ins Spiel gebrachten) Karl Jaspers abwegig erscheint 3 8 . D i e 33 H. Schneider, NJW 1972,1654. 34

E. R. Huber; Vorsorge für das Dasein, Festschr. für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972, S. 139 ff. 35 Der Aufstand der Massen, 1931 (Ausg. 1950). Der Verweis in „Die Verwaltung als Leistungsträger" (S. 4) ist im zeitlichen Kontext beachtlich. Immerhin hatte sich Ortega Y Gasset zum Faschismus wie folgt geäußert: „Bolschewismus und Faschismus sind einer wie der andere falsche Morgenröten; sie führen keinen neuen Morgen herauf, sondern den Morgen eines archaischen Tages, der schon allzu oft aufging; sie sind Rückfälle in die Barbarei... Kein Zweifel, dass der Liberalismus des 19. Jahrhunderts überwunden werden muss. Aber der Faschismus, der sich für antiliberal erklärt, ist dazu gerade nicht imstande. Denn antiliberal oder nicht-liberal war der Mensch vor dem Liberalismus. Und da dieser einmal triumphierte, wird sich sein Sieg beständig wiederholen, oder es wird alles - Liberalismus und Antiliberalismus - mit der Vernichtung Europas enden." (S. 100 f.). 36 Erwähnt selbst in „Der totale Staat", S. 11, 42. 37 Dessen bahnbrechendes Werk „Sein und Zeit" erschien 1927. Dort befasst sich Heidegger ausführlich mit der „Sorge als Sein des Daseins"; vgl. 12. Aufl., S. 180 ff. In der ersten Sitzung des privaten Seminars, mit dem Forsthoff 1952 seine Heidelberger Lehrtätigkeit wieder aufnahm, las er aus dem Werk von Sartre vor; vgl. Doehring, Widmung, in: Festgabe für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 1 ff. (2). 38 Hierzu Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge. Ursprung, Funktion und Wandlungen der Konzeption Ernst Forsthoffs, 1991, S. 17 f. Jaspers Büchlein „Die geistige Situation der Zeit" war zwar 1931 erschienen (zuletzt 13. Aufl. 1979), Jaspers erörterte damals auch die „Massenordnung in Daseinsfürsorge" (S. 34). Inhaltlich unterschied er sich aber ebenso von Forsthoff wie von Heidegger; dessen „Sein und Zeit" er als unergiebig bei Seite gelegt hatte; so Jaspers, Philosophische Autobiographie, 2. Aufl., 1979, S. 98 f. Vgl. ferner Gogel, Jaspers' critique of Heidegger. The arrogance of thought, in: International Philosophical Quaterly 27 (1987), S. 161 ff. Was die Einstellung zum

62

Michael Ronellenfitsch

Auseinandersetzung m i t Sloterdijks nahm Forsthoff

„System der Selbstsorge" 3 9

vorweg. Insgesamt passte die K o n z e p t i o n der

Daseinsvorsorge, die sogar die leistende Verwaltung öffentlichrechtlichen B i n d u n g unterwarf, ebenso wenig i n das nationalsozialistische Weltbild, wie Forsthoffs

Versuch, die gesetzesgebun-

dene bürokratische Verwaltung durch eine klare Trennung v o m Führerprinzip

i n ihrem Bestand zu erhalten u n d gegen den

Machtanspruch der Partei zu verteidigen 4 0 . Wie angedeutet, hat die Partei das auch so verstanden u n d entsprechend negativ reagiert 4 1 . N i c h t zuletzt deswegen blieb die Resonanz zunächst Nationalsozialismus angeht, war Jaspers bereit, Heidegger eine Selbstrechtfertigungsmöglichkeit zu eröffnen, von der Forsthoff niemals Gebrauch gemacht hätte. In einem Brief an Heidegger vom 19. 3. 1950 schrieb Jaspers: „Sie werden mir verzeihen, wenn ich sage, was ich manchmal dachte: dass Sie sich den nationalsozialistischen Erscheinungen gegenüber zu verhalten schienen, wie ein Knabe, der träumt, nicht weiß, was er tut, wie blind und wie vergessend auf ein Unternehmen sich einlässt, das ihm so anders aussieht, als es in der Realität ist, dann bald ratlos vor einem Trümmerhaufen steht und sich weitertreiben lässt." Heidegger antwortete: „Sie haben es mit dem Bild vom träumenden Knaben völlig getroffen." zit. nach Biemel/ Saner (Hrsg.), Martin Heidegger/Karl Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, 2. Aufl., 1992, S. 198, 200. 39 Hierzu Stäheli, Shopping im Treibhaus, FAZ 253/21. 10. 2001, S. Ν 5. 40 Vgl. Forsthoff Deutsches Recht 1935, 398 f. (399): „Denn hier und da tritt bereits das Missverständnis auf, als bedeute die Einheit des Staates, die Durchsetzung des Führerprinzips und die Gründung des Staates in der Gemeinschaft des deutschen Volkes eine Uniformität der staatlichen Struktur. Wer das behauptet, argumentiert an der Realität des nationalsozialistischen Staates ideologisch vorbei und verfehlt die Möglichkeit einer wirklichen wissenschaftlichen Einsicht. Die Verwaltung als bürokratische Verwaltung ist gebunden an Gesetze und allgemeine Regeln. Nur in dieser Bindung vermag sie die Vorzüge zu entfalten, die sie in einem modernen Massenstaat unentbehrlich macht: die Präzision des Vollzuges, die Berechenbarkeit, Ubersehbarkeit und Stetigkeit in der Erledigung der ihr anvertrauten Aufgaben. Die Leistung der modernen Verwaltung trägt einen starken unpersönlichen Akzent, hier verschwindet vielfach der Mann hinter Amt und Dienstvorschrift und ein bis zu einem gewissen Grade apparatmäßiger Charakter wird dieser Verwaltung immer anhaften; aber ohne die Ordnungsleistung, die eine solche Verwaltung vollbringt, kann der moderne Staat, der noch mit einer starken Vermassung zu rechnen hat, nicht bestehen. Der nationalsozialistische Staat hat die bürokratische Verwaltung darum nicht abgeschafft, sondern erneuert und durch Einführung des Führerprinzips die Persönlichkeit des Beamten soweit zur Geltung gebracht, als es sich mit dem Wesen dieser Art von Verwaltung überhaupt verträgt."

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

63

gering, als Forsthoff den Ausdruck „Daseinsvorsorge" in den juristischen Sprachgebrauch einführte 42 . Eine Ausnahme machte lediglich das Lehrbuch „Deutsche Verwaltung" von Röttgen, das in der 3. Auflage von 1944 einen eigenen Paragraphen (§ 16) „Verwaltung und Daseinsvorsorge" enthielt. Röttgen bezog sich hier ausdrücklich auf Forsthoff 3.

3. Dogmatischer Erkenntnisstand in der Nachkriegszeit a) Uberblick Trotz der NS-Corollarien konnte Forsthoff 1950 an seinem Konzept des Verwaltungsrechts anknüpfen, das er schon vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte 44 . Inwieweit er sich dabei von Staatsverständnis Carl Schmitts löste und es ihm gelang Lorenz von Stein 45 mit Otto Mayer zu versöhnen, kann hier nicht vertieft werden 46 . Es ist auch nicht der Ort, die erstaunliche Diskrepanz zwischen der Skepsis gegenüber dem individuellen Freiheitsverständnis, die noch in der Montesquieu-Edi41 Stolleis, Die „Wiederbelebung der Verwaltungslehre" im Nationalsozialismus, in: Heyen (Hrsg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, 1984, S. 147 ff. (154 f.). 42 Vgl. Ronellenfitsch, Wirtschaftliche Betätigung des Staates, in: HStR III, 1988, § 84 Rn 48. Aus dem zeitgenössischen Schrifttum E. R. Huber, Rezession von E. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, ZStW 101 (1941), S. 411; Koellreuter, Die Verwaltung als Leistungsträger, RVBl 1941, 649 ff. 43 S. 172 Fußn. 1. 44 Verwaltungsrecht, 1. Aufl., Vorwort, S. VI. 45 Forsthoff war es immer wieder ein Anliegen, die Erinnerung an Lorenz von Stein wach zu halten. Vgl. bereits „Körperschaft", S. 9 f.; Der moderne Staat und die Tugend, in: Tymbos für Wilhelm Ahlmann, 1950, S. 80 ff. = Rechtsstaat im Wandel. 1 Aufl. 1964, S. 13 ff. (21); Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., S. 25 ff. (26); Wer garantiert das Gemeinwohl, ebd., S. 25. ff. (41, 45). 46 Sachkundig, aber gelegentlich überpointiert Storost, Staat und Verfassung, passim; ders., Die Verwaltungsrechtslehre Ernst Forsthoffs als Ausdruck eines politischen Verfassungsmodells, in: Heyen, Wissenschaft, S. 163 ff. Allgemein Meyer-Hesemann, Methodenwandel in der Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981.

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Michael Ronellenfitsch

tion zum Ausdruck kam 4 7 , und den späteren verfassungsrechtlichen und hermeneutischen Publikationen zu würdigen. Jedenfalls stand für Forsthoff weiterhin fest, dass die Verwaltung den Raum bezeichne, in dem uns vornehmlich die Wirklichkeit des heutigen Staates begegne, in dem das Gesicht des Staates seine eigentliche Prägung erfahre 48.

b) Rechtsstaat Auf Verfassungsebene war Gesicht des Staates der Bundesrepublik Deutschland nunmehr das des Rechtsstaats49, dessen Verteidigung zum zentralen Anliegen Forsthoffs wurde. Der „Staat als Hüter des Rechts" 50 war jetzt so ausgestaltet, dass eine effektive Kontrolle der Gesetze gewährleistet war. Dies veranlasste Forsthoff zu einer Neubewertung des Positivismus. Er betonte zwar: „Die Gleichsetzung des Rechts mit den staatlich gesetzten (positivierten) Rechtsnormen findet heute in Deutschland schwerlich mehr einen wissenschaftlich ernst zu nehmenden Verfechter" 51 47

Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und hrsg. von Ernst Forsthoff, Bd. 1, 1951; 2. Aufl., 1992, Zur Einführung, S. LVL: „Eine Zeit freilich, deren verfassungspolitischer Witz sich in der polemischen Antithetik der Verfassungsformen erschöpft, die meint, dass es heute allein um die individuelle Freiheit geht, während die Vermenschlichung der öffentlichen Ordnung unter Ausmittelung der in der Person gegebenen natürlichen Assoziabilität auf dem Spiel steht, ist von solcher Erkenntnis (der humanitas) noch weit entfernt." 48 Die deutsche Staatskrise und das Grundgesetz, in: Zeitwende 21 (1949), S. 321 ff. (328). 49 Forsthoff, Einleitung zum Bonner Grundgesetz, 1953, S. 8: „Der rechtsstaatliche Charakter ist der eine beherrschende Wesenszug des Grundgesetzes. Unter dem Rechtsstaat - der Ausdruck wurde von dem Berliner Staatsrechtler und Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl (1802-1861) geprägt - versteht man einen Staat, dessen verfassungsrechtliche Ordnung die staatlichen Befugnisse gesetzlich begrenzt und eine bestimmte Freiheitssphäre des einzelnen Staatsbürgers rechtlich sichert." 50 Zur Problematik der Rechtserneuerung, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, 1962, S. 74 ff. (S. 77). 51 Ebd. S. 74: Ähnlich: „Wir teilen die positivistische Verengung des juristischen Blickfeldes auf den Wortlaut der Gesetze nicht mehr" (WDStRL 14 [1956], 8 ff. [8]).

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

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und schrieb es der Staatsrechtslehre der zwanziger Jahre als Verdienst zu, sich aus der Einschichtigkeit der positivistischen Verfassungsauslegung gelöst zu haben 52 . Mit dem gleichen Atemzug wandte er sich aber gegen die summarische Diskreditierung des Positivismus und beschwor die mit der Normanwendung zur Werteverwirklichung verbundene Gefahr einer Abdankung der juristischen Methode zugunsten irgendwelcher geisteswissenschaftlichen Arten der Deutung 53 . Forsthoff brach sogar insoweit eine Lanze für den Positivismus, als er feststellte: „Es kann schlechterdings nicht bestritten werden, dass das praktische Rechtswesen in Gericht und Verwaltung in der positivistischen Epoche ein Niveau erreicht und gehalten hat, auf die wir nur mit Gefühlen des Neides zurückblicken können" 54 .

Für die Gegenwart (der 60er Jahre) habe der Rechtspositivismus freilich keine Chance mehr, da die Aquivokationen Recht = positives Recht und Norm = Norm obsolet geworden seien. Dem ist aus heutiger Sicht hinzuzufügen, dass ein rein nationaler Positivismus praktisch auch angesichts der Globalisierung und Einbindung in die internationale Rechtsordnung ausgeschlossen ist. Das macht indessen auch das Naturrecht und wertphilosophische Sichtweisen fragwürdig. Die ethischen Strömungen sind weltweit so verschieden, dass ein Bekenntnis etwa zum christlich-abendländischen Menschenbild nur ohne Absolutheitsanspruch auftreten kann. Ein derartiges Bekenntnis ist vielmehr die freie Entscheidung des Verfassungsgebers. Dieser kann ein Menschenbild fixieren (Menschenbild des Grundgesetzes usw.). Den Weltmaßstab gibt dieses Menschenbild aber nicht ab. Was bleibt, sind Verfassungspositivismen der jeweiligen Kulturkreise. 52 Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in Festg. f. Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff. = Rechtsstaat im Wandel 2, S. 130 ff. (131). 53 Ebd. S. 135. Vgl. hierzu auch Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? Zu Ernst Forsthoffs Abhandlung „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes", in der Festschrift für Carl Schmitt, AöR 85(1960), 241 f. 54 Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961 = Rechtsstaat im Wandel 2, S. 153 ff. (170).

5 Blümel

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Michael Ronellenfitsch

Folgerichtig propagierte Forsthoff in seinen staatsrechtlichen Schriften die rechtsstaatliche Formtypik 5 5 , d. h. den formalen bürgerlichen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts, verstanden als „System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit" 56 . c) Sozialstaat Die formale Rechtsstaatlichkeit machte für Forsthoff darüber hinaus den „beherrschenden Wesenzug" oder die „Kernsubstanz" des Grundgesetzes aus 57 . Diese Kernsubstanz galt es gegen sozialstaatliche Einstreuungen zu sichern. Vor das Problem gestellt, ob der in vielen Bereichen des Rechtslebens verwirklichte Sozialstaat Bestandteil des Verfassungsrechts geworden sei, entschied sich Forsthoff nicht nur zu Gunsten des Rechtsstaats, sondern erklärte eine Verschmelzung von Rechtsstaat und Sozialstaat auf Verfassungsebene für unmöglich: „So wird man sich bewusst halten müssen, dass - banal gesprochen - ein halber Rechtsstaat und ein halber Sozialstaat keinen sozialen Rechtsstaat ergeben." 58 Rechtsstaat und Sozialstaat seien ihrer Intention nach verschieden, um nicht zu sagen Gegensätze59. Eine Verfassung könne nicht Sozialgesetz sein 60 . Damit sprach Forsthoff dem Bekenntnis zum sozialen Rechtsstaat nicht jede rechtliche Bedeutung ab. Vielmehr sollte es sich um eine Gesetzgeber, Rechtsprechung und Verwaltung bindende Staatszielbestimmung handeln 61 . Forsthoff war keineswegs sozial indifferent oder befürwortete gar den autoritären Verwaltungsstaat, wie ihm vielfach unterstellt wurde. Im Schlusses Vgl. Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, WDStRL 12 (1954), 8 ff. (16 f.). Vgl. demgegenüber die früher abweichende Position Forsthoff, Der Formalismus im öffentlichen Recht, Deutsches Recht 1934, 347 ff. 56 Zur Problematik der Verfassungsauslegung, in Rechtsstaat im Wandel 2, S. 161. 57 Einleitung zum Bonner Grundgesetz, 1953, S. 8, 9. 58 WDStRL 12 (1954), 8 ff. (14). 59 WDStRL 12 (1954), 8 ff. (19). 60 WDStRL 12 (1954), 8 ff. (20).

61 WDStRL 12 (1954), 8 ff. (27).

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

67

teil seines Vortrags auf der Bonner Staatsrechtslehrertagung führte er vielmehr aus: „Rechtsstaat und Sozialstaat sind einander zugeordnet in einem Verhältnis der Ergänzung, dem das Moment der Spannung nicht fehlt. Das ist auch gut so. Wird der Rechtsstaat als Schutzburg der beati possidentes missbraucht, so verfehlt er seinen sozialen Auftrag und bringt sich damit in Gefahr. Radikale Sozialstaatlichkeit endet zwangsläufig bei einem Verwaltungsstaat, der nicht mehr Rechtsstaat sein kann. Das ist die Situation, in der sich die Bundesrepublik befindet. Sie ist keine Krisensituation, sondern eine Situation fruchtbarer Spannung, die des ständigen Ausgleichs bedarf. Diesen Ausgleich zu vollziehen, ist Aufgabe zuförderst der politischen Verantwortlichen, aber auch der Juristen in Wissenschaft und praktischer Rechtsanwendung. Es ist das hohe Amt der Gerichte, darüber zu wachen, dass dem Rechtsstaat u n d dem Sozialstaat ihr Recht werde." 62

d) Daseinsvorsorge Forsthoff

übernahm seine i n der Schrift „ D i e Verwaltung als

Leistungsträger" entwickelte K o n z e p t i o n der Daseinsvorsorge i n sein Lehrbuch des Verwaltungsrechts. Dieser K o n t e x t erzwang Modifikationen. Einerseits wurde die systematisierende umfassende Funktionsbeschreibung der Daseinsvorsorge (Gewährleistung eines angemessenen Verhältnisses v o n L o h n u n d Preis; L e n k u n g des Bedarfs, der Erzeugung u n d des Umsatzes sowie Darbietung lebensnotwendiger Leistungen) 6 3 nunmehr auf die Leistungen der Verwaltung an die Staatsgenossen konzentriert. Andererseits gab Forsthoff

die Beschränkung auf die lebensnot-

wendigen Leistungen 6 4 auf: „Dabei kann es zunächst keinen Unterschied ausmachen, ob diese Leistungen lebensnotwendig sind oder nicht. Der moderne Mensch ist zwar auf bestimmte Leistungen wie Wasser, Gas, Elektrizität und Verkehrsmittel in so hohem Maße angewiesen, dass ihm keine Wahl bleibt, ob er sie annehmen will oder nicht, während es in seinem Belieben steht, ob er das städtische Theater, Volksbildungsinstitute und vieles andere mehr besuchen will. Der 62 WDStRL 12 (1954), 8 ff. (33). 63

Verwaltung als Leistungsträger, S. 7. An der Beschränkung hielt fest Hamann, Deutsches Wirtschaftsverfassungsrecht, 1958, S. 68 f.; vgl. auch BSG vom 28. 6. 2001 - Β 3 Ρ 9/00, BSGE 88,215. 64

5··

Michael Ronellenfitsch

68

Unterschied der Dringlichkeit kann auch vom Recht nicht übersehen werden, worauf noch einzugehen sein wird. An dieser Stelle bleibt er zunächst außer betracht. Denn es darf als selbstverständlich gelten, dass sich die Vorsorge der öffentlichen Verwaltung nicht auf die elementaren Bedürfnisse der Menschen zu beschränken braucht. Alles, was von Seiten der Verwaltung geschieht, um die Allgemeinheit oder nach objektiven Merkmalen bestimmte Personenkreise in den Genuss nützlicher Leistungen zu versetzen, ist Daseinsvorsorge." 65

Zur Daseinsvorsorge rechnete Forsthoff wirtschaftliche Unternehmungen der Verwaltung und hoheitliche Verwaltung, soweit sie bestimmungsgemäß dem Einzelnen unmittelbar Leistungen und Vorteile zuwenden 66 . Damit waren auch das Recht der öffentlichen Sachen und die nutzbaren öffentlichen Anstalten erfasst. Der Zugriff auf in Privateigentum stehende Unternehmen (verwaltungsfremde Mittel) unterwarf diese den Bindungen der Daseinsvorsorge, wenn die Indienstnahme durch Gesetz, im Rahmen der Konzessionserteilung oder durch Vertrag geschah. Als Beispiel für die Indienststellung durch Gesetz führte Forsthoff das Energiewirtschaftsgesetz vom 13. Dezember 1935 67 an. Das erklärt, weshalb die Konzeption der Daseinsvorsorge bei den der Energiewirtschaft verbundenen Juristen auf die heftigste Kritik stieß. Diese Kritik veranlasste Forsthoff beim Neuabdruck des ersten und vierten Kapitels der Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger" im Jahr 1959 unter dem Titel „Rechtsfragen der leistenden Verwaltung", seine Position zu präzisieren. Der Begriff der Daseinsvorsorge solle dazu dienen, in den leistenden Funktionen des modernen Staates, soweit er nicht rein fiskalisch handle, ein öffentlichrechtliches Element aufzuweisen und damit zugleich des Grundverhältnis des Einzelnen zum Staat den Gegebenheiten entsprechend neu zu bestimmen 68 . Diene der Begriff der Daseinsvorsorge in erster Linie dazu, die Teilhabe des Einzelnen an den Leistungen der Verwaltung zu sichern, so habe er doch eine darüber hinausgehende, unabweisliche Konsequenz: 65 Verwaltungsrecht, 2. Aufl., S. 279 f.; 10. Aufl., S. 370. 66 Verwaltungsrecht, 10. Aufl, S. 372. 67 RGBl IS. 1451. 68 Rechtsfragen, S. 9.

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

69

„Ist die leistende Verwaltung im Rahmen der Daseinsvorsorge auch in einem jeweils zu ermittelnden Umfang dem öffentlichen Recht unterstellt, so ist sie damit zugleich den für den Wettbewerb geltenden Rechtsregeln insoweit entzogen."69

Eben diese Konsequenz erschwerte die Rezeption des Rechtsbegriffs der Daseinsvorsorge namentlich bei den Vertretern des Privatrechts 70 , aber auch des Europarechts 71 .

III. Rezeption, Kritik, Würdigung 1. Rezeption Maurer stellt in seinem Grundriss „Allgemeines Verwaltungsrecht" fest, der Begriff der Daseinsvorsorge sei inzwischen zum Allgemeingut geworden, zugleich aber auch sowohl hinsichtlich seines inhaltlichen Umfangs als auch hinsichtlich der juristischen Relevanz umstritten 72 . Dogmatische Konsequenzen zieht er aus dieser Anerkennung nicht. Dieser Befund gilt weitgehend für die gesamte Lehrbuchliteratur des Allgemeinen Verwaltungsrechts 73. Bei Achterberg 74 Battis 75, Bull· 76, Faber 77, im Sammelband von Erichsen , sowie 69

Ebd., S. 11. Vgl. auch H. H. Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 18: „Wo dagegen die gleichen Leistungen in Konkurrenz zur privaten Wirtschaft erbracht werden, kann von Daseinsvorsorge nicht die Rede sein." 70 Die Schrift von Bärmann, Typisierte Zivilrechtsordnung der Daseinsvorsorge, 1948, war eher ein Schnellschuss denn eine Rezeption der Konzeption Forsthoffs. Tiefgründiger Siebert, Privatrecht im Bereich öffentlicher Verwaltung, in: Festschr. f. Niedermeyer, 1953, S. 215 ff. 71 Hierzu unten V. 7 2 Grundriss § 2 Rn 6. 73 Eine Ausnahme macht die Fallsammlung von Götz, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1985, S. 31 ff. 74 Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1986, §§ 2, 88; 4, 21; 5, 25, 30; 15, 34; 16, 43; 18,11; 21,276; 22, 263. 7 5 Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1997, S. 60. 76

Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., 2000, Rn. 846.

Michael Ronellenfitsch

70

bei Mayer/Kopp

79

Β ach of / Stob er*

2

,

Peine* 0, Richter / Schuppert / Bumke*\

Wolff/

w i r d der Begriff wenigstens gestreift, die neue-

ren Darstellungen v o n Detterbeck

83

u n d Ipsen 84

glauben auf den

terminus v ö l l i g verzichten zu können. E i n ähnliches Schicksal erfuhr i m Ü b r i g e n auch der Parallelbegriff des „Verwaltungsprivatrechts

v o n dem sein Erfinder H. J. Wolff

sei herrschend g e w o r d e n

86

5

noch 1971 glaubte, er

.

I m Spezialschrifttum finden sich Z u s t i m m u n g u n d Ablehnung, w o b e i die A b l e h n u n g lange Zeit w o h l überwog. D i e ForsthoffSchule 8 7 , verstärkt durch A u t o r e n wie Badura ss

und

Röttgen 89,

sah sich jedenfalls lange Zeit i n Abwehrkämpfe verstrickt, hat aber längst ihre Offensivkraft zurückerlangt. 77 Verwaltungsrecht, 1987, § 5 II. Die Darstellung ist hier relativ intensiv und führt zur zutreffenden Konsequenz der Infrastrukturverwaltung. 7 « Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, § 2, 88 (Ehlers); § 9, 2 (Ossenbühl unter Vermengung von Daseinsfürsorge und Daseinsvorsorge; ähnlich Seewald, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Aufl., 1999 I Rn 140). 79 Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., 1985, § 1 IV 4 Fußn. 33. so Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., 2002, Rn 18, 381 f.

81 Casebook Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 2000, S. 82, 88. 82 Verwaltungsrecht, Bd. 1, 11. Aufl., 1999, § 22 Rn 22. 83 Allgemeines Verwaltungsrecht, 2002. 84

Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 2001. 85 Verwaltungsrecht I, 6. Aufl., 1965, § 23 I I b. vgl. auch Haas, Das Verwaltungsprivatrecht im System der Verwaltungshandlungen und der fiskalische Bereich, DVB1. 1960, 518 ff., 537 ff. Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966, S. 46 f.; Badura, Zulassung zu öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde und Verwaltungsprivatrecht, JuS 1988, 17 ff. 86 Verwaltungsrecht I, 8. Aufl., § 22 I I 3 b. 87 Η. H. Klein, Art. Daseinsvorsorge, in EvStL 1966, Sp. 270 ff.; ders, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 16 ff.; vgl. auch Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, 1969, S. 163, 211. 88 Das Verwaltungsmonopol, 1963, S. 187 ff.; ders., Die Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung und der soziale Rechtsstaat, DOV 1966, 624 ff.; ders., Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand zur Gewährleistung von Daseinsvorsorge, in: Schwarze (Hrsg.), Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts, 2001, S. 25 ff. 89

1962.

Gemeindliche Daseinsvorsorge und gewerbliche Unternehmerinitiative,

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

71

2. Kritik a) Verfassungsrechtliche Grundpositionen Während die soziologische Bestandsaufnahme der Daseinsvorsorge kaum bestritten wurde, entzündete sich vor allem an Forsthoffs Konzeption der Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff Kritik. Man wird einräumen müssen, dass die Konzeption einer rechtlich gebundenen Daseinsvorsorge in Erinnerung an Forsthoffs im „Totalen Staat" formuliertes Freiheitsverständnis nach der totalen Niederlage schwer vermittelbar war. Dort hatte Forsthoff ausgeführt: „Die Freiheit ist heute politisch diskreditiert, denn man setzt sie weithin gleich mit der individuellen Freiheit, mit der Sicherung des Individuums gegen den Zugriff des Staates. Dieses Verständnis von Freiheit ist das überkommene, es entstammt dem Geiste von 1789. Diese Freiheit, ein Postulat menschseitlichen Denkens, ist überwunden. Der Irrglaube an die Menschheit als die letztlich allein wesentliche Gemeinschaft gehört unwiderruflich der Geschichte an. Der gegen diese Freiheit gerichtete Kampf unserer Tage wird zu Recht geführt und darf vor dem vollkommenen Siege nicht abgebrochen werden." 90

Offenbar unterstellten manche (zu Unrecht) Forsthoff einen lagebedingten Gesinnungswandel. Die Kritik richtete sich daher zum einen gegen die verfassungsrechtlichen Grundpositionen Forsthoffs und deren Verbindung zur Daseinsvorsorge. Wie erwähnt, bemühte sich Forsthoff nach Inkrafttreten des Grundgesetzes dessen formalen rechtsstaatlichen Charakter gegenüber allen sozialstaatlichen Verwässerungen abzuschotten. Mit seinem Bemühen, das Sozialstaatsprinzip auf die Ebene der Verwaltung herabzuzonen, setzte er sich nicht durch. Das von Lorenz von Stein entworfene Bild der Verwaltung als tätig werdende Verfassung 91 war schon moderner als Otto Mayers regelmäßig missverstandenes „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht" 92 und 90 S. 41. 91 Lorenz von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, 1. Tl, 3. Aufl., 1887 Einleitung S. 1 ff. = E. Wolf, (Hrsg.), Lorenz von Stein- Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1958, S. 8. 92 Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl., 1923, Vorwort: „So muss ich denn doch noch einmal an diese Arbeit gehen! Groß Neues ist ja seit 1914 und

72

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nahm Fritz Werners „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht" 93 vorweg. Ausgerechnet diejenigen, denen sozialstaatliche Erwägungen suspekt waren, die es aber nicht wagten, Forsthoffs verfassungsrechtlicher Relativierung des Sozialstaatsprinzip beizutreten, befürchteten nun, dass Forsthoff mit Hilfe der Daseinsvorsorge das Gespenst des Sozialismus durch die Hintertür in die heiligen Hallen der Privatautonomie einließ 94 . In diesen Zusammenhang gehören die erwähnten Autoren mit Affinität zur Energiewirtschaft. Fischerhof sah in der Anerkennung der Daseinsvorsorge schon ein Bekenntnis zum planwirtschaftlich-sozialistischen Staat 95 . Börner sprach von einem „Irrwisch Daseinsvorsorge" 96 .

b) Zur „Konturlosigkeit der Daseinsvorsorge" Rechtliche Folgerungen aus einem wie auch immer gearteten Begriff der Daseinsvorsorge sehen sich zum anderen dem verbreiteten Einwand ausgesetzt, es handele sich nicht nur um eine spezifisch („typisch") deutsche Bezeichnung, sondern - so noch jüngst Püttner - auch noch um einem Begriff, dem jegliche Konturenschärfe abgehe97. Der Begriff der Daseinsvorsorge sei auf einen 1917 nicht nachzutragen., Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht'; dies hat man anderwärts schon längst beobachtet. Wir haben hier nur die Anknüpfungspunkte entsprechend zu berücksichtigen." 93 DVB1.1959, 527 ff. 94 Vgl. umgekehrt das Machwerk von Anders, Der „Daseinssicherer" des Monopolkapitalismus und „Gehilfe des Führers" - Prof. Dr. Ernst Forsthoff, in Staat und Recht 1963, S. 981 ff. 95 „Daseinsvorsorge" und wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, DOV 1960, 41 ff. (43). Ähnliche Stoßrichtung bei K. Bayer, Privatrechtliche Leistungsverhältnisse und öffentliche Daseinsvorsorge, Diss. Freiburg 1965, S. 24 f.; Depenbrock, Die Stellung der Kommunen in der VersorgungsWirtschaft, 1961; S. 46 ff.; Frentzel, Wirtschaftsverfassungsrechtliche Betrachtungen zur wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand, 1961, S. 30 f.; Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts I, 1960, S. 46 Fußn. 32; Maunz, Grundfragen des Energiewirtschaftsrechts, VerwArch 1959, 315 ff. 96 BayVBl. 1971, 406 ff. 97 Für Püttner,; Daseinsvorsorge und service public im Vergleich, in: Cox (Hrsg), Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in der Europäischen

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

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soziologischen Befund zu reduzieren 98 . Der Daseinsvorsorge wird somit jegliche Relevanz abgesprochen. Als Rechtsbegriff sei sie überflüssig. 3. Würdigung Diese Folgerung war schon früher falsch. In der Gegenwart ist sie vollends überholt. a) Rechtliche Relevanz Formal ist „Daseinsvorsorge" schon deshalb ein Rechtsbegriff, weil der Ausdruck Eingang in die Gesetzessprache gefunden hat 9 9 . U m die Daseinsvorsorge jedoch zu einem rechtlich relevanten Begriff zu machen, genügt es nicht, auf den juristischen Sprachgebrauch zu verweisen. Vielmehr kommt es darauf an, ob sich aus dem Sprachgebrauch Rechtsfolgen ergeben. Es geht um folgende Fragen: • Wem obliegt die Aufgabe der Daseinsvorsorge? • Wann ist die Erfüllung der Aufgabe ausreichend? • Wie ist die Aufgabe der Daseinsvorsorge sicherzustellen? Ergeben sich aus dem Vorliegen einer Aufgabe der Daseinsvorsorge und ihrer Zuordnung zu einem bestimmten Aufgabenträger als Rechtsfolge qualitative Anforderungen an die Art und Weise Union, 2000, S. 45 ff. (49), erscheint der Begriff Daseinsvorsorge als ein „schillernder Begriff, der nirgendwo genau definiert ist"; vgl. auch ders., Die Aufwertung der Daseinsvorsorge in Europa, ZögU 2000, 373 ff. Das Konzept der Daseinsvorsorge hält Püttner allerdings nicht für überholt, vgl. ders., Das grundlegende Konzept der Daseinsvorsorge. Kommunale Daseinsvorsorge - Begriff, Geschichte, Inhalte, in: Hrbek/Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2002, S. 32 ff. (38). 98 Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, DÖV 1971, 513 ff. (515 ff.); Gröttrup, Die kommunale Leistungsverwaltung, 1973, S. 68 ff.; Tettinger,; Zum Thema „Sicherheit" im Energierecht, RdE 2002, 225 ff. (227); Storr, Zwischen überkommener Daseinsvorsorge und Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, DÖV 2002, 357 ff. 99 Unten IV 2.

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der Erfüllung dieser Aufgabe, dann ist „Daseinsvorsorge" ein subsumtionsfähiger, rechtlich relevanter Begriff. Dass dies der Fall ist, soll kurz dargetan werden. Die Methode hat dabei durchaus einen positivistischen Einschlag; denn es werden Rechtsfolgen aus einem Begriff abgeleitet, dessen Bedeutungsgehalt es erst zu ermitteln gilt. Der Bedeutungsgehalt wird freilich nicht aus sich selbst heraus bestimmt, sondern aus höherrangigem Recht. Der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge reflektiert nämlich auf der Ebene des einfachen Rechts die Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts und des Gemeinschaftsrechts. aa) Daseinsvorsorge als Staatsauf gab e Für Forsthoff ist die Daseinsvorsorge Verwaltungs- und damit Staatsaufgabe. Die Zuordnung der Daseinsvorsorge zu den Staatsaufgaben ist in der Tat von ausschlaggebender Bedeutung. Die Rezeption von Forsthoffs Konzept der Daseinsvorsorge wird allerdings dadurch erschwert, dass Forsthoff sie in seinen Kampf gegen zunächst die liberale Begriffswelt 100 , später gegen den sozialen Rechtsstaat, genauer: gegen die unter dem Etikett des Sozialstaats betriebene Verwässerung rechtsstaatlicher Freiheitsverbürgungen, mit einbezog und von der Verfassungsebene fernhielt. Gerade auf dieser Ebene zeigt sich aber die Bedeutung der Daseinsvorsorge. Der Staat muss von Verfassungs wegen Aufgabenträger der Daseinsvorsorge sein. Der leidige Streit um das Absterben des Staats ist insoweit unerheblich. Der heutige Staat mag den Staatsvorstellungen aus der Zeit der Religionskriege bis hin ins Kaiserreich nicht mehr entsprechen. Aber er ist nicht tot. Das Grundgesetz hat sich jedenfalls für den Staat als Organisationsform des sozialen Zusammenlebens entschieden. Die Selbst100 Vgl, Forsthoff\ Der totale Staat, S. 7: „Immerhin war der totale Staat zunächst die liberal formulierte, antiliberale Gegenposition. Erst jetzt, nach Erledigung des Liberalismus, kann das Eigenrecht dieses neuen Staates auch über die polemischen Bezüge hinaus erkannt und entwickelt werden."

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

75

qualifizierung der Bundesrepublik Deutschlands als sozialer Rechtsstaat zwingt dazu, hieraus die gebotenen verfassungsrechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Entsprechendes gilt für die Europäische Union, die sich als europäischer Staatenverbund auf dem Weg zum Europäischen Bundesstaat befindet, aber nie ankommen darf 1 0 1 . Hier ist der Weg das Ziel 1 0 2 . Das erfordert eine staatsbezogene Interpretation des Gemeinschaftsrechts. Der Staat wird im Außenverhältnis durch bestimmte Elemente, im Innenverhältnis durch seine Zwecke definiert. Der Hauptzweck des Verfassungsstaats ist die Garantie der individuellen Freiheit und damit der Schutz vor exzessiver Freiheitsausübung Anderer 1 0 3 . Die Freiheit schließt soziale Bindungen nicht aus 104 . Die totale Inpflichtnahme jedes Einzelnen für die N a t i o n 1 0 5 oder die Gesellschaft, von der Forsthoff ausging, als er die Daseinsvorsorge entwickelte, ist jedoch überwunden. Die mit der Ausübung der Staatsgewalt verbundenen Freiheitseinschränkungen bedürfen zu ihrer Akzeptanz der Legitimation. Die staatlichen Zwangsbefugnisse werden legitimiert, wenn sie zum Zweck der staatlichen Selbstbehauptung und zur Wahrung der kulturellen Identität (Stichwort: Leitkultur) ausgeübt werden, 101

Vgl. Ronellenfitsch, John C. Calhoun und die Europäische Staatengemeinschaft, in Festschr. f. Oppermann, 2001, 65 ff. (65). 102 Zur politischen Finalität der EU Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn 926 ff., 1094; vgl. auch Badura, Staatsziele und Garantien der Wirtschaftsverfassung in Deutschland und Europa, in: Festschr. f. Stern, 1997, S. 409 ff. 103 Vgl. n u r Böckenförde, Verlust des Standhaften in jeder Hinsicht, FAZ 172/27-7-2001, S. 7. 104

Vgl. die zeitgebundene überzogene Kritik Forsthoffs am liberalen Freiheitsverständnis in „Der totale Staat", S. 1: „Eine politische Haltung, die kein eigentliches Gemeinschaftsbewusstsein kennt, die keine Beziehung zu Volk und Volkstum, zu Ehre, Würde und Tradition hat, kann die Staatsorganisation nur rechtfertigen als eine Versicherung auf größtmögliche Ungestörtheit in der privaten Existenz, die man Freiheit nannten. Der liberale Staat rechtfertigte sich aus dem sogen, status negativus (individuellen Freiheitsbereich) des Staatsbürgers. 105 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42.

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wenn sie dem Ausgleich kollidierender individueller Freiheitsrechte dienen 106 , und namentlich wenn sie den individuellen Freiheitsgebrauch aller erst ermöglichen. Selbst der liberale Rechtsstaat reduziert sich nicht auf die Eingriffsabwehr, sondern gewährleistet auch das faktische Substrat der Freiheitsrechte. Zirkuläre Mobilität erfordert Verkehrswege, Kommunikation, Medien u.dgl. Garant der Freiheit kann der Staat im sozialen Rechtsstaat nur sein, wenn er soziale Mindeststandards und eine adäquate Infrastruktur gewährleistet 107 . Leistungen der Daseinsvorsorge, die für die gesamte Bevölkerung erforderlich sind (modisch: Universaldienste), werden folgerichtig nicht in Einrichtungen der Sozialhilfe angeboten. Sie werden den Sozialhilfeempfängern lediglich wegen der Kostenübernahme durch die Sozialhilfeträger kostenlos erbracht 108 . Sozialstaatliche Daseinsfürsorge und rechtsstaatliche Daseinsvorsorge ergänzen sich. Sie zählen zu den Staatszwecken des sozialen Rechtsstaats. Die Staatszwecke werden durch originäre Staatsauf gab en konkretisiert. Originäre Staatsaufgaben sind die Aufgaben, die der Staat erfüllen muss. Hierbei wäre es anachronistisch, allein die Aufgaben als originäre Staatsaufgaben einzuordnen, die nur durch hoheitliche Eingriffe erfüllt werden können. Dem modernen Staat obliegen auch Leistungsaufgaben. Diese bestehen gegenüber allen, nicht nur den sozial

106 Vgl. Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage und Grenze der Grundrechte, in: Festschrift für Horst Sendler 1991, S. 39. 107 Vgl. insgesamt Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung. Rechtliche Grundstrukturen netzgebundener Transport- und Ubertragungssysteme, 1997. Die Kritik an dem zutreffenden konzeptionellen Ansatz von Hermes durch Engel, Die privatnützige Enteignung als Steuerungsinstrument, Die Verwaltung 1998, 543 ff. geht fehl, weil dieser die privatnützige Enteignung nur als Regulierungsinstrument bei Marktversagen versteht. Marktversagen betrifft aber die Wettbewerber auf gleicher Ebene. Die Enteignung ist dagegen ein Zwangszugriff im Hoheitsverhältnis zum unmittelbaren Wohl der Allgemeinheit. Seit die Dulde-und-liquidiere-Mentalität überwunden ist, greift der öffentlich-rechtliche Primärrechtsschutz des betroffenen Eigentümers weiter als der privatrechtliche Sekundärrechtsschutz. Den Primärrechtsstreit über die Anwendung von §§ 904, 906 BGB zu bestreiten, wäre ein anachronistischer Systembruch. 108 Zutreffend Riifner, in: Achterberg / Püttner / Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht II, 2 Aufl. 2000, § 16 Rn 75.

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Schwachen. Der Begriff der Appropriation, den Forsthoff von Max Weber übernommen hatte, bringt diese zum Ausdruck. Max Weber verwendete die Bezeichnung als soziologischen Begriff, ohne ihn letztlich präzise zu bestimmen. Offenbar ging es um den in der englischen Rechtssprache heimischen 109 Komplementärbegriff zur Expropriation, um die mehr oder weniger abgestufte Aneignung fremder Eigentumspositionen 110 . Versorgungs-, Transport-, Kommunikations- und Entsorgungsnetze mögen dank privater Initiative entstehen. Zwangsweise durchsetzen können Private solche Netze nicht. Ein Enteignungsrecht kommt Privaten nicht zu. Sie sind darauf angewiesen, dass der Staat in ihrem Interesse enteignet, weil sie auf die Mitbenutzung fremden Eigentums angewiesen sind 1 1 1 . Eine Enteignung ist dann aber nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig 112 . Wo obendrein Private generell nicht in der Lage sind, eine flächendeckende Infrastruktur aufzubauen und den Markt zu öffnen, besteht eine entsprechende unmittelbare Verpflichtung oder Einstandspflicht des Staats, ähnlich wie aus sozialstaatlichen Erwägungen sich die staatliche Fürsorge darauf erstreckt, dass auch nicht marktgängige Leistungen erbracht werden 113 . Der Staat bzw. die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften müssen kraft Verfassungsauftrags Aufgabenträger der Daseinsvorsorge sein. Welche Aufgaben das im Einzelnen sind, lässt sich nicht ein für allemal festlegen, weil es keinen abschließenden Katalog der öffentlichen Aufgaben gibt. Aber das bedeutet nicht, dass es überhaupt keinen Katalog im Sinne einer Bestandsaufnahme geben könnte. Die „offene Flanke 109

Vgl. „to approrpriate" = sich aneignen, beschlagnahmen; Collin/Janssen / Kornmüller / Livesey, Fachwörterbuch Recht, 1992, S. 16 f. 110 Vgl. Max Weber.; Wirtschaft und Gesellschaft, S. 33. Die Gleichsetzung von privater und appropriierter Verfügungsgewalt findet sich auf S. 69. 111

Vgl. § 12 EnWG. Zur privatnützigen Enteignung aus Daseinsvorsorgegründen BVerfG, Kammerbeschi. v. 18. 2. 1999- 1 BvR 1367/88, 146 u. 147.91, NJW 1999,2659. 112 Vgl. Schach, Enteignung „nur zum Wohl der Allgemeinheit", BB 1961, 74 ff. (75 f.); Bullinger, Die Enteignung zugunsten Privater, Der Staat 1962, 449 ff.); Frenzel, Das öffentliche Interesse als Voraussetzung der Enteignung, 1978, S. 75 f. 113 BVerwG v. 1. 12. 1998-5 C 29.97, BVerwGE 108, 56 (63).

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der Bestimmtheit des Verwaltungsprivatrechts" 114 verliert an Gewicht, wenn man sich schrittweise auf die Bereiche einigt, die mit Sicherheit zur Daseinsvorsorge zählen. bb) Ausreichende Daseinsvorsorge „Daseinsvorsorge" ist notwendig ein sachbezogener Begriff, der sich nach dem aktuellen Versorgungsbedürfnis der Bevölkerung richtet. Forsthoff schwankte zwischen einem engen, auf die vitalen Lebensbedürfnisse beschränkten, und einem weiteren, nur aus den Beispielen generalisierbaren Verständnis. Dieses Schwanken ist kein Zeichen dogmatischer Unsicherheit, sondern folgt aus der Natur der Sache. Das Versorgungsbedürfnis ist nicht konstant, sondern richtet sich nach dem allgemeinen Lebensstandard 1 1 5 . Das gilt für den Gegenstand der Vorsorge wie auch für die qualitativen Anforderungen an ihre Erfüllung, d. h. für die Frage, wann die Daseinsvorsorge ausreichend ist. Danach lassen sich selbst die Mindestanforderungen der Daseinsvorsorge nur grob bestimmen. Jedenfalls zählen die grundrechtlich abgesicherten Lebensbedürfnisse zur Daseinsvorsorge. Auch insoweit besteht aber ein weiter Gestaltungsspielraum des Normgebers, der immerhin an seine eigenen Zielsetzungen gebunden ist. So geben etwa alle OPNV-Gesetze als hauptsächliche Zielsetzung den Beitrag des Ö P N V zur Mobilitätsgewährleistung im Rahmen eines integrierten Gesamtverkehrssystems an. Die Daseinsvorsorge ist somit nur dann ausreichend, wenn der Ö P N V flächendeckend als vollwertige Alternative zum motorisierten Individualverkehr zur Verfügung steht 1 1 6 und zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse beiträgt. Dennoch ist die Daseinsvorsorge nicht konturlos, zumal sie von der sozialstaatlichen Daseinsfürsorge 117 getrennt bleibt, die 114

Battis, Verwaltungsrecht, S. 60. 115 Forsthoff, Rechtsfragen, S. 12. 116 Im Interesse der Grundrechte der ÖPNV-Nutzer kann dies in Ausnahmefällen sogar zu Grundrechtseinschränkungen der OPNV-Beschäftigten führen; vgl. Inge Scherer, Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, 2000.

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grundsätzlich nur ausdrücklich geregelte Leistungsansprüche begründet. cc) Erfüllung

des Daseinsvorsorgeauftrags

Die Leistungsaufgaben der Daseinsvorsorge darf der Staat nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Wie, in welcher Rechtsform und von wem die Aufgaben wahrgenommen werden, ist nachrangig. Daseinsvorsorge bedeutet lediglich, dass öffentlichrechtliche Grundsätze gelten. Öffentlich-rechtliche Grundsätze stehen im Gegensatz zu privatrechtlichen Grundsätzen, wobei die auf das römische Recht zurückgehende Unterscheidung nie trennscharf geglückt ist. Kategorial hatte Ulpian Recht, nach dem der Staat seine Interessen öffentlich-rechtlich verfolgt, während die Privaten, abgesondert, eben privatim, ihre eigenen Interessen mit den Mitteln des Privatrechts zu verfolgen haben 118 . Das schließt nicht aus, dass der Staat sich zur Erfüllung seiner Aufgaben Privat e r 1 1 9 oder zur eigenen Betätigung der Regelungen des Privatrechts bedient. Er bleibt dann aber an das Gemeinwohl gebunden. Umgekehrt können Private zum Schutz anderer Privater Gemeinwohlbindungen unterworfen werden. Sie handeln dann jedoch immer noch im privaten Interesse. Öffentlich-rechtlich sind die Regelungen, die den Interessen des Staates und der Allgemeinheit dienen, privatrechtlich sind die Regelungen, die das Verhalten Privater in deren eigener Interessensphäre regeln. Da vielfach eine kongruente Interessenlage besteht, sind Überschneidungen nicht ausgeschlossen. Auch eine unternehmerische Betätigung kommt Π7 Beispiel: Prozesskostenhilfe vgl. AG Mannheim v. 15. 3. 199 - IK 7/99, Justiz 1999,169. H 8 D 1,1,1: „Huius studii duae sunst specificationes, publicum et privatum. Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem: sunt enim quaedam publice utilia, quaedam privatim". Die Interessentheorie hat ersichtlich nichts mit der Interessenjurisprudenz zu tun, die Forsthoff in einer Buchbesprechung von Heck, Rechtserneuerung und juristische Methodenlehre, 1936, in ZStW 92 (1937), 371 einer harschen Kritik unterzog. h 9 Vgl. § 101 Abs. 3 Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein i.d.F. v. 1.4. 1996 (GVOBl S. 321).

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bei der Daseinsvorsorge in Betracht. Erforderlich ist dann aber, dass sich im Wettbewerb eine ausreichende Erfüllung der Daseinsvorsorgeaufgabe sicherstellen lässt. Regulierter Wettbewerb und Daseinsvorsorge schließen sich nicht aus, sofern der Wettbewerb nicht um seiner selbst Willen betrieben wird.

b) Folgerung Im sozialen Rechtsstaat trägt der Staat die Verantwortung für die ausreichende Erfüllung der Daseinsvorsorgeaufgabe. Ausreichende Erfüllung bedeutet, dass die grundrechtlich abgesicherten Lebensbedürfnisse überhaupt und zu erschwinglichen Preisen befriedigt werden. Wie weit im Einzelnen die Daseinsvorsorge reicht, ist eine Frage der Ausgestaltung der jeweiligen Rechtsordnung. Im deutschen Recht können sich aus dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip, den Grundrechten und materiellen Regelungen mit Verfassungsrang Verfassungsaufträge zur Daseinsvorsorge ergeben.

IV. Aktuelle Entwicklungen im nationalen Recht 1. Überblick Enthält das „Allgemeine Verwaltungsrecht" die vor die Klammer gezogenen Grundsätze des „Besonderen Verwaltungsrechts", dann erfüllen die meisten heutigen Lehrdarstellungen 120 diese Aufgabe nur unzulänglich. Offenbar fällt es schwer, die Entwicklungen des Besonderen Verwaltungsrechts im Blick zu halten. Jedenfalls wird selten zur Kenntnis genommen, dass der Gesetzgeber sich zunehmend des Ausdrucks der Daseinsvorsorge bedient. Verallgemeinerungsfähige Legaldefinitionen der Daseinsvorsorge sucht man verständlicherweise freilich vergeblich. Die 120 In den Sammelwerken zum Besonderen Verwaltungsrecht wird die Daseinsvorsorge ebenfalls nur gestreift; vgl. (relativ ausführlich) Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Aufl., 1999,1 Rn 110, 157, 177, 246 {Seewald); V I I Rn 128 {Arndt).

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einschlägigen Gesetze umschreiben die Daseinsvorsorge nur auf den jeweiligen Sachbereich bezogen funktionell So ist nach § 1 Abs. 1 Regionalisierungsgesetz 121 „die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im O P N V " eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Das ist kein unverbindlicher Programmsatz, sondern eine Rechtspflicht, der man sich nicht unter Berufung auf die angebliche Konturlosigkeit der Aufgabenstellung entziehen kann. Ähnliches gilt für die Regelungen einiger Gemeindeordnungen, wonach die Gemeinden ungeachtet der Rechtsform wirtschaftliche Unternehmen nur errichten, übernehmen, wesentlich erweitern oder sich daran beteiligen dürfen, wenn bei einem Tätigwerden „außerhalb der kommunalen Daseinsvorsorge" der Zweck nicht besser und wirtschaftlicher durch einen anderen erfüllt wird oder erfüllt werden kann 1 2 2 .

2. Akzeptanz der Daseinsvorsorge Der Ausdruck „Daseinsvorsorge" hat längst in die deutsche Amts- und Rechtssprache Eingang gefunden und liegt der Rechtsprechung 123 namentlich des Bundesverfassungsgerichts zugrun121 Verkündet als Art. 4 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes v. 27. 12. 1993 (BGBl. I S. 2378). 122 § 102 Abs. 1 Nr. 3 Gemeindeordnung für Baden-Württemberg i.d.F. v. 24. 7. 2000 (GBl S. 582); Art. 87 Abs. 1 Nr. 4 Gemeindeordnung für den Freistaats Bayern i.d.F. der Bek. v. 22. 8. 1998 (GVBl S. 797); § 71 Abs. 1 Nr. 4 Thüringer Gemeinde- und Landkreisordnung (Thüringer Kommunalordnung) i.d.F. der Bek. v. 14. 4. 1998 (GVBl S. 73). Vgl. auch die gegenständliche Umschreibung in § 107 Abs. 1 Nr. 3 Gemeindeordnung für das Land NordrheinWestfalen i.d.F. der Bek. v. 14. 7. 1994 (GV N W S. 666) (hierzu OVG NW v. 23. 9. 1997 - 4 U 99/97, DVBl. 1998, 792; OLG Köln v. 24. 2. 1997 - 17 W 474/96, NVwZ-RR 1998, 469) und § 116 Abs. 2 Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt v. 5. 10. 1993 (GVBl S. 568). 123 BGH v. 19. 12. 1968 - IV ZR 43/77, BGHZ 73, 114 (116); v. 1. 7. 1971 KZR 16/70, WM 1971, 1456 (1457); v. 27. 10. 1972 - KZR 9/71, - L M LuftVZO Nr. 2; v. 25. 2. 1975 - I I I ZR 12/83, BGHZ 91, 84 (86); v. 24. 11. 1977 I I I ZR 22 / 76 - LM LuftVZO Nr. 5; v. 19. 1. 1983 - V i l i ZR81/82, WM 1983, 341 (342); v. 3. 11. 1983 - I I I ZR 222/82, MDR 1984, 558; v. 4. 12. 1986-VII ZR 77/86, WM 1987, 295 (296); v. 10. 5. 1990 - V I I ZR 209/89, BGHR BGB § 315 Abs. 3 - Stromversorgung 1; v. 5. 7. 1990 - I I I ZR 217/89, NJW

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d e 1 2 4 . A u c h die Kommentarliteratur trägt dem R e c h n u n g 1 2 5 . D e r Anwendungsbereich der Daseinsvorsorge lässt sich mittlerweile einigermaßen überschaubar festlegen. D i e Erforderlichkeit eines eigenständigen Rechtsbegriffs

der Daseinsvorsorge ergibt sich

hieraus zwanglos. D e r V o r w u r f , dass auch Private existenznotwendige Leistungen erbringen, liegt ohnehin neben der Sache. Wenn ein Hoheitsträger solche Leistungen ü b e r n i m m t , erweitert er seinen Machtbereich u n d erfüllt notwendig eine öffentliche Aufgabe.

1991, 33 (36); v. 10. 10. 1991 - I I I ZR 100/90, BGHZ 115, 311 (316); v. 16. 2. 1995 - I I I ZR 135/93, NJW 1995,1828; v. 26. 3. 1997 - I I I ZR 307/95, NJW 1997, 1985; v. 30. 6. 1998 - I I I ZB 34/97, BGHR GVG § 13 Abwasserbeseitigung 1; v. 2. 7. 1998 - I I I ZR 287/97, NJW 1998, 3188 (3191 f.); BGH (St) v. 29. 1. 1992 - 5 StR 338/91, BGHSt 38, 199; BVerwG v. 29. 11. 1972-VI C 19.69, BVerwGE 41, 195 (195 f.); v. 21. 7. 1989 - 7 Β 184.88, NJW 1990, 134 (135); v. 6. 3. 1990 - 7 Β 120.89, JZ 1990, 446; v. 29. 6. 1990 - 7 Β 30.90, NVwZ 1991, 59 v. 18. 5. 1995 - 7 C 58.94, BVerwGE 94, 273 (275); v. 15. 12. 1994 - 7 C 57.93, BVerwGE 97, 240 (241); v. 4. 12. 1995 - 7 Β 407/95, VIZ 1996, 153; v. 17. 12. 1997 - 6 C 2.97, BVerwGE 106, 64 (76); v. 22. 12. 1997 - 8 B 250.97, Buchholz 415.1 Allg. KommR Nr. 143; v. 1. 12. 1998 - 5 C 29.97, BVerwGE 108, 56 (62). BFH v. 11. 6. 1997 - X I R 65 / 95, BFHE 183, 283; 8. 1. 1998 - V R 32 / 97, BFHE 185,283; v. 26. 7. 2000 - I I R 6 / 99, BFHE 192,124; v. 27. 6. 2001 - I R 82 - 85/00, BFHE 195, 572; BSG v. 28. 6. 2001 - B 3 Ρ 9/00, BSGE 88, 215; OLG Karlsruhe v. 9. 6. 1993 - 2 Ss 81/93, NZV 1993, 407; OLG Nürnberg v. 30. 4. 2001 - 5 U 4322 / 00, RuS 2001,460; OLG Naumburg ν. 22. 6. 2000 - 7 U (Hs) 64/99, NVwZ 2002, 251; OLGSAnh v. 7. 11. 1997 - 6 U 387/96; KG Berlin v. 10. 4. 2002 - 24 U 65/01, RdE 2002, 245; OVG Lüneburg v. 4. 9. 1992 - 1 M 146/92, OVGE 43,311; OVG SchlH v. 24. 9. 1997 - 3 G 123 / 96, SchlHA 1998, 56; VG Freiburg, Urteil v. 23. 7. 1998 - 3 Κ 1217/97 Städteund Gemeinderat 1999, 37. 124 Vgl. BVerfG v. 10. 12. 1974-2 BvK 1 / 73; 2 BvR 902 / 73 - , BVerfGE 38, 258 (270); v. 7. 6. 1977- 1 BvR 108, 424/73 und 226/4 - , BVerfGE 45, 63 (78); v. 20. 3. 1984 - 1 BvL 26/82 - BVerfGE 66, 248 (258); v. 14. 4. 1987-1 BvR 775/84, BVerfGE 75,192 (199 f.); Kammerbeschi. v. 23. 9. 1994 - 2 BvR 1547/ 85 - , NVwZ 1995, 370; Kammerbeschi. v. 7. 1. 1999 - 2 BvR 927/97 - , NVwZ 1999, 520; Kammerbeschi. v. 18. 2. 1999 - 1 BvR 1367/88, 146 u. 147/91, NVwZ 1999,1103. 125 Vgl. etwa Stelkens / Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl., 2001, § 1 Rn 105, 304.

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3. Daseinsvorsorge und Privatrecht a) Privatautonomie Eine offene Flanke hatte die Konzeption der Daseinsvorsorge, d. h. der Rekrutierung des Privatrechts unter öffentlich-rechtliche Bindungen für Verwaltungsaufgaben, allerdings schon immer. Vertreter des Privatrechts verwiesen zu Recht darauf, dass das Privatrecht ohnehin öffentlich-rechtlichen Bindungen unterliegt. Das Privatrecht dient aber primär privaten Interessen. Tragendes Element ist die Privatautonomie, verstanden als das Recht des Einzelnen, seine Lebensverhältnisse im Rahmen der Rechtsordnung durch Rechtsgeschäfte eigenverantwortlich zu gestalten 126 . Gemeint ist nicht die Handlungsfreiheit im Urzustand, sondern die gleiche Entscheidungsfreiheit aller in der Zivilgesellschaft 127 . Das Privatrecht kennt daher eine Vielzahl von Beschränkungen der Privatautonomie. Dadurch fließen auch öffentliche Interessen - wie etwa der Minderjährigenschutz, der Mieterschutz 128 oder der Verbraucherschutz in das Privatrecht ein 1 2 9 . Die dadurch bewirkten Korrekturen bei der Privatautonomie können zu einer Verlagerung der Perspektive führen, wenn der öffentliche Zweck 126 Vgl. auch BVerfG v. 12. 11. 1958 - 2 BvL 4, 26, 40/56, 1,7/57, v. 29. 7. 199 - 1 BvR 394/58, BVerfGE 8, 274 (328); BVerfGE 10, 89 (99); v. 16. 5. 1961 - 2 BvF 1 /60, BVerfGE 12, 341 (347); v. 14. 10. 1970 - 1 BvR 306/68, BVerfGE 29, 260 (267); v. 1. 3. 1979 - 1 BvR 532, 533/77, 419/78 und 1 BvL 21/78; BVerfGE 50, 290 (366); v. 4. 5. 1982 - 1 BvL 26/77 und 66/78, BVerfGE 60, 329 (339); v. 4. 6. 1985 - 1 BvL 12/84, BVerfGE 70, 115 (123); v. 13. 5. 1986 - 1 BvR 1542/84, BVerfGE 72, 155 (170). 127

Schon für die ökonomischen Klassiker wie Adam Smith war Freiheit des Wirtschaftens nur Freiheit unter dem Gesetz. Ahnliches gilt für die Neoliberalen wie Friedrich August von Hayek („Die Verfassung der Freiheit") und Milton Friedmann („Kapitalismus und Freiheit"). 128 Vgl. LG Flensburg v. 2. 2. 2001 - 7 S 88 / 00, ZMR 2001, 711; im Ergebnis zutreffend dagegen; AG Neuruppin v. 23. 6. 2000 - Az: 42 C 111/00, WuM 2001, 346; LG Neuruppin v. 19. 1. 2001 - 4 S 287/00, NJW-RR2001, 1667. 129 Nach der Rechtsprechung sind die einseitig bestimmten Tarife von Unternehmen, die - im Rahmen eines privatrechtlich ausgestalteten Benutzungsverhältnisses - Leistungen der Daseinsvorsorge anbieten, auf deren Inanspruchnahme der andere Vertragsteil angewiesen ist, grundsätzlich der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB unterworfen; vgl. unten Fußn. 198. 6*

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bei der Beurteilung der einzelnen Privatrechtsgeschäfte in den Vordergrund rückt. Die Folge ist eine Entprivatisierung des Privatrechts, vor der Ulrich H über 130 auf einem der von Forsthoff durchgeführten Ebracher Ferienseminare 1969 zutreffend gewarnt hat. M i t der Abwehr der Daseinsvorsorgekonzeption handeln sich die Privatrechtler Steine für Brot ein. M i t Mitteln des Privatrechts lassen sich Interessenkonflikte Privater systemgerecht auch ohne Zugriff auf öffentliche Zwecke lösen. Die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 131 ist ein Beispiel. Die Daseinsvorsorge dient demgegenüber unmittelbar öffentlichen Interessen und lässt für die Privatautonomie nur im Rahmen der öffentlichen Zweckbindung Raum. Systemüberlagerungen sind indessen nicht ausgeschlossen.

b) Wettbewerb Zu einer Systemüberlagerung von öffentlichen und privaten Interessen kommt es im Kartellrecht, das stark durch die angloamerikanische Rechtstradition geprägt wird, der wiederum die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht fremd ist. Auszugehen ist auch hier von der Privatautonomie. Zur Privatautonomie gehören Entscheidungsalternativen. Diese erfordern Wettbewerb. Die Erfahrung zeigt, dass Wettbewerb am besten die Bedürfnisbefriedigung gewährleistet. Menschen haben so unterschiedliche Bedürfnisse, dass die zur Erfüllung aller Wünsche benötigten Waren- und Dienstleistungen niemals in ausreichendem 130 Das Öffentliche und das Private in der neueren Entwicklung des Privatrechts, Studium Generale 1970, 769 (783 ff.). 131 Vgl. Gounalakis, Privacy and the Media, 2000; Heldrich, Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit, 1998; von Hinden, Persönlichkeitsverletzungen im Internet, 1999; Kepplinger, Das Interesse der Allgemeinheit und das Eigeninteresse der Medien, ZRP 2000, 134 ff.; Prinz, Der Schutz vor Verletzungen der Privatsphäre durch Medien auf europäischer Ebene, ZRP 2000, 138 ff.; Siebrecht, Der Schutz der Ehre im Zivilrecht, JuS 2001, 337 ff.; Wagner, Prominente und Normalbürger im Recht der Persönlichkeitsrechtsverletzungen, VersR 2000, 1305 ff.; Wanckel, Persönlichkeitsschutz in der Informationsgesellschaft, 1999.

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Maß verfügbar sein können 1 3 2 . Der Wettbewerb hat sich als Ordnungsprinzip, auf dessen Grundlage dem Mangel an begehrten Leistungen am besten begegnet werden kann, bewährt. Der Wettbewerb verhindert ferner den Aufbau endgültiger Machtpositionen 1 3 3 und sorgt dadurch für eine einigermaßen gleichmäßige Machtverteilung in Wirtschaft und Gesellschaft. Wettbewerb funktioniert freilich nicht aus sich selbst heraus, sondern bedarf ebenso wie das Privateigentum staatlicher Garantien. Dem Schutz des Wettbewerbs mit Ausnahme des hier nicht interessierenden Unlauterkeitsrechts dient das Kartellrecht, das jüngeren Ursprungs ist. Die Aufnahme von Kartell verboten in § 138 BGB scheiterte. Auch die 1923 endlich geschaffene Kartellverordnung 134 enthielt lediglich ein wirkungsloses Missbrauchverbot. Erst die Alliierten führten 1947 mit ihren Dekartellierungsgesetzen ein Kartell- und Monopolisierungsverbot ein 1 3 5 . Die Bundesrepublik Deutschland fand dadurch Anschluss an die Rechtsentwicklung der westlichen Industriestaaten. Seit 1950 begannen Bemühungen um eine eigenständige deutsche Kartellgesetzgebung zwischen grundsätzlichem Kartellverbot und bloßer Missbrauchskontrolle. Einen Ausgleich schuf das GWB 1957 136 , das seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1958 mehrfach geändert worden ist. 1998 erfolgte eine Anpassung des GWB an das europäischen Kartellrecht unter Einbindung des Vergaberechts. Das neue G W B 1 3 7 trat am 1. Januar 1999 in Kraft. Es verbietet in § 19 Abs. 1 die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein Unternehmen. Die Missbrauchfälle umschreibt der neugefasste § 19 Abs. 4 GWB in bewusster Anknüp132

Klein, Konkurrenz auf dem Markt geistiger Freiheiten, 1990, S. 29 f. 133 Emmerich, Kartellrecht, 9. Aufl. 2001, S. 2. 134 Notverordnung v. 2. 11. 1923 (RGBl I S. 1067,1090). 135 Am. MRG Nr. 56 v. 28. 1. 1947; brit. VO Nr. 96 v. 9. 6. 1947; franz. VA Nr. 96 v. 9. 6. 1947. 136 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 27. 7. 1957 (BGBl. I S. 1081). 137 Gesetz v. 26. 8. 1998 (BGBl. I S. 2546).

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fung an die 1921 vom US Supreme C o u r t 1 3 8 entwickelte essential facility-Doktrin 1 3 9 . Danach wird dem Inhaber eines markbeherrschenden Unternehmens unter bestimmten Voraussetzungen die Pflicht auferlegt, seine Einrichtung einem Wettbewerber zugänglich zu machen. § 19 Abs. 4 GWB kann mittelbar auch zur Erfüllung der Daseinsvorsorgeaufgabe dienen 140 . Ähnliches gilt für die Verbote nach §§ 20 ff. G W B 1 4 1 . Schutzobjekt der Regelungen ist aber primär der konkret betroffene Wettbewerber oder der Wettbewerb schlechthin. Wie Daseinsvorsorge im Wettbewerb möglich ist, kommt auch eine Daseinsvorsorge durch Wettbewerb in Betracht. Im Wettbewerb kann sich indessen nur durchsetzen, wer Gewinne erzielt. Wettbewerbsrechtlich kann daher nicht aufgegeben werden, dass gewerbliche Unternehmen perspektivisch mit Verlust arbeiten. Vielfach schließt die ausreichende Daseinsvorsorge indessen leistungsgerechte Entgelte aus. Keineswegs gewährleistet der Wettbewerb automatisch eine ausreichende Daseinsvorsorge. Das Kartellrecht macht den Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge nicht überflüssig.

V. Aktuelle Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht 1. Überblick Auf der Kant-Feier der Albertus-Universität zu Königsberg hielt Forsthoff am 12. Februar 1941 einen Vortrag über die „Grenzen des Rechts", in dem er noch einmal seine Gedanken zur Daseinsvorsorge zusammenfasste und ausführte: 142

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United States vs. Terminal Railroad Association, 224 US 383 (012). „bottleneck (monopoly) theory". HO Vgl. LG Dortmund v. 12. 7. 2000 - 13 Ο 104/00, ZNER 2000, 153. Vgl. auch Jaeger. ; Kommunen und Wettbewerbsrecht - Erfahrungen aus der Praxis -, in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 165 ff. 139

Hl Vgl. BbGOLG v. 21. 6. 1994 - 6 Kart 3 / 93, VersorgW 1995, 61. 142 Grenzen des Rechts, S. 17 ff. (19).

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„Die Daseinsvorsorge, in der Begegnung von Mensch zu Mensch ein Akt der Charitas, wird hier (im öffentlichen Raum) zum Akt der Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit, die in der kantischen Rechtslehre und ihrer Unterscheidung von Moralität und Legalität keine Stelle hat. Es ist eine Gerechtigkeit, deren materiale Werthaltigkeit nicht auf individuelles Tun oder Unterlassen, nicht auf Geschick und Missgeschick des einzelnen Rechtsgenossen gerichtet ist; ihr Gegenstand ist vielmehr die Stellung und das Anrecht des Rechtsgenossen in der Gemeinschaft schlechthin."

Forsthoff deutete hier erstmals die individualrechtlichen Seite der Daseinsvorsorge an. Aber noch in anderer Hinsicht war der Vortrag zukunftsweisend. Forsthoff fuhr nämlich fort: „Wir dürfen es mit Stolz zum Ruhme des deutschen Rechts sagen, dass es seit vielen Jahrzehnten diese Art der Gerechtigkeit unter seine besondere Obhut und Pflege genommen hat. Es ist damit allen Rechtsordnungen der abendländischen Welt beispielhaft voraufgegangen."

Die deutsche Konzeption der Daseinsvorsorge stand Pate für die aktuellen Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht.

2. Wettbewerb Die europäische Wirtschaftsverfassung verfolgt ordnungspolitisch den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (Art. 4 Abs. 2 E G ) 1 4 3 . Eine Rechtsordnung, die sich zu diesem Ordnungsprinzip bekennt, muss die Grundvoraussetzungen des Wettbewerbs sicherstellen. So umfasst die Tätigkeit der E U nach Art. 3 lit g EG „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt." Der unverfälschte Wettbewerb soll nach der Präambel des Vertrags einen redlichen Wettbewerb innerhalb der Gemeinschaft gewährleisten. Die Wettbewerbsfreiheit ist inhaltlich zu verstehen. Dem Schutz der durch eine derartige Wettbewerbsfreiheit gekennzeichneten Wirtschaftsordnung der E U 1 4 4 dient ein differenziertes 143 Vgl. zum Gesamtzusammenhang Badura, Wandlungen der europäischen Wirtschaftsverfassung, EuR Beiheft 1 /2000, S. 45 ff.

H4 E U G H v. 25. 10. 1977 - Rs. 2 6 / 7 6 , M e t r o / K o m m i s s i o n , Slg. 1977, 1875 (1905).

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Wettbewerbssystem, mit dem zwei Ebenen angesprochen werden. Einmal gilt es, den Wettbewerb gegen private Beschränkungen zu schützen, zum anderen müssen Interventionen der öffentlichen Hand mit dem unverfälschten Wettbewerb in Einklang gebracht werden. Mit dieser allgemeinen Zielrichtung wird Art. 3 lit. g EG durch den speziellen Wettbewerbstitel V I EG konkretisiert. Die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln der Art. 81-86 EG erfassen auch den Bereich der Daseinsvorsorge 1 4 5 . Nach Art. 87 Abs. 1 EG sind ferner staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Ein weit verstandener Begriff „Beihilfe" umfasst alle Begünstigungen von Unternehmen oder Produktionszweigen, soweit sie nicht durch eine entsprechende marktgerechte Gegenleistung des Begünstigten kompensiert werden 1 4 6 . Maßgeblich sind allein die Wirkungen der Begünstigungen, deren Gründe oder Ziele sind unerheblich 1 4 7 . In Betracht kommen nicht nur alle Formen von Zuschüssen, sondern auch Kostenentlastungen 148 . Ob Ausgleichsleistungen für Daseinsvorsorgelasten stets rechtfertigungsbedürftige Beihilfe darstellen 149 oder (zutreffend) schon tatbestandlich nicht unter Art. 87 Abs. 1 EG fallen 150 , ist noch nicht abschließend geklärt 151 . Zuwendungen an öffentliche Unternehmen durch die H5 Vgl. zum Verkehrsbereich EuGH v. 4. 4. 1974 - Rs. 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359; v. 30. 4. 1986 - Rs 209-213/84, Asjes, Slg. 1986, 1425. H* EuGH v. 23. 2. 1961 - Rs.30/59, De Gezamenlijke Steenkolenminjen in Limburg /Hohe Behörde, Slg. 1961, 1. 147 E U G H v. 17. 6. 1999 - Rs. C 7 5 / 9 7 , Belgien/Kommission, Slg. 1-3671 =

EuZW 1999, 534. 148

Beispiele Rawlinson, in: Lenz (Hrsg), EG-Vertrag, Kommentar, 2. Aufl., 1999, Art. 87 Rn 15 ff. 149

So Generalanwalt Léger im Altmarkstreit (Rs. C 280 / 00). 150 EUGH v. 22. 11. 2001, Rs. C-53/00, Ferring/Across, Slg. 2001, 1-9067 Rn 23, 29 sowie Generalsanwalt Jacobs Rs. C-126/01 - GEMO SA, Schlussanträge v. 30. 4. 2002 Rn 110 ff.

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Trägerkörperschaft sind jedenfalls nach herkömmlicher Rechtsprechung Beihilfen, wenn ein privater Gesellschafter in einer gleichartigen Lage unter Rentabilitätsgesichtspunkten eine solche Beihilfe nicht gewährt hätte 1 5 2 . Auch insoweit wird die Erfüllung von Daseinsvorsorgeaufgaben berührt. Die Daseinsvorsorge ist gemeinschaftsrechtlich somit nicht von vornherein vom Wettbewerbsgrundsatz ausgenommen.

3. Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen

Interesse

a) Ausgangslage Der Ausrichtung der Europäischen Gemeinschaft auf eine wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft stellte bereits Art. 90 EGV, jetzt Art. 86 EG die „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" entgegen 153 . Die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse wurden zunächst als Fremdkörper im europäischen Binnenmarkt betrachtet und als Ausnahmen behandelt. Seit 1993 bemühte sich indessen insbesondere das Europäische Parlament, die Stellung der unmittelbar dem Gemeinwohl verpflichteten Unternehmen aufzuwerten 154 . Diese Bemühungen führten zur Einfügung von Art. 16in den Europäischen Gemeinschaf tsvertrag durch den Amsterdamer Vertrag 155 . Die 151 Hierzu ausführlich Nettesheim, Europäische Beihilfeaufsicht und mitgliedschaftliche Daseinsvorsorge, EWS 2002, 253 ff. (257 ff.). 152 EUGH, v. 14. 9. 1994 - Rs C-278/92 bis C 280/92, Spanien/Deutschland, Slg. 1994 1-4103; Geiger, EUV/EGV, 3. Aufl., 2000, Art. 87 EGV, Rn 8. 153 Hierzu Badura, „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" unter der Aufsicht der Europäischen Gemeinschaft, in: Festschr. f. Oppermann, S. 571 ff.; ders., in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 25 ff.; Dohms, Die Bedeutung des Art 86 nF (=Art 90 a.F.) EGV für die wettbewerbsrelevanten Vorschriften des EG-Vertrags, Diss. FU Berlin, 1999; ders., Die Vorstellungen der Kommission zur Daseinsvorsorge, ebd., S. 41 ff.

154 Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa" v. 17. 12. 1997 (ABl C v. 10. 1. 1998, S. 75). Weitere Nachw. bei v. Wogau, Daseinsvorsorge und Wettbewerbsrecht aus der Sicht des Europäischen Parlaments, in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 111 f. Fußn. 1.

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Hinzufügung von Art. 16 EG lässt trotz der Formulierung „Unbeschadet der Artikel 7, 86 und 97 ..." das Verhältnis von Wettbewerb und „Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" nicht unberührt 156 . Der Wettbewerbsgedanke wird zwar nicht verdrängt, jedoch kommt den Diensten von allgemeinem Interesse besondere Bedeutung z u 1 5 7 . Wie Schwarze zutreffend betont, lässt sich das Konzept der Daseinsvorsorge nicht mehr allein als rechtfertigungsbedürftiger Ausnahmenfall interpretieren 1 5 8 . Die individualrechtliche Seite der Daseinsvorsorge wird ferner durch Art. 36 der EU-Grundrechte-Charta 159 zur Geltung gebracht. b) „Kampf um die Daseinsvorsorge" Die „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" werden für den deutschen Sprachraum als „Dienste der Daseinsvorsorge" bezeichnet 160 . Der Ausdruck „Daseinsvorsorge" stammt vom deutschen Sprachdienst der EU, der diese Ubersetzung für die (erste) Mitteilung der Europäischen Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa" vom September 1996 161 verwen155

Vgl. Rodrigues, Les services publics et le Traité d'Amsterdam, RevMC 1998, 37 ff.; Tettinger.; Maastricht I I - Vertragsergänzung zur Sicherung der Daseinsvorsorge in Europa?, DVBl. 1997, 341 ff.. ; Frenz, Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, EuR 2000, 901 ff. 156

Anders die Sicht der Kommission vgl. van Miert, La Conférence intergouvernemental et la politique communautaire de concurrence, (EC) Competition Policy Newsletter 1997, Nr. 2, S. 1 ff. (4). 157 Zutreffend Streinz, Der Vertrag von Amsterdam, EuZW 1998, 137 ff.; vgl. auch Ross, Article 16 E.C. and services of general interest: from derogation to obligation?, European Law Reviev 2000, S. 22 ff. (31 ff.). Zurückhaltender Magiera, in: Festschr. f. Rauschning, S. 269 ff. ( 271): Bedeutung könne Art. 16 EG lediglich im Rahmen einer systematischen Vertragsauslegung für die Reichweite der Ausnahmebestimmung des Art. 86 Abs. 2 EG erlangen. 158

Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts, EuZW 2001, 334 ff. (337). Ebenso Storr, DÖV 2002, 357 ff. (361). 159 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl C Nr. 364) v. 18. 12.2000, S. 1. 160 Vgl. nur Geiger, EUV/EGV, 3. Aufl., 2000, Art. 16, Überschrift. 161

S.3).

„Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa" (ABl C 281 v. 26. 9. 1996,

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dete. In anderen Sprachfassungen der Mitteilung war von „services d'intérêt general", „services of general interest", „servicios de interés generals", „serviços de interesse geral", „servici d'interesse generale", „Tjänsten i allmänhetens interesse" oder „Diensten van algemeen Belang" die Rede. Die „Leistungen der Daseinsvorsorge" oder gemeinwohlorientierten Leistungen dienten dabei als Oberbegriff für „marktbezogene oder nichtmarktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden". Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse waren die marktbezogenen Daseinsvorsorgeleistungen, von denen die Bereiche der Telekommunikation, des Postwesens, des Verkehrs, der Elektrizität sowie Hörfunk und Fernsehen näher gewürdigt wurden. Eine gegenständliche Beschreibung der Daseinsvorsorge war damit nicht verbunden. Gemeinschaftsrechtlich diente der Begriff der Daseinsvorsorge lediglich der Zuordnung gemeinwohlorientierter Leistungen, die eine Sonderbehandlung erfordern 162 . Die auf Bitte des Europäischen Rats von Lissabon (23./ 24. 3. 2000) erfolgte Neuformulierung der Mitteilung vom 20. 9. 2000 163 wollte expressis verbis hieran nichts ändern. Sie sollte nur der Aktualisierung dienen 164 . Formal trifft das zu. Im Rahmen der Begriffsbestimmungen (Anhang II) wurden die „Leistungen der Daseinsvorsorge" wie zuvor umschrieben. Statt die „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" des neuen Art. 16 EG zu definieren, wurde sogar die Definition des in Art. 86 EG verwendeten Begriffs der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" übernommen 165 . Dahinter verbirgt 162 Kritisch Oettle, Lücken, Widersprüche und andere logische Mängel in dem richtungsweisenden EU-Kommissionsdokument „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa", in: Cox (Hrsg.), Daseinsvorsorge, S. 57 ff. Vgl. auch Mestmäcker, Daseinsvorsorge und Universaldienst im europäischen Kontext, in: Festschr. f. Zacher, 1998, S. 665 ff. 163 KOM(2000) 580 endg. (ABl. C 17/2001, S. 4, Anh. I). Hierzu Ennttschat, Die neue Mitteilung der EU-Kommission zu den „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa", RdE 2001, 46 ff. 164 Tz. 1.

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sich nicht nur Beharrungsvermögen, sondern die explizite Absicht, den Wettbewerbsgedanken bei Daseinsvorsorgeleistungen zu verstärken 166 . Seit 1996 hätten aus der Sicht der Kommission Erfahrungen in Daseinsvorsorgebereichen, die dem Wettbewerb geöffnet worden sind, gezeigt, dass Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, Binnenmarkt und gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik einander ergänzen 167 . Der Europäische Rat von Nizza vom 7., 8. und 9. 12. 2000 nahm die Mitteilung der Kommission vom 20. 9. 2000 zur Kenntnis und billigte eine Erklärung des Rates Binnenmarkt vom 28. 9. 2000, in der die Rolle bestätigt wurde, welche die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse „bei der Gewährleistung des sozialen und territorialen Zusammenhalts der Europäischen Union spielen" 168 . Zugleich forderte er in seinen Schlussfolgerungen die Kommission auf, anlässlich seiner Tagung in Laeken im Dezember 2002 über Leistungen der Daseinsvorsorge erneut zu berichten. Zu den Schlussfolgerungen ergingen u. a. eine Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland 169 und ein Memorandum Frankreichs 170 , die sich in unterschiedlicher Intensität für eine Öffnung des Daseinsvorsorgebereichs für den Wettbewerb aussprachen. Der Bericht „Leistungen der Daseinsvorsorge" der Kommission für den Europäischen Rat in Laeken vom 17. 10. 2001 171 geht nur in Nebenpunkten auf solche Anregungen ein, versteht sich aber nicht als Korrektur der Miteilungen von 165 Die englischen und französischen Vertragstexte verwenden allerdings einheitlich den Ausdruck „services". 166 Vgl, v a n Miert, Die Zukunft der Wettbewerbspolitik in der EU, Referat im Rahmen der Vortragsreihe „Europa vor der Wirtschafts- und Währungsunion" Bonn, 27. Oktober 1997, Hrsg.: Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht, 1997. Ferner Dohms, in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 41 ff.

167 T z . 3.

168 Europäischer Rat (Nizza): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 08. 12. 2000, Nr. 400 / 1 / 00 Ziff. E 45 Ano. II. 169 Dok. des Rates der EU 12028/01 v. 20. 9. 2001. 170 Dok. des Rates der EU 12029/01 v. 20. 9. 2001. 171 K O M (2001) 598 end. Hierzu überzeugend Kämmerer; Daseinsvorsorge als Gemeinschaftsziel oder: Europas „soziales Gewissen", NVwZ 2002, 1041 ff.

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1996 und 2000 (Ziff. 6), sondern hält an ihrem Wettbewerbscredo fest: Ziff. 48 f. lauten: „Für eine Vielzahl von Dienstleistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse haben sich offene Märkte als optimale Instrumente zur Befriedigung der Bedürfnisse der Bürger und Unternehmen erwiesen. I n den durch Gemeinschaftsmaßnahmen liberalisierten Sektoren hat der Wettbewerb zu einer vergrößerten Angebotsvielfalt und zu Kostensenkungen für die Verbraucher wie auch für die gewerblichen Nutzer geführt. Bei der Einführung des Wettbewerbs in einem Sektor verfolgt die Gemeinschaft einen schrittweisen, strukturierten Liberalisierungsansatz, um so eine Kontinuität des Leistungsangebots zu gewährleisten und den betroffenen Akteuren eine Anpassung an die sich ändernden Marktbedingungen zu ermöglichen. I n den Gemeinschaftsmaßnahmen sind deshalb auch besondere Übergangsfristen bzw. Ausnahmeregelungen für einzelne Mitgliedstaaten in den Fällen vorgesehen, w o sich solche Regelungen als unabdingbar erweisen, um besonderen Gegebenheiten Rechnung tragen zu können."

Dieser Ansatz geht fehl. Wo Wettbewerb mit dem Daseinsvorsorgeauftrag vereinbar ist, sollte er möglichst rasch eingeführt werden. Wo aber „besondere Gegebenheiten" dem Wettbewerb entgegenstehen, darf er überhaupt nicht eingeführt werden. Darüber hinaus hat der Wettbewerb in diesem Zusammenhang nur dienende Funktion. Das wohlklingende Bekenntnis in der Einführung zum Laeken-Bericht, in einer „Welt des Wandels" blieben Leistungen der Daseinsvorsorge eines der „wesentlichen Fundamente des Europäischen Gesellschaftsmodells" gerät zum Lippenbekenntnis, wenn der Wandel von der Kommission selbst forciert wird.

c) Wettbewerb und Daseinsvorsorge Den Bestrebungen der Kommission und einer ganzen Riege von Wettbewerbs- und Europarechtlern, dem Wettbewerbsprinzip auch im Daseinsvorsorgebereich zum Durchbruch zu verhelfen und öffentlich-rechtliche Bindungen nur als lästige Ausnahmen hinzunehmen 172 , ist entschieden entgegenzutreten. Forsthoff 172 Vgl, Mestmäcker, in: Festschr. f. Zacher, S. 665 ff.; Harms, Daseinsvorsorge im Wettbewerb, 2001; Magiera, in: Festschr. f. Rauschning, S. 269 ff.; Koenig, Daseinsvorsorge durch Wettbewerb!, E u Z W 2001, 481 ff.; ausgewogener Nettesheim, Mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge i m Spannungsfeld zwi-

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wollte wohl den Wettbewerb im Daseinsvorsorgebereich a priori ausschließen. Das lässt sich heute nicht mehr halten 173 . Bei marktbezogenen Daseinsvorsorgetätigkeiten ist Daseinsvorsorge im Wettbewerb möglich 1 7 4 . Der Wettbewerb hat dann aber nur dienende Funktion. Er kann im Interesse der Daseinsvorsorge instrumentalisiert werden, um den günstigsten Anbieter für die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben zu ermitteln. Private Gewinnerzielung widerspricht auch nicht automatisch der Gewährleistung einer angemessenen Daseinsvorsorge. Selbst bei Einrichtungen der Daseinsfürsorge schließt das Selbstkostendeckungsprinzip kalkulatorische Gewinne nicht aus 175 . Einen Interessenausgleich zwischen privatem Gewinnmaximierungs- und öffentlichem Versorgungsinteresse kann es indessen nicht geben. Öffentlicher Daseinsvorsorgeauftrag und private Gewinnmaximierung sind unvereinbar. Die Herstellung „praktischer Konkordanz" ist hier nicht möglich 1 7 6 . Im Konfliktfall zwischen Daseinsvorsorge und freiem Wettbewerb folgt aus Primärrecht im Zweifel der Vorrang der Daseinsvorsorge 177. Dies klingt in Tz. 13 der aktualisierten Mitteilung an: sehen Wettbewerbskonformität und Gemeinwohlverantwortung, in: Hrbek/ Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 39 ff.; Vgl. auch Storr, DÖV 2002, 357 ff. (358 ff.), dessen Kooperationsprinzip in die richtige Richtung zielt. Dass die Privatwirtschaft gegen die Daseinsvorsorge zu Felde zieht, liegt auf der Hand, ebenso, dass dabei ein Popanz aufgebaut wird; vgl. nur BDI v. 7. 12. 2000: „Deckmantel Daseinsvorsorge - Privatwirtschaft in Bedrängnis"; ähnliche Tendenz im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundsministerium für Wirtschaft und Technologie „Daseinsvorsorge" im Europäischen Binnenmarkt v. 12. 1. 2002, wo der Ausdruck „Daseinsvorsorge" attackiert wird, da er „in problematischer Weise auf Sinnstiftung gegen die Disziplin des Wettbewerbs" angelegt sei. Eher richtet sich das Konzept der Daseinsvorsorge gegen die Disziplinen, denen die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats angehören. 173 Insofern ist die Kritik des Generalanwalt am EuGH Alber; Unternehmen der Daseinsvorsorge im europäischen Wettbewerbsrecht, in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 73 ff. (82 f.) an Forsthoff gerechtfertigt. 174 Bei nichtmarktbezogenen Tätigkeiten gelten die Wettbewerbsvorschriften per definitionem nicht, vgl. Schwarze, EuZW 2001, 334 ff. (335). w BVerwG vom 1. 12. 1998 - 5 C 29.97, BVerwGE 108, 56. i 7 * Anders Schwarze, EuZW 2001, 334 ff. (339); Nettesheim, in: Hrbeck/ Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 39 ff. (50).

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„Der Staat muss sich darüber hinaus fragen, wie er sicherstellen kann, dass die einer Leistung der Daseinsvorsorge zugewiesenen Aufgaben nach einem hohen Qualitätsstandard und möglichst wirtschaftlich ausgeführt werden. Dabei können verschiedene Wege beschritten werden. Bei der Entscheidung darüber, wie die Aufgaben zu erfüllen sind, dürften insbesondere folgende Kriterien eine Rolle spielen: die technischen und wirtschaftlichen Merkmale der fraglichen Dienstleistung; die Anforderungen der Nutzer; die kulturellen und historischen Eigenheiten des betreffenden Mitgliedstaats."

Jedes andere Verständnis würde die europäische Integration zurückschrauben und die E U auf eine reine Wirtschaftsgemeinschaft reduzieren. Das vielberufene Regel-Ausnahme-Verhältnis in Art. 86 Abs. 2 EG führt zu keiner anderen Sichtweise: Zum einen macht es das Wesen einer Ausnahme aus, dass es die Regel verdrängt. Zum anderen sind die Ausnahmekriterien so vage gehalten, dass ein weiter Gestaltungsspielraum für nationale Ausnahmeregelungen besteht 178 , während die Eingriffsschwelle für die Kommission hoch angesetzt ist. Die Wettbewerbsbeschränkung darf die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigen, die dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft. Der Daseinsvorsorgeauftrag modifiziert das Wettbewerbsprinzip, lässt Beschränkungen des Wettbewerbs zu und rechtfertigt die sog. staatliche Eigenproduktion, wenn nur durch sie eine ausreichende Daseinsvorsorge gewährleistet ist.

177 Nur bei dieser Prämisse ist die Formulierung in Tz. 18 haltbar: „Die Einhaltung von Vorschriften des EG-Vertrags, insbesondere der Wettbewerbs- und binnenmarktrechtlichen Bestimmungen, ist voll und ganz mit den gesicherten Leistungen der Daseinsvorsorge vereinbar." 178 Vgl. EuGH v. 19. 5. 1993 - Rs. C-320/91, Corbeau, Slg. 1993, 1-2533; v. 27. 4. 1994 - Rs. C-393/92, Almelo, Slg. 1994,1-477; v. 23. 10. 1997 - Rs. C159/94 - Kommission/Französische Republik, Slg. 1997,1-5815; v. 10. 2. 2000 - verb. Rs. C-147 u. 148 / 97, Remailing, Slg. 2000,1-825 Rn. 49 ff.; hierzu Bartosch, Dienstleistungsfreiheit versus Monopolrechte - Die Fragwürdigkeit des Remailing-Urteils des EuGH vom 10. 2. 2000, NJW 2000, 2250 ff.

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d) Europäische Daseinsvorsorge Der „Kampf um die Daseinsvorsorge" zwischen der wettbewerbsfixierten Kommission und den Mitgliedstaaten mit etatistischer Tradition ist zugleich eine Auseinandersetzung über die Kompetenzverteilung zwischen der E U und den Mitgliedstaaten 179 . Aus der Sicht der Mitgliedstaaten wird befürchtet, durch die Qualifizierung aller denkbaren Dienste als wirtschaftliche Tätigkeiten werde eine Allzuständigkeit der E U begründet 1 8 0 . Die Befürchtungen haben einen berechtigten Kern, schießen aber über das Ziel hinaus. Denn einerseits erkennt die Kommission nichtmarktorientierte, den Mitgliedstaaten zugeordnete Tätigkeiten der Daseinsvorsorge an 1 8 1 . Andererseits gibt es auch originäre Daseinsvorsorgekompetenzen der E U innerhalb der jeweiligen Sachbereiche. Zu nennen sind insbesondere die Transeuropäischen Netze 1 8 2 (Art. 154 ff. EG) in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur, deren Daseinsvorsorgefunktion in der am 10. 9. 1996 in Kraft getretenen Leitlinienentscheidung des Rats Nr. 1692/96 (ABl. L 2228 S. 1) deutlich zum Ausdruck kommt. Mit dem Auf- und Ausbau der transeuropäischen Verkehrsnetze wird bezweckt, „einen auf Dauer tragbaren Personen- und Güterverkehr unter möglichst sozial- und umweltverträglichen sowie sicherheitsorientierten Bedingungen zu gewährleisten...". Auch der als Daseinsvorsorgeleistung konzipierte Universaldienst im Postsektor trägt zum Zusammenhalt der E U bei 1 8 3 . Als solche fällt die Daseinsvorsorge nicht in den Aufgabenbereich der EU. 179 Palmer, ; in: Hrbek / Nettesheim, Daseinseinsvorsorge, S. 9 ff. (10); vgl. auch Magiera, Gefährdung der öffentlichen Daseinsvorsorge durch das EGBeihilferecht?, in Festschr. f. Rauschning, 2001, S. 269 ff. 180 Vgl. die Entschließung des Bundesrats vom 4. 2. 2000 zur Eröffnung der Regierungskonferenz 2000, BR-Drs. 61/00. 181

Vgl. Dohms, in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 41 ff. (S. 44 ). Hierzu Ronellenfitsch, Transeuropäische Straßennetze, in: Grupp (Hrsg.), Straßenplanung in Europa, 2001, S. 9 ff. 183 Bek. der Kommission über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf dem Postsektor und über die Beurteilung bestimmter staatlicher Maßnahmen betreffend Postdienste, ABl. Nr. C 39 v. 6. 2. 1998. 182

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Es bleibt bei dem Grundsatz der Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EG). e) Folgerung Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Daseinsvorsorge zu einem eigenständigen Strukturmerkmal der E U geworden ist 1 8 4 . Das von Storr vorgeschlagene Zwei-Ebenen-Modell im Verhältnis von Daseinsvorsorge und Wettbewerb 185 bedarf der Korrektur. Auf der ersten Ebene geht es nicht „um die Regulierung eines Marktes der Daseinsvorsorge, um Wettbewerb optimal herzustellen", sondern um die Regulierung der Daseinsvorsorge, um den Markt zur optimalen Erfüllung der Daseinsvorsorgeaufgabe zu öffnen. Auf der zweiten Ebene geht es dann in der Tat um die konkrete Ausgestaltung der Daseinsvorsorgeleistung und um die konkrete Ausgestaltung der Dienstleistungspflicht.

VI. Anwendungsfelder Die Anwendungsfelder der Daseinsvorsorge lassen sich mittlerweile an Hand einer reichhaltigen Kasuistik induktiv abstecken, wodurch der Vorwurf mangelnder Konturenschärfe an Bedeutung verliert. Unter Verzicht auf eine Systematik seien anschließend einige Daseinsvorsorgebereiche exemplarisch vorgestellt. Die Beispiele zeigen, dass Forsthoff mit dem Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge eine Lawine losgetreten hat, die seine Kritiker überrollt.

1. Versorgungswirtschaft a) Versorgung Die Versorgungswirtschaft, früher ein klassischer Fall der Daseinsvorsorge mit öffentlich-rechtlicher Dominanz, befindet sich im Umbruch. Politisches Anliegen der vergangenen Jahre in 184

Palmer; in: Hrbek/Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 11. iss DÖV 2002, 357 ff. (368). 7 Blümel

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Deutschland und Europa war der europäische Binnenmarkt und die Unterwerfung des Versorgungs- und namentlich des Energiesektors unter das Wettbewerbsprinzip. Wichtigstes Wettbewerbsinstrument zur Öffnung der Stromund Gasmärkte ist der Zugang zu den vorhandenen Energieversorgungsleitungen (Durchleitung) 186 . Unter Daseinsvorsorgeaspekten dient der Wettbewerb der Versorgung der Endverbraucher. Die öffentlich-rechtliche Zweckrichtung der Durchleitung läuft auf einen Gemeingebrauch an Versorgungsleitungen hinaus, der sich dem Gemeingebrauch an Verkehrswegen annähert. Bei der Netzeinspeisung geht es also nach wie vor weniger um die Gewinnmaximierung der deutschen und europäischen Stromund Gaslieferanten als um die Versorgung der Bevölkerung. Das rechtfertigt eine enge Auslegung des Beihilfebegriffs 187 und eine partielle Berücksichtigung versorgungsfremder Belange bei der „Widmung" der Netze 1 8 8 . Im Konfliktfall treten aber allgemeinpolitische, umweltpolitische und wettbewerbspolitische Erwägungen hinter dem primären Versorgungszweck in den Hintergrund. Hinsichtlich der Elektrizitäts- und Gasversorgung sollte die angestrebte Liberalisierung und Deregulierung und in Folge die Stärkung des brancheninternen Wettbewerbs vor allem durch eine Beseitigung der geschlossenen Versorgungsgebiete erreicht werden, die sich als Folge von Demarkationsverträgen zwischen den Versorgungsunternehmen, ferner aus ausschließlichen Wegerechte in Konzessionsverträgen zwischen Versorgungsunternehmen und 186 Hierzu Horstmann, Netzzugang in der Energiewirtschaft, 2001; Kasper; Durchleitung von Strom, 2001. Zur Gasversorgung: Gilber/ Pepper, Erdgaslogistik, Netzzugang, Verbändervereinbarung, Kundenwechselprozess, Prognoseverfahren, Netzbetreiber, 2001; Shipper, GWF 2002, 349 ff.; Kehr, Die Modellierung des Netzzugangs beim Erdgas, GWF 2002, 353 ff.; Kanter; Netzzugang aus der Sicht der Importeure, GWF 2002, 356 ff.; Steinhauer/Steidel, Entgeltfindung beim Netzzugang Erdgas aus Sicht kommunaler Endverteiler, GWF 2002, 364 ff. 187 EuGH v. 13. 3. 2001 - C-379/98, Preußenelektra, Slg. 2001, 1-2099 = RdE 2001, 37 mit abl. Anm. Lecheler. 188 Vgl. Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG) v. 29. 3. 2000 (BGBl. I S. 305).

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Kommunen ergeben hatten 189 . Zu diesem Zweck erging als Artikelgesetz das Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24. 4. 1998 190 (EnWGNOG), das am 29. 4. 1998 in Kraft trat 1 9 1 und dessen Hauptbestandteil des Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (EnWG) darstellt. Es sieht eine Erleichterung des Zugangs zum Elektrizitätsversorgungsnetz für Elektrizitätsversorgungsunternehmen (§§ 5 ff.) und die Möglichkeit der Einrichtung von Direktleitungen zur Belieferung von Energieabnehmern (§ 13) vor. Ferner wurde die bisherige kartellrechtliche Freistellung von Demarkations- und Konzessionsverträgen abgeschafft. Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber u. a. den als im internationalen Vergleich für zu hoch erachteten Strompreisen in Deutschland begegnen und zugleich die Binnenmarkt-Richtlinie Strom der Europäischen U n i o n 1 9 2 umsetzen. Gegen das Gesetz setzten sich allerdings die Städte unter Berufung auf die Gefährdung von zur Daseinsvorsorge zählenden kommunaleigenen Stromerzeugungsanlagen zur Wehr. Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Inkrafttreten des Gesetzes ab 1 9 3 , da die Antragsteller keine konkrete Betroffenheiten dartun konnten. Auf den Daseinsvorsorgeaspekt ging die Kammer nicht ein. Der Daseinsvorsorgecharakter der Energieversorgung wird andererseits selbst vom E u G H respektiert 194 . 189 Vgl. Jürgen Baur,; Energieversorgung durch Stadtwerke, in: Hrbek/Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 118 ff. 190 BGBl. I S. 730. 19 1 Bis dahin galt das Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz) v. 13.12.1935 (RGBl I S. 1451). 1 92 RL 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19. 12. 1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl EG 1997 Nr. L 27, S. 20). Beschl. 2. Senat 1. Kammer v. 9. 9. 1999 - 2 BvR 1646/98; 2257/98 NVwZ-RR 2000, 16 = Gemeindehaushalt 1999, 285 = VersorgW 1999, 280 = RdE 2000, 24. 1 94 Vgl. Götz, Die Öffnung der Märkte für Leistungen der öffentlichen Versorgung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: Brede (Hrsg.), Wettbewerb in Europa und die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, 2001, S. 189 ff.; EuGH, v. 27. 4. 1994 - Rs. C.393/92, Slg. 1994, 1-1477 (Gemeinde

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Die Daseinsvorsorgeaufgabe ist mit begrüßenswerter Eindeutigkeit in § 1 EnWG umschrieben, der als Gesetzeszweck eine möglichst sichere, preisgünstige und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Gas im Interesse der Allgemeinheit bestimmt. In erster Line geht es um die Versorgungssicherheit. Diese wiederum wurde vom Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf die Daseinsvorsorge als öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung qualifiziert, als „Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf" 195 . Die Relativierung dieses Ansatzes im Schrifttum 196 verkennt den Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge. Mit der Versorgungssicherheit ist es im Hinblick auf die Daseinsvorsorgeaufgabe nicht getan. Die Versorgungsleistungen müssen auch für die Allgemeinheit erschwinglich sein. Daher haben die Versorgungsunternehmen als Unternehmen der Daseinsvorsorge hinsichtlich der allgemeinen Versorgung der Letztverbraucher ihre Tarife im Rahmen der von § 11 EnWG vorgegebenen allgemeinen Tarif- und Versorgungsbedingungen zu bestimmen 197 . Die Tarife der Elektrizitätsversorgung unterliegen der Preiskontrolle. Der behördlichen Genehmigung von Tarifpreisen nach § 12 BTOElt kommt dabei Indizwirkung im Hinblick auf die Billigkeit und Angemessenheit der Tarife nach § 315 BGB z u 1 9 8 . In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist nämlich seit langem anerkannt, dass die Tarife von Unternehmen, die LeistunAlmelo u. a./N.V. Energiebedrijf IJsselmij), v. 23. 10. 1997, verb. Rs C-157160/94 Slg. 1997,1-5815 (Electricité de France). 195 Beschl. v. 20. 3. 1984- 1 BvL 28 / 82, BVerfGE 66, 248 (258). 196 Pielow, Grundstrukturen der öffentlichen Versorgung 2001, S. 353 ff.; Mattbiesen, Die staatlichen Einwirkungen zur Sicherung der Energieversorgung und ihre Grenzen, 1987, S. 25; Tettinger, RdE 2002, 225 ff. (227). 197 Bundestarifordnung Elektrizität (BTOElt) v. 18. 12. 1989 (BGBl. I S. 2255); VO über Allg. Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGas) v. 21. 6. 1979 (BGBl. I S. 676); VO über Allg. Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBElt) v. 21. 6. 1979 (BGBl. I S. 684); geänd. durch VO v. 5. 4. 2002 (BGBl. I S. 1250).

198 KG Berlin v. 10. 4. 2002 - 24 U 65/01, RdE 2002, 243, Vgl. auch AG Bad Neuenahr-Ahrweiler v. 10. 12. 1997 - 3 C 527/97, NJW 1998, 2540; OLGSAnh v. 7. 11. 1997 - 6 U 387/96.

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gen der Daseinsvorsorge anbieten, auf deren Inanspruchnahme der andere Vertragsteil im Bedarfsfall angewiesen ist, grundsätzlich einer Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB unterworfen sind 1 9 9 . Dies gilt jedoch nicht für individuell ausgehandelte Lieferverträge 200 . Erst recht gilt dies nicht, wenn behördliche Preiskontrollen den Inhalt der Daseinsvorsorgeaufgabe verbindlich festlegen, d. h. Leistungsentgelte und entgeltrelevante Leistungsbestandteile fixieren wie das teilweise im Telekommunikationsbereich der Fall ist 2 0 1 . Die Daseinsvorsorge rechtfertigt im übrigen eine kommunale Eigenbetätigung nur, soweit nicht in den privaten Wirtschaftsverkehr eingegriffen wird. Elektroinstallationen haben mit der Elektrizitätsversorgung nichts mehr zu tun. Die Daseinsvorsorge endet, indem Strom am Ende des Hausanschlusses bzw. bei fliegenden Bauten an der dem Hausanschluss entsprechenden Stelle bereit gestellt wird. Darüber hinausgehende Betätigungen kommunaler Unternehmen können vor den Zivilgerichten unter Berufung auf § 1 U W G unterbunden werden 2 0 2 . Die Versorgung der Bevölkerung mit Strom, Gas, Fernwärme und Wasser durch die kommunalen Stadtwerke ist trotz ihres Daseinsvorsorgecharakters 203 kraft ausdrücklicher gesetzlicher 199 BGH v. 19. 12. 1978 - IV ZR 43/77, BGHZ 73, 114(116); v. 1. 7. 1971 KZR 16 / 70, WM 1971,1456 (1457); v. 27.10.1972 - KZR 9 / 71 - LM LuftVZO Nr. 2; v. 24. 11. 1977-III Z R 2 2 / 7 6 - L M LuftVZO Nr. 5; v. 19. 1. 1983-VIII ZR 81 / 82, WM 1983, 341 (342); v. 3.11. 1983 - I I I ZR 222/82, MDR 1984, 558; v. 5. 4. 1984 - I I I ZR 12/83, NJW 1985, 197; v. 6. 2. 1985 - VIII ZR 61/84, NJW 1985, 3013; v. 4.12. 1986 - V I I ZR 77 / 78, BGHR AVBGasV § 9 - Verwaltungsprivatrecht 1 = W M 1987, 295 (296); v. 10. 5. 1990 - V I I ZR 209/89, BGHR BGB § 315 Abs. 3 - Stromversorgung 1; v. 10.10.1991 - I I I ZR 100/90; BGHZ 115, 311 (316); v. 2. 7. 1998 - I I I ZR 287/97, NJW 1998, 3188 (3191 f.); OLG Düsseldorf v. 12. 10. 1995 - 13 U 134/94, NWVBl 1996, 277; OLG Köln v. 18. 5. 1994 - 1 1 U 256 / 93, RdE 1995, 77; OLG Celle v. 22. 10.1993 - 12 U 2 / 92, ET 1994, 79; OLG Dresden v. 8. 4. 1998 - 7 U 2980/97, NJWE-WettbR 1998, 186; LG Krefeld v. 7. 7.1994 - 3 Ο 366/93, DWW 1994,314. 200 BbgOLG v. 10. 1. 2001 - 7 U 16/99, GWF/Recht und Steuern 2001,17; Abgrenzung BGH v. 10. 10. 1991, I I I ZR 100/90, NJW 1992,171. 201 BGH, NJW 1998, 3188 (3192). 202 LG München v. 19.5. 1999 - 1 H K O 3922/99, GewArch 1999,413; hierzu BGH v. 25. 4. 2002 - I ZR 250 / 00.

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Regelung ein Betrieb gewerblicher Art (§ 4 Abs. 3 KStG). Bei dem Betrieb eines Klärwerks und der Wahrnehmung der öffentlichen Abwasserbeseitigung handelt es sich demgegenüber um eine hoheitliche Aufgabe der Daseinsvorsorge (§ 4 Abs. 5 KStG) 2 0 4 .

b) Entsorgung Die Abwasserbeseitigung ist unstreitig eine Aufgabe der Daseinsvorsorge 205. Dabei steht es im Ermessen der öffentlichen Hand, die Abwasserbeseitigung entweder mit den Gestaltungsmitteln des öffentlichen Rechts oder in den Formen des Privatrechts zu betreiben 206 . Das gilt unabhängig davon, ob die Leistungsgewährung mit einem Anschluss- und Benutzungszwang verknüpft ist 2 0 7 . Die auch von Privaten betriebene Abwasserentsorgung ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, weil es sich nach den Kommunal- und Wassergesetzen um eine Pflichtaufgabe im eigenen Wirkungskreis der Gemeinden handelt. Die Abwasserentsorgung als gemeindliche Pflichtaufgabe kann nicht Gegenstand eines wirtschaftlichen Unternehmens sein. Im Umkehrschluss ist daraus zu folgern, dass das Kostendeckungsprinzip gilt, wenn gemeindliche Pflichtaufgaben in Form eines nichtwirtschaftlichen Unternehmens erfüllt werden. Daher ist fraglich, ob der Zinsabschlag analog § 44 a Abs. 5 EStG in Betracht kommt. Das Finanzgericht Sachsen-Anhalt hat die Frage verneint 208 , jedoch wegen der grundsätzlichen Bedeu203 Zur Wasserversorgung BVerfG v. 7. 6. 1977 - 1 BvR 108, 424/73 und 226/4 - , BVerfGE 45, 63 (78); BGH v. 25. 2. 1975 - I I I ZR 12/83, BGHZ 91, 84 (86); OLG Frankfurt v. 16. 2. 1994 - 7 U 10/93, NJW-RR 194, 1041; AG Siegen v. 4. 6. 1996 - 7 C 2846/96, WuM 1996, 707; zur Gasversorgung FG Münster v. 6. 7. 1995 - 3 Κ 1644 / 93 EW, GWF / Recht und Steuern 1996, 6. 204 BFH v. 27. 6. 2001 - Az: I R 82 - 85 / 00, BFHE 195, 572. 205 BGH v. 27. 1. 1994 - I I I ZR 158/91, BGHZ 125, 19 (22 f.); LG Trier v. 11. 6. 1992 - 3 S 83/92, NJW-RR 1992,1533. 206 BGH v. 30. 6. 1998 - I I I ZB 34/97, BGHR GVG § 13 Abwasserbeseitigung 1. 207 Vgl. BGH v. 10. 10.1991-III ZR 100/90, BGHZ 115,311 (313 f.). 208 Urt.v. 8. 12. 1998-111 (11) 3/36.

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tung der Frage, ob ein Unternehmen, das auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge tätig wird und zur Beachtung des Kostendeckungsprinzips verpflichtet ist, aufgrund der Art seiner Geschäfte auf Dauer Verluste erzielt, die Revision zugelassen209. Die Abfallentsorgung war früher eine Angelegenheit der privaten Lebensgestaltung im eigenen Lebensraum. Durch die zivilisatorische Entwicklung ist für Private eine autonome Entsorgung nicht mehr möglich. Seit Inkrafttreten des AbfG vom 7. 6. 1972 (BGBl. I S. 873) ist die Abfallentsorgung eine Aufgabe der Daseinsvorsorge 210. Durch das K r W - A b f G 2 1 1 wurde daher der neue Rechtsbegriff des Abfalls „aus privaten Haushaltungen" geschaffen 212 , der dazu dient, den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge 213 von dem durch das Verursacherprinzip geprägten Bereich der Entsorgung von Abfällen aus Industrie, Gewerbe und Verwaltungen abzugrenzen. Zutreffend führt das V G Freiburg 2 1 4 hierzu aus: „Die Entsorgung von Hausmüll ist eine Leistung, die ein existenznotwendiges und allgemeines Bedürfnis der Menschen befriedigt und die dem Umstand Rechnung trägt, dass unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft die meisten Menschen zu einer selbständigen und eigenverantwortlichen Entsorgung ihres Hausmülls weder bereit noch in der Lage sind".

2. Verkehrswesen a) Verkehrsinfrastruktur Eine originäre staatliche Aufgabe ist es, die für das Funktionieren der Industriegesellschaft unentbehrliche Verkehrsinfrastruktur zu gewährleisten 215 . Die Baufreiheit erfordert Erschließungs209 Vgl. BFH V. 29. 3. 2000 - I R / 32. 210 BVerwG v. 9. 3. 1990 - 7 C 21.89, BVerwGE 85, 44 (47). 211 Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen (Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz) v. 27. 9.1994 (BGBl. I S. 2705). 212 § 13 Abs. 1 Satz 1 KrW-/AbfG. 213 Vgl. VG Greifswald v. 10. 7. 1997 - 3 Β 1016/97, VwRR M O 1997, 88. 214 Urteil v. 23. 7. 1998 - 3 Κ 1217/97, Städte- und Gemeinderat 1999, 37. 215 Wink, Verkehrsinfrastrukturpolitik in der Marktwirtschaft, 1995.

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Straßen 216, die Verkehrsmobilität, Verkehrsnetze zur Aufnahme des fließenden und ruhenden Verkehrs 217 . Dass etwa der Straßenbau eine Daseinsvorsorgeaufgabe ist, erkannten nicht erst die Nationalsozialisten, die den Autobahnbau zu Unrecht als ihre Erfindung reklamierten 218 . Im Zeitalter des Massentourismus gilt das auch für die Errichtung und den Betrieb von Verkehrsflughäfen 219 , während bei den Binnenwasserstraßen der Daseinsvorsorgeauftrag in den Hintergrund tritt. Zur Unterhaltung der Infrastruktur gehört auch die Straßenreinigung, so dass die Verkehrssicherungspflicht nicht nur im Zusammenhang mit der Gefahrenabwehr, sondern bei Erfüllung des Daseinsvorsorgeauftrags besteht 220 . b) Verkehrswirtschaft Mit der Errichtung und Unterhaltung der Verkehrsinfrastruktur ist es nicht getan 221 . Die räumliche Beweglichkeit, Grundbedingung menschlicher Existenz, hat als „zirkuläre Mobilität" grund- und menschenrechtliche Relevanz. Dazu bedarf es nicht einmal der Anerkennung eines eigenständigen „Grundrechts auf Mobilität" 2 2 2 , von dem einige europäische Verfassungen ausgehen. Grundrechtlichen Gehalt hat die Mobilität allemal. Die meisten Grundrechte stoßen ohne Verkehrsmobilität ins Leere. 216 Vgl. OLG Koblenz v. 12. 10. 1999 - Az: 1 U 1041/97, D W 2001, 26. 217 BGH v. 16. 11. 1990 - V ZR 297/89, NJW 1991, 564 (öffentlicher Parkplatz als Leistung der Daseinsvorsorge). Vgl. auch BVerwG v. 18. 7. 1989 - 7 C 65.88, NJW 1990, 266. 218 Hierzu Ronellenfitsch, in: 50 Jahre Straßenwesen in Deutschland 1949 1999, Straßenbau und Straßenverkehrstechnik Heft 800/2001, S. 1 ff. (10). 219 OLG Frankfurt v. 30. 8. 1996 - 1 HEs 196/96, NStZ 1997, 200; LG Frankfurt v. 13. 5. 1996 - 5/12 Qs 14/56, NStZ-RR 1996, 259; OVG RhPf v. 9. 12. 1993-7 Β 11842/93, DVBl. 1994,355. 220 BGH v. 5. 7.1990 - I I I ZR 217/89, NJW 1991, 33 (36). 221 Vgl. auch Ronellenfitsch, Der Verkehrssektor als Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge in Deutschland, in: Hrbeck / Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 89 ff. 222 In diesem Sinn Michael Ronellenfitsch, Mobilität: Vom Grundbedürfnis zum Grundrecht?, DAR 1992, 321 ff.; ders., Die Verkehrsmobilität als grundund Menschenrecht, JöR n.F. 44 (1996), 168 ff.

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Die Mobilität ist zumindest tatsächliche Voraussetzung der Grundrechtsentfaltung. Bei etlichen Grundrechten, namentlich den Freizügigkeitsrechten, fällt die Mobilität in den Schutzbereich der jeweiligen Bestimmung. Bestimmte Formen der Mobilität sind damit noch nicht gewährleistet. Bejaht man jedoch zutreffend ein Grundrecht, Auto zu fahren 223 (weil die Wahl des Verkehrsmittels eine unverzichtbare Freiheitsposition darstellt), dann muss auch die Mobilität derjenigen sichergestellt sein, denen die Teilhabe am Individualverkehr versagt ist oder die sie ablehnen 2 2 4 . Der Personenfernverkehr der Eisenbahnen 225 , der SPNV und Ö P N V ist für die Verwirklichung des Mobilitätsgrundrechts bzw. der Mobilitätsgrundrechte unverzichtbar. Wird - was unter bestimmten Umständen möglich ist - , das Grundrecht auf Mobilität mit dem (eigenen) Auto eingeschränkt, kommt es darauf an, ob eine akzeptable Alternative zum individuellen Autoverkehr besteht 226 . Mit der staatlichen Gewährleistung des Eisenbahnpersonenverkehrs, des Ö P N V und des Taxiverkehrs bestätigte der Gesetzgeber einen im Sozial- und Rechtsstaatsprinzip und der Grundrechteordnung implizit enthaltenen Verfassungsauftrag.

3. Rundfunk Der öffentlich-rechtliche Rundfunk stand bis zur Kirch-Krise lange Zeit in der Kritik (sinkende Zuschauerzahlen, Boulevard223

Ronellenfitsch, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Betrachtungen zur Mobilität mit dem Auto, 1994, S. 46. Das Grundrecht impliziert die Freiheitsposition, nicht auf das Auto angewiesen zu sein. 22 < Zum Semesterticket OVG SchlH v. 24. 9. 1997 - 3 G 123/56, SchlHA 1998, 56. 22 5 BGH v. 21. 11. 1996-VZB 19/96, NJW 1997, 744; vgl. aber auch OLG Frankfurt v. 17. 9. 1996 - 20 W 374/93. Vgl. auch Ronellenfitsch, Privatisierung und Regulierung des Eisenbahnwesens, DÖV 1996,1028 ff. (1032). 226 Ebd., S. 47. Zum ÖPNV, Ronellenfitsch, Kommunale Daseinsvorsorge und EG-Recht, WBV (Hrg.), EU und ÖPNV - Staatswirtschaft contra Private - Konzerne contra Mittelstand, Schriftenreihe Heft 22, Teil I, 2001, S. 51 ff.; ders., Le contôle de la concurrence dans le domaine des transports en commun interurbains conduira à un nouveau règlement, Conseil d'état (Hrsg.), Rapport public 2002, S. 439 ff.

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visierung, Angleichung der öffentlich-rechtlichen Programme an private Konkurrenz, Kauf von teuren Sportrechten, Fehlbeträge trotz steigender Gebühren, digitales Programm-Bouquet, OnlineAuftritte). Überlegungen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vollständig zu privatisieren und auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen, so wie sie auch in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge (Telekommunikation, Post, Strom, Wasser) bereits erfolgt sind 2 2 7 , werden nicht mehr so lautstark vertreten. Daseinsvorsorge bedeutet im Rundfunk Grundversorgung 228 . Wie bei der Daseinsvorsorge ist die Beschränkung auf existenznotwendige Leistungen im Lauf der Zeit entfallen. Aus der Grundversorgung im Sinne einer Minimalgarantie wurde der Funktionsauftrag des Rundfunks, dem sowohl der Anstaltsrundfunk wie auch in geringerem Ausmaß die privaten Rundfunkveranstalter unterworfen sind. Es sollte sich jedoch von selbst verstehen, dass für den privaten Rundfunk die Rundfunkfreiheit in erster Linie im Sinn eines klassischen Freiheitsrechts garantiert ist. Die Parallele zur Programmfreiheit beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk verleitet daher zu Missverständnissen. Eine Freiheit von unmittelbarer Einflussnahme Dritter kann es beim Privatrundfunk an sich nicht geben, da theoretisch alle Dritte sich Zugang zum privaten Rundfunk verschaffen, d. h. eigene Rundfunksender gründen können. Die Außenpluralität stößt allerdings faktisch an Kapazitäts- und finanzielle Grenzen. Daher glaubt man, Kriterien des öffentlichrechtlichen Rundfunks auf den privaten Rundfunk übertragen zu sollen. Wichtiger wäre die Gewährleistung des Tendenz schütz e s, weil der private Rundfunk eher mit der Presse als mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vergleichbar ist. Die Ausgestaltung des privaten Rundfunks wird rechtlich durch Zirkelschlüsse erzwungen. Im Interesse der Meinungsvielfalt muss auch der private Rundfunk sich auf binnenpluralistische Strukturen hin festlegen 227 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, in Gutachten über eine „Offene Medienordnung" vom 15./16. Oktober 1999 www.welt.de/medien/dokumentation (18. 11. 1999). 228 So zutreffend Herrmann, Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 322, 332 f., 346, 378, der den Begriff der Grundversorgung in die rechtswissenschaftliche Diskussion einführte.

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lassen, obwohl sich gerade hier durch Außenpluralismus am ehesten die Meinungsvielfalt herstellen ließe. Hat man sich aber einmal für Binnenpluralismus entschieden, werden auch im Privatfunk Betätigungsrechte der „relevanten Gruppen" sogar aus der Verfassung abgeleitet. Unter dem Schlagwort der „Gewährleistung gleichgewichtiger Vielfalt" schleichen sich dann anachronistische zünftische oder syndikalistische Vorstellungen ein. Aus dem Bekenntnis zum Außenpluralismus folgt demgegenüber, dass auch private Rundfunkanbieter (in der Summe) zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen. Auch private Rundfunkanbieter können ferner öffentliche Aufgaben erfüllen. Geschieht das, werden etwa den politischen Parteien Werbezeiten eingeräumt, dann (und nur dann) sind öffentlich-rechtliche Bindungen zu beachten 229 .

4. Telekommunikation Das Post- und Fernmeldewesen galt schon immer als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Es ist damit eine öffentliche Aufgabe des Staates. Daran hat sich durch die jüngeren Entwicklungen auf dem Telekommunikationssektor nichts geändert 230 . Die Ermöglichung der Telekommunikation entspricht nicht nur einem Grundbedürfnis des modernen Menschen, sondern ist Voraussetzung für den Gebrauch der Kommunikationsgrundrechte. Das schließt eine Privatisierung der Telekommunikationsdienstleistungen nicht aus. 1984 beschloss die EU- Kommission ein Aktionsprogramm zur Entwicklung eines gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen 231 , das in der Folgezeit fortgeschrieben 229 OLG Köln U v. 27. 8. 1993-2 U 122/93 - , NJW 1994, 56. 230 Zur Daseinsvorsorgeaufgabe der Post BGH v. 26. 3. 1997 - I I I ZR 307/ 95, NJW 1997, 1985; OLG Düsseldorf v. 8. 6. 1993 - 10 W 37-42/93, DNotZ 1993,167; BayObLG v. 5. 11. 1992 - 3Z BR 136/92, ArchivPT 1993, 82. 231 Vgl. Amory, Telecommunications in the European Communities, EuZW 1992, 75 ff.; Mark Thatcher ; The Europeanisation of regulation: the case of telecommunications, San Domenico 1999.

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w u r d e 2 3 2 u n d auf dem Telekommunikationssektor i n ein umfassendes Regelwerk mündete. I m Großen u n d Ganzen w u r d e dadurch die Freigabe des Wettbewerbes i m Endgerätebereich u n d die A u f h e b u n g der N e t z - u n d Telefondienstmonopole erreicht. Jedenfalls i n Deutschland ist die P o s t r e f o r m 2 3 3 w e i t vorangeschritten. D i e Postreform I v o n 1989 bewirkte die Trennung des Post- u n d Telekommunikationsbereichs. D u r c h das Poststrukt u r G v o m 8. 6. 1989 ( B G B l . I S. 1026) wurde das M o n o p o l u n t e r nehmen Deutsche Bundespost i n die drei öffentlichen Unternehmen Deutsche Bundespost P O S T D I E N S T , Deutsche Bundespost T E L E K O M u n d Deutsche Bundespost P O S T B A N K untergliedert. D i e Privatisierung der Postreform I I erforderte eine Verfassungsänderung. N a c h dem neuen A r t . 87 f. G G 2 3 4 werden Dienstleistungen i m Bereich des Postwesen u n d der T e l e k o m m u n i k a t i o n

232

Grünbuch über die Entwicklung des gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsleistungen und Telekommunikationsgeräte v. 30. 7. 1987 (Kom[87], 290 end.). 233 Basedow, Europarechtliche Grenzen des Postmonopols, EuZW 1994, 359 ff.; Benz, Privatisierung und Regulierung im Post- und Fernmeldewesen, in: König/Benz (Hrsg.), Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 262 ff.; Büchner, Liberalisierung und Regulierung im Post- und Telekommunikationssektor, CR 1996, 581 ff.; ders. (Hrsg.), Post und Telekommunikation: eine Bilanz nach zehn Jahren Reform, 1999; Fehling, Mitbenutzungsrechte Dritter bei Schienenwegen, Energieversorgungs- und Telekommunikationsleistungen vor dem Hintergrund staatlicher Infrastrukturverantwortung, AöR 121 (1996), S. 59 ff.; Haar, Offener Netzzugang in der Telekommunikation, Kartell- und regulierungsrechtliche Problemlösungen, CR 1996, 713 ff.; Königshofen, Private Netze aus fernmelderechtlicher Sicht, ArchivPT 1994, 39 ff.; Neu, Marktöffnung im nationalen und internationalen Postwesen, 1999; Ossenbühl, Bestand und Erweiterung des Wirkungskreises der Deutschen Bundespost, 1980; Rottmann, Zu den verfassungsrechtlichen Aspekten der Postreform II, ArchivPT 1994, S. 193 ff.; Schatzschneider, Privatisierung des Fernmeldehoheitsrechts?, 1988; Scherer, Postreform II: Privatisierung ohne Liberalisierung, CR 1994, 418 ff.; Scholz /Aulehner, „Postreform II* und Verfassung - Zu Möglichkeiten und Grenzen einer materiellen oder formellen Privatisierung der Post, ArchivPT 1993, 221 ff.; Stern, Postreform zwischen Privatisierung und Infrastrukturgewährleistung, DVBl. 1997, 309 ff.; Vogelsang, Zur Privatisierung von Telefongesellschaften, 1992; Windisch (Hrsg.), Privatisierung natürlicher Monopole im Bereich von Bahn, Post und Telekommunikation, 1987. 23

< Eingefügt durch Gesetz v. 30. 8. 1994 (BGBl. I S. 2245).

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als privatwirtschaftliche Tätigkeiten erbracht 235 , wobei jedoch den Bund eine Gewährleistungspflicht für eine angemessene und ausreichende flächendeckende Versorgung trifft. Privatwirtschaftliche Tätigkeiten bedeuten Wettbewerb. Wettbewerb ist nur bei natürlichen Monopolen ausgeschlossen, d. h. wenn die im Markt nachgefragte Menge eines Gutes oder einer Dienstleistung nur von einem Monopolanbieter zu den niedrigsten Kosten produziert werden kann 2 3 6 . Wegen seiner Verbundvorteile und Größe wurde der Telekommunikationssektor in der Vergangenheit für ein natürliches Monopol gehalten. Die Entwicklung anderer Märkte ließ aber Zweifel an der Annahme natürlich Monopole aufkommen und führten zu einer Wettbewerbsöffnung auf dem Telekommunikationsmarkt 237 . Da sich aber an den bestehenden Monopolverhältnissen allein im Wettbewerb, gleichsam über Nacht, nichts ändern würde, ging die Liberalisierung mit einer weitgehenden Regulierung einher. Diese erfolgte durch und auf der Grundlage des Telekommunikationsgesetzes (TKG) vom 31. 7. 1996 238 . Die Regulierung ist aber auch und vor allem deshalb erforderlich, weil die Telekommunikation eine Aufgabe der Daseinsvorsorge darstellt, so dass es darauf ankommt, eine „flächendeckend angemessene und ausreichende" Vorsor235 Hierzu OLG Frankfurt v. 23. 9. 1996 - 20 W 65/95. 236 Bohne, Funktionsfähiger Wettbewerb auf den Telekommunikationsmärkten, 1998, S. 23 f. 237 Eifert, Martin, Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat, 1998 = Diss. Hamburg 1998; Ellger/Kluth, Das Wirtschaftsrecht der Internatonalen Telekommunikation in der Bundesrepublik Deutschland, 1992; Elsenbast, Universaldienst unter Wettbewerb: ökonomische Analyse neuer regulierungspolitischer Ansätze zur Sicherung der postalischen Infrastrukturversorgung, 1999; Engel, Der Weg der deutschen Telekommunikation in den Wettbewerb, MMR 3 /1999, Beil. 7; Kerkhoff /Fuhr, Regulierung als Voraussetzung für Wettbewerb in den Telekommunikationsmärkten, MMR 1999, 213 ff.; Klodt/Laaser/Lorz / Maurer, Wettbewerb und Regulierung in der Telekommunikation, 1995; Spindler (Hrsg.), Vertragsrecht der Telekommunikations-Anbieter, 2000; Spoerr/Deutsch, Das Wirtschaftsverwaltungsrecht der Telekommunikation - Regulierung und Lizenzen als neue Schlüsselbegriffe des Verwaltungsrechts?, DVBl. 1997, 300 ff.; We Ifens / Gnaak, Telekommunikationswirtschaft, 1996. 238 BGBl. IS. 1120.

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gung mit Dienstleistungen zu gewährleisten (§ 1 TKG). Wann die Versorgung flächendeckend angemessen und ausreichend ist, lässt sich nur unter Zugrundelegung eines Rechtsbegriffs der Daseinsvorsorge ermitteln, der bereichsspezifisch durch das T K G konkretisiert wird. Die Errichtung öffentlicher Telefonsprechstellen ist mit Blick auf die flächendeckende Versorgung mit Privatanschlüssen nicht mehr der Daseinsvorsorgeaufgabe zurechnen 239 . Generell gilt, dass die Telekommunikationswirtschaft gerne als Paradebeispiel einer Daseinsvorsorge im Wettbewerb angeführt w i r d 2 4 0 . Die Anfangserfolge der Postreform schienen diesen Ansatz zu bestätigen. Zwischenzeitlich liest sich die Entwicklung der Telekommunikationswirtschaft nicht gerade wie eine Erfolgsgeschichte, so dass der verfassungsändernde Gesetzeber gut beraten war, die staatliche Gewährleistungspflicht beizubehalten. ß. Kreditwesen Auch der öffentlich-rechtliche Bankensektor wird durch Daseinsvorsorgeaufgaben legitimiert, die aber kaum dem Privatisierungsdruck Stand halten 241 . Die wenigen originären staatlichen Daseinsvorsorgeaufgaben allein reichen für eine Existenzgarantie der Öffentlichen Banken auch kaum aus, nachdem sich die Sparkassen zunehmend aus der Fläche zurückziehen. 239 VG Kassel v. 27. 2. 1997 - 1 E 2777/94, ArchivPT 1997, 335. 240 Kühlingy Bereiche öffentlicher Daseinsvorsorge in Deutschland: Die Telekommunikationswirtschaft als Paradebeispiel einer Daseinsvorsorge im Wettbewerb, in: Hrbek / Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 138 ff. 241

Vgl. Blaurocky Daseinsvorsorge im Bereich der Bankdienstleistungen, in: Schwarze, Daseinsvorsorge, S. 113 ff.; Schoppmanny Die Position der öffentlichen Banken, ebd., S. 137 ff.; Boosy Die Position der privaten Banken, ebd., S. 157 ff.; HerZy Bereiche öffentlicher Daseinsvorsorge in Deutschland: Finanzinstitutionen, in: Hrbeck / Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 123 ff.; Hednch, Die Privatisierung der Sparkassen: Ein Beitrag zu den institutionellen Problemen der Deregulierung, 1993; Möschel, Privatisierung der Sparkassen, WM 1993, 93 ff.; Sinn y Der Staat im Bankenwesen, 1997. S. auch den Bereicht v. Schöne / Tillmann / Gerhards, Die öffentlichen Banken im Umbruch, DVBl. 2002, 1258 ff.

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Zum Vitalbereich, d. h. in den engeren Bereich der Daseinsvorsorge, gehört heute ein Girokonto. Normalerweise besteht kein Anlass, hier regulierend einzugreifen. So hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen zivilgerichtliche Eilverfahren wegen Kontenkündigungen abgewiesen. Mangels substanziierten Vortrags, dass eine Konteneröffnung bei anderen Banken unmöglich sei, liege kein Verfügungsgrund i.S. von § 940 ZPO v o r 2 4 2 . Bestimmte Personenkreise haben aber keine Chance auf Teilhabe an den Bankgeschäften. So zwangen Medienkampagnen gegen Kreditinstitute, die mit der N P D Geschäftsbeziehungen unterhielten, zur Kündigung von Giroverträgen. Sparkassen, die nach wie vor eine öffentliche Aufgabe erfüllen, ist dieser Weg verwehrt. Dies entschied auch das O L G Dresden mit dem heftig angefeindeten Urteil vom 15. 11. 2001 - 7 U 1956 / 0 1 2 4 3 unter Berufung auf den Daseinsvorsorgeaspekt zu Recht. Die Berufung auf § 242 BGB i.V.m. Art. 21 GG war weniger glücklich, denn auf diese Weise hätte sich eine Bindung auch privater Kreditinstitute begründen lassen. Besser wäre auch mit Blick auf die E U eine Rechtfertigung des deutschen Sparkassenwesens als Daseinsvorsorgeleistung 244 gewesen. Die Tätigkeit von Sparkassen als Universalbanken 245 sprengt freilich den Rahmen der Daseinsvorsorge.

242 Kammerbeschi. v. 21.122. 2. 2001 - 2 BvR 201/00, 2 BvR 193/01,2 BvR 202/01, 2 BvR208/01. 243 NJW 2002, 757. 244 Vgl. BVerfG v. 14. 4. 1987 - 1 BvR 775/84, BVerfGE 75, 192 (199 f.); Kammerbeschi. v. 23. 9. 1994 - 2 BvR 1547/85 - , NVwZ 1995, 370; BVerwG v. 29. 11. 1972 - V I C 19.69, BVerwGE 41, 195 (195 f.); BGH v. 11. 12. 1990 X I ZR 54 / 90, NJW 1991, 978. 245 Habek, Inka, Sparkassen als Universalbanken? Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen allgemeiner Bankgeschäfte im Sparkassenbereich, 2001 = Diss. Hannover 2000.

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6. Kommunale Bildungs-, Sozial-, Gesundheits-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen Ein zentrales Feld der Daseinsvorsorge bilden kommunale Einrichtungen im Interesse der örtlichen Vorsorgung 246 . So betrifft die Errichtung örtlicher Schulen und Kindergärten Vorhaben, die zum Kernbereich gemeindlicher Daseinsvorsorge durch städtebauliche Planung gehören, für die auch eine Enteignung nach § 85 Abs. 1 Nr. 1 BBauG bzw. § 85 Abs. 1 Nr. 1 BauGB in Betracht kommt. Dabei spielt es keine Rolle, von wem die Einrichtung getragen wird. Auch die Enteignung zugunsten einer Freien Waldorfschule begünstigt unmittelbar die planende Kommune, da sie als Ersatzschule den staatlichen Pflichtschulen weitgehend gleichgestellt ist 2 4 7 . Kommerzieller Nachhilfeunterricht kommunaler Volksbildungseinrichtungen stellt dagegen keine Daseinsvorsorge dar 2 4 8 . Zur Daseinsvorsorge zählen wiederum kommunale Krankenhäuser 249 , Sportstätten 250 Schwimmbäder 251 ; Tierkörperbeseitigungsanstalten252, Museen 253 , Grünanlagen 254 , Tiergehege 255 , Volksfeste 256 , Freizeitparks 257 . Bei der Erfüllung des Daseinsvorsorgeauftrags können die Kommunen im Rahmen ihrer Finanz246

Hierzu ausführlich Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000. 247 BVerfG, Kammerbeschi. v. 18. 2. 199 - 1 BvR 1367/88, 146 u. 147/91, NJW 1999, 2659; BGH v. 7. 7. 1988 - I I I ZR 134/87, BGHZ 105, 94. Zur Förderung eines Waldorf-Kindergarten OVGNds v. 12. 1. 1999 - 4 M 1598/98, NVwZ-RR 1999, 383. 248 OLG Düsseldorf v. 10. 10. 1996 - 2 U 65/95, WRP 1997, 42. 249 OVG Lüneburg v. 18. 12. 1996 - 18 L 7469/94, NdsVBl 1997,264. 250 VG Berlin v. 2. 12. 1994 - 30 A 296.93. 251 HessVGH v. 7. 3. 1996 - 14 TG 3976/95, GewArch 1996, 298; OLG Celle v. 4. 1. 1993 - 8 W 427/92, NdsRPfl 1993,132. 252 BGH v. 19. 9. 1996 - I I I ZR 82/95, NJW 1997, 391 (392). 253 VG Berlin v. 18. 2. 1998 - 15 A 541.94. 254 LG Hildesheim v. 1.4. 1993 - 4 Ο 599/92, ZfSch 1993, 293. 255 LG Düsseldorf v. 20. 1. 1993 - 2 Ο 36/92, NJW-RR 1993, 75. 256 VG Ansbach v. 16. 11. 1995 - A N 4 Κ 9500099; 00175, GewArch 1996, 159. 257 Offen gelassen von BVerwG v. 22. 6. 1995 - 7 C 49.93, VIZ 1995, 586.

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kraft flexibel sein. Wird die Daseinsvorsorge mit hoheitlichen Eingriffen verbunden (Anschluss- und Benutzungszwang), stoßen auch Privatisierungsmaßnahmen an ihre Grenzen 258 . V I I . Zusammenfassung und Ausblick 1. Zusammenfassung Die Konzeption Forsthoffs, die Daseinsvorsorge unabhängig von Rechtsform und institutioneller Zuordnung öffentlich-rechtlichen Bindungen zu unterwerfen, ist zeitlos gültig. Forsthoffs Versuch, die Daseinsvorsorge nur auf der Ebene des einfachen Rechts anzusiedeln, wird dagegen nur aus den zeitlichen Bedingungen verständlich, unter denen diese Lehre entstand. Heute ist die Daseinsvorsorge als Kennzeichen von Verfassungsstaatlichkeit im Grundgesetz und im Gemeinschaftsrecht verankert. Von daher gewinnt sie ihre Konturen. Die Daseinsvorsorge ist eine staatliche Aufgabe. Sie ist nicht auf existenznotwendige Leistungen beschränkt. Nicht jede öffentliche Zweckbindung, mit denen die Verwaltung private Leistungen versieht, macht diese Leistungen jedoch zur Daseinsvorsorge 259 . Ausschlaggebend ist, ob schwerpunktmäßig Interessen der Allgemeinheit oder Privatinteressen bei der Aufgabenerfüllung im Vordergrund stehen. Der Kanon der originär staatlichen Aufgaben, die der Daseinsvorsorge ihr Gepräge verleihen, ist offen und hängt von der zivilisatorischen und rechtlichen Entwicklung des jeweiligen staatlich organisierten Gemeinwesens ab. Der Staat kann sich auf eine Gewährleistungsfunktion zurückziehen und die Erfüllung der Daseinsvorsorgeaufgaben dem Wettbewerb überlassen. Der Wettbewerb tritt aber zurück, wenn 258 Krieger.; Schranken der Zulässigkeit der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen der Daseinsvorsorge mit Anschluss- und Benutzungszwang, 1981. 259 Beispiel: Pachtvertrag zur Nutzung einer Gaststätte für Parteiveranstaltungen; vgl. VG Dresden v. 31. 7. 2001 - 13 Κ 1279/98, bestätigt durch BVerwG, Beschluss v. 29. 1. 2002 - Β 3/02; ferner BVerwG v. 15. 12. 1994 BVerwG 7 C 57.93, KPS Art. 21 EV 1 / 94.

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durch ihn eine ausreichende Daseinsvorsorge nicht gewährleistet wird. 2. Ausblick Wie Forsthoff die Fortentwicklung des Rechtsbegriffs der Daseinsvorsorge beurteilt hätte, lässt sich nur vermuten. Seinem Staatsverständnis hätten vermutlich die „wirtschaftlichen Leistungen im öffentlichen Interesse" nicht entsprochen. Die E U befindet sich aber nun auf dem Weg zur Staatlichkeit. Dieser Weg führt über die europäische Daseinsvorsorge. Gerade Forsthoff-Schüler sollten auf ihm voranschreiten. Der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge ist ein dogmatischer Exportartikel 260 und trifft das Gemeinschaftsrecht besser als die service-public-Doktrin 261 . Zumindest das hätte Forsthoff mit Genugtuung erfüllt.

260 Zur Lage in Österreich Raschauer; „Daseinsvorsorge" als Rechtsbegriff?, ÖZW 1980, 72 ff.; Holoubek / Segalle, Daseinsvorsorge in Österreich, in Hrbek / Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 199 ff. 261 Hierzu Pielow, Frankreich - Service Public, in Hrbek / Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 155 ff. Zur Lage in Spanien, Gonzdles-Varas, Die Auffassung der „öffentlichen Dienstleistungen" oder Daseinsvorsorge im spanischen Recht (servicios publicos), in: Hrbek / Nettesheim, Daseinsvorsorge, S. 210 ff.

Schlusswort V o n Willi

Blümel

Vor genau 30 Jahren - am 13. September 1972 - feierten w i r i n der Schlierbacher M ü h l e an der Wolfsbrunnensteige Ernst Forsthoffs

70. Geburtstag 1 . Es w a r ein großes Fest, morgens u n d

abends. Forsthoff

bekam damals - i m Beisein fast der gesamten

Heidelberger Fakultät, sonstiger Kollegen u n d der Beteiligten erneut 2 eine - diesmal v o n Roman Schnur herausgegebene - Festschrift überreicht. 3 1 Würdigungen von Forsthoffs Werk finden sich in zahlreichen Beiträgen aus den 70er und 80er Jahren von Karl Doehring, Hans Schneider; Hans H. Klein, Klaus Vogel, Reinhard Mußgnug, Helmut Quaritsch, Peter Häberle, teilweise zitiert in den vorstehend abgedruckten Referaten von Hans H. Klein (dort Fn. 5 ff.) und Michael Ronellenfitsch (dort Fn. 1 f.). Die Angaben sind zu ergänzen um: Ulrich Scheuner,; Ernst Forsthoff 65 Jahre, DÖV 1967, S. 628 f.; Werner Weber, Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, AöR 97 (1972), S. 20 ff.; Christian Heinze, Ernst Forsthoff 70 Jahre, DÖV 1972, S. 639; Hans H. Klein, Erinnerungen an den Staat (Heute wird Ernst Forsthoff 70 Jahre alt), Die Welt Nr. 213 vom 13. 9. 1972, S. 21; ders., E. Forsthoff gestorben, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 34 vom 25. 8. 1974, S. 4; ders., Zum 10. Todestag von Ernst Forsthoff, DÖV 1984, S. 675 f.; K. Doehring, Ernst Forsthoff , AöR 99 (1974), S. 650 ff.; Hans Schneider, Mit Mut und Liebe zur Rechtswissenschaft (Zum Tode von Ernst Forsthoff), Rhein-Neckar-Zeitung Nr. 187 vom 15. 8. 1974, S. 5 (vgl. unten im Text m. Fn. 19). Die Aufsätze von Peter Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung? (Zum wissenschaftlichen Werk von Ernst Forsthoff), JZ 1975, S. 685 ff., und derselbe, Zum Staatsdenken Ernst Forsthoffs, ZSR N.F. 95 (1976), S. 477 ff. sind jetzt auch abgedruckt in: Peter Häberle, Kleine Schriften: Beiträge zur Staatsrechtslehre und Verfassungskultur, hrsg. von Wolf gang Graf Vitzthum, 2002, S. 3 ff., 169 ff. 2

Zuvor waren 1967 erschienen: die von sechs der sieben habilitierten Schüler (neben Karl Doehring: Wilhelm G. Grewe, Roman Schnur,; Prodomos Dagtoglou, Hans H. Klein, Willi Blümel!) - Karl Zeidler war verstorben - verfaßte und mit einer Bibliographie versehene, von Karl Doehring herausgegebene 8*

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1972 war für Forsthoff ein fruchtbares Jahr, das letzte vor seinem Tod am 13. August 1974. Aber auch für das vorausgegangene Jahr 1971 sah Forsthoff im Rückblick keinen Grund zur Unzufriedenheit.4 Wie sollte er auch: war doch in diesem Jahr seine berühmte Schrift „Der Staat der Industriegesellschaft" erschienen, und zwar in 2 Auflagen von jeweils 5000 Exemplaren. 5 Forsthoff hat diesen Erfolg sichtlich genossen.6 Im M ä r z / A p r i l 1972 unternahm Forsthoff eine ausgedehnte Südafrika-Reise, um sich einen langgehegten Wunsch zu erfüllen. Es folgte am 6. Mai die Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises für Wissenschaft der Deutschland-Stiftung in Saarbrücken. 7 Kurz nach seinem 70. Geburtstag nahm Forsthoff vom 19.-22. September an dem vom Osterreichischen Rundfunk veranstalteten 6. Salzburger Humanismusgespräch teil und hielt den Vortrag über „Technische Realisation und politische Ordnung". 8 Anfang Oktober (4.-7.) trafen wir uns alle auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Salzburg. Da 1972 erstmals seit vielen Jahren ein Ebracher Seminar nicht mehr zustandekam, fand Forsthoff nach einer Pause von zehn Jahren die Zeit, wieder an einer Staatsrechtslehrertagung - allerdings zum letzten Mal - teilzunehmen.

Festgabe für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, sowie: Säkularisation und Utopie. Eberacher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. 3 Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, 1972, 2. Aufl. 1974. Zu dieser Festschrift haben Hans H. Klein und der Verf. u. a. die seit 1967 (vgl. Fn. 2) fortgeschriebene Bibliographie Ernst Forsthoff beigesteuert (S. 495 ff.), mit Ergänzungen durch den damaligen cand. iur. Ulrich Storost, heute Richter am Bundesverwaltungsgericht. 4 Brief von Forsthoff an Carl Schmitt vom 29. 12. 1971. 5 Vgl. Blümel / Klein, Bibliographie Ernst Forsthoff (Fn. 3), Nr. 56; Rezensionen: ebenda, Nr. 410 ff. 6 Brief von Forsthoff an Carl Schmitt vom November 1971. 7 Zur Laudatio von Michel Fromont und der Dankrede von Forsthoff vgl. Blümel / Klein, Bibliographie Ernst Forsthoff (Fn. 3), Nr. 198,275. 8 In: Auf dem Weg zur hörigen Gesellschaft?, Verlag Styria, Graz 1972, S. 183/198. Der Vortrag liegt auch zugrunde: Forsthoff Neue Konflikte rufen nach dem Staat (Die Aushöhlung der politischen Ordnung durch die technische Realisation), Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 251 vom 28. 10. 1972, S. 11/12.

Schlusswort

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In der Mitgliederversammlung wurden ihm - wovon auch Peter Häberle berichtete 9 - vom Vorsitzenden Konrad Hesse die Geburtstagsglückwünsche der Vereinigung übermittelt. Auch auf der 32. Tagung des Arbeitskreises „Eisenbahnrecht" der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn am 27. / 28. Oktober 1972 in Augsburg erschien Forsthoff zum letzten Mal. Dem Arbeitskreis gehörte Forsthoff seit dessen Gründung im Jahre 1953 an. 10 Seit dem Dezember 1972 beeinträchtigten viele Krankheiten seine Schaffenskraft erheblich. Dies wirkte sich auch und vor allem auf die Vorbereitung der 10. Auflage seines berühmten Lehrbuchs des Verwaltungsrechts 11 aus, mit der Forsthoff im Frühsommer 1972 begonnen hatte. Er unterzog sich diesem mühevollen Unterfangen in dem Bewußtsein, dass das Verwaltungsrecht „sozusagen der Sockel ist, auf dem sein wissenschaftliches Ansehen" beruht. 12 Allerdings sollte es nach eigenem Bekunden 13 die letzte Auflage sein, die er selbst bearbeite. Anschließend wollte er sich wieder staatstheoretischen Studien zuwenden. Damit war auch die Idee eines 2. Teils des Lehrbuchs endgültig begraben. Im Vorwort zur 6. Auflage 1956 hatte Forsthoff noch versprochen, dass er sich bemühen werde, den zweiten Band seines Verwaltungsrechts so bald wie möglich folgen zu lassen.14 Von der eigenwilligen Konzeption des Beson-

9 Häberle (Fn. 1), JZ 1975, S. 686 (Fn. 6) = Kleine Schriften (Fn. 1), S. 4. 10 Auf der 36. Tagung des Arbeitskreises „Eisenbahnrecht" am 25./26. 10. 1974 in Braunschweig gedachte Abteilungsleiter Gröben des Verstorbenen; vgl. S. 1 der Niederschrift. 11 Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd.: Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973. Zum Lehrbuch vgl. von den Nachweisen oben in Fn. 1 vor allem Häberle, JZ 1975, S. 686, 688 f. = Kleine Schriften (Fn. 1), S. 4 ff., 11 ff.); ferner die Rezension (zur 10. Auflage) von Hans-Joachim. Becker.; FamRZ 1974, S. 668 f. Rezensionen der früheren Auflagen sind bei Blümel/ Klein, Bibliographie Ernst Forsthoff (Fn. 3), Nr. 388 ff. nachgewiesen. 12

Brief von Forsthoff an Carl Schmitt vom 9. 7. 1972. Brief von Forsthoff an Carl Schmitt vom 3. 9. 1972. 14 Bei der Vorbereitung sollte ihm H. H. Klein (ab 1963) und der Verf. (ab 1957) behilflich sein. Anläßlich des 50. Geburtstages schrieb Forsthoff an Carl Schmitt (Brief vom 26. 9. 1952), dass er in das neue Lebensjahrzehnt eingetre13

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deren Verwaltungsrechts zeugen einige Fragmente, die in Maschinenschrift vorliegen (Die Person im Verwaltungsrecht: Vorbemerkung; 1. Das öffentliche Namensrecht; 2. Das Personenstandsrecht; 3. Der Wohnsitz). Da die 9. Auflage des Lehrbuchs bereits 1966 erschienen war, bestand damals viel Nachholbedarf. Vor allem mußten die Nachweise von Literatur und Rechtsprechung auf den neuesten Stand gebracht werden, ein zeitraubendes Geschäft. 15 Außerdem wurde ein neues Kapitel „Plan und Planung" hinzugefügt. 16 Forsthoffs Vorhaben, die Vorbereitung der 10. Auflage bis Ende Februar 1973 abzuschließen, gelang wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht. Erst im August 1973 waren die Arbeiten abgeschlossen. Die neue Auflage des Lehrbuchs erschien im November 1973.17 Bis Ende März 1974 waren bereits 3000 Exemplare verkauft. 18 Mit seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts nahm Forsthoff wie Hans Schneider 19 schon vor 30 Jahren feststellte - seit 1950 mit einem Schlag den ersten Rang in der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft ein. Er sollte ihn bis weit in die siebziger Jahre hinein behalten. Für Rechtsprechung und Verwaltungspraxis der damaligen Zeit war das Lehrbuch das grundlegende Werk. Seine Wirkungen reichten über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus 20 bis nach dem Fernen Osten. Wir freuen uns deshalb sehr, ten sei „mit dem noch nicht eingelösten Versprechen der Vollendung dieses Werkes". 15 Brief von Forsthoff an Carl Schmitt vom 9. 7. 1972. 16 Vgl. § 16 des Lehrbuchs (S. 302/313). 17 Nach dem Vorwort zur 10. Auflage (S. V) ist das „Buch in allen Teilen überarbeitet und auf den Stand vom Jahresende 1972 gebracht". Dazu kritisch Häberle (Fn. 1), JZ 1975, 688 (m. Fn. 68) = Kleine Schriften (Fn. 1), S. 13. 18 Brief von Forsthoff an Carl Schmitt vom 22. 4. 1974. 19 Vgl. H Schneider, Ernst Forsthoff: 70 Jahre, NJW 1972, S. 1654; ders., Ernst Forsthoff, DÖV 1974, S. 596 f. (596); ders., Mit Mut und Liebe zur Rechtswissenschaft (Zum Tode von Ernst Forsthoff), Rhein-Neckar-Zeitung Nr. 187 vom 15. 8. 1974, S. 5. 20 Zu den Ubersetzungen seiner Arbeiten vgl. Blümel/Klein, Ernst Forsthoff (Fn. 3), Nr. 247 ff.

Bibliographie

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dass die Kollegen Takada 2X und Narita 22 eigens zu dieser Geburtstagsfeier aus Japan angereist sind. - Heute gehört das Lehrbuch des Verwaltungsrechts zu den Klassikern, auf dem andere aufbauen konnten. Forsthoff hatte ein Gespür für neue Entwicklungen. 23 Er sah viele Themen - auch von Staatsrechtslehrertagungen 24 - voraus. Dürig 25 schrieb von den „einmalig scharfen juristischen ,Röntgenaugen'" Forsthoffs. Häberle 26 allerdings meinte einen Unterschied ausmachen zu können zwischen Forsthoffs Arbeit in der Verwaltungsrechtslehre einerseits und im Bereich der Verfassungsrechtsdogmatik andererseits: „so bewahrend, konservierend, skeptisch, ja resignierend, den - positiven - Entwicklungen gegenüber oft über die Maßen verschlossen und gelegentlich auch mit Aversionen, ja vielleicht auch Ressentiments er im Bereich der Verfass^wgsrechtsdogmatik dachte und schrieb . . . 2 7 , so wirklichkeitsnah, realistisch', entwicklungsoffen, feinfühlig im Gespür für ,Trends', elastisch und ,kreativ', ja ,innovationsfreudig' arbeitete er im Verwaltungsrecht, wo er,soziologische Analyse und juristische Dogmatik' zu verknüpfen wußte" (unter Berufung auf Badura zur,Daseinsvorsorge' 28 , von der heute schon die Rede war) 2 9 . 21 Prof. Dr. iur. Bin Takada arbeitete 1964/66 bei Forsthoff m Heidelberg. Er ist Professor an der Universität Osaka (Emeritus) und o. Professor an der Internationalen Universität Osaka. Von ihm stammt der Forsthoff - nachträglich zum 65. Geburtstag - gewidmete Aufsatz „Forsthoffsche Lehre von der ,Umverteilung'", in: Jurist Heft 394, 1. April 1968. Außerdem verfaßte er zusammen mit Tsumotsu Muroi ebenfalls 1964/65 bei Forsthoff - den Beitrag „In Memoriam: Dr. Ernst Forsthoff", in: Public Law Review, Nr. 37, Oktober 1975, S. 208 ff. 22 Prof. Dr. iur. Yoriaki Narita arbeitete ebenfalls in Heidelberg. Er ist emeritierter Professor an der Universität Yokohama und derzeit Präsident des Japanischen Energierechtsinstituts (Japan Energy Law Institute) in Tokyo. 23 Vgl. dazu auch Häberle (Fn. 1), ZSR N.F. 95 (1976), S. 488 f. = Kleine Schriften (Fn. 1), S. 179. 24

Brief von Forsthoff an Carl Schmitt vom 24. 7. 1966. Vgl. G. Dürig, in: Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 (1973), Rdnr. 300. Vgl. Häberle (Fn. 1), JZ 1975, S. 686 = Kleine Schriften (Fn. 1), S. 5. 2 7 Vgl. aber Häberle (Fn. 1), JZ 1975, S. 687 (m. Fn. 39 ff.) = Kleine Schriften (Fn. 1), S. 9 f. 25

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Viele von Ihnen werden sich noch an Forsthoffs Wirken als Präsident des Verfassungsgerichtshofs der neuen Republik Zypern von 1960 bis 1963 erinnern. 30 Das gilt vor allem für diejenigen, die - wie Frau Gisela Lehmann, Herr Christian Heinze und der leider allzu früh verstorbene Edgar Kuli, aber auch meine Frau und ich - dabei waren und das Unterfangen als große Herausforderung empfanden. Nach der langen Krankheit seiner Frau und ihrem allzu frühen Tod Ende Februar 1960, aber auch nach den vielen Angriffen gegen Forsthoff gab ihm die Berufung nach Zypern, über die er verständlicherweise große Genugtuung empfand, zunächst die Gelegenheit, sich für einige Zeit aus Deutschland zurückzuziehen. 31 Uber die Tätigkeit des Verfassungsgerichtshofs, der auch als einziges, erst- und zugleich letztinstanzliches Verwaltungsgericht zuständig war, habe ich nach meiner Rückkehr aus Zypern 1961 in Heidelberg auf dem vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht veranstalteten Heidelberger Kolloquium über Verfassungsgerichtsbarkeit ausführlich berichtet. 32 Die weitere Entwicklung ist bekannt. Nachdem Staatspräsident Erzbischof Makarios sich weigerte, ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs zugunsten der türkischen Minderheit zu respektieren, trat Forsthoff im Mai 1963 zurück. Heute kann man nur hoffen, dass die spätere Teilung der Insel Zypern in absehbarer Zeit überwunden wird. Der damalige türkisch-zyprio28 Vgl. P. Badura, Die Daseinsvorsorge als Verwaltungszweck der Leistungsverwaltung und der soziale Rechtsstaat, DÖV 1966, S. 624 ff. (626). 29 Vgl. dazu das oben abgedruckte Referat von M. Ronellenfitsch. 30 Vgl. dazu auch die Nachweise oben in Fn. 1 31 Vgl. dazu auch K. Doehring» Ernst Forsthoff, in: Juristen im Portrait. Verlag und Autoren in 4 Jahrzehnten. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, 1988, S. 341 ff. (346); ferner den Briefwechsel Carl Schmitt - Ernst Forsthoff aus jener Zeit (dazu unten im Text). 32 Vgl. W. Blümel, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Republik Zypern, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart (Länderberichte und Rechtsvergleichung), Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 36, 1962, S. 643/726; ders., Constitutional Jurisdiction in the Republic of Cyprus, in an abridged translation by Dr. Edgar Kull, 1963 (hektographiert).

Schlusswort

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tische Richter am Verfassungsgerichtshof Munir 33 rief mich dieser Tage aus Zypern an und bat mich, Sie alle und besonders die Familie Forsthoff - bei der leider die Anfang des Jahres verstorbene Tochter Susanne fehlt - bei dieser Geburtstagsfeier zu grüßen. In den letzten Monaten habe ich mich aus vielerlei Gründen, nicht nur bei der Vorbereitung dieses Kolloquiums, eingehend mit Ernst Forsthoff beschäftigt. Dass dabei die Zeit der eigenen Begegnungen, der Mitarbeit und der Zusammenarbeit - von 1952 bis 1974 - im Vordergrund stand, lässt sich nicht leugnen. Dabei stellte ich mir aber auch immer wieder die Frage, was bleibt. So fragten wir schon 1974 nach seinem Tode, und so fragen wir auch heute an seinem 100. Geburtstag. Die Antwort: es bleibt für uns, die wir ihn kannten und erlebt haben, dem viele von uns viel - manche ihre Karriere - zu verdanken haben, es bleibt für uns die Erinnerung an einen verehrenswürdigen Menschen ebenso wie das Andenken an einen großen deutschen Juristen des 20. Jahrhunderts. Es wird Sie interessieren, dass die Referate dieses wissenschaftlichen Kolloquiums in einem - von mir herauszugebenden - Sammelband veröffentlicht werden. Herr Prof. Dr. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot - der mit seinem Sohn Dr. Florian Simon unter uns weilt - hat sich dankenswerter Weise bereit erklärt, den Kolloquiumsband in seine renommierte Reihe „Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte" aufzunehmen. Damit ehrt der Verlag zugleich einen seiner Autoren, der z. B. dort seit 1968 bis zu seinem Tod 1974 die Zeitschrift „Die Verwaltung" sowie 1959 und 1968 die Festschriften für Carl Schmitt zum 70. und zum 80. Geburtstag mit herausgegeben hat. Die Beziehungen zwischen Ernst Forsthoff und Carl Schmitt werden wohl transparenter, wenn im nächsten Jahr der am Lehrstuhl von Herrn Kollegen Mußgnug von Frau Dr. Reinthal mit großem Einsatz bearbeitete „Briefwechsel Carl Schmitt - Ernst 33

Über die beiden Richter neben Forsthoff vgl. Blümel (Fn. 32), S. 657 f.

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W i l l i Blümel

Forsthoff 1926-1974" im Akadamie-Verlag von Herrn Dr. Gerd Giesler erscheinen wird. (An dieser Stelle bedankte sich Dr. Martin Forsthoff für die Ehrung seines Vaters.)

im Namen der Familie

Ich beschließe das Kolloquium aus Anlaß des 100. Geburtstags von Ernst Forsthoff und lade Sie alle - zugleich im Namen von Herrn Doehring und Herrn Klein - zu dem anschließenden Empfang in der unteren Etage ein. Für diejenigen, die noch Zeit für einen weiteren Gedankenaustausch haben, sind anschließend Tische im Historischen Restaurant „Güldenes Schaf", Hauptstraße 115, reserviert.