Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit: Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte 1946-1974 9783666557101, 3525557108, 9783525557105

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Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit: Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte 1946-1974
 9783666557101, 3525557108, 9783525557105

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ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN • BAND 10

ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte von Georg Kretschmar und Klaus Scholder

REIHE B: D A R S T E L L U N G E N

Band 10

Joachim Beckmann Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1981

Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte

1946-1974 von Joachim Beckmann

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRECHT • 1981

Redaktionelle Betreuung dieses Bandes: C a r s t e n Nicolaisen

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der Deutschen

Bibliothek

Beckmann, Joachim: Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit: Beitr. zur kirchl. Zeitgeschichte 1946-1974 / von Joachim Beckmann. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1981. (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darst.; Bd. 10) ISBN 3-525-55710-8 N E : Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte / B

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. - Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Inhaltsverzeichnis Geleitwort

VII

Vorwort

IX

Abkürzungen

XI

Bericht auf der Rheinischen Provinzialsynode am 16. September 1946

1

Bericht auf der Rheinischen Provinzialsynode am 8. November 1948 •

34

Zum Verständnis der Barmer Theologischen Erklärung (1947)

. .

64

Das Wort des Bruderrates der Ev. Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes vom 8. August 1947 (1948 . . . .

73

Evangelische Verantwortung für die Zukunft des deutschen Volkes (1950)

91

Neuordnung der Ev. Kirche der Union. Antwort an ihre Kritiker (1951)

99

Was sagt die Kirche zum Recht auf Heimat ? (1961)

115

Die Bibel und das Vaterland. Gespräch mit den SPIEGEL-RedakteurenW. Harenberg und F. Kassebeer (1962)

120

Wiedervereinigung der Kirchen? (1962)

133

Können der Lutherische und der Heidelberger Katechismus unverkürzt nebeneinander in Geltung stehen? (1962)

160

Theologische Probleme der Strafrechtsreform (1963)

171

Geburtenregelung als ethisches Problem (1963)

187

Recht und Grenze sozialethischer Stellungnahmen der Kirche (1964)

207

Reichtum ist für die Kirche eine große Gefahr. Gespräch mit den SPIEGEL-Redakteuren W. Harenberg und G. Brüggemann (1964)

218

VI

Inhaltsverzeichnis

Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft (1964) . . . .

227

Die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihre Probleme (1965)

237

Probleme und Aufgaben der Kirche in der Gesellschaft der wissenschaftlichen Zivilisation (1965)

254

Fragen der modernen Welt an die Kirche (1966)

269

Die Aufgabe der Christenheit an Israel heute (1966)

284

Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert (1967) .

299

Die Kirche und die Massenmedien (1967)

323

Theologische Besinnung über die Leitung der Kirche (1968) . . . .

330

Menschliche Zukunftsplanung und christliche Zukunftshoffnung (1970)

337

Hoffnung für die Kirche (1972)

363

Freiheit und Bindung der kirchlichen Amtsträger im Blick auf die politische Betätigung (1974)

388

Index

408

Geleitwort Joachim Beckmann zum achtzigsten Geburtstag Eine der bestbesuchten Vorlesungen in der Kirchlichen Hochschule Wuppertal hält zur Zeit der fast 80jährige Professor D. Dr. Joachim Beckmann. Thema: Der Kirchenkampf. Er referiert, berichtet, erzählt, wertet. Die Fülle des Stoffes steht ihm, der ein begnadetes Gedächtnis hat, mühelos zur Verfügung. Er war von Anfang an dabei, als Handelnder, als Leidender. Dann hat er lange Jahre das Erbe mitverwaltet. 1933, kaum war das „Dritte Reich" vier Wochen alt (so pflegt er zu sagen), kam Joachim Beckmann als Pastor der Lutherkirchengemeinde Düsseldorf in das Rheinland. Vorher war er Pfarrer für Innere Mission in Nassau, dann Pfarrer der Frauenhilfe in Westfalen. Schon bald wurde deutlich, wer da in das Rheinland gekommen war. Im Februar 1934 wählte die erste Bekenntnissynode des Rheinlandes den 32jährigen Pfarrer in den Rat. Er ist ununterbrochen in der Leitung unserer Kirche tätig gewesen bis zu seinem Ruhestand: Seit 1945 als Vorsitzender der Vorläufigen Leitung, seit 1952 als theologischer Dirigent und von 1957 bis 1971 als Praeses. In allen Aufgaben ist er unter uns als der Theologe, als Verkündiger der frohmachenden Botschaft von Jesus Christus, auch als Anreger und Seelsorger, der die Brüder beieinander hielt, ausgewiesen. Im Ruhestand blieb er der väterliche Freund und Berater. Lange Jahre war er Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche der Union und des Reichsbruderrates; er war Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und auch in der weltweiten Kirche, der Ökumene, sind seine Spuren zu finden. Wir im Rheinland danken ihm vor allem: Er ist der Hauptverfasser der rheinischen Kirchenordnung von 1952. Hier hat er die presbyterial-synodale Tradition unserer Gemeinden mit den Erfahrungen der Bekennenden Kirche zusammengebunden. So ist unter uns lebendig geblieben, daß Kirche von den Gemeinden her lebt. Er ist der „Vater" der Agende der Evangelischen Kirche der Union. Ihm stand vor Augen, welche Bedeutung die Ordnung des Gottesdienstes, die Liturgie, für das Leben der Gemeinde hat. In Zeiten geistlicher

VIII

Geleitwort

Dürre, wenn Prediger das Wort oft müde, unsicher und ohne Kraft verkündigen, hat sich die Sehnsucht und die Hoffnung der Gemeinde an den Aussagen liturgischer Texte, an den Liedern des Gesangbuches aufgerichtet. Er war und blieb in der Kirchenleitung der Theologe. Das wurde sichtbar nicht nur auf der Kanzel, nicht nur in den Vorträgen, sondern vor allem in der leichten Hand, mit der er Leitung freundlich und fest ausübte. So wurde das Evangelium, das aufdeckt, aufrichtet und überwindet, im Handeln der Kirchenleitung lebendig. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat viel Grund, Gott dafür zu danken, daß Er uns diesen Bruder und Lehrer so viele Jahre gegeben hat. Zum 18. Juli 1981 Lic. Karl Immer

Gerhard Brandt

Praeses von 1971-1981

Praeses seit 1981

Vorwort Will man den Weg der evangelischen Christenheit in unserem Lande in diesem Jahrhundert beschreiben, kann man über eine Bibliothek von Büchern, Akten, Erklärungen, Vorträgen und Biographien verfügen. Hinzu kommen das jeweilige Echo in der Presse, Stellungnahmen mannigfachster Art bis hin zu Regierungserklärungen. Kirchen- und säkulare Zeitgeschichte sind verzahnt vom Gleichklang bis zur Konfrontation. Es gab Brüche in der Geschichte, auch in der wissenschaftlichen Theologie. Sie waren begleitet von einem Wandel der Gestalt der Frömmigkeit in den Gemeinden, auch von der Eroberung neuer Horizonte und ausgreifender Weite im Dienst. Angesichts der verwirrenden Fülle muß man bei dem Versuch eines Uberblicks fragen, ob und wie das heilige Continuum der Kirche Jesu Christi ausgehalten worden ist, das Zeugnis von den großen Taten Gottes und der Haushalterschaft über Seinen Geheimnissen in der Bezeugung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente. Bei wenigen ist man mit dieser Frage so unzweideutig an der richtigen Adresse wie bei Joachim Beckmann. Er ist ausgewiesen in gelehrter theologischer Arbeit wie in der Sorgfalt des Leitens in bischöflichen Verantwortungen. Man muß hinzufügen, die Begegnung mit ihm macht reich durch die Lauterkeit seines Charakters und die klare Entscheidungskraft. Er verbindet Bescheidenheit mit souveränen Tüchtigkeiten. Man kann etwa in konkreten Fragen politischer Ethik mit ihm zweierlei Meinung sein. Niemals stört dies auch nur leicht die Wärme der persönlichen Nähe. Chemisch rein ist er von der Weise der Ideologen, die nur Gefolgschaft oder Feindschaft kennen. Sein Weggefährte zu sein, ist für die ganze Christenheit in unserem Lande und auch in der Ökumene Anlaß zum Dank. Wahrscheinlich versteht man Joachim Beckmann nur, wenn man bedenkt, daß er bei aller Weite seiner Denkleistung nichts Anderes wollte, als seinem Glauben an den Dreieinigen Gott eine Gestalt zu geben. Nachdenkliche, gewogene Stellungnahmen zu jeweils aktuellen Grundfragen der Zeit und der Glaube an Jesus Christus, „auf daß ich Sein eigen sei und in Seinem Reich unter Ihm lebe und Ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit", gehören bei ihm ineinander. Das Eine ist eine Gestalt des Anderen. Im Kern hat er immer nur Eines gesucht: Die Verehrung unseres Gottes. Er hat sich unverlierbare Verdienste um die Liturgie, die gebetete Dogmatik der Kirche erwor-

X

Vorwort

ben. Zu seinem vierzigsten Ordinationstag hat er eine Sammlung von Predigten vorgelegt. Unverkennbar ist jeweils der zeitgeschichtliche Kontext, die Situation der Gemeinde, vor der er das Evangelium bezeugt. N i e aber drängt sich die Analyse der wechselvollen geschichtlichen Lage in den Vordergrund. Der Prediger stellt eine Kerze hinter das Transparent des göttlichen Wortes. In ihm findet die Gemeinde Antwort, Anrede, Zuspruch und Wegweisung. Wer auf das göttliche Wort achtet und ihm traut bis auf den Grund, kommt zurecht in allen persönlichen, kirchlichen und weltlichen Bereichen. Gerade weil diese Verehrung Gottes Achse und Fundament von Joachim Beckmann ist, haben seine in diesem Buch vorgelegten Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte ein Gewicht eigener Art. Sie sind nicht nur für den Kirchenhistoriker aufschlußreich, haben auch nicht nur Anspruch auf sorgfältige Beachtung durch den Rang, den der Autor durch die Summe seiner kirchenleitenden Ämter in vielen Jahrzehnten hatte. Sie sind ein Angebot an jene Frauen und Männer, die sich als Christen in unserer verwirrten und gefährlichen Zeit zurechtfinden und ihren Glauben in ihren Anfechtungen unverletzt durch ihr Leben tragen möchten. Bei Joachim Beckmann kann man lernen, daß die Kraft und Klarheit des Wortes Gottes soweit reicht, daß die Kirche bei den Anfragen und Bedrängnissen der Zeit weder ein stummer Hund zu sein braucht, noch auf der falschen Hochzeit tanzt. Joachim Beckmann würde auch angesichts der Unsicherheiten und Ratlosigkeiten der Gegenwart empfehlen, Zuversicht und Klarheit dadurch zu erfahren, daß man nach dem Wort Martin Luthers handelt: „Je tiefer man sich bücket, desto besser man Ihn siehet." D. Hermann Kunst

Abkürzungen Abs. a.o. APU Art. AT betr. bzw. CA CCIA CVJM D. DC DDR DEK dgl. d.h. d.J. DKP DM EKD EKU EOK etc. ev.-luth. e.V. FAO FAZ FC Gesetzbl. GG hg., H G . Hl. Hp. KABl. KJ KL KO Lie. m.E.

Absatz außerordentlich Altpreußische Union Artikel Altes Testament betreffend beziehungsweise Confessio Augustana Commission of the Churches on International Affairs Christlicher Verein Junger Männer Doktor der Theologie (ehrenhalber) Deutsche Christen Deutsche Demokratische Rupublik Deutsche Evangelische Kirche dergleichen das heißt dieses Jahres Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Mark Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche der Union Evangelischer Oberkirchenrat (Berlin) et cetera evangelisch-lutherisch eingetragener Verein Food and Agricultural Organization Frankfurter Allgemeine Zeitung Formula Concordiae Gesetzblatt Grundgesetz herausgegeben, Herausgeber Heilig Hilfsprediger Kirchliches Amtsblatt Kirchliches Jahrbuch für die Ev. Kirche in Deutschland 74 und 75, 1950 und 1951. Gütersloh 1951 und 1952 Kirchenleitung Kirchenordnung Licentiat meines Erachtens

XII NDR n. o. NSDAP NT ord. PKR Prof. RM S. St. s.u. u.a. UNESCO UNO V.a. G. VELKD VU WDR z.B. ZevKR z.T. z.Zt.

Abkürzungen Norddeutscher R u n d f u n k nicht ordentlich Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Neues Testament ordentlich Provinzialkirchenrat Professor Reichsmark Seite Sankt siehe unten und andere United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization Verein auf Gegenseitigkeit Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Deutschlands Verfassungsurkunde Westdeutscher R u n d f u n k zum Beispiel Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht zum Teil zur Zeit

Bericht auf der Rheinischen Provinzialsynode am 16. September 1946* Hochwürdige Synode, liebe Brüder und Schwestern! Die Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz hat mich beauftragt, auf dieser Synode einen Bericht über die Tätigkeit der Kirchenleitung seit ihrem Zustandekommen im Mai 1945 zu geben. Es soll also hier kein Bericht über die Entwicklung der Rheinischen Kirche seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erstattet werden, sondern nur ein Rechenschaftsbericht über das, was wir im Amt der Kirchenleitung im Dienst der Rheinischen Kirche getan haben, damit die Synode als das dazu berufene Organ der Kirche einen Einblick gewinnt in die Arbeit der Leitung, ihre Grundlagen und Gedanken, wie ihre Handhabung und Durchführung in ihren Maßnahmen. Sie soll dadurch instand gesetzt werden, sich ein rechtes Urteil über unsere Wirksamkeit zu bilden. In unserer Gebundenheit an den Herrn der Kirche und seinen Auftrag wissen wir uns für unser Handeln der Synode verantwortlich, denn wir stehen unter dem Wort des Herrn: Einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder. Um diese brüderliche Verantwortung unter der alleinigen Meisterschaft des Herrn geht es uns wie in all unserem Dienst, so auch in dieser Rechenschaft, die wir den Brüdern schuldig zu sein überzeugt sind. Dieser Bericht kann nicht beginnen ohne die Bezeugung des Dankes und Lobpreises Gottes und seiner Barmherzigkeit, dessen Gnade uns in seinen Dienst gerufen und uns die Kraft Leibes und der Seele gegeben hat, daß wir immer wieder fähig wurden, in der Arbeit zu stehen. Aber wenn wir darauf blicken, daß wir im Ordinationsgelübde gelobt haben, alle Kräfte Leibes und der Seele dem teuren Predigtamt aufzuopfern, dann müssen wir uns vor ihm tief demütigen, daß wir oft aus Schwachheit und menschlicher Eigensucht im Dienst versagt und vieles versäumt oder falsch gemacht haben. Unser Trost ist es, daß der Herr es

* A u s : VERHANDLUNGEN DER 4 4 . AUSSERORDENTLICHEN TAGUNG DER RHEINISCHEN

PROVINZIALSYNODE IN VELBERT. 1. Tagung vom 16. bis 20. September 1946. Statt Handschrift gedruckt. Essen 1948, S. 33-60.

2

Rheinische Provinzialsynode 1946

ist, der uns richtet, der Herr, von dessen vergebender Gnade wir auch als Kirchenleitung allein leben. Das Gewicht der schweren Verantwortung, die eine Kirchenleitung sonderlich in unserer Lage zu tragen hat, ist uns immer neu als eine von uns gar nicht zu tragende Last bewußt geworden. Wir haben sie in unseren Gebeten auf ihn geworfen, haben uns auch von den Gebeten vieler Brüder und Schwestern getragen wissen dürfen. Unsere geistliche Armut und Schwäche ist uns offenbar und hat uns immer wieder in das Gebet um die Gnade des Geistes und Bevollmächtigung durch den Geist zu unserem Amt getrieben. Allein im Trauen darauf, daß Gott seine Verheißung wahrmacht und unsere Gebete erhört, haben wir in aller Anfechtung und Bedrängnis den Mut gefunden, Kirche zu leiten, Entscheidungen zu fällen, Anordnungen zu treffen, brüderlichen Rat zu erteilen und es also zu wagen, den Wiederaufbau unserer schwer zerstörten Kirche in Angriff zu nehmen. Von hier aus will der Bericht verstanden sein. Er kann nur dann recht erstattet und gehört werden, wenn über allem das Wort steht: Soli deo gloria. I. Als der Krieg sich seinem Ende zuneigte und das Ende des Dritten Reiches vor der Türe stand, begannen im März 1945 Verhandlungen im Konsistorium zu Düsseldorf über die Bildung einer Kirchenleitung nach der zu erwartenden Besetzung Deutschlands durch die Alliierten. An diesen Verhandlungen waren zuerst beteiligt: Oberkonsistorialrat D. Euler, Generalsuperintendent D. Stoltenhoff, Konsistorialrat Rößler, Pfarrer Harney und Pfarrer Lic. Dr. Beckmann vom Rat der Rheinischen Bekenntnissynode. Nach der Einstellung der Kriegshandlungen und der Besetzung des Rheinlandes wurden die Verhandlungen unter Hinzuziehung der Pfarrer Held und Schlingensiepen als der beiden anderen Mitglieder des Rates der Bekenntnissynode zum Abschluß gebracht. Am 15. Mai 1945 wurde die „Vereinbarung zur Wiederherstellung einer bekenntnisgebundenen Ordnung und Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" nach eingehenden Beratungen aller Einzelheiten von allen Beteiligten angenommen und unterschrieben. Diese Vereinbarung lautet folgendermaßen:

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3

„Vereinbarung zur Wiederherstellung einer bekenntnisgebundenen Ordnung und Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz I. Die Evangelische Kirche der Rheinprovinz ist nach dem Fortfall der nationalsozialistischen Führung der Kirche durch das Reichskirchenministerium, seiner Gesetze und Verordnungen und der dadurch geschaffenen und gebundenen Organe (der juristische Präsident mit alleiniger Führungsvollmacht, die Finanzabteilung, der synodale Beirat), ohne bekenntnismäßig und rechtlich geordnete Organe und daher handlungsunfähig. Den Gefahren dieser Lage kann bis zum Zusammentritt der Provinzialsynode allein durch eine Notstandsordnung unter Wahrung der Rechtsbeständigkeit begegnet werden. Die nachstehend Genannten sind als Bevollmächtigte zusammengetreten, um unter Wahrung ihrer Zuständigkeit und Verantwortung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz eine bekenntnismäßig und rechtlich geordnete Leitung zu geben, die, soweit der Notstand es zuläßt, mit der Kirchenordnung (KO) und der Verfassungsurkunde (VU) im Einklang steht: Für die Evangelische Bekenntnissynode im Rheinland: Die Pfarrer Lic. Dr. Beckmann, Schlingensiepen, Held. Für den Provinzialkirchenrat von 1932: Pfarrer Harney. Für das Konsistorium: Konsistorialrat Rößler. Für das Amt des Generalsuperintendenten: D. Stoltenhoff. 1. Die Evangelische Bekenntnissynode im Rheinland ist in den Jahren der Zerstörung von Bekenntnis und Recht in der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz als Notorgan von der Gemeinde her zur Leitung der Kirche berufen worden und hat sie durch ihre Organe des Bruderrates und des Rates ausgeübt. Der staatliche Zwang zur Versagung der Anerkennung dieser Notorgane ist fortgefallen, während der Notstand voll ausgereift ist. In der Anerkennung der von der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland gehaltene Prüfungen des theologischen Nachwuchses durch das Konsistorium ist die tatsächliche Anerkennung der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland enthalten. 2. Der Provinzialkirchenrat von 1932 mit seinen noch vorhandenen Mitgliedern ist nach dem Fortfall des synodalen Beirates der einzige Träger der Rechtsbeständigkeit auf der provinzialsynodalen Seite und nach der K O solange im Amt, bis der neue Provinzialkirchenrat (PKR) gebildet ist. 3. Das Evangelische Konsistorium der Rheinprovinz wird allein vertreten durch Konsistorialrat Rößler. Der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) hat diesen für die jetzt eingetretene Lage allein beauftragt, ihm alle konsistorialen Vollmachten übertragen und aufgegeben, im Einvernehmen mit den vorhandenen kirchlichen Instanzen, insonderheit mit der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland, die Leitung der Rheinischen Kirche zu bilden. 4. Der Generalsuperintendent erkennt die Vollmacht der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland, des PKR von 1932 und des Konsistorialrates Rößler an und nimmt in Ausübung seines Amtes kraft eigener Entscheidung an dieser Vereinbarung teil.

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II. 1. Die für alles kirchliche Handeln maßgebende und verbindliche Bekenntnisgrundlage der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz ist in §§ I—III K O enthalten. Diese Bekenntnisgrundlage ist gegenüber den in die Kirche eingedrungenen Irrlehren aufs neue als bindend bekannt worden in der Theologischen Erklärung von Barmen. 2. Die Evangelische Kirche der Rheinprovinz ist daher von einer bekenntniswidrigen Verkündigung (z.B. deutschchristlicher Art) und einer entsprechenden Betätigung in den Gemeinden, den kirchlichen Körperschaften und Einrichtungen zu reinigen. 3. Von rechtlicher Gültigkeit für die Evangelische Kirche der Rheinprovinz sind lediglich die K O und VU sowie alle ordnungsmäßig beschlossenen Kirchengesetze vor 1933. Ihre Auslegung und Anwendung ist gebunden an die Bekenntnisgrundlage der Kirche (vgl. II, 1). 4. Alle kirchlichen Gesetze und Verordnungen seit dem 30. Januar 1933 werden künftig nicht mehr angewandt, sofern sie nach Prüfung im Widerspruch zur Bekenntnisgrundlage der Kirche oder zur K O bzw. VU stehen. 5. Alle aufgrund der in 4 genannten Gesetze und Verordnungen getroffenen Maßnahmen unterliegen grundsätzlich der Nachprüfung und werden, soweit erforderlich, gemäß dem allein gültigen Recht der Kirche rückgängig gemacht. 6. Zur Wiederherstellung einer kirchlichen Ordnung und Leitung, die auf klarer Bekenntnis- und Rechtsgrundlage steht, ist eine ordnungsmäßige Provinzialsynode zu bilden, der die Aufgabe zufällt, der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz eine erneuerte presbyterial-synodale Ordnung und eine eindeutig bekenntnisgebundene Leitung zu geben. 7. Die zur Berufung der Provinzialsynode erforderliche Neubildung der kirchlichen Körperschaften ist sobald als möglich in die Wege zu leiten. 8. Im gegenwärtigen Notstand bedarf die Evangelische Kirche der Rheinprovinz einer Leitung, die bis zur Bildung einer neuen Kirchenleitung durch die Provinzialsynode die notwendigen kirchenregimentlichen Maßnahmen trifft. 9. Es wird daher von der Bekenntnissynode im Rheinland, dem PKR von 1932, dem Bevollmächtigten des Konsistoriums und dem Generalsuperintendenten eine „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" gebildet, die aus drei Vertretern der Bekenntnissynode (den Pfarrern Lic. Dr. Beckmann, Schlingensiepen, Held), zwei Mitgliedern des PKR (Pfarrer Harney, Dr. Mensing), dem Bevollmächtigten des Konsistoriums (Konsistorialrat Rößler) und dem Generalsuperintendenten (D. Stoltenhoff) besteht. 10. Die „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" beschließt die erforderlichen kirchenregimentlichen Maßnahmen in brüderlicher Beratung ihrer Mitglieder. Zum geschäftsführenden Vorsitzenden wird der in Düsseldorf wohnhafte Vertreter der Bekenntnissynode bestellt. 11. Die kirchenleitenden Zuständigkeiten des Konsistoriums werden von der „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" wahrgenommen (z.B. Pfarrstellenbesetzung, Ausbildungs- und Prüfungswesen, Kollekten, Ernennung von Sachbearbeitern usw. usw.). Seine verwaltungsmäßigen Funktionen übt das Konsistorium nach den Richtlinien der „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" in Anwendung seiner rechtlichen Zuständigkeit aus.

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12. Der PKR führt im Einvernehmen mit der „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" die Geschäfte des Provinzialsynodalverbandes, wozu insbesondere die Vorbereitung und Einberufung der Provinzialsynode gehören. 13. Der Bruderrat der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland übergibt seine kirchenregimentlichen Funktionen, soweit zu dieser Vereinbarung erforderlich, der „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" und stellt sich ihr zur Durchführung des kirchlichen Wiederaufbaus mit seinen Arbeitszweigen zur Verfügung. 14. Die wesentlichen Aufgaben der „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" sind: a. Die Vertretung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz und die Leitung der laufenden Geschäfte; b. die Ansprache an die Gemeinden und die Unterrichtung der Gemeinden, ihrer Pfarrer und der kirchlichen Körperschaften; c. die Uberprüfung der kirchlichen Gesetze und Verordnungen seit dem 30. Januar 1933 sowie der auf ihnen beruhenden Maßnahmen und gegebenenfalls ihre Revision; d. die Durchführung der in II, 2 bezeichneten Aufgaben; e. die Neubildung der kirchlichen Körperschaften; f. die Erarbeitung einer Vorlage an die Provinzialsynode über die presbyterialsynodale Erneuerung der K O ; g. die Vorbereitung der Provinzialsynode; h. die Ordnung des theologischen Ausbildungs- und Prüfungswesens; i. die Neuordnung des Dienstes der Kirche an der Jugend und die Wahrung der kirchlichen Belange bei der Neugestaltung des öffentlichen Schul- und Hochschulwesens. 15. Die „Leitung der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz" arbeitet in ständiger Verbindung mit der Evangelischen Kirche in Westfalen. 16. Die Evangelische Bekenntnissynode im Rheinland, der PKR, das Konsistorium und der Generalsuperintendent werden ihre Ämter und Vollmachten der Provinzialsynode übergeben, um damit den Weg für eine einheitlich presbyterial-synodal geordnete Kirche freizumachen. Die vorstehenden Beschlüsse treten mit dem 15. Mai 1945 in Kraft. Düsseldorf, den 15. Mai 1945. Der Bruderrat der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland: gez. Lic. Dr. Beckmann Schlingensiepen Held Der Provinzialkirchenrat der Rheinprovinz: gez. Pfarrer Harney Der Generalsuperintendent der Rheinprovinz: gez. D. Stoltenhoff Das Evangelische Konsistorium der Rheinprovinz: Konsistorialrat Rößler" 1

1

2

Vgl. KAB1 1946, N r . 1, S. 1 und 2.

Beckmann, H o f f n u n g für die Kirche

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Als erste gemeinsame Arbeit der Kirchenleitung wurde ein Wort an die Gemeinden verfaßt und, so gut es damals ging, den Gemeinden zur Kenntnis gebracht. Dies Wort sollte den Gemeinden bezeugen, auf welchem Grund und in welchem Geist die neugebildete Kirchenleitung ihren Dienst in der Kirche zu tun willens war. Die bisher im Konsistorium leitend tätigen Männer (Konsistorialpräsident Dr. Koch, Oberkonsistorialrat Euler, Konsistorialrat Aldag, Konsistorialrat Sinning) wurden beurlaubt, die von ihnen im Konsistorium innegehabten Dezernate verteilte die Kirchenleitung auf ihre Mitglieder unter Hinzuziehung der Rechtsanwälte Schütz und D r . Wenderoth. Die Letztgenannten schieden nach einiger Zeit wieder aus, da inzwischen mehrere Kirchenbeamte (Konsistorialräte) aus dem Kriege zurückkehrten. Es wurden von der Kirchenleitung vorläufig in den Dienst des Konsistoriums hereingenommen die Konsistorialräte Ulrich, Quenstedt und D r . Lohr, während Oberkonsistorialrat D . Euler zunächst weiter beurlaubt und dann im Oktober wegen Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand versetzt wurde. Später wurden mit Beschäftigungsaufträgen versehen Oberkonsistorialrat Dr. Dalhoff vom Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin und der rheinische Konsistorialrat D r . Glaser, während der kommissarische Beschäftigungsauftrag für Oberkonsistorialrat Dr. Wollermann vom Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin von der Kirchenleitung nicht erneuert wurde. Ebenfalls wurde der rheinische Konsistorialrat Dr. Becker nicht wieder beschäftigt. Zahlreiche Anträge von Konsistorialräten aus anderen Kirchenprovinzen wurden abgelehnt. Konsistorialrat Ulrich wurde am 1. Dezember 1945 die im Konsistorium vorhandene Planstelle eines Oberkonsistorialrates übertragen. Von Anfang an wurde für jede Woche der Dienstag als Sprechtag und der Freitag als Sitzungstag der Kirchenleitung festgelegt, was sich bewährt hat und bis heute unverändert durchgeführt worden ist. Die beiden während des Krieges errichteten Außenstellen des Konsistoriums in Kaiserswerth und Lennep wurden aufgehoben und die Finanzabteilung beim Evangelischen Konsistorium für erloschen erklärt. Damit wurde eine Einrichtung der Kirchenpolitik des Dritten Reiches beseitigt, deren kirchenzerstörende Wirksamkeit gerade auch in unsrer Kirche besonders sichtbar gewesen ist. Nach und nach wurden die postalischen Schwierigkeiten im Verkehr mit den gemeinden überwunden und ein normaler Dienstverkehr mit den Superintendenten, Pfarrern und Presbyterien wiederhergestellt. Die Arbeit der Kirchenleitung entwickelte sich in kurzer Zeit weit über den bisherigen Rahmen eines Provinzialkonsistoriums hinaus, da alle Entscheidungen für die Rheinische Kirche selbständig getroffen werden mußten und eine ganze Fülle von dringenden Arbeiten vorlag,

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die gleichzeitig in Angriff genommen werden mußten. Während die äußeren Schwierigkeiten oft unüberwindlich waren, da zuerst weder Pässe noch Verkehrsmittel zur Verfügung standen und eine persönliche Verbindung mit den Gemeinden - vor allem in der französischen Zone kaum herzustellen war, kam es glücklicherweise im Innern der Kirche zu keinerlei irgendwie beachtlichen Hemmnissen. Die Kirchenleitung fand überall bei den Pfarrern, Presbyterien und Gemeinden Eingang, Anerkennung, Zustimmung und Förderung ihrer Arbeit, und sie selbst blieb in allen wesentlichen Stücken einmütig über den jeweils einzuschlagenden Weg und die zu treffenden Entscheidungen. In dem nun folgenden Bericht über die Tätigkeit der Kirchenleitung vom 15. Mai 1945 bis 1. September 1946 wird statt einer chronologischen Darstellung eine Zusammenfassung nach den hauptsächlichen Sachgebieten erfolgen, da es weniger auf die zeitliche Folge als auf die Darstellung der Arbeitsgebiete ankommt, auf denen die Kirchenleitung ihre Aufgabe gemäß ihrer grundlegenden Vereinbarung zu erfüllen versucht hat.

II. 1. Die Reinigung der Kirche Eine der ersten Aufgaben, vor die sich die Kirchenleitung gestellt sah, war die Reinigung der Kirche von allem evangeliumswidrigen und unkirchlichen Geist der vergangenen Jahre durch Ausscheidung der Amtsträger - Pfarrer, Presbyter und Kirchenbeamte - , die nicht auf der Bekenntnisgrundlage der Kirche gestanden hatten oder deren unkirchliches Verhalten in den letzten Jahren zu erheblichen Beanstandungen Anlaß gegeben hatte. a. Zuerst wurde die Reinigung des Pfarrerstandes in Angriff genommen, und zwar durch Feststellung aller Mitglieder der nationalkirchlichen Einung „Deutsche Christen". Die Kirchenleitung gab ihrer Uberzeugung in einer besonderen Deklaration Ausdruck, daß niemand, der auf dem Boden dieser Bewegung gestanden hat, ein Amt in der Kirche bekleiden kann ( K A B l 1946, N r . 1, S. 8). Als Notmaßnahme wurde die vorläufige Amtsenthebung aller nationalkirchlichen Pastoren angeordnet. Während die Rheinische Kirchenleitung in Überlegung stand, ob das alte Disziplinarrecht zur Durchführung von Verfahren gegen diese Pfarrer angewandt werden sollte, wurde von der Westfälischen Kirchenleitung eine besondere Ordnung zur Wiederherstellung eines bekenntnisgebundenen Pfarrerstandes ausgearbeitet. Die Rheinische Kirchenleitung stimmte dem Wunsch der Westfälischen zu, möglichst für beide

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Provinzen eine gemeinsame Verfahrensordnung anzuwenden. So wurde unter dem 1. September 1945 von beiden Kirchenleitungen gemeinsam die „Ordnung für das Verfahren bei Verletzung von Amtspflichten der Geistlichen" veröffentlicht (KAB1 1946, Nr. 1, S. 6 u. 7). Im Laufe der Durchführung der Verfahren hat es sich als notwendig erwiesen, bei Pfarrern über 50 Jahre unter gewissen Voraussetzungen durch eine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand das Verfahren abzuschließen, falls die Spruchkammer einstimmig der Meinung ist, daß nach ihren bisherigen Ermittlungen nur Versetzung in eine andere Stelle oder höchstens Amtsenthebung in Frage kommt. Auch mußten, nachdem die Disziplinarordnung neu festgestellt war (s.u.), die Rechtsfolgen der Amtsenthebung und Dienstentlassung nach der Disziplinarordnung und nach der Ordnung vom 1. September 1945 gleichgestaltet werden, was durch die „Notverordnung zur Änderung der Ordnung für das Verfahren bei Verletzung von Amtspflichten der Geistlichen" vom 1. September 1945, die unter dem 7. August 1946 von der Rheinischen und Westfälischen Kirche erlassen wurde, geschehen ist (KABl 1946, N r . 11/ 12, S. 63). Durch die gleiche Notverordnung wurde die Zuständigkeit bei Beschwerden gegen die Entscheidungen des Rechtsausschusses auf den durch Notverordnung vom 18. Juni 1946 neu gebildeten gemeinsamen Rechtsausschuß der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz übertragen. Insgesamt wurde gegen 47 Pfarrer Anklage wegen Verletzung von Amtspflichten erhoben. Gegen 27 Pfarrer wurde das Verfahren nach der Ordnung vom 1. September 1945'eröffnet, während 8 Verfahren ausgesetzt werden mußten, weil die angeklagten Pfarrer gefangen, vermißt oder zivilinterniert sind. Ohne Durchführung eines Verfahrens konnten 12 Fälle erledigt werden, und zwar infolge Verzichtleistung der Pfarrer 5, Versetzung in den Wartestand 2, Versetzung in den Ruhestand 3 und Zurückziehung der Anklage 2. Vor den 6 Spruchkammern der Rheinischen Kirche sind bisher 21 Fälle - davon 14 rechtskräftig - entschieden, 6 Verfahren sind noch anhängig vor der Spruchkammer. Durch rechtskräftiges Urteil wurden bisher 2 Pfarrer aus dem Amt entfernt, gegen 3 wurde auf Versetzung in ein anderes Amt erkannt, 5 Pfarrer wurden in den Ruhestand versetzt und in 4 Fällen wurde festgestellt, daß Maßnahmen nach § 1 Abs. 1 der Verfahrensordnung nicht für erforderlich erachtet wurden. b. Gleichzeitig mußte die Reinigung der Presbyterien von solchen Mitgliedern durchgeführt werden, die als „Deutsche Christen" oder wegen ihrer Betätigung als Nationalsozialisten ihre kirchlichen Pflichten verletzt hatten. Die Inangriffnahme dieser Reinigung erfolgte durch die „Anweisung zur Wiederherstellung der Presbyterien sowie zur Neuwahl der Abgeordneten zur Kreissynode, der Superintendenten und der

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Kreissynodalvorstände" vom 22. Juni 1945 (KABl 1946, Nr. 1, S. 4 u. 5), in welcher die Forderung aufgestellt wurde, daß nur diejenigen Mitglieder der Presbyterien sein könnten, die in der Sichtungszeit der Kirche seit 1933 ihre Eignung zum Altestenamt durch treue Teilnahme am Gottesdienst und am heiligen Abendmahl sowie durch offenes Eintreten für die Freiheit der Kirche von deutsch-christlichen und nationalsozialistischen Bindungen bewiesen haben. c. Schließlich mußte auch die Möglichkeit geschaffen werden, ungeeignete Kirchen- und Kirchengemeindebeamte aus ihrer Stelle zu entfernen. Das geschah durch die „Notverordnung zur Beschränkung und Sichtung des Personalbestandes der kirchlichen Verwaltung" vom 18. Januar 1946 (KABl 1946, Nr. 2, S. 20 u. 21). Aufgrund dieser Notverordnung wurden von den Kirchenleitungen von Westfalen und der Rheinprovinz gemeinsam in den Ruhestand versetzt: Konsistorialpräsident Dr. Koch und die Konsistorialräte Aldag und Dr. Becker. Gegen eine Anzahl von Kirchen- und Kirchengemeindebeamten sind die Verfahren noch im Gange.

2. Wiederaufbau der presbyterial-synodalen Ordnung Die weitgehende Zerstörung gerade des presbyterial-synodalen Aufbaus unserer Kirche machte es erforderlich, einen Weg zu finden, wie dieses wichtige Stück unseres kirchlichen Lebens wieder aufgebaut werden könnte. Auch mußte das Problem der in vielen Gemeinden durch den Kirchenkampf entstandenen selbständigen Bekenntnisgemeinden gelöst werden. Nach eingehenden Beratungen entschloß sich die Kirchenleitung, auf die letzten kirchenordnungsmäßig zustande gekommenen Presbyterien von 1932 zurückzugreifen und von dorther den Aufbau zu erneuern. Es kam zu der obenerwähnten „Anweisung zur Wiederherstellung der Presbyterien sowie zur Neuwahl der Abgeordneten zur Kreissynode, der Superintendenten und der Kreissynodalvorstände" vom 22. Juni 1945. Aufgrund dieser Anweisung wurden in allen Gemeinden der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz unter Beteiligung der Bruderräte der Bekenntnisgemeinden nach und nach die Presbyterien erneuert mit dem Erfolg, daß überall die zwischen der Bekenntnis- und Ortsgemeinde bestehende Trennung aufgehoben wurde. Sodann wurden von diesen Presbyterien die Abgeordneten zu den Kreissynoden gewählt und dadurch zum erstenmal nach mehr als zehn Jahren wieder Kreissynoden gebildet. Diese Kreissynoden fanden im Herbst und Winter 1945/46 statt; nur die Synoden Kleve und Trier konnten wegen der besonderen durch den Krieg hervorgerufenen Notstände erst später zusammenkom-

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men. Auf allen Synoden wurden die Superintendenten und Kreissynodalvorstände neu gewählt. Die Kirchenleitung bemühte sich, auf möglichst vielen Synoden durch einige ihrer Mitglieder persönlich vertreten zu sein. Mit diesen Kreissynoden hat das synodale Leben der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz einen Neuanfang gemacht, und man darf, aufs Ganze gesehen, feststellen, daß dieser Anfang durchaus erfreulich gewesen ist. Aus den Wahlen dieser Synoden ist dann die gegenwärtige Provinzialsynode berufen worden. Die Kirchenleitung hat es für ihre Pflicht gehalten, die Hauptvorlage dieser Provinzialsynode über die Übertragung des Altestenamtes den Kreissynoden zur Beratung vorzulegen. Alle Synoden haben sich dieser Aufgabe unterzogen und sich großenteils mit Eifer und Hingabe der Beratung der geplanten Wahlordnung unterzogen. Ihre Ergebnisse werden in dieser Provinzialsynode zur Auswertung kommen. Im Zuge des Wiederaufbaus der presbyterial-synodalen Ordnung hat die Kirchenleitung es im Saargebiet für erforderlich gehalten, aus den bisher zwei großen Synoden Saarbrücken und St. Johann drei zu machen: Saarbrücken, Völklingen und Ottweiler. Hierdurch sind im Saargebiet 3 Synoden mit je rund 20 Pfarrstellen entstanden, die eine bessere synodale Arbeit ermöglichen, vor allem ist auch hierdurch erreicht worden, daß die Stadt Saarbrücken nun nicht mehr zu 2 Synoden gehört.

3. Kirchenregimentliche Ordnungen Nach und nach erwies es sich als nötig, zu den kirchenregimentlichen Verordnungen der vergangenen Epoche Stellung zu nehmen hinsichtlich ihrer Weitergestaltung. Die Nachprüfung ergab, daß einige der Verordnungen in einer neuen Fassung auch heute notwendig seien, während eine ganze Anzahl von vornherein als überholt auszuscheiden hatten: a. An Stelle der Verordnung über das theologische Prüfungswesen vom 21. Februar 1938 trat auf Beschluß der Leitung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union für die Westprovinzen vom 7. Februar 1946 wieder das „Kirchengesetz betr. Vorbildung und Anstellungsfähigkeit der Geistlichen" vom 5. Mai 1927 in Geltung. b. Die Verordnung über die Versetzung von Geistlichen aus dienstlichen Gründen vom 18. März 1939 (Gesetzbl. der D E K S. 13) wurde durch die Notverordnung vom 18. Januar 1946 (KABl 1946, S. 17-19) mit einigen Abänderungen erneut in Kraft gesetzt, da sie bekenntnismäßig nicht zu beanstanden ist und dem betroffenen Pfarrer größeren Schutz gewährt als das Gesetz von 1930, indem sie eine Anfechtung der ergangenen Entscheidung zuläßt.

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c. U m auch die Möglichkeit zu haben, die durch Verfahren frei werdenden Pfarrstellen durch die Kirchenleitung wieder zu besetzen, wurde unter Aufhebung der Verordnung über die Besetzung von Pfarrstellen durch die Kirchenbehörde vom 18. März 1939 (Gesetzbl. der DEK, S. 15) die Notverordnung betr. die Besetzung von Pfarrstellen durch die Kirchenleitung vom 18. Januar 1946 (KABl 1946, S. 29) erlassen. d. Die Kriegsverordnung über die Beschlußfähigkeit der Presbyterien vom 13. Oktober 1939 (Gesetzbl. der DEK, S. 115) und vom 16. Februar 1942 (Gesetzbl. der DEK, S. 6) wurden durch die Notverordnung über die Beschlußfähigkeit der Presbyterien im Bereich der Kirchenordnung für Westfalen und die Rheinprovinz vom 18. Januar 1946 (KABl 1946, S. 35) aufgehoben und das alte Recht wieder an deren Stelle gesetzt. e. Die Disziplinarordnung der DEK vom 13. April 1939 (Gesetzbl. der DEK, S. 27ff.) erschien in vielen Punkten besser als die Disziplinarordnung von 1886, war aber einer eingehenden Umarbeitung in materieller und formeller Hinsicht bedürftig. Ihre Anwendung (in der umgeänderten Fassung) wurde nach Vorschlag des Rates der EKD und unter Anwendung der württembergischen Neufassung gemeinsam mit Westfalen durch die Notverordnung über die Disziplinarordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz vom 19. Juni 1946 (KABl 1946, S. 52-58) beschlossen. f. Im Zusammenhang damit mußte eine Verordnung erscheinen über die Rechtsausschüsse und über deren Geschäftsordnung. Durch die Notverordnung vom 3. November 1945 über die Bildung eines Rechtsausschusses für die evangelischen Krichen von Westfalen und der Rheinprovinz (KABl 1946, S. 7) war bereits unter Neufassung des Art. 137 VU die Wiederherstellung des durch die Verordnung vom 17. Mai 1939 (Gesetzbl. der DEK, S. 64) aufgehobenen Rechtsausschusses festgelegt. Diese Notverordnung wurde durch die Notverordnung über die Rechtsausschüsse in der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz vom 18. Juni 1946 (KABl 1946, S. 51) ersetzt, in der die Art. 136-139 und 157-159, Abs. 2 VU, eine neue Fassung erhalten haben. g. In Abänderung der Regelung, wie sie in den Art. 113 und 127, Abs. 2 VU, getroffen ist, werden gemäß Notverordnung vom 25. April 1946 (KABl 1946, S. 42) kirchliche Gesetze und Verordnungen der Leitung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union für die Westprovinzen in den Amtsblättern der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz veröffentlicht. Damit ist ein wesentlicher Teil des unumgänglich notwendig gewordenen Verordnungswerkes der Kirchenleitung zur Darstellung gebracht.

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Wir haben uns bemüht, so wenig wie irgend möglich zu der Maßnahme einer Verordnung zu greifen, da nach unserer Uberzeugung die kirchliche Gesetzgebung der Synode zusteht. Aber wir waren durch die rechtliche und tatsächliche Lage der Kirche genötigt, bestehende Verordnungen aufzuheben oder abzuändern, sowie in ganz wenigen Fällen neue zu erlassen, um damit den Weg zu einer Neuordnung der Kirche zu bahnen.

4. Pfarrstellenbesetzung D a die Sorge für die Ausrichtung des Dienstes am Wort zu den vornehmsten Aufgaben einer Kirchenleitung gehört, nahm die Beschäftigung mit Fragen der Pfarrstellenbesetzung einen großen Raum der Tätigkeit der Kirchenleitung ein. Es mußten zur rechten Durchführung der Stellenbesetzung im einzelnen einige generelle Beschlüsse gefaßt und Anweisungen getroffen werden. So wurde ausdrücklich beschlossen, daß bei der Ernennung und Bestätigung der Pfarrer in jedem Fall auf den Bekenntnisstand der Gemeinde Rücksicht zu nehmen sei, - an sich eine Selbstverständlichkeit, aber gegenüber der bisherigen Praxis eine wesentliche Änderung, geboten durch die Geltung der Bekennntisartikel unserer Kirchenordnung. Die besondere Schwierigkeit, vor die sich die Kirchenleitung gestellt sah, bestand darin, daß auf der einen Seite zwar eine große Zahl von Kandidaten des Pfarramts vorhanden waren, diese jedoch durch Kriegsgefangenschaft nicht zum Einsatz in den Kirchendienst gelangen konnten. Durch den Krieg waren auch viele Pfarrstellen von Pfarrern über 70 Jahre besetzt. Gleichzeitig strömten vom Osten her zahlreiche Pfarrer als Flüchtlinge ins Rheinland und suchten hier eine neue pfarramtliche Tätigkeit. Die Gemeinden mit ihrem Gemeindewahlrecht waren ihrerseits kaum in der Lage, eine rechte Auswahl zu treffen, und die Pfarrer und Kandidaten, die eine Pfarrstelle suchten, konnten wegen Mangels an Veröffentlichkeitsmöglichkeiten eine solche nicht finden. Allein diesen durch die Lage bedingten Schwierigkeiten suchte die Kirchenleitung durch eine Anzahl von Maßnahmen zu begegnen: a. Es wurde die Wahlfähigkeit der Hilfsprediger auf 35 Jahre heraufgesetzt, einmal um damit die Gemeinden zu veranlassen, die älteren Kandidaten zu wählen, sodann um damit für die noch in Kriegsgefangenschaft befindlichen über 35 Jahre alten Hilfsprediger genügend Stellen offenzuhalten ( K A B l 1946 S. 20). D a sich die Verhältnisse inzwischen etwas günstiger gestaltet haben, hat die Kirchenleitung beschlos-

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sen, daß ab 1. Oktober 1946 nun auch die verheirateten Kandidaten der Jahrgänge 1912 und 1913 wahlfähig werden. b. Die Pensionierung aller 70jährigen und älteren Pfarrer wurde generell angeordnet. c. Alle rheinischen Pfarrstellen wurden für außerrheinische Pfarrer gesperrt. d. Alle Gemeinden wurden veranlaßt, Vorschläge der Kirchenleitung bei ihrer Wahl zu berücksichtigen. Die Kirchenleitung hat dadurch vielen Gemeinden helfen können, wenn es auch nicht immer möglich war, einen geeigneten (Dreier-)Vorschlag den Gemeinden zu unterbreiten. e. Schließlich wurde auch allgemein beschlossen, die stillgelegten Pfarrstellen wieder zur Besetzung freizugeben, ferner die bisher bestehenden Hilfspredigerstellen möglichst alle in Pfarrstellen zu verwandeln, sowie überhaupt darauf bedacht zu sein, neue Pfarrstellen zu errichten. Denn im Unterschied etwa von den süddeutschen Kirchen ist der Einsatz der geistlichen Kräfte auch im Rheinland, auf die Zahl der Gemeindeglieder gerechnet, bedeutend geringer. Die Kirchenleitung hielt es für ihre Pflicht, alles zu tun, um möglichst viele geistliche Kräfte den Gemeinden zuzuführen, zumal, einschließlich der noch in Kriegsgefangenschaft befindlichen Hilfsprediger, ein ausreichend großes Angebot an geistlichen Kräften vorhanden ist. Die Kirchenleitung hat im Laufe des vergangenen Jahres insgesamt 35 Pfarrstellen errichtet, so daß nunmehr 915 Gemeindepfarrstellen vorhanden sind, von denen 188 zur Zeit unbesetzt sind. Davon können 39 Pfarrstellen einstweilen unbesetzt bleiben. Bis zum 1. September 1946 wurden 55 Pfarrer in den Ruhestand, 9 in den Wartestand versetzt. Es wurden bis zu diesem Zeitpunkt 107 Ernennungen und Bestätigungen ausgesprochen, darunter befinden sich 29 Pfarrer, die bereits eine Pfarrstelle in der Rheinischen Kirche innehatten und nur ihre Stelle gewechselt haben. Zur Zeit sind in der Rheinischen Kirche (außer den Anstalts- und Vereinsgeistlichen) 730 Pfarrer in den Pfarrstellen der Gemeinden tätig. Bei den Pfarrstellenbesetzungen hat die Kirchenleitung sich des öfteren mit der Frage beschäftigt, ob es auf die Dauer verantwortet werden könnte, daß ein derartig verschiedenes Pfarrstellenbesetzungsrecht in unserer Kirche gehandhabt wird, wie es tatsächlich heute noch der Fall ist. Es wird nötig sein, daß man den beiden Anliegen in einer neuen Pfarrstellenbesetzungsordnung Rechnung trägt: das Recht der Gemeinde, verantwortlich an der Berufung ihres Pfarrers mitzuwirken, und die Notwendigkeit für die Kirchenleitung, die vorhandenen geistlichen Kräfte in der rechten Weise anzusetzen.

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5. Einsatz der Ostpfarrer Zu einem besonderen Arbeitsgebiet hat sich im Laufe des vergangenen Jahres der Einsatz der sogenannten „Ostpfarrer" in unserer Kirche entwickelt, und zwar sowohl der eigentlichen Ostpfarrer, d.h. der Pfarrer aus den Ostgebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie, als auch der Pfarrer aus den russisch-besetzten Gebieten. In steigendem Maße ergingen an die Kirchenleitung Anfragen wegen der Unterbringung und Beschäftigung von Ostpfarrern, teils aus allen Gegenden Deutschlands, teils aus dem Rheinland selbst, wohin diese Pfarrer geflüchtet waren. Bisher sind 186 Bewerbungen von Ostpfarrern bei der Kirchenleitung eingegangen. Die Rheinische Kirchenleitung hat es in Ubereinstimmung mit den übrigen Kirchenleitungen für ihre Pflicht gehalten, alles zu tun, um diesen besonders schwer betroffenen Pastoren Unterhalt und vor allem Arbeit in ihrem pfarramtlichen Dienst zu geben. Aufgrund einer mit Westfalen, später auch mit anderen Kirchen beschlossenen gemeinsamen Ordnung wurden die Ostpfarrer durch einen Unterhaltsbeitrag versorgt und möglichst mit einem Beschäftigungsauftrag versehen. Insgesamt wurden bisher im Rheinland 90 Pfarrer und Kandidaten aus dem Osten in den verschiedenen Gemeinden untergebracht, 179 kirchliche Amtsträger aus dem Osten einschließlich deren Frauen, Kinder und Hinterbliebenen wurden durch die sogenannte Osthilfe betreut. Der Stand vom 1. September 1946 ist 150 Betreuungsfälle durch die Osthilfe, 57 Beschäftigungsaufträge für Ostpfarrer. Wir werden damit zu rechnen haben, daß noch mehr Ostpfarrer zum Einsatz gebracht werden müssen. Bisher ist noch kein aktiver Pfarrer, der im Rheinland wohnt, ohne Beschäftigung geblieben. Nachdem der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinsame Richtlinien für den Einsatz der Ostpfarrer herausgebraucht hat, hat die Kirchenleitung beschlossen, Ostpfarrer, die geeignet sind und von den Gemeinden begehrt werden, in den rheinischen Kirchendienst endgültig zu übernehmen. So wurde ab 1. Juli 1946 in sechs Fällen die Genehmigung zur Wahl eines Ostpfarrers erteilt, nachdem schon vorher einige Pfarrer aus dem Osten, die aus dem Rheinland stammen und zum Teil hier schon früher einmal fest angestellt waren, übernommen worden sind.

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6. Rehabilitierung und Legalisierung von Pfarrern und Kandidaten Von vornherein hatte es sich die Kirchenleitung zum Ziel gesetzt, die Maßnahmen außer Kraft zu setzen, durch die Pfarrer und Kandidaten in ihrer Amtsführung während der Herrschaft des Nationalsozialismus behindert worden wäre. Es handelt sich hierbei einerseits besonders um die sogenannte Legalisierung der Kandidaten und Pastoren der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland, andererseits um eine Anzahl von Pfarrern, die zumeist aus kirchenpolitischen Gründen in den Wartebzw. Ruhestand versetzt worden waren. Die Kirchenleitung traf die generelle Feststellung, daß sämtliche Kandidaten, die sich der Leitung der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland unterstellt hatten, Kandidaten der Rheinischen Kirche sind. Es handelte sich hierbei um 118 ordinierte Hilfsprediger und 49 nichtordinierte Hilfsprediger und Vikare. Für die gefallenen Hilfsprediger und Vikare der Bekenntniskirche wurde im Blick auf deren Hinterbliebenen dieselbe Feststellung getroffen. Damit wurde ein entscheidender Abschnitt des Kirchenkampfes zum Abschluß gebracht. Hinsichtlich der gemaßregelten Pfarrer wurde jeder einzelne Fall nachgeprüft, die Maßnahmen rückgängig gemacht und so in 15 Fällen eine Rehabilitierung durchgefphrt. Nach Möglichkeit wurden die Betreffenden wieder in ihr früheres Amt eingesetzt. Erlittene finanzielle Einbußen wurden möglichst ausgeglichen.

7. Der theologische Nachwuchs Dem theologischen Nachwuchs und seiner Ausbildung hat die Kirchenleitung ihre ernste Sorge zugewandt. Die Lücken, die der Krieg in die Reihen der Jungtheologen gerissen hat, sind besonders groß und schmerzlich. Von den Studenten, die während des Krieges die Verbindung mit dem Referenten der Kirchenleitung aufrechterhalten haben, sind etwa 60 Prozent gefallen. An ordinierten Hilfspredigern hat die Rheinische Kirche 50, an nichtordinierten Hilfspredigern und Vikaren 29 durch den Krieg verloren. Während die Theologische Schule in Wuppertal ihre Arbeit nach dem Waffenstillstand verhältnismäßig früh wieder beginnen konnte, zumal ihr eine zunächst ausreichende Zahl von Dozenten zur Verfügung stand, ging der Aufbau der Bonner Fakultät nur langsam vonstatten. In den Verhandlungen, die der Rektor der Universität mit der Kirchenleitung aufnahm, hat diese von Anfang an den Standpunkt vertreten, daß für die Rheinische Kirche nur eine Wiederherstellung der 1934 vom nationalsozialistischen Staat zerschlagenen Fakultät in Frage komme, und fand

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dafür bei Rektor und Regierung volles Verständnis. Es gelang, die Professoren D . Hans Emil Weber und D. Goeters an die Fakultät zurückzuberufen, während aus ungeklärten Umständen Prof. D. Ernst Wolf der Ruf erst erreichte, als er - vergeblich auf eine Nachricht von Bonn wartend - bereits eine Zusage für Göttingen gegeben hatte. Trotzdem haben wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ihn, den wir sehr vermissen, im Laufe der Zeit doch noch wiederzugewinnen. Prof. D . Karl Barth konnte sich im Blick auf die Arbeit an seiner Dogmatik nicht entschließen, ganz nach Bonn zurückzukehren, wir hoffen aber, daß er jeweils im Sommersemester in Bonn lesen wird, wie er es in diesem Jahr zu unserer großen Freude bereits getan hat. Auch Prof. Lic. Dr. Horst wurde als a.o. Professor wieder in die Fakultät berufen, sieht sich aber leider aus verkehrstechnischen und gesundheitlichen Gründen noch nicht in der Lage, mit der Vorlesungsarbeit zu beginnen. Während Prof. D . Stauffer als einziger der Professoren, die nach 1934 in die Fakultät berufen wurden, seine Dozentur behalten hat, wurden auf Veranlassung der Kirchenleitung Prof. Lic. Schlier für N T und, als besonderer Verbindungsmann zur Theologischen Schule, Prof. D . N o t h für A T sowie die Professoren D . Dehn und Lic. Schlingensiepen für praktische Theologie neu berufen. Die Neueinrichtung eines zweiten Lehrstuhles für praktische Theologie geschah im Blick auf die Notwendigkeit einer engeren Verbindung der Fakultät mit den Konferenzen und der wissenschaftlichen Arbeit der rheinischen Pfarrer- und Kandidatenschaft. Wir sind der guten Zuversicht, daß die Bonner Fakultät in ihrer heutigen Zusammensetzung ihren hervorragneden Ruf, den sie zu Beginn des Kirchenkampfes weit über die Grenzen der Provinz hinaus hatte, wiedergewinnen wird und sich mit der Rheinischen Kirche und ihrer Leitung ebenso eng verbunden weiß wie die Theologische Schule, und wie hoffen, daß es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit und gegenseitigen Ergänzung der beiden Ausbildungsstätten für unseren theologischen Nachwuchs kommen wird. Zur Zeit studieren in Bonn und Wuppertal 218 Theologiestudenten, von denen eine namhafte Zahl aus den Ostgebieten stammt, die wohl nicht alle in den rheinischen Kirchendienst treten werden. Dieser Ausfall wird aber dadurch ausgeglichen, daß eine Reihe rheinischer Theologiestudenten, die noch nicht alle erfaßt sind, auch auf anderen Universitäten bzw. theologischen Schulen studiert. Wir dürfen also mit einem rheinischen Nachwuchs von etwa 200 Studenten rechnen, die bereits aus dem Kriege zurückgekehrt sind. Den Bedarf haben wir mit 300 berechnet, so daß wir es unseren Gemeinden nur dringend ans H e r z legen können, den Herrn zu bitten, daß er junge Menschen fähig und willig mache, sich zum Dienst am Wort zurüsten zu lassen.

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Die Erfahrungen der letzten Jahre haben es uns immer deutlicher gezeigt, daß es ein großer Gewinn für die Kirche und ihren Nachwuchs ist, wenn die Studenten vom Beginn ihres Studiums an sich in enge Verbindung mit der Kirche und ihrer Leitung gestellt wissen. Die Kirchenleitung hat deshalb nach dem Vorbild anderer Landeskirchen eine Verfügung erlassen, der zufolge nur solche Studenten eine Anwartschaft auf Übernahme in den kirchlichen Dienst gewinnen, die aufgrund ihrer Meldung und der erforderlichen Gutachten eine kirchliche Zulassung zum Studium erhalten haben. Auch wird die Errichtung eines pflichtmäßigen kirchlichen Vorsemesters für alle Theologiestudenten der E K D zur Zeit ernsthaft erwogen. Obligatorische Studentenfreizeiten sollen, sobald die Ernährungslage dies erlaubt, es den Studenten erleichtern, eine kirchliche Ausrichtung ihrer Zurüstung zu gewinnen. Ein Bindeglied zwischen den Theologiestudenten und der Leitung der Kirche zu sein, wird zu den Hauptaufgaben des Studentenpfarrers gehören. Leider war es im vergangenen Semester noch nicht möglich, die Stelle des Studentenpfarrers in Bonn wieder hauptamtlich zu besetzen. Nunmehr hat aber Pastor Dr. Krämer aus Königsberg zum 1. Oktober den Ruf in die Arbeit eines hauptamtlichen Studentenpfarrers angenommen. An der Theologischen Schule in Wuppertal hat Pastor Calaminus den Dienst als Studentenpfarrer stellvertretend versehen. Auch hier soll zu Beginn des Semesters eine endgültige Lösung herbeigeführt werden. Infolge der Auflösung der meisten Gymnasien während des Dritten Reiches ist die Zahl der Sprachstudenten sehr hoch. Auf Antrag der Theologischen Schule hat die Kirchenleitung eine eigene Prüfungskommission für die Abnahme des hebräischen Examens berufen. Die Ergebnisse waren sehr erfreulich. Von den 52 Prüflingen, die sich bisher dem Examen unterzogen, bestanden bei hohen Anforderungen die Prüfung 49, wogegen nur drei Prüflinge das Examen nicht bestanden haben. Der Lerneifer der Studenten ist erstaunlich groß, während der Weg ins eigentliche Studium infolge mangelnder Vorbildung und der Entwöhnung von geistiger Arbeit während der Kriegszeit von vielen nur langsam gewonnen wird. Mit Ausnahme weniger Nachprüfungen und Kolloquien haben theologische Examen nach dem Kriege noch nicht stattfinden können. Zum Herbsttermin liegen zwei Meldungen zum ersten und zwei Meldungen zum zweiten Examen vor. Da die im Kriege zugelassene Verkürzung des Studiums sich im Blick auf einen verantwortlichen Dienst der werdenden Pfarrer in der Gemeinde nicht bewährt hat, sind die Kriegsbestimmungen von der Kirchenleitung außer Kraft gesetzt worden. Die Kirchenleitung ist jedoch bestrebt, persönliche Härten im Bedarfsfalle durch Stipendien soweit wie möglich auszugleichen. Seit dem Waffenstillstand kamen

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7500 RM an Stipendien für Theologiestudenten durch die Kirchenleitung zur Auszahlung. Die Zahl der rheinischen Vikare und nichtordinierten Hilfsprediger beträgt am 1. September 64. Davon befinden sich in der Heimat 38, gefangen sind 16, vermißt 10. Die Zahl der ordinierten Hilfsprediger beträgt 204. Davon befinden sich in der Heimat 131, in Gefangenschaft sind noch 36, vermißt 37. Der außerordentlich hohe Bedarf an Hilfspredigern und Schulpastoren kann zur Zeit bei weitem nicht gedeckt werden, so daß selbst dringlichste Anforderungen aus den Gemeinden oft leider unerfüllt bleiben müssen. Noch schwerwiegender aber ist die Tatsache, daß infolge der Uberbeanspruchung unserer Kandidaten ihre geistliche und wissenschaftliche Förderung nicht in dem notwendigen Umfang erfolgen kann. Wir hoffen, daß die Bezirkskonvente im Herbst in allen Synoden wieder mit ihrer monatlich ganztägigen Arbeit beginnen können. Die Konventsleiter sind zum größten Teil schon gewonnen. Mit der Kirche in Westfalen hat die Kirchenleitung ein Abkommen getroffen, demzufolge jeweils acht Hilfsprediger zu den fortlaufend stattfindenden Dreiwochenkursen für Kriegsteilnehmer ins Predigerseminar Kupferhammer bei Bielefeld entsandt werden. Vielleicht können wir bald auch mit eigenen Kursen auf der Hohengrete beginnen. Das Elberfelder reformierte Predigerseminar wird in Verbindung mit der Westfälischen Kirche und den reformierten Kirchen in Hannover und Lippe voraussichtlich noch in diesem Jahr in Dalbke in Lippe wieder eröffnet. Das Gebäude des Rheinischen Predigerseminars ist stark beschädigt und anderweitig belegt. Leider war bisher die Genehmigung zur Instandsetzung nicht zu erlangen. Die Gefahr weiterer schwerer Schäden ist groß. Angesichts der geringen Zahl von Vikaren und Theologiestudenten in höheren Semestern wird die Rheinische Kirche neben Dalbke und Kupferhammer in den nächsten drei bis vier Jahren nicht an die Eröffnung eines eigenen Predigerseminars denken können, wohl aber muß sie dahin kommen, daß trotz des Mangels an geistlichen Hilfskräften alle rheinischen Vikare nach einem Jahr praktischen Dienstes mindestens für ein halbes Jahr in ein Predigerseminar eingewiesen werden. Aber selbst wenn wir an Jahreskurse denken dürften, würden für die nächsten Jahre auch hierfür die Plätze in Kupferhammer und Dalbke gut ausreichen. Allen entgegenstehenden Schwierigkeiten zum Trotz ist die Kirchenleitung bemüht, den Kandidaten der Rheinischen Kirche die geistliche Förderung und Ausbildung zuteil werden zu lassen, deren sie für ihren Dienst in den Gemeinden bedürfen.

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8. Sorge für Kriegsgefangene Gleich in der ersten Zeit unserer Arbeit sahen wir uns genütigt, unsere Aufmerksamkeit den Kriegsgefangenenlagern im Rheinland zuzuwenden, zumal diese sich in einer außerordentlich schlimmen Verfassung befanden. Glücklicherweise hat die Zeit dieser Gefangenenlager nicht allzulange gedauert. Es fanden Besuche in den Lagern statt, Bemühungen um eine Besserung der Unterbringung und Ernährung bei den zuständigen Stellen und um möglichste Freilassung der Gefangenen. Die Bemühungen um Freilassung von Kriegsgefangenen haben die Kirchenleitung in dem ganzen vergangenen Jahr fast ununterbrochen beschäftigt. Freilich war diesen wohl nicht oft ein Erfolg beschieden. Wir haben uns besonders um die Freilassung von Pastoren bemüht, obwohl unser Interesse andererseits dahin gerichtet war, daß in den Kriegsgefangenenlagern eine geistliche Versorgung sichergestellt blieb. Trotzdem schon sehr viele Pfarrer und Hilfsprediger aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt sind, ist die Lage immer noch so, daß von 757 Pfarrern 59 noch nicht zurückgekehrt sind; d.h. von 1025 Geistlichen 158. Von diesen befinden sich in Gefangenschaft: im Westen 13 Pfarrer, im Osten 21, vermißt sind 25; im Westen 14 ordinierte Hilfsprediger, im Osten 22, vermißt sind 37; im Westen 8 nicht ordinierte Hilfsprediger, im Osten 8, vermißt sind 10; d. h. im Westen befinden sich 35 Geistliche, im Osten 51, vermißt sind 72. Bei einer Anzahl von diesen ist es fraglich, ob sie nicht schon lange gestorben sind, da keinerlei Nachricht von ihnen vorliegt. Es wird deswegen eines Tages die Frage gelöst werden müssen, wie die Besetzung der Pfarrstellen gehandhabt werden soll, deren Inhaber verschollen sind. Zur geistigen und geistlichen Versorgung der Kriegsgefangenen trug eine Büchersammlung bei, die gegenwärtig aufs neue begonnen hat. Ferner sahen wir uns veranlaßt, einen besonderen KriegsgefangenenPfarrerdienst der Kirchenleitung einzurichten, der in ähnlicher Weise wie der Pfarrerdienst im Kriege den in der Kriegsgefangenschaft befindlichen Pastoren für ihren geistlichen Dienst im Lager Handreichung geben soll. Mit der Durchführung hat die Kirchenleitung Pastor Hans Meyer aus Düsseldorf-Oberkassel beauftragt. Schließlich haben wir angefangen, auf Anregung der Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Einsatz von Freiwilligen zu organisieren, die als Pfarrer sich bereit erklären, den Dienst in den Kriegsgefangenenlagern zu übernehmen, teilweise um die dort tätigen Pfarrer abzulösen, teilweise um überhaupt einen pfarramtlichen Dienst einzurichten.

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9. Finanzfragen Auf dem Gebiet der kirchlichen Finanzen sah sich die Kirchenleitung vor eine überaus undurchsichtige Lage gestellt, da die finanzielle Entwicklung völlig dunkel war. Aus Anlaß einer vom Oberpräsidenten der Nordrheinprovinz angeordneten Gehaltskürzung wurden ab 1. Juni 1945 die Gehälter der Pfarrer und Kirchenbeamten gekürzt, indem beträchtliche Gehaltsteile zunächst einbehalten und später in Kürzungen verwandelt wurden. Diese Gehaltskürzungen sind aufrechterhalten geblieben bis zum Inkrafttreten der neuen Steuergesetze. Bei den kirchlichen Angestellten war eine Kürzung nicht durchzuführen, da das Landesarbeitsamt die Genehmigung dazu versagte. Die Gehaltsfrage der Vikare, Hilfsprediger und Vikarinnen, ferner die Frage der Unterhaltsbeiträge an Frauen, deren Männer in Kriegsgefangenschaft oder vermißt sind, die Pensionen - vor allem die Pensionszahlungen an Kriegerwitwen - hat die Kirchenleitung immer wieder beschäftigen müssen. Es mußte eine Anzahl von generellen Regelungen getroffen werden. Das geschah durch folgende Verordnungen: a. Notverordnung über Zahlung an kirchliche Amtsträger, die aus kriegsbedingten Gründen nicht in der Lage sind, ihr Amt auszuüben, und an deren Angehörige vom 21. September 1945 (KABl 1946, S. 11). b. Verordnung über die Besoldung von Vikarinnen vom 8. Februar 1946 (KABl 1946, S. 35). c. Notverordnung über die Versorgung der Hinterbliebenen von gefallenen Pfarrern, Hilfspredigern und Kirchenbeamten vom 7. August 1946 (KAbl 1946, S. 63). d. Beschluß über die Gehaltszahlung an Hilfsprediger, die krank aus der Gefangenschaft oder aus dem Konzentrationslager zurückkehren und nirgends eingewiesen sind. e. Verordnung über die Bildung einer gemeinsamen Kirchengemeindebeamten-Versorgungskasse für Westfalen und die Rheinprovinz (Beschluß der Kirchenleitung vom 24. Mai 1946). f. Beschluß über die Gehaltszahlungen an Vikare und Prädikanten, deren Lebensalter infolge des Krieges in keinem Verhältnis zu ihrem Ausbildungsgrad steht, vom 21. September 1945. g. Beschluß über die Zahlung von Unterhaltsbeihilfen an Frauen verhafteter suspendierter Pfarrer vom 16. November 1945. h. Beschluß über die Gewährung von Sozialzulagen an Hilfsprediger vom 27. Juli 1945. Weiter befaßte sich die Kirchenleitung mit der Frage der Dienstwohnungen der Pfarrer. Hinsichtlich der Mietfestsetzung bzw. der Zahlung des Wohnungsgeldes war eine generelle Entscheidung notwendig. So wurde unter dem 13. Oktober 1945 die Verordnung über die Zahlung

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des Wohnungsgeldes im Falle der Beschädigung oder Zerstörung des Pfarrhauses erlassen (KAB1 1946, S. 22), die durch die Verordnungen der Kirchenleitung vom 7. Juni 1946 betreffend Zahlung von Wohnungsgeld an Pfarrer und Teilung von Pfarrwohnungen (KABl 1946, S. 47) ergänzt wurden. Durch die Lage gezwungen, mußte das gesamte Finanzwesen der Rheinischen Kirche auf eine neue Grundlage gestellt werden. Es wurden darum der Pfarrbesoldungspflichtbeitrag und die Landeskirchliche Umlage auf die Provinzialkirche verlagert. Es wurde eine neue Versorgungskasse errichtet. Es wurden sämtliche Pensionszahlungen an die Pfarrer der Rheinischen Kirche und an deren Hinterbliebenen auf die Rheinische Kirche übernommen. Auf diese Weise bemüht sich die Kirchenleitung, allen Gehalts- und Versorgungsansprüchen vorläufig wenigstens nach Kräften gerecht zu werden. Eine endgültige Lösung kann erst nach einer Neugestaltung der inneren und äußeren Verhältnisse, einschließlich der Geldverhältnisse, ins Auge gefaßt werden. Zu erwähnen bleibt noch, daß die durch die Kriegshandlungen besonders mitgenommenen Synoden Aachen, Jülich, Kleve und Wesel zu Notstandsgebieten erklärt wurden, da es in den dortigen Gemeinden unmöglich war, überhaupt Kirchensteuern zu erheben. Es wird erst allmählich wieder eine Möglichkeit gegeben sein, in diesen Gebieten ein einigermaßen geordnetes Finanzwesen aufzurichten.

10. Kollekten Gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit setzte die Kirchenleitung im Mai 1945 an Stelle der landeskirchlichen Kollekten in der zweiten Jahreshälfte 1945 provinzialkirchliche Kollekten ein, weil es nicht mehr zu übersehen war, ob landeskirchliche Kollekten überhaupt noch ihrem Zwecke zugeführt werden konnten, und weil die Zweckbestimmung einiger Kollekten vom Bekenntnis her ernsten Bedenken unterlag. Dafür wurden diese Kollekten ausschließlich für die Zwecke der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz bestimmt (Männerarbeit, Frauenhilfe, theologischer Nachwuchs, kirchliche Unterweisung, Volksmission). Natürlich nahmen einen besonderen Raum die Kollekten für den Wiederaufbau der zerstörten rheinischen Kirchen und Gemeinden ein. Der Ertrag der Kollekten war trotz der besonders schweren Monate der zweiten Hälfte des Jahres 1945 durchschnittlich ein sehr erfreulicher und lag über dem Betrag der entsprechenden Kollekten der letzten Kriegsjahre, und dies, obwohl eine ganze Anzahl von Gemeinden in den Monaten des Zusammenbruchs ihre Kollekten begreiflicherweise für eigene Notstände behielten. 3

Beckmann, H o f f n u n g für die Kirche

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Einige Beispiele mögen das Gesagte illustrieren: Die Liebesgabe am Opfertag der Inneren Mission erreichte die Rekordhöhe von fast 200 000 RM, die Erntedankfestkollekte für außerordentliche Aufgaben der Rheinischen Kirche 108000 RM. Der GustavAdolf-Verein erhielt am Reformationssonntag 75000 RM, die schwer zerstörte Anstalt Hephata in München-Gladbach am Totensonntag 70 000 RM. Für dringende Notstände der Rheinischen Kirche kamen zu Silvester 80 000 RM zusammen. Für die Kirchliche Osthilfe wurden im Januar 1946 erstmalig 101000 RM gegeben. Die Diakonissenanstalt Kaiserswerth erhielt am Karfreitag 94 000 RM. Für die zerstörten rheinischen Gemeinden wurden zu Ostern 90000 RM geopfert. Der Durchschnittsertrag der Kollekten lag schon an gewöhnlichen Sonntagen um 40000 RM. Der Gesamtertrag der provinzial- bzw. überprovinzialkirchlichen Kollekten vom Mai 1945 bis Mai 1946 betrug (ohne die 15 Sonntage für gemeindeeigene Zwecke) 2621000 RM. Vergleichsweise betrug derselbe Ertrag in der Zeit vom Mai 1944 bis Mai 1945 1509453 RM, in der Zeit vom Mai 1941 bis Mai 1942 615178 RM. In dieser beachtlichen Steigerung wirkt sich zweifellos zunächst einmal die große Geldflüssigkeit aus; aber es ist doch nicht zu verkennen, daß ebenso die gesteigerte Zahl der Gottesdienstbesucher seit Kriegsende und die vermehrte Opferwilligkeit der Gemeindeglieder für alle die großen Nöte, die uns betroffen haben, darin zum Ausdruck kommt. Die Aufstellung des neuen Kollektenplanes für 1946 ist nach folgenden Gesichtspunkten erfolgt: Für die umfassenden Aufgaben der EKD (gesamtkirchliche Notstände und Evangelisches Hilfswerk) wurden zwei Sonntage bestimmt (darunter die Erntedankfestkollekte). Für die großen Nöte der östlichen Provinzen der altpreußischen Union wurden aufgrund des Treysaer Abkommens, Ziffer 7, in brüderlicher Notverbundenheit vier Kollekten unter dem Stichwort „für gesamtkirchliche Notstände" eingesetzt. Ein fünfter Sonntag kam mit Rücksicht auf die in der zweiten Hälfte 1945 fortgefallenen gesamtkirchlichen Kollekten hinzu. Für die Finanzierung der kirchlichen Osthilfe an alle aus dem Osten verdrängten Pfarrer, Gemeindebeamten und ihre Angehörigen in der westlichen Zone Deutschlands wurden vier Kollekten unter dem Stichwort „Kirchliche Osthilfe" bestimmt. Die Innere Mission mit ihren Anstalten in der Rheinprovinz erhielt 19 Kollekten. Provinzialkirchlichen Zwecken sind 13 Kollekten vorbehalten. Die Gemeinden haben 15 Sonntage für ihre eigenen Zwecke erhalten. Dazu kommen Äußere Mission, Bibelgesellschaften und Gustav-Adolf-Verein mit je einer Kollekte. Eine begrenzte Anzahl besonders heimgesuchter Gemeinden in den westlichen Grenzsynoden unserer Kirche, die wegen ihrer Zerstörung überhaupt keine Kirchensteuer ausschreiben konnten, erhielten die

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Sondergenehmigung, 50 Prozent aller eingehenden Kollekten für sich zu behalten. Diese Notstandsgebiete der westlichen Grenzsynoden bedürfen für ihren Wiederaufbau der besonderen Hilfe der Gesamtkirche. Von den gesamtkirchlichen Kollekten der Jahre 1944/45, soweit sie noch vor Kriegsende eingesammelt, zweckgebunden und noch nicht abgeführt waren, hat die Rheinische Kirche in Übereinstimmung mit Westfalen ein Viertel für ihre entsprechenden Einrichtungen anteilmäßig behalten. Die übrigen drei Viertel wurden in Höhe von 321000 RM der Leitung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union für die Ostprovinzen bzw. den gesamtkirchlichen Empfängern wie BurckhardtHaus und Preußische Hauptbibelgesellschaft zur Verfügung gestellt. Weitere 110000 RM sind der Leitung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union für die Ostprovinzen als Anzahlung auf die in diesem Jahr laufenden Notstandskollekten für den Osten zugeleitet worden. So spiegeln sich in dem Kollektenplan und -ergebnis die Nöte und Aufgaben der Kirche von der Einzelgemeinde bis zur E K D mit allen ihren Einrichtungen wieder.

11. Innerkirchlicher Wiederaufbau Auf allen Gebieten des kirchlichen Lebens war in den vergangenen Jahren ein ununterbrochener Abbau erfolgt. Der Krieg hatte diese Entwicklung noch beschleunigt und vervollständigt. Neben den Ruinen und Trümmerhaufen draußen standen die kümmerlichen Reste ehemals großer kirchlicher Arbeiten. Die Kirchenleitung bemühte sich, das Ihre zu einem bescheidenen Neuanfang beizutragen. a. So wurde als Zusammenfassung und Leitung der Jugendarbeit die Kirchliche Jugendkammer unter dem Vorsitz von Pfarrer Bopp, Unterbarmen, errichtet. In ihr ist alle Art kirchlicher Jugendarbeit vertreten, die Jugendverbände und die Gemeindejugendarbeit. Die Stelle eines Provinzialjugendpfarrers wird nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht wieder hauptamtlich besetzt. b. Die Kirchliche Männerarbeit im Rheinland war durch viele Jahre hindurch in zwei Organisationen: Männerdienst und Männerwerk gespalten und dadurch mannigfach gehemmt. Es gelang ziemlich rasch, die beiden bisherigen Organisationen zusammenzufassen und aus ihnen eine einheitliche kirchliche Männerarbeit der Evangelischen Kirche zu schaffen, die ihrerseits inzwischen den Zusammenschluß über die gesamte Evangelische Kirche in Deutschland gefunden hat. c. Zur Förderung der volksmissionarischen Arbeit wurde das Volks-

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missionarische Amt der Evangelischen Kirche unter Leitung von Pfarrer Dr. Linz, Düsseldorf, ins Leben gerufen, das sich die innerkirchliche Mission durch Evangelisation und Bibelwochen zur Aufgabe gestellt hat. d. Der Wiederaufbau der kirchlichen Presse begegnete außerordentlich großen Schwierigkeiten. Es war lange Zeit hindurch nicht einmal möglich, ein kirchliches Amtsblatt erscheinen zu lassen. An ein Sonntagsblatt war trotz aller Bemühungen nicht zu denken. Die der evangelischen Kirche nahestehenden Verlage und Druckereien konnten keine Lizenz erhalten. Der Papiermangel machte sich bis hin zu den Vervielfältigungen bemerkbar. N u r ganz allmählich konnte hier ein Fortschritt erzielt werden. Zuerst in der französischen Zone, später auch in der britischen. Vorerst wurde eine kirchliche Pressestelle an Stelle des nicht mehr arbeitsfähigen Preßverbandes errichtet, der es gelang, ein umfangreiches Nachrichtenblatt herauszubringen. Endlich fand auch der seit Herbst 1945 laufende Antrag auf ein Sonntagsblatt für die britische Zone Genehmigung, und zum Juli 1946 erschien unter der Schriftleitung von Pfarrer Herkenrath „Der Weg" in etwa 200000 Exemplaren. Daneben waren in der französischen Zone bereits wieder mehrere Sonntagsblätter erschienen: „Glaube und Heimat", für Hunsrück und Nahe, der „Sonntagsgruß" für die Saargemeinden, „Die Botschaft" in der Synode Koblenz, der Neuwieder „Sonntagsbote" und in der Synode Altenkirchen „Der Ruf". Die große N o t der Kirche, daß ihr Bibeln und Gesangbücher fehlen, konnte bis heute wegen des Papiermangels noch nicht behoben werden, während Katechismen inzwischen schon wieder in größerer Zahl gedruckt werden konnten. Um so dankbarer sind wir, daß wir in jüngster Zeit eine erste Spende der Amerikanischen Bibelgesellschaft von Bibeln und Testamenten erhielten. e. Auf den verschiedenen Gebieten des öffentlichen Lebens, Presse, Rundfunk, Film, Volksbildung, Buch konnte erst ein kleiner Anfang gemacht werden. Kirchliche Nachrichten und Artikel konnten wieder in den Zeitungen erscheinen. Im Rundfunk begann wieder evangelischer Gottesdienst. Ein kirchlicher Beauftragter für dieses Gebiet (Pfarrer Praetorius, Düsseldorf) konnte seine Arbeit beginnen. f. Während die Vorbereitung zur Neugründung eines Katechetischen Amtes der Kirche noch nicht abgeschlossen werden konnte, da die hierfür notwendige hauptamtliche Kraft noch nicht gefunden wurde, konnte das Liturgische Amt seine Arbeit bereits beginnen, das sich vor allem der Pflege der Kirchenmusik (Singearbeit) und der Förderung der Kirchenmusiker widmet. Kirchenmusikdirektor Ferdinand Schmidt wurde hauptamtlich zum Landeskirchlichen Singewart berufen. g. An die Wiederaufnahme der kirchlichen Freizeitarbeit, insbeson-

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dere zur Fortbildung der kirchlichen Amtsträger, wurde viel Überlegung und Arbeit gesetzt, leider konnte sie bisher wegen Mangel an Raum noch nicht in die Tat umgesetzt werden. Die kirchlichen Freizeithäuser sind sämtlich besetzt bzw. beschlagnahmt, in Anstalten der Inneren Mission war nicht genügend Raum zu bekommen. Erst in jüngster Zeit ist es durch ein Abkommen mit der Evangelischen Gesellschaft gelungen, in dem Heim Hohegrete für eine größere kirchliche Freizeitarbeit Raum zu erhalten. Pastor Kunze (bisher Frauenhilfe) ist als Leiter dieser Arbeit, die im Oktober beginnen soll, für das kommende Halbjahr gewonnen worden. h. Zum Abschluß dieses Arbeitsgebietes ist noch zu erwähnen, daß die Kirchenleitung angesichts des großen Rückstromes der Ausgetretenen eine besondere Ausführungsanweisung zur Lebensordnung über den Wiedereintritt in die Kirche erlassen hat, um eine einheitliche kirchlich verantwortbare Behandlung dieser schwierigen Frage nach Möglichkeit zu gewährleisten (KABl 1946, S. 8-10). Die beiden wesentlichen Punkte dieser Anweisung sind die Festsetzung einer Wartezeit mit kirchlicher Unterweisung und die gottesdienstliche Gestaltung der Wiederaufnahme in die Gemeinde.

12. Die Schule Der völlige Zusammenbruch des nationalsozialistischen Erziehungssystems und seiner Schulpolitik stellte die Kirchenleitung vor die Aufgabe, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um auf dem Gebiet der Schule die christliche Unterweisung tatsächlich zu ermöglichen, nach den gewonnenen Einsichten und Erfahrungen sachgemäß zu ordnen und in Verhandlungen mit Behörden rechtlich zu sichern. Zur Erfüllung dieser grundlegenden und umfassenden Aufgaben bestellte die Kirchenleitung eines ihrer Mitglieder zum Schulreferenten, der einige Mitglieder der Schulkammer der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland zur Mitarbeit heranzog. In dieser Zusammenarbeit entstand der Ansatz zu einer Schulkammer, deren weiterer Ausbau bevorsteht. U m die Erziehungsverantwortung der Kirche in dem großen Kirchengebiet mit seinen mancherlei kirchlichen, kulturellen, sozialen und rechtlichen Unterschieden in den einzelnen Kreissynoden zu erkennen und den besonderen Verhältnissen entsprechend und doch in der Sache so einheitlich wie möglich wahrzunehmen, bestellte die Kirchenleitung in den einzelnen Kreissynoden Schulreferenten, die sich als Ohr, Mund und Hand der Kirchenleitung auf dem Gebiet des Unterrichtswesens so bewährt haben, wie das bei der Neuheit der Sache unter den gegebenen,

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z.T. beinah unvorstellbaren Schwierigkeiten überhaupt möglich war. Die Schulreferenten der Nordrheinprovinz wurden im November zu einer zweitägigen Arbeitstagung auf dem Tannenhof, die Referenten der drei Besatzungszonen der Südrheinprovinz im März für zwei Tage in Meisenheim versammelt. Die brüderliche Zusammenarbeit zwischen dem Schulreferenten der Kirchenleitung und den kreissynodalen Schulreferenten ebenso frei in der Form wie gebunden in der Sache zu gestalten, die gegenseitige Unterrichtung und den persönlichen Zusammenhang zu fördern, kreissynodale Selbständigkeit und provinzialkirchliche Einheitlichkeit in eine rechte kirchliche Ordnung zu bringen, wird eins der vornehmsten Anliegen der Kirchenleitung bleiben. Der Schulreferent der Kirchenleitung und seine engeren Mitarbeiter haben zunächst grundsätzlich die tatsächliche Lage und das gültige Recht auf dem Gesamtgebiet der Erziehung, der Schule und des Religionsunterrichts festzustellen versucht und aufgrund des vorgefundenen Tat- und Rechtsbestandes vornehmlich mit dem Oberpräsidium und seiner Kulturabteilung enge Fühlung aufgenommen und in fruchtbarer Zusammenarbeit Verhandlungen gepflogen, um die Rechtsverhältnisse, entsprechend der neuen staatlichen und kirchlichen Lage und den neuen Erkenntnissen auf theologischem und katechetischem Gebiet zu klären, neu zu ordnen und sachliche und personelle Mißstände zu beseitigen. Soweit es notwendig war, wurde auch mit den alliierten Behörden Fühlung genommen und mit den einzelnen bischöflichen Schulreferenten und dem erzbischöflichen Generalvikariat eine gegenseitige Verständigung auf schulpolitischem Gebiet herbeigeführt. Alle diese Verhandlungen bewegten sich stets auf einer Basis gegenseitigen offenen Vertrauens. Die Verhandlungen mit den einzelnen Bezirksregierungen der N o r d rheinprovinz wurden durch besondere Beauftragte der Kirchenleitung geführt, in der Südrheinprovinz durch die Kirchenräte. Die Verhandlungen mit den Landräten und Kommunalbehörden waren in die Hände der kreissynodalen Schulreferenten gelegt. Kirchlich gesehen am wichtigsten waren die Verhandlungen über die rechtliche Anerkennung des Religionsunterrichts als kirchlicher Verkündigung im Raum der Schule, zu welcher die Kirche dem Lehrer eine ausdrückliche Berufung (Vocation) erteilen muß. Die sehr ausgedehnten Verhandlungen begannen bereits am 3. August 1945 und sind grundsätzlich im Sinn der kirchlichen Notwendigkeiten abgeschlossen. Der Staat erwartet vor der Unterzeichnung der entsprechenden Verordnung, welche das gesamte Recht des Religionsunterrichts an allen Schulen einheitlich regeln soll, eine kirchenrechtsetzende Erklärung der Provinzialsynode, daß die von der Kirchenleitung vertretene Notwendigkeit

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der kirchlichen Vocation der Religionslehrer der Lehre und Ordnung der evangelischen Kirche entspricht. Erst in zweiter Linie stand die Frage der Bekenntnisschule, welche die kirchliche Öffentlichkeit aufs stärkste bewegt hat. In ebenso nüchterner Sicht der tatsächlichen Verhältnisse in Elternhäusern und Lehrerschaft, wie in der grundsätzlichen Anerkennung der notwendigen Aufgaben einer wahrhaft evangelischen Erziehung gab die Kirchenleitung zuerst die Losung heraus: „Christliche Simultanschule, soweit und solange als notwendig, evangelische Konfessionsschule, soweit und sobald als möglich". Ohne Betreiben der Kirchenleitung und der evangelischen Gemeinden kam es zu der Elternabstimmung, nach unserer Sicht der Dinge vor der Zeit. Da eine ausgesprochen christliche Simultanschule, wie sie in einigen süddeutschen Ländern seit längerem grundsätzlich besteht, hier in der Nordrheinprovinz nicht zur Erörterung stand, sondern nach der Formulierung der Erziehungsanordnung N r . 1 der Alliierten Militärregierung wie auch nach den Erklärungen deutscher Behörden und Parteien nur die Wahl zwischen einer tatsächlich weltanschaulich neutralen, also nichtchristlichen Gemeinschaftsschule mit bloß angehängtem, von den übrigen Unterrichtsfächern isolierten Religionsunterricht einerseits und andererseits einer wenigstens grundsätzlich den gesamten Unterricht und die ganze Erziehung auf evangelischer Glaubensgrundlage gewährleistenden Schule ließ, war keine andere Entscheidung möglich, als die Elternschaft zur Entscheidung für die Konfessionsschule aufzurufen. Eine echte Bekenntnisschule wird allerdings erst dann Wirklichkeit werden, wenn eine auf evangelischer Grundlage aufbauende Lehrerbildung vorhanden sein wird, wenn die Arbeitsgemeinschaften zwischen Lehrern und Pfarrern Frucht getragen haben und wenn eine umfassende und tiefe Elternarbeit der Kirche die Voraussetzungen für eine wahrhaft evangelische Erziehung in Haus und Schule geschaffen haben wird. Andere Hauptgegenstände der Verhandlungen waren die Errichtung der pädagogischen Akademien und ihre Besetzung mit geeigneten Dozenten, ferner das Recht der konfessionellen Minderheiten, Beschäftigung dissidentischer Lehrkräfte an öffentlichen Schulen, die Erteilung des Religionsunterrichts durch freikirchliche Lehrkräfte, das Recht, der Einsatz und die Finanzierung katechetischer Hilfskräfte und Religionsunterricht erteilender Pastoren, das Recht der religionspädagogischen Ausbildung der Junglehrer und Schulhefte und die Weiterbildung der Religionslehrer in Lehrer- und Pfarrerarbeitsgemeinschaften, das Recht des Schulgottesdienstes usw. Weitere Aufgaben des Schulreferenten der Kirchenleitung und der Schulkammer lagen auf dem Gebiet der Lehrpläne für den Religionsunterricht aller Schulgattungen, der Lehrbücher, der Unterrichtshilfen und

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einheitlicher Richtlinien für die Arbeitsgemeinschaften zwischen Lehrern und Pfarrern und für die religionspädagogischen Kurse für Junglehrer und Schulhelfer. Für die in den einzelnen Synoden geleistete Arbeit in den langsam anlaufenden Arbeitsgemeinschaften der Lehrer und Pfarrer und Katecheten ist die Kirchenleitung sehr dankbar. Sie befiehlt sie der stetigen Förderung der Synoden und Gemeinden. Hier ist wirklich fruchtbares kirchliches Neuland unter dem Pflug.

13. Das Verhältnis zu den anderen Kirchen in Deutschland a. Es ist klar, daß die Kirchenleitung von Anfang an um eine Zusammenarbeit mit der Westfälischen Kirchenleitung besorgt war. Freilich kam wegen der außerordentlich großen Verkehrsschwierigkeiten erst nach und nach ein engeres Arbeitsverhältnis zustande. Feste Formen nahm es an seit der Treysaer Kirchenkonferenz. Auf dieser Konferenz wurde bekanntlich nicht nur die vorläufige Neuordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland beschlossen, sondern auch die notwendige Neugestaltung der altpreußischen Union. Angesichts der Trennung dieser Kirche in ein westliches und ein östliches Gebiet und der damit verbundenen Unmöglichkeit, das bisherige Kirchenwesen aufrechtzuerhalten, wurde in Treysa von den dort anwesenden Vertretern aus der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union eine Abmachung über die Leitung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union beschlossen (KAB1 1946, S. 14). Die wichtigste Bestimmung dieser Erklärung ist die starke Verselbständigung der bisherigen Kirchenprovinzen. Andererseits existiert die Evangelische Kirche der altpreußischen Union in zwei größeren Gruppen, einer westlichen und einer östlichen weiter. So kam es zu der Konstituierung einer „Leitung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union für die Westprovinzen". Sie besteht aus den beiden Kirchenleitungen von Rheinland und Westfalen. Wir haben diese Leitung so geordnet, daß aus beiden Kirchen je drei Vertreter zu den gemeinsamen Sitzungen entsandt werden. Die hier vollzogene kirchenleitende Arbeitsgemeinschaft hat sich sehr bewährt. Sie hat eine ganze Anzahl von kirchlichen Notverordnungen an Stelle des früheren Kirchensenats erlassen. Auf diese Weise wurde der Rechtszustand in den beiden Kirchen von Rheinland und Westfalen einheitlich fortgeführt. Die Tagungen der Kirchenleitung der altpreußischen Union für die Westprovinzen finden mindestens alle zwei Monate statt. Die Geschäftsführung liegt z.Z. bei der Westfälischen Kirchenleitung. Sie soll in regelmäßigen Abständen zwischen den beiden Leitungen wechseln.

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b. Außer der engen Zusammenarbeit mit der Westfälischen Kirche fand sich eine Arbeitsgemeinschaft der Kirchen der britischen Zone zu regelmäßigen Konferenzen zusammen unter Leitung von Präses D. Koch. In diesen Konferenzen findet ein intensiver Austausch über alle akuten Fragen statt. Man bemüht sich um eine möglichst einheitliches Vorgehen, besonders in allen Angelegenheiten, die das Verhältnis zu den Staatsbehörden und der Militärregierung betreffen. In diesem Zusammenschluß wurde auch die zuerst von Rheinland und Westfalen gebildete Nothilfe (Osthilfe) als eine gemeinsame Einrichtung der beteiligten Kirchen beschlossen, um dadurch einerseits die Versorgung und Beschäftigung der Ostpfarrer in allen Kirchen gemeinsam zu regeln, andererseits einen Finanzausgleich zwischen den Kirchen herbeizuführen, um auf diese Weise einige mit Flüchtlingen überlastete Kirche zu unterstützen. c. Schon ein Vierteljahr nach Einstellung der Feindseligkeiten rief Landesbischof D. Wurm die Leitungen der Evangelischen Kirchen Deutschlands mit der Bekennenden Kirche und dem Kirchlichen Einigungswerk nach Treysa zu einer Kirchenkonferenz zusammen, um an die Stelle der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) einen einheitlichen Zusammenschluß und eine neue Zusammenarbeit der beteiligten Kirchen herbeizuführen. Das Ergebnis der Treysaer Konferenz vom 31. August 1945 war die „Vorläufige Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschlands" und die Bestellung eines Rates zur vorläufigen Leitung der EKD. Die Vertreter der Rheinischen Kirchenleitung haben sich nach Kräften für die Bildung und die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland eingesetzt. Sie nahmen auch an der zweiten Treysaer Konferenz teil, auf der besonders die Fragen, die sich aus der Entnazifizierung ergaben, zum Gegenstand der Beratungen und Beschlüsse gemacht wurden. Dadurch, daß ein Mitglied der Rheinischen Kirchenleitung im Rat der EKD ist, ist naturgemäß die Verbindung zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Rheinischen Kirchenleitung besonders eng gewesen. Wir haben es angesichts der Gefahren, die der Einheit der evangelischen Kirche durch die Bildung einer ev.-luth. Kirche Deutschlands drohten, für unsere Aufgabe gehalten, uns bei jeder Gelegenheit nach Kräften für die Erhaltung und Festigung der uns gerade auch im Kirchenkampf neu geschenkten Einheit der E K D einzusetzen und hoffen, daß diesen Bemühungen der Erfolg nicht versagt bleibt. Mit der Errichtung der Kanzlei der E K D ist für die Evangelische Kirche Deutschlands wieder der Anfang einer alle umfassenden und alle angehenden Leitung gemacht, die der Gemeinschaft und der Einheit des kirchlichen Dienstes in Deutschland einen wesentlichen Dienst tut. d. Im Zusammenhang dieses Abschnittes unseres Berichtes müssen

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wir noch erwähnen, daß die Kirchenleitung beschlossen hat, die in Hohenzollern gelegenen evangelischen Gemeinden der Dienstaufsicht des Württembergischen Oberkirchenrats zu unterstellen. Es erschien uns weder geboten noch auch durchführbar, die Leitung dieser Gemeinden weiter beizubehalten. Die Verhandlungen über die endgültige Abtrennung der Kreisgemeinde Hohenzollern an die Württembergische Kirche stehen vor dem Abschluß. Für alle Hilfe und alles Entgegenkommen (z. B. bei der Pfarrstellenbesetzung), das wir beim Evangelischen Oberkirchenrat in Stuttgart erfahren haben, sind wir dankbar.

14. Die Stellung zu den politischen Gewalten a. Seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches liegen die obrigkeitlichen Befugnisse in Deutschland bei der Militärregierung. Die Kirchenleitung mußte demgemäß als Vertretung der evangelischen Kirche die Verbindung mit den zuständigen Militärregierungen aufnehmen. Das geschah vor allem mit der Militärregierung der Nordrheinprovinz und den beiden französischen Militärregierungen in Bad Ems und Saarbrükken und schließlich mit der amerikanischen Militärregierung im Kreise Wetzlar. Unser Verhältnis zur Militärregierung ist durch keinerlei Spannung getrübt gewesen. Wir haben überall für die kirchlichen Erfordernisse Verständnis gefunden, und nirgendwo sind an uns kirchlich unmögliche Forderungen gestellt worden. Die Militärregierungen waren bemüht, unseren Anliegen Rechnung zu tragen, soweit sie dazu irgend imstande waren; z.B. bei der Wiedereröffnung der von der Staatspolizei geschlossenen Theologischen Schule in Wuppertal, bei der Anerkennung der kirchlichen Feiertage, bei der Bewilligung von Abendmahlswein, beim Wiederaufbau kirchlicher Gebäude, der Genehmigung kirchlicher Kindergärten. Die Kirchenleitung sah sich veranlaßt, für in der französischen Zone gelegene Regierungsbezirke Koblenz und Trier und für das Saargebiet sowie für den amerikanisch besetzten Kreis Wetzlar je einen Bevollmächtigten zu ernennen, und zwar den Kirchenrat Lic. Sachsse für Koblenz-Trier, Kirchenrat Wehr für das Saargebiet und Superintendent Läufer für die amerikanische Zone, um eine Zusammenarbeit und Vertretung der Kirchenleitung gegenüber der Militärregierung wie auch gegenüber den deutschen Behörden sicherzustellen. b. Im Zuge der vom Kontrollrat allgemein angeordneten Entnazifizierung Deutschlands war es natürlich unumgänglich, das Problem der Entnazifizierung der Pfarrerschaft sowie der übrigen kirchlichen Amtsträger zu lösen. Der Rat der EKD sah sich veranlaßt, zu diesem Zweck

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die Vertreter der Kirchenleitungen zu einer besonderen Konferenz zusammenzurufen. Wir haben bei den Militärregierungen, und zwar sowohl bei der britischen als auch bei der französischen, ein großes Verständnis für eine kirchliche Erledigung dieser Frage gefunden. Während im ersten Stadium der Entnazifizierung die Beanstandungen durch unmittelbare Eingaben der Kirchenleitung ausgeräumt wurden, ist schließlich auf Anforderung der Militärregierung für das Saargebiet, für die Regierungsbezirke Koblenz-Trier und für die britische Zone je ein kirchlicher Entnazifizierungsausschuß bestellt worden, und zwar durch Berufung seitens der Kirchenleitung mit Zustimmung der Militärregierungen. Durch diesen Ausschuß ist die Entnazifizierung der Geistlichen im Saargebiet bereits abgeschlossen, in den übrigen Gebieten hat sie begonnen, da diese Ausschüsse erst später gebildet worden sind. Wir dürfen hoffen, daß auf diese Weise wie bereits im Saargebiet auch in den übrigen Teilen der Rheinischen Kirche die so äußerst schwierige Frage gelöst werden wird, zumal auch in der britischen Zone die Überprüfung der Pfarrer bereits insoweit abgeschlossen ist, als nur die bis zur Bildung des Ausschusses noch nicht erledigten Fälle vor den Ausschuß kommen sollen. Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß die Uberprüfung der übrigen kirchlichen Amtsträger noch keine Lösung gefunden hat. Es wird von Interesse sein, aus der bisherigen Uberprüfung folgende Zahlen zu erfahren: Von dem deutschen Säuberungsausschuß im Saargebiet wurden zirka 50 Fälle behandelt, davon wurden 4 beanstandet. Das Urteil in allen 4 Fällen lautet auf Versetzung in eine andere Stelle. Von den Pfarrern der britischen Zone sind 32 aufgrund der Fragebogenaktion von der Militärregierung beanstandet worden. 12 Fälle haben durch Befürwortung der Kirchenleitung ihre Erledigung gefunden. Die Pfarrer sind wieder im Amt. 16 Beanstandungen sind noch in Bearbeitung und werden vor dem deutschen kirchlichen Entnazifizierungsausschuß behandelt. Eine Suspendierung dieser Pfarrer durch uns hat nicht stattgefunden. 4 Fälle konnte die Kirchenleitung nicht befürworten, da es sich um nationalkirchliche Geistliche handelt. In der amerikanischen Zone sind 8 Pfarrer durch die Militärregierung beanstandet worden, davon wurden 4 Beanstandungen zurückgezogen, 4 Fälle sind noch in Bearbeitung. c. Auch bei den deutschen Behörden, den Oberpräsidien und Regierungen vornehmlich, fand die Kirchenleitung weitgehendes Entgegenkommen. Es bahnte sich mit den neuen Männern ein durchaus gutes, z. T. sogar enges Verhältnis der Zusammenarbeit an. Die Kirche wurde wieder in ganz anderer Weise geachtet als in der jüngsten Vergangenheit. Das Hauptgebiet, auf dem eine neue Zusammenarbeit wieder zustande

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gekommen, ist das Schulwesen, worüber schon in dem entsprechenden Abschnitt berichtet worden ist. Besondere Erwähnung fand auch schon die Restituierung der Evangelisch-theologischen Fakultät in Bonn. Auf finanziellem Gebiet erkannte die neue Staatsbehörde das Fortbestehen der alten finanziellen Verpflichtung des preußischen Staates gegenüber der evangelischen Kirche an. Es wurden die Staatszuschüsse (Dotationsbeträge), die Zuschüsse zur Pfarrbesoldung sowie die sog. linksrheinischen Staatsgehälter der Pfarrer bereits in erheblichem Umfang an die Kirche gezahlt. Hinsichtlich der rechtlichen Grundlage von Staat und Kirche stellte sich die Kirchenleitung bisher auf den Standpunkt, daß der Staatsvertrag zwischen der evangelischen Kirche und dem Freistaat Preußen nicht aufgehoben sei. Wir haben uns darum unsererseits an die Bestimmungen des Vertrages gehalten. Was nun nach der Bildung der neuen Länder für Folgerungen sich ergeben werden, ist noch nicht zu erkennen. d. Die Wiederbelebung der politischen Betätigung im deutschen Volk stellt auch die Kirche vor eine neue Aufgabe, vor allem im Blick auf die sich bildenden neuen politischen Parteien. Wir waren uns darüber klar, daß die politische Aufgabe der Christen in unserem Volk zwar unbedingt zu bejahen ist, daß aber die Kirche als solche keinerlei parteipolitische Bindungen eingehen dürfe, ohne jedoch dabei in eine falsche Neutralität zu verfallen. Eine Stellungnahme der Kirche und ihrer Leitung zu den großen politischen Fragen und Aufgaben unserer Zeit ist vom Gebote Gottes her gefordert. So gewiß der Christ nicht nur auf seine politische Verantwortung angesprochen werden muß, sondern sich auch etwa parteipolitisch zu betätigen hat, so gewiß schien es uns geboten, die Pfarrer vor jedem Einsatz im parteipolitischen Leben um ihres Amtes willen zu warnen. Wir halten es nicht für tragbar, wenn die Diener der Kirche sich als Abgeordnete von Parteien oder als Parteiredner betätigen. Die Kirche muß mit den Abgeordneten und Führern aller Parteien als Trägerin ihres göttlichen Auftrages über die politische Arbeit sprechen. Sie wird das nur können, wenn sie in ihrer alleinigen Bindung an ihren Auftrag den politischen Mächten gegenüber frei ist.

III. Der Tätigkeitsbericht der Kirchenleitung ist damit zu Ende. Es mußte in ihm von sehr vielen Dingen geredet werden, und von den meisten konnte nur in aller Kürze die Rede sein. Aber wenn wir auch beim Rückblick auf das Ganze vielleicht den Eindruck gewinnen könnten, es sei bereits einiges in dem vergangenen Jahr geschehen, so muß doch um so eindringlicher darauf hingewiesen werden, wie wenig es ist, was

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bisher erst getan werden konnte, und wie groß die Fülle der Aufgaben ist, die noch zu bewältigen ist. Es ist nicht mehr geschehen als ein erster bescheidener Anfang, die ersten Schritte zu einem Wiederaufbau haben getan werden können. Wir in der Kirchenleitung sind tief davon durchdrungen, wie klein diese ersten Schritte gewesen sind. Vieles, das wir für dringend nötig gehalten haben, hat sich nicht verwirklichen lassen. Vieles, das wir uns vorgenommen hatten, konnte nicht durchgeführt werden, sei es aus äußeren Hemmungen, aus Mangel an Zeit, sei es aus innerer Kraftlosigkeit. Das zu nennen, was noch an unerledigten großen Aufgaben vor uns liegt, würde zu weit führen und den Rahmen eines Tätigkeitsberichtes überschreiten. Aber in Erinnerung an das, was am Anfang gesagt wurde, sei zum Schluß nur noch das eine bezeugt: Was wir getan haben, sollte ein Dienst sein im Auftrag des Herrn zum Bau seiner Gemeinde, wozu er uns gerufen hat. Was wir dabei versäumt haben, ist unsere Schuld, für die wir Gott und die Brüder um Vergebung bitten. Wenn es aber etwas war zur Erbauung seiner Gemeinde, so preisen wir Gott, der das Vollbringen gab, rühmen seine Gnade, die es gelingen ließ. „Dem aber, der überschwenglich tun kann über alles, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die da in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde, die in Christo Jesu ist, zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen."

Bericht auf der Rheinischen Provinzialsynode am 8. November 1948* Meine Aufgabe ist es, der Synode Rechenschaft zu geben über die Arbeit der Kirchenleitung. Die Synode von 1946 gab der Kirchenleitung ihre synodale Grundlage, indem sie sich auf den Boden der Vereinbarung vom 15. Mai 1945 stellte. Sie gab ihr die Richtlinie ihrer Arbeit und stellte ihr die Aufgabe, mit deren Lösung wir seitdem befaßt sind - die Wiederherstellung einer presbyterial-synodal geordneten Evangelischen Kirche im Rheinland. Die Synode bejahte den Neuanfang von 1945 und legte einen wesentlichen Grundstein der Neuordnung, indem sie sich zum Dienst der Bekennenden Kirche bekannte, insbesondere die Theologische Erklärung von Barmen als schriftgemäßes Zeugnis auf ihre Verantwortung nahm. In ihrem Hauptgegenstand, dem Gesetz zur Übertragung des Presbyteramtes, schuf sie die rechtliche Voraussetzung des Neuaufbaus der rheinischen Kirche, zu dessen Weiterbau wir heute versammelt sind.

1. Neubildung der kirchlichen Körperschaften Der Erlaß der „Ordnung für die Übertragung des Presbyteramtes" legte - nachdem sie den Staatsregierungen nach dem Staatsvertrag vorgelegt war - der Kirchenleitung die Aufgabe auf, für den Vollzug dieses Gesetzes zu sorgen. Dazu mußten zunächst Ausführungsbestimmungen entworfen und gemeinsam mit der westfälischen Kirchenleitung erlassen werden. Die nicht ganz einfache Aufgabe wurde in mühevoller Gemeinschaftsarbeit erfüllt; galt es doch, für die verschiedensten Verhältnisse klare und eindeutige Bestimmungen zu treffen (KABl. 1947 N r . 12/13). N u n mußte das Gesetz formell in Kraft gesetzt werden und die Anordnung zur Durchführung ergehen (KABl. 1947 N r . 10/11). Dazu gehörte die Ausarbeitung eines Terminkalenders, einer Ansprache an die Gemeinden und eine Zurüstung von Referenten, die in den Gemeinden den Sinn des Gesetzes verdeutlichen sollten. Wir hielten das für besonders wichtig. * A u s : VERHANDLUNGEN DER ERSTEN R H E I N I S C H E N PROVINZIALSYNODE. T a g u n g v o m

8. bis 13. November 1948 zu Velbert. Statt Handschrift gedruckt. Neuwied 1950, S. 22-47.

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Die Provinzialsynode hatte im Unterschied von Westfalen ein Sondergesetz über das Kooptationsverfahren erlassen und der Kirchenleitung die Ermächtigung erteilt, wenn gewichtige Gründe vorgebracht würden, die Anwendung dieses Verfahrens zu gestatten. Dieses Gesetz hat der Kirchenleitung manche Schwierigkeit bereitet. Einmal erwies es sich als notwendig, hierfür besondere Ausführungsanweisungen zu erlassen; auch um es auf das andere Gesetz abzustimmen (KAB1. 1947 N r . 17/18). Ferner mußten die Anträge der Presbyterien bearbeitet und entschieden werden, wobei sich der Begriff des Gesetzes „gewichtige Gründe" als sehr problematisch erwies. Insgesamt 84 Anträge wurden gestellt. Von diesen waren mehr als die Hälfte gar nicht begründet. Die von den andern vorgebrachten Gründe waren recht verschieden. Teils beriefen sich die Presbyterien auf frühere Übung, teils auf die besondere Lage der Gemeinde, teils auf das reformierte Bekenntnis. Wir haben uns bemüht, allgemein gültige sachliche Gesichtspunkte für die Gewährung der Kooptation herauszuarbeiten, durch die dem Gewicht der vorgebrachten Gründe Rechnung getragen werden sollte. Bei den Berufungen auf das reformierte Bekenntnis haben wir uns genötigt gesehen, das Wahlverfahren auszusetzen und der Synode die Entscheidung vorzulegen. Inzwischen hat der Reformierte Bund sich gutachtlich geäußert, dadurch wird es der Synode erleichtert sein, hierüber zu entscheiden. Der Synodalbeschluß über das passive Frauenwahlrecht gab der Kirchenleitung das Recht der Genehmigung von Anträgen der Presbyterien, in ihren Gemeinden Frauen die Befähigung zum Presbyterium nicht zuzuerkennen. Wir haben nur einige wenige Anträge erhalten, die genehmigt wurden. Die Durchführung des Gesetzes stellte aber die Kirchenleitung noch vor eine besonders schwierige Aufgabe. Es zeigte sich, daß die Lage in ein paar Gemeinden infolge des Kirchenkampfes so verfahren war, daß eine gesetzmäßige Durchführung der Ordnung nicht möglich schien. Der Kirchenleitung war nach dem Gesetz die Aufgabe zugewiesen, über der gesetzmäßigen Durchführung zu wachen. Wir haben daraus die Berechtigung hergeleitet, in solchen Gemeinden die Durchführung der Ordnung überhaupt auszusetzen. Es ist uns dieser Entschluß nicht leicht gefallen. Aber wir sahen im Blick auf die geistliche Lage der Gemeinden vorerst keine andere Möglichkeit, sollte nicht die Durchführung des Gesetzes seinen Sinn ins Gegenteil verkehren. Auch hier legen wir die Sache der Synode zur Entscheidung vor. Sie möge prüfen, ob die Kirchenleitung zu solcher Entscheidung nach dem Sinn des Gesetzes berechtigt war. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß die Kirchenleitung in einigen Fällen als Beschwerdeinstanz angerufen wurde, wo die Durchfüh-

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rung der Ordnung zu Auseinandersetzungen geführt hatte. Es zeigte sich meist, daß die Presbyterien die Bestimmungen der Ordnung nicht genau innegehalten hatten. Ein Urteil über das Gesetz abzugeben, erscheint uns nach der erstmaligen Anwendung verfrüht. Es wäre falsch, aus der Art und Weise der ersten Durchführung in vielen Gemeinden Folgerungen zu ziehen, die sich auf die Richtigkeit der Ordnung erstrecken. Schon jetzt wieder Änderungen vorzunehmen, wäre jedenfalls untunlich. Erst sollten wir über eine längere Erfahrung verfügen. Inzwischen sind nach den Gesetzen die neuen Presbyterien gebildet worden, und damit ist in der rheinischen Kirche nach vielen Jahren endlich wieder ein rechtlich einwandfreier Stand erreicht worden. Die neuen Presbyterien haben die Kreissynoden gewählt und diese haben die synodalen Organe neu bestellt - meist sind die 1946 gewählten wieder gewählt worden, ein ganz erfreuliches Zeichen - und aus diesen Kreissynoden ist nun die Provinzialsynode neu gebildet worden, die berufen ist, die Neuordnung der rheinischen Kirche durch ihre Kirchenordnungsarbeit einen entscheidenden Schritt weiterzuführen.

2. Pfarrer a. Da die Sorge für die Verkündigung des Evangeliums eine Hauptaufgabe jeder Kirchenleitung ist, kann es nicht wunder nehmen, daß ein großer Teil der Tätigkeit der Kirchenleitung - zumal auch in ihren 91 Sitzungen - mit Pfarrer- und Pfarrstellenfragen erfüllt war. Es wurden 224 Ernennungen und Pfarrwahlbestätigungen ausgesprochen. Auch die Neugründung von Pfarrstellen mußte trotz mancher Sorgen und Bedenken weitergeführt werden. Wir haben auf Antrag der Presbyterien insgesamt 40 Pfarrstellen errichtet, so daß in der Evangelischen Kirche im Rheinland nun 950 Gemeindepfarrstellen vorhanden sind. Die Zahl ist immer noch nicht so groß, wie sie sein müßte (man vergleiche z.B. Bayern und Württemberg). Wir müssen Mittel und Wege finden, die finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden, denn die Notwendigkeit der Versorgung der Gemeinden mit dem Evangelium durch Pfarrer steht außer allem Zweifel. b. Die erforderliche Versorgung der Gemeinden wurde uns durch das Angebot an Ostpfarrern wesentlich erleichtert. Wir haben im Laufe der Zeit für die Übernahme und Beschäftigung der Ostpfarrer eine bestimmte Ordnung geschaffen, auch ihre finanzielle Versorgung nach Kräften gebessert. Zuerst erhalten sie einen Beschäftigungsauftrag, dann können sie für wahlfähig erklärt werden (nach Erprobung in der Gemeinde, Gutachten des Superintendenten, theologischem Gespräch

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bzw. Kolloquium mit der Kirchenleitung) und schließlich durch Wahl oder Ernennung in den Dienst der rheinischen Kirche endgültig übernommen werden. Seit dem 1. Oktober 1946 wurden 50 Ostpfarrer endgültig übernommen, weitere 55 Ostpfarrer haben z.Z. einen Beschäftigungsauftrag. Neben 11 Ruheständlern leben nur 10 Ostpfarrer ohne Beschäftigungsauftrag im Bereich unserer Kirche. Insgesamt werden 174 kirchliche Amtsträger aus dem Osten einschl. deren Frauen, Kinder und Hinterbliebenen durch die Osthilfe betreut. c. Noch immer - 3/2 Jahre nach Ende der Kampfhandlungen müssen wir von den kriegsgefangenen Pfarrern reden. Viele sind freilich zurückgekehrt; aber immer noch warten wir auf die Rückkehr aus Rußland, Frankreich und dem Südosten. Vermißt sind 21 Pfarrer. Um der Gemeinden willen hielten wir es für nötig, eine besondere Notverordnung zu schaffen, damit die Pfarrstellen Vermißter nicht dauernd verwaist bleiben. In 16 Fällen haben wir diese Notverordnung vom 18. März 1947 angewandt. Erwähnt sei bei dieser Gelegenheit, daß wir einige Pfarrer in die Kriegsgefangenschaft zurückgesandt haben, um ihre Brüder im Seelsorgedienst abzulösen. Wir danken diesen Brüdern für ihren Dienst. d. Die uns von der Besatzungsmacht auferlegte, aber selbständig durchgeführte Entnazifizierung der Pastoren ist in den vergangenen Jahren ohne Schwierigkeiten abgeschlossen worden. N u r durch Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft kommen noch einige Nachzügler. Drei Ausschüsse der Kirche haben reibungslos gearbeitet, und deren Entscheidungen sind von den Besatzungsbehörden restlos anerkannt worden. e. Auch die notwendige Überprüfung der Pfarrerschaft hinsichtlich ihres Verhaltens in den Jahren des Nationalsozialismus, d. h. die Ausscheidung der nationalkirchlichen Pastoren, ist im wesentlichen zu Ende geführt worden. Es sind nur noch einige Fälle unerledigt, da die Rückkehr der Pastoren aus der Kriegsgefangenschaft abgewartet werden muß. Wir hoffen, unter dies traurige Kapitel der Kirchengeschichte bald den Schlußstrich machen zu können. Seit dem 1. Oktober 1946 wurden gegen 8 weitere Pfarrer Verfahren nach der Ordnung vom 1. September 1945 eröffnet, von denen 5 erledigt werden konnten. Im Zeitraum der Berichterstattung wurden 15 Urteile rechtskräftig, z.T. nach Berufungsverfahren vor dem Rechtsausschuß und dem Gemeinsamen Rechtsausschuß, die schon vor dem 1. Oktober 1946 liefen. 4 Pfarrer wurden aus dem Dienst entlassen, 5 Pfarrer wurden aus dem Amt entfernt, in 4 Fällen wurde auf Versetzung in ein anderes Amt erkannt, in 2 Fällen wurden Maßnahmen nicht für erforderlich erachtet. Außerdem wurden durch die Kirchenleitung 2 Verfahren eingestellt. 4

Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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f. Zu den schmerzlichsten Aufgaben der Kirchenleitung gehört es, Dienststrafverfahren einleiten zu müssen. Von den 9 seit dem 1. O k t o ber 1946 eingeleiteten Verfahren sind bisher 3 durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossen (1 Verweis, 1 Amtsenthebung, 1 Dienstentlassung); ein Verfahren ist auf 2 Jahre ausgesetzt und dem Pfarrer eine Bewährungsfrist gegeben worden. Außerdem sind noch 5 Verfahren auf Versetzung im Interesse des Dienstes gemäß der Notverordnung vom 18. Januar 1946 eingeleitet worden, aufgrund deren 3 Pfarrer in den Wartestand versetzt wurden. 2 Verfahren laufen noch. Jeder Fall hat uns und den Rechtsausschüssen viel innere N o t bereitet. Nicht immer waren die Betroffenen allein schuldig. Wie manches wäre vermieden worden, wenn es echte brüderliche Zucht in der Kirche gegeben hätte. Hier liegt eine Aufgabe der Kirche. g. Ich möchte diesen Abschnitt nicht abschließen, ohne auf die Bemühungen der Kirchenleitung hinzuweisen, Hilfen für den Dienst der Pfarrer zu bieten. Einen wesentlichen Dienst hoffen wir in den Pfarrerrüstzeiten auf der Hohen Grete getan zu haben. Zahlreiche Dankesbezeugungen von Teilnehmern geben uns die Gewißheit, daß der hier begonenne Weg richtig ist. Außerdem haben wir auf Wunsch vieler den Versuch gemacht, durch „Predigthilfen" den Pastoren unserer Kirche eine Wegweisung für ihre Verkündigung zu geben. Auch hier dürfen wir hoffen, manchem eine Hilfe gegeben zu haben. O b wir diesen Versuch weiter fortführen sollen, möge die Synode entscheiden. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß die Kirchenleitung der Uberzeugung war, auch durch die Errichtung eines Pfarrfrauenrüstdienstes den Pfarrern in ihrem Amt und ihrer Gemeindearbeit eine nicht unwichtige Stärkung und Hilfe zu schaffen.

3. Theologischer Nachwuchs a. Studenten/Hochschulen: Der Zustrom zum theologischen Studium, der nach dem Kriegsende wieder stark angeschwollen war, hat in den vergangenen Jahren nicht nachgelassen. Dennoch ist es bloß eine kriegsbedingte Stauungserscheinung, die diese Zahl im Augenblick bestimmt, nicht ein aus geistlichen Gründen erfolgter erhöhter Zugang. Zur Zeit haben sich bei derKirchenleitung gemeldet: 251 Studenten und 36 Studentinnen evangelischer Theologie. Im Herbst dieses Jahres beginnt die Hochflut der neu hinzukommenden Theologiestudenten zu sinken. Freilich steht dem langsameren Zustrom noch kein entsprechender Abgang gegenüber,

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während in den Jahren 1950/51 über 150 Studierende zur 1. theologischen Prüfung kommen werden. Wir haben die kirchliche Arbeit für und an Theologiestudenten durch den Aufbau des Theologiestudentenamtes zu ordnen und zu vertiefen versucht. Die Freizeiten dieses Amtes in den Ferien gehören zu einem festen und wesentlichen Bestandteil seines Dienstes, eine rechtzeitige, echte Begegnung von Student und Kirchenleitung zu vermitteln. Die Kirchenleitung hat es aufgrund ihrer Erfahrungen mit Studenten und Kandidaten für erforderlich gehalten, durch eine besondere Verordnung ( K A B l . 1948 Nr. 2/3) die kirchliche Zulassung zum Studium zu regeln. Auf diese Weise sollen kirchlich geeignete Studenten besonders gefördert und ungeeignete Studenten möglichst frühzeitig ausgeschieden werden. Die Kirche kann gewiß nicht an Gottes Statt entscheiden, wer einmal ein rechter Pastor werden wird, aber sie hat nach den ihr gegebenen Möglichkeiten alles zu tun, um sich ein rechtes Urteil über ihren Nachwuchs zu bilden, damit die Gemeinden so weit wie irgend möglich vor den schweren Schäden durch innerlich nicht berufene Prediger bewahrt bleiben. Die zum Teil große Notlage besonders der Studenten aus den deutschen Ostgebieten nötigte zu einer weitgehenden Unterstützung in Form von Stipendien. Das Stipendienwesen wurde in steigendem Maße straffer geordnet, um den Mißbrauch der Mittel unmöglich zu machen. Nach der Währungsreform stehen wir vor einer neuen, noch in keiner Weise bewältigten Lage hinsichtlich der Finanzierung des Studiums, die ohne wahrhafte Opfer der Gemeinden unmöglich sein wird. Mit den theologischen Lehrern verschiedener Universitäten und Kirchlicher Hochschulen vefbindet uns ein enges sachliches und persönliches Verhältnis. Wir sind dankbar, daß wir, auf der gemeinsamen Grundlage stehend, uns im gemeinsamen Dienst der Kirche erkennen dürfen. Wir sehr sich das früher oft so spannungsvolle Verhältnis gewandelt hat, zeigt z . B . die Vereinbarung über die Berufung von Hochschullehrern der Theologischen Fakultät Mainz, die zwischen der Universität und den beteiligten Landeskirchen am 22. April 1947 abgeschlossen wurde: 4 3 Die Besetzung der theologischen Lehrstühle erfolgt gemäß dem allgemeinen Universitätsstatut. Die von der Evangelisch-Theologischen Fakultät eingereichte Vorschlagsliste bedarf jedoch der Genehmigung durch die vier Landeskirchen. Sollte eine Berufung ausnahmsweise ohne Berücksichtigung der Vorschlagsliste erfolgen, so geschieht dies im Einvernehmen mit den vier Landeskirchen.

§4 Sollte ein Hochschullehrer der Evangelisch-Theologischen Fakultät nach der gemeinsamen Entscheidung der vier Landeskirchen wegen seiner Lehre oder

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seines Wandels beanstandet werden, so wird die Universität im Einvernehmen mit den vier Landeskirchen die notwendigen Folgerungen in bezug auf seine weitere Tätigkeit ziehen."

Mit der Theologischen Fakultät Bonn besteht zwar ein derartiges Abkommen noch nicht, aber immerhin hat sich die Gepflogenheit herausgebildet, daß vor den Berufungen eine unmittelbare vertrauliche Fühlungnahme zwischen der Fakultät und der Kirchenleitung erfolgt. Dies Verfahren ist z.Z. sachlich befriedigend, aber es würde von der Kirchenleitung begrüßt werden, wenn es darüber auch eine rechtlich gültige Vereinbarung gäbe. Die Theologische Schule in Wuppertal hat sich inzwischen mit Zustimmung und unter Beteiligung der Kirchenleitung zur Kirchlichen Hochschule E.V. entwickelt. Nach ihren neuen Satzungen liegt die Verantwortung bei dem Kuratorium, das im Benehmen mit der Dozentenschaft die theologischen Lehrer der Hochschule beruft sowie alle Ordnungen für die Hochschule in Kraft setzt. Im Kuratorium ist die rheinische Kirchenleitung ausreichend vertreten. Die Provinzialsynode von 1946 hatte über die Anrechnung der Semester auf den Kirchlichen Hochschulen einen Beschluß gefaßt, der bis zum 31. Dezember 1948 befristet war. Daher muß die jetzige Synode hierüber einen Beschluß fassen. b. Kandidaten: Die theologischen Prüfungen, besonders die ersten Examina, wiesen eine abnorm kleine Kandidatenzahl auf. Insgesamt sind seit der letzten Synode nur 11 Kandidaten im 1. Examen und 35 im 2. Examen geprüft worden, von denen 10 bzw. 32 (z.T. mit Nachprüfungen!) bestanden. Die Zahl unserer im Dienst befindlichen Vikare beträgt nur 15, und der Pfarramtskandidaten „Hilfsprediger" 69. Diese Zahl ist durch die Heimkehrer wesentlich mitbestimmt. Noch immer sind krank oder in Gefangenschaft 21 Hilfsprediger und 8 Vikare, und vermißt geblieben sind 29 Hilfsprediger und 7 Vikare. Unsere Erfahrungen bei den Nachkriegsexamina haben uns veranlaßt, den Stoffplan für die Prüfungen, der 1939 von der Bekennenden Kirche herausgegeben war, erneut zu drucken. Wir hoffen, daß diese Ubersicht über die Anforderungen dazu helfen wird, daß die Leistungen im Examen ein besseres Niveau zeigen werden. Außerdem hat die Kirchenleitung die Bezirkskonvente für Kandidaten neu geordnet. Durch diese Arbeit soll die praktische Ausbildung eine dauernde wissenschaftliche Unterbauung erfahren. Wir sind über die fruchtbare Arbeit mancher Bezirkskonvente erfreut. Ihr Dienst steht übrigens grundsätzlich allen Pastoren offen, die ihn begehren.

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Eine gewisse Sorge macht uns das Predigerseminar in Düsseldorf. Es war unbenutzbar und drohte völlig zu verfallen. Ein Aufbau unsererseits erwies sich sowohl praktisch wie finanziell unmöglich. Wir nahmen daher das Angebot der Stadt Düsseldorf an, ihr gegen den vollständigen Wiederaufbau das Haus für 5 Jahre als Gästehaus zu verpachten. Angesichts der Tatsache, daß wir erst in 2-3 Jahren Kandidaten genug haben werden, um ein eigenes Predigerseminar zu füllen, haben wir es für richtig gehalten, diesen Weg zu beschreiten. Zunächst dient uns der zur Verfügung gestellte Platz im westfälischen Predigerseminar Kupferhammer, in dem bis jetzt schon laufend vierwöchige Heimkehrer-Lehrgänge stattfanden, das aber in diesen Tagen wieder mit Halbjahrskursen beginnt. Außerdem entsandten wir Kandidaten in die Lehrgänge in Borkum. Schließlich ist auch das reformierte Predigerseminar in Elberfeld kürzlich wieder ins Leben getreten, nachdem das Schweizer Hilfswerk ihm eine Wohnbaracke gestiftet hatte. Wir sind der Uberzeugung, daß zur rechten pfarramtlichen Ausbildung ein Predigerseminar überaus wichtig ist, und daß die Generation der Nachkriegsstudenten wieder ihr Studienhalbjahr im Predigerseminar haben muß. In einigen wenigen Jahren wird demnach die Eröffnung eines eigenen rheinischen Predigerseminars wieder zur Notwendigkeit werden. c. Hilfsprediger: Infolge Einrückens in Pfarrstellen wird die Zahl der Hilfsprediger von Monat zu Monat geringer, so daß wir schon vor längerer Zeit die Mitteilung ergebehen lassen mußten, es sei in den nächsten Jahren mit der Zuweisung von Hilfspredigern nicht zu rechnen. Z.Z. sind es nur noch 69 und von diesen sind die meisten praktisch nicht versetzbar, da sie sich in Stellen befinden, die sie behalten müssen. Manche verwalten z.B. Pfarrstellen gefangener oder vermißter Pfarrer und haben sich verpflichtet, vorerst dort zu bleiben. Wir haben sie durch eine besondere Besoldungsordnung vom 1. November 1946 praktisch. einem Pfarrer gleichgestellt. Im Dienst der Kirche entbehren wir - vor allem angesichts derAnforderungen dieser Zeit in den Großstädten und Industriegemeinden - überaus notvoll eine einsatzfähige Schar von jungen Predigern. Und es wird noch Jahre dauern, bis diese durch das vergangene Jahrzehnt gerissene Lücke wieder ausgefüllt sein wird.

4. Besondere Aufgaben innerkirchlichen Dienstes a. Nächst der Sorge für den theologischen Nachwuchs hat die Kirchenleitung es für ihre Verpflichtung gehalten, die kirchlichen Belange der Hochschuljugend überhaupt sicherzustellen, zumal die Entwicklung

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der Evangelischen Studentengemeinden eine erfreuliche Aufgeschlossenheit der akademischen Jugend für das Evangelium und die Kirche ezigte. So wurden in Bonn, Köln, Aachen, Wuppertal für die verschiedenen Universitäten und Hochschulen und ihre Studentengemeinden Studentenpfarrämter geschaffen und Pfarrer berufen. Der Fortschritt der Studentenarbeit beweist die Bedeutung dieses kirchlichen Dienstes für die christliche und kirchliche Ausrichtung der kommenden Führungsschicht. b. Aber die Kirche ist über diese Gestalt „akademischer"-kirchlicher Arbeit hinausgeführt worden. Schon die Evangelischen Akademien Bad Boll und Hermannsburg des Jahres 1945/46 zeigten die Richtung eines neuen kirchlichen Dienstes an. Der Westen nahm eine andere Entwicklung. Es ging nicht darum, daß wir auch unsere Akademie haben wollten. Wir sahen unsere Aufgabe anders gestellt, nämlich von der Frage der neuen Begegnung der christlichen Wahrheit und wissenschaftlichen Forschung angesichts der Erschütterung der Grundlagen der Wissenschaft. So ist die Evangelische Akademie Christophorusstift als Forschungsakademie in Hemer entstanden. Begründet von den Kirchen der britischen Zone (ohne Hannover und Hamburg), wird sie im wesentlichen getragen von der rheinischen und westfälischen Kirche. Sie hat unter denkbar schwierigen Bedingungen ihre Arbeit begonnen, hervorragend geleitet von Prof. D. Schumann. Es ist bisher keine Breitenarbeit, sondern ausgesprochen Tiefenarbeit im Kreise wissenschaftlich sachkundiger evangelischer Männer, die den Keim einer evangelischen Universitas darstellt. Die äußeren Hemmnisse lassen das Werk nur allmählich zur Entfaltung kommen. Immerhin ist in diesem Jahr ein erster Schritt zur Verwirklichung des Programms getan worden. Wir glauben, daß die Akademie für die Verkündigung der Kirche, überhaupt für die kirchlichen Dienste in der Gemeinde auf die Dauer von großer Bedeutung sein wird. c. Außere Hemmnisse sind es nicht nur in Hemer, sondern in der ganzen Kirche, die Fortschritt und Wiederaufbau der kirchlichen Dienste aufs schwerste hindern. Das Ausmaß der Zerstörung ist so groß, daß in den vergangenen 2 Jahren nur ein Geringes an Wiederherstellung getan werden konnte. Trotz aller Anstrengungen in den Gemeinden wo mancherorts Hervorragendes geleistet worden ist - liegt der Großteil der zerstörten Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäuser noch darnieder. Wir haben uns bemüht, den Gemeinden auf alle erdenkliche Weise zu helfen durch Geld, Beratung, Material, Verhandlungen mit staatlichen Stellen. Aber wir sind uns bewußt, daß es nur ein Tropfen auf einen heißen Stein war. Ohne einen kirchlichen Lastenausgleich ist das Problem nicht zu bewältigen. Nach der Währungsreform hat sich die Notlage von den Baustoffen

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auf die Finanzierung verlagert. Die Kirchengemeinden habe naber, teils in mühsamer Sammlung von kleinen Beträgen, bereits Erhebliches zur Finanzierung ihrer Bauvorhaben geleistet. An Baugeldern sind rd. 6 Millionen RM aufgebracht worden. Von der Kirchenleitung wurden vor der Währungsreform 885000,- RM, nach der Währungsreform 10000,D M an Beihilfen ausgeschüttet. Das Land Nordrhein-Westfalen hat vor der Währungsreform 760000,- RM, nach der Währungsreform bereits 60000,- D M an Beihilfen gegeben, in der Hauptsache für Kirchen, die unter Denkmalschutz stehen, aber auch für neuere Kirchen in leistungsschwachen Gemeinden. Von Oktober 1946 bis Oktober 1948 sind in der Nordrheinprovinz 83 Kirchen soweit wiederhergestellt worden, daß sie dem Gottesdienst wieder dienen können. 117 Notkirchenräume sind in Gemeindehäusern, Pfarrhäusern, in öffentlichen oder privaten Gebäuden eingerichtet worden. 135 Pfarrhäuser und 163 sonstige kirchliche Gebäude, wie Gemeindehäuser, Jugendheime, Kindergärten usw., wurden ganz oder teilweise wieder in Benutzung genommen. Für die Zukunft ist zur Förderung des kirchlichen Bauwesens 1. die Erschließung neuer Finanzierungsmöglichkeiten erforderlich, damit möglichst innerhalb der Kirche ein Kapitalfonds zur Ausschüttung von Darlehen und Beihilfen sich bildet, 2. eine zentrale Zusammenfassung aller Bauangelegenheiten beim Landeskirchenamt und die Verlegung des Provinzial-kirchlichen Bauamts von Koblenz nach Düsseldorf. d. Der rheinischen Kirche und ihrer Leitung ist durch die Lage ihrer Gemeinden im Saarland eine ganz besondere Aufgabe gestellt. Seit der letzten Synode ist im Saarland der entscheidende Schritt einer Eingliederung in das französische Wirtschaftsgebiet unter Beibehaltung politischer Autonomie erfolgt. Dadurch ist Saarland de facto „Ausland" und die saarländischen Gemeinden hätten gegenüber der EKD die Stelle von „Auslandsgemeinden". Aber diese Abtrennung hat kirchlich bisher noch keine Folgen gehabt, da auf beiden Seiten, hier wie im Saarland, der Wille zum Festhalten der kirchlichen Gemeinschaft lebendig ist. Es besteht Einmütigkeit darüber, daß eine selbständige Saarkirche viel zu klein wäre, um auf die Dauer existieren zu können. Wir haben es darum für unsere Aufgabe angesehen, den evangelischen Saargemeinden unsere ganz besondere Sorge zuzuwenden. Viel Mühe hat die wirtschaftliche Erhaltung der Gemeinden im Saarland bereitet angesichts der Verschiedenheit der Währung und Wirtschaft diesseits und jenseits der Zollgrenze und der Unmöglichkeit eines Ausgleichs der Zahlungen zwischen uns und dem Saarland und schließlich der Inflation im französischen Wirtschaftsgebiet. Bisher ist es immer noch gelungen, aller Nöte einigermaßen Herr zu werden, obwohl gesagt

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werden muß, daß die im Saarland gezahlten Pfarrgehälter den dortigen Preisen noch weniger entsprechen, als es z.Z. in Deutschland der Fall ist. e. Nicht nur im Saarland, sondern in der ganzen rheinischen Kirche spielten in den letzten beiden Jahren die Wirtschaftsfragen eine übermäßige Rolle. Dabei handelte es sich nicht einfach um Finanzfragen, - das ist erst seit der Währungsreform der Fall - , sondern um „Material" Papier, Glühbirnen, Holz, Zement, Steine, Dachpappe, Abendmahlsbrot und -wein, Kerzen, Bibeln, Gesangbücher, Katechismen und nicht zuletzt um Wohnraum in und außerhalb von Pfarrhäusern. Unendlich viel Zeit ist darauf verwandt worden. Sonderdezernate wurden geschaffen - für Beschaffungs- und Wohnungsfragen - um den Gemeinden nur die notwendigste Hilfe zu leisten. Einiges konnte geschehen: Papier, Birnen, Wein. Vieles scheiterte aus Mangel an Waren - und an der Unmöglichkeit, die Preise des schwarzen Marktes zu bezahlen. Manches wurde durch Spenden der ausländischen Kirchen möglich, z.B. Bibeln und Gesangbücher. Aber erst seit der Währungsreform scheint die Mangelfrage zu einer reinen Geldfrage geworden zu sein. Damit ist die Krise nicht überwunden, vielmehr beschäftigt sie immerdar die Beteiligten in der Kirchenleitung und in den Gemeinden fast mehr als zuvor. Vor allem ist die furchtbare Raumnot (Kirchen, Gemeindehäuser, Pfarrwohnungen usw.) noch keineswegs behoben. Wieviel Gemeindearbeit im Industriegebiet und in den Großstädten bleibt ungetan, weil der Raum fehlt. Ohne kirchlichen Lastenausgleich besteht keine Aussicht, diese Nöte in absehbarer Zeit zu überwinden. f. Als letzte in der Reihe der besonderen Aufgaben innerkirchlichen Dienstes möchte ich die Herausgabe von Ordnungen zur Berufung in kirchliche Dienste nennen. Durch den Beschluß der Provinzialsynode über die Theologische Erklärung von Barmen sahen wir uns veranlaßt, ihre ausdrückliche Erwähnung im Ordinationsformular anzuordnen. Das Gesetz über die Presbyterberufung gab uns den Auftrag, die Einführung der Presbyter in ihr Amt neu zu ordnen. Die Beibehaltung und Fortsetzung des im Kriege begonnenen Dienstes der Predigthelfer in den Gemeinden machte es notwendig, die Einsetzung von Predigthelfern in ihren Dienst durch eine eigene Ordnung zu regeln. Die infolge der steigenden Ausdehnung der Arbeit erforderliche Berufung neuer juristischer Räte in das Konsistorium gab der Kirchenleitung Anlaß, zum erstenmal die bisherige Übung des kirchlichen Beamteneides zu durchbrechen und durch eine kirchliche Ordnung - Einführung vor der Gemeinde und Amtsgelübde - zu ersetzen.

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5. Die kirchlichen Finanzen Eine besondere Berücksichtigung bei der Berichterstattung erfordern dieses Mal die kirchlichen Finanzen. Bei der gesamtkirchlichen Finanzverwaltung war der wichtigste Ausgabeposten die Pfarrbesoldung. Hierbei wurde bisher an der überkommenen Regelung wenig geändert. Die Besoldungshöhe blieb vor und nach der Währungsreform bisher noch die alte. Hoffentlich kommen wir ohne eine Kürzung durch die Krise hindurch. Die Folge der alten Praxis, daß zur Deckung des Besoldungsbedarfs die Kirchengemeinden einen gleichmäßigen Hundertsatz des Einkommens- und Grundsteuersolls ihrer Gemeindeglieder aufzubringen haben, ist bekanntlich, daß für den weitaus größten Teil der kleineren Gemeinden zentrale Zuschüsse in erheblicher Höhe gezahlt werden müssen. O b sich dies auf die Dauer rechtfertigen läßt, wird je länger desto mehr bezweifelt. Wenn für kleinere Gemeinden ein eigener Pfarrer zugelassen werden soll, so wird sich dies nur rechtfertigen lassen, falls diese Gemeinde in ganz anderer Weise als bisher geldliche Opfer zugunsten der Besoldung ihres Pfarrers bringt. Es muß hervorgehoben werden, daß der größte Teil der zentralen Zuschüsse zur Besoldung der aktiven Pfarrer aus Mitteln fließt, die vom Staat dargeboten werden. Alle Nachfolgeländer des früheren Landes Preußen haben ihre anteiligen Zahlungsverpflichtungen ohne weitere Einwendungen anerkannt. Dankbar ist hervorzuheben, daß auch nach der Währungsreform die 4 für die Rheinische Kirche in Betracht kommenden Länderregierungen ausnahmslos die Staatszuschüsse in alter Höhe weitergezahlt haben; nur das Land Hessen hat soeben wegen seiner schlechten Kassenlage die Zahlungen auch für unsere Kreisgemeinden Wetzlar und Braunfels zu kürzen begonnen. Der durch die Staatsleistungen nicht gedeckte Rest bei den Pfarrbesoldungszuschüssen fließt aus den Uberschüssen, welche die wohlhabenderen Gemeinden nach dem Maße ihrer Steuerkraft aus ihrem Pfarrbesoldungspflichtbeitrag an die Gesamtkirche abzuführen haben. Leider sind diese Uberschüsse sehr unpünktlich gezahlt worden, so daß auch die Gesamtkirche ihre Verpflichtungen nicht immer galtt erfüllen konnte; in den ersten Monaten nach der Währungsreform konnten an die bedürftigen Gemeinden nur 70 % der früheren Zuschüsse ausbezahlt werden. Auch für die großen Summen, welche die Landeskirche für die Versorgung der Ruheständler und Hinterbliebenen aufzuwenden hat, galt dasselbe Deckungssystem: Zum größeren Teil stammen die Mittel aus Staatszuschüssen, zum restlichen Teil aus dem Pfarrbesoldungspflichtbeitrag der Uberschußgemeinden. Ebenso wie die Pfarrbesoldungszuschüsse, so sind vom Staat auch die

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Dotationszuschüsse für die kirchliche Verwaltung nach wie vor in der alten Höhe gezahlt worden. Ein besonderes Wort soll über die Osthilfe gesagt werden: Schon im September 1945 hatten die Kirchen von Westfalen und der Rheinprovinz eine einschlägige Notordnung getroffen. Dieser haben sich im Laufe der Zeit sämtliche evangelische Kirchen der Westzone angeschlossen. Der Rat der E K D hat alsdann allgemeine Richtlinien darüber erlassen. Die Unterstützungsbeträge konnten neuerdings ein wenig über die ursprünglichen Sätze hinaus erhöht werden. Heute erhalten Ostpfarrer mit einem Beschäftigungsauftrag das Pfarreranfangsgehalt, für viele von ihnen immer noch eine schmerzliche Verringerung gegenüber dem Gehalt, das ihnen zustand. Die Ruheständler und Witwen, die früher nur Beträge bis zu 150,- RM bekommen konnten, erhalten heute wenigstens die Hälfte ihrer gesetzlichen Bezüge. Für die Rheinische Kirche handelt es sich nicht nur darum, die in ihr Gebiet hineingeströmten Pfarrer und deren Angehörige aus dem Osten zu unterstützen, sondern sie erkannte es auch als brüderliche Verpflichtung an, denjenigen Kirchen zu helfen, die in einem erheblich größeren Maße die Einwanderung solcher kirchlichen Amtsträger erlebt hatten und aus eigener Kraft nicht imstande waren, diesen ebenfalls in angemessener Höhe Unterstützungen zu gewähren. Es war eine Ausgleichskasse aller evangelischen Kirchen der Westzone entstanden, zu der wir beträchtliche Summen beisteuern mußten. Gedeckt werden konnten diese Beträge nicht aus Haushaltsmitteln. Es hätte dies eine fühlbare Erhöhung der gesamtkirchlichen Umlage zur Folge gehabt. Deshalb war von vorneherein festgelegt, daß die Finanzierung durch freiwillige Gaben erfolgen sollte. Hierbei ist sehr Beachtliches geleistet worden: Vom 1. Juli 1945 bis zum 31. März 1948 wurden innerhalb der Rheinischen Kirche an die aus dem Osten verdrängten Pfarrer und Kirchenbeamten und ihre Angehörigen über 845000,- RM gezahlt. In dem gleichen Zeitraum wurden an die Ausgleichskasse über 1,9 Mill. Reichsmark abgeführt. Als Deckungsleistungen kamen im gleichen Zeitraum ein: 105200,- RM durch Opfer der aktiven Pfarrer und Kirchenbeamten, 668 000,- RM aus Kollekten und der Rest aus sonstigen Quellen. Entsprechend der Praxis in anderen Kirchen wollen wir jetzt auch die Ruheständler um eine bescheidene Beteiligung an diesem Opfer zugunsten ihrer Standesgenossen bitten. Die übrigen Bedürfnisse der Kirche wurden, soweit für sie nicht Kollekten erhoben worden sind, durch die gesamtkirchliche Umlage gedeckt. Bedauerlicherweise mußte sehr viele Mühe daran gewandt werden, die Umlage hereinzubekommen. Es war durchaus nicht immer ein Zwang unverschuldeter Verhältnisse, der die mangelhafte oder unpünktliche Zahlung dieser Umlage erklärte. Im Vergleich zu anderen

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evangelischen Kirchen ist die in unserer Rheinischen Kirche erhobene Umlage gering. Das Kirchensteuerwesen machte zahlreiche Verhandlungen mit den zentralen und den nachgeordneten Staatsbehörden erforderlich. Die Sicherstellung von Kirchensteuerunterlagen durch die Finanzämter und die Gewinnung angemessener Hebesätze bereiteten Schwierigkeiten besonderer Art, die nicht in dem mangelnden Verständnis der beteiligten Kultus- und Finanzminister, sondern in der steuerlichen Nachkriegslage begründet sind. Vor der Währungsreform galt es, die Steuerüberhöhung der Kontrollratsgesetzgebung für die Kirchengemeinden und ihre Glieder auszuschalten. Nach der Währungsreform brachte die Veränderung des Einkommensteuertarifes Unruhe und damit Unsicherheit in die Kirchensteuererhebung. Viele Einzeleingaben von Gemeindegliedern, die Ratlosigkeit mancher Presbyterien und der staatliche Druck auf Steuersenkung bestärkten uns in den vorbereitenden Arbeiten für eine Kirchensteuerreform. Die Einführung der Kirchensteuererhebung durch die Finanzämter (Lohnabzugsverfahren) - von uns mit Zurückhaltung und nur probeweise auf Wunsch der Presbyterien bei einem Gesamtverband zugelassen - bietet sich mit Nachdruck als Lösung einer Kirchensteuerreform an, und zwar besonders in der französischen und amerikanischen Zone unserer Kirche durch katholische Befürwortung und Unterstützung der anderen evangelischen Landeskirchen. Vom Staat und der Öffentlichkeit überhaupt wird immer wieder die Unausgeglichenheit der jetzigen Kirchensteuererhebung bemängelt (die Steuersätze schwanken zwischen 3 und 12%). Kritisch ist insbesondere das geringe Steueraufkommen der Landgemeinden. Es gilt, unabhängig von der so oft wechselnden Einkommensteuer eine Kirchensteuerhebung zu entwickeln, die einen Finanzausgleich ermöglicht, ohne die finanzielle Selbständigkeit der Kirchengemeinden zu gefährden. Die Ausarbeitung finanzwirtschaftlicher Richtlinien für die Kirchengemeinden und die Gesamtkirche wird erschwert durch den Mangel an Bereitwilligkeit vieler Kirchengemeinden, die notwendigen Unterlagen zu beschaffen. Abweichend von der katholischen Kirche und von anderen evangelischen Landeskirchen beschränkten wir uns bisher auf die Anforderung der unumgänglich notwendigen Meldungen, was zu einer gründlichen und vollständigen Beurteilung und Lösung nicht ausreicht. Aufgenommen wurde wieder die Kassen- und Wirtschaftsprüfung in den Kirchengemeinden durch Beamte des Konsistoriums, was angesichts bedrohlicher Fälle von Nachlässigkeit, Unbeholfenheit und Unwissenheit dringend geboten ist. Begreiflicherweise wirkte sich die Währungsreform, wie für unsere ganze Volkswirtschaft, so auch für das ganze äußere Leben der Kirche sehr einschneidend aus. Es war vorauszusehen, daß die Fonds der

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Kirche große Verluste erleiden würden und daß die Haushaltsführung der Gemeinden wie der Gesamtkirche sehr erschwert werden würde. Darum wurden im letzten Jahre nicht nur Ratschläge dahin gegeben, wie man sich auf die Währungsreform vorbereiten und bei ihrem Eintreten verhalten solle, sondern die kirchlichen Zentralbehörden sind schon seit Anfang 1947 an die leitenden staatlichen Stellen und an die Militärregierung mit Anträgen darüber herangetreten, wie die Kirchen bei der Gestaltung der Währungsreform billigerweise und sachgemäß berücksichtigt werden müßten. Wie bekannt, haben die maßgeblichen Stellen von solcher Rücksichtnahme in den Gesetzen selber völlig abgesehen. Die Finanzministerien haben den Kirchen angeboten, zur Uberbrükkung der Schwierigkeiten eine Gegenwartsbesteuerung bei der Kirchensteuer einzuführen. Die Rheinische Kirchenleitung hat sich jedoch nicht entschließen können, dies Angebot allgemein an die Gemeinden weiterzuleiten. Eine Erstausstattung aus Staatsmitteln, wie sie den Bürgergemeinden zuteil geworden ist, hat das Währungsgesetz für die Kirche und ihre Gemeinden nicht vorgesehen. Die Gemeinden haben sich dann zunächst mit Hilfe ihrer freigegebenen Neugeldguthaben wirtschaftlich über die ersten Wochen nach der Währungsreform hinweggeholfen. Die Notwendigkeit, alsdann auf jede Weise Kirchensteuern hereinzuholen, wurde weitgehend erkannt, und in vielen Gemeinden, in denen man mit Tatkraft und Erfindungsgabe ans Werk gegangen ist, sind auch rechtzeitig die erforderlichen Steuermittel eingegangen. Weit schlechter noch als die Gemeinden stand jedoch die Gesamtkirche da. Sie mußte in den ersten beiden Monaten nach der Währungsreform sowohl auf die Umlagen wie auf die Uberschüsse des Pfarrbesoldungspflichtbeitrages zunächst verzichten, da die Gemeinden die bei ihnen einlaufenden Gelder zunächst für eigene Zwecke benötigten. Das Finanzministerium in Düsseldorf hat diese Notlage dankenswerterweise anerkannt und der Kirchenleitung gering verzinsliche Darlehen im Gesamtbetrage von 590 000,- D M zur Verfügung gestellt. Die Rückzahlung dieser Summen, die ausschließlich zu Gehaltszuschüssen und Versorgungszahlungen an den Pfarrerstand verwendet worden sind, soll aber schon Ende November d.J. beginnen und stellt die Kirchenleitung vor eine ganz schwere Aufgabe. Sie muß die Gemeinden dringend bitten, jetzt ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber der Gesamtkirche auch unter Zurückstellung ihrer eigenen Bedürfnisse pünktlich und vollständig zu erfüllen. Neben dem Verlust der Kapitalien droht den Kirchengemeinden nunmehr auch eine Schmälerung ihres fundierten Besitzes, und zwar durch die Bodenreform. So sehr die Kirche die Notwendigkeit erkennt und selbst betont, daß weitere Volkskreise, insbesondere auch die Flüchtlinge, wieder eine fest Verbindung mit dem Boden gewinnen, und so gern sie deshalb auch sich für Siedlungsunternehmen einsetzt, so muß

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sie doch bei der Hergabe ihres geringen Grundbesitzes starke Zurückhaltung üben. Da dieser ihr größtenteils einstmals von den Stiftern zu dem Zwecke anvertraut worden ist, mit ihrem Ertrage die kirchliche Verkündigung, sei es die Besoldung des Predigers, sei es die Unterhaltung des Gotteshauses, sicherzustellen, so haben unsere Gemeinden als Treuhänder nicht das Recht, sich dieser Vermögenswerte, die sich im Laufe der Wirtschaftskatastrophen als allein wertbeständig erwiesen haben, zu entledigen. Um die in 6 rheinischen Großstädten bestehenden Parochialverbände bei ihrer Verwaltung wieder in die notwendige Vertrauensverbindung zu den angeschlossenen Gemeinden zu bringen, haben die Kirchenleitungen von Westfalen und der Rheinprovinz eine Notverordnung erlassen, welche die Wiedereinführung der z. Z. des Dritten Reiches abgeschafften Verbandsvertretungen bezweckt. Eine Schaffung neuer Parochialverbände ist nicht beabsichtigt. Wohl aber wäre es sehr erwünscht, wenn, wie es schon seit längerer Zeit innerhalb der Kreisgemeinde Lennep geschieht und jetzt in einigen anderen Kreisgemeinden geplant ist, von den Kirchengemeinden eine Kirchensteuerausgleichsstelle eingerichtet wird, so daß innerhalb eines größeren Umkreises von Gemeinden die Kirchensteuer zu gleichen Hundertsätzen erhoben werden kann. Ferner drängt in bestimmten ländlichen Gebieten, wo sich keine geeigneten Kirchenrechner finden und auch die Pfarrer eine den Vorschriften entsprechende saubere äußere Geschäftsverbindung nicht beherrschen, die Entwicklung dahin, eine synodale Kirchenrechnungsstelle zu schaffen. Unter voller Aufrechterhaltung der Finanz- und Verwaltungshoheit der Gemeinden soll dort ein erfahrener Rechner für jede angeschlossene Krichengemeinde selbständig gemäß den Anweisungen der einzelnen Presbyterien das Haushalts- und Kassenwesen sachverständig bearbeiten. Die Erschwerung der Verwaltungsarbeit in unserem sich über vier Länder erstreckenden Kirchengebiet wird besonders anschaulich an den Bemühungen für unsere saarländischen Gemeinden. Zu Anfang waren es lediglich die postalischen und Paß-Schwierigkeiten, die sich hindernd in den Weg stellten. Dazu kamen die Hemmungen bei den Pfarrstellenbesetzungen und Einweisungen von Hilfspredigern. Aber vor die schwierigsten Fragen wurden wir und unsere saarländischen Gemeinden gestellt durch die Einführung der Saarmark und im November 1947 der französischen Währung im Saarland. Damit war zunächst jeder finanzielle Zusammenhang zwischen den saarländischen Gemeinden und der Gesamtkirche gestört. Auch heute kann noch nicht gesagt werden, daß eine befriedigende Regelung für das kirchliche Finanzwesen gefunden ist. Das Mißverständnis zwischen dem amtlichen Umwechslungskurs bei

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der Frankeneinführung zu den Preisen und die fortdauernden Preiserhöhungen brachten allgemeine Besoldungserhöhungen in schneller Folge mit sich, die hoffentlich für die Pfarrbesoldung mit der am 24. September 1948 erlassenen Notverordnung über die vorläufige Ordnung der Dienstbezüge der Pfarrer im Saarland ( K A B l . 1948 S. 45) zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Die wirtschaftliche Angliederung an Frankreich hatte zur Folge, daß die Pfarrerkrankenkasse (V.a.G.) ihre Versicherungstätigkeit im Saarland nicht mehr ausüben durfte, da sie als eigene Rechtspersönlichkeit außerhalb der landeskirchlichen Organisation ausgestattet ist. Die Kirchenleitung hat es für ihre Pflicht gehalten, hier helfend einzugreifen. Sie hat außerhalb eines Versicherungssystems einen im wesentlichen durch Beitragszahlungen der Beteiligten gespeisten kirchlichen Fonds gegründet, der diesen Hilfe in Krankheitsfällen im gleichen Maße gewährt, wie sie bisher durch die Krankenkasse zuteil wurde. 6. Die Kirchenkollekten Die Kirchenleitung hat gemäß der ihr von der letzten Provinzialsynode gegebenen Vollmacht für die Jahre 1947- und 1948 die Kollektenpläne aufgestellt und im Kirchlichen Amtsblatt veröffentlicht. Die Kirchenleitung konnte sich trotz allem Verständnis für die N o t lage der Gemeinden nicht entschließen, den Anträgen einiger Gemeinden auf Zubilligung ausschließlich gemeindeeigener Sonntagskollekten zu entsprechen. Das hätte zu einer Erschütterung des Kollektenwesens für die Gesamtkirche, die landeskirchlichen Einrichtungen und die Innere Mission geführt und die Gemeinden entwöhnt, im Sonntagsopfer der Gesamtkirche zu gedenken. Die betreffenden Gemeinden wurden auf die Einführung einer zweiten Sonntagskollekte verwiesen, im übrigen aber allgemein zur vollständigen Abführung der landeskirchlich ausgeschriebenen Kollekten angehalten. Nach der Währungsreform wurden den Gemeinden einige Sonntage zusätzlich freigegeben, und zwar durch Zusammenlegung und in einem Falle durch Streichung vorgesehener Kollekten. Dabei hat es sich als nützlich erwiesen, daß im diesjährigen Kollektenplan vorsorglich einige Sonntage für plötzlich auftauchende Bedürfnisse frei zur Verfügung der Kirchenleitung geblieben waren. So konnten die notleidende Kirchliche Hochschule in Wuppertal und das neuerrichtete Paul-Schneider-Gymnasium in Meisenheim mit je einer Kollekte bedacht und ein Teil zweier weiterer Kollekten nach der Währungsreform für dringendste zum Stillstand bedrohte Bauvorhaben rheinischer Gemeinden verwandt werden, wobei allerdings den eingegangenen etwa 1 0 0 0 0 , - D M nicht weniger als 42 Anträge gegenüberstanden.

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Im übrigen wurden die Kollekten im großen und ganzen nach dem schon geübten Schlüssel verteilt: 16 Sonntage blieben frei für die Gemeinde, 14 galten Liebeswerken der Inneren Mission, 8 wurden für landeskirchliche Arbeiten an der Jugend, an den Studenten, an Männern, an Frauen usw. bestimmt, 6 waren für die kirchliche Osthilfe, 4 für besondere Notstände in der altpreußischen Union aufgrund der Vereinbarung in Treysa und wiederholte dringende Bitte der Kirchenleitung in Berlin bestimmt, 4 Kollekten galten dem Wiederaufbau zerstörter Gemeinden, je eine der rheinischen Mission, den Bibelgesellschaften, dem Gustav-Adolf-Verein, dem Hilfswerk und der EKD. Bei den starken Anforderungen vieler Verbände und Anstalten an den Kollektenplan hat sich eine Auswahl und eine stärkere Aufgliederung der einzelnen Zwecke nicht vermeiden lassen. Die Nichtberücksichtigung eines Antrages bedeutet aber nicht seine Absetzung für immer. Der Entwurf des neuen Kollektenplanes für 1949 wird dem zu bildenden Kollektenausschuß der Synode vorgelegt werden. Einen starken Einschnitt in das Kollektenwesen bildete natürlich die Währungsreform. Nicht nur durch den Rückgang der Erträge, sondern auch durch den Verlust der vor der Währungsreform bedachten Dienste und Werke der Kirche in Folge der Geldentwertung. Im ganzen kann aber die Entwicklung der Kollektenerträge damals als erfreulich bezeichnet werden. Die Gemeinden haben durch die Jahre der N o t mehr opfern gelernt. Die Erträge haben sich vor der Währungsreform durchschnittlich auf einer beachtlichen Höhe gehalten, ja im ganzen noch etwas gesteigert. Einige Ziffern mögen das veranschaulichen: Gesamtertrag von Oktober 1946 bis September 1947 ohne die 16 für die Gemeinde freien Sonntage: 2,8 Mill. RM gegenüber 2,6 Mill. RM im Vorjahr (und 1,7 Mill. RM im Jahre 1944/45). Von Oktober 1947 bis Juni 1948 kamen 2,2 Mill. RM ein. Vom 20. Juni bis Ende September 1948, also in einem Zeitraum von etwa einem Vierteljahr nach der Währungsreform, waren es 117000,- DM. Der durchschnittliche Ertrag der Sonntagskollekten vor der Währungsreform lag etwas über 40 000,- RM, im ersten Vierteljahr nachher auf 13-14000,- DM, also im Durchschnitt etwa 33-35% der in RM erzielten Kollektenerträge. Das ist angesicht der Höhe der Geldentwertung auf 6/2 % der Altbestände und der verringerten Finanzkraft der großen Mehrzahl der opfernden Gemeindeglieder als ein recht erfreuliches Ergebnis zu bezeichnen, für das wir dankbar sein dürfen. Andererseits hängt aber auch seit der Währungsreform der Weiterbestand der von den Kollekten betreuten Dienste und Werke der Kirche in ganz anderem Maße als vorher von der Höhe der Gabe ab. Im einzelnen liegen einige der Spitzenkollekten der letzten zwei Jahre auf folgender Höhe:

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Für Für Für Für Für

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1946/1947 1947/1948 das Hilfswerk 111 000 RM 133 000 RM die Diakonissenanstalt Kaiserswerth. . 119 000 RM 131 000 RM die Osthilfe insgesamt (6 Kollekten). . 333 700 RM 323 500 RM notleidende Studenten der Theologie . .94 600 RM 13 600 D M die Innere Mission 179 400 RM rd. 15 000 D M

Die Kirchenkollekten können und dürfen nicht die einzige Einnahmequelle für diese kirchlichen Dienste und Werke bilden. Hier müssen die einzelnen Einrichtungen auch andere Wege finden, um die erforderlichen Geldmittel zu erhalten. Um nur den dringendsten Nöten gesamtkirchlicher Einrichtungen abzuhelfen, werden wir unsere Aufgabe im kommenden Jahre darin sehen müssen, die Gemeinden in steigendem Maße zur Opferwilligkeit in den Gottesdiensten aufzurufen. Dabei muß dafür Sorge getragen werden, daß die Sammlungen für die dringenden eigenen Bedürfnisse der Gemeinden den Kollekten für die gesamtkirchlichen Zwecke keinen Eintrag tun. 7. Die Schule Besondere Aufmerksamkeit und Mitarbeit der Kirchenleitung erforderten die überaus mannigfaltigen Zustände, Vorgänge und Bewegungen auf dem pädagogischen Gebiet. Das Maß der für die Bewältigung dieser Aufgaben zur Verfügung stehenden Kräfte entspricht bisher bei weitem nicht den gestellten Aufgaben. Die Arbeiten auf diesem Gebiet sind dadurch überaus verwickelt, daß das rheinische Kirchengebiet sich auf 4 Länder erstreckt und daß in allen diesen Ländern noch andere Landeskirchen mitsprechen. Alle Vereinbarungen grundsätzlicher Art über schulische Dinge machen deshalb ebenso Verhandlungen mit den verschiedenen Kultusministerien von Nordrhein-Westfalen, von Rheinland-Pfalz, von Saarland und von Hessen wie mit den verschiedenen Kirchenleitungen von Westfalen und Lippe, von der Pfalz, von Nassau und von Hessen notwendig. Alle Regelungen sollen möglichst einheitlich und doch auf die politisch und kirchlich verschiedenen Verhältnisse abgestimmt sein. Daß das nicht immer einfach ist und nicht schnell Zustandekommen kann, dürfte ohne weiteres einleuchten. Die Beziehungen zu den Ministerien der 4 Länder und zu den Schulabteilungen der Bezirksregierungen sind alle freundlich; besonders lebhaft und fruchtbar waren sie mit dem Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen. Die Beziehungen zu den anderen Kirchenleitungen sind demgegenüber lockerer. Mit Westfalen, das zugleich die Lippische Kirche vertritt, fand allerdings regelmäßig alle 2 Monate ein umfassender Meinungsaustausch zwischen Mitgliedern der rheinischen Schulkammer

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und des Katechetischen Amtes von Westfalen statt. Eine Verständigung über gemeinsame Lehrpläne und Lehrbücher, mit denen Westfalen schneller herauskam als das Rheinland, war im Anfang nicht zu erreichen, rückt aber allmählich in greifbarere Nähe. Die Verhandlungen über das Recht des Religionsunterrichts im Lande Nordrhein-Westfalen haben fast auf allen Gebieten zu einer gemeinsamen Stellungnahme beider Kirchenleitungen gfeührt. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen von Rheinland-Pfalz führte zu einer Vereinbarung über ein Wort zur Volksabstimmung über die Schulbestimmungen der Landesverfassung, das aber von den andern Kirchenleitungen im letzten Augenblick zurückgezogen wurde. Zu den regelmäßig berufenen Konferenzen der Kirchen des Hessischen Staatsgebietes werden regelmäßig Vertreter der Rheinischen Kirche aus den Synoden Wetzlar und Braunfels herangezogen. Eine gegenseitige Verständigung mit den Schulreferenten und Mitgliedern der Schulkammer aller Gliedkirchen der EKD wurde erstrebt und erreicht auf der 1. Tagung der (unter der Leitung von Prof. Dr. Hammelsbeck stehenden) gesamtkirchlichen Kammer für Erziehung und Unterweisung. Daß das Büro dieser Kammer innerhalb der Rheinischen Kirche arbeitet und daß der Leiter der gesamtkirchlichen Kammer zugleich Mitglied der rheinischen Schulkammer ist, gewährleistet eine fruchtbare Arbeit und eine gesamtkirchliche Ausrichtung des gesamten pädagogischen Dienstes der rheinischen Kirche. Die größte Sorge machte der Kirchenleitung die staatsrechtliche Anerkennung der kirchlichen Vokation, um die seit August 1945 gerungen wird. Die vom Staat geforderte dogmatische und rechtliche Entscheidung der Evangelischen Kirche über die Vokation als kirchliche Ordnung bzw. als Grundsatz der Evangelischen Kirche ist durch Beschluß der 44. rheinischen Provinzialsynode vom Oktober 1946 getroffen worden. Die staatsrechtliche Anerkennung dieses kirchlichen Grundsatzes beabsichtigte das Kultusministerium innerhalb eines Erlasses zur Regelung des gesamten Rechtes des Religionsunterrichtes beider Konfessionen an den Schulen zu bringen, in welchem Erlaß in einer Bestimmung anerkannt wird, daß zur Erteilung des Religionsunterrichtes eine kirchliche Vollmacht (missio canonica bzw. vocatio) erforderlich ist. Uber diesen geplanten Erlaß in seinen verschiedenen Fassungen haben im Juli 1947 und im März, April und Juli 1948 Verhandlungen zwischen den berufenen staatlichen und kirchlichen Vertretern stattgefunden, in denen in allen wesentlichen Dingen ein sachlich vollständiges Übereinkommen zwischen Staat und Evangelischer Kirche erzielt worden ist. Das Ministerium hat sich aber anscheinend vor dem teils vermuteten, teils offenbar gewordenen Widerstand aus Lehrerkreisen, besonders aus dem allgemeinen deutschen Lehrerverein und aus der Lehrergewerk5

Beckmann, H o f f n u n g für die Kirche

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schaft, und einzelner politischer Parteien gescheut, obwohl auch in diesen Kreisen weitgehendes Verständnis für die Notwendigkeit paritätischer Behandlung beider Konfessionen vorhanden ist. Eine gewisse Verzögerung ist auch aus dem zurückhaltenden Verhalten der katholischen Kirche gekommen, die an sich die staatliche Anerkennung der evangelischen Vokation unterstützt, die aber sich nicht eigentlich um die staatliche Anerkennung der von ihr seit langem in allen Schulen geübten missio canonica zu sorgen braucht, sondern statt dessen die Ausdehnung des geplanten ministeriellen Erlasses auf sämtliche Schularten zugunsten des Religionsunterrichtes als ordentlichen Lehrfachs an den Berufsschulen erstrebt. Die Kirchenleitung ist im Einklang mit den Weisungen der letzten Provinzialsynode vor allem darum bemüht, in einer echten Begegnung mit den Lehrern ihr Vertrauen und ihr Verständnis für Wesen und Notwendigkeit der Vokation zu gewinnen. Die erforderliche rechtliche Regelung darf aber gleichviel nicht länger aufgeschoben werden, wenn das langsam wachsende, aber noch sehr zarte Vertrauensverhältnis zwischen Kirche und Schule nicht gleich in seinen ersten Anfängen durch die ungeklärte Rechtslage allerhand Gefahren ausgesetzt werden soll. Auch in der Personalpolitik der Ministerien der Bezirksregierungen und Kommunalverwaltungen sind wir nicht zufrieden gestellt worden, wiewohl einige Wünsche berücksichtigt worden sind. Freilich muß nüchtern gesehen werden, daß für leitende Stellen in Schule und Unterrichtsverwaltung nur wenige evangelische Persönlichkeiten zur Verfügung stehen, die in gleicher Weise persönlich und sachlich kirchlich und politisch voll geeignet erscheinen. Es könnte manches anders werden, wenn das Kultusministerium mit der leidigen Praxis brechen würde, die leitenden Posten nach der politischen Schlüsselzahl statt nach der sachlichen Eignung zu besetzen. Es kann uns nicht genügen, wenn parteipolitisch ausgesuchte Persönlichkeiten nur soweit als evangelisch zu bezeichnen sind, als sie ihr Kirchensteuerverhältnis zur evangelischen Kirche noch nicht gelöst haben. Zufrieden können wir dagegen sein mit der Aufnahme unserer Lehrpläne für den Religionsunterricht. Die Pläne für die Volksschule sind gedruckt und werden verbreitet, die Pläne für die Mittelschulen und höheren Schulen sind eingereicht, ebenso Pläne für die Hilfsschulen. Allgemein gültige Pläne für den Religionsunterricht an den Berufsschulen konnten noch nicht festgestellt werden; über allgemeine Richtlinien soll eine Konferenz von erfahrenen Berufsschullehrern entscheiden. In allen Ländern haben die Regierungen wenigstens bisher durch ihre Praxis anerkannt, daß allein die Kirche in der Lage ist, Lehrpläne für den Religionsunterricht aufzustellen. Einen entsprechenden Standpunkt hat das Kultusministerium von

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Nordrhein-Westfalen gegenüber den Lehrbüchern für die evangelische Unterweisung eingenommen. Es hat im Verein mit den Kirchen leidenschaftliche Angriffe auf alttestamentliche Geschichten, die aus Lehrerkreisen kamen, erfolgreich abgewehrt. Für die Volksschulen sind biblische Geschichten herausgekommen, die für eine neue Auflage überprüft und durch ein kirchengeschichtliches Buch ergänzt werden sollen. Für den Religionsunterricht an den höheren Schulen ist die Lehrbucharbeit über erste Ansätze noch nicht hinweggekommen. Ein wertvolles Lesebuch für evangelische Schulen ist im Erscheinen begriffen. Gutes Verständnis haben wir bei den Regierungen auch für die Notwendigkeit kirchlicher Ergänzungslehrgänge gefunden, in denen solche Lehrer, die bisher noch gar keine oder keine ausreichende religionspädagogische Ausbildung erfahren haben, die fachlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Religionsunterrichts erhalten. Eine den kirchlichen und staatlichen Bedürfnissen in gleicher Weise Rechnung tragende Gesamtregelung dieser oder ähnlicher Fortbildungskurse und Freizeiten steht in Aussicht. Die freiwilligen Arbeitsgemeinschaften zwischen Lehrern, Pfarrern und Katecheten, in denen sich alle für die christliche Unterweisung verantwortlichen Kräfte in der Beugung unter Gottes Wort im gegenseitigen Geben und Nehmen in brüderlicher Gemeinschaft begegnen sollen, sind immer noch ein Gegenstand unserer Sorge. Die Kirchenleitung muß eine weit stärkere Beteiligung der Pfarrer an diesen Arbeitsgemeinschaften erwarten. Ohne eine Einstellung von mindestens 2 hauptamtlichen Kräften wird die Abhaltung von Lehrgängen und Freizeiten für Lehrer und eine einheitliche Ausrichtung der Arbeitsgemeinschaften nicht möglich sein. Daß Katecheten notwendig sind und für ihre rechte Ausbildung und ihren sachgemäßen Einsatz Sorge getragen werden muß, ist übereinstimmende Erkenntnis aller Gliedkirchen der EKD. Die Kirchenleitung hielt es für erforderlich, noch weitere Erfahrungen auf dem Gebiet der Ausbildung und des Einsatzes von Katecheten zu machen, ehe sie selbst an die Errichtung einer eigenen katechetischen Schule herangeht und ehe sie das von der vorigen Provinzialsynode gewünschte Gesetz über das Amt des kirchlichen Katecheten vorlegt. Fest steht bereits schon jetzt, daß der Katechet nicht ausschließlich in der evangelischen Unterweisung eingesetzt werden kann, sondern daneben einen weiteren Dienst als Organist, Gemeindehelfer, Rendant usw. zum Ausgleich übernehmen muß. Die von der letzten Synode geforderte kirchliche Elternarbeit beginnt langsam, ihre Konturen abzuzeichnen, nachdem verschiedene restaurative Versuche der Erneuerung der alten Elternbünde oder Schulgemeinden abgewehrt werden konnten. Die Richtlinien des Arbeitskreises

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„Elternhaus und Schule" scheinen die Möglichkeit einer fruchtbaren Elternarbeit auf gemeindlicher Basis zu geben. Auch in der notwendigen Sammlung der evangelischen Erzieher kann es sich nicht um die Wiederbelebung alter Vereinsformen handeln. Es ist kirchlicherseits alles getan worden, um die Bildung falscher Fronten zu vermeiden, statt dessen die Lehrer willig zu machen, in allgemeinen Lehrervereinen bzw. der Lehrergewerkschaft mitzuarbeiten. Es hat sich aber herausgestellt, daß die programmatisch geforderte weltanschauliche Neutralität in Wirklichkeit oft nicht vorhanden ist, bzw. daß sich die Neutralität als Gegenkonfession auswirkt. Von der Erkenntnis der Notwendigkeit einheitlicher Erziehung aus müssen die evangelischen Lehrer auch als Stand auf dem Fundament evangelischen Glaubens in ganz neuen Formen gesammelt werden. Dies Werk muß aber der evangelischen Erzieherschaft selbst zur Ausgestaltung überlassen bleiben. In der Behandlung aller dieser und mancher anderer pädagogischer Aufgaben wird die Kirchenleitung beraten und unterstützt von der Schulkammer der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz, deren Plenum zwar aus Raum- und Zeitgründen erst zweimal zu je zweitägigen Arbeitstagungen zusammentreten konnte, deren einzelne Glieder aber in der Zwischenzeit für die mannigfachsten Aufgaben, insbesondere auch zu zahlreichen sachlichen und vor allem persönlichen Einzelberatungen zur Verfügung standen. Zur praktischen Durchführung ihrer pädagogischen Aufgaben ist die Kirchenleitung angewiesen auf die tatkräftige Mitarbeit der kreissynodalen Schulreferenten, die alljährlich zu zweitägigen Arbeitstagungen zusammentreten. Neben den staatlichen Schulen ist auf evangelischer Seite das Privatschulwesen immer schwach entwickelt gewesen. Aber auch diese vereinzelten privaten evangelischen Schulen sind im Dritten Reich verlorengegangen. Bei den weltanschaulichen und politischen Gegenstäzen in unserem Volk sind die öffentlichen Schulen schon immer ein ernster Gegenstand des Kampfes gewesen, der weithin mit Kompromissen geendet hat, die einen einheitlichen evangelischen und kirchlichen Geist der Höheren Schulen nicht garantieren. Zum andern folgt aus dem Diasporacharakter weiter Gebiete der Rheinischen Kirche, daß evangelische Eltern ihre Kinder nicht in evangelische höhere Schulen schicken können. Besonders im oberrheinischen und Nahegebiet war bisher für die Landgemeinden eine evangelische höhere Schule nicht vorhanden. Dem hier vorliegenden Bedürfnis der Heranbildung bewußt evangelischer Akademiker als Theologen, Studienräte und Juristen ist nunmehr Erfüllung geschenkt in der Errichtung des Paul-Schneider-Gymnasiums in Meisenheim a. Glan. Die dortige Stadtverwaltung hat die von ihr vor

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Jahrzehnten übernommene evangelische Lateinschule aus finanziellen Gründen der Rheinischen Kirche angeboten. Mit Befürwortung des Kultusministeriums des Landes Rheinland-Pfalz hat die französische Militärregierung die Errichtung eines kirchlichen Gymnasiums als Vollanstalt mit einer neusprachlichen Abteilung genehmigt, und die Kirchenleitung hat die ehemalige Lateinschule mit dem April 1948 als erste kirchliche höhere Schule am Oberrhein übernommen. In einem Vertrag mit der Stadt Meisenheim wurde die Überlassung in entgegenkommender Weise geregelt. Das Schulgebäude wurde wiederaufgebaut, ein Direktor in der Person des bisherigen Akademiedirektor Dr. Heß gewonnen, ein vollständiges Lehrerkollegium berufen und mit dem Herbst 1948 der volle Schulbetrieb eröffnet. Das für die Landschüler so dringend notwendige Internat wurde für etwa 30 Schüler vorläufig im Herzog-Wolfgang-Haus der Rheinischen Kirche untergebracht. In ihrer letzten Sitzung hat die Kirchenleitung den Ankauf der Spiesburg in Meisenheim beschlossen. Der günstige Kaufvertrag wird in diesen Tagen mit der Stadtverwaltung abgeschlossen werden. Damit erhält das PaulSchneider-Gymnasium ein Internat für etwa 80 Schüler. Daneben kann vorläufig das Herzog-Wolfgang-Haus als Internat für Schülerinnen weiterbestehen. Die Einweihung der Schule wird im Dezember stattfinden. Die Finanzierung dieses großen Unternehmens wird maßgeblich aus Gaben bestehen, die regelmäßig von den Synoden des Schulerfassungsgebietes nach einem festgelegten Schlüssel aufzubringen sind. Daneben wird die ganze Rheinische Kirche durch Kollekten ihren Anteil mitübernehmen. Neben dem Paul-Schneider-Gymnasium ist die früher der Kirchengemeinde Dierdorf gehörende Rektoratsschule wieder in den Besitz der Gemeinde übergegangen. Damit ist auch für die Landgemeinden des Kirchenkreises Wied eine evangelische höhere Schule gewonnen worden. Schüler der Dierdorfer Schule können jetzt die Oberstufe in Meisenheim durchlaufen. Diese Ergänzung der beiden Schulen ist sehr erfreulich. Auch an dem Ausbau der Julius-Stursberg-Schule im Kirchenkreis Moers zur Vollanstalt haben sich Kirchengemeinden und die Kirchenleitung beteiligt. Es ist begründete Hoffnung gegeben, daß diese Schule mit Internat in ihrem Bereich ihre alte Bedeutung als evangelische Anstalt wiedergewinnt. 8. Verhältnis zu anderen Kirchen a. Es wird in Deutschland wenig Kirchen geben, die in einem so engen Kontakt miteinander stehen wie die rheinische und westfälische Kirche. Die Leitungen beider Kirchen haben die nach 1945 begonnene Zusam-

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menarbeit kräftig fortgesetzt. Die regelmäßigen Zusammenkünfte dieser Kirchenleitung der altpreußischen Union für die Westprovinzen führten in vielen Fällen zu gemeinsamen Notverordnungen für beide Kirchen, die der Synode zur Bestätigung vorgelegt wurden. Dadurch ist auch die Rechtsgestaltung beider Kirchen gleich geblieben. Der „Gemeinsame Rechtsausschuß" der Kirchen hatte in zahlreichen Fällen als letzte Instanz rheinische oder westfälische Fälle zu entscheiden. Darüber hinaus wurde der gegenseitige Austausch von geistlichen Kräften gepflegt und vor allem die Verbindung bei der Arbeit an der Neugestaltung der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung aufrecht erhalten. Dadurch ist es gelungen, auch die heutige Vorlage eines Kirchengesetzes über die Leitung der Kirche beiden Synoden gemeinsam zu machen. Es könnte an dem Zusammengehen von Rheinland und Westfalen für die E K D etwas Beispielhaftes sein, wie Kirchen ohne Zwang in Freiheit miteinander ihre Ordnung übereinstimmend gestalten und überhaupt eine dauernde brüderliche Verbundenheit betätigen. b. Die seit 1945 eingerichtete Konferenz der Kirchen der britischen Zone hat ihre Arbeit fortgesetzt, und wir haben uns ständig an den Beratungen in Bethel beteiligt. Es sind von dieser Konferenz gelegentlich auch gemeinsame Eingaben an die öffentlichen politischen Gewalten gemacht worden, z.B. in Sachen der Entnazifizierung. c. Die rheinische Kirche ist gemäß der Eisenacher Grundordnung eine selbständige Gliedkirche der EKD. Aber sie ist immer noch im Verband der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Wir haben diesen Verband nicht aufgelöst, wenn er auch durch die Treysaer Artikel von 1945, die von der vorigen Provinzialsynode anerkannt wurden, eine neue Form erhalten hat. Es hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, daß die Treysaer Artikel den wirklichen Tatbeständen und Notwendigkeiten der neuen Lage entsprachen. Die östlichen und westlichen Provinzialkirchen haben ein immer stärker werdendes Einzelleben entwikkelt und werden nicht mehr zentral von Berlin geleitet und verwaltet. Die noch vorhandene Kirchenleitung der altpreußischen Union in Berlin ist für die östlichen Kirchen das Leitungsorgan einer Bundeskirche, für die Gesamtheit der altpreußischen Kirche ist es mehr ein Bundesrat von brüderlich frei verbundenen Landeskirchen gemeinsamer Herkunft und Verantwortung. Daneben haben die Kirchenleitungen von Rheinland und Westfalen eine westliche Kirchenleitung der altpreußischen Union gebildet, die aber sich in keiner Weise als den beiden Kirchen übergeordnetes Organ verstand, sondern zu brüderlicher Beratung zusammenkam, um in allen notwendigen und geeigneten Angelegenheiten für beide Kirchen ein gemeinsames Vorgehen zu beschließen. De facto sind die früheren altpreußischen Provinzialkirchen in diesen Jahren selbständige Landeskirchen geworden, die östlichen zum Teil etwas weniger als die

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westlichen. Damit ist die Frage des Fortbestehens der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union noch nicht erledigt, vielmehr liegen Vorschläge zur völligen Neugestaltung bereits vor, die auch eines Tages vor die beteiligten Kirchen zur Beratung und Beschlußfassung kommen müssen. Eine endgültige Lösung zu suchen, wäre im Augenblick verfrüht. Zur Zeit sind alle Provinzialkirchen im Osten nicht weniger als im Westen damit beschäftigt, sich selbst eine neue Ordnung zu geben, in denen überall der selbständige landeskirchliche Charakter deutlich wird. Erst nach Abschluß dieser Neuordnung wird man an die Frage herangehen können, in welcher Weise die Kirchengemeinschaft der altpreußischen Kirchengebiete innerhalb der EKD noch eine besondere Gestalt haben wird. Die Lösung dieser Frage hat jedenfalls nichts zu tun mit unserer Verbundenheit und Verantwortung, die wir allen Kirchen und Christen in der Ostzone Deutschlands schulden und nach Kräften zu betätigen willens sind. d. In der EKD ist seit der letzten Provinzialsynode ein entscheidender Schritt vorwärts getan worden. Nach vielen, z.T. schweren und mühevollen Verhandlungen und Arbeiten ist es allen Schwierigkeiten zum >Trotz im vergangenen Sommer zu der neuen Grundordnung der EKD gekommen. Die rheinische Kirchenleitung ist von Anfang an aufs stärkste für die EKD eingetreten und hat das Ihre getan, daß dieser neue Zusammenschluß der Evangelischen Kirchen in Deutschland zur Evangelischen Kirche in Deutschland zustande kam, wobei für uns der Akzent begreiflicherweise darauf liegt, daß die EKD Kirche sei und sein möge. Die Kirchenleitung hat vorläufig der Grundordnung zugestimmt. Wir bitten die Synode, diesen Beschluß zu bestätigen und sodann die Abgeordneten zur ersten ordentlichen Synode der EKD in Bethel am 9. Januar 1949 zu wählen. e. Auf Eisenach folgte Amsterdam. Wir stehen nicht nur in der Evangelischen Kirche in Deutschland, sondern auch in der Ökumene, in einem Maße, wie man das noch vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Die rheinische Kirchenleitung hat in diesen Jahren eine immer ausgedehntere ökumenische Verbindung geschenkt bekommen und ihrerseits festgehalten. Wir standen mit Genf, Zürich (Schweizer Hilfswerk), England, Schottland, Holland, USA (Evangelical and Reformed Church) in lebhaftem Austausch. Unzählige Besuche haben wir empfangen, und die ersten dürfen jetzt erwidert werden. Aber wir haben auch mannigfache große Hilfe erfahren, worüber das Hilfswerk berichten kann. Die hier sich knüpfenden Bande dürfen nicht wieder zerreißen, im Gegenteil, sie müssen kräftiger als bisher gepflegt werden. Es kann heute keine Kirchenleitung in Deutschland mehr ohne ein ökumenisches Referat sein!

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9. Verhältnis zu den öffentlichen Gewalten (Staat) a. Es ergibt sich aus der Lage der Kirche in der Welt, daß eine Kirchenleitung mit den Vertretern der öffentlichen Gewalt in Beziehung treten muß. So hat die Kirchenleitung in den beiden Jahren zu den Inhabern der obersten Gewalt in Deutschland, den Besatzungsmächten, ihrer politischen Führung (z.B. Lord Pakenham) und Sachbearbeitern in einer dauernden einwandfreien Verbindung gestanden. Wir haben insbesondere bei den Vertretern von Religious Affairs Branch in Bünde (Wilson und Kingdom) ein echtes kirchlich-christliches Verständnis gefunden. Ebenso war es in Koblenz und Baden-Baden bei den entsprechenden Abteilungen der französischen Militärregierung. Hier sei besonders des französischen Feldbischofs und Bruders Sturm in Dankbarkeit gedacht. Nicht ganz so leicht war es, den Kontakt im Saarland zu finden. Wir konnten den dort geäußerten Gedanken, im Saarland eine selbständige evangelische Kirche zu bilden, nicht entgegenkommen. Wir haben in zahlreichen Verhandlungen die unteilbare Einheit und Gemeinschaft der rheinischen evangelischen Kirche als einen kirchlichen, nicht politischen, sondern christlichen Tatbestand mit Erfolg vertreten. Diese Linie werden wir auch künftig einhalten, und, solange die evangelischen Gemeinden im Saarland daran festhalten, dürfen wir hoffen, daß den politischen Grenzen keine kirchlichen folgen werden. b. Nachdem die Militärregierungen in Deutschland Länder und Staaten gebildet haben, ist das bisherige staatliche Gefüge der Rheinprovinz hingefallen. Die rheinische Kirche steht dadurch in der in Deutschland wohl einzigartigen Lage, daß sie sich über vier Länder erstreckt, von denen eins sogar zum französischen Wirtschaftsgebiet gehört. Wir haben mit drei Besatzungsmächten und vier verschiedenen Länder-Regierungen zu tun, was die Arbeit überaus vermehrt und kompliziert. Die Einsetzung der drei Bevollmächtigten hat sich dabei sehr bewährt. Wir können auch innerhalb der Trizone noch nicht darauf verzichten, geschweige denn im Saarland. Bei allen äußeren Verschiedenheiten und Schwierigkeiten kann gesagt werden, daß die Beziehungen der Kirchenleitung zu den Regierungen durchweg gut geblieben sind. Wir können uns im allgemeinen nicht beklagen, daß wir kein Verständnis für die kirchliche Arbeit gefunden hätten, obwohl es hier und da zu langwierigen Verhandlungen kam. Der preußische Staatsvertrag von 1931 gilt weiterhin als die Rechtsgrundlage des Verhältnisses von Kirche und Staat, vor allem in Nordrhein-Westfalen. Als erfreuliches Zeichen eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen den Staatsregierungen und der Evangelischen Kirche kann es

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gewertet werden, daß bei den Verfassungsarbeiten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen die Kirche ausdrücklich zur Mitarbeit für die sie angehenden Gebiete herangezogen worden ist. Die Frucht dieser Arbeit ist z.B. für die Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz sichtbar geworden. Auch bei dem z. Z. geplanten Gesetz zum Schutz der Feiertage wurden die evangelischen Kirchen in Nordrhein um ihre Stellungnahme und etwaigen Wünsche gefragt. c. Das Verhältnis der Kirche zu den öffentlichen Gewalten ist nicht nur unmittelbar durch den Weg der Besprechungen und Verhandlungen bestimmt, sondern auch mittelbar durch das öffentliche Wort der Kirchenleitung in bestimmten Fragen des menschlichen Lebens. In diesem Wort wird der Dienst der Verkündigung seitens der Kirchenleitung in besonderer Weise wahrgenommen. Wir haben nicht so oft als es von uns von verschiedenen Seiten gewünscht wurde, das Wort genommen, denn wir waren der Uberzeugung, daß ein zu häufiges Reden, obendrein bei vielleicht zweitrangigen Anlässen, das Gewicht des Wortes entwerte. Getan haben wir es aber z.B. zur Moskauer Friedenskonferenz, zu §218 (in Ubereinstimmung mit der westfälischen Kirchenleitung) und zu Währungsreform und Lastenausgleich, jeweils unterstützt von der Arbeit des Sozialethischen Ausschusses der Synode, die hier einmal rühmend erwähnt sein soll, denn sie verdient Dank und Anerkennung.

10. Vorbereitung zur Erneuerung der Kirchenordnung Die Kirchenleitung hatte von der vorigen Synode den Auftrag empfangen, die notwendige Erneuerung der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung aus dem Geist des presbyterial-synodalen Denkens in Angriff zu nehmen. Wir haben es für sachgemäß gehalten, die Kreissynoden und Presbyterien der rheinischen Kirche zur Mitarbeit aufzurufen und ihre Stellungnahme zu den entscheidenden Fragen zu erbitten. Dem diente das Proponendum an die Kreissynoden von 1947 über die Ordnung und Leitung der rheinischen Kirche. Das Ergebnis dieser Befragung der Synoden war ein überraschend einhelliges Votum zu den vorgelegten Fragen, wobei sich manche Synoden durch eine wirklich gründliche Arbeit ausgezeichnet haben. Dieses Ergebnis ermutigte uns zu einem Entwurf der Kirchenordnung, der im wesentlichen die Abschnitte Gemeinde, Kreis- und Provinzialsynode umfaßte. Wir hielten einen solchen Entwurf für möglich, ja erforderlich, zumal der westfälische Kirchenordnungs-Ausschuß über bestimmte Fragen nicht weiterkam und wir dem von der rheinischen Synode bestellten Ausschuß eine Vorlage machen wollten, damit seine Arbeit dadurch erleichtert war. Der Ausschuß erhielt den Entwurf und wurde dann zu einer

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Rheinische Provinzialsynode 1948

zweitätigen Konferenz berufen. Das Ergebnis dieser Beratung wurde in Druck gegeben und den Kreissynoden 1948 vorgelegt. Gleichzeitig wurde eine gemeinsame zweitätige Konferenz der rheinischen und westfälischen Ausschüsse gehalten, nachdem schon vorher eine Fühlungnahme der Vertreter beider Kirchenleitungen über den Entwurf stattgefunden hatte. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Beratung in Bethel war einerseits der Wille, die Erneuerung der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung übereinstimmend weiterzuführen, andererseits die Beschränkung der Vorlage zur Provinzialsynode auf ein Kirchengesetz über die Leitung der Evangelischen Kirchen in Rheinland und Westfalen. Der Gesamtentwurf der Kirchenordnung sollte erst zur nächsten Synode vorbereitet und durchgeführt werden. Die rheinischen Kreissynoden wurden entsprechend unterrichtet und haben auf ihren Tagungen anhand der Vorlage Abschnitt V und VI über ein Kirchengesetz betr. die Leitung beraten. Die Ergebnisse dieser Kreissynoden wurden durchgearbeitet und lagen der letzten gemeinsamen Konferenz von Vertretern der rheinischen und westfälischen Kirchenleitung am 11. und 12. Oktober vor. Dort wurde dann die gemeinsame Vorlage für die beiden jetzt gleichzeitig tagenden Provinzialsynoden fertiggestellt. Wir hoffen, daß es gelingen möge, in beiden Synoden zu den gleichen Beschlüssen zu kommen, damit die Verbundenheit der beiden Kirchen auch im neuen Abschnitt ihrer langen gemeinsamen Geschichte sich bewährt. Bleiben wir in dieser Sache jetzt beieinander, haben wir die Zuversicht, daß wir auch bei der gesamten Neuordnung der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung zu gemeinsamen Ergebnissen kommen werden. Und wir sind der Uberzeugung, daß diese Gemeinsamkeit, die in voller Freiheit ohne Zwang geschieht, nicht nur für unsere Kirchen fruchtbar sein wird, sondern auch in der E K D ein beachtliches Zeichen aufrichten wird, wie sich große evangelische Kirchen um Einheit und Gemeinschaft in Freiheit und Brüderlichkeit erfolgreich bemüht haben. Wir glauben, daß wir dies unserer Geschichte und der Bedeutung der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung für die Evangelische Kirche in Deutschland schuldig sind. Nachdem in Rheinland und Westfalen die kirchlichen Körperschaften neugebildet worden sind, haben es die Kirchenleitungen für ihre Pflicht gehalten, die Provinzialsynoden so bald wie möglich einzuberufen, damit diese nunmehr die Leitungen ihrer Kirchen gemäß ihrer Vollmacht und Verantwortung ordneten. Es gilt, die uns noch gegebene Zeit recht zu nutzen, und rechtlich klare Verhältnisse zu schaffen, insbesondere echte synodale Organe der Leitung und Verwaltung zu bestellen, die dem Wiederaufbau der rheinischen und westfälischen Kirche kraftvoll dienen können.

Rheinische Provinzialsynode 1948

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Damit ist mein Bericht unmittelbar bis zur Aufgabe dieser Synode vorgedrungen. Gott wolle uns in seiner Gnade geben, daß wir diese Aufgabe recht erfüllen und wir unserer Kirche den Dienst erweisen, der zu ihrer rechten Auferbauung Frucht bringt.

Zum Verständnis der Barmer Theologischen Erklärung"' Der Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hat zu einer Anfrage der Kanzlei der E K D über die Aufnahme der Barmer Theologischen Erklärung in das Ordinationsgelübde durch das folgende Schreiben vom 7. Januar 1947 Stellung genommen: „Zu der Frage der Aufnahme der Theologischen Erklärung von Barmen in das Ordinationsgelübde, wie dies von der Westfälischen Provinzialsynode beschlossen worden ist, bringen wir der Kanzlei nachstehend die Stellungnahme des Lutherrates zur Kenntnis. Bis auf Sachsen und Schaumburg-Lippe haben sich alle uns angeschlossenen Kirchen, zum Teil sehr eingehend, hierzu geäußert. Von der nachstehenden Stellungnahme weichen lediglich die Meinungen Lübecks und der Lippischen Lutherischen Klasse ab, welche im wesentlichen gegen die Nennung von ,Barmen' im Ordinationsgelübde keine Bedenken haben bzw. sie als gemeinsamen Weckruf gegenüber aller ,Konjunktur-Theologie' und als Aktualisierung des Bekenntnisses fordern. Den von uns unten dargestellten Mißbrauch von ,Barmen' im Sinne eines neuen Unionsbekenntnisses lehnt Württemberg auch ab, meint aber, daß dieser nicht unbedingt hinter dem Beschluß der Westfälischen Provinzialsynode zu stehen braucht. Im übrigen wird die Aufnahme der Theologischen Erklärung von Barmen in das Ordinationsgelübde abgelehnt, und zwar aus folgenden Erwägungen heraus: 1. Indem man die Theologische Erklärung von Barmen in der Lehrverpflichtung der Ordination mit den altkirchlichen Symbolen und den Bekenntnisschriften der Reformation zusammen nennt, rückt man sie irgendwie auf die gleiche Ebene mit diesen und gebraucht sie in der Art eines kirchlichen Bekenntnisses. Dies aber widerspricht der ursprünglichen Absicht von ,Barmen' selbst. Wenn man die Theologische Erklärung nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den übrigen auf der Bekenntnissynode von Barmen beschlossenen Erklärungen, Aufrufen und Entschließungen betrachtet, ja, wenn man ihre sechs Thesen auch nur von ihrer Präambel und ihrem Schlußabschnitt her ansieht, so ist eindeutig, daß sie kein neues Bekenntnis im Sinne etwa eines unionistischen Kirchenbegriffs sein wollte, im Gegenteil, daß sie sich gegen derartige Interpretationen der damaligen D E K wendet und statt dessen mit dieser als eines Bundes bekenntnisbestimmter Kirchen ernst machen will. 2. Wie nach ihrer Absicht, so kann die Barmer Theologische Erklärung auch nach ihrem Inhalt mit dem, was die im Ordinationsgelübde genannten Symbole für uns bedeuten, nicht auf eine Stufe gestellt werden. Sie will nicht nur kein * A u s : N A C H R I C H T E N D I E N S T DER „ P R E S S E S T E L L E DER EVANGELISCHEN K I R C H E DER RHEINPROVINZ" 2, 1947, N r . 6 / 7 , S.

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neues Bekenntnis sein, sie kann es auch nicht sein. Die Abwehr, und zwar in einer bestimmten kirchengeschichtlichen Situation, ist ihr deutlicher Hauptzweck. Das Positive in ihr richtet sich danach. Es stellt nur das Allerzentralste, und auch das nur in sehr allgemein gehaltenen Ausdrücken heraus, die die positiven Lehrauffassungen im einzelnen ganz in der Schwebe lassen und die bestehenden Lehrunterschiede gar nicht berühren. Das Ordinationsgelübde aber ist nicht zum wenigsten eine positive Lehrverpflichtung. Da ,Barmen' eine vorwiegend ,kirchengeschichtliche', nicht ,dogmengeschichtliche' Bedeutung besitzt, paßt es nicht da hinein. Es sagt hierfür zu wenig und auch das nicht eindeutig genug. Es ist mehrdeutig, auslegungs- und ergänzungsbedürftig. Wollte man die positiven Aussagen von Barmen so, wie sie sind, lehrhaft ernst nehmen, so fingen die differierenden Schwierigkeiten gleich bei dem ersten Schritte an; denn sie sind bei Lutheranern und Reformierten verschieden motiviert, nuanciert und im einzelnen verschieden verstanden. 3. Sicherlich galt,Barmen' nicht nur für 1934, sondern stellt als grundsätzliches Vermächtnis des Kirchenkampfes ein bleibend aufgerichtetes Wahrzeichen für die Kirche dar, indem das, was es abwehrt, als ständige Gefahr und Versuchung an die Kirche herantritt. Positiv aber sieht,Barmen' diese praktisch gebannt durch Aktualisierung der vorhandenen kirchlichen Bekenntnisse. Es stellt seiner Tendenz nach deutlich einen Wächterruf dar, diese nicht nur als .unantastbare Grundlage' im Reliquienschrein der Kirche zu bewahren, sondern mit ihnen in actu ernst zu machen. ,Barmen' ist also ein Ruf zum Bekenntnis, nicht ein Bekenntnis selbst. Wozu aber soll ein solches eigens mit in die Reihe der Bekenntnisse, auf die der Ordinand verpflichtet wird, aufgenommen werden? ,Die Häufung der Verpflichtungen führt entweder zu einer strengen Gesetzlichkeit oder zur Relativierung.' Die Aufnahme wird als ,Ausdruck eines gesetzlichen Geistes' angesehen, ,der Sicherheiten anhäufen will' und es erforderlich machen könnte, ,daß wir alle paar Jahrzehnte eine andere Erklärung' gegenüber den Irrlehren unserer Zeit ,aufnehmen müßten'. - Durch den Beschluß der Westfälischen Provinzialsynode ist sozusagen ein wichtiges Stück der Ordinationsvermahnung in die grundlegende Ordinationsverpflichtung selbst hineingenommen worden. 4. Die Barmer Theologische Erklärung bringt inhaltlich nicht etwas Neues zu den vorhandenen kirchlichen Bekenntnissen hinzu. Es ist hier nicht ein tieferes Schriftverständnis erschlossen, noch werden von dem reformatorischen Schriftverständnis her grundsätzlich neue Gebiete und Fragen angeschnitten. Es werden da und dort Dinge angesprochen, die in den bisherigen Bekenntnissen zwar mitgegeben sind und anklingen, aber nicht so expliziert sind. Jedoch was ,Barmen' bestreitet, bestreiten auch unsere Bekenntnisse, wenn auch nicht jedesmal so akzentuiert. Wer mit dem Lutherischen Bekenntnis bei denen steht, die ,Barmen' verwirft, der hat es nicht ernstgenommen. Was aber die positiven Unterschiede zwischen den reformatorischen Bekenntnissen betrifft, so führt ,Barmen' nicht über dieselben hinaus, vielmehr im Sinne der einen apostolischen Kirche hinter sie zurück zu dem allgemeinen Bekenntnis zu dem einen Herrn, das in allen Bekenntnissen steckt und ohne das jede Kirche zur Unkirche wird. Es müßte also sowieso durch die vorhandenen kirchlichen Bekenntnisse ausgelegt werden. Dies ist ja auch in Barmen ausdrücklich beschlossen worden,

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wodurch zum Ausdruck gebracht ist, daß zwar das Anliegen der Theologischen Erklärung den verschiedenen Bekenntniskirchen gemeinsam ist, daß sie aber in der Einzelausdeutung und Motivierung voneinander abweichen können und wohl auch werden. Wozu also noch die eigene und gemeinschaftliche Aufnahme in das Ordinationsgelübde, die das Ganze ja nur unnötig komplizierter macht, ohne wirklich weiterzuführen? 5. Die Aufnahme eines neuen Stückes in das Ordinationsgelübde ist nur im Blick auf eine neue Kirchenbildung sinnvoll und verständlich. Es ist zweifellos, daß die heutige neuere Einschätzung der Theologischen Erklärung von Barmen, die von deren ursprünglicher Abzweckung entscheidend abweicht, weithin darauf ausgerichtet ist, und zwar im Sinne eines unionistischen Kirchenideals. Aus der Tatsache, daß sich in Barmen Lutheraner, Reformierte und Uniierte gemeinsam zu den Grundwahrheiten reformatorischen Christentums gegen deutsch-christliche Irrlehren und totalstaatliche Vergewaltigungspolitik bekannt haben, wird der Kurz- und Trugschluß gezogen, daß die Theologische Erklärung darum über die jene trennenden Bekenntnisunterschiede hinausführe. Das ist eine Selbsttäuschung und ein Mißbrauch dieser Erklärung, der für die geforderte Neuordnung der E K D unheilvolle Folgen nach sich ziehen kann. Man legt hier entgegen der ursprünglichen Abzweckung etwas in ,Barmen' hinein und verspricht sich etwas davon, was es einfach nicht zu halten vermag. Weil die Aufnahme der Theologischen Erklärung in das Ordinationsgelübde dieser Selbsttäuschung und diesem Mißbrauch im Sinne eines neuen Unionsbekenntnisses zum mindesten Vorschub leistet, müssen wir diese aus ernster Verantwortung ablehnen. Die Einklammerung der reformatorischen Bekenntnisse durch die altkirchlichen Symbole einerseits und die Theologische Erklärung von Barmen andererseits in der neuen westfälischen Ordinationsverpflichtung muß den Eindruck erwecken, daß ihnen nur noch der Charakter von Schulrichtungen, aber kein kirchenbildender mehr zuerkannt wird. Mit dieser Ablehnung möchten wir zugleich dazu beitragen,,Barmen' seiner ursprünglichen, legitimen Bedeutung wieder zuzuführen, nach der es den allgemeinen, grundsätzlichen und programmatischen Anfang damit macht, die E K D in Gemeinschaft und in aktuellem Ernstnehmen nun wirklich und ernsthaft nach den reformatorischen Bekenntnissen zu ordnen. Hier müßte nun weitergemacht werden! In dem Sinne stehen wir auf dem Boden von ,Barmen', welches eine unionistische Auffassung der damaligen DEK, die nach einem anderen, heteronomen Prinzip als dem des Bekenntnisses geordnet ist, ausdrücklich ablehnt. ,Wer heute als Lutheraner auf dem Boden von Barmen steht, muß gegen den Mißbrauch von Barmen protestieren und sich für eine starke und einige lutherische Kirche einsetzen.' 6. Die Schwierigkeiten, die dadurch entstehen, daß eine Erklärung in die Lehrverpflichtung unserer Geistlichen eingefügt wird, die die außerdeutsche Christenheit in ihren Lehrverpflichtungen nicht kennt, können hier nur angedeutet werden. gez. D. Meiser." Die in dieser Stellungnahme ans Licht kommende Beurteilung der Theologischen Erklärung von Barmen nötigt uns zu einer Entgegnung. Es bleibt uns unbegreiflich, wie es möglich ist, die Barmer Erklärung in

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der Weise zu interpretieren. U m so notwendiger ist es, zu den Darlegungen des Lutherischen Rates Fragen aufzuwerfen und den Versuch zu machen, in ein theologisches Gespräch zu kommen, obwohl es offenbar äußerst schwierig ist, sich dem andern verständlich zu machen. Die Erwägungen, die zu einer ablehnenden Stellungnahme geführt haben, sind in sechs Stücke gegliedert. Gehen wir der Reihe nach auf diese Punkte ein. 1. Es ist richtig, daß die Theologische Erklärung von Barmen durch Aufnahme in die Lehrverpflichtung „irgendwie in die gleiche Ebene mit den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen" rückt. Es mag sein, daß das nicht der ursprünglichen Absicht der Barmer Erklärung entspricht. Aber das ist doch kein Argument gegen die Inanspruchnahme im Ordinationsgelübde. Denn die ursprüngliche Absicht und der tatsächliche Gebrauch eines Bekenntnisses stimmen auch bei altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen nicht überein. Deswegen können sie doch legitime kirchliche Bekenntnisse sein. In der Barmer Erklärung ist gesagt worden: „Angesichts der die Kirche verwüstenden Irrlehren . . . bekennen wir uns zu folgenden evangelischen Wahrheiten". Es ist also ein Bekenntnis abgelegt worden. Freilich kein „neues Bekenntnis im Sinne eines unionistischen Kirchenbegriffs", aber doch offenbar ein „neues" Bekenntnis - auf dem Grunde der alten. Genau so geschah es in der Augsburgischen Konfession. Was ist eigentlich dagegen einzuwenden, wenn nun die Barmer Erklärung als ein neues Bekenntnis der einen alten Wahrheit des Evangeliums „irgendwie" mit den alten Bekenntnissen auf die gleiche Ebene gestellt und nach Art eines Bekenntnisses gebraucht wird? Wird damit die Wahrheit der lutherischen Bekenntnisse oder der altkirchlichen angetastet? Das wäre doch nur der Fall, wenn die Barmer Erklärung sich gegen die alten Bekenntnisse richtete und ihre Wahrheit verneinte. Aber das will sie ja gerade nicht. Im Gegenteil! Indem sie also die Wahrheit der reformatorischen Bekenntnisse aufs neue bekennt, hat sie die echte Art eines Bekenntnisses und steht auf einer Linie mit den alten Bekenntnissen. Barmen ist gewiß kein „neues Bekenntnis", in welchem die reformatorischen Bekenntnisse zugunsten eines neuen Bekenntnisses aufgehoben wären; aber ebenso gewiß ist es ein neues gemeinsames Bekenntnis lutherischer und reformierter Kirchen und also das Zeichen einer bestimmten, tatsächlich vorhandenen „ U n i o " , einer Einheit im Bekennen grundlegender christlicher Wahrheiten und im Verwerfen wesentlicher unchristlicher Irrtümer. 2. Das zweite Bedenken gegen die Übernahme der Barmer Erklärung in das Ordinationsgelübde wird von daher erhoben, daß die Barmer Erklärung ihrem Inhalt nach zu wenig sagt und auch das nicht eindeutig

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genug. Es könne kein neues Bekenntnis sein, da sein Hauptzweck Abwehr, seine Bedeutung nur kirchengeschichtlich sei. O b die Barmer Erklärung ein neues Bekenntnis sein kann oder nicht, läßt sich ohne Zweifel nicht mit den vorgebrachten Argumenten entscheiden. Die „Abwehr" war bei manchem Bekenntnis der Kirche der Hauptzweck. Wahrscheinlich sind die meisten überhaupt nur aus der notwendigen Abwehr entstanden. Ferner kann man den Vorwurf, daß die Barmer Erklärung zu wenig sagt und auch das nicht eindeutig genug, gegen das Athanasianum, wohl auch gegen die Augsburgische Konfes( C A ) erheben - wäre sonst die Concordienformel ( F C ) nötig gewesen? Gerade die Theologische Erklärung („Solida declarado") der F C beweist, wie verschieden die Theologen die C A verstanden und ausgelegt haben. Aber sind wir deshalb genötigt, die F C für unser Verständnis der C A allein maßgebend sein zu lassen? Dann wären alle lutherischen Kirchen, in denen die F C nicht zur Anerkennung gebracht wurde, nicht lutherisch. Das ist aber doch bisher noch nie behauptet worden. Kein Bekenntnis sagt alles, keins ist umfassend; gerade die altkirchlichen lassen „die positive Lehrauffassung im einzelnen" ganz in der Schwebe. Kein Bekenntnis gibt es, das nicht der Auslegung, der Ergänzung bedürftig wäre. Alle sind mehrdeutig; sonst gäbe es nicht verschiedene Kirchen, die sich auf die gleichen Bekenntnisse berufen können. U n d was ist es für ein Vorwurf, daß die positiven Aussagen der Barmer Erklärung bei Lutheranern und Reformierten „verschieden motiviert, nuanciert und im einzelnen verschieden verstanden" seien? Wahrscheinlich werden solche Verschiedenheiten quer durch die lutherischen und reformierten Theologen hindurchgehen. Warum auch nicht? Ist denn das Bekenntnis der Kirche so etwas wie die „Normaltheologie" (wie Thomas in der römischen Kirche) - oder ist es nicht vielmehr „forma doctrinae" der Kirche, die „Summa scripturae", innerhalb deren es verschiedene theologische Motive und Nuancen gibt? Schließlich - ob die Barmer Erklärung vorwiegend „kirchengeschichtliche" oder auch „dogmengeschichtliche Bedeutung" hat, das vermögen wir heute nicht zu entscheiden, ist aber auch keine echte theologische Entscheidung über die Bedeutung der Barmer Erklärung. 3. Der dritte Einwand lautet: Die Barmer Erklärung ist kein Bekenntnis, sondern ein Ruf zum Bekennen der Bekenntnisse. Diese Behauptung entspricht aber einfach nicht den Tatsachen. Gewiß ist in der Barmer Erklärung auch der Aufruf enthalten, das Bekenntnis nicht „unangetastet" stehen zu lassen, sondern es zu bekennen. Aber nun wird doch eben auch bekannt. Es werden positiv und negativ Wahrheit und Verwerfung falscher Lehre in Auslegung der Heiligen Schrift ausgesprochen. So ist es ein bekennendes Wort. Es will nach seinem Grundansatz die „theologische Voraussetzung der D E K " als eines Bundes der

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Bekenntniskirchen zur Entfaltung bringen. Dies geschieht aufgund des Wortes Gottes angesichts der kirchenzerstörenden Irrlehren der Deutschen Christen in einer Reihe von scharf geformten und sorgsam erwogenen Lehrsätzen, aus denen die Verwerfungen folgen. Darum ist die Barmer Erklärung ein Bekenntnis. Es ist gar nicht einzusehen, wie durch die schlichte Anerkennung dieses Tatbestandes die Geltung der lutherischen Bekenntnisse in Frage gestellt oder die Existenz der lutherischen Kirche bedroht oder eine neue Unionskirche begründet sein soll. Die Barmer Sätze sind nicht bloß ein Teil der Ordinationsvermahnung, sondern durchaus auch einer echten Lehrverpflichtung, aber nicht gegen oder über das lutherische Bekenntnis hinaus, sondern im Consensus mit dem lutherischen Bekenntnis. 4. Der vierte Einwand bringt keinen wesentlich neuen Gesichtspunkt. Es wird argumentiert, die Barmer Erklärung sein unnötig im Ordinationsgelübde, da sein Inhalt schon im reformatorischen Bekenntnis enthalten sei; sie bringe ihrerseits zum reformatorischen Bekenntnis nichts wesentlich Neues hinzu. Die Väter des Augsburgischen Bekenntnisses hielten es damals für ihren Ruhm, nichts Neues zum Bekenntnis der Kirche hinzugefügt zu haben, vielmehr nichts anderes zu vollziehen als die Rückkehr der Kirche zu dem „allgemeinen Bekenntnis" des einen Herrn. So hat es auch der Ruhm von Barmen zu sein, gerade dies und nichts anderes zu bedeuten. Es gibt kein inhaltlich qualitativ Neues in der Barmer Erklärung, wohl aber ist hier das Schriftverständnis vertieft, auch werden vom reformatorischen Schriftverständnis neue Fragen entschieden. Man denke nur an die erste Barmer These mit ihrer „neuen" Feststellung über die Quelle der Verkündigung, oder auch an die Verwerfung des Staatskirchentums in These V. Jedes Bekenntnis ist in gewisser Weise immer Explikation des früheren, auch die CA. Denn letztlich ist eben im Bekenntnis: Jesus Christus Kyrios alles andere „mitgegeben" und wird lediglich „expliziert" je nach den Erfordernissen der angefochtenen Kirche. Man kann also gegen die Barmer Erklärung nicht geltend machen, was grundsätzlich von allen Bekenntnissen der Christenheit gilt. Nun aber wird der Barmer Erklärung noch speziell vorgeworfen, sie führe über die positiven Unterschiede zwischen den reformatorischen Bekenntnissen nicht hinaus. Das hat theoretisch den Anschein; aber in Wirklichkeit ist es doch einfach so, daß die positiven Unterschiede, die vor 400 Jahren ein Zusammenreden und -handeln der beiden reformatorischen Kirchen gehindert haben, nun nicht mehr einem gemeinsamen Reden „in dieser Sache" (wie es in der Erklärung heißt) im Wege gestanden haben. Die Tatsache des gemeinsamen Redens (von der wir bekannt haben, daß Gott uns dies gemeinsame Wort in den Mund gelegt 6

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hat!) ist ein Zeichen dafür, daß die positiven Übereinstimmungen der reformatorischen Bekenntnisse so überwältigend groß (geworden?) sind, daß demgegenüber die positiven Unterschiede das gemeinsame Bekennen — nach 400 Jahren! — nicht unmöglich gemacht haben. Dabei ist man sich auch in Barmen der „positiven Unterschiede" wohl bewußt gewesen und hat gerade nicht versucht, sie durch Konsensusformeln eines Unionsbekenntnisses auszuräumen. Wir haben dies Gott überlassen, weil wir gewußt haben, daß man hier nichts durch Verhandlungen (Religionsgespräche) „machen" kann. So bekennen wir die Barmer Erklärung mit dem lutherischen Bekenntnis - andere mit dem Heidelberger, beide auf dem Grund der Heiligen Schrift - im gemeinsamen Bekenntnis zu dem einen Herrn der einen heiligen christlichen Kirche. 5. Der fünfte Einwand begründet die Ablehnung mit dem Hinweis, daß der Barmer Erklärung kein kirchenbildender Charakter innewohne und daß andererseits die Hereinnahme der Theologischen Erklärung der Meinung Vorschub leiste, als seien die reformatorischen Bekenntnisse ihrem Charakter nach nur Schulbildungen, während die Barmer Erklärung selbst ein neues Unionsbekenntnis darstelle. Hierzu wäre zunächst zu fragen: Hatte etwa das Nicänum oder Athanasianum einen „kirchenbildenden" Charakter? Aber besser Kann überhaupt ein Bekenntnis einen kirchenbildenden Charakter haben? Was liegt da für eine Vorstellung vom Bekenntnis zugrunde? Bekenntnisse haben in Wirklichkeit niemals Kirche gebildet, sondern sie sind Konfessionen der vorhandenen Kirche gewesen. Ist durch die C A eine neue Kirche gebildet worden, oder wollen die Bekenner von Augsburg nicht gerade ihren Consensus mit der einen heiligen apostolischen Kirche Christi bekennen? Daß hieraus eine Kirche Augsburgischer Konfession wurde, lag nicht in der Intention der C A , sondern in der Bestreitung der C A durch die römisch-katholische Theologie und dem Festhalten eines großen Teils der Christenheit am römischen Stuhl. So bewirkte die C A eine Scheidung in der Kirche, die bis heute nicht überwunden ist. Und 1934 wirkte nicht schon die C A oder der Heidelberger Katechismus, sondern die Barmer Erklärung eine Scheidung in der Kirche, diesmal allerdings mit der Wirkung, daß die DC-Häresie nach einigen Jahren zerbrach. Durch die Barmer Erklärung ist nun die Kirche Augsburger Konfession nicht zu einer „theologischen Schule" geworden, auch nicht die Kirche des Heidelberger Katechismus, sondern es bestehen noch beide Kirchen - nur mit dem Unterschied, daß beide Kirchen seit dem 16. Jahrhundert durch eine sehr bewegte Geschichte ihrer Existenz und ihres Verhältnisses zueinander gegangen sind und dabei jedenfalls nicht dieselben geblieben sind, die sie im 16. Jahrhundert waren. In beiden Kirchen hat das Wort Gottes und die seiner Erforschung zugewandte Theologie Wirkungen von einschnei-

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dender Bedeutung gehabt. Beide Kirchen haben im Gegen- und Miteinander voneinander gelernt; und die tatsächliche Folge dieser Geschichte ist, daß sich das Gewicht der Lehrunterschiede zugunsten des Gewichtes der gemeinsamen Lehrüberzeugungen so stark verschoben hat, daß ein „Bund der Bekenntniskirchen", ja in, mit und unter ihm eine Bekennende Kirche Wirklichkeit wurde, die ein gemeinsames bekennendes Wort sagen, in gemeinsamen Bekenntnissynoden zusammenkommen und es Gott anbefehlen konnte, was dies für das Verhältnis der Bekenntniskirchen zueinander bedeute. Damit ist aber die Kirchentrennung in der Weise, wie sie im 16. Jahrhundert zwischen der lutherischen und reformierten Kirche bestand, überwunden, und es gibt heute in der EKD keine lutherische oder reformierte Kirche, die dem Glied der anderen Konfession die Teilnahme am Hl. Abendmahl aus Gründen der Konfessionszugehörigkeit verweigern würde. Freilich ist dieser Stand gerade nicht in Form der Unionen des 19. Jahrhunderts bewirkt worden; vielmehr hat keine der in Barmen zusammengekommenen Kirchen aufgrund der Barmer Erklärung ihren Bekenntnisstand durch die Theologische Erklärung von Barmen geändert - also die Barmer Erklärung nicht „im Sinne eines unionistischen Kirchenideals" verstanden. Wenn nun von uns „der Kurz- und Trugschluß", wie uns offenbar unterstellt wird, gerade nicht gezogen worden ist und wird, als ob durch die Barmer Erklärung die „trennenden Bekenntnisunterschiede" überholt wären, so heißt es allerdings auch für uns: „Hier müßte nun weitergemacht werden." Aber eben nicht durch eine konfessionalistische oder unionistische Programmatik, sondern durch ein Vorwärtsschreiben auf dem in Barmen begonnenen Wege des gemeinsamen bekennenden Redens und Handelns unter der einen gemeinsamen, alle Bekenntnisse bindenden Autorität der Heiligen Schrift. Die Barmer Erklärung schließt mit den Worten: „Wir bitten alle, die es angeht, in die Einheit des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zurückzukehren!" Von dem Glauben an die Einheit der Kirche des Evangeliums war sie getragen. So ist sie uns der lebendige Anstoß, auf die Einheit der Kirche des Evangeliums und ihre Verwirklichung hinzusteuern und die „trennenden Bekenntnisunterschiede" in unserer Mitte in gemeinsamem Hören auf den „einigen Richter aller Lehre und Lehrer", die Heilige Schrift, echt und wahr zu überwinden. „Aus der Tatsache, daß sich in Barmen Lutheraner, Reformierte und Unierte gemeinsam zu den Grundwahrheiten reformatorischen Christentums bekannt haben", ziehen wir den Schluß, daß damit ein entscheidender erster Schritt in der Richtung der „Consensus de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum" getan ist, und gründen darauf die Hoffnung: wenn wir uns gemeinsam zu den „Grundwahrheiten des reformatorischen Christentums" bekannt

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haben, so kann der „Consensus" nicht unmöglich sein. J a man könnte meinen, daß dieser Consensus in den „Grundwahrheiten reformierten Christentums" bereits implizit enthalten sein müßte. „Hier müßte nun weitergemacht werden" - und nicht auf dem Wege eines konfessionalistischen Ordnungsprinzips. 6. Welche Schwierigkeiten gegenüber ausländischen Kirchen entstehen sollen, wenn in die Lehrverpflichtung in der E K D die Barmer Erklärung aufgenommen wird, ist angesichts der Tatsache, daß es in den lutherischen Kirchen Lehrverpflichtungen verschiedener Art gibt (mit und ohne F C , oder auch nur C A ) nicht ersichtlich. Wenn es gelten soll „Wer mit dem lutherischen Bekenntnis bei denen steht, die die Barmer Erklärung verwirft, der hat es nicht ernst genommen" - dann ist es geradezu eine Notwendigkeit, allen lutherischen Kirchen der Welt gegenüber die Theologische Erklärung von Barmen zu bezeugen und sie dazu aufzurufen, sieh ihre Wahrheiten zu eigen zu machen.

Das Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes vom 8. August 1947 Auslegung im Auftrage des Bruderrates verfaßt von Joachim Beckmann, Hermann Diem, Martin Niemöller und Ernst Wolf"''

Das Wort des Reichsbruderrates ist zu verstehen im Zusammenhang dessen, was die Kirche in den zwei Jahren seit dem Zusammenbruch geredet und auch nicht geredet hat. Es wäre nicht richtig zu sagen, die Kirche hätte in dieser Zeit geschwiegen. Im Oktober 1945 hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in Stuttgart gegenüber den Vertretern der Kirchen der Welt die Schuld der deutschen Kirche bekannt. Die Kirche hat damit ihren priesterlichen Dienst an unserem Volk ausgeübt und hat ihr heiliges Vorrecht wahrgenommen, an der Kraft der göttlichen Vergebung, die sie verkündigt und an sich selbst erfährt, für unser Volk die Buße zu tun, zu der weder der Zusammenbruch allein, noch viel weniger die Forderungen und Anklagen der Sieger ein geschlagenes Volk führen können. Dieses Bekenntnis unserer Schuld, mit dem die Kirche in Deutschland für unser Volk vor der Welt eingetreten ist, hat zu der feindlichen Umwelt Brücken geschlagen und hat Türen geöffnet in einer Weise und in einem Maße, wie es nur dort möglich ist, wo man bei seinem Handeln nach dem Zweck und Erfolg nichts fragt, sondern nur das tut, was vor Gott recht ist. Dieses Reden der Kirche ist innerhalb unseres Volkes weithin nicht verstanden worden und hat der Kirche mancherlei Feindschaft eingetra-

''' Stuttgart 1948 (Flugblätter der Bekennenden Kirche N r . 9/10. Februar 1948). N a c h d r u c k (unvollständig) in: Stimme 24, 1972, S. 257-262. Auf der Sitzung des Bruderrates der E K D am 15./16. O k t o b e r 1947 w u r d e ein A u s s c h u ß gebildet mit dem Auftrag, einen K o m m e n t a r z u m „Darmstädter W o r t " zu schreiben. D e r Entwurf D i e m s w u r d e von Niemöller und Wolf durchgearbeitet und zur E n d r e d a k t i o n an Beckmann gegeben. Das Ergebnis der Gemeinschaftsarbeit übergab Beckmann an den G e s c h ä f t s f ü h r e r des Bruderrats, H e r b e r t Mochalski, zur D r u c k l e g u n g u n d Veröffentlichung.

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Wort des Bruderrates vom 8. August 1947

gen. Wie zu allen Zeiten, so hat man auch dieses Mal der Kirche das Recht zu ihrem Wächteramt bestritten, wo sie es darin bestätigte, unserem Volk vor allen Dingen zu der inneren Befreiung von den Folgen seiner Taten zu verhelfen. Leider hat sich die Kirche durch diese Kritik da und dort irremachen lassen. Sie ließ sich verleiten, von dem Unrecht der Siegermächte in einer Weise zu reden, die den Anschein erwecken könnte, als hätte sie das Bekenntnis ihrer eigenen Schuld nur darum abgegeben, damit sie nun um so ungehinderter von der Schuld der anderen reden könne. Sie hat mit Recht ihr Wächteramt auch darin bestätigt, daß sie sich gegen Unrecht und Gewalttat vor das deutsche Volk stellte. Aber dabei sind ihr, besonders wo sie sich an das Ausland wandte, viele falsche Töne mitunterlaufen. Sie konnte es darum nicht verhindern, daß sie immer mehr als Sprecher jener Deutschen angesehen wurde, welche sich durch alles, was geschieht, nur in ihrer nationalen Selbstrechtfertigung bestärken lassen. Die Kirche hat aber in diesen zwei Jahren ihr Wächteramt nicht nur durch besondere Reden, Proklamationen und Erklärungen ausgeübt, sondern sie hat es vor allem dadurch wahrgenommen, daß sie jeden Sonntag gepredigt hat. Dabei ist die Einsicht im Wachsen, daß die Predigt sich nicht nur an den einzelnen in seinem privaten Dasein richten darf, sondern sich an diesen in seinen konkreten politischen und sozialen Beziehungen wenden muß. Die Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben ist zum allgemeinen kirchlichen Programm geworden. Es ist allerdings fraglich und im höchsten Grade umstritten, wie dieses Programm durchgeführt werden soll. Weithin herrscht die Neigung, in der Kirche „unpolitisch" zu predigen und statt dessen die Verantwortung für die politischen Dinge an eine christliche Front im öffentlichen Leben zu geben. Damit wird das öffentliche Leben der freimachenden Verkündigung des Evangeliums entzogen. Die Folge ist, daß das politische Leben heute wieder abseits von der Kirche seine eigenen Wege geht. Es ist der Kirche nicht gelungen, jene Mauer zu durchbrechen, welche sie seit 100 Jahren von der Arbeiterschaft als von dem politisch und sozial besonders bewegten und in Richtung auf eine soziale Neuordnung bewegenden Teil unseres Volkes trennt. Vielmehr ist durch die neue Errichtung weltanschaulich-politischer Fronten jene Mauer wieder stabilisiert worden. Dazu kommt auf der anderen Seite, daß die politische Unbußfertigkeit in unserem Volke sich der Kirche bedient, um die politischen Ideale der die Kirche bisher tragenden Gesellschaftskreise weiterhin zu pflegen. Die Kirche wird dadurch gegen den neu auflebenden Nationalismus machtlos. Unser Volk lebt mit seinen Klagen und Anklagen wie unter einem eisern verschlossenen Himmel dahin und kann keinen freien Schritt in die Zukunft tun, weil es mit seiner Vergangenheit nicht fertig wird. Die Kirche kann ihm dabei nicht helfen,

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solange ihre Verkündigung den politischen Dingen gegenüber selbst so eigentümlich gelähmt erscheint. U m die Überwindung dieser Lähmung ist es dem Bruderrat bei seinem Wort zu tun. Wie unser Volk, so kann auch die Kirche für die Zukunft nur dadurch freie Möglichkeit gewinnen, daß sie mit ihrer vergangenen Geschichte ins Reine kommt. Darum sagen wir: „1. Uns ist das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus gesagt. Dies Wort sollen wir hören, annehmen, tun und ausrichten. Dies Wort wird nicht gehört, nicht angenommen, nicht getan und nicht ausgerichtet, wenn wir uns nicht freisprechen lassen von unserer gesamten Schuld. Von der Schuld der Väter wie von unserer eigenen, und wenn wir uns nicht durch Jesus Christus, den guten Hirten, heimrufen lassen auch von allen falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind." Wer sind die „wir", die hier reden? Zunächst wir Mitglieder des Bruderrates, die das Wort verfaßt haben. Wir reden von dem, was wir selbst mit der Gewißheit des Glaubens erkannt haben und darum auch in der Verantwortung unseres kirchlichen Amtes glauben bekennen zu dürfen und bekennen zu müssen. Wir schließen uns ein in die Solidarität der Schuld mit unserer Kirche und mit unserem Volk, so wie wir sie hier bekennen, und bitten diejenigen, die unser Wort hören, es ebenfalls zu tun. Zu wem reden wir? Wir wenden uns zunächst an alle Prediger und Predigthörer in Deutschland, und bitten sie mitzuhelfen, daß in der Verkündigung der Kirche auch dieses Wort zur Geltung komme. Wir wenden uns darüber hinaus an die Politiker, daß sie auf diese Verkündigung hören und mithelfen, jene falschen Fronten abzubauen, die wir beseitigen wollen. Wir rechnen durchaus damit, daß dieses Wort in politischen Kreisen da und dort mißverstanden und daß das Schuldbekenntnis der Kirche von dem und jenem zur Selbstrechtfertigung seines eigenen politischen Wollens mißbraucht wird. Wir sind darauf gefaßt, daß man uns vorwerfen wird, wir hätten uns bemüht, dem Zeitgeist entgegenzukommen und manchen Leuten nach dem Munde zu reden. Das kann uns aber nicht hindern, dieses Wort zu sprechen. In unserer heutigen Lage und in einer innerhalb der Christenheit selbst so umstrittenen Sache muß man den Mut haben, auch einmal „ungesichert" zu reden, wenn man überhaupt etwas sagen will. Die freimachende Kraft des Evangeliums, das wir verkündigen, will sich über unser privates Leben hinaus auf alle Gebiete unseres Daseins erstrecken, also auch unser politisches Wollen und Handeln umfassen. Auch hier läßt sich so wenig wie im Einzelleben die eigene persönliche Schuld von derjenigen unserer Vorfahren trennen. Auch hier gilt, daß

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„die Sünden der Väter heimgesucht werden an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied". Und wo wir um Vergebung dieser Sünden bitten, da müssen wir auch völlig die Verantwortung für die Sünden unserer Väter auf uns nehmen und sie als unsere eigene Sünde tragen. Dazu sind wir bereit, indem wir bekennen: „2. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll, daß wir begannen, unserem Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker." Es wäre nicht recht, wenn wir die Liebe zu unserem Vaterlande gerade jetzt verleugnen würden, wo alles darauf ankommt, daß wir in der N o t zu unseren Brüdern stehen und auch ihre Schmach und Schande mit ihnen tragen. Eben diese Liebe gebietet uns aber, jener nationalen Überheblichkeit zu wehren, welche sich in der Geschichte unseres Volkes so unheilvoll ausgewirkt hat. Nicht das ist unsere Schuld, daß wir wie andere Völker ein nationales Selbstbewußtsein und den Willen zu nationaler Selbsterhaltung hatten und haben, sondern daß wir darin maßlos geworden sind und uns durch den Glauben an eine besondere, gleichsam „messianische" Sendung des deutschen Volkes verblenden ließen. Dadurch wurde alles, was wir an guten Eigenschaften haben, ins Anspruchsvolle verzerrt und für unsere Umwelt unerträglich. Vor uns selbst verschafften wir uns dadurch das gute Gewissen, das, was wir „unser" Lebensrecht nannten, ohne Rücksicht auf andere Völker durchzusetzen. Wir haben es unter dem Nationalsozialismus erfahren, zu welchen furchtbaren Konsequenzen nach innen und außen der Grundsatz führt: „Recht ist was dem Volke nützt". Über diese Konsequenzen haben wir uns wohl alle entsetzt. Wir haben aber nicht in gleicher Weise den Anfängen widerstanden, welche uns notwendigerweise auf diesen Weg führten. Der schrankenlose Gebrauch der politischen Macht erschien uns immer wieder durch den Erfolg gerechtfertigt. Wir haben auch unter dem Nationalsozialismus immer wieder zwischen der Politik nach außen und nach innen zu unterscheiden versucht, und auch da, wo wir in der Innenpolitik die Methoden der Gewalt und des Rechtsbruchs ablehnten und bekämpften, haben wir sie in ihrer Anwendung auf die Außenpolitik weithin gutgeheißen. Von der einseitigen Außerkraftsetzung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, die damals auch die Kirche aufs wärmste begrüßte, bis zu Hitlers Angriffskriegen führt ein gerader Weg. Es rächte sich, daß wir es nie gelernt hatten, unseren Staat

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nach innen auf die Souveränität des Rechts zu bauen. Wir erinnern uns nur daran, wie das deutsche Volk nach den Kriegen von 1866 und 1870 Bismarck seine sämtlichen Verfassungsbrüche und die ganze innenpolitische Gewaltherrschaft in dem Augenblick verzieh, als er außenpolitische Erfolge vorzuweisen hatte. Die Politik des „starken Mannes" und sein Argument von „Blut und Eisen" erschien uns nicht mehr bloß als die ultima ratio, die nur im äußersten Notfall als das letzte Mittel angewendet werden darf, sondern sie gehörte für uns zur politischen Umgangssprache und erschien uns als das normale Mittel der politischen Auseinandersetzung. Daß die Stärke einer Regierung in der Kraft liegt, mit der sie ohne Ansehen der Person und unbeugsam durch den Druck von außen und den Terror von innen das Recht handhabt, haben wir nie begriffen. Wir sind in allen Bemühungen um den Rechtsstaat in der Innen- und Außenpolitik immer vorzeitig abgesprungen und haben unsere Zuflucht zu der Gewalt genommen, weil wir der Macht des Rechts nichts zutrauten. So hat uns das grundsätzliche Mißtrauen gegen das Recht und das ebenso blinde Vertrauen auf die Gewalt zugrunde gerichtet, und wir sind der politische Unruheherd anstatt die tragende Mitte innerhalb der Völker Europas geworden. „3. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine ,christliche Front' aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen." Wenn Paulus den entlaufenen Sklaven Onesimus zu seinem Herrn Philemon in Kolossä zurückschickt, so gestattet er ihm kein eigenmächtiges Entlaufen aus der ihn bedrückenden sozialen Ordnung. Er soll wissen, daß er in der Nachfolge Christi seinem Herrn zu gehorchen hat, und zwar „nicht nur dem gütigen und gelinden, sondern auch dem wunderlichen" (1. Petr. 2,18). Paulus hat aber damit keineswegs die bestehende soziale Ordnung sanktioniert und ihre Erhaltung als christliche Forderung ausgesprochen. Vielmehr hat er den Herrn Philemon ermahnt, diese Ordnung um der Liebe willen selbst zu durchbrechen und seinen Sklaven Onesimus jetzt wieder aufzunehmen, „nicht mehr als einen Knecht, sondern mehr denn einen Knecht, als einen lieben Bruder . . . beides nach dem Fleisch und in dem Herrn" (Philemon 16). Wenn Luther im Bauernkrieg den revolutionären Bauern darin widerstand, daß sie die christliche Freiheit zum Programm der sozialen Befreiung machen und ihre politischen Forderungen als Christen erhe-

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ben wollten, so tat er damit dasselbe wie der Apostel. Aber er hat zugleich den Fürsten gesagt, daß niemand anders als sie selbst schuldig seien an dem Aufruhr, und daß sie nicht so weitermachen dürften mit ihren Gewaltmethoden zur Unterdrückung des Volkes, wenn nicht ganz Deutschland darüber zugrunde gehen sollte. Man hat in der Geschichte der christlichen Kirche und insbesondere in Deutschland seit der Reformation fast immer nur das Gebot gehört: Man muß sich auch einer ungerechten politischen und sozialen Ordnung unterwerfen. Man hat aber die andere Seite außer acht gelassen, daß das den herrschenden Mächten keinen Freibrief gab, ihre Herrschaftsordnung zu verteidigen. Vielmehr hat man die Verteidigung des Bestehenden als solchen gegenüber der Bestreitung durch Sozialrevolutionäre Bewegungen zum Kennzeichen einer christlichen Politik gemacht. Es könnte der Kirche nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn sie dem eigenmächtigen Fortlaufen aus den sozialen Ordnungen und Bindungen gewehrt hätte und der freien Willkür der Gesetzesverachtung damit entgegengetreten wäre, daß uns auch die Gesetze und Ordnungen der irdischen Obrigkeiten an die Zucht durch Gottes Gebot erinnern. Die Kirche konnte das aber nicht mehr glaubwürdig tun, nachdem sie es ohne Widerspruch geschehen ließ, daß die Herrschenden durch ihre eigene Verachtung von Gottes Gebot ihre Autorität verspielten und sie ihnen trotzdem zu erhalten versuchte. Sie hat damit die Legalität als solche zum christlichen Prinzip gemacht. Das geschah in einer Welt, die durch eine radikale Umwälzung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen in stärkster Weise auf eine soziale Neuordnung drängte und in der so viele durch diese Umwälzung Entrechteten auf eine solche Neuordnung angewiesen waren und sie billigerweise verlangen konnten. Durch ihr Bündnis mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hatte sich aber die Kirche der inneren und äußeren Freiheit begeben, offen zu sein für die Abänderung von überholten Lebensformen und so dem wahren Menschsein der Menschen zu dienen. Weil sie nicht den Weg zu dieser Freiheit im Glauben fand, mußte sie sich in gemeinsamer Front mit den konservativen politischen Mächten gegen die Entwicklung wehren und dieser Front auch noch den Charakter des „christlich" Geforderten geben. Dadurch wurde die Bildung einer antikirchlichen und antichristlichen Front auf der Gegenseite geradezu kräftig gefördert. Die Kirche hat wohl durch caritative Maßnahmen Härten in dieser Entwicklung zu mildern und im Einzelfall den Betroffenen nach Kräften zu helfen versucht. Aber sie wurde äußerst empfindlich, wo die Entrechteten sich nicht mehr mit Almosen begnügen wollten, sondern das Recht auf bessere Lebensbedingungen als Forderung an die Gesellschaft erhoben. Auch hier zeigte sich wie auf dem politischen Gebiet im allgemeinen das Mißtrauen gegen die Möglichkeit einer auf die Autorität des

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Rechts begründeten Ordnung. Die Kirche hat sich bis auf kleine Kreise, die von maßgeblichem Einfluß ausgeschaltet blieben, mit denen verbündet, welche in dem Interesse der Erhaltung ihrer eigenen sozialen Stellung das Interesse des Vaterlandes sahen. Auf der anderen Seite standen die „vaterlandslosen Gesellen" des besitzlosen Proletariats. Sie verkörperten das schlechthin Böse und Gefährliche, vom aktiven Politiker der Linksparteien bis hin zum Arbeiter, der sich zur Erreichung seiner sozialen Forderungen gewerkschaftlich organisierte. Wer sich diesen in der „christliche Front" entgegenstellte, verkörperte dagegen das Gute, vom Vertreter des Dreiklassenwahlrechts in Preußen bis hin zu dem gewerblichen Mittelstand, der sich gegen die Konkurrenz der Konsumvereine wehrte. Wenn der Bruderrat sagt: „Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen", so will er damit keine grundsätzliche Entscheidung fällen über die Frage nach dem Recht zur Revolution. In dieser theologisch so sehr umstrittenen Frage bedarf es gerade in der lutherischen Kirche Deutschlands noch sehr eingehender theologischer Besinnung, ehe hier ein verantwortliches theologisches Urteil gefällt werden kann, auch wenn manche deutsche Theologen z. B. in ihrer Mitwirkung am 20. Juli 1944 und auch auf andere Weise sich praktisch in dieser Frage bereits entschieden haben. Der Bruderrat will hier lediglich die Tatsache festhalten, daß die deutsche Kirche zwar allen revolutionären Bestrebungen gegenüber äußerst kritisch war, andrerseits aber gegenüber der Entwicklung zur schrankenlosen Diktatur auffallend wenig Hemmungen zeigte. Der Weimarer Republik haftete in den Augen vieler Christen der Makel an, daß sie ihr Dasein einer Revolution verdankte. Wie unsicher die Kirche dieser neuen Staatsform gegenüber war, zeigte sich besonders deutlich daran, daß sie, die doch sonst die absolute Unterordnung unter die bestehende Gewalt predigte, in Zweifel war, ob die Forderung des Untertanseins von Römer 13 auch gegenüber dieser Regierung zu gelten hatte. Sie vermißte in diesem Staat das ihr gewohnte Denken in den Kategorien von Obrigkeit und Untertanen. Sie tat nichts, um die Autorität der Staatsgewalt in dieser Regierungsform zu stützen; statt dessen begrüßte und förderte sie die sich anbahnende Diktatur der nationalsozialistischen Herrschaft als echte Autorität. „4. Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle durch eine politische, soziale und weltanschauliche Frontenbildung verfälscht und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen." Diese „christliche" Front der staatserhaltenden Kräfte gegen die revo-

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lutionären wurde zu einer Front der „Guten" gegen die „Bösen". Der „gottlose" Revolutionär und Marxist war kein Christ und darum ein schlechter Mensch. Die Verteidigung gegen ihn wurde nicht nur als eine christliche Forderung angesehen, sondern als ein Gebot der Selbsterhaltung des anständigen Menschen. So wurde die politische Auseinandersetzung moralisch qualitiziert. Wer auf der politischen Rechten Stellung nahm, wo die Kirche fast ohne Ausnahme stand, der tat es nicht nur im Bewußtsein, für eine bessere politische und soziale Ordnung gegen eine schlechtere zu kämpfen, sondern er stand in einer Front, an der sich Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Heil und Unheil, Licht und Finsternis schieden. Wer auf die andere Seite ging, der war nicht nur gesellschaftlich und moralisch, sondern auch als Christ geächtet. Man kann dagegen einwenden, daß das alles auf Gegenseitigkeit beruhte. In der Klassenkampfpropaganda der marxistischen Parteien habe die moralische Verdächtigung des politischen Gegners eine erhebliche Rolle gespielt. Wenn aber das Programm des sozialistischen Zukunftsstaates alle Merkmale eines politischen Evangeliums habe, gehöre die Verketzerung der Andersdenkenden zu seinem Wesen. Das ist wohl richtig. Man könnte nur fragen, was hier Ursache und Wirkung ist. In dem Sendungsbewußtsein der Fürsten und Staatsmänner im Zeitalter der „Heiligen Allianz", in ihren Unterdrückungsmaßnahmen und ihrem Gesinnungszwang, in der christlichen Staatslehre der preußischen Konservativen - in all dem sah sich die junge Arbeiterbewegung der Gesamtkonzeption eines politischen Evangeliums gegenüber, dem sie nur auf der gleichen Ebene begegnen konnte. Aber ganz abgesehen davon, wie sich hier Ursache und Wirkung verteilen, ist es die Schuld der Kirche, daß sie sich überhaupt auf diese Ebene begab und in dem Kampf der politischen Evangelien sich von einem derselben in Beschlag nehmen ließ und diesem ihr Plazet gab. Sie hatte sich damit der Freiheit begeben, quer durch die politische Frontenbildung hindurch die Botschaft vom kommenden Gottesreich als die Krisis für alle politischen Ideologien zu verkündigen. Sie konnte das freie Angebot der Gnade Gottes an alle nicht mehr ausrichten, weil das Christliche in dem Kampf der politischen Programme, Ideologien und Weltanschauungen selbst Partei geworden war. Die Gemeinde mußte daher dem Irrtum verfallen, als könne man nur Christ sein, wenn man sich in dieser Frontenbildung für die eine Seite entschied. Es war nicht mehr das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders, das allen gleicherweise die Befreiung von ihren politischen Evangelien verkündigte, sondern das Christentum als eine Weltanschauung stand dem Marxismus oder dem Liberalismus als Weltanschauung gegenüber. Die Kirche war nicht mehr die Gemeinschaft der begnadeten Sünder, die Gott aus aller Welt und aus allen Kreisen und Schichten der Gesellschaft zusammenrief, sondern sie war

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die Repräsentantin einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Die Verkündigung der Kirche mußte unter diesen Umständen verstanden werden als die Aufforderung, sich zu der politischen, sozialen und weltanschaulichen Front des Christentums zu bekehren. Die Kirche stand damit der Erfüllung ihres eigenen Auftrages selbst im Wege. Sie zwang die Welt, welche die Kirche und ihr Evangelium nicht mehr in echter Weise zu sehen bekam, geradezu auf den Weg der Selbstrechtfertigung durch ihre eigenen Ideologien. Das geschah auf der „christlichen" Seite der Front in frommer, auf der anderen Seite in mehr oder weniger liberal gottloser Weise. Aber die Kirche hätte es mit dem Prediger Salomo beiden Seiten sagen müssen: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, daß du dich nicht verderbest. Sei nicht allzu gottlos, daß du nicht sterbest zur Unzeit" (Prediger 7, 16 u. 17). „5. Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen." Die Kirche hat aus ihrer politischen, sozialen und weltanschaulichen Frontstellung heraus das stärkste Argument gegen den Marxismus in dessen ökonomischem Materialismus gesehen, d. h. in der Lehre, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht nur die Formen des Zusammenlebens der Menschen, sondern auch ihr Bewußtsein, ihre geistigen Anschauungen und Urteile bestimmen. In dieser Lehre sah man geradezu die Verkörperung der Gottlosigkeit, des ethischen Nihilismus und der politischen Anarchie. Die Kirche hätte aber über diesen ökonomischen Materialismus in ganz anderer Weise erschrecken müssen, als sie es tat. Sie hätte merken müssen, wie sich hier einfach die Verachtung der materiellen Bedürfnisse der Menschen rächte. Die Kirche hatte ein Persönlichkeitsideal gepflegt und gepredigt, das sich an einen Menschen wandte, der jenseits aller politischen und sozialen Bindungen lebte. N u n bekam sie die Quittung durch diese Lehre, welche zeigte, daß es diesen Menschen in Wirklichkeit gar nicht gibt. Er kann sich eine solche Existenzmöglichkeit nur noch einbilden unter bestimmten, bereits überständig gewordenen wirtschaftlichen Verhältnissen, die es ihm selbst auf Kosten anderer noch erlauben, den Kampf der Menschen um die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Kirche wehrte sich im Bund mit den hier angegriffenen Gesellschaftsschichten für diese Scheinexistenz der durch wirtschaftliche Verhältnisse nicht bedingten Persönlichkeit. Sie tat das, indem sie sich mit einem aus dem antiken Heidentum stammenden

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Idealismus als der ihrem Glauben allein gemäßen Philosophie verband und die Anerkennung der Bestimmung des Menschen durch materielle Vorgänge, Verhältnisse und Bedürfnisse in übergeistiger Weise als unwürdig und moralisch minderwertig verdächtigte. Anstatt sich durch den ökonomischen Materialismus daran erinnern zu lassen, daß es in der Bibel die Trennung von Leib und Seele nicht gibt, weil es hier immer um den ganzen Menschen nach Geist, Seele und Leib geht, zog sie sich in der Abwehr immer mehr auf das griechische Denken mit seiner Trennung von Leib und Seele zurück. Die Lehre von der Auferstehung des Leibes, welche für die Kirche das stärkste Hindernis auf diesem Weg der Spiritualisierung ihrer Botschaft hätte bilden sollen, wurde selbst spiritualisiert zur griechischen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Das Christentum war, wie es eines jener bösen, aber unheimlich treffsicheren Worte von Nietzsche sagte, zum „Piatonismus fürs Volk" geworden. Diese Spiritualisierung des christlichen Glaubens führte zu einer rein jenseitig verstandenen Zukunftshoffnung und damit zu einer völlig unbiblischen Abwertung des irdischen Lebens. Daß in der Bibel das Ziel und Ende der Wege Gottes die Aufrichtung seines Reiches in dieser Welt ist, daß das irdische Leben des Menschen in dieser Welt der O r t der Entscheidung ist, weil in Jesus Christus „das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist", und daß es beim Kommen des Gottesreiches um das wahre Menschsein des Menschen geht - all das wußte man nicht mehr und ließ sich auch nicht daran erinnern, als Karl Marx sagte: „Es ist leicht, ein Heiliger zu sein, wenn man kein Mensch mehr sein muß." So mußte nun umgekehrt von Seiten des Marxismus das Menschsein gegen das Christsein ausgespielt werden. Das geschah gewiß mitunter in sehr frivoler Weise, wenn etwa August Bebel angesichts dieser christlichen Zukunftshoffnung sagte: „Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen." Wem es um das wahre Menschsein des Menschen ging, und wer es gemerkt hatte, daß dieser Mensch in dieser Welt und nicht als Heiliger im Himmel leben mußte, der konnte angesichts dieser souveränen Verachtung des menschlichen Daseins über diese himmlische Zukunftshoffnung kaum anders denken. Diese Vertröstung des Menschen auf das Jenseits hatte ja ihre sehr reale Kehrseite im politischen und sozialen Leben. Mit ihr stand die Kirche auf Seiten derjenigen, welche die Forderungen der Arbeiterschaft nach besseren Lebensbedingungen im Diesseits ablehnte und bekämpfte. Und sie tat es nicht nur wie ihre Bundesgenossen auf der politischen Rechten mit dem Hinweis auf die revolutionierenden Folgen dieser Ansprüche für das gesellschaftliche Leben, sondern sie meinte darüber hinaus für die bestehende Gesellschaftsordnung im Namen der Religion eintreten zu müssen. Sie konnte hier nichts anderes am Werk sehen als die Empörung des Menschen gegen Gott und die von ihm gesetzte

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Ordnung, und jede von dieser Seite verlangte Änderung der bestehenden Lebensformen war von vornherein ein Entlaufen aus der Ordnung der Gebote Gottes. Nichts war selbstverständlicher, als daß Karl Marx angesichts dieser Religion wiederum nichts anderes sagen konnte, als daß er das ihm so sehr verübelte W o r t : „Religion ist Opium für das V o l k " aufgriff. (Das Wort selbst stammt von dem anglikanischen Pfarrer C h . Kingsley!) Aber die Kirche hätte in ihrer bloßen Entrüstung über die ihr hier entgegentretende Feindseligkeit gegen alles religiöse Reden zum mindesten dadurch stutzig werden müssen, daß von der anderen Seite mit umgekehrten Vorzeichen dieselbe Parole ausgegeben wurde: „Dem Volk muß die Religion erhalten bleiben." Sie merkte darum nichts, weil sie selbst der bestehenden Gesellschaft ihre Verkündigung zur Verfügung gestellt hatte als die sie bestätigende und rechtfertigende Religion. Und darüber unterließ sie es, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen. „6. Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen. Nicht die Parole: Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst nottut." Daß uns die Freiheit geschenkt wurde, das zu erkennen und offen zu bekennen, ist für uns selbst das hoffnungsvollste Zeichen dafür, daß Gott uns in seiner Kirche immer wieder einen neuen Anfang machen läßt. Wir sehen darin aber auch eine neue Hoffnung für unser Volk, dem unser Dienst gilt. Dabei wissen wir wohl, daß dieses Bekenntnis sowohl innerhalb der Kirche als auch in der politischen Welt zunächst sehr umstritten werden wird. In der Kirche wird man die Sorge haben, ob wir nicht einfach eine bestimmte Deutung der geistigen und politischen Situation willkürlich in das Glaubensbekenntnis der Kirche einfügen und damit dem Glauben derer, welche die Dinge noch nicht so zu sehen vermögen, ein Gesetz auferlegen. In der politischen Welt wird man das Wort dahin mißverstehen, daß die einen es als ein Zeichen beginnender politischer Linksorientierung der Kirche bedauern und die andern es als das Wort einer „fortschrittlichen" Richtung in der Kirche begrüßen werden. Unseren Freunden in der politischen Welt, und zwar den über unser Reden Besorgten wie den Erfreuten, können wir zunächst nur raten, einmal abzuwarten und uns nicht schon wieder auf eine Front festlegen zu wollen, wo wir eine solche eben hinter uns gelassen haben. Unsere Brüder in der Kirche aber bitten wir herzlich und dringend, daß sie das

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Wort ihren Gemeinden vorlegen, es mit ihnen am Evangelium prüfen und, wo sie in aufrichtiger Selbstprüfung ihm nicht zustimmen können, das ohne Scheu offen sagen und ihre Ablehnung begründen. Wir haben selbst lange genug in dieser falschen Front gestanden, der wir mit diesem Wort absagen, und haben noch länger unsre Gemeinden dort stehen lassen, um nicht zu wissen, wie schwer es uns allen wird, diese Schuld zu erkennen und gegen unser eigenes Fleisch und Blut zu bekennen. Eben darum bezeugen wir aber, daß wir in diesem Bekenntnis die Freiheit gewonnen haben, nicht nur als einzelne Christen, sondern als Gemeinde Jesu Christi unseren Dienst zur Ehre des Gottes auszurichten, der um unsretwillen ein Mensch in dieser Welt wurde. W o wir diesem Gott die Ehre geben, sind wir frei, nicht nur dem ewigen, sondern gerade damit auch dem zeitlichen Heil der Menschen zu dienen. Zu dem gemeinsamen Dienst in derselben Freiheit rufen wir die ganze Kirche. Wir tun das in einem Augenblick, in dem durch die Auseinandersetzung zwischen O s t und West alle die hier behandelten Fragen in neuer und überaus bedrängender Weise aktuell werden. Die politisch und wirtschaftlich allmählich unüberbrückbar erscheinende Kluft zwischen Rußland und Amerika, die drohende Auseinandersetzung zwischen beiden, und die Hoffnung, daß wir dabei politisch und vielleicht auch militärisch wieder bündnisfähig werden könnten, geben heute dem Nationalismus in Deutschland den stärksten Auftrieb. Und dieser ist wieder dabei, ein Bündnis mit der Kirche einzugehen, indem eine neue antibolschewistische Front zur „Rettung von Christentum und abendländischer Kultur" aufruft. In dieser Situation kann der Bruderrat die Kirche im Westen wie im Osten Deutschlands nur dringend warnen, daß sie nicht noch einmal den Weg einer neuen Aufrichtung der alten Front geht. Wir wissen, wie groß die Versuchung ist, das zu tun. In der heutigen Konfrontierung der Kirche mit dem Marxismus in seiner Ausprägung als bolschewistischer Staat treten alle Gründe, die seit 100 Jahren zu dieser Frontenbildung geführt haben, in massierter Weise auf; und es erscheint geradezu als Aufforderung zum Selbstmord, wenn man der Kirche zumutet, gerade jetzt diese Front abzubauen. Es ist aber nur die Zumutung an die Kirche, in die Freiheit des Glaubens hineinzutreten, in der sie diese Front zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Sicherung ihres Bestandes nicht braucht. Sie tritt ihrem weltlichen Partner, auch dem bolschewistischen Staat, nicht als die Vertreterin des „Christentums" als einer Weltanschauung gegenüber, um sich mit dessen Weltanschauung auseinanderzusetzen. Sie sieht ihn vielmehr von vornherein im überlegenen Licht des Evangeliums, der befreienden Botschaft, daß Jesus Christus über diese Menschen trotz

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ihrer Weltanschauungen der Herr geworden ist, ebenso wie über uns trotz unseres „Christentums". Nichts wäre schlimmer, als wenn wir in diesem Augenblick, wo Gott sein Gericht über uns ergehen ließ und uns so viele Bindungen und Sicherungen zerschlagen hat, wiederum in jener Frontstellung der „gottlosen" Welt gegenübertreten würden als die geistig, moralisch und religiös Besitzenden, die sich um diesen Besitz wehren und ihn retten wollen. Es wäre schlimm vor allem für uns Christen selbst, wenn wir uns jetzt, nachdem uns so viel materieller Besitz zerschlagen worden ist, um so stärker an jenen geistigen und geistlichen Besitz klammern würden, weil uns das hindern würde, uns als die „geistlich Armen" an Gott selbst zu wenden, zuerst nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit zu trachten, um so von der Verheißung zu leben, daß uns das Übrige alles zufallen wird. Es wäre aber auch schlimm für die Welt. Wir würden Mauern zwischen uns und unserem Nächsten errichten, anstatt uns in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi mit ihm verbunden zu wissen im Warten und Hoffen auf das Kommen des hereingebrochenen Gottesreiches. „7. Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: ,Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.' Darum bitten wir inständig: Laßt die Verzweiflung nicht über Euch Herr werden, denn Christus ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, laßt Euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet Euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewußt, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient." Wir haben in Barmen 1934 gegenüber dem nationalsozialistischen Gewalt- und Weltanschauungsstaat bekannt: „Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen." Vielleicht sind wir darum der Freiheit, zu der wir uns hier bekannt haben, in der nationalsozialistischen Zeit nicht recht froh geworden, weil wir uns verleiten ließen, jenen Staat in seiner sogenannten Weltanschauung in falscher Weise ernst zu nehmen. Wir haben zu lange gebraucht, bis wir merkten, daß wir uns mit den bestimmten politischen Taten jenes Staates befassen und ihnen entgegentreten mußten, weil hier Menschen um politischer Zielsetzung willen geistig und körperlich zugrunde gerichtet wurden. Wir haben dieses politische Handeln als solches beinahe unwidersprochen gelassen. In der Außenpolitik haben wir es sogar weithin gutgehei7

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ßen. In der Innenpolitik haben wir es fast nur insoweit bekämpft, als es die Freiheit der kirchlichen Verkündigung zu unterbinden suchte. Statt dessen haben wir uns auf die weltanschauliche Auseinandersetzung verlegt und haben in der Art, wie wir diese führten, das überlegene Wissen vermissen lassen, daß die Götter der Heiden - und dazu gehören auch ihre politischen Evangelien - Nichtse sind, die nur denen gefährlich werden, die sie zu Abgöttern machen und an sie glauben. Sie sind nicht als solche zu bekämpfen. Wo man sich mit ihnen in der Auseinandersetzung auf dieselbe Ebene begibt, wo man ihnen im „Geisteskampf" begegnet, wo man aus der Heilstatsache von Tod und Auferstehung Christi eine Heilslehre, aus dem Zeugnis des Evangeliums eine „christliche" Weltanschauung macht, da hat man sich von der Welt das Gesetz des Handelns vorschreiben lassen und bleibt ihr gegenüber in der Abwehr. Da wird jene Freiheit von den Bindungen fraglich und erst recht die überlegene Freiheit zum Dienst an den durch Christus von allem Götzendienst politischer Evangelien befreiten Menschen. Aus diesen Fehlern haben wir zu lernen, um jetzt die rechte Freiheit gegenüber den „gottlosen Bindungen" auch und gerade der politischen Evangelien zu gewinnen, mit denen wir es heute zu tun haben. Das ist im Westen der „demokratische" Staat, dessen entscheidendes Merkmal es ist, daß er das Recht, die Freiheit und Würde des einzelnen so mit dem Recht der Gemeinschaft in Einklang zu bringen sucht, daß der Staat die Aufgabe hat, dem einzelnen zu seinem Recht zu verhelfen, zugleich aber die Möglichkeit gibt, den einzelnen auch gegen die Macht des Staates in Schutz zu nehmen. Auch dieser Staat handelt nicht bloß nach bestimmten technischen Spielregeln, die sich aus der Erfahrung der politischen Praxis ergeben haben, sondern er gewinnt diese aus bestimmten philosophischen Voraussetzungen: einer Auffassung vom Wesen des Menschen und den Menschenrechten, wie sie von der Aufklärung, der französischen Revolution und dem deutschen Idealismus entwickelt wurden. Er hat also nicht bloß ein praktisches politisches Programm, sondern dahinter eine politische Heilslehre. Und er erweist sich auch darin als Träger eines politischen Evangeliums, daß er von einer bestimmten politischen Zukunftshoffnung lebt, wie sie etwa Kant in seinem „Reich des ewigen Friedens" gezeichnet hat. Die Kirche kann dieses politische Evangelium nicht in ihr Glaubensbekenntnis aufnehmen und zum Gegenstand ihrer Verkündigung machen, weil sie vom Menschen, vom Wesen des Staates und seiner Zukunftshoffnung anders lehrt, als es hier geschieht. Sie hat zunächst aber auch keine Veranlassung, diesen Staat wegen seines politischen Evangeliums zu bekämpfen, ihre erste Aufgabe ist vielmehr, ihm gegenüber als Kirche da zu sein, und das heißt: innerhalb des politischen Gemeinwesens die Christen zusammenzurufen, sie durch die Verkündi-

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gung des Evangeliums freizumachen von der Bindung an politische Ideologien wie der Furcht vor diesen, sie vor der letzten Hingabe an politische Zielsetzungen zu warnen und zugleich vor der Verzweiflung an der Möglichkeit politischen Handelns überhaupt angesichts des menschlichen Versagens zu bewahren. Sie wird ihren Gliedern zu dieser Freiheit dadurch verhelfen, daß sie dieselben innerhalb der Gemeinde um Christi willen aneinander bindet, die Guten an die Bösen, die Reichen an die Armen und umgekehrt, „beides nach dem Fleisch und in dem Herrn". Sie hat Platz für die Anhänger politischer Ideologien aller Schattierungen, ohne daß der eine wegen der „Christlichkeit" seiner Ideologie dem Reiche Gottes näher, der andere wegen deren „Gottlosigkeit" ihm ferner wäre. Sie werden alle gleicherweise ihre Ideologien dem Gericht durch das Evangelium unterwerfen müssen, das sie nicht zuerst nach diesen Ideologien, sondern nach ihrem bestimmten politischen Handeln fragt, insbesondere danach, ob sie es zulassen, daß auch nur ein einziger Mensch, für den Jesus Christus gestorben und auferstanden ist, der Erreichung politischer Ziele, Machtansprüche oder Zukunftshoffnungen geopfert wird. Weil Jesus Christus durch seine Menschwerdung sich um den Menschen angenommen hat, darum, und nicht aus irgendwelchen naturrechtlichen Theorien über Menschenrecht und Menschenwürde, bringt der Christ aus dem Zusammenleben in der Gemeinde bestimmte Maßstäbe für sein Handeln im politischen Gemeinwesen mit. Darum wird aber auch die Gemeinde als solche durch ihr Zusammenleben den steten Dienst des helfenden und warnenden Zeugnisses tun. All das gilt in entsprechender Weise für den „bolschewistischen" Staat im Osten. Auch er lebt von einer politischen Heilslehre, einem bestimmten Verständnis des Marxismus. Diese unterscheidet sich von der des demokratischen Staates im wesentlichen darin, daß der einzelne Mensch von vornherein nur als Exponent wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse gesehen wird und nur auf dem Umweg über deren Veränderung im Ganzen auch als einzelner zu seinem Recht kommen kann. Von daher ist auch die Zukunftshoffnung bestimmt: die klassenlose Gesellschaft, in der der Staat als Machtfaktor überflüssig geworden ist, weil die Interessen der einzelnen und der Gesellschaft nicht mehr im Gegensatz zueinander stehen. Die Kirche kann auch dieses politische Evangelium nicht in ihr Glaubensbekenntnis aufnehmen und zum Gegenstand ihrer Verkündigung machen. Sie wird zunächst aber auch diesen Staat nicht wegen seines politischen Evangeliums bekämpfen, sondern wird auch ihm gegenüber ihre erste Aufgabe darin sehen, als Kirche da zu sein, um ihn nicht nach seiner Weltanschauung, sondern nach seiner politischen Praxis zu befragen. Es geht in keinem Fall um die Konfrontierung des Evangeliums als

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einer „christlichen" Weltanschauung mit irgendeinem politischen Evangelium als solchem, der „demokratischen" oder der „bolschewistischen" Weltanschauung, sondern um die Konfrontierung der Kirche in ihrem jeweiligen Dasein als Gemeinde in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Orte, mit einem bestimmten Staatswesen. Dabei kann freilich die politische Heilslehre des staatlichen Partners auch einmal direkte Bedeutung für die Verkündigung der Kirche bekommen. Das ist dort der Fall, wo die Gemeindeglieder in Versuchung sind, dieses politische Evangelium mit dem Evangelium von Jesus Christus gleichzusetzen, zu verwechseln oder zu vermischen. Das traf für die Weltanschauung des Nationalsozialismus zu, die für viele Glieder der Kirche nach deren ganzer politischer Vergangenheit eine Anfechtung bedeutete, der sie zum großen Teil auch erlegen sind. In diesem Fall mußte die Abwehr dieser Weltanschauung von der Kirche zum Gegenstand der Verkündigung und des Bekennens gemacht werden. Daß die politische Heilslehre der Demokratie oder des Bolschewismus für die heutige Christenheit in Deutschland eine echte Anfechtung bedeuten würde, kann man gewiß nicht sagen. Wenn darum die Kirche heute etwa gegen den Bolschewismus als solchen predigen oder bekennen würde, so würde sie damit genau das tun, was die „Deutschen Christen" ihr im Jahre 1933 zumuteten, als sie von ihr ein Bekenntnis gegen Pazifismus und Marxismus verlangten - in einer Situation, in der sie damit nur das ausgesprochen hätte, wonach allen die Ohren jückten. Es kann ferner der Fall eintreten, daß eine politische Heilslehre darum zum Gegenstand des Bekennens der Kirche gemacht werden muß, weil sie als ein akties Gegenevangelium gegen die Lehre der Kirche auftritt, wie das etwa beim Antisemitismus des Nationalsozialismus der Fall war. Dieser war nicht nur ein aktives Gegenunternehmen gegen die Kirche als einer Religionsgemeinschaft, sondern gegen sie als spezielle Trägerin der Offenbarung Gottes in dem Juden Jesus von Nazareth. Damit erwies sich diese Weltanschauung nicht nur als eine dezidierte Form des Unglaubens, wie man das etwa vom orthodoxen Marxismus sagen könnte, sondern als eine aus der Sphäre des bloßen politischen Pseudoevangeliums heraustretende Rebellion gegen das heilsgeschichtliche Handeln Gottes. Antisemitisch sind heute weder der demokratische noch der bolschewistische Staat. Sollte aber einer von ihnen aus seiner Weltanschauung die Konsequenz ziehen, die Kirche an der freien Verkündigung ihres Evangeliums prinzipiell oder von Fall zu Fall zu verhindern, so hätte die Kirche dem aktiv zu widerstehen. Wenn wir in unserer letzten These zu positiver politischer Mitverantwortung aufrufen, so wird uns die Frage begegnen, ob das in den Verhältnissen des deutschen Ostens zur Zeit für den Christen überhaupt

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möglich erscheint. Zugleich wird der Staat des Westens versuchen, der Kirche sich selbst und sein politisches Evangelium dadurch zu empfehlen, daß hier nicht nur die Kirche jede Freiheit der Betätigung habe, sondern daß in der politischen Praxis des demokratischen Staates für die Kirche die Möglichkeit bestehe, sich des einzelnen auch gegen den Staat anzunehmen, während das im Osten nicht der Fall sei. Ist das nicht in der Tat für die Kirche ein Grund, heute für den Westen gegen den Osten zu optieren, was etwa bedeuten könnte, daß sie sich in einem vom Westen eröffneten Propagandafeldzug gegen den Osten auf der Seite des Westens beteiligen würde? Die Kirche hat den Westmächten das Recht nicht bestritten, in dieser Weise ihre Interessen wahrzunehmen, sie wird aber jeder Aufforderung, sich an diesem Feldzug zu beteiligen, unbedingt widerstehen müssen. Sie darf sich aus ihrer unmittelbaren politischen Verantwortung für den Staat im Osten nicht dadurch lösen, daß sie sich in dieser Auseinandersetzung zum Bundesgenossen des Westens macht. Sie dürfte das sogar auch dann nicht tun, wenn hinter jener Empfehlung des Westens und einer von ihm verbreiteten Kreuzzugsstimmung gegen den Osten nicht genau so reale politische und wirtschaftliche Machtansprüche stünden wie auf der anderen Seite. Die Kirche hat sich dort für das Menschsein der Menschen einzusetzen, wo sie gerade steht, im Westen wie im Osten je auf die dort geforderte Weise. Die Frage, wo die Erfolgsaussichten größer sind, kann dabei keine Rolle spielen, da die Kirche sich ihre Situation und ihren staatlichen Partner nicht nach Wunsch aussuchen kann. Dabei verkennen wir durchaus nicht, daß das, was wir in dieser letzten These insbesondere über das Wahrnehmen der politischen Verantwortung der Christen in positiver Mitarbeit am Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens sagen, im Osten nicht in gleicher Weise zu verwirklichen sein wird wie im Westen. Das ist nicht nur deshalb der Fall, weil der bolschewistische Staat dem freien Spiel der Kräfte nicht in derselben Weise Raum gibt wie der demokratische Staat des Westens. Von Seiten der Kirche kommt aber erschwerend hinzu, daß der Abbau jener Front, die vielleicht überhaupt im Osten -von jeher stärker in Erscheinung getreten ist als im Westen, in einer Situation erfolgen muß, die bereits wieder alle Anzeichen einer Kampfsituation hat. Eben deshalb müssen wir gerade die Brüder im Osten dringend bitten, bei der Prüfung unserer Sätze zu bedenken, ob der Widerspruch, der sich bei ihnen in besonderer Weise regen könnte, nicht daher kommt, daß sich bei ihnen jene Front schon wieder zu verfestigen beginnt. Ihr Widerspruch wäre dann gerade auch für sie selbst ein Zeichen dafür, wie notwendig es war, dieses Wort zu sprechen. Die Brüder im Osten haben dabei der Kirche des Westens gegenüber

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eine besondere Aufgabe. Die Kirche im Osten ist in echterer Weise nach ihrem Dasein als Kirche gefragt als im Westen, wo sie auch heute noch unangefochten von außen ihre Rolle als Hüterin der christlichen Kultur des Abendlandes weiterspielen kann. Die Kirche im Westen steht darüber in der großen Gefahr, ihre eigene politische Verantwortung in neuer und echter Konfrontation mit dem demokratischen Staat gar nicht wahrzunehmen, sondern statt dessen wie gelähmt nach der östlichen Grenze und der von dort befürchteten Bedrohung zu blicken. Findet die Kirche im Osten den Weg zu jener in Barmen bekannten Freiheit gegenüber ihrer staatlichen Umwelt, so hat die Kirche im Westen keinen Vorwand mehr, in jene Front einzuschwenken und kann dadurch auch für sich selbst den Weg zu jener Freiheit leichter finden.

Man kann bei diesem Bekenntnis zur Freiheit nicht umhin, daran zu denken, wie Jeremia in dem belagerten Jerusalem, dem er den Untergang voraussagen muß, auf Gottes Befehl einen Acker kauft als ein Zeichen für sein Volk: „Und sollen noch Acker gekauft werden in diesem Lande, davon ihr sagt, daß es werde wüst liegen, daß weder Leute noch Vieh darin bleiben, und es werde in der Chaldäer Hände gegeben" (Jer. 32, Man kann aber all das nicht sagen, ohne gleich weiter daran zu denken, daß Christus, als er zu den Seinen von seiner Wiederkunft sprach, nicht jene Weltuntergangsstimmung bei ihnen verbreiten wollte, die uns so leicht angesichts des „Jüngsten Tages" zu befallen pflegt und die wir immer wieder als letzten Widerstand einsetzen, um uns vor der bösen Welt, zugleich aber auch vor der göttlichen Verheißung für diese Welt zu flüchten. Er hat ihnen vielmehr das andere zugerufen: „Wenn aber dies alles anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht" (Luk. 21, 28).

Evangelische Verantwortung für die Zukunft des deutschen Volkes* Die Frage nach der Verantwortung der Kirche für das Volk ist erst in jüngster Zeit in ihrem ganzen Ernst in unseren Gemeinden wach geworden. Jahrhundertelang kannte man diese Verantwortung nicht. Kein Wunder, daß man noch zögernd an die Aufgabe herangeht, ja, daß man noch weithin die Verantwortung der Kirche für das politische Geschehen in Frage stellt. Man bestimmt die Kirche vielfach als die aus der Welt herausgerufene Schar, die in der Welt und für die Welt keinen konkreten Auftrag hat. Man weiß sich nur verantwortlich für die Sammlung der Gemeinde der Gläubigen, die sich von der Welt unbefleckt erhalten und ihr Leben in der Erwartung der Wiederkunft des Herrn führen soll. Diese Auffassung vom Auftrag der Kirche ist der Gegenschlag gegen das römische Verständnis, nach dem die Kirche die Welt christianisieren und über die christianisierte Welt herrschen soll. So gewiß die Reformatoren demgegenüber erkannt und betont haben, daß auf diese Weise das Evangelium in ein Gesetz verwandelt wird, so falsch ist andererseits die spiritualistische Haltung, die den Auftrag der Kirche an die Welt ablehnt und damit das Leben in der Welt den Mächten der Welt preisgibt. Diese falsche Einstellung bestreitet die Barmer Theologische Erklärung, wenn sie sagt, daß die Kirche mitten in der noch nicht erlösten Welt ihren Auftrag zu erfüllen hat: die Botschaft von der freien Gnade Gottes an alles Volk auszurichten und der politischen Macht gegenüber zu erinnern an Gottes Reich, Gottes Gerechtigkeit und die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Es gibt keinen Bereich des Lebens, der nicht unter den Zuspruch und Anspruch des Herrn Jesus Christus gestellt ist. Er hat uns frei gemacht zu frohem und dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Damit ist die evangelische Verantwortung der Christen für die Existenz unseres Volkes behauptet. Der Christ hat seine Existenz immer in den beiden „Reichen" Gottes, die zwar voneinander unterschieden, aber nicht getrennt werden können - entsprechend dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium. So hat es auch die Synode der E K D in Berlin in ihrem Wort zum Frieden zum Ausdruck gebracht. Sie hat der Welt den * A u s : KIRCHE IN DER ZEIT. Nachrichtendienst des Presseamtes der Evangelischen Kirche im Rheinland 5, 1950, S. 2 2 9 - 2 3 1 . -

Grundgedanken eines Referates auf der

rheinischen Superintendententagung in Königswinter am 2. N o v e m b e r 1950.

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Frieden bezeugt, den Gott in Christus mit ihr geschlossen hat. Aber sie hat auch ebenso bezeugt, daß die Kinder des Friedens sich berufen wissen, für den Frieden der Völker zu wirken gemeinsam mit allen, die diesen Frieden ernst und ehrlich wollen. Die Synode bekennt sich also ausdrücklich zu der politischen Verantwortung der Christenheit. Es geht ihr um beides, um den Glauben und um die Liebe, das Evangelium und das Gebot, den Zuspruch und den Anspruch Jesu Christi. Worin besteht nun der Inhalt der so begründeten evangelischen Verantwortung? Die Kirche ist der Welt sowohl die Verkündigung des Heils als auch die Mitwirkung am dem Wohl der Menschen schuldig. Es geht in der Verkündigung der Kirche gewiß in erster Linie um das Heil; aber diese Heilsbotschaft ist vom Arbeiten zum Wohl nicht zu trennen. Weil die Kirche um das echte Heil des Menschen weiß, weiß sie auch besser als die Welt, die ohne das Evangelium leben zu können meint, um das wahre Wohl der Menschen. Wie wird nun diese evangelische Verantwortung wahrgenommen? Die Welt lebt in ihrer Gottesferne in Unkenntnis über das, was ihr zum Wohl dient. Sie geht immer falsche Wege. Sie vermag nicht einmal die Wirklichkeit ihrer eigenen tatsächlichen Lage zu erkennen. Wer davon absieht, daß Gott der Schöpfer und Versöhner der Welt ist und daß er für die Welt eine unbegreiflich hohe Hoffnung hat, wer die Welt nur als „die in sich ruhende Endlichkeit" sieht, die allein für sich selbst existiert, der erkennt weder die Wirklichkeit, noch das wahre Wohl. Dazu bedarf es der Erleuchtung durch den Hl. Geist. Es gehört darum zur Betätigung evangelischer Verantwortung, dem Menschen eine Klärung und Beurteilung seiner wirklichen Lage in der Welt zu geben; d. h. wir sollen dem Menschen unserer Tage sagen, was es bedeutet, daß wir vom Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches und von einer bedingungslosen Kapitulation vor den Weltmächten herkommen, daß wir vor der furchtbaren Tatsache des Eisernen Vorhanges stehen, der das deutsche Volk in zwei Teile zerschneidet. Wir müssen unserm Volk helfen, daß es durch alle Illusionen vorstoßen kann zu der nüchternen Erkenntnis der Wirklichkeit, in der es lebt. Das Zweite, worin sich unsere evangelische Verantwortung betätigt, ist die Bezeugung des Willens Gottes. Die römische Kirche versucht das verantwortliche Handeln durch ein System von Vorschriften zu leiten, in dem für sie der Wille Gottes ein für allemal beschlossen ist. Die Kirche hat in Anwendung dieser Prinzipien durch ihr kirchliches Lehramt den Willen Gottes für alle Einzelfälle des Lebens festzustellen. Wir Evangelischen halten demgegenüber an der biblischen Wahrheit fest, daß wir durch den Glauben an Christus in den Stand der Gotteskindschaft versetzt sind, in dem wir nicht mehr unter dem Gesetz und dem Menschengebot, sondern unter der Gnade und damit in der Freiheit

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stehen. Darum haben wir selbst zu prüfen, was der gute und wohlgefällige Gotteswille ist und haben in jedem einzelnen Falle selbst die Entscheidung darüber zu treffen. Wir haben aber auch die Verheißung, daß uns Gottes Geist in alle Wahrheit leitet, auch in die Erkenntnis des Willens Gottes in unserer konkreten Lage. Soll das heißen, daß nun jeder seinen Weg für sich geht? Nein, es geht nicht an, daß wir uns vom Bruder trennen. Wir müssen uns vielmehr gemeinsam um die rechte Erkenntnis des Willens Gottes und um das rechte Tun mühen. Wir können z. B. nicht dabei stehenbleiben, wie es jemand etwa so formulierte: „Ich vertrete die Meinung, daß alles getan werden müsse, um die tyrannische Macht des Ostens mit Gewalt zu beseitigen. Es gibt freilich auch die andere Möglichkeit, nämlich das Martyrium. Wir respektieren die christliche Haltung derer, die diesen Weg zu gehen bereit sind. Aber wir billigen diesen Weg nicht, sondern wir sind entschlossen, unseren Weg in christlicher Verantwortung zu gehen." Demgegenüber muß uns die Frage beschäftigen, ob denn wirklich der Wille Gottes in einer so wichtigen Frage uns in so diametral verschiedene Entscheidungen hineinweisen kann. Wir dürfen jedenfalls nie aufhören, einen gemeinsamen Weg der Verantwortung und der Betätigung zu suchen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß uns dann gemeinsame Erkenntnisse und gemeinsame Möglichkeiten zum Handeln geschenkt werden. In der Tat gibt es bereits seit langem eine brüderliche Ubereinstimmung innerhalb der E K D in der Frage unserer evangelischen Verantwortung. Wir haben auszugehen von dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom O k t o b e r 1945. N u r ein kleiner Kreis hat die Bedeutung dieses Schuldbekenntnisses erkannt. Wenn dieses Schuldbekenntnis vom deutschen Volk angenommen würde, dann ständen wir in der Umkehr von einem falschen Weg. Diese Tatsache würde von höchster politischer Tragweite sein. Daß unser Volk noch nicht auf diesem Weg steht, darf die Kirche auf ihrem Weg nicht irre machen. Es heißt darum in der Erklärung der Kirchenversammlung in Eisenach 1948: „Wir Christen müssen erklären: Bei uns ist der Kriegszustand mit den anderen Völkern beendet, auch wenn man uns den Frieden noch nicht gewährt. Wir sehen in den Angehörigen einer anderen Nation, welche es auch sei, nicht mehr Feinde, sondern Brüder und Schwestern, mit denen wir gemeinsam vor Gott stehen. Wir bitten und beschwören unsere Volksgenossen, sich vom Geist des Hasses oder der Feindseligkeit gegen andere Nationen freizuhalten. Niemand von uns sollte sich zum Werkzeug einer Propaganda machen lassen, durch die eine Feindschaft zwischen Staaten gefördert oder eine Handlung kriegerischer Gewalt vorbereitet wird. Insbesondere mahnen wir alle Glieder unseres Volkes, nicht dem Wahn zu verfallen, als könne unserer gemeinsamen N o t durch einen neuen Krieg abgehol-

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fen werden. Auf der Gewalt liegt kein Segen; Kriege führen nur tiefer in Bitterkeit, Haß, Elend und Verwahrlosung hinein. Die Welt braucht Liebe, nicht Gewalt. Sie braucht Frieden und nicht Krieg. Die Heilige Schrift sagt: ,Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein!' Und unser Herr Jesus Christus spricht: ,Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen'."

Damals hat kaum einer in der evangelischen Christenheit sich dagegen empört, daß die berufene Leitung der Kirche es wagte, in dieser Weise zur politischen Frage Stellung zu nehmen. Man hat vielmehr diesem Worte einmütig zugestimmt. Man war damals der Uberzeugung, daß durch einen neuen Krieg alles in Haß und Elend zugrunde gehen würde. Damals sind auch schon klare Worte über unsere Verpflichtung gegenüber unseren Vertriebenen, Internierten und Kriegsgefangenen gesprochen worden. In der gleichen Richtung läßt sich die Entschließung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Berlin vom April d. J. aus. Dort ist ein ganz konkretes Wort über den Frieden gesagt worden 1 . Dort wurde u. a. gesagt, daß die Zukunft unseres Volkes durch die Existenz des Eisernen Vorhanges entscheidend bedroht ist. Darum ist der Appell an die Besatzungsmacht gerichtet worden: „Beseitigt endlich die Zonengrenzen!" Und weiter ist gesagt worden: „Gebt dem deutschen Volk die Möglichkeit, sich in Freiheit eine neue Rechtsordnung zu schaffen, in der Ost und West wieder zu einer Einheit kommen können." Die evangelische Kirche bekennt sich damit ausdrücklich zu ihrer politischen Verantwortung dafür, daß aus Deutschland nicht zwei Völker werden, die sich gegenseitig die Vernichtung androhen, und daß wir nicht zum Spielball östlicher oder westlicher Mächte gemacht werden. In Fortsetzung dieses Berliner Wortes hat dann der Rat der EKD während des Kirchentages in Essen ein bedeutsames Wort 2 gesprochen. Das Wort wendet sich zunächst gegen die Angstpsychose. Es weist darauf hin, daß Christus der Herr ist, dem alle Gewalt gegeben ist. Es sagt, daß Angst und Unglauben uns der Gefahr des Krieges näherbringen. Es heißt dann weiter: „Christliche Glaubenszuversicht ist eine reale Macht des Friedens. Der Friede aber ist durch nichts so bedroht, als daß man ein Land durch willkürliche Grenzziehung in zwei Teile aufspaltet." Dann werden die Mächte darauf hingewiesen, daß sie die Aufrichtigkeit ihrer Friedensbeteuerungen dadurch unter Beweis stellen können und müssen, daß sie sich bereit finden, diesen gewaltsamen Aufspaltungen überall ein Ende zu machen. Zur Frage der Wiederaufrüstung wird

1

V g l . KIRCHE IN DER ZEIT 5, 1 9 5 0 , S. 9 1 ; K J 1 9 5 0 , S. 7 - 1 0 .

2

KIRCHE IN DER ZEIT 5 , 1 9 5 0 , S. 2 0 8 ; EVANGELISCHE WELT 1 9 5 0 , S. 5 1 8 .

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gesagt: „Einer Remilitarisierung können wir das Wort nicht reden, weder was den Westen, noch was den Osten angeht." Das alles heißt nichts anderes, als daß die Kirche vor dem jetzt von den Mächten beschrittenen Weg warnt, Deutschland in ein militärisches Verteidigungssystem einzubeziehen. Damit ist keine grundsätzliche Entscheidung darüber gefällt, ob ein Christ Waffen tragen darf. Es geht vielmehr nur um die konkrete Frage, ob wir heute und in unserer Lage dazu raten können oder nicht. In dieser Hinsicht ist die Denkschrift von Dr. Heinemann „Deutsche Sicherheit" 3 besonders zu beachten. Sie ist das Wort eines im christlichen Glaubensgehorsam gebundenen Staatsmannes, der um seiner Uberzeugung willen sein Amt niedergelegt hat. Im Blick auf die uns in dieser Frage aufgelegte Verantwortung hat auch der Reichsbruderrat der Bekennenden Kirche in Darmstadt seine ablehnende Stellung zur Wiederaufrüstung ausgesprochen und begründet 4 . N u n weist man freilich immer wieder hin auf die akute Friedensbedrohung von Osten her. Man sagt uns: Müssen wir nicht das Erbe unserer abendländischen christlichen Vergangenheit wahren? Wir antworten darauf: Keine Macht der Welt kann uns dieses Erbe erhalten, wenn wir es nicht in unserer Mitte wirksam werden lassen. Wir sehen die erste und entscheidend uns aufgelegte Verpflichtung, für den Frieden zu wirken, darin, daß wir die große Ungerechtigkeit unter uns beseitigen, die N o t und das Elend der Vertriebenen, der Gefangenen, der Internierten, der Ausgebombten, der Arbeitslosen usw. Unseren Beitrag zur Verteidigung Europas können wir nicht in der Aufstellung einiger Divisionen sehen, sondern darin, daß wir die so verführerisch von Osten eindringende ideologische Parole „Friede und Gerechtigkeit" dadurch bekämpfen, daß wir bei uns die wahre Gerechtigkeit in Freiheit verwirklichen. Damit dienen wir dem Frieden. Wir stellen fest: Auch in der Frage der Remilitarisierung geht es für uns um nichts anderes als um das Heil und das Wohl der Menschen. Es geht um das Heil. Die Remilitarisierung öffnet erneut dem Geist in unserem Volk das Tor, der den zweiten Weltkrieg heraufgeführt hat, dem Geist der Unbußfertigkeit und der Überhebung. Was Gott heute von uns fordert, ist im Grunde nichts anderes als die Stellungnahme zu dem Stuttgarter Schuldbekenntnis. Wer es damals mit diesem Bekenntnis ernst gemeint hat, der widersteht auch heute. Es gibt keine schlimmere Ablehnung der Buße und der echten Umkehr als die Wiederaufrüstung; denn die Wiederaufrüstung muß die Buße im Keime ersticken. Wir fragen: Kann es eine glänzendere Rechtfertigung des NationalsoziaJ 4

Vgl. K J 1950, S. 179-186. KIRCHE IN DER ZEIT 5, 1950, S. 206; K J 1950, S. 167f.

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lismus und Militarismus geben als die, daß dieselben M ä c h t e , die uns niedergezwungen haben, u m uns diesen Geist als auszutreiben,

uns heute wieder remilitarisieren,

Unmenschlichkeit

damit w i r

dadurch

unseren Beitrag für den Frieden der W e l t leisten sollen? M u ß d a d u r c h nicht die gefährliche Selbstrechtfertigung des deutschen M e n s c h e n z u r Vollendung k o m m e n ? M u ß dann das V o l k und v o r allem die J u g e n d nicht sagen: Alle W o r t e der M e n s c h e n sind ja nur Mittel z u m Z w e c k ? W a h r h e i t und Schuld gibt es nicht. Vorgestern w u r d e n wir mit der Parole „Freiheit, Friede, G e r e c h t i g k e i t ! " dazu gebracht, Krieg zu führ e n ; gestern hieß es: N i e d e r mit diesem verbrecherischen Militarismus! U n d heute m a c h t man es uns schon wieder z u m V o r w u r f , daß wir nicht Krieg führen wollen. M e r k t man denn nicht, daß alles, was gesagt wird, nur eine ideologische P r o p a g a n d a ist, nur ein Mittel der Gewalthaber, uns z u m E i n s a t z für ihre Z w e c k e zu bringen? D a d u r c h w i r d unserem V o l k der B o d e n für die Erkenntnis unserer Schuld v o r G o t t und für die U m k e h r völlig e n t z o g e n und dem Nihilismus der W e g bereitet. E s geht also in der F r a g e der Remilitarisierung u m das Heil unseres Volkes. A b e r auch sein W o h l wird gefährdet. Vielleicht hat keiner die G r ü n d e , die hier aufgeführt w e r d e n ,

klarer zusammengefaßt

als P r o f .

Karl B a r t h

in

seinem Brief an P a s t o r W o l f - D i e t e r Z i m m e r m a n n . E s heißt da: „Ich bringe erstens einfach die Unverfrorenheit nicht auf, dem deutschen Volk, dessen Jugend sich nun an zwei Kriegen weißgeblutet hat wie die keines anderen, dieses Opfer ein drittes Mal zuzumuten. Und ich meine, daß ein gesunder und berechtigter Selbsterhaltungstrieb auch das deutsche Volk selbst dazu anregen sollte, sich dieses Opfer zu verbitten. Ich halte es zweitens für unmöglich, ihm zuzumuten, sich auf einen Krieg zu rüsten, der, so wie die Dinge liegen, für Deutschland notwendig den Charakter eines Bürgerkrieges, des Kampfes von Deutschen gegen Deutsche, haben müßte. Es scheint mir drittens moralisch undurchführbar, ein Volk, dem man nun seit fünf Jahren alles militärische Wesen bis hin zu den Bleisoldaten seiner Büblein konsequent auszutreiben versucht hat, nun auf einmal doch wieder mit allen möglichen allgemeinen und im besonderen christlichen und politischen Argumenten dahin belehren zu wollen, daß es sein Heil in der Vorbereitung eines weiteren Krieges zu suchen habe. Es scheint mir viertens klar zu sein, daß, wenn etwas, so gerade eine militärische Aufrüstung in Westdeutschland eine direkte Herausforderung der Sowjetunion bedeuten würde und den Funken ins Pulverfaß bedeuten könnte, mit dem der Westen und Deutschland insbesondere, nicht zu spielen allen Anlaß hätte. Es ist mir (und nicht nur mir) fünftens völlig verborgen, ob und inwiefern eine ernsthafte Verteidigung Deutschlands zwischen Elbe und Rhein (die Sache also, die der Remilitarisierung allein einen allenfalls möglichen Sinn geben könnte) von den westlichen Strategen überhaupt beabsichtigt ist, oder ob eine deutsche Armee schließlich doch nur als Nachhut sich zu opfern oder allenfalls (unter Hinterlassung von Weib und Kind) an den Pyrenäen zu fechten hätte.

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Ich denke sechstens, daß das vorhin über die positive Abwehr des Kommunismus allgemein Gesagte für Westdeutschland ganz besondere Bedeutung habe: Ist denn in Sachen der Ostflüchtlinge, der Arbeitslosen, des Lastenausgleichs, der Wohnungsbeschaffung, der kriegsgefangenen Heimkehrer in Westdeutschland schon so viel getan, daß man sicher davor ist, daß die dortige soziale Situation den Kommunismus nicht trotz aller jetzt bestehenden Abneigung endlich und zuletzt doch anziehen muß wie ein Schwamm die Feuchtigkeit? Ist es nun wirklich ,realistisch' gedacht, der Vorbereitung eines möglichen Ostkrieges auch nur einen Bruchteil der ohnehin geringen Kraft zuzuwenden, die man zur Bewältigung der durch den Krieg und seinen Ausgang gestellten, wie mir scheint, geradezu ungeheurlich größeren Aufgabe nötig hat? Als Deutscher würde ich sagen: non possumus, wir sind für lange hinaus anders beschäftigt. Und nun frage ich - etwas zögernd, weil ich mir in Deutschland nicht gern neue Ungunst schaffen möchte - siebtens: Wäre es nun nicht doch allen Ernstes eine mißliche Sache, wenn heute ausgerechnet eine deutsche Armee mit allem, was dazu gehört, aufs neue entstünde, und als angeblicher Faktor der europäischen Sicherheit ins Spiel träte? Es ist nun einmal, wie die Geschichte sattsam gezeigt hat, zweierlei, ob ein Engländer oder ein Schweizer eine Uniform anzieht und die Waffe in die Hand nimmt, oder ob ein Deutscher dasselbe tut. Der Deutsche wird dabei nachweislich allzu leicht und allzu allgemein zum totalen Soldaten. Ihn möchten wir anderen im europäischen Lebensraum lieber nicht mehr auftauchen sehen: auch nicht im Blick auf seinen an sich sicher sehr tüchtigen Beitrag zu einer gemeinsamen Verteidigung. Und auch - nein, gerade wenn ich selbst Deutscher wäre, würde ich nach seiner Auferstehung kein Verlangen haben: auch nicht im Blick auf die dem deutschen Westen drohende Ostgefahr. Es muß in Deutschland zu vieles radikal neu gelernt und zu vieles radikal vergessen werden, was heute noch keineswegs vergessen und noch keineswegs gelernt scheint, bevor man an die Existenz von deutschen Soldaten wieder ohne Grauen denken kann." 5 Wir k ö n n e n diese B e w e i s f ü h r u n g nur aus voller U b e r z e u g u n g bejahen. G e w i ß , in allen diesen D i n g e n gibt es keine autoritative d o g m a t i sche E n t s c h e i d u n g d u r c h ein kirchliches L e h r a m t . D a s hebt aber nicht auf, daß die Glieder der K i r c h e v o n den verantwortlichen M ä n n e r n W e g w e i s u n g und R a t erbitten und erwarten dürfen. Verantwortlich z u handeln hat in politischen D i n g e n allein der Staat, allerdings bei uns z u r Zeit ein d e m o k r a t i s c h geordneter Staat, d. h. unter stärkster Mitverantw o r t u n g des ganzen V o l k e s . U m s o mehr haben wir uns mit g r o ß e m E r n s t u m die K l ä r u n g unserer evangelischen V e r a n t w o r t u n g durch das brüderliche G e s p r ä c h , das Klarheit u n d W e i s u n g z u vermitteln v e r m a g , zu bemühen. D i e evangelische K i r c h e steht heute vor der s c h w e r w i e g e n d e n E n t s c h e i d u n g , o b sie die V e r a n t w o r t u n g f ü r das deutsche V o l k und seine

ä

Vgl. ebd., S. 218f.

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Verantwortung für die Zukunft des deutschen Volkes

Zukunft auch weiterhin mitübernehmen oder ob sie sich wieder in das Getto einer unpolitischen Existenz zurückziehen soll. Wir sind der Uberzeugung, daß wir in der gegenwärtigen Lage in ganz besonderer Weise zur Wahrnehmung unserer Verantwortung im Gehorsam des Glaubens berufen sind.

Neuordnung der Evangelischen Kirche der Union Antwort an ihre Kritiker"'

Es ist keine so ganz leichte Aufgabe, in eine Stellungnahme zu den Fragen einzutreten, die im Blick auf das Ergebnis der ersten Lesung unserer Ordnung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union an uns gerichtet worden sind. Es müßte hier eigentlich sehr viel ausführlicher über manche Frage geredet werden, als das jetzt möglich ist. Es sind theologische Fragen aufgeworfen worden, bei denen es unwahrscheinlich ist, daß sie in unserer Generation eine einmütige und endgültige Antwort finden werden, zumal so viele tiefgehende und schwierige Fragen in den letzten Jahrzehnten über uns gekommen sind, daß wir mit ihnen nicht fertig zu werden vermögen. U b e r die Ergebnisse unserer Synode haben sich verschiedene Zeitschriften geäußert, allerdings im großen und ganzen nur referierend und nur in wenigen Fällen ausführlich kritisch Stellung nehmend. Ich möchte mich nur mit denen beschäftigen, die sich hinsichtlich des Rechtes und der Verantwortung der von der Generalsynode vorgesehenen Neuordnung zu uns im Widerspruch befinden oder die in dieser Sache einige besonders kräftige Fragen an uns zu richten haben. Ich möchte das allerdings nicht tun, ohne auch auf solche Stellungnahmen einzugehen, die schon vor der Generalsynode liegen, wenn sie sich auch nicht mit dem Ergebnis der Synode, sondern nur mit dem Entwurf unserer Vorlage beschäftigen, der ja in einigen nicht unwichtigen Punkten geändert worden ist. 1. Nicht erst seit dem Dezember des vorigen Jahres, sondern schon seit langer Zeit stehen wir einer grundsätzlichen Infragestellung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union gegenüber. Diese Infragestellung ist auch neuerdings wiederholt worden, und zwar in der „Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung", 8. Heft 1950, in einem Aufsatz unter dem Titel „Union und Konfession" von August Kimme. Er hat an uns eine ganz entscheidende Frage, auf die wir eine Antwort zu

* Gütersloh 1951. - Referat auf der zweiten Tagung der a. o. Generalsynode der Ev. Kirche der altpreußischen Union in Berlin-Spandau am 18. Februar 1951. Die Drucklegung erfolgte auf Beschluß der Synode. - Vgl. auch J. BECKMANN, Um den Fortbestand der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. In: Kirche in der Zeit 6 , 1 9 5 1 , S. 1-5.

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Neuordnung der Ev. Kirche der Union

geben haben; und sie ist unabhängig davon, wie wir etwa eine Neuordnung zu gestalten gedenken. Dieser Artikel geht darauf hinaus, zu zeigen, daß eine Kirche der Union als Kirche nicht möglich ist, weil die beiden Konfessionen, die hier uniert sind, einander im Schriftverständnis widersprechen. Es ist allerdings bedauerlich, daß sich in diesem Artikel - wie so oft - eine Menge von Fehlurteilen und Mißverständnissen vorfindet, bei denen man sich nur fragen kann: Wie kann jemand etwas drucken lassen, worüber er sich tatbestandsmäßig nicht hinlänglich informiert hat? Es wird zum Beispiel behauptet, die beiden westlichen Provinzen der altpreußischen Union hätten sich eine „ziemlich eindeutig reformierte" Ordnung gegeben, dabei hätten sie „die Befugnisse des episkopalen und konsistorialen Faktors stark eingeschränkt und der Synode allein maßgebendes Gewicht beigelegt". Ich habe mir bei dieser Stelle an den Rand geschrieben: Und die Missouri-Synode? Es ist ja ein merkwürdiger Tatbestand, daß es auch lutherische Kirchen gibt, die ausgesprochen synodal geordnet sind und durchaus keine konsistorialen und auch keine episkopalen Bestandteile in diesem Sinne haben. Es gibt eben gerade innerhalb der lutherischen Kirchen sehr verschiedenartige Möglichkeiten des Aufbaus der kirchlichen Ordnung. Ferner wird hier behauptet, daß am klarsten die „mehr reformierten" Provinzialkirchen des Westens auf dem ihnen seit langem „von ihrem reformierten Bekenntnis gewiesenen Weg" vorangeschritten sind. Wer den Tatbestand der beiden westlichen Provinzialkirchen kennt, wird erstaunt sein zu erfahren, daß eine Kirche wie die Evangelische Kirche von Westfalen auf dem ihr seit langem von ihrem reformierten Bekenntnis gewiesenen Weg vorangeschritten sein soll. Davon kann doch im Ernst keine Rede sein. Ich gebe diese Beispiele, um zu zeigen, daß der Verfasser offenbar keinen Einblick in die Wirklichkeit der altpreußischen Kirche hat, vor allen Dingen nicht in die Wirklichkeit der Westkirchen; sonst würde er etwas Derartiges nicht schreiben können. Das ist mir wichtig, weil überhaupt die Beurteilung dessen, was wir sind oder sein können, sehr leicht von theoretischen Erörterungen ausgeht und in keiner Weise sich den Wirklichkeiten stellt, in denen wir uns. als Kirche befinden. Man sollte also, ehe man eine Kirchenordnung für reformiert erklärt, sie sich daraufhin ansehen. O b es überhaupt den eindeutigen Begriff einer eindeutig reformierten Kirchenordnung gibt, ist mir eine Frage. Es war nötig, daß wir zunächst einmal einige Mißverständnisse abwehrten. Es wäre noch mehr zu nennen; aber lassen wir diese Dinge heute beiseite, um uns dem Wesentlichen zuzuwenden. Die entscheidende Frage, die hier erörtert wird, ist von erheblichem Gewicht. Es wird nämlich behauptet, und zwar, wie ich meine, mit

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Recht, daß verschiedene Konfessionen um ihres verschiedenen Schriftverständnisses willen sich „gliedern", wie der Verfasser sich ausdrückt: „Das Schriftverständnis ist das konfessionelle Prinzip, an dem niemand, der nicht in individualistischer Beschränkung oder in enthusiastischer Unklarheit ein Bibelchrist, sondern in geschichtlicher Verantwortung und Nüchternheit ein Kirchenchrist mit der Bibel sein möchte, vorbeikommt. Jede Kirche schließt die Schrift mit einem bestimmten ,Schlüssel' auf. Wenn der lutherischen Kirche nach der Apologie die Rechtfertigung die ,Tür in die ganze Bibel' bedeutet, so darf man dagegen für die römische Kirche diese Tür bei Matth. 16, 1 8 - 1 9 suchen. Und wie fremd die Lehrgesetzlichkeit und die Harmonisierung von Gesetz und Evangelium, von Altem und Neuem Testament nach reformiertem Schriftverständnis dem Luthertum ist, kann wohl als bekannt vorausgesetzt werden."

Hier müßte der Verfasser eigentlich fortfahren mit dem, was er auch offenbar meint und nachher darzulegen sich bemüht, daß nämlich das lutherische und das reformierte Schriftverständnis je eine andere Tür in die Bibel hat, wie sie auch bei der römisch-katholischen Kirche behauptet wird. Weil der Verfasser dies meint, so folgert er, daß die altpreußische Kirche, streng genommen, keine Kirche ist, weil sie kein Bekenntnis hat; sie dürfe daher allein im regionalen Sinne als Kirche angesprochen werden. Es wird weiter darauf hingewiesen, daß man sich neuerdings bemühe, trotzdem eine Union herzustellen, und zwar durch den Versuch einer Synthese der Theologie Luthers und Calvins. Ich will dahingestellt sein lassen, ob dieser Tatbestand wirklich vorhanden ist. Aber ich muß bekennen, ohne das hier im einzelnen darlegen zu können, daß die Behauptungen, die hier über die Theologie Calvins aufgestellt werden, nach meiner Kenntnis der Theologie Calvins nicht richtig sind, und zwar vor allen Dingen hinsichtlich des Verständnisses der Rechtfertigung als der Tür zur Heiligen Schrift. Der Verfasser behauptet nämlich, daß die reformierte Theologie, insbesondere auch Calvin, eine andere Tür zur Heiligen Schrift habe als Luther und die lutherische Theologie. Wenn das wahr wäre, dann säßen wir nicht auf dieser Synode, dann wäre es überhaupt nicht möglich, auch nur einen Kirchenbund lutherischer und reformierter Kirchen in der E K D miteinander zu haben. Denn dann müßten wir uns gegenseitig in der Tat als ein Missionsobjekt sehen; dann ständen wir als Lutheraner und Reformierte in der Tat nicht anders zueinander, als wir der römischen Kirche oder einer anderen christlichen Kirche, wie etwa der orthodoxen Kirche, gegenüberstehen. Ich glaube aber, behaupten zu können - und das tue ich aufgrund der Erörterungen und Gespräche in unserer Kirche und aufgrund der Erkenntnisse, die uns in unserer Kirche besonders durch die Anteilnahme der reformierten Brüder an unserem Kirchentum erwachsen - , daß der Schlüssel zur Heiligen Schrift in der Tat in der gesamten Reformation ein und derselbe 8

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Schlüssel gewesen ist, und zwar kein anderer als die paulinische Rechtfertigungstheologie sowohl für Luther wie für Calvin, für die lutherischen wie für die reformierten Bekenntniskirchen. Ich möchte, um das zu ergänzen, einfach darauf hinweisen, daß in den in unseren Kirchen geltenden reformierten Bekenntnisschriften, etwa im Heidelberger Katechismus, gerade dies in eindeutiger Weise betont wird. Wenn wir nicht voneinander wüßten, daß wir dies gemeinsam bekennen, dann würden wir die ersten sein, die der Uberzeugung wären, nicht in einer Kirche miteinander leben zu dürfen. Ich meine, daß es durchaus dem lutherischen Verständnis der Rechtfertigungslehre entspricht, wenn im Heidelberger Katechismus in Frage 60 gesagt wird: „Wie bist du gerecht vor G o t t ? Allein durch wahren G l a u b e n an J e s u m C h r i s t u m und also: daß, o b mich schon mein G e w i s s e n anklagt, daß ich wider alle G e b o t e G o t t e s schwerlich gesündigt und derselben keines nie gehalten habe, auch n o c h immerdar zu allem B ö s e n geneigt bin, doch G o t t , ohne all mein Verdienst, aus lauter G n a d e n , mir die v o l l k o m m e n e G e n u g t u u n g , Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi schenkt und zurechnet, als hätte ich nie eine Sünde begangen noch gehabt und selbst all den G e h o r s a m vollbracht, den Christus für mich geleistet hat, wenn ich allein solche Wohltat mit gläubigem H e r z e n annehme."

Wenn in demselben Katechismus die Frage beantwortet wird: „Was ist wahrer Glaube?" und der Nachdruck darauf gelegt wird: „Ein herzliches Vertrauen, welches der Heilige Geist durch das Evangelium in mir wirkt, daß nicht allein anderen, sondern auch mir Vergebung der Sünden, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit von Gott geschenkt sei, aus lauter Gnaden, allein um des Verdienstes Christi willen", so frage ich die lutherischen Brüder: Entspricht das der lutherischen Lehre oder nicht? Ist das nicht dasselbe Schriftverständnis, das für unsere Uberzeugung grundlegend ist? Bei aller Verschiedenheit in einer Reihe theologischer Fragen von Gewicht scheint es mir von entscheidender Bedeutung zu sein, daß wir davon überzeugt sind, daß zwischen uns über das sola fide, sola gratia keine Frage, über seine fundamentale Bedeutung kein Zweifel ist. Ich glaube, daß hierin, und hierin allein, der grundsätzlichen Infragestellung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union begegnet werden muß und begegnet werden kann. Wir hätten in der Tat kein theologisch gutes Gewissen und wir wären nichts anderes als Territorialisten oder Restaurateure, wenn wir nicht der theologischen Überzeugung wären, daß wir von dem entscheidenden Zentrum der Reformation her, in dem wir das Licht des Evangeliums empfangen haben, gemeinsam auf den Weg gestellt sind, bei aller Verschiedenheit der Fragen, die innerhalb und zwischen den Bekenntnissen, aber auch innerhalb des Luthertums und des Reformiertentums eine überzeugende gemeinsame

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und eindeutige Beantwortung noch nicht gefunden haben. Ich meine, wer ein wenig in der theologischen Literatur von heute zu Hause ist, weiß, daß es eine einheitliche Front bekenntnisgebundener reformierter oder lutherischer Theologie nicht gibt, vielmehr ist es z. B. die größte Verlegenheit aller, die konfessionell so oder so denken, daß eine Dogmatik wie die von Karl Barth erscheinen kann, die weder dem reformierten noch dem lutherischen Bekenntnis eindeutig und einseitig zugerechnet werden kann, eine Dogmatik, die in wahrhaft ökumenischer Verantwortung sich als „kirchliche Dogmatik" verstehen will. 2. Eine zweite kritische Beurteilung ist in dem Aufsatz von Herbert Goltzen in Nr. 24 des vergangenen Jahrgangs und Nr. 1 des neuen Jahrgangs der „Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung" enthalten. Es ist eine sehr ausführliche und umfassende Darlegung, in der auch grundsätzlich die Existenzmöglichkeit der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union bestritten wird, allerdings weniger - wie in dem erstgenannten Aufsatz - durch eine ausführliche theologische Darlegung, sondern mehr unter dem Thema einer kirchlichen Infragestellung der Neukonstituierung: Ist die altpreußische Union eigentlich eine Notwendigkeit oder ist sie nicht Restauration? Auch hier finden wir eine Menge von merkwürdigen Sätzen und Mißverständnissen, gerade auch hinsichtlich der beiden westlichen Kirchen der altpreußischen Union, indem z. B. behauptet wird, daß die beiden Präsides der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Evangelischen Kirche im Rheinland „eine wahrhaft päpstliche Führungsmacht in der Kirche" hätten. Wer in diesen Kirchen existiert, weiß, daß es Unsinn ist, so etwas zu schreiben. Man sollte so etwas nicht schreiben, ohne sich die Ordnungen genügend angesehen zu haben und zu wissen, daß es sich hier um etwas in der Tat radikal anderes handelt und man mit solchen Bemerkungen über „Kumulation von Funktionen des früheren Generalsuperintendenten und Konsistorialpräsidenten" in keiner Weise den Wirklichkeiten unserer Kirchen gerecht wird. Die erste Frage, die an uns gerichtet wird, ist die: Worin besteht denn die Einheit der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union? Die Antwort, die hierauf gegeben wird, lautet: Sie ist so handgreiflich uneinheitlich, daß sie als ein überaus fragwürdiges Gebilde dasteht. Die Uneinheitlichkeit kommt darin zum Ausdruck, daß man in den Gemeinden verschiedenartige Bekenntnisse gelten läßt. Wie können solche Gemeinden miteinander bestehen? Können sie in einer Kirche verbunden sein? Für den Verfasser erweckt die Kirche der altpreußischen Union den Anschein, daß sie in der Art der Zusammenfassung ihrer Gliedkirchen eine verkleinerte Ausgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland ist. Er fragt daher, ob man, weil es die Evangelische Kirche in Deutschland gibt, die dieselben Aufgaben, dieselben Probleme, die-

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selbe Gemeinschaft hat, nun nicht diese allein bestehen lassen sollte und also besser täte, den Block der altpreußischen Gliedkirchen nicht neu zu formieren, sondern aufzulösen. Unter diesem Gesichtspunkt steht die ganze Darlegung. Denn gerade in der Fortsetzung in den Nummern vom 15. Januar 1951 wird unterstrichen, daß die Gliedkirchen der altpreußischen Union durchaus Gebilde sind, die bei richtiger Entwicklung allmählich zu einer besseren Kirche heranwachsen können. Der Verfasser sagt übrigens auch von der V E L K D , daß sie „fortschreitend mehr Kirche" werden würde. Dies halte ich nicht für einen theologisch verantwortbaren Satz. Ich sehe keine solche Möglichkeit, „fortschreitend mehr Kirche" zu werden. Dadurch, daß man z. B. Gottesdienstordnungen, Gesangbücher oder auch die Bestimmungen der Kirchenordnung vereinheitlicht, wird man nicht fortschreitend mehr Kirche. Der Satz des Kritikers ist offenbar im Sinne eines Verfassungsprinzips gedacht. Aber es muß dann sehr deutlich gesagt werden, daß hier gänzlich untheologisch über die Kirche geredet wird. Immerhin wird also erklärt, es wäre wohl möglich, daß die einzelnen Gliedkirchen unserer altpreußischen Union, wenn sie selbständig würden, auf die Dauer zu einer nach seiner Vorstellung wahrhaft kirchlichen Entwicklung kommen könnten. Offenbar denkt der Verfasser daran, daß die Westkirchen dabei reformiert würden und die Ostkirchen lutherisch, und damit wären alle Probleme gelöst. Was in diesem Zusammenhang wiederum von uns behauptet ist, wird durch die Tatbestände so schlagend widerlegt, daß man fragen muß: Wie kommt es, daß solche Dinge behauptet werden können? Man lese etwa folgenden Satz: „ A u c h in der V e r w a l t u n g des T a u f s a k r a m e n t s besteht ein erheblicher D i s s e n s u s , d e r d u r c h die neueren V e r ö f f e n t l i c h u n g e n v o n K a r l B a r t h u n d seinen A n h ä n g e r n nicht g e r i n g e r g e w o r d e n ist; ein N e b e n z u g d e r r e f o r m i e r t e n T a u f p r a x i s ist u. a., d a ß sie d a s P a t e n a m t ablehnt. W i e soll n u n eine g e m e i n s a m e Tauf Ordnung aussehen?"

Die Evangelische Kirche von Westfalen hat kürzlich eine Taufordnung beschlossen, die den Beweis dafür liefert, daß es eine gemeinsame Taufordnung in unserer Kirche gibt, die gemeinsam von Vertretern der lutherischen, reformierten und unierten Gemeinden beschlossen und mit großer Freudigkeit angenommen worden ist. Also wiederum ein Beweis, daß die Wirklichkeit die Theorien korrigiert. Des weiteren wird in diesem Artikel die Synode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union angegriffen, und zwar deswegen, weil sie nicht konfessionell gegliedert sei; es würde daher der Bekenntnisverschiedenheit an einem entscheidenden Punkte nicht Rechnung getragen. N u n meine ich allerdings, daß das in unserer Ordnung durchaus geschieht, nur nicht in einer Weise, die von der Uberzeugung bestimmt

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ist, daß kirchenregimentliche Funktionen nur da ausgeübt werden können, wo eine völlige Bekenntnisgleichheit besteht. Bei dieser Frage muß in der Tat geprüft werden, was man eigentlich unter einer „bekenntnisgebundenen" Kirchenleitung, ja was man überhaupt unter Bekenntnis versteht. Wenn nur das Bekenntnis ist, was in der Reformation als theologische Bekenntnisformulierung in einem corpus doctrinae zusammengestellt ist, dann hat z. B. die anglikanische Kirche kein Bekenntnis, ist also keine Kirche. Ist dann die Kirche der Orthodoxie eine Kirche, wo sie nur das eine Bekenntnis hat: das Nicaenum? Wenn wir das Nicaenum bekennen, haben wir offenbar kein Bekenntnis; offenbar genügt das bei uns nicht, Kirche zu sein. Diese schwierigen Fragen, die die westlichen Kirchen, das abendländische Kirchentum insgesamt angehen und die unter uns ganz anders als bisher zur Frage gestellt werden müssen, können nicht damit erledigt werden, daß man meint, Bekenntnis und Bekenntnisschrift seien identisch. Wir sind der Uberzeugung, daß Bekenntnis und Bekenntnisschrift nicht einfach identifizierbar sind und daß wir deswegen in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union mit gutem Grund von einem Bekenntnis reden können. Wenn uns jemand fragt: Habt ihr ein Bekenntnis?, dann sagen wir: Ja, wir haben zwar keine gemeinsamen und in allen Einzelheiten übereinstimmenden Bekenntnisschriften, aber wir werden uns dagegen wehren, daß uns vorgeworfen würde, wir hätten kein Bekenntnis 1 . Die letzte Frage - und das ist die eigentliche Frage dieses Aufsatzes ist die: Ist die Neuordnung der altpreußischen Union notwendig? Es wird hier gesagt: Nein, sie ist nicht notwendig, im Gegenteil, diese Neuordnung ist nichts anderes als ein restaurativer Territorialismus. Sie sei entstanden aus Gedanken der alten Bürokratie, sie sei begründet durch eine gemeinsame Geschichte, sie sei verstärkt durch ein gemeinsames Bekennen der dreißiger Jahre, und in Wirklichkeit sei das, was jetzt gewollt würde, einerseits zu groß und uneinheitlich, andererseits zu eng. Die Theorie, auf die das Ganze hinausgeht, ist eben die, daß die Problematik der altpreußischen Kirche keine andere ist als die der Evangelischen Kirche in Deutschland, selbst bei der Verschiedenheit in der Formulierung der Abendmahlsgemeinschaft. Daß bei uns der Akzent darauf gelegt wird, daß die Abendmahlsgemeinschaft in unserer Kirche besteht, sei kein grundsätzlicher Unterschied. Denn solche Formulierungen könnten auch gegenüber anderen Kirchen getroffen werden. Es sei also unsachgemäß und würde die Entwicklung der Evangelischen Kirche in Deutschland erschweren, wenn hier eine historische Situation künstlich zu erhalten gesucht würde, und es würde hier ein 1 Vgl. den Grundartikel der Ordnung der Ev. Kirche der altpreußischen Union (KJ 1950, S. 66).

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Block geschaffen, der letzten Endes aus einem Widerspruch zur V E L K D herausgewachsen sei. Ich glaube, daß auf unserer Synode bisher noch kein Blick auf die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands getan worden ist und niemand da ist, der etwa gedacht hat, wir müßten unbedingt etwas gegen die V E L K D tun, sondern wir sind von ganz anderen Fragen ausgegangen. Wir stehen nicht vor der Frage, ob wir eine Kirche der altpreußischen Union gründen wollen. Denn de facto und de jure besteht die altpreußische Kirche, und wir stehen vor der Frage, ob und in welcher Weise wir sie neu ordnen wollen. Wir waren uns darüber einig geworden, daß es uns verwehrt ist, sie einfach aufzulösen. Wir waren uns darüber einig geworden, daß wir das Recht haben, sie neu zu ordnen und zu gliedern, weil wir uns in einer Verbundenheit und Gemeinschaft wissen, die es uns erlaubt und gebietet, uns eine gemeinsame Ordnung zu geben, in der Uberzeugung, daß die Gemeinschaft, die uns verbindet, eine stärkere ist, als sie bisher innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland vorhanden ist. Solange in der Evangelischen Kirche in Deutschland die Abendmahlsgemeinschaft noch nicht unbestritten ist, so lange besteht ein Unterschied zwischen der Kirchengemeinschaft, in der wir uns befinden, und der Kirchengemeinschaft, die es zwischen den Kirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt. Eigentlich muß ein jeder, der die Dinge sieht, wie sie sind, erkennen, daß die Gestalt der altpreußischen Union eine ganz weitgreifende Veränderung in ihrem Verfassungsbau erfahren hat, und er müßte eigentlich bei einer ruhigen und sachlichen Beurteilung zu der Uberzeugung kommen: hier ist eine starke Aufgliederung der Gesamtkirche und eine völlige Befreiung von dem bisherigen „unionistischen" Verwaltungszentralismus klar und eindeutig vollzogen worden. Ich glaube, daß das, richtig und vorurteilsfrei gesehen, ein ganz anderes Urteil über unseren Neuordnungsversuch hätte hervorrufen müssen. Ich meine aber letztlich, zu dem Aufsatz Goltzens sagen zu müssen: Seine Alternative „Restauration oder Notwendigkeit" ist falsch. Ich sage: Weder Restauration noch Notwendigkeit! Man kann fragen, in welchem Sinne die V E L K D notwendig ist, ob der Lutherische Weltbund notwendig ist, ob der Presbyteriale Weltbund notwendig ist. Die Frage der Notwendigkeit muß sehr sorgfältig daraufhin überprüft werden, welche Art von Notwendigkeit man meint. Wir stehen ja nicht vor der Frage, die Notwendigkeit zu begründen, daß wir uns neu zusammenschließen, sondern wir stehen vor der Frage, ob es uns erlaubt ist, auseinander zu gehen. Weil wir diese Frage verneint haben, ist also die Alternative, die hier an uns gerichtet worden ist, falsch. Denn wir meinen in der Tat, in keiner Weise zu restaurieren. Gerade das, was auf der letzten Tagung der Synode gesagt worden ist, meine ich, weist mit

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aller Deutlichkeit darauf hin, daß hier keine Restauration betrieben worden ist, sondern eine neue Ordnung geschaffen wurde, ein neuer Versuch gemacht wurde, miteinander in einem Kirchenbunde Kirche zu sein, anders als die E K D - ob auf dem Wege dahin oder nicht, können wir nicht bestimmen, können wir nicht entscheiden - , aber auf keinen Fall aus einem „ A n t i - V E L K D - K o m p l e x " , als müßte nun ein großer Gegenblock geschaffen werden, sondern einfach von der Frage her: Haben wir das Recht vor dem Herrn der Kirche, uns voneinander zu verabschieden und zu sagen: Nun gehe jeder seine Wege? Wir hatten diese Freiheit, diese Erlaubnis nicht. 3. Gegenüber den beiden bisher erörterten Bestreitungen der N o t wendigkeit oder der Existenzberechtigung einer altpreußischen Kirche stehen auf der anderen Seite eigentlich nur noch zwei Aufsätze, auf die ich aufmerksam machen möchte, nämlich der Aufsatz von Dreß und der von Wulf Thiel. D e r Aufsatz von Dreß in den „Zeichen der Zeit" in der ersten Nummer von 1951 ist dej ausführlichere. Auch er ist dadurch für uns in seiner Bedeutung begrenzt, daß er aufgrund des Entwurfs und nicht aufgrund des Ergebnisses unserer Synode kritisch Stellung nimmt. Er steht der altpreußischen Kirche nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, sondern er fragt hier nur: „Sind die das Bekenntnis betreffenden Bestimmungen so getroffen, daß hier nicht eine Art Konsensunion, nicht eine Art Erledigung und Beseitigung der Bekenntnisse erfolgt?" Dazu stellt er an uns sechs verschiedene Fragen, bei denen wir uns zu prüfen haben, wie wir ihnen zu begegnen hätten. Die erste Frage, die er stellt, ist die: Wie ist ein gemeinsames Bekennen des Evangeliums möglich, wenn das lutherische und das reformierte Schriftverständnis sich so grundlegend oder, wie er bezeichnenderweise sagt, „charakteristisch" unterscheiden. Er meint offenbar, daß sie eine grundsätzliche Unterschiedenheit haben, wenn er den gewichtigen Satz prägt: „Es bedeutet eben, daß die lutherischen und reformierten Kirchen und Gemeinden sich nun wirklich nicht nur in der Abendmahlslehre oder gar nur in einem nebensächlichen Punkt der Abendmahlslehre, sondern in ihrem ganzen Schriftverständnis, in ihrem Gebrauch und ihrer Verwendung der Heiligen Schrift, demzufolge dann auch in ihrer Verkündigung von Gesetz und Evangelium, in ihrer Lehre von Christus, von der Kirche und vom Amt der Obrigkeit charakteristisch unterscheiden."

Ich frage mich, ob die lutherischen Theologen der Erlanger Kenosischristologie und ihre lutherischen Gegner, also Dorner und seine Nachfolger, sich nicht überaus „charakteristisch" in der Lehre von Christus unterschieden haben, so charakteristisch, daß man fragen kann, ob die Unterscheidung dieser beiden lutherischen Lehren nicht ebenso groß ist

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wie die Unterscheidungen zwischen der Ubiquitäts-Christologie und der reformierten Christologie auf der anderen Seite. Wer die Frage charakteristischer Unterscheidungen stellt, muß sich die Frage stellen lassen, ob die Interpretationen der lutherischen Theologie von heute sich nicht so überaus charakteristisch unterscheiden, daß man fragen kann, wie sie überhaupt in derselben Konfession stehen können. Dies ist die tatsächliche Lage innerhalb des gesamten Protestantismus. Wir brauchen nur an das berühmte Problem der Bultmann-Schule zu denken, das heute überall diskutiert wird, um darzutun, wie umfassend die charakteristischen Unterschiede im Schriftverständnis innerhalb des Protestantismus sind. D a hilft es nichts, wenn man behauptet: Bei uns gilt die Confessio Augustana. Ich meine, wenn man den Tatbestand dieser tiefgreifenden theologischen Unterschiede sieht, sollte es doch auch in einer Kirche die Möglichkeit geben können, daß in ihr eine lutherisch und reformiert bestimmte Theologie getrieben wird, daß aber dadurch die Möglichkeit eines gemeinsamen Bekennens des Evangeliums nicht aufgehoben ist. Wenn das so wäre, gründete sich die Kirche auf die Theologie, was sie aber, Gott sei Dank, nicht tut. Das muß festgehalten werden. Ich habe die Befürchtung, daß viele unserer Gegner heimlich von dem Satz ausgehen, daß sich die Kirche auf die Theologie gründet und nicht auf das Evangelium. Der zweite Satz betrifft die Formulierung der Barmer Erklärung. Diese Frage war begreiflicherweise auch ein Gegenstand unserer Diskussion. N u n sagt Dreß hier: Wie kann man überhaupt die Barmer Erklärung zur gemeinsamen Bekenntnisgrundlage nehmen, wenn sie nicht eindeutig, sondern so mehrdeutig interpretiert werden kann, wie es geschehen ist? Ich frage wiederum: Wenn es möglich war, die Augsburgische Konfession so verschieden zu interpretieren, wie das in den Jahrzehnten des tiefgehenden Streites um die Christologie, um Gesetz und Evangelium, um den tertius usus legis (der bis heute noch eine große Streitfrage ist - ich denke da an die „Ethik" von Eiert, der diese Lehre der Konkordienformel bestreitet), geschehen ist, müßte man dann nicht darauf verzichten, die Confessio Augustana zur Bekenntnisgrundlage der Kirche zu machen? Im übrigen trifft das in derselben Weise vom Apostolikum oder irgendeiner anderen Bekenntnisschrift zu. Selbst das Nicaenische Bekenntnis ist einer unterschiedlichen Interpretation der östlichen und westlichen Theologen fähig und ausgesetzt gewesen und ist doch ein Bekenntnis der Kirche. Ich meine also, von da aus kann man der Anerkennung der Barmer Erklärung als einer Bekenntnisschrift nicht begegnen, daß man sagt: Sie ist fragwürdig, denn man kann sie verschieden verstehen. Drittens fragt uns Dreß: Worin besteht denn eure Kirchengemeinschaft, wenn ihr nichts anderes sagt als dies: die Kirchengemeinschaft ist

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Gemeinschaft in der Verkündigung des Wortes Gottes und gegenseitige Zulassung zum heiligen Abendmahl? Wird damit nicht das Problem des Verhältnisses von Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft eher verkannt, als daß es gelöst wird? Ich glaube, daß wir an diesem Punkte noch eine ganze Menge von Fragen zu klären haben, die von der Bekenntnissynode in Halle her gestellt sind und die uns noch beschäftigen müssen. Wir sind nicht der Meinung, daß wir mit unserer Formulierung am Ende der Beantwortung dieser Fragen sind, sondern erst am Anfang. Wir wollen also nicht behaupten, daß wir das Problem des Verhältnisses von Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft bereits gelöst hätten. Aber wir verstehen allerdings unsere Gemeinschaft als Gemeinschaft an Wort und Sakrament und darum als Kirchengemeinschaft. Dreß fragt dann viertens: Muß das Vetorecht, das in der Synode von einem bestimmten Bekenntnis her geltend gemacht werden kann, sich nicht dahin auswirken, daß überhaupt nichts, was bekenntnisbestimmt ist, zur Geltung gebracht werden kann? Ich meine, die Sorge ist unbegründet. Erstens wäre es ja so, daß man sich darüber klar werden könnte, daß hinsichtlich des Geltungsbereichs bestimmter Grundsätze oder Gesetze durchaus ein Unterschied gemacht werden könnte zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden unserer Kirche. Es wäre ein Unsinn, wenn wir gemeint hätten, durch ein solches Vetorecht uns in der gemeinsamen Arbeit so zu hindern, wie das einmal der polnische Reichstag mit seinem Vetorecht getan haben soll. Nun aber sagt Dreß in diesem Zusammenhang: „Wenn man sich nun vergegenwärtigt, an wieviel Punkten sich die verschiedenen Bekenntnisse voneinander unterscheiden bzw. sich widersprechen (z. B. in der Auffassung vom Wesen des geistlichen Amtes, vom Wesen und Auftrag der Kirchenleitung und der Synode, vom Wesen des Gottesdienstes und der Sakramente usw.), dann wird einem sehr schnell deutlich, in welch verhängnisvoller Weise dieses Vetorecht eine fruchtbare Entwicklung des kirchlichen Lebens zu hemmen imstande ist."

Darauf ist zu antworten: Es ist natürlich relativ richtig, was er sagt; aber die Frage ist, ob diese Verschiedenheit als ein exklusives Widereinander verstanden werden muß, bei dem man also, wenn man ein anderes Verständnis hat als der andere, den anderen mit einem „Damnamus" verwerfen und ihm die Kirchengemeinschaft versagen muß. Das meint Dreß offenbar nicht. Es wird auch zwischen uns Theologen verschiedener Schulen und verschiedener theologischer Uberlieferungen auch bei gleichem Bekenntnis eine Menge Verschiedenheiten geben über wesentliche theologische Fragen, ohne daß damit die Möglichkeit, gemeinsam in dieser Kirche zu stehen, ausgeschaltet ist. Also die Sorgen, die hier bestehen, vermögen wir nicht zu teilen. Wir meinen, daß die nötige

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Sicherung dadurch eingebaut ist, daß es in dieser Sache keine Möglichkeiten der Majorisierung gibt, wohl aber die Möglichkeit, einen Weg zu finden, der die Entfaltung etwa des lutherischen Bekenntnisses oder des reformierten Bekenntnisses im Bereich des Gottesdienstes usw. nicht aufhebt 2 . Ich habe vergessen, noch darauf hinzuweisen, daß wir schon von Goltzen danach gefragt worden sind, wie wir denn Einheitlichkeit des Gottesdienstes, der Amtshandlungen usw. erstreben könnten, wo doch so tiefgreifende Unterschiede zwischen der Auffassung von Gottesdienst oder der Amtshandlungen (Taufe) bei Lutherischen und Reformierten beständen. Es scheint sich neuerdings die Meinung eingeschlichen zu haben, daß die lutherische und reformierte Taufpraxis einander so widersprechen, daß man nicht miteinander in einer Kirche taufen kann. Dies scheint aber eine Verwechslung mit Fragen zu sein, die von Karl Barth an die ganze Christenheit gerichtet worden sind hinsichtlich der Frage der rechten Kindertaufpraxis (die Taufordnung der westfälischen Kirche vom Oktober 1950 zeigt vielmehr, daß bei uns eine völlige Ubereinstimmung im lutherischen und reformierten Verständnis der Verwaltung des Taufsakraments besteht). Wir meinen fünftens auch nicht, daß es überall nur eine und dieselbe Gottesdienstordnung geben könne. Wir meinen nicht, daß bei uns eine Synode feststellen könnte: nur dieser eine Gottesdienst darf in allen Kirchen begangen werden. Sondern wir meinen, daß wir gerade in dieser Sache mit Martin Luther eine sehr große Möglichkeit der freien Entfaltung haben. Es hat mich in steigendem Maße beunruhigt, daß man erkennen muß, wie seit der Reformation auf dem Gebiete des Gottesdienstes, des Katechismus und des Kirchenliedes eine zunehmende Vereinerleiung erfolgt, so daß wir am Ende von 400 Jahren nur noch zwei Katechismen haben, die in Deutschland in Gebrauch sind, während es eine große Fülle verschiedener Katechismen gegeben hat, daß wir ferner auch nur zwei Typen des Gottesdienstes haben, die übriggeblieben sind, während auch da früher ein ganz anderer Reichtum vorhanden war. Eine so rühmliche Sache das kirchliche Einheitsgesangbuch auch ist, so darf doch gefragt werden: Muß es überall ein und dasselbe Gesangbuch geben? Gewiß, ich weiß alles, was dafür spricht. Wir wollen nur nicht meinen, daß dadurch die kirchliche Einheit geschaffen würde, die etwas mit der „Una Sancta" zu tun hat. Das wäre ein großer Irrtum. Die seelsorgerliche Veerantwortung für die Menschen, die in unserem Bereich hin und her wandern, kann uns dazu veranlassen, für größere Einheitlichkeit des Gottesdienstes und des Gesangbuchs Sorge zu tragen. Aber die Einheit der Kirche wird hierdurch nicht sicherge2

Vgl. Art. 17 der Ordnung der Ev. Kirche der altpreußischen Union (KJ 1951, S. 47).

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stellt, so wenig wir um der Einheit willen genötigt sind, einen einheitlichen Gottesdienst usw. zu fordern. Sechstens und endlich: Muß die erstrebte Einheitlichkeit der altpreußischen Union der Bekenntnisverschiedenheit nicht widersprechen? Gilt das nicht insbesondere für die Beanstandung der Lehre? Bei der Beanstandung der Lehre würden wir auch unsererseits der Meinung sein, daß man selbstverständlich hier trennen sollte zwischen denen, die von dem einen oder dem andern Bekenntnis herkommen. Ferner ist es keine Frage, daß die gemeinsamen Ordnungen des Gottesdienstes, der Amtshandlungen etwaigen Bekenntnisverschiedenheiten Rechnung tragen müssen. Aber was sollen wir sagen zu der Behauptung, daß die Konfirmation nach reformierter Anschauung einen wesentlich anderen Charakter habe als nach lutherischer? Es gibt innerhalb der lutherischen und reformierten Uberlieferung wohl mindestens vier verschiedene Anschauungen über das Wesen der Konfirmation. Wir wissen alle, daß wir an diesem Punkte in Verlegenheit sind, aber nicht aus lutherischer und reformierter Bekenntnisverschiedenheit, sondern aus anderen Gründen. Ferner steht hier wieder der merkwürdige Satz: „Nach reformierter Anschauung im Gegensatz zur lutherischen gehört auch die Verfassung zum Bekenntnis." Ich kann nicht sagen, daß diese alte Behauptung dadurch, daß sie immer wiederholt wird, an Wahrheit gewinnt. Es ist nach den Tatbeständen, die vorliegen, unmöglich zu behaupten, daß die Verfassung nach reformierter Lehre ein Bestandteil des Bekenntnisses wäre. Ich vermag das nicht zu sehen. Wenn das wirklich der Fall wäre, dann wäre es in der Tat nicht möglich, daß wir eine Kirchengemeinschaft hätten, genau so, wie wenn die anderen Differenzen, die hier behauptet werden, so wären, daß sie uns zum Widerspruch forderten aufgrund eines diametral verschiedenen Schriftverständnisses. Dann würde einfach der Tatbestand des gegensätzlichen Schriftverständnisses uns völlig auseinandersprengen. Dann ständen wir nicht vor der Frage, ob wir beisammen bleiben können oder nicht. 4. Ein letztes kurzes Wort zu dem Artikel von Wulf Thiel. Im ganzen stimmt er unserer Arbeit zu. Seine kritischen Fragen gehen in zwei Richtungen. Einerseits meint er, wir müßten die Gefahr vermeiden, daß die auseinanderstrebende Tendenz der Provinzialkirchen dazu führen könnte, daß die gemeinsame innere und äußere Verantwortung füreinander sich weiter lockert. Das würde eine Isolierung und Verabsolutierung der einzelnen Provinzialkirchen zur Folge haben. Der Horizont der einzelnen Kirche würde sich verengen. Mit Recht weist er uns darauf hin, daß wir uns nicht zu sehr oder gar völlig auseinanderdrängen lassen sollten, dadurch daß wir uns in das große Wagnis einer relativ hohen Selbständigkeit der Gliedkirchen der A P U begeben haben. Seine andere Sorge ist die, daß wir daran festhalten möchten, die Linie

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einer gegliederten Unionskirche bewußt innezuhalten. Er hat hierzu ein Wort gesagt, von dem es mir nützlich scheint, es kurz zu wiederholen: „ H i e r w i r d n ü c h t e r n d a s V o r h a n d e n s e i n der b e s t e h e n d e n L e h r u n t e r s c h i e d e a u s g e s p r o c h e n . D i e s e U n t e r s c h i e d e w e r d e n in i h r e m g e m e i n s a m e n V o r h a n d e n sein in einer K i r c h e eine L a s t g e n a n n t , die in g e m e i n s a m e r B e u g u n g unter W a h r h e i t u n d V e r h e i ß u n g des W o r t e s G o t t e s z u tragen ist. E s w u r d e i m P l e n u m u n d in e i n e m d e r A u s s c h ü s s e d a r u m g e r u n g e n , o b d a s W o r t v o n d e r , L a s t ' stehen bleiben solle o d e r nicht. M a n hat es im B l i c k auf die K i r c h e der altpreußischen U n i o n m i t R e c h t stehen lassen w o l l e n . B e k e n n t n i s - u n d L e h r u n t e r s c h i e d e in der C h r i s t e n h e i t , die an d e m einen H e r r n u n d an die eine heilige allgemeine K i r c h e g l a u b t , s i n d u n d bleiben eine L a s t , die u n s v o r b e s t i m m t e A u f g a b e n stellt. W i r b e w ä l t i g e n sie nicht d a d u r c h , daß w i r sie negieren u n d w e g o r g a n i s i e r e n . W i r t r a g e n sie in g e m e i n s a m e r B e u g u n g unter die W a h r h e i t des W o r t e s G o t t e s , d a s u n s verbietet, e t w a s w i d e r die W a h r h e i t z u tun. W i r t r a u e n aber a u c h der V e r h e i ß u n g d e s W o r t e s G o t t e s , die u n s g l a u b e n u n d h o f f e n u n d d a f ü r w i r k e n läßt, d a ß w i r in g e m e i n s a m e m B e k e n n e n des E v a n g e l i u m s z u l e r n e n u n d w a c h s e n können."

Ich meine, daß wir dem durchaus zustimmen können. Das Ergebnis meiner Erörterungen möchte ich folgendermaßen kurz zusammenfassen: 1. Im Blick auf die an uns geübte Kritik wäre zunächst der Frage nach der theologischen Existenzberechtigung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union zu begegnen. Ist die altpreußische Union, theologisch beurteilt, eine unmögliche Kirche und darum so schnell wie möglich zu beseitigen? Dieser Frage haben wir standzuhalten und sie •noch einmal zu bedenken. Ich persönlich bin der Überzeugung, daß man sie verneinen muß, und zwar allein deswegen und aus keinem anderen Grund, weil wir der Uberzeugung sind, daß es in unserer Mitte ein gemeinsames reformatorisches Schriftverständnis gibt, nämlich das reformatorische Schriftverständnis in der justificatio impii, in dem sola gratia und dem sola fide, wie wir es ausgesprochen haben. Insofern meine ich, daß wir im Blick auf unseren Grundartikel wohl sagen dürfen, daß darin die Bekenntnisgrundlage dieser Kirche bezeugt ist: „ S i e b e k e n n t mit d e n V ä t e r n der R e f o r m a t i o n , daß die H e i l i g e S c h r i f t die alleinige Q u e l l e u n d R i c h t s c h n u r u n s e r e s G l a u b e n s ist u n d daß das H e i l allein i m Glauben empfangen wird."

Indem wir dies aufgreifen, sind wir auf dem gemeinsamen Wege der evangelischen Kirche, die von der Reformation, von der Wiederentdekkung des Evangeliums durch Martin Luther herkommt. 2. Die zweite Frage, die an uns gestellt ist, ist die Frage nach der kirchlichen Existenzberechtigung innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ist die altpreußische Kirche nicht ein territorialistisch-

Neuordnung der Ev. Kirche der Union

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restauratives Gebilde, das durch seine Existenz notwendig ein Hindernis auf dem Wege der Evangelischen Kirche in Deutschland ist und darum am besten so schnell wie möglich aufzulösen ist, indem nur ihre Gliedkirchen noch übrigbleiben? Auch hier frage ich, ob wir dazu die Vollmacht haben oder ob wir nicht in der Gemeinschaft, deren wir uns aufs neue gewiß geworden sind, daran festhalten müssen, eine „Gemeinschaft evangelischer Kirchen im Dienst am Evangelium" zu sein, eine Gemeinschaft evangelischer Kirchen, die in der Gemeinschaft der Verkündigung des Wortes Gottes besteht, in der die Angehörigen aller in der Evangelischen Kirche in Deutschland geltenden Bekenntnisse unbeschadet der allgemeinen Kirchenzucht ohne Einschränkung zum heiligen Abendmahl zugelassen werden, eine Kirche, in der man sich bewußt ist, aufeinander zu hören, „die Last der unter uns bestehenden Lehrunterschiede zu tragen in gemeinsamer Beugung unter Wahrheit und Verheißung des Wortes Gottes und im gemeinsamen Bekennen des Evangeliums zu beharren und zu wachsen". Der Unterschied zwischen uns und einer konfessionell einheitlichen Kirche scheint darin zu bestehen, daß wir meinen, dazu berufen zu sein, die Last der bestehenden Lehrunterschiede in gemeinsamer Beugung unter Wahrheit und Verheißung des Wort Gottes zu tragen, sie weder zu negieren noch zu bagatellisieren, sondern uns unter sie zu stellen in der Gewißheit, daß die Wahrheit und Verheißung des Wortes Gottes über uns den Sieg behalten wird. Diese Frage wird also nach meiner persönlichen Uberzeugung auch mit Nein zu beantworten sein. Wir sind kein Hindernis auf dem Wege der Evangelischen Kirche in Deutschland. 3. Die uns gestellten kritischen Fragen wollen wir als Aufgaben ansehen, deren echte Lösung uns aufgetragen ist. Es hat wirklich keinen Zweck, die alten Formulierungen dauernd gegeneinander zu wiederholen, sondern wir müssen uns an die Arbeit machen und in unserer Mitte die Fragen, die uns gestellt worden sind, gerade auch aus ihren Mißverständnissen, aus ihrer Verkehrtheit befreien, weil in der Tat Fragen darin stecken, die uns ernstlich beschäftigen, Fragen, die in Wirklichkeit quer durch die ganze Evangelische Kirche in Deutschland, ihre Theologie und kirchliche Arbeit hindurchgehen. Es muß und kann sich erst in concreto erweisen, ob das, was wir heute und jetzt etwa in den bekennenden Worten unseres Grundartikels sagen, von uns auch gehalten, auch wirklich bekennend durchgehalten wird, ob wir das, was wir uns hier versprochen haben, in statu confessionis, im brüderlichen Dienst, in der Arbeit der Liebe, in der Tat des Opfers und des Lastenausgleichs werden bewähren können oder nicht. Die kritischen Fragen, die uns gestellt sind, empfinden wir als Aufgaben, denen wir uns wirklich nicht entziehen wollen. Wir wollen mit den Brüdern der anderen Kirchen innerhalb der E K D uns darum bemühen, sie recht zu beantworten.

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Neuordnung der Ev. Kirche der Union

Also in Summa: In der an unserer Arbeit geübten Kritik haben wir nichts zu hören bekommen, was uns ernstlich die Frage stellte, ob wir das, was wir im Dezember 1950 angefangen haben, nicht heute verwerfen müßten. Ich meine, wir dürften ohne einen Zweifel an der Verantwortbarkeit unseres Entwurfs der Neuordnung daran gehen, alles noch einmal zu bedenken und zu beraten und dann zu einem endgültigen Beschluß zu kommen in der Linie, die uns bisher in großer Einmütigkeit miteinander vereinigt hat.

Was sagt die Kirche zum Recht auf Heimat?"" 1. Begriff der Heimat Seit Jahren wird in Deutschland über die Frage nach dem Recht des Menschen auf Heimat diskutiert. Die Erörterung in der Zeitschrift „Der Remter", dem maßgebenden evangelischen Organ für die Fragen der Vertriebenen, zeigt die große Schwierigkeit, hierüber zu einer Klarheit und Einmütigkeit zu kommen. Die Dinge scheinen nicht viel anders zu liegen als in der Frage der atomaren Rüstung und des Krieges überhaupt, in der trotz jahrelanger Bemühungen auch keine gemeinsame Antwort zu finden ist. So müssen wir uns auch bei der Erörterung unserer Frage damit begnügen, Versuche eines Beitrages zur Diskussion zu machen, ehe man daran gehen kann, so etwas wie ein „Wort der Kirche zum Recht auf Heimat" zu proklamieren. Vielleicht wird man es überhaupt nicht können, aber entschieden ist auch diese Frage noch nicht. Die erste schwierige Frage unseres Themas ist nach der bisherigen Diskussion die, was unter Heimat zu verstehen ist. Man hat sich viel Mühe gemacht, das Wort Heimat zu umschreiben, den Begriff zu definieren - aber ein Ergebnis ist bisher noch nicht sichtbar geworden. So müssen wir uns vorerst mit unseren Vorstellungen von Heimat, die wir ja offenbar alle irgendwie haben, begnügen. Wir wissen alle, was zur Heimat gehört: die Landschaft, die Bauten der Menschen, die Erde und der Himmel darüber, aber natürlich auch die Menschen dieses Heimatlandes, der Heimatstadt oder des Heimatdorfes. Sicher enthält das Wort Heimat auch etwas von der Geborgenheit des Menschen, von Wohnsitz, Besitz, Recht, Geschichte usw. U m so schwerer wird man es definieren können!

2. Recht auf Heimat Die zweite Frage ist: Was soll unter Recht auf Heimat verstanden werden? Diese Formel kann etwas ganz Verschiedenes bedeuten. Wir reden vom „Recht auf etwas" im ethischen Bereich, aber auch im juristischen Sinn, und schließlich auch politisch! So wäre auch vom * Stuttgart 1961 (Kirche im Volk. 26). - Zusammenfassung eines Vortrages auf einer Tagung für Vertriebenenfragen der Evangelischen Akademie in Mülheim.

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Was sagt die Kirche zum Recht auf Heimat?

Recht auf Heimat im ethischen Sinne - als eine sittliche Forderung, um deren Erfüllung es geht - zu reden. Das Recht auf Heimat wäre eine Besonderheit des Rechtes auf Leben, auf Arbeit usw. Es würde so etwas sein wie die „Menschenrechte", von denen das 18. Jahrhundert zuerst sprach und die man weithin für die Grundlagen der menschlichen Existenz oder der menschlichen Gesellschaft in der Welt hält. Daraus würde dann etwa eine juristische Feststellung über das Recht auf Heimat zu folgern sein - vielleicht eine grundlegende Rechtsordnung im Völkerrecht. Und es ist gewiß, daß eine derartige Festsetzung von weittragender Bedeutung wäre für das Zusammenleben der Völker auf Erden. Es wäre nämlich wahrscheinlich nicht möglich, eine völkerrechtliche Festlegung des Rechtes auf Heimat zu treffen, wenn nicht auch zugleich das Recht auf Kriege und die Eroberung von Gebieten aufgehoben würde. Jedenfalls ist der Begriff des Rechtes auf Heimat auch eine politische Formel. Und zwar hier im Konkreten: die Behauptung des Rechtes auf Besitz oder auf Zuweisung einer bestimmten Heimat für bestimmte Menschen. Man wird nicht leugnen können, daß es solche politische Forderungen geben kann, aber auch, daß sie besonders umstrittene Forderungen sind.

3. Auftrag der Kirche Was kann nun die Kirche angesichts dieser Problemlage zum Recht auf Heimat sagen? Vielleicht ist es nicht verkehrt, die Heimat zu den Dingen zu rechnen, die Luther in der Erklärung der vierten Bitte des Vaterunsers unter dem täglichen Brot begreift. Bei ihm kommt das Wort Heimat nicht vor, aber man könnte es ohne weiteres hinzufügen. Denn Heimat gehört wirklich zum täglichen Brot, zu des Menschen „Notdurft", das heißt zu dem, was der Mensch zum Leben auf Erden braucht. Darum ist Heimat ein Gegenstand unseres Dankes und unseres Gebetes. Wir dürfen Gott dafür danken, wenn er uns Heimat gibt. Wir dürfen ihn bitten, sie uns zu lassen oder uns Heimat wiederzuschenken. Aber für alles tägliche Brot, dafür wir Gott bitten, sollen wir uns auch mühen. Gott legt seine Gabe in unsere Verantwortung, und er erwartet, daß wir sie recht gebrauchen. Wir dürfen sie nicht mißbrauchen. Wir dürfen sie unseren Mitmenschen nicht versagen. Beides wäre gegen Gottes Willen. Das gilt auch von der Heimat. Aber nun ist die Frage: Was heißt jetzt „Recht auf Heimat"? Gibt es ein Recht auf das tägliche Brot? Bitten wir nicht Gott deswegen darum, weil wir wissen, daß wir kein Recht auf das tägliche Brot haben, sondern es allein „mit Danksagung" und das heißt ohne Verdienst und Würdigkeit empfangen können? Gott gegenüber jedenfalls kann von einem

W a s sagt die Kirche z u m R e c h t auf H e i m a t ?

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Recht des Menschen, von unseren Rechtsansprüchen auf Leben, Brot, Arbeit usw. nicht die Rede sein. Denn der Mensch als Sünder hat Gott gegenüber kein Recht auf Leben. Das hat er durch seine Schuld verwirkt. Nur wer dies ganz ernst nimmt, kann verstehen, was das heißt, die Heimat als Gottes unverdiente und unverdienbare Gabe zu empfangen. Es gibt für uns sündige und von Gott geschiedene Menschen keine Forderung, kein Anrecht auf irgendeine Gabe Gott gegenüber. Hier können wir nun um seine Barmherzigkeit bitten und für seine Güte ihm danken. Aber Gott hat einen Anspruch an uns! Von ihm zeugt das Liebesgebot. Gott will, daß wir unserm Mitmenschen das Leben, da tägliche Brot gewähren. Denn durch uns will Gott den Menschen täglich Brot zuteil werden lassen. Im Mitmenschen und seiner Existenz begegnet uns Gottes Anspruch: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserem Nächsten . . . " So erklärt Luther die Gebote Gottes! Das heißt: Es gibt das Recht des Mitmenschen an uns, das göttliche Anrecht auf Hilfe, Liebe, Unterstützung - auf alles, was der Mitmensch braucht. Es ist immer das Recht des andern, nicht unser eignes. Denn unser eignes Recht liegt in Gottes Hand. Aber das unseres Nächsten legt Gott in unsre Hand. So verkündigt es uns die Bibel. So redet der Herr in Auslegung der Gebote zu uns. Das ist darum ein Grundsatz der christlichen Ethik! Das Liebesgebot sagt uns also: Wir haben unserem Mitmenschen sein Recht auf Heimat zu gewähren. Wir haben dazu zu helfen, wenn er heimatlos ist, daß ihm aufs neue Heimat durch unsere Hilfe und Liebe zuteil wird. Dies Liebesgebot hat die Kirche aber natürlich auch aller Welt zu predigen. Sie hat gegen Lieblosigkeit und Vergewaltigung, gegen Raub und Zerbruch der Gerechtigkeit ihre Stimme zu erheben. Jedoch nicht so, daß sie zu Taten der Vergeltung aufruft, daß sie den Zorn, die Rache beschwört, sondern in der Nachfolge ihres Herrn hat sie zur Versöhnung zu rufen: das Böse mit Gutem zu überwinden. Daraus folgt, daß die Kirche allen Verantwortlichen im politischen Leben der Völker zu verkündigen hat, was Gott von ihnen erwartet, was ihr obrigkeitlicher Auftrag ist, zu dem Gott sie mit diesem Amt ausgestattet hat: „für Recht und Frieden zu sorgen". Bei allem, was sie unternehmen, daran zu denken, daß das Recht, das Gott dem Menschen läßt, und der Friede, den Gott für das Zusammenleben der Menschen will, nach Kräften besorgt werden. Kann man von der Kirche mehr verlangen? Manche meinen es. Aber es ist mir eine Frage, ob es nicht eine Grenze für das Wort der Kirche gibt. Jedenfalls, meine ich, könnte die Kirche in Wahrung ihres Auftrags nicht von den „Grundrechten des Menschen" predigen, da diese nicht im 9

Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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Was sagt die Kirche zum Recht auf Heimat?

Worte Gottes begründet sind. Darum kann sie auch nicht das „Recht auf Heimat" als ein Grundrecht des Menschen im Namen Gottes verkündigen. In diesem Sinne gibt es kein „göttliches Recht" auf Heimat, über das der Mensch im Namen Gottes verfügen kann. Die Kirche kann erst recht nicht über das bestimmte Recht bestimmter Menschen auf eine bestimmte Heimat im Namen Gottes entscheiden. Genausowenig wie die Kirche als solche im Namen Gottes ein bestimmtes Staatsrecht, eine bestimmte Staatsform, sei es die Demokratie, oder bestimmte politische Entscheidungen eines Staates, seien es Verträge oder Gesetze, in jedem Falle als Gottes Gebot oder Verbot beurteilen kann. Die Kirche darf hier von niemand überfordert werden. Die Diskussionen des letzten Jahrzehntes über die politische Ethik haben dafür einen eindrucksvollen Beweis erbracht. Die Kirche ist in ihrem Auftrag, Gottes Wort zu verkündigen, daran gebunden, nichts über das hinaus zu predigen, was im Worte Gottes Heiliger Schrift offenbart ist. 4. Aufgabe der Christen Anders liegt es nun allerdings bei den Aufgaben der einzelnen Christen, die je nach ihren Amtern verschieden sind und die von der Aufgabe der Kirche durchaus unterschieden werden müssen. Der Christ in politischer Verantwortung, in obrigkeitlichen Amtern kann durchaus in die Lage versetzt werden, das Recht auf Heimat, und zwar im politischjuristischen Sinne, zu vertreten. Hier geht es dann um die Vertretung eines bestimmten Rechtes bestimmter Menschen auf ihre Heimat. Nur in der konkreten geschichtlichen Situation kann hier erst das Recht vertreten werden. Nicht abstrakt, nicht ideologisch, sondern in den Gegensätzen menschlicher Geschichte, in Auseinandersetzungen gegensätzlicher Rechte und Ansprüche verschiedener Menschen und Völker. Aber hier darf nicht „im Namen Gottes" das politische Recht, das umstrittene, das fragwürdige, weil von anderer Seite in Frage gestellte Recht vertreten werden, sondern nur unter Berufung auf menschlich-geschichtlich begründete und vertretbare Rechte, Anrechte und Ansprüche. Das heißt also: Über die konkrete Frage von heute, das Recht der ostdeutschen Heimatvertriebenen auf Rückkehr in ihre frühere Heimat mit allem, an was dabei gedacht wird (zum Beispiel Wiederherstellung des deutschen Staates in den Grenzen von 1937) - kann nicht aufgrund eines theoretischen Grundrechtes der Menschen auf Heimat entschieden werden, auch nicht durch die Kirche unter Berufung auf ein göttliches Recht im Namen Gottes. Sondern unter Christen, die miteinander unter Gottes Evangelium und Gebot stehen, muß um eine Klärung zu rechter

Was sagt die Kirche zum Recht auf Heimat?

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Entscheidung dieser konkret geschichtlich-politischen Frage gerungen werden, wobei alle Gesichtspunkte, um die es hier geht, in Betracht zu ziehen sind, zum Beispiel die des Weltfriedens, die der Auswirkungen der Vergangenheit für die Gegenwart im Verhältnis der beteiligten Staaten und Völker. Der Christ ist frei von allem Fanatismus, von allem Nationalismus, er ist befreit zum Gehorsam gegen Gottes Wege und Forderungen. Er ist sogar dazu befreit, um Gottes willen unter Umständen auf „sein Recht" verzichten zu können. Schon oft haben das Christen vermocht. Sie haben sogar ihre Heimat preisgegeben um ihres Glaubens willen. Denn es gibt Größeres als die Heimat für den Christen, der gewiß ist, daß sein Bürgertum, sein Heimatrecht im Himmel ist. Was von ihm je und je gefordert ist, was morgen oder übermorgen gefordert sein kann, das kann man nicht ein für allemal festlegen, man kann es nicht in eine „Parole" vom Recht auf Heimat fassen. Man kann nicht voraussagen, was das Liebesgebot Gottes von uns fordern wird - nur eins ist gewiß: Weil es Gottes gnädiges Gebot ist, ist es auf jeden Fall das für die Welt und für uns Gute. Wir haben darum um nichts dringender besorgt zu sein, als nach dem Willen Gottes für uns zu fragen, wie er uns in Jesus Christus kundgetan ist. Hier sollte die wahre Hilfe gesucht und gefunden werden, die die Kirche in der Frage unseres Themas geben kann: denn wir beten nach Jesu Christi Anleitung, noch bevor wir um das tägliche Brot beten, daß nicht unser, sondern Gottes Wille geschehe bei uns auf Erden, wie er im Himmel geschieht.

Die Bibel und das Vaterland Gespräch mit den SPIEGEL-Redakteuren Werner Harenberg und Friedrich Kassebeer* SPIEGEL: Herr Präses, es gibt gegenwärtig kaum einen evangelischen Bischof oder Präses, der sich nicht zu politischen Fragen äußert. Wie ist diese politische Hausse in Ihrer Kirche zu erklären? BECKMANN: Sie nennen es Hausse, ich würde einen freundlicheren Ausdruck wählen. Die Erklärung: Die Kirche muß stets und überall, besonders aber in Krisenzeiten, die politischen Fragen in das Licht des Zuspruchs und Anspruchs Jesu Christi stellen, den Christen helfen, sich zu orientieren. SPIEGEL: Je mehr Geistliche sich äußern, um so schwieriger wird es für den schlichten Protestanten, der auf das Wort der Kirchenführer hört, sich zu orientieren. Fast jeder Bischof, Präses oder Kirchenpräsident - von den Theologieprofessoren ganz zu schweigen - stellt einen neuen Wegweiser auf. Wer soll sich da noch zurechtfinden, wenn häufig sogar der eine Oberhirte dem anderen widerspricht? BECKMANN: Sie zeichnen ein gar zu düsteres Bild. Die Einmütigkeit in wesentlichen Fragen ist größer als es manchmal scheint. SPIEGEL: Erlauben Sie uns, ein Beispiel dafür zu nennen, wie gegensätzlich die politischen Ansichten geistlicher Herren sind. Mitte Juni hielten zwei prominente Lutheraner politische Reden, der thüringische Landesbischof Mitzenheim auf dem Ostberliner Nationalkongreß, der Hamburger Professor Thielicke im Bonner Bundeshaus. Beide fanden Beifall. Mitzenheim, weil er sagte, der Kongreß - Hauptredner: Ulbricht - werde das deutsche Volk einen Schritt weiterbringen, Thielicke, weil er forderte, man müsse lernen, die Bundesrepublik als Vaterland zu lieben. Jeder der beiden Herren war seiner Obrigkeit gefällig - getreu nach Römer 13: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat." BECKMANN: Diese Koinzidenz war in der Tat bemerkenswert. . . SPIEGEL: . . . weil sie doch wohl symptomatisch ist: Die Lutheranerhüben Lilje, drüben Mitzenheim - scheinen im Westen wie im Osten

Aus: DER SPIEGEL, Nr. 31 vom 1. August 1962, S. 32-40.

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regierungsfreundlicher zu sein als die Unions-Christen drüben früher Scharf, heute Krummacher, hüben beispielsweise Sie. BECKMANN: Ich glaube auch, ja. Das hängt mit der Tradition zusammen. In den Unions-Kirchen herrscht durch Einflüsse Calvins und Karl Barths die Auffassung, daß man nicht ohne weiteres die jeweilige Regierungsform als die gottgegebene, unabänderlich verfügte ansehen soll. Folge: Ein Christ darf unter Umständen auch revolutionär denken. SPIEGEL: Und die Lutheraner legen den Obrigkeitsbegriff aus Römer 13 strenger aus. BECKMANN: SO ist es. Wobei natürlich anzumerken ist, daß Mitzenheim auch seinen eigenen Lutheranern Kummer macht. SPIEGEL: Aber haben Sie nicht auch hier im Westen Kummer mit den Lutheranern? BECKMANN: N a j a , m i t einigen . . .

SPIEGEL: Halten Sie es beispielsweise wie Thielicke für notwendig, daß der Begriff „Vaterland" wieder in den christlichen Sprachschatz aufgenommen, wieder strapaziert wird? BECKMANN: Ich weiß nicht, ob Sie nicht dieser Passage in Thielickes Rede zuviel Gewicht beimessen. SPIEGEL: Der Gefahr würden wir uns sicher nicht aussetzen, wenn wir das, was Thielicke im patriotischen Teil seiner Rede sagte, nicht schon vorher im „Deutschen Pfarrerblatt" gelesen hätten. Der Autor hieß allerdings anders: Wilhelm Halfmann, Bischof in Kiel. BECKMANN: A h ja.

SPIEGEL: Und in einem Punkte ging Halfmann sogar noch weiter als sein Nach-Redner. Manche Theologen, denen im Dritten Reich das „Staatliche, Nationale und Vaterländische" suspekt geworden ist, halten laut Halfmann an dieser Distanzierung „gegenüber den Verhältnissen, in denen wir heute leben", fest. Das heißt doch wohl, daß manche Theologen über den Bonner Staat zu kritisch denken. BECKMANN: Man weiß natürlich nicht, wen er damit gemeint hat. SPIEGEL: Sicher nicht namenlose Pfarrer, die irgendwo auf dem Dorfe sitzen. BECKMANN: Wenn er auf einen sogenannten Prominenten abhob, dann wahrscheinlich auf Martin Niemöller. SPIEGEL: Vielleicht auch auf Sie? BECKMANN: Das glaube ich nicht. Soweit kenne ich ihn. Aber immerhin fühlte ich mich insofern angesprochen, als ich im vergangenen Jahr einmal gesagt habe, daß in Deutschland eine Art von Vaterlandsliebe hochgezüchtet worden ist, die mit einem merkwürdigen, verhängnisvollen Fanatismus behaftet war. SPIEGEL: Halfmann nennt es „religiöse Verklärung". BECKMANN: Und zu diesem Fanatismus haben Fichte und Arndt, um

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nur die beiden zu nennen, ihr Teil beigetragen. Denken Sie nur an Arndts Satz: „Ein Volk zu sein, das ist die Religion unserer Zeit." SPIEGEL: Den Satz fanden wir auch bei Halfmann, sogar vollständig: „Ein Volk zu sein, ein Gefühl zu haben für eine Sache, mit dem blutigen Schwert der Rache zusammenzulaufen, das ist die Religion unserer Zeit." Und in dem bischöflichen Zitatenschatz fehlt auch Theodor Körner nicht. BECKMANN: Zu diesem christlich verbrämten Gerede vom Vaterland . . . SPIEGEL: . . . das neuerdings wieder sehr modern geworden ist. . . BECKMANN: . . . sage ich ganz entschieden nein. Was wirkliche Vaterlandsliebe ist, können wir in Deutschland gerade von denjenigen lernen, für die diese Liebe früher wie heute selbstverständliche, gute, aber auch nüchterne Sache war und ist, die man hat, von der man aber nicht viel redet, so wie ein anständiger Mensch unauffällig eine gute Krawatte trägt. Auf deutschem Boden muß endlich ein Strich gezogen werden gegenüber der falschen Verherrlichung des Vaterlandes als des höchsten Gutes. Wir müssen auch von den Amerikanern lernen. Das sind sicher große Patrioten, aber sie reden nicht dauernd vom Vaterland. SPIEGEL: SO i s t e s .

BECKMANN: Es wäre verhängnisvoll, wenn die evangelische Kirche wieder zum Hort solcher Gedankengänge würde, für die sich eine Zeitlang . . . SPIEGEL: . . . mindestens anderthalb Jahrhunderte lang . . . BECKMANN: . . . zuständig fühlte. Man muß den Mut haben, mit dieser Tradition zu brechen. Es geht nämlich nicht nur um Begriffe, sondern um die Grundeinstellung zum Staate, zur Politik. SPIEGEL: Darauf wollen wir hinaus. BECKMANN: Die Tradition war: Der evangelische Pastor steht rechts, er ist konservativ, er ist königstreu. Das war früher die einzig möglich scheinende Position. Das weiß ich sehr gut, denn mein Vater, der ja Pfarrer war, rümpfte stets die Nase, wenn von Demokraten gesprochen wurde, und meinte als guter Monarchist, die Demokratie wäre in Deutschland der Anfang vom Ende, und wer sein Vaterland liebt, dürfe die Obrigkeit nicht tadeln. SPIEGEL: Diesem Weltbild Ihres Vaters ist Bischof Halfmann treuer geblieben als Sie. BECKMANN: Ja. Damals war es im Grunde einfach, da wurde auf den Kanzeln politisch geredet, immer in der gleichen Richtung: Kaisertreue, Vaterland und so weiter. Der evangelische Christ sollte der beste, der unkritischste Patriot sein. SPIEGEL: Immerhin war es damals für die Christen einfach, sich zu orientieren: treu kaiserdeutsch allerwege. Heute ist es schwieriger, fast

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unmöglich: Die Bischöfe und Präsides bieten einen kunterbunten Blumenstrauß politischer Meinungen an. Und Theologen wie Thielicke, die ihre Reden und Aufsätze schneller produzieren als überhaupt jemand sie konsumieren kann, stecken dann, sooft sie können, noch ein Tausendschönchen oder auch nur ein kleines Vergißmeinnicht dazu. BECKMANN: Das sind, so würde ich sagen, Kinderkrankheiten, die die Kirche in der Demokratie durchstehen muß. SPIEGEL: Das kann die Kirche überwinden? Sie meinen, daß die Kirchenführer je eine halbwegs solide, gemeinsame politische Basis finden werden? BECKMANN: Die brauchen wir nicht erst zu finden, die haben wir schon. SPIEGEL: N a n u ?

BECKMANN: Es hat sich gezeigt, daß wir durch die Diskussionen, durch die Spannungen hindurch zu gemeinsamen Uberzeugungen kommen. Nehmen Sie nur die Frage des Friedens. Vor 50, 60 Jahren hätte man sagen müssen: Die Kirche steht zu Krieg und Frieden neutral, das ist eine Sache, die nur die Staaten angeht. Gibt es Krieg, so ist es Gottes Befehl, dann wird eben geschossen. Heute bekennt sich die Kirche zum Frieden, sie fordert ihre Mitglieder auf, etwas für den Frieden zu tun und den Krieg zu verhindern. SPIEGEL: Aber wenn es dann ins Konkrete geht, wird es wieder kompliziert. Der eine Geistliche glaubt, er müsse zu Friedenskongressen nach Moskau fahren, der andere meint, er diene dem Frieden am besten, wenn er in die C D U geht und im Bundestag für die Atombewaffnung eintritt. BECKMANN: SO starke Gegensätze gibt es. Aber gerade zur Frage der Atombewaffnung existiert ein Beschluß der Synode der E K D , der doch eine weitgehende Ubereinstimmung zeigt. SPIEGEL: Herr Präses, dieser Beschluß ist - wir wollen uns zurückhaltend ausdrücken - so allgemein gehalten, daß ihm sowohl die MoskauFahrer unter Ihren Brüdern als auch die geistlichen CDU-Abgeordneten zustimmen konnten. Waren Sie denn mit diesem Minimum an Gemeinsamkeit zufrieden, das auf der Synode produziert wurde? BECKMANN: Ich hätte, offen gesagt, gewünscht, man hätte sich nicht mit diesem Minimum begnügt. SPIEGEL: Aber etliche Amtsbrüder wollten nicht so weit gehen wie Sie. BECKMANN: Ganz richtig, und wir hielten es für unfair, die Minderheit etwa zu überstimmen. SPIEGEL: Die Minderheit, die für Atombewaffnung war? BECKMANN: Die Minderheit, die eine andere Meinung über die Atombewaffnung hat.

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SPIEGEL: Und mit dieser Entscheidung haben Sie sich abgefunden. Es gab keine Einmütigkeit, also ist das Atomwaffen-Problem für die Kirche erledigt. BECKMANN: Nein, nein. Bei einer so großen Diskussion kann natürlich mal ein Erschöpfungszustand eintreten, kann man in eine Sackgasse geraten. Man wird neue Einsätze wagen müssen. Man ist sozusagen vor die Hürden gekommen, schafft den Sprung nicht, reitet zurück, versucht's ein weiteres Mal. SPIEGEL: Ein bißchen langweilig, immer nur bis zur ersten Hürde zu kommen und dann retour zu reiten? BECKMANN: Ich will es Ihnen offen sagen: In bestimmten Punkten dieser politischen Fragen sind wir in einer gewissen Verlegenheit. SPIEGEL: Das meinten wir von Anbeginn. BECKMANN: Schon, aber ich bin nicht bereit, Ihnen darin zuzustimmen, daß diese Verlegenheit ganz allgemein besteht, sondern sie existiert eben nur in einigen politischen Fragen, zum Beispiel beim AtomwaffenProblem. SPIEGEL: Wir bleiben dabei: in allen politischen Fragen. Das haben Sie ja selbst demonstriert, als Sie das Memorandum als einziger Geistlicher unterschrieben und eine Diskussion heraufbeschworen, die nun schon vier Monate dauert und noch immer nicht zu Ende ist. In dem Memorandum steht, daß die Bundesrepublik den „Souveränitätsanspruch auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie verloren geben" müsse. BECKMANN: J a .

SPIEGEL: Wie wollen Sie sich jemals mit den anderen Kirchen-Oberen, vom Kirchenvolk ganz zu schweigen, in dieser Frage auf einen politischen Standpunkt einigen? Sie können sich Deutschland ohne Schlesien, Pommern und Ostpreußen denken, der Kieler Bischof Halfmann aber hat noch immer die Vorstellung, zu den Staaten, in denen das deutsche Volk lebe, gehöre auch Osterreich. BECKMANN: Das ist tatsächlich eine extreme Ansicht. SPIEGEL: U n d Halfmann wäre deshalb sicher nicht wie Sie bereit gewesen, das Memorandum zu unterzeichnen. BECKMANN: Wohl nicht. SPIEGEL: U n d wenn man das Memorandum allen Bischöfen, Präsides und Kirchenpräsidenten der Bundesrepublik vorgelegt hätte - wie viele hätten unterschrieben? BECKMANN: Sicher hätte es ein großer Teil der Bischöfe und auch der anderen Kirchenführer nicht für opportun gehalten. Sie hätten wahrscheinlich gemeint, ein geistlicher Amtsträger solle sich da nicht hineinwagen. SPIEGEL: Sie halten also eine gemeinsame Stellungnahme der Kirchenführer zum Oder-Neiße-Problem für ausgeschlossen.

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BECKMANN: Sicher, das liegt nicht drin. Aber ich halte eine solche Stellungnahme auch weder für notwendig noch für richtig. Das Memorandum war gedacht als Diskussionsgrundlage für die verantwortlichen Politiker . . . SPIEGEL: . . . und sollte deshalb ursprünglich nicht veröffentlicht werden. BECKMANN: Ich hätte diese Sache natürlich auch nicht mitmachen können, wenn sie von vornherein als eine Deklaration gedacht gewesen wäre. SPIEGEL: Bedauern Sie Ihr Signum nun, nachdem das Memorandum publik gemacht worden ist? BECKMANN: Ich bedaure nur, daß das Memorandum veröffentlicht wurde. Wer heutzutage ein Tabu angreift wie etwa die Frage der Ostgebiete, der muß mit einer Fülle von Arger rechnen. Nun, das habe ich sozusagen als Risiko einkalkuliert. Aber ich glaube, daß die öffentliche Diskussion über diese Probleme nicht viel weiterführt, weil zuviel an Gefühlsmomenten mitspielt. SPIEGEL: Weil Sie als einziger Geistlicher unterschrieben haben, sind Sie in den R u f geraten, der einzige geistliche Verzichtpolitiker zu sein. BECKMANN: Ich glaube, daß es innerhalb und außerhalb der Kirche klar ist, daß ich mit meiner Ansicht nicht allein stehe. SPIEGEL: Darüber, in welchem Umfange Ihre Stellungnahme repräsentativ ist, kann man natürlich nur spekulieren. BECKMANN: Man kann jedenfalls keine Zahlen nennen. SPIEGEL: Sie haben nicht im Namen der 15,7 Millionen Protestanten unterschrieben, die den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche der Union angehören, also nicht als EKU-Vorsitzender? BECKMANN: Nein, das wäre, selbst wenn ich es wollte, nicht möglich, weil ja der E K U mehrere mitteldeutsche Kirchen angehören, und selbstverständlich können sich D D R - B ü r g e r nicht wie ich zu Fragen der Bonner Politik äußern, die ja in dem Memorandum behandelt wurden. SPIEGEL: Und Sie haben auch nicht im Namen der 3,6 Millionen rheinischen Protestanten unterschrieben, deren Oberhirte Sie sind? BECKMANN: N e i n .

SPIEGEL: Oder im Namen der 1340 Geistlichen der rheinischen Kirche? BECKMANN: Auch das nicht. Ich habe einfach persönlich Stellung genommen. Spiegel: Sie wollen gar nicht wissen, wie Ihre Pfarrer darüber denken? BECKMANN: Das brauche ich jedenfalls nicht zu erforschen. Für die Richtigkeit einer These ist der Grad der Zustimmung kein Beweis. SPIEGEL: Verzeihen Sie, klingt das nicht fast hochmütig? BECKMANN: Jeder Pfarrer wird Ihnen bestätigen, wie sehr ich um

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Kontakt mit jedem Bruder, mit jeder Gemeinde bemüht bin. Aber es ist doch ganz etwas anderes, ob ich als Präses mich um die Belange der Gemeinden kümmere oder ob ich als politischer Mensch eine Erklärung abgebe. SPIEGEL: Ihre Unterschrift hat mit der Kirche also gar nichts zu tun? BECKMANN: Sie hat insofern mit der Kirche zu tun, als ich sie abgegeben habe im Bewußtsein der Verantwortung meines Amtes. SPIEGEL: Herr Präses, seit Sie auf die Ostgebiete „verzichtet" haben . . . BECKMANN: In dem Memorandum steht, daß wir den Souveränitätsanspruch werden verloren geben müssen. SPIEGEL: N a ja, das ist ja wohl kein allzu wesentlicher Unterschied. Wegen dieser Stellungnahme werden Sie wahrscheinlich nicht mehr zu Heimattreffen der Vertriebenen eingeladen. BECKMANN: D a s ist m ö g l i c h .

SPIEGEL: Und bei den Treffen der Schlesier, Pommern und Ostpreußen sprechen dann andere Geistliche, zitieren die Bibel und begründen ein angeblich göttliches Recht auf die Heimat. Und da von Heimat und Vaterland in der Bibel kaum die Rede ist, muß man sie entsprechend interpretieren. Darf man die Bibel so auslegen, wie es den Menschen wohlgefällig ist? BECKMANN: Das ist eine wichtige Frage, die natürlich die evangelische Kirche überhaupt angeht, wenn sie aufgrund der Heiligen Schrift predigt. SPIEGEL: Bleiben wir bei dem Beispiel: Was halten Sie von den Bibelzitaten auf den Heimattreffen? Würden Sie auch so etwas tun? BECKMANN: Nein, ich sehe die Dinge anders. Ich habe vorhin gesagt, man müsse die politischen Fragen in das Licht des Zuspruchs und des Anspruchs Jesu Christi rücken. Und da würde ich zum Problem der Ostgebiete sagen: Ich empfinde es als einen Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes, daß er uns für die ungeheuerlichen Dinge, die in Deutschland und durch Deutschland geschehen sind, mit bestimmten Folgerungen bestraft. Es ist überhaupt ein Wunder, daß von Deutschland soviel übriggeblieben ist. Es ist eine unbegreifliche Barmherzigkeit Gottes, daß er uns soviel neue Chancen des Wiederaufbaus geschenkt hat. Und nun sollen wir nicht dastehen und alles zurückfordern, was wir einst hatten. SPIEGEL: Nun könnten Ihre Gegner sagen: Das ist wieder seine Privatansicht, das kann er nicht aus der Bibel begründen. BECKMANN: Natürlich läßt sich das nicht einfach aus der Bibel begründen. Aber in der biblischen Geschichte begegnet uns Gott, der Israel für seine Sünden straft. . . SPIEGEL: Zweites Buch Moses. BECKMANN: . . . der ihm Gebiete abnimmt, der das Land teilt. Die

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Juden werden deportiert und kommen als arme Leute zurück. Das sind doch Hinweise darauf, wie Gott mit den Völkern verfährt. SPIEGEL: Solche Sätze standen nicht im Memorandum. BECKMANN: Das war ein rein politischer Text. Aber die Voraussetzung für meine Unterschrift war eben meine theologische Uberzeugung, die ich der Bibel entnommen habe. SPIEGEL: Und andere Christen, andere Geistliche denken anders darüber und strapazieren die Bibel, um den Leuten das zu sagen, was sie hören wollen. BECKMANN: Man muß sich natürlich vor Verallgemeinerungen hüten. Aber ich räume ein, daß es so etwas gibt. Nicht nur auf Heimattreffen . . . SPIEGEL: ES gibt auch Geistliche, die auf diese Art dem Staat, der Regierung gefällig sind. BECKMANN: Ich will offen gestehen, daß es auch für dieses Phänomen eine traurige Tradition im deutschen Protestantismus gibt. Ich denke an die Hofprediger in den deutschen Kleinstaaten, die es sich zur Aufgabe machten, den Fürsten nach dem Munde zu reden und vor der Gemeinde zu predigen, wie gut der König oder der Herzog sei. Dieses staatskirchliche Denken ist heute noch lebendig. SPIEGEL: Wie drückt es sich aus? BECKMANN: In der Scheu, etwas anderes zu sagen als der Staat, die Obrigkeit, überhaupt in der Abneigung, kritisch zu politischen oder auch nur zu allgemein-gesellschaftlichen Fragen Stellung zu nehmen. Aber dieses engstirnige Denken, wie ich es nennen möchte, ist erfreulicherweise schon weitgehend überwunden. SPIEGEL: S O ?

BECKMANN: Ja, ich könnte es Ihnen an vielen Beispielen erläutern. Nehmen Sie doch nur das Problem der Geburtenkontrolle. Da sind wir ein gehöriges Stück vorangekommen. SPIEGEL: Wirklich? Gewiß, Sie haben vor einiger Zeit als erster Geistlicher von Rang die familiäre Geburtenkontrolle, die Empfängnisverhütung, bejaht. Aber stehen Sie damit nicht heute genauso allein wie vor 30 Jahren, als Sie - damals noch Pfarrer der Frauenhilfe - auch schon den evangelischen Ehepaaren die Empfängnisverhütung erlauben wollten? BECKMANN: Ich kann Ihnen da nicht zustimmen. Damals waren wir wirklich nur wenige, im Grunde nur ein paar junge Leute. Wir sagten uns: Die Synoden, die Kirchentage riskieren nicht, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, deshalb machen wir erst einmal einen Entwurf. SPIEGEL: Der ist dann zwar gedruckt, aber totgeschwiegen worden. BECKMANN: Er wurde innerhalb der Kirche natürlich diskutiert, aber es kam nicht zu einem offiziellen Beschluß. Insofern machte sich das

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engstirnige Denken bemerkbar, von dem ich eben sprach, das aber nur für Deutschland typisch war und leider zum Teil heute noch ist. Bei uns gab es früher für die meisten, gibt es heute noch für viele Geistliche Tabus, die man aus einer Prüderie heraus, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, nicht anrühren will. SPIEGEL: Aber diese Prüderie ist doch offenbar unter Ihren Amtsbrüdern noch weit verbreitet. Sie haben ja selbst bezweifelt, daß die E K D , die Evangelische Kirche in Deutschland, je offiziell die Empfängnisverhütung gutheißen wird. BECKMANN: Das habe ich vor einigen Monaten gesagt. Inzwischen habe ich so viele Zeichen der Zustimmung, begeisterte, freudige Briefe bekommen, daß ich ganz optimistisch bin. Ich würde sagen: Faktisch ist die Position, die ich befürworte, schon bezogen, sie ist nur noch nicht publik, noch nicht „offiziell". SPIEGEL: Herr Präses, nun kann man natürlich einwenden, die Kirche brauche sich nicht unbedingt zu diesem Problem zu äußern, weil die meisten Ehepaare, auch die frommen, schon seit Jahren . . . BECKMANN: . . . mit mehr oder weniger Geschick die Geburtenkontrolle üben. Das ist schon wahr. Die Kirche ist immer in Gefahr, hinter der Entwicklung zurückzubleiben. Aber natürlich würde das Problem besser gelöst werden können, wenn . . . SPIEGEL: . . . offen darüber gesprochen würde? BECKMANN: Ja. Denn es gibt doch auch heute noch eine Fülle von Fällen, in denen die Betroffenen glauben, es bleibe ihnen nichts anderes als eine Abtreibung übrig. Man muß den Leuten einen Weg zeigen, wie es nicht dazu kommt. SPIEGEL: Ist das nun Sache der Kirche, der Geistlichen? BECKMANN: Natürlich ist es nicht Sache der Geistlichen, hier etwa präzise Ratschläge zu geben. Aber es wäre trotzdem gut, wenn eine Synode die Empfängnisverhütung - selbstverständlich nur aus ethischen, nicht allein aus materiellen Motiven - bejahen würde. Das wäre eine wesentliche Hilfe im Kampf gegen die vielen hunderttausend Abtreibungen, die jedes Jahr vorgenommen werden. Zu diesem Problem kann und darf die Kirche meines Erachtens nicht schweigen. Was dann im einzelnen zu tun und zu raten ist, ist natürlich Sache der Mediziner und anderer Fachleute. SPIEGEL: Vorläufig aber schweigt die Kirche. BECKMANN: Offiziell schweigt sie noch. Aber ich bin da ganz hoffnungsvoll. SPIEGEL: Herr Präses, solange aber die Kirche - zum Oder-NeißeProblem, zur Frage der .Empfängnisverhütung - nicht offiziell Stellung bezieht, nehmen Sie für sich das Recht in Anspruch, sozusagen vorzupreschen, sich zu heiklen politischen und gesellschaftlichen Problemen

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zu äußern, ganz gleich, ob Ihre Amtsbrüder, ob die rheinischen Protestanten anders denken als Sie? BECKMANN: Keinem Bischof, keinem Präses darf es verwehrt werden, sich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen so zu äußern, wie es seinem Gewissen entspricht. SPIEGEL: Das tut er dann als Privatmann oder allenfalls, wie Sie sagen, im Bewußtsein der Verantwortung seines Amtes. BECKMANN: Kein Träger eines evangelischen Kirchenamtes darf sich im allgemeinen anmaßen, für irgendeine kirchliche Institution oder gar für die Kirche als solche verbindlich zu sprechen. SPIEGEL: Im allgemeinen nicht, im besonderen doch? BECKMANN: Das ist unter anderem eine Frage des Selbstbewußtseins. Denken Sie an Luthers berühmtes Wort: In Worms war ich die Kirche"'. Solche Situationen sind auch heute denkbar. So hat beispielsweise Bischof Dibelius in Berlin sicher mehr als einmal ein großes Wort gesagt... SPIEGEL: Sie meinen doch nicht seine Erkenntnis, daß der D D R Christ seiner Obrigkeit Widerstand leisten müsse, sei es auch nur im Straßenverkehr? BECKMANN: Ich denke etwa an seine Predigten nach dem 13. August, als er angesichts der Mauer sagte, daß nichts die Christen trennen könne. SPIEGEL: Woran kann man denn nun unterscheiden, ob ein Geistlicher seine eigene Meinung sagt oder ob durch ihn die Kirche spricht? BECKMANN: Theologisch gesagt: O b die Kirche gesprochen hat, ist letzten Endes eine Frage, die nur im Jüngsten Gericht von Gott entschieden werden kann. SPIEGEL: Manche möchten's eher wissen. BECKMANN: Verständlich. Aber diese Leute müssen zunächst einmal lernen, streng zwischen dem evangelischen und dem katholischen Kirchenbegriff zu unterscheiden. SPIEGEL: In der evangelischen Kirche gibt es kein unfehlbares Lehramt, die Bischöfe und Präsides halten sich nicht für die Nachfolger der Apostel auf Erden. BECKMANN: Ganz recht. Evangelischer Grundsatz ist: Sola scripturadie Schrift allein. Folge: Was ein Bischof oder Präses sagt, ist nicht unbedingt verpflichtend, denn . . . SPIEGEL: . . . der Christ darf sagen: Ich lege die Bibel anders aus, ich habe einen anderen Standpunkt. BECKMANN: S o ist es.

* Auf dem Reichstag zu Worms 1521 weigerte sich Luther, seine Lehren zu widerrufen; daraufhin wurde über ihn die Reichsacht verhängt.

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SPIEGEL: Und wenn eine Synode, ein Kirchenparlament, einen Beschluß faßt? BECKMANN: Dann ist dieser Beschluß Ausdruck der Bemühungen eines verantwortlichen Kreises von Menschen, das Richtige aufgrund ihrer Kenntnis der Heiligen Schrift zu einer Sache zu sprechen - in der Hoffnung, ja vielleicht sogar in der Gewißheit, daß sie das richtige Wort gefunden haben. SPIEGEL: Aber auch ein solcher Beschluß ist für den einzelnen Protestanten nicht verbindlich. BECKMANN: Nein. Es gibt eben für den evangelischen Christen in seiner Kirche keine Stelle, die für ihn eine Entscheidung treffen kann. Der evangelische Christ muß lernen, in einer Kirche zu leben, in der es in vielen ethischen und politischen Fragen Spannungen gibt. Das darf ihn an der Kirche nicht zweifeln lassen. SPIEGEL: ES gibt also keine Person, keine Institution in der evangelischen Kirche, die in politischen oder sozialen Fragen etwas Verbindliches sagen oder beschließen kann. Wie kann die Kirche dann ihren sogenannten Offentlichkeitsanspruch, auf den sie pocht, realisieren; wie kann sie mitreden, mitbestimmen? BECKMANN: Da muß man natürlich unterscheiden zwischen der Kirche im theologischen Sinne - darüber haben wir eben gesprochen - und der Kirche als einer, nun ja, als einer Gruppe in der pluralistischen Gesellschaft. SPIEGEL: Bei den anderen Gruppen ist es einfacher. Wenn Kardinal Frings predigt, weiß jeder: Er sagt die Meinung der katholischen Kirche. Willi Richter kann immer für die Gewerkschaft sprechen, und Fritz Berg darf stets sagen: wir Industriellen. BECKMANN: Nun, dafür gibt es bei uns eine Entsprechung: Die Beschlüsse der Synoden und der anderen kirchlichen Gremien sind natürlich Dokumente, die vom Staat, von den anderen Gruppen der demokratischen Gesellschaft als Stellungnahmen der Kirche ernst genommen werden müssen, allein schon deshalb - von allen anderen, zum Teil viel wichtigeren Gründen mal ganz abgesehen - , weil wir, wenn ich es so kühn sagen darf, wahrscheinlich neben der katholischen Kirche die einzige gänzlich unabhängige Institution in Deutschland sind. SPIEGEL: W i r k l i c h ?

BECKMANN: Warum bezweifeln Sie das? Wegen des Geldes, das wir vom Staat kriegen? SPIEGEL: J a .

BECKMANN: ES ist für die Kirche allerdings eine merkwürdige Gefahr, wenn die weltlichen Mächte ihr wohlwollend gegenüberstehen . . . SPIEGEL: . . . und sie subventionieren. Diese Gefahr ist ja in der Bundesrepublik sehr groß.

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BECKMANN: Zweifellos. Es ist die Gefahr der Verweltlichung und der Vergleichgültigung der Kirche. SPIEGEL: Wie wollen Sie die Gefahr des Reichtums eindämmen, die der Kirche hier in der Bundesrepublik droht? BECKMANN: Ich bin aufs schwerste beunruhigt über die allzu leichten Möglichkeiten, wie die Kirche vom Staat Geld erhalten kann. Mir wäre es am liebsten, wir bekämen nicht soviel. SPIEGEL: Dann schlagen Sie doch mal ein paar Millionen aus. BECKMANN: Das geht aus einem ganz einfachen Grunde nicht: Wir können nicht alles der katholischen Kirche überlassen. SPIEGEL: Vielleicht können Sie mit Ihren katholischen Kollegen mal reden, sie auch zum Verzicht bewegen? BECKMANN: Darüber möchte ich nichts sagen. SPIEGEL: Herr Präses, in der Bekennenden Kirche galt der Satz: Die Kirche ist um so stärker, je unabhängiger sie von allen anderen Mächten ist. Nun scheinen Sie aber hier an der goldenen Kette zu liegen. BECKMANN: Für den Außenstehenden sieht es so aus. Aber natürlich bewahren wir uns die Unabhängigkeit im Denken, die wir uns in den langen Jahren des Kirchenkampfes erworben haben. SPIEGEL: Als Resultat denken, reden und schreiben nun die evangelischen Kirchenführer unabhängig voneinander. Deshalb gibt es das verwirrende Nebeneinander der individuellen Stellungnahmen und der gemeinsamen Beschlüsse. Wann soll sich nun der einzelne Kirchenführer, wann repräsentativ ein Kirchengremium äußern? Beckmann: Wenn es um innerkirchliche Fragen geht, um die Taufe . . . SPIEGEL: Dürfen wir bei der Politik bleiben? BECKMANN: Ich würde die Grenze da so ziehen: Zu rein politischen Fragen soll die Kirche als solche nicht Stellung nehmen. Es ist nicht ihre Sache, Politik zu machen oder den Anspruch der Weltbeherrschung zu stellen, wie er sich etwa auf katholischer Seite in den Enzykliken der Päpste darstellt. SPIEGEL: J a w o h l .

BECKMANN: Die Kirche soll Stellung nehmen, wenn es um ethische Probleme geht, die es ja auch in der Politik in nicht geringer Zahl gibt. Je stärker die ethische Komponente eines Problems ist, um so eher ist die Kirche imstande, ist sie aber auch verpflichtet, Stellung zu nehmen. SPIEGEL: Das kann dann dazu führen, daß die Kirche sich beispielsweise zur Frage der Kriegsdienstverweigerung äußert, die nur einige Hundert Leute betrifft, aber nicht zum Problem der deutschen Ostgebiete, das ja Hunderttausende tangiert. BECKMANN: Das muß man in Kauf nehmen, hier muß man die Eigenart der Kirche respektieren.

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SPIEGEL: Und zu den rein politischen Fragen . . . BECKMANN: . . . die eine geringere ethische Komponente haben . . . SPIEGEL: . . . nehmen nicht die Kirchengremien, sondern einzelne Kirchenführer individuell Stellung? Das ist dann eine Art Ersatz? BECKMANN: Warum nicht? Die Kirche hat als Gemeinschaft, als Institution begrenzte Möglichkeiten. SPIEGEL: Hauptgrund ist wohl, daß sich diese Gemeinschaft in vielen Fragen nicht einig ist. BECKMANN: Das ist durchaus einer der Gründe. Auch insofern sind die Möglichkeiten einer Synode begrenzt. Sie reichen nur so weit, wie die Uberzeugungskraft derer ausreicht, die eine Sache vertreten und die Mehrheit gewinnen wollen. Und dann sagt sich natürlich mancher: Zu dieser oder jener Frage muß ein Wort gesagt werden, die Synode wird dafür nicht zu gewinnen sein, also sage ich es allein. SPIEGEL: Meinen Sie, daß solche Äußerungen Gewicht haben, wenn man vermuten kann und muß, daß der Bischof oder Präses, der da spricht, viel lieber einen Beschluß der Synode zu dieser oder jener Frage gehabt hätte? Wie wollen Sie Kirchenfremde und Politiker überzeugen, wenn Sie schon an Ihren eigenen Amtsbrüdern scheitern? BECKMANN: Ich will ja - und ich glaube, ich darf da auch im Namen anderer Brüder sprechen, die sich vor politischen Tabus nicht scheuen nicht irgend jemandem eine Meinung aufzwingen. Ich will nur sagen: Dies müßt ihr auch bedenken. SPIEGEL: Also nur für Diskussion inner- und außerhalb der Kirche sorgen. BECKMANN: Für eine vertiefte Sicht der Probleme sorgen und natürlich in vielen ethisch-politischen, gesellschaftlichen Fragen einen gemeinsamen Standpunkt vorbereiten. SPIEGEL: Ein schwieriges Unterfangen, weil es fast so viele Meinungen wie Präsides, Präsidenten und Bischöfe gibt. Wird das nicht immer so bleiben? BECKMANN: Ich bin überzeugt, daß wir uns weiter entwickeln werden. Die gemeinsame Sicht der Dinge hat angefangen. Ich bin da ganz optimistisch. Nur müssen wir Zeit haben. SPIEGEL: Wieviel Zeit brauchen Sie? BECKMANN: Wir müssen überzeugen, müssen arbeiten, forschen, lehren, durchdenken. Das kann man nicht übers Knie brechen. Man muß in solchen Dingen in Generationen denken. SPIEGEL: Herr Präses, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Wiedervereinigung der Kirchen?"' Die Zerspaltenheit der Kirche als Frage an die Wahrheit ihrer Botschaft Es gehört ohne Zweifel zu den Zeichen der Zeit, daß in der Christenheit unserer Tage die Frage nach der Wiedervereinigung der gespaltenen Christenheit in einer weltumspannenden Kirche in einer erstaunlichen Breite neu lebendig geworden ist. Während in der Vergangenheit durch mehrere Jahrhunderte hindurch die N o t der Spaltung im großen und ganzen nicht sehr empfunden wurde und auch kein ausgesprochenes Verlangen nach der Einheit der Kirche spürbar war, ist dies in den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch in unserer Kirche in steigendem Maße anders geworden. Lange Zeit hindurch hatte man sich in Europa nach den erbitterten und vergeblichen „Religionskriegen" - daran gewöhnt, daß es immer mehr Kirchen und Sekten gibt, ja, man war zu der Uberzeugung gekommen, daß diese Entwicklung offenbar unvermeidlich ist, wenn man schon die Idee der Toleranz und der Religionsfreiheit als einen Grundpfeiler der modernen Gesellschaft gelten lassen will. Mit dieser Befreiung des Menschen vom Zwang des Staates oder der Staatskirche, einer bestimmten Religion oder Konfession anzugehören, also der Befreiung hinein in die Erlaubnis, seine Religion selbst zu wählen, eine neue christliche Konfession zu begründen oder auch eine selbstgeschaffene Weltanschauung zu vertreten, hängt es natürlich zusammen, wenn seit dem 18. Jahrhundert die Zahl der christlichen Konfessionen immer mehr zugenommen hat. Die mittelalterliche Einheit der Kirche, jenes scheinbar christliche Ideal einer christlichen Gesellschaftsordnung, war nur als eine Zwangseinheit unter einer gewaltigen Herrschaft haltbar, solange die Mächtigen gemeinsam an dem gesetzlichen Gebot des spätrömischen Reiches festhielten, der Staatsbürger müsse ein Christ, ein Mitglied der katholischen Kirche sein. Die Reformation hat in der Tat dieser Art von kirchlicher Einheit im Abendland ein Ende bereitet. Hat sie damit die christliche Kirche gespalten? Nein, denn diese war schon spätestens seit dem frühen Mittelalter in die beiden großen Kirchen des Westens und des Ostens auseinandergegangen. Vor allem aber kam es erst in der Reformation selbst zu der theologischen Erkenntnis, daß die Einheit der Kirche in

* Wuppertal 1962 ( „ D a s G e s p r ä c h " . 42). 10

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Wahrheit nach der Heiligen Schrift etwas anderes sei als die Einheit der römisch-katholischen Kirche. Die Vielfalt der christlichen Konfessionen nach der Reformation war keineswegs ein negativ zu bewertendes Zeichen des Zerfalls der Kirche. Im Gegenteil sprachen sich in diesen Konfessionen eine missionarische Kraft, ein lebendiger Glaube und ein echter Wille zur Existenz einer christlichen Gemeinde in der Welt aus, so daß sich in diesen Jahrhunderten des Auseinandergehens der Christenheit zugleich eine weltweite Expansion der christlichen Botschaft, eine bisher nie dagewesene „Ausbreitung des Christentums" ereignete. In ihrem Zuge wurde nicht nur Amerika ein christlicher Kontinent, sondern auch Afrika, Asien und Australien, das heißt also, alle außereuropäischen Kontinente wurden von Sendboten des christlichen Glaubens erreicht. Überall wurden Missionsstationen errichtet, die sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zu selbständigen christlichen Kirchen entwickelten. Gerade das 19. Jahrhundert, dem wir als Christen in Europa in mancher Hinsicht äußerst kritisch gegenüberstehen, war ein Jahrhundert der Mission wie kaum eins zuvor, und zwar durch die Erweckung einer großen Zahl von einzelnen Menschen in den verschiedensten Kirchen Europas und Nordamerikas, nicht durch Planungen und Organisierungen seitens der traditionellen Konfessionskirchen. Aber nun trafen sich die Missionare der vielen Kirchen, Konfessionen und Denominationen in Asien und Afrika. Ihre Arbeit wurde je länger, desto mehr zu einer Konkurrenz der anderen, und die Frage mußte immer dringender werden: Dürfen wir eigentlich so weitermachen und neben-, ja gegeneinander missionieren? Wird nicht die Botschaft, die doch eine ist, unglaubwürdig, wenn wir sie als gespaltene, verfeindete Sendboten überbringen? Ja, hat es überhaupt einen Sinn, den asiatischen Völkern unsere in einer abendländischen Geschichte gewordene konfessionelle Ausprägung des Christentums aufzunötigen? Das drängende Fragen der Missionare, das noch mehr bedrängende Fragen der Jungen Kirchen in Asien und Afrika zwang die Kirchen in Nordamerika und Europa dazu, nach einer Antwort zu suchen, um die Verlegenheit, die Fragwürdigkeit, die Aporie der Mission zu lösen. Was kann geschehen, um die konfessionelle Aufspaltung der Kirche zu überwinden? Gibt es einen Weg zur Wiedervereinigung der Kirchen? Muß nicht alles getan werden, was irgendwie möglich erscheint, um den „Skandal" der Kirchenspaltung aus der Welt zu schaffen? In der Tat, diese Frage war und ist um der Mission der Welt willen unausweichlich gestellt. Aber wie? Was für ein Weg muß, kann, darf beschritten werden, um diese ungeheuer schwierige und menschlich eigentlich unlösbare Frage der Wiedervereinigung der Kirchen zu lösen?

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Die ökumenische Bewegung D e r Versuch, diesen Weg zu finden, die Frage nach der Einheit zu beantworten, wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unternommen. Wir nennen diese Bestrebungen neuerdings „die ökumenische Bewegung". In unser Blickfeld in Deutschland ist diese Bewegung erst ziemlich spät gekommen, und es gibt auch heute noch viele evangelische Christen, die davon weder etwas wissen noch von der Sache dieser Bewegung angerührt sind. Sie hat allerdings ihre große Ausdehnung erst in den letzten Jahrzehnten gefunden, ja erst seit 1948, als in Amsterdam der Ökumenische Rat der Kirchen begründet wurde. Aber die Bewegung geht schon tief in das 19. Jahrhundert zurück, zumal im Bereich der Mission, und schon vor dem ersten Weltkrieg fand eine erste Weltmissionskonferenz in Edinburgh statt (1910). Erst unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg begann die ökumenische Bewegung jedoch ihre charakteristische und planmäßige Arbeit. In verschiedenen Strömungen suchte sie den Problemen der weltweiten Christenheit Rechnung zu tragen. Die eine Gruppe kam zuerst in Stockholm (1925) zusammen, um die praktischen Fragen („Leben und W e r k " der Kirche und der Christen in der Welt) gemeinsam zu erörtern; die Lehrfragen (über „Glauben und Ordnung" der Kirche) wurden in einer zweiten Gruppe erstmalig in Lausanne (1927) diskutiert. Die Ergebnisse dieser ersten „ökumenischen Weltkirchenkonferenzen" bestanden darin, daß die Zusammengekommenen sich entschlossen, die hier angefangene ökumenische Arbeit weiterzutreiben. Wenn auch die Schwierigkeiten, zu übereinstimmenden Meinungen zu kommen, erst recht, sich über die dogmatischen Grundlagen der Kirche zu verständigen, größer waren, als man erwartet hatte, so resignierte man nicht; denn man war der festen Uberzeugung, daß es nur einen Herrn aller Christen und nur eine Kirche, die Gemeinde Jesu Christi, gibt und daß es deshalb kein vergebliches Unterfangen sein kann, sich um die Einheit der einen Kirche unter dem einen Herrn zu bemühen. Die ökumenische Bewegung ging an die „Fortsetzungsarbeit" ihrer Konferenzen in der Hoffnung, daß dieser Weg der ökumenischen Gemeinschaft nicht ohne Verheißung sein könne. Denn die Einigkeit der Christen in der Einheit der Kirche Christi sei dem Willen des Herrn gemäß, und deshalb dürfe man getrost mit Hilfe seines Geistes zur Erreichung dieses hohen Zieles der ökumenischen Bewegung rechnen. D e r zweite Weltkrieg hinderte zwar für eine längere Zeit den Weg der ökumenischen Bewegung, aber er konnte sie trotz allem nicht zerstören. Vielmehr kam es unmittelbar nach dem Ende 1945 zu einer geradezu mächtigen und wirkungsvollen Entfaltung. Die großartige Hilfe der Kirchen aus allen Teilen der Welt haben vor allem die vom Krieg am

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stärksten betroffenen Länder erfahren. Hier erfolgte so etwas wie ein Durchbruch. Viele, die bisher der ökumenischen Bewegung skeptisch gegenübergestanden hatten, begannen nun, sich ihr zuzuwenden. Sie hatten an der Liebe christlicher Bruderschaft über alle Gegensätze hinweg die Wahrheit der Einheit der Kirche unter ihrem Herrn erfahren. Mit der Gründung des „Ökumenischen Rates der Kirchen" in Amsterdam 1948 begann die neue Etappe der ökumenischen Bewegung. Kirchen traten zusammen, nicht mehr nur Einzelpersonen. Eine große Zahl von Kirchen wurden Mitglieder des Rates; sie schufen damit eine „ökumenische Gemeinschaft" von Kirchen, die sich auf der Grundlage des Bekenntnisses zu „Jesus Christus, unserm Gott und Heiland" zusammenschlössen, zwar ohne ihre konfessionelle Selbständigkeit als Gliedkirche aufzugeben, aber in der Uberzeugung und auf das Ziel hin, die Einheit der Kirchen durch Uberwindung der Verschiedenheiten und Gegensätze, die sie bisher noch trennen, zu verwirklichen.

Wege zur Uberwindung der Spaltung Welches war der Weg zur Wiedervereinigung, den der Ökumenische Rat der Kirchen seit 1948 zu beschreiten versuchte? Was ist denn seither geschehen? So werden manche fragen; wir haben noch wenig davon gemerkt, daß die Kirchen einer Wiedervereinigung nähergekommen sind. Es ist begreiflich, daß so gefragt wird. Aber man darf auch nicht vergessen: wie jung die ökumenische Bewegung ist, wie weit die Geschichte der Kirchenspaltungen zurückliegt, wie schwierig die Annäherung der getrennten Kirchen ist, wenn man die Wahrheitsfrage nicht ausschaltet, sondern ernst nimmt. Und vor allem: daß die Kirchen sich erst langsam dazu bereit finden, in diesen Kreis des Ökumenischen Rates einzutreten, ja daß zum Beispiel die römisch-katholische Kirche, die größte Kirche in der Welt, nicht gewillt ist, sich dem Ökumenischen Rat anzuschließen. So sind der ökumenischen Bewegung begreiflicherweise Grenzen gesetzt, die sie nicht übersteigen kann. Aber sie geht mit Eifer und Geduld, mit Glauben und Hoffnung, mit Liebe und Freudigkeit daran, einen Schritt nach dem andern zu tun. Der erste große Bereich ihrer Arbeit war und ist das theologische Studium der Lehrunterschiede. Nichts trennt die Kirche so sehr wie die Gegensätze in der Lehre, das heißt in der Auslegung der Heiligen Schrift. Das hängt damit zusammen, daß der christliche Glaube nur in der Gewißheit der Wahrheit dessen, was er glaubt, leben kann. Deswegen gehört es zu den mühevollen Aufgaben, die Verschiedenheiten der Lehren der Kirchen und ihre Gründe zu klären, einander zu verstehen und eine Verständigung über die eine Wahrheit zu suchen. Der ökumenische Weg zur Wiedervereini-

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gung kann nicht zum Ziel führen ohne die Überwindung der kirchentrennenden Lehrunterschiede, die es den Kirchen bisher unmöglich machen, sich miteinander zu vereinigen. Aber daneben muß auch ein Zweites gesehen werden: das Wachsen in eine brüderliche Gemeinschaft - ein Verbundensein in der Liebe Christi trotz der Verschiedenheiten und Spaltungen der Christenheit. Denn der Herr sagt nicht ohne Grund: „Daran wird die Welt erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt." Diese Liebe untereinander muß geübt werden, sie ist gar nicht selbstverständlich. Diese Liebe muß sich betätigen in gegenseitiger Hilfe von Kirche zu Kirche. Ja, sie muß auch die Grundlage werden für die Hilfe der Kirchen bei der Lösung der großen sozialethischen Fragen der Welt. Die heutige Welt stellt der Christenheit schwere Fragen der menschlichen Existenz, vor allem auch ihrer Zukunft - und die Kirchen können nur in ökumenischer Zusammenarbeit darangehen, diese weltumspannenden Fragen lösen zu helfen. Gerade in diesem gegenseitigen Diesnt kommt es auch zu einem Zusammenwachsen der Kirchen in der Liebe. Ohne diese Verwirklichung christlicher weltweiter Bruderschaft wird es keine Wiedervereinigung der Kirchen geben. An dritter Stelle erst nennen wir die ökumenische Aufgabe der geistlichen Gemeinschaft der bisher getrennten Kirchen. Im Gottesdienst, in Verkündigung und Gebet, Anbetung und Bekenntnis ereignet sich die Kirche Christi, hier ist ihr geistlicher Mittelpunkt, Kraftquelle und Ausdruck ihres Wesens in der Welt. Hier geschah darum auch immer die Trennung: Aufhebung der Gemeinschaft des Gottesdienstes. U n d hier muß es sich bewähren, ob ein Weg zur Wiedervereinigung gangbar ist oder nicht: im Vollzug der geistlichen Gemeinschaft vor Gott, unter Gott, mit Gott. Diese Gemeinschaft des Gottesdienstes hat verschiedene Stufen. Sie beginnt mit dem Gebet, vielleicht nur erst mit dem Gebet des Herrn. Dann wächst sie im gemeinsamen Beten - und schon hier ist etwas Entscheidendes geschehen: Gott wird in Gemeinsamkeit des Wortes und Geistes angerufen. Das heißt: Gottes Heiliger Geist ist am Werk der Vereinigung der Getrennten. Die nächste Stufe ist der gemeinsame Predigtgottesdienst, Verkündigung des Wortes über die Grenzen hinweg und Hören des einen Evangeliums, das die Botschaft Gottes an und durch die ganze Kirche ist. Die Bibel ist aufgeschlagen und wird ausgelegt in Zeugnissen aus allen Konfessionen, und alle hören Gottes Wort aus dem Wort des Bruders, von dem sie „konfessionell" getrennt sind, auch wenn es ihnen vielleicht etwas ungewöhnlich und fremdartig klingt. Aber die schwerste Stufe ist die dritte: die Gemeinschaft des Sakramentes. Die gemeinsame Feier des Abendmahles, das wäre die Vollendung der Kirchengemeinschaft. Gäbe es hier kein Problem mehr, dürfte man von der Wiedervereinigung der Getrennten

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sprechen. Aber hier stehen die Fragen groß und schwer: Können wir trotz unserer Lehrunterschiede gemeinsam zum Tisch des Herrn gehen? Dürfen wir das nicht erst, nachdem wir uns im Glauben ganz geeinigt haben? Und dann: Dürfen wir zum Abendmahl gehen, solange wir es so verschieden verstehen? Gerade über das Abendmahl gehen ja die Überzeugungen der Kirchen so weit auseinander. Es ist deswegen nicht verwunderlich, daß es in der ökumenischen Bewegung noch keine Abendmahlsgemeinschaft gibt. Bisher gibt es nur erste Schritte zueinander, gegenseitige Einladungen zur Abendmahlsfeier der einen oder anderen Konfession. Nicht alle laden alle ein, und nicht alle Eingeladenen folgen der Einladung der andern. Hier kann ja auch nur volle Freiheit herrschen. Jede Nötigung wäre verderblich. Der Weg zur Abendmahslgemeinschaft ist immer noch weit, aber es sind schon überraschende Dinge gesehene. Offenbar ist auch hier Gottes Geist am Werk, die Kirchen geistlich einander näherzubringen. Der Weg des Ökumenischen Rates ist von Amsterdam über Evanston (USA) 1954 nach Neu-Delhi (Indien) 1961 weitergegangen, nicht ohne daß zwischen den großen Vollversammlungen eine ganze Fülle von gemeinsamer ökumenischer Arbeit geleistet worden wäre. Hier geschieht vielleicht sogar die Hauptarbeit, während auf der Vollversammlung die Ergebnisse vorgelegt und die Programme für die Zukunft gemacht werden. Die ökumenische Bewegung gibt sich Rechenschaft, sie prüft den zurückgelegten Weg und fragt nach den Aufgaben, die vor uns liegen. Es ist darum auch verständlich, wenn eine solche Vollversammlung unsere Aufmerksamkeit am meisten erregt. Von Amsterdam nach Neu-Delhi ist diese Aufmerksamkeit in den Kirchen der Welt immer mehr gestiegen. Liegt es daran, daß die Bedeutung gewachsen ist? Oder daß die Anteilnahme an der ökumenischen Aufgabe stärker geworden ist? Ich denke, daß es hieran liegt. Darum fragen wir auch jetzt noch: Was geschah wirklich in Neu-Delhi? War diese Versammlung ein Schritt weiter auf dem Weg der Wiedervereinigung der Kirchen? Hat sich der in Amsterdam begonnene Weg bewährt? Wir fragen um so mehr, als wir seit 1959 das zweite Vatikanische Konzil der römischen Kirche als „ökumenisches Konzil" angekündigt bekommen haben, das nun im Oktober dieses Jahres seine Verhandlungen beginnt und auch einen gewichtigen Beitrag zur Einheit der Kirche und der Wiedervereinigung der Getrennten leisten soll. So stehen sich im Laufe eines Jahres zwei Weltkirchenkonferenzen gegenüber, Neu-Delhi im November und Dezember 1961 und Rom Oktober 1962, und lassen uns an dem Gegenüber die schwerste und größte Aufgabe sehen, die der Christenheit der Welt im Blick auf die Wiedervereinigung der Kirchen noch wartet. Hören wir nun zunächst auf das, was in Neu-Delhi geschah, und

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fragen wir dann nach den Grundgedanken über die Einheit der Kirche und dem Weg zur Wiederherstellung der Gemeinschaft der Getrennten, den die römisch-katholische Kirche im Gegensatz dazu beschreitet.

Auf dem Weg zur ökumenischen Mission Zum erstenmal fand die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in einem heidnischen Land statt, in welchen die christlichen Gemeinden eine ganz bescheidene Minorität darstellen. Dieser Schritt nach Indien war kein geringes Wagnis. Er ist nur zu verstehen als ein Zeichen für das neue missionarische Verständnis der Kirche im Bereich der ökumenischen Bewegung: Christus ist das Licht der Welt und die Kirche der Träger dieses Lichtes, Christus ist der Herr der ganzen Menschheit und die Kirche seine Gesandtschaft an alle. Nicht ohne Grund lautete das Thema, die Parole, die Botschaft der Konferenz: Jesus Christus, das Licht der Welt. Auf dieser Konferenz wurde der große und gewichtige Schritt getan, der unter dem Stichwort „Integration des Internationalen Missionsrates und des Ökumenischen Rates der Kirchen" geschah. Dies Ereignis machte zunächst einen etwas unscheinbaren Eindruck. Zwar wurde in der Konferenz der Zusammenschluß des Internationalen Missionsrates und des Ökumenischen Rates der Kirchen in etwas feierlicher Weise begangen, aber die Welt, die Presse, die Menschen, auch die große Zahl der Christen nahmen nur kurz davon Kenntnis, die wahre Bedeutung dieses Aktes kam nur wenigen zum Bewußtsein. Um uns klarzumachen, was für ein bedeutender Schritt in der Richtung der Wiedervereinigung der Kirchen hier geschah, müssen wir uns nicht nur vor Augen halten, daß bisher der Internationale Missionsrat eine eigenständige Größe ökumenischen Charakters war, nämlich der seit Edinburgh 1910 erfolgte Zusammenschluß der protestantischen Weltmissionen. Er hielt seine Weltmissionskonferenzen, auf denen die großen Missionsfragen zwischen den europäisch-amerikanischen und den afrikanischen und asiatischen „jungen" Kirchen durchgesprochen wurden. Er stand in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, aber eine Vereinigung scheiterte bisher an Sorgen der Missionsgesellschaften vor einer „Verkirchlichung" der Mission und an Sorgen der nichtprotestantischen Kirchen um die Stärke des protestantischen Missionseinflusses in dem ökumenischen Bereich, speziell ihren eigenen Kirchen. Nach jahrelangen Bemühungen um ein gegenseitiges Verständnis kam es nun endlich auf das Drängen der Jungen Kirchen zu diesem Beschluß: Der Internationale Missionsrat wird dem Ökumenischen Rat der Kirchen eingegliedert. Hierdurch ist der letzte Schritt auf dem Weg der Vereinigung der verschiedenen ökumenischen Bestrebungen der

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vergangenen Jahrzehnte in einer ökumenischen Gemeinschaft getan. Vor allem aber ist damit das Bekenntnis der Kirchen zur Mission als ihrer eigenen und ihrer gemeinsam zu bewältigenden Aufgabe ausgesprochen: Die an die Stelle des Internationalen Missionsrates tretende „Kommission für Weltmission und Evangelisation des Ökumenischen Rates" „soll darauf hinwirken" (wie es jetzt in der Verfassung des Ökumenischen Rates heißt), „daß das Evangelium von Jesus Christus in der ganzen Welt verkündigt wird, damit alle Menschen an ihn glauben und errettet werden." Das heißt doch: Die im Ökumenischen Rat vereinigten Kirchen wollen den missionarischen Auftrag ihres gemeinsamen Herrn an die Welt miteinander, nicht mehr neben- oder gar gegeneinander ausrichten. Sie wollen also trotz ihrer Lehrunterschiede, ihrer mannigfachen Konfessionen, die ihre Einheit hindern, darangehen, es wagen, Schritte gemeinsamen Zeugnisses in die Welt hinein zu tun. Damit soll an der Front der Kirchen in der Welt der Religionen der Zersplitterung des Zeugendienstes in der Unzahl verschiedener Missionsgesellschaften ein Ende bereitet werden. Die im Ökumenischen Rat vereinten Kirchen wollen anfangen, an dieser entscheidenden Stelle der kirchlichen Existenz in der Welt zu kooperieren. Das wird und muß seine Rückwirkungen auf das Zusammenleben der Kirchen nicht nur in Asien oder Afrika, sondern auch in Europa und Amerika haben. Wie notwendig dieser Schritt der Eingliederung der Mission in die Gemeinschaft des Ökumenischen Rates war, läßt sich auch von der Lage der Weltmission her verdeutlichen. Das Zeitalter der großen Mission, das im 19. Jahrhundert begann, geht offensichtlich heute zu Ende. Auf der einen Seite dadurch, daß die Zeit des europäischen „Kolonialismus", das heißt der Beherrschung der afrikanischen und asiatischen Welt durch die europäischen Mächte, vorbei ist. Auf der anderen Seite dadurch, daß durch die Mission Kirchen gegründet wurden, die zur Selbständigkeit herangewachsen sind. Damit ist die Zeit der „Missionsfelder", auf denen die weißen Missionare selbständig wirkten, fast ganz vorüber. Nicht jedoch die Zeit der heidnischen Religionen! Im Gegenteil. Mit der Befreiung der farbigen Völker von der Vorherrschaft Europas ist ein neuer Aufschwung der alten Religionen verbunden gewesen. Das Christentum wird als „westliche", fremde Religion angeprangert und die alte Religion als Grundlage der neuen befreiten Nation gepriesen. Nun stehen aber in dieser stürmischen Welt Asiens und Afrikas mit ihren schweren sozialen und politischen Problemen die Jungen Kirchen. Sie allein können die Träger der Mission ihrer Völker sein. Was dem westlichen Missionar heute fast nicht mehr möglich ist, muß nun die Junge Kirche selbst beginnen. Und sie kann es angesichts der unerhört großen und schweren Aufgabe nur mit Hilfe der Kirchen, aus denen die Missionare kamen. Neue Wege der Zusammenarbeit der „alten" und

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Jungen Kirchen müssen gefunden werden, neue Wege der Zusammenarbeit auf dem Boden der früheren Missionsfelder. Nichts ist jetzt so wichtig wie die Verbundenheit zu kirchlichen Zusammenschlüssen seitens der zahlreichen Gruppen, die aus den europäischen oder amerikanischen Missionen hervorgegangen sind, in einer Kirche. An diesen „Unionen" hängt geradezu die Zukunft der Kirchen in der asiatischen Welt, denn mit ihrer bisherigen Zersplitterung werden sie weder missionarisch erfolgreich wirken noch sich auf die Dauer in der wachsenden Flut des Heidentums erhalten können. Von hier aus wird es begreiflich, warum die Vertreter der Jungen Kirchen auf die Integration der Mission, auf die Kooperation, auf die Zusammenschlüsse (Unionen) der Konfessionskirchen drängen. Wir in der „Alten Welt" sind bisher noch nicht so bedrängt in unserer Existenz als Kirche, so daß wir meinen, es noch lange neben- und gegeneinander aushalten zu können. Ist diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Nebeneinander der christlichen Kirchen nicht ein Zeichen der Schwäche unseres missionarischen Wollens? Wie lange werden wir als Kirche ohne ein neues Bewußtsein der Sendung Christi noch existieren können? In den Weiten der aufstrebenden farbigen Welt ist die Kirche ohne „Zeugnis und Einheit" verloren. Weltmission und Einheit der Kirche zeigen sich hier als zwei Seiten eines Vorgangs: der Missio Dei in Sendung und Sammlung: Sendung des einen Wortes vom Heil in Christus, an alle. Sammlung durch dieses Wort in einer Gemeinde. In Erkenntnis dieser Wahrheit werden wir zu der Uberzeugung kommen, daß mit dem Integrationsbeschluß von Neu-Delhi wirklich ein bedeutender Schritt zur Wiedervereinigung der Kirchen getan worden ist. Es vollzieht sich hier von der Sendung der Kirche her, was bisher von der Begegnung der Kirchen her nicht wesentlich vorangetrieben werden konnte: Kirchen wachsen zusammen, getrennte vereinigen sich in der Botschaft, von der Mission her im Glaubensgehorsam des Evangeliums. Und dieser Vorgang ist voller Hoffnung - auch für die Wege der alten Kirchen hier bei uns in Europa zueinander. Sie werden je länger desto weniger aus der Verantwortung für die Mission der Welt und die Einheit der Kirche entlassen werden. Das neue Zeitalter der ökumenischen Mission bricht an, und damit stehen wir vor ungeahnten Wegen der getrennten Kirchen zueinander.

Unterwegs zur Einheit auf Grund gemeinsamer Berufung Der andere große Beschluß der Vollversammlung von Neu-Delhi war die Abänderung der „Basis des Ökumenischen Rates". Auch dieser Vorgang spielte in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle; man hielt diese Sache wohl für zu unbedeutend, auch für zu theologisch und darum

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weithin für uninteressant. In Wirklichkeit aber geht es hierbei um eine ganz wichtige Frage der Einheit der Kirche, eine Angelegenheit von entscheidender Bedeutung. Für die Einheit der Kirche ist die Ubereinstimmung im Bekenntnis schlechtin grundlegend. Hier liegt ja das eigentliche Hindernis für die Wiedervereinigung: die Nichtübereinstimmung in wesentlichen Punkten des christlichen Bekenntnisses als der Lehr- und Lebensgrundlage der Kirche. Wie kann eine Kirche leben, predigen, zeugen, lehren, handeln, Mission treiben, wenn darüber keine Einmütigkeit besteht, was der wesentliche Inhalt dieser Lehre und Verkündigung ist. Auch eine ökumenische Kooperation von Kirchen muß sich darum bemühen, sich über entscheidende Voraussetzungen ihres Gebrauchs des Wortes „christlich" zu verständigen. Wer sind wir „christlichen Kirchen", die sich im Ökumenischen Rat zusammenschließen? Was ist die Basis, die Voraussetzung für dies ökumenische Beisammensein? Wir sind keine „Kirche", wir sind nicht einmal eine „KirchenUnion", sondern eine ökumenische „Gemeinschaft von Kirchen" - so hieß es seit Amsterdam 1948-, „die unsern Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen". Auf dieser Basis (deren Wortlaut schon aus dem 19. Jahrhundert stammt, und zwar aus dem Weltbund der CVJM) sind die Kirchen des Ökumenischen Rates miteinander verbunden. Was diese Basis ist und nicht ist, darüber haben sich die Theologen der Ökumene immer wieder den Kopf zerbrochen, denn eine „Bekenntnisgrundlage" sollte diese Formel offensichtlich nicht sein - was aber war sie dann? Eine Auslegung des Wortes „christlich"? Eine Grenzbeschreibung, innerhalb deren sich alle, die Mitglieder sind oder werden wollen, befinden müssen? Vielleicht kommt dies dem Sinn am nächsten. Denn der Ökumenische Rat trifft keine Lehrentscheidung über seine Mitgliedkirchen, auch nicht, wenn sie aufgenommen werden. Die Kirchen entscheiden über ihre Lehre selbst. Das gehört zum Wesen der ökumenischen Kooperation. Aber: zum Ökumenischen Rat können nur solche Gemeinschaften kommen, die sich in irgendeinem Sinn als „christliche Kirchen" verstehen und darum „unsern Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen", wobei es natürlich den Kirchen überlassen bleibt, was sie unter dieser Anerkennung verstehen. Man erkennt hier, wie schwierig schon jede Art von ökumenischem Zusammenschluß ist, wenn man ihn wirklich vollzieht. Hier beginnt ein neuer Weg zueinander. Das Alte der eigensinnigen Selbständigkeit, des Alleinseins unter allen Umständen, wie es besonders das Zeichen der „Sekten" ist, muß hier vergehen. Man sagt ja zum andern, der als Kirche anders ist als meine Kirche. Aber hier kann man dann nicht stehenbleiben. Es fängt ein Fragen und Diskutieren an, ein Suchen und Tasten nach dem, worin das Anderssein des anderen besteht. Und man kommt sich manchmal näher, ja ganz nahe, und ist von solcher Erkenntnis tief

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bewegt. Dann fragt man wieder zurück nach der Basis - ob sie so schmal und bescheiden bleiben muß oder ob man mehr als bisher gemeinsam sagen kann, ja sagen muß. So ist es der Ökumenischen Bewegung seit Amsterdam gegangen. Man hat immer erneut die Frage der Abänderung, einer Verbesserung der Basis gestellt und daran eine unendliche Mühe gewandt. Denn es mußten ja möglichst alle Mitglieder zustimmen! In Neu-Delhi war es endlich so weit, daß dieser Wunsch nach langen Vorverhandlungen erfüllt werden konnte, und zwar in großer Einmütigkeit. Die Basis des Ökumenischen Rates heißt jetzt: „Der Ökumenische Rat ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes." Diese Erweiterung der Basis ist mehr als eine bessere Formulierung. Natürlich ist sie das auch. Christus „bekennen" ist besser als „anerkennen"; „gemäß der Heiligen Schrift" ist ein guter Hinweis auf die Bedeutung der Bibel für die Kirche, und wir Evangelischen werden dafür besonders dankbar sein, wie die Orthodoxen sich freuen, daß nun auch die Dreieinigkeit in der Basis vorkommt. Aber die Hauptsache der Änderung scheint mir in dem Darum-Satz zu liegen. Hier ist etwas Neues erkannt und anerkannt worden: Der Sinn des ökumenischen Zusammenschlusses aufgrund der Gemeinschaft des Bekenntnisses zu Christus ist das gemeinsame Trachten nach der Erfüllung dessen, wozu die Kirchen berufen sind. Der Zusammenschluß der Kirchen hat seinen Sinn nicht in sich, sondern in ihrem göttlichen Beruf, in dem Auftrag des Herrn, der alle gemeinsam angeht und den sie nur gemeinsam erfüllen können. Und dieser Beruf ist ja nichts anderes als die Missio Dei (Gottes Sendung), die Bestimmung der Kirche zum Sendboten Christi. Damit scheint mir wiederum ein entscheidender Schritt auf dem ökumenischen Wege nach vorn getan zu sein. Die Kirchen bekennen sich zu ihrer gemeinsamen Berufung, zu gemeinsamem Handeln in der Erfüllung dieses Berufes, der der Ehre des dreieinigen Gottes dient. Was kann der Wiedervereinigung der Kirchen mehr voranhelfen als die Entschlossenheit, gemeinsam den Willen Gottes für seine Kirche zu erfüllen? Die neue Basis ist eine ständige Herausforderung an die Kirchen zum Wachsen im gemeinsamen Dienst.

Unterwegs von der protestantischen zur ökumenischen Einheit Der dritte gewichtige Beschluß der Vollversammlung in Neu-Delhi war die Aufnahme von dreiundzwanzig neuen Mitgliedskirchen, und zwar vor allem deswegen, weil unter diesen Kirchen die große russisch-

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orthodoxe Kirche sowie die bulgarische, rumänische und polnische orthodoxe Kirche waren. Dieser Tatbestand erregte begreiflicherweise in der ganzen westlichen Welt einiges Aufsehen, denn man konnte diese Vorgänge nur politisch und das heißt im Licht des west-östlichen Antagonismus sehen. Man befürchtete für den Geist der Ökumene so etwas wie eine kommunistische Infiltration (es fiel in der Presse das Wort: „Chrustschow ist in den Ökumenischen Rat aufgenommen worden"), aber man bedachte gar nicht, daß es in Wirklichkeit für die orthodoxen Kirchen im kommunistischen Machtbereich ein großes Risiko war, sich der in ihrer Mehrheit „westlich" bestimmten ökumenischen Bewegung anzuschließen. Man dachte auch nicht daran, daß die orthodoxen Kirchen schon immer für die ökumenische Zusammenarbeit eingetreten waren, aber zum Teil an der Verwirklichung durch politische Versagung gehindert wurden, bis sich ihnen in jüngster Zeit die Möglichkeit dazu auftat. Dem Aufnahmeantrag der russisch-orthodoxen Kirche waren längere Verhandlungen mit dem Ökumenischen Rat vorausgegangen, denn die Orthodoxie mußte sich vergewissern, ob der Ökumenische Rat im Grunde doch nur eine protestantische Größe sei und bleiben wolle. Gewiß hatte es oft den Anschein gehabt, als sei er nichts anderes als „Weltprotestantismus", aber er wollte immer schon ökumenisch sein. Nun ist er es in einem stärkeren Maße geworden als je zuvor. Zwei sehr verschiedene Tatbestände haben dazu besonders beigetragen: einmal der Beitritt der Orthodoxie, zum anderen das Wachstum der afrikanischen und asiatischen Mitgliedskirchen. Zunächst: Was bedeutet die Aufnahme der großen östlichen orthodoxen Kirchen? Während bisher nur relativ kleine orthodoxe Kirchen zum Ökumenischen Rat gehörten (nur die orthodoxe Kirche Griechenlands war eine große orthodoxe Mitgliedskirche), ist jetzt durch den Beitritt der vier osteuropäischen Kirchen ungefähr die gesamte Orthodoxie der Welt im Ökumenischen Rat. Die Orthodoxie hat den Entschluß gefaßt, sich mit dem Protestantismus zu ökumenischer Arbeitsgemeinschaft zu verbinden, weil es offenbar keinen gangbaren Weg der Annäherung an die römisch-katholische Kirche gab. Die Bedeutung dieser Entscheidung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn nun hat die ökumenische Bewegung ein Gewicht und eine Weite bekommen, die auch der römisch-katholischen Kirche gegenüber eine beachtliche Größe darstellt. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß die römische Kirche daraus Folgerungen gezogen hat, die in der Gründung des Sekretariats für die Einheit der Christen (Kardinal Bea) Ausdruck gefunden haben. Aber wichtiger ist die Anteilnahme der Orthodoxie am ökumenischen Gespräch. Bisher war es immer noch zu sehr von den protestantischen Partnern unter sich bestimmt. Jetzt aber kann nicht mehr an der Theologie der Orthodoxen vorbei diskutiert werden. Die Ökumene

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braucht diese Stimme um so dringender, als ihr in der Orthodoxie eine ehrwürdige, aus der alten Kirche ohne tieferen Bruch hervorgegangene Kirche begegnet, die den protestantischen Kirchen ernste Fragen stellt: nach dem altkirchlichen Dogma, nach der apostolischen Kontinuität und dem Gottesdienst der Kirche. Die Verbindung von Protestantismus und Orthodoxie in der ökumenischen Bewegung ist ein ganz offenkundiger Schritt auf dem Weg der Wiedervereinigung der Kirchen, wenn dem Kundigen auch deutlich ist, daß dieser Schritt auf einen langen Weg führt, denn gerade zwischen dem Protestantismus und der Orthodoxie sind die Lehrunterschiede sehr tiefgreifend, und noch vermag keiner zu erkennen, wie man diesen Gegensatz von „protestantischer" und „katholischer" Grundkonzeption von D o g m a und Kirche überwinden kann. Auf der anderen Seite wächst der Ökumenische Rat ständig durch den Beitritt von Jungen Kirchen aus Afrika und Asien. Auch in Neu-Delhi kamen die meisten Anträge von dort. Wenn diese Kirchen auch nicht sehr groß sind, so entwickeln sie doch eine ungewöhnliche Aktivität. Der Ökumenische Rat bedeutet ihnen viel mehr als den meisten alten Kirchen. Für sie ist die Mitgliedschaft im Ökumenischen Rat die brüderliche Anerkennung der Kirche, und sie sehen in dieser Gemeinschaft eine Gabe und Aufgabe, an der Einheit der Kirche zu wirken, die für sie lebensnotwendig ist. So bilden die jungen Kirchen die Unruhe, die vorwärtsdrängende Leidenschaft, die Herausforderung an die alten Kirchen, etwas zu wagen, Schritte zu tun, nicht stehenzubleiben. Darum sind sie im Ökumenischen Rat so wichtig, sie hindern den Stillstand, sie machen Unruhe, sie wecken durch ihre Rufe die Müden oder Schlafenden. Sie sind auch je länger je mehr im ökumenischen Gespräch selbständige Partner. Sie sind ihren abendländischen Lehrern und Vätern entwachsen und fangen an, einige Schritte zu tun, auch eigene theologische Gedanken und eigene Auslegung der Bibel zu entwickeln. So ist das ökumenische Gespräch seit Neu-Delhi reicher, umfassender und gewichtiger geworden. Das Wachstum der asiatischen und afrikanischen Kirchen und ihrer Theologie einerseits sowie der Beitritt der Orthodoxie andererseits geben diesem Gespräch eine Spannweite, die als ein weiterer Schritt nach vorn beurteilt werden muß. Denn nur wenn die ökumenische Spannweite möglichst groß ist und nach Möglichkeit alle Differenzen zwischen den Kirchen umfaßt, kann es zu einem Verstehen kommen, das alle Trennungen überbrückt.

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Die erstrebte Einheit Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft An drei gewichtigen Akten der Vollversammlung von Neu-Delhi haben wir gezeigt, inwiefern hier mit Recht von Schritten zur Wiedervereinigung der Kirchen geredet werden kann. Aber das ist noch nicht alles, was als Zeichen des Weges der Kirchen zueinander von Neu-Delhi zu berichten wäre. In Neu-Delhi wurde eine große gemeinsame Arbeit geleistet, einerseits in den drei Sektionen über Zeugnis, Dienst und Einheit der Kirche, andererseits in den vielen Ausschüssen, die neben der Uberprüfung der bisherigen Arbeit in den zahlreichen Zweigen des Ökumenischen Rates vor allem auch die Vorschläge für die Aufnahme neuer oder die Weiterführung begonnener Arbeit zu machen hatten. Da wir hier keinen Bericht über Neu-Delhi geben können, sondern bei unserem Thema bleiben müssen, kann von dieser Arbeit nur unter dem Aspekt der Wege zur Wiedervereinigung geredet werden. Unter der Arbeit der Sektionen steht hier natürlich „Einheit der Kirche" voran, wenn auch in „Zeugnis" und „Dienst" wahre Signale der Einmütigkeit und Gemeinschaft gegeben wurden. Nach der bedeutenden Vorarbeit zur Konferenz wurde es möglich, die Frage der „Urelemente der Einheit" auf dem Boden der Ortsgemeinde, der Gliedkirchen und des Ökumenischen Rates zu diskutieren und die Ergebnisse den Kirchen zur Stellungnahme zu unterbreiten. Das wichtigste Ergebnis der Beratungen war ein im einzelnen kommentiertes Bekenntnis von der Einheit der Kirche, das von ungewöhnlicher Bedeutung für den weiteren Weg der Wiedervereinigung sein dürfte. Hier heißt es: „Wir glauben, daß die Einheit, die zugleich Gottes Wille und seine Gabe an seine Kirche ist, sichtbar gemacht wird, indem alle an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, durch den Heiligen Geist in eine völlig verpflichtende Gemeinschaft geführt werden, die sich zu dem einen apostolischen Glauben bekennt, das eine Evangelium verkündigt, das eine Brot bricht, sich im gemeinsamen Gebet vereint und ein gemeinsames Leben führt, das sich in Zeugnis und Dienst an alle wendet. Sie sind zugleich vereint mit der gesamten Christenheit an allen Orten und zu allen Zeiten in der Weise, daß Amt und Glieder von allen anerkannt werden und daß alle gemeinsam so handeln und sprechen können, wie es die gegebene Lage im Hinblick auf die Aufgaben erfordert, zu denen Gott sein Volk ruft." Die Konzentration dieser Formulierung erfordert ein gründliches Nachdenken über den vollen Gehalt dieser Sätze. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, an dieser Stelle die Aufgabe zu lösen, zu der die Kirchen in der ganzen Welt in den nächsten Jahren aufgerufen sind. Sie haben auf diese Sätze zu antworten und sich kritisch oder zustimmend dazu zu

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äußern. Denn es wird entscheidend darauf ankommen, daß die Kirchen sich über diese Grundelemente der Kirchengemeinschaft verständigen. An diesem Gespräch werden sie nicht vorbeikommen. Es ist deswegen von so großer Bedeutung, daß diese Herausforderung aus der Sektionsarbeit von Neu-Delhi an die Christenheit ergeht. Was ermöglicht die Vereinigung der getrennten Gemeinden, der gespaltenen Kirchen, was ist dazu unumgänglich nötig und was nicht? Was kann an Verschiedenheit getragen werden und was nicht? Bei der Erörterung dieser Fragen anhand der Erklärung von Neu-Delhi würden die eigentlichen Hindernisse der Trennung ans Licht kommen, und das ist nötig. Denn es muß den Gründen der Trennung bis dahin nachgegangen werden, wo die letzten Glaubenserkenntnisse ihre Wurzel haben. Leichter und billiger kann man nicht zur Einheit der Kirche und zur Einigkeit der Christenheit gelangen. Und trotzdem - der Weg der theologischen Frage nach der Einheit ist nicht der einzige, der zu beschreiten ist. So war es auch in Neu-Delhi: der gemeinsame Gottesdienst war eine echte und tiefgreifende Wirklichkeit, die alle Vertreter der Kirchen miteinander verband, mitten durch alle Differenzen hindurch. Ein reiches und tägliches gottesdienstliches Leben umgab alle Arbeit. Morgen- und Abendgebetsgottesdienste, Bibelarbeit, Verkündigung und Abendmahlsfeiern wechselten miteinander ab. Gott wurde gemeinsam angerufen in den liturgischen Traditionen der verschiedensten Kirchen. Die Bibelarbeit gab die Möglichkeit, das mannigfache Zeugnis der Brüder über denselben Text zu hören, und zu staunen über die einende Macht des Wortes Gottes. Predigten und Ansprachen von Vertretern aller Konfessionen machten deutlich, daß der eine Herr und das eine Evangelium kein Traum, kein Ideal, sondern Wahrheit ist. In allem, was hier miteinander getan und geredet, gebetet und bekannt wurde, gingen die Vertreter der getrennten Kirchen über die Grenzen hinaus, die ihnen eigentlich von ihren Konfessionen gesetzt waren. Es war der Heilige Geist, der der Kirche immer schon voraus ist, und darum war es eine gehorsame Grenzüberschreitung - in Richtung auf die geglaubte und erhoffte Einheit der Kirche. N u r am Abendmahl fand auch die Konferenz von Neu-Delhi ihre Grenze. Zwar ergingen die Einladungen von der lutherischen Kirche, der anglikanischen Kirche, der südindischen Kirche und anderen immer an alle Teilnehmer der Konferenz. Aber es haben natürlich nicht alle Eingeladenen teilnehmen können, vor allem nicht die Orthodoxen. Diese luden auch ihrerseits nicht zur Abendmahlsgemeinschaft ein, sondern lediglich zur betenden Teilnahme an ihrem Gottesdienst. Und es wäre auch fraglich gewesen, ob die meisten Protestanten an dem Abendmahl nach orthodoxem Ritus hätten teilnehmen können. Das Entscheidende war jedenfalls, daß es bereits so viele Kirchen gibt, die in

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ökumenischer Weite zum Abendmahl einladen. Denn damit wird ja ein Bekenntnis zur Kirche abgelegt, das die Grenzen der eigenen Konfessionen überschreitet. Und wo solches geschieht, muß sich das Miteinander der Getrennten verändern. Vielleicht ist die gegenseitige Abendmahlszulassung überhaupt die nächste Stufe, die auf dem Wege der Wiedervereinigung der Kirchen erreicht werden kann. Wo zwischen den Kirchen die Trennung am Tisch des Herrn grundsätzlich gefallen ist, da ist der entscheidende Schritt zueinander getan. Hier aber liegen auch nach NeuDelhi noch schwere und zur Zeit ganz unlösbare Fragen. Denn gerade die Orthodoxie ist aufgrund ihrer Lehre von der Kirche und vom Sakrament natürlich nicht in der Lage, nichtorthodoxe Christen zu ihrem Abendmahl zuzulassen. Für sie fällt Abendmahlsgemeinschaft mit der vollen Kirchengemeinschaft zusammen. Andererseits haben auch die protestantischen Kirchen gerade an die orthodoxe Auffassung vom Abendmahl als einem Opfer aufgrund der Heiligen Schrift Fragen von großer theologischer Tiefe: Können wir in der Liturgie der orthodoxen Kirche die Abendmahlsfeier nach der Stiftung Christi im Neuen Testament wiedererkennen, oder ist das Testamentum Christi durch den Opferbegriff verdunkelt? Aller ökumenische Enthusiasmus, der hier und da aufkommt und gar kein Verständnis dafür zeigt, daß die Kirchen immer noch nicht gemeinsam zum Tisch des Herrn gehen, muß sich dem Ernst und Gewicht der Frage stellen, die gerade von denen erhoben werden, die um die Wiedervereinigung der Kirchen auf dem Grunde der Wahrheit ringen. Denn die Einheit darf nicht zu Lasten der Wahrheit erzwungen werden. Sie wird nicht halten, da sie keinen festen Grund hat. Deswegen muß die Christenheit Geduld haben, gerade im Blick auf die Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Weil sich in ihr die Einheit der Kirche ereignet und verwirklicht, darum hängt so viel daran, daß hier niemand im Gewissen vergewaltigt wird. Die Liebe kann nicht ohne die Wahrheit sein. Der Ökumenische Rat ist davon durchdrungen, und darum stellt er samt seinen Mitgliedskirchen die Einladung und die Teilnahme am Abendmahl in die Freiheit der Christen - und wartet auf den Tag, wo ihm die Abendmahlsgemeinschaft als Frucht des Geistes zufällt.

Das ökumenische Konzept der römisch-katholischen Kirche Wir haben gehört, was in Neu-Delhi geschah, wir sahen Zeichen der Hoffnung für den Weg des Ökumenischen Rats der Kirchen, wir verfolgten einige wichtige Schritte auf dem Weg, der zu einer Wiedervereinigung der Kirchen führen kann. Wir waren uns von Anfang an bewußt, daß es sich hier nur um einen Teil der Christenheit der Welt

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handelt. Zwar kann man sagen: Fast die gesamte nicht-römisch-katholische Christenheit hat sich jetzt im Ökumenischen Rat zusammengeschlossen. Wir sagen „fast" - denn es gibt noch eine ganze Reihe protestantischer Kirchen, die sich bisher vom Ökumenischen Rat fernhalten, weil sie bestimmte Forderungen in bezug auf die Lehre von der Heiligen Schrift an jede ökumenische Gemeinschaft stellen. Es sind auch noch andere spiritualistisch denkende Gruppen wie die „Pfingstkirchen", die draußen stehen. Aber, aufs Ganze gesehen, ist dieser Kreis nicht so groß, daß er von ausschlaggebender Bedeutung wäre. Ganz anders jedoch steht es mit der römisch-katholischen Kirche, deren Mitgliederzahl größer ist als die aller anderen Kirchen zusammen: zwischen 400 und 500 Millionen werden als römisch-katholische Christen gezählt. Alle anderen erreichen zusammen jedoch nicht einmal die Vierhundertmillionen-Grenze. Und diese römisch-katholische Kirche steht der ökumenischen Bewegung grundsätzlich insofern verneinend entgegen, als sie es für ganz unmöglich hält, ihr als Mitglied beizutreten. Daran hat sich auch in jüngster Zeit nichts geändert. Wenn auch die Entsendung von offiziellen Beobachtern nach Neu-Delhi und die Errichtung des Sekretariats für die Einheit der Christen in Rom Zeichen einer Änderung ihrer bisherigen Einstellung zur ökumenischen Bewegung sind, so darf daraus keineswegs eine grundsätzliche Änderung der theologischen Beurteilung der ökumenischen Aufgabe der römischkatholischen Kirche geschlossen werden. Vielmehr hat die römischkatholische Kirche eine ganz klare Vorstellung von dem einzig möglichen Weg zur Wiedervereinigung der getrennten Kirchen in der einen Kirche Christi. Sie kommt auch in der Einberufung des zweiten Vatikanischen „ökumenischen" Konzils unmißverständlich zum Ausdruck. Um die Frage: „Gibt es einen Weg zur Wiedervereinigung der Kirchen?" nach der Erörterung der Gedanken und Schritte des Ökumenischen Rats der Kirchen zu Ende zu durchdenken, müssen wir uns nun dem römischen Katholizismus zuwenden, der, streng geschieden vom Ökumenischen Rat, seinen eigenen Gedanken von der Einheit der Kirche entsprechend, seinen Weg zur Wiedervereinigung verdeutlicht und seine Bemühungen zur Verwirklichung gegenwärtig im Konzil konzentriert, das nach den Worten des Papstes in der Enzyklika von 1959 ganz ausgesprochen im Dienst der Einheiten der Kirchen stehen soll: „Möge dies wunderbare Schauspiel der Einheit, das nur die katholische Kirche bietet, mögen die Gebete, mit denen sie Gott um die gleiche Einheit für alle anfleht, euch zu Herzen gehen und euch bewegen, euch, die ihr von diesem apostolischen Stuhle getrennt seid, laßt euch von uns in liebevoller Sehnsucht ,Brüder' und ,Söhne' nennen, laßt uns die Hoffnung auf eure Rückkehr hegen, die unserem väterlichen Herzen teuer ist. Wir bitten euch, doch recht zu 11

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begreifen, daß unser liebevoller Aufruf zur Einheit der Kirche euch nicht dazu einlädt, in ein fremdes Haus zu kommen, sondern in das gemeinsame Haus, in das Haus des Vaters. Erlaubt, daß wir euch ermahnen, da wir euch alle zärtlich im Herzen Jesu Christi lieben, daß ihr euch eurer Väter erinnert, die euch das Wort Gottes verkündigt haben. Die glorreiche Schar der Heiligen, die jede eurer Nationen schon zum Himmel gesandt hat, besonders diejenigen, die durch ihre Schriften die Lehre Jesu Christi richtig und überzeugend weitergegeben und erklärt haben, lädt euch durch das Beispiel ihres Lebens zur Einheit mit diesem apostolischen Stuhle ein, mit dem auch eure christliche Gemeinschaft so viele Jahrhunderte lang heilbringend verbunden war." U m zu verstehen, wie die römisch-katholische Kirche über die Frage der Wiedervereinigung der getrennten Kirchen dankt, ist es notwendig, sich ihre Hauptlehre von der einen wahren Kirche kurz zu vergegenwärtigen. Dies geschieht am einfachsten nach der Wiedergabe der Kirchenlehre im „Katholischen Katechismus der Bistümer Deutschlands". Hier heißt es von der einen wahren Kirche: „Christus hat nur eine einzige Kirche gegründet. Er hat gesagt: ,Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen' (Matthäusevangelium 16,18). Darum gibt es nur eine wahre Kirche. Die wahre Kirche kann man an bestimmten Eigenschaften erkennen, die Christus ihr gegeben hat. Sie muß einig sein im Glauben, in den Sakramenten und im Oberhaupt. Sie muß heilig sein, weil Christus sie geheiligt hat. Sie muß apostolisch sein, das heißt: ihre Vorsteher müssen rechtmäßige Nachfolger der Apostel sein. Nur die römisch-katholische Kirche hat diese vier Kennzeichen. Sie ist einig: sie hat überall denselben Glauben, dieselben Sakramente und dasselbe Oberhaupt. Sie ist heilig; das zeigt sich an ihrer heiligen Lehre und ihrem heiligen Wirken, vor allem aber an ihren Heiligen, von denen Gott viele durch Wunder verherrlicht hat. Sie ist katholisch, weil sie die ganze Wahrheit und alle Sakramente bewahrt, von Christus an durch alle Zeiten bestanden hat und sich über die ganze Welt verbreitet. Sie ist apostolisch, weil sie bis auf die Apostel zurückgeht: ihre Bischöfe sind rechtmäßige Nachfolger der Apostel, und ihr Oberhaupt ist der Nachfolger des heiligen Petrus; das zeigt am klarsten, daß sie die wahre Kirche Christi ist. Die anderen christlichen Glaubensgemeinschaften haben diese Kennzeichen nicht. Vor allem sind sie nicht apostolisch: sie sind erst lange nach den Zeiten der Apostel entstanden, ihre Vorsteher sind keine rechtmäßigen Nachfolger der Apostel, und sie haben keine Gemeinschaft mit dem Nachfolger des heiligen Petrus. Deshalb kann keine von ihnen die wahre Kirche Christi sein." Wir fügen gleich das andere Lehrstück von der „heiligen O r d n u n g der Kirche" hinzu: „Christus hat gewollt, daß seine Kirche bis ans Ende der Welt fortbestehe. Darum müssen auch die Ämter, die er Petrus und den Aposteln übertragen hat, fortdauern. Christus will, daß seine Kirche immerfort von Vorstehern geleitet wird.

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Die Vorsteher der Kirche sind der Papst und die Bischöfe der katholischen Kirche. Sie sind die Nachfolger der Apostel. Im N a m e n Christi üben sie das Lehramt, das Priesteramt und das Hirtenamt aus. D e r Papst ist das sichtbare Oberhaupt der ganzen Kirche. E r ist der Nachfolger des heiligen Petrus im obersten L e h r - und Hirtenamt (Primat). D a Petrus als Bischof von R o m gestorben ist, ist der Bischof von R o m sein rechtmäßiger Nachfolger. Alle Bischöfe, Priester und Gläubigen stehen unter seiner Leitung."

Vom Papst wird noch hinzugefügt: „Er ist der Stellvertreter Christi auf Erden", und dann heißt es in dem folgenden Abschnitt über die Lehre der Kirche: „Das L e h r a m t der Kirche bilden der Papst und die mit ihm in Gemeinschaft stehenden Bischöfe. Sie haben die Aufgabe, die Lehre Christi unverfälscht zu bewahren und unfehlbar zu verkünden. W e n n der Papst und die Bischöfe einmütig etwas als Glaubenslehre verkünden, sind sie unfehlbar, weil Christus seine Kirche durch den Heiligen Geist vor Irrtum bewahrt. Auf einem allgemeinen Konzil entscheiden sie gemeinsam darüber, ob eine Lehre von G o t t geoffenbart ist oder nicht, ob sie wahr ist oder falsch. D e r oberste Lehrer der Kirche ist der Papst. O h n e ihn kann kein Konzil unfehlbar entscheiden. J e d o c h kann der Papst auch allein unfehlbar entscheiden. E r ist unfehlbar, wenn er über Glaubens- und Sittenlehren eine Entscheidung trifft und der ganzen Kirche befiehlt, sie anzunehmen."

Diese Sätze wurden ihrer Bedeutung wegen aus dem Katechismus im Wortlaut wiedergegeben, weil aus ihnen das einzigartige Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der römisch-katholischen Kirche hervorgeht: Die römisch-katholische Kirche ist die allein wahre Kirche Christi, außerhalb deren es keine wahre Kirche gibt. Die historisch gewordene Kirche des Abendlandes, die in einem geschichtlich zu verfolgenden Prozeß unter die Alleinherrschaft des Bischofs von Rom kam, wird mit der Kirche Christi schlechthin identifiziert, und zwar mit der Begründung, daß durch die Einsetzung des Petrus in das Leitungsamt der Kirche durch Jesus der Nachfolger des Petrus im römischen Bischofsamt der von Gott eingesetzte Stellvertreter Christi auf Erden ist und daß darum die Kirche Christi nur da ist, wo dies geglaubt und in Gehorsam anerkannt wird. So ist auch die feierlich proklamierte Lehrfestsetzung des Papstes Bonifatius VIII. zu verstehen: „Dem römischen Papst unterworfen zu sein, ist für das ganze menschliche Geschlecht schlechthin heilsnotwendig" (Bulle „Unam Sanctam" vom 18. November 1302). Wiedervereinigung durch Rückkehr in die römische Kirche? Von diesem Glaubensbekenntnis der römisch-katholischen Kirche aus ergibt sich die klare und eindeutige Folgerung für den einzig möglichen Weg zur Wiedervereinigung in der einen wahren Kirche. Da alle anderen

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Christen und Kirchen, die hier immer „Gemeinschaften" genannt werden, da ihnen ja der Name „Kirche" auf keinen Fall zukommt, außerhalb der Einheit der allein wahren römisch-katholischen Kirche stehen, kann es sich nur um einen Weg der Wiedereinfügung in die Kirche, aus der sie herausgefallen sind, handeln. Es ist klar, warum die römische Kirche grundsätzlich nicht dem Ökumenischen Rat der Kirchen beitreten kann. Sie müßte ihre Grundlehren von der Kirche aufgeben. Es ist auch klar, daß die römische Kirche den ökumenischen Weg zur Wiedervereinigung nicht verstehen und nicht beschreiten kann. Denn es ist der römischen Kirche unmöglich, ein offenes Lehrgespräch aufgrund der Heiligen Schrift über die Wahrheit der Lehre ihrer und der anderen Kirchen zu führen. Es ist die „petitio principii" oder anders ausgedrückt das Axiom der römischen Kirche, daß ihre Lehre unfehlbar ist und daß darum alle Abweichungen davon Irrtümer sein müssen. Es ist auch deswegen nicht möglich, ein offenes Lehrgespräch aufgrund der Heiligen Schrift zu führen, weil die katholische Kirche erklärt und zu glauben befiehlt, wie es im amtlichen katholischen Glaubensbekenntnis heißt: „Die Heilige Schrift nehme ich in dem Sinne an, den die heilige Mutter Kirche bewahrt hat und bewahrt; ihr steht es zu, über den wahren Sinn und die Auslegung der Heiligen Schrift zu urteilen, ich werde sie niemals anders annehmen und auslegen, als nach der einmütigen Ubereinstimmung der heiligen Väter." Wo die Kirche sich mit ihrer eigenen Tradition zum Richter über die Schrift macht, wo sie sich selbst zur allein unfehlbaren Interpretin der Schrift macht, da ist es natürlich sinn- und zwecklos, über Fragen der Lehre und eine Lehrübereinstimmung aufgrund des allein möglichen Maßstabes der Heiligen Schrift zu sprechen. Es gibt darum für die römische Kirche auch keinen „Lehrkonsensus" mit einer anderen Kirche, bei welchem die Möglichkeit einer Abänderung von kirchlichen Lehren der Vergangenheit, also der Tradition, ins Auge gefaßt werden muß. Denn es gehört zu den Glaubenssätzen der römischen Kirche, wie es im Vatikanischen Konzil 1870 feierlich proklamiert wurde: daß die dogmatischen Festsetzungen des kirchlichen Lehramtes, speziell des Papstes, wegen seiner gottgewollten Unfehlbarkeit aus sich selbst und nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche „irreformabiles", d. h. unabänderlich sind. In solchen Proklamationen hat die römisch-katholische Kirche sich ein für allemal auf die Unwandelbarkeit ihrer Lehrüberlieferung festgelegt und den Weg zu einem brüderlichen Zusammenkommen mit den Christen der anderen Kirchen grundsätzlich versperrt. Es kann keine Art von Synode, Konzil oder Kirchenversammlung geben, auf der die Vertreter der Kirchen mit den Repräsentanten der römischen Kirche über die Lehrdifferenzen, über Verständigung zur

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ökumenischen Zusammenarbeit und anderem verhandeln. Die nichtrömischen Kirchen sind kein möglicher „Partner", dem irgendeine Gleichberechtigung aufgrund ihres christlichen Glaubensbekenntnisses zuerkannt werden könnte. Der Weg zur Wiedervereinigung hat die Anerkennung aller Lehren der römisch-katholischen Kirche, wie sie in den dogmatischen Festsetzungen der Konzilien, der Päpste, überhaupt der gesamten römischen Tradition, festgelegt sind, zur Voraussetzung. Hier ist überhaupt keine Diskussion, geschweige denn eine Infragestellung der Wahrheit irgendeines Dogmas der römischen Kirche möglich. Uber diesen Punkt sollte sich niemand, der sich mit dem Problem der Wiedervereinigung der Kirchen mit der römischen Kirche befaßt, irgendwelche Illusionen machen. Nach dem römisch-katholischen Glaubens- und Kirchenverständnis gibt es nur den einen Weg, von dem auch schon in der päpstlichen Enzyklika über das Konzil (1959) die Rede war: Die Heimkehr der Getrennten, der Ausgewanderten, die den Christennamen tragen, in das Vaterhaus, die Rückkehr in die römische Kirche, ihre Hierarchie, ihre Rechtsordnung, die Unterstellung unter den Papst und die Anerkennung des päpstlichen Primats. Ist die römische Kirche die eine wahre Kirche, dann ist es auch ganz und gar folgerichtig, daß die Wiedervereinigung der Christen nur durch Rückkehr in diese Kirche vollzogen werden kann. Aber kann das denn die römisch-katholische Kirche von heute wirklich meinen? Widersprechen ihr Bemühen um die Wiedervereinigung der Christen, ihre Anstrengungen um das Konzil, die Einladung an die Vertreter zahlreicher nichtrömischer Kirchen, zum Konzil als Beobachter zu kommen, und manches andere nicht der Härte dieser Feststellung? Vielleicht ist mancher entsetzt und betroffen, daß man so sprechen kann angesichts der Wandlungen, die sich im römischen Katholizismus anbahnen. Sollte nicht auch das kommende Konzil als ein Zeichen dafür gelten können, daß eine „Erneuerung" der katholischen Kirche im Gange ist, die die Vorbedingungen für eine mögliche Annäherung unter den Christen schafft und eine Tür öffnet, durch welche die Getrennten freiwillig und freudig gehen können? Gewiß, es ist kein Zweifel: die heutige Beurteilung der nichtrömischen Christenheit durch die römische Kirche ist freundlicher, in der Form milder geworden. In der radikalen Schärfe der Vergangenheit wird nicht gesprochen, sondern in einer gewissen Anerkennung der Glieder anderer Konfessionen als Christen. Die Härte der alten Worte „Häretiker, Ketzer, Abtrünnige, Apostaten" wird vermieden, ja sogar der Brudername wird gebraucht, selbst der Papst hat von „getrennten Brüdern", die sich mit dem Christennamen schmücken, gesprochen. Gemeinsamkeiten christlicher Uberzeugungen werden bejaht und

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betont. Gegenüber den Feinden des Christentums, angesichts der säkularisierten entchristlichten Welt, im Blick auf die Bedrohung des christlichen Glaubens von drinnen und draußen sieht man sich unwillkürlich einander nähergerückt, ja, es kann sogar politisch gemeinsam mit evangelischen Christen gehandelt werden. Dahinter steht eine faktisch anders gewordene Beurteilung der nichtkatholischen Christen, insonderheit der Protestanten. Das immer längere und stärkere Zusammenleben in der heutigen Welt hat dazu auch beigetragen, so daß es nicht mehr möglich ist, sich gegenseitig zu „verketzern". Kann man leugnen, daß sich hier so etwas abspielt wie eine stille, unauffällige „Annäherung" der Christen? Aber dies alles ist natürlich so lange kein Weg zur Wiedervereinigung, als die Basis dieser gegenwärtigen Annäherung nur der ethisch-menschliche Bereich des christlichen Lebens ist, unter ausdrücklicher Ausschaltung der unveränderten dogmatischen Differenzen. Hier aber liegen eben doch die eigentlichen Schwierigkeiten auch heute. Die Beurteilung der menschlichen besseren Begegnung unter den Christen soll nicht herabgesetzt werden, aber man darf sie nicht überschätzen. In anderen Ländern gab es schon weit eher als bei uns Toleranz und demokratische Kooperation. Die kirchliche Einheit ist dadurch aber nicht gefördert worden, wie die Geschichte Nordamerikas beweist. Eben weil die dogmatischen Differenzen zwischen der römischen Kirche und den Evangelischen sich in den vierhundert Jahren der Kirchengeschichte seit der Reformation nicht geändert oder auch nur abgeschwächt haben, kann niemand, der nüchtern das Gewicht dieser Fragen ermißt, von dem zweiten Vatikanischen Konzil etwas Entscheidendes für ein neues Gespräch zwischen der römischen Kirche und uns erwarten. Gerade weil sich die römische Kirche „irreformabel" gemacht hat, bleibt unwandelbar stehen, was der Konzil von Trient in einer Fülle von Verwerfungen und Verdammungsurteilen über die Lehre Luthers und Calvins, die Bekenntnisse der evangelischen Kirchen der Reformation gesagt hat. Das Trienter Konzil ist ein einziges leidenschaftliches Nein zur Reformation und zum Protestantismus. Solange und sofern hierüber mit der römischen Kirche nicht zu reden ist - und wie soll es nach ihren eigenen Voraussetzungen möglich sein? - , wird uns ein neues Konzil, das vielleicht einige Erleichterungen für das Zusammenleben der Christen in der heutigen Welt bringen könnte, im Grunde nicht weiterbringen. Nach allem, was aus den Vorbereitungen dieses Konzils an Verhandlungsgegenständen in die Öffentlichkeit gedrungen ist und was in der römischen Kirche über die Erwartungen für das Konzil selbst erörtert wurde, ist es nicht möglich zu hoffen, dies Konzil würde Schritte in Richtung einer Wiedervereinigung der Kirchen tun und irgendwelche Akte vollziehen, die einen neuen Weg zu den nichtkatholischen Kirchen eröffneten.

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Mögliche Schritte auf dem von Christus gebotenen Weg zur Einheit Jedoch, unsere Befürchtungen oder Erwartungen im Blick auf das Konzil sind für unsere eigenen Gedanken und Entscheidungen über den Weg zur Wiedervereinigung der Kirchen nicht ausschlaggebend. Wir können uns nicht durch die dogmatischen Positionen der römischen Kirche abschrecken lassen (so wenig wie wir das im Blick auf die Orthodoxie tun), Wege zur Wiedervereinigung auch mit der römischen Kirche zu suchen. Denn wir bemühen uns ja nicht aus menschlichen Wünschen um die Einheit der Kirche, sondern aus Glauben an die Verheißung Christi, aus der festen Uberzeugung, daß wir von dem Herrn der Kirche aufgerufen sind und aufgerufen bleiben, die Spaltungen in seiner Kirche zu überwinden, nach der Einheit zu suchen und immer neue Wege zueinander zu beschreiten. Angesichts des Selbstverständnisses der römischen Kirche und ihrer Verurteilung des Protestantismus ist es naturgemäß besonders schwer, sich nicht erbittern zu lassen oder nicht zu resignieren. Denn es spricht wirklich alles dagegen, daß es je zu einer Wiedervereinigung der römischen und der nichtrömischen Kirchen kommen könnte. Menschlich gesehen ist die Lage hoffnungslos. Aber Christus gebietet uns, gegen unsere Hoffnungslosigkeit dennoch zu hoffen, daß es durch seinen Geist gelingen kann, Unmögliches möglich zu machen. Darum möchten wir Evangelischen auch ausdrücklich daran festhalten, daß wir bereit sind und bleiben, in einem theologischen Gespräch mit der römischen Kirche die Wahrheit der evangelischen Lehre an Hand der Heiligen Schrift aufs Spiel zu setzen. Wir möchten mit ihr reden über die Verwerfung der Bekenntnisschriften unserer Kirche durch das Trienter Konzil. Wir haben ein Zutrauen zu der überführenden Macht des Wortes Gottes, das aus der Heiligen Schrift zu uns redet. Aber gerade darum kann irgendeine Form der Unterwerfung, eine „Kapitulation", weder eine bedingungslose noch auch eine teilweise und bedingte, nicht in Betracht kommen. Eine „Heimkehr ins Vaterhaus", eine Rückkehr in die römische Kirche unter Anerkennung ihrer Lehre als der unfehlbaren Wahrheit Gottes, ist undiskutabel. Und zwar nicht deswegen, weil wir einfach an der protestantischen Tradition festzuhalten entschlossen wären. Nein, wir sind unserer eigenen Geschichte nicht unterworfen. Wir bestreiten die Irreformabilität kirchlicher Entscheidungen der Vergangenheit und stehen zu dem Satz „Ecclesia Semper reformanda" („Die Kirche bedarf immer einer Erneuerung"). Für uns sind die reformatorischen Bekenntnisschriften als solche nicht „irreformabel", denn wir sind offen für neue und tiefere Erkenntnis der Heiligen Schrift. Darum lassen wir uns auch nicht leiten von einer historisch begreiflichen, aber für uns nicht absolut verbindlichen Negierung der

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katholischen Kirche, die sich an manchen Stellen der protestantischen Bekenntnisschriften findet. Wir sollen und wollen überprüfen, besser verstehen und hinzulernen und uns nicht von einer prinzipiellen „Abneigung gegen Rom" bestimmen lassen. Aber wir möchten das „Katholische" und das „Römische" nicht schlechtin identifizieren. Wir müssen frei bleiben von der Herrschaft der Tradition, unserer eigenen wie der anderen Kirchen. Das ist unser protestantisches Erbe und Anliegen, das in der „Freiheit" wurzelt, die Paulus den Galatern verkündigt und der Kirche so ernst ans Herz gelegt hat. Es wird gut sein, wenn wir gerade mit unserer Bereitschaftserklärung von vornherein deutlich sagen, wo für uns die unaufgebbaren Grunderkenntnisse der Reformation liegen, denn wir können nicht preisgeben, was uns das Herzstück des Evangeliums von Jesus Christus ist: das in der Reformation wieder ans Licht gekommene Evangelium von der Gnade und Herrlichkeit Jesu Christi, von der freien, freibleibenden und unverdienbaren Gnade Gottes, die in der Sendung, dem Kreuz und der Auferstehung seines Sohnes offenbar geworden, des Sünders Heil und Gerechtigkeit ist, die er im Glauben empfängt. Solus Christus, sola gratia, sola fide, sola scriptura, das sind die Eckpfeiler des evangelischen Bekenntnisses. Um sie wird es im Gespräch mit allen Kirchen entscheidend gehen, besonders im Gespräch mit der römischen Kirche. Hier wird sich alles entscheiden: Ob die Reformation Irrtum, Schuld und Sünde war oder Gottes Gabe an die Kirche; ob die Evangelischen aus dieser Kirche ausgetreten sind oder nicht. Ob die Kirchenspaltung durch Preisgabe der reformatorischen Wahrheit rückgängig gemacht werden muß, darüber kann nur das Wort Gottes Heiliger Schrift entscheiden, das über uns allen allein den Sieg behalten wird. Uns geht es um die Alleinherrschaft Jesu Christi in der Kirche, um die alleinige Autorität der Heiligen Schrift für die Kirche, ihre Lehre und ihren Glauben, um die Vollmacht des Wortes Gottes zum Heil der Sünder, die dem Evangelium glauben und dadurch Gott recht sind. Und weil es uns darum geht, sind wir überzeugt, daß weder unsere Väter noch wir aus der Kirche ausgetreten sind und daß die Reformation kein sündiges Werk von Häretikern war, die trotzig die Einheit der Kirche zerbrachen. Darum können wir nichts anderes tun, als bei unsern katholischen Mitchristen um Verständnis dafür bitten, daß sie uns als Christen und Glieder der Kirche Christi möchten gelten lassen. Natürlich müssen wir uns gegenseitig für irrende Brüder halten, zwischen denen ganz grundlegende Gegensätze im Glauben, in der Lehre, im Verständnis der Kirche und ihrer Geschichte stehen, die aber trotzdem Brüder in Christus sind - sola gratia! - und die sich um die „Einigkeit im Geist" mühen müssen um Christi willen, um der Botschaft an die Welt willen, um der Glaubwürdigkeit der Kirche willen. Wir müssen es miteinander zu lernen versuchen: ganz streng in der Frage der

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Wahrheit und ganz stark in der Liebe zueinander zu sein. Vielleicht öffnet sich uns dann doch eines Tages der Weg, der heute offensichtlich noch ganz verschlossen ist. Heute jedenfalls können wir unserer Bereitschaft, auch mit der römisch-katholischen Kirche in ein Gespräch über unsere Lehre und unseren Glauben einzutreten, nur die schmerzliche Erkenntnis zufügen, daß wir Evangelischen in dem Weg, der uns als der katholische Weg der Wiedervereinigung vor Augen steht, keine Möglichkeit sehen können, das erstrebte und ersehnte Ziel zu erreichen. Dies müssen wir der Redlichkeit wegen doch sagen. Wir halten den Weg nicht für gangbar, da er auf der unantastbaren Voraussetzung beruht, die römisch-katholischen Kirche sei mit der Kirche Christi identisch. Er ist für uns nicht gangbar, weil wir diese Voraussetzung, diesen Ausgangspunkt für eine Wiedervereinigung, nicht teilen können. Dieser Weg würde auch von uns nichts anderes als 'die Kapitulation, die Preisgabe des evangelischen Glaubens verlangen. Dagegen erscheint uns der Weg der ökumenischen Bewegung bis auf weiteres ein gangbarer, ein hoffnungsvoller Weg zu sein, der uns wirklich Schritte zueinander tun läßt, der uns einander näherbringt und der uns von vornherein nichts auflegt, was wir nicht tragen können. Auf dem ökumenischen Wege müht man sich, wie wir gesehen haben, um gegenseitiges Verständnis füreinander, um eine Offenheit zueinander, und darum ist er ein Weg, bei dem die christliche Bruderschaft wachsen kann. Im Ökumenischen Rat der Kirchen verlangt niemand vom andern die Preisgabe seiner Lehre und die Unterwerfung unter eine ökumenische Festlegung, sondern man erkennt sich gegenseitig in all seiner Verschiedenheit als Mitglied, als „Kirche" an, ohne daß es eine ökumenische Lehre von der Kirche gäbe. Man weiß um die gegenseitigen Vorwürfe und Irrtümer der anderen, aber man verwirft sich nicht, sondern wagt es, auf den andern zu hören, um ihn zu verstehen, und man hofft, daß es nicht vergeblich sein wird. Man gibt sich keiner Täuschung darüber hin, wie lang und schwer dieser Weg zueinander sein wird. Denn man weiß um die Tiefe der Differenzen, um die Unüberwindlichkeit der gegensätzlichen Auffassungen. Man sieht die eigene Unlust, zu lernen, zu verstehen und tiefer zu erkennen, aber auch die Schwachheit des anderen - und doch gibt man nicht auf, wenn man auch eingestehen muß, daß man keinen Schritt vorwärtsgekommen ist. Aber man tut inzwischen einiges. Man beginnt ökumenische Zusammenarbeit. Man fängt an, füreinander zu sorgen, einander Hilfe zu gewähren. Die ökumenische Diakonie ist eine großartige Entdeckung der brüderlichen Liebe unter den Christen vieler Kirchen. Hier bewährt

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sich etwas Neues: christliche Bruderschaft über die Grenzen der eigenen Kirche hinaus. Ökumenische Diakonie umkreist den Erdball. Die Liebe von Kirche zu Kirche kennt keine Entfernung und keine Grenzen. Wo sich quer durch die Kirchen eine solche Bruderschaft in Christus begibt, da wachsen die Kirchen zusammen, auch wenn sie noch nicht fähig sind, eine Union zu schließen. In ihrer Liebe beten sie füreinander und bringen die Not des andern vor Gott. Könnte es die Anfänge solcher Bruderschaft in der Liebe Christi nicht aush zwischen uns Evangelischen und den römischen Katholiken geben? Ja, wenn wir es wagen würden, uns gegenseitig als Mitchristen ganz ernst zu nehmen. Und das würde bedeuten: Wir betrachten uns gegenseitig nicht mehr als Missionsgebiet. Wir respektieren auch untereinander die bei uns gespendete Taufe. Wir erkennen die unter uns - auch zwischen konfessionsverschiedenen Ehegatten - geschlossenen Ehen an. Wir erklären uns gegenseitig nicht mehr für ungläubige Abgefallene, benennen einander nicht mit ähnlichen, die Brüderlichkeit unmöglich machenden Worten. Geht das oder geht das nicht? Das ist die ernste Frage - eine ganz schwere Frage an unsere römisch-katholischen Mitchristen. Wir laden dazu ein, daß wir darüber zuerst einmal ins Gespräch kommen. Das wäre ein möglicher Schritt zur Wiedervereinigung. Die im Ökumenischen Rat sich zusammenschließenden Kirchen haben auf diesem Gebiet an manchen Orten der Welt auch einiges zu lernen gehabt. Auch hier mußte erkannt werden, daß man durch den Beitritt zum Ökumenischen Rat nicht derselbe bleiben kann, der man war, zumal in seinem Verhältnis zum Nachbarn, zur anderen Kirche am selben Ort, im selben Land. Man muß miteinander sprechen, auch über die schmerzlichen Probleme einer kirchlichen „Konkurrenz". Man muß lernen, anders voneinander zu sprechen als bisher. Man kann sich nicht mehr gegenseitig schlechtmachen. Man kann einander nicht mehr als besonders geeignetes Missionsobjekt betrachten. Denn der ökumenische Weg ist nicht nur ein Weg der Weltkirchenkonferenzen und der Arbeitsausschüsse, Ökumene fängt zu Hause an. Hier am Ort, wo man zusammen lebt, geht es um die „ökumenische Gesinnung", um Verstehen, Lieben, Zusammenarbeiten, geistliches Näherkommen. Darum muß in jeder Gemeinde aller Konfessionen gerungen werden, denn das ist die unmittelbare und wichtige Aufgabe des ökumenischen Weges, die zu erfüllen keiner christlichen Kirche und Gemeinde ohne weiteres leicht fällt. Aber gerade diese schwierige Aufgabe, die zu erfüllen keinen Tag gewartet zu werden braucht, gehört zum Weg der ökumenischen Bewegung. Hier werden Schritte zur Wiedervereinigung getan. Ohne diese Schritte kann es überhaupt nicht zur Wiedervereinigung der Christen kommen, wenn nicht da, wo sie miteinander leben und von Gott zu Nachbarn und Nächsten zusammengefügt sind. Im Namen Jesu Christi

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muß hier unsere Lieblosigkeit, unsere Gleichgültigkeit, unsere Armut im Zeugnis, in der Hoffnung, in der Geduld überwunden werden. „Im Namen Jesu" - das führt uns zum Schluß noch zu einer entscheidenden Einsicht im Blick auf den Weg der Kirchen zueinander. Ganz gewiß kann die Liebe der Christen zueinander nicht wachsen, wenn es nicht die Liebe Christi ist, die sie treibt. Die Liebe Christi aber kommt aus dem Glauben und der Erkenntnis Christi. Je lebendiger der Glaube an Christus, je tiefer die Erkenntnis Christi, desto kraftvoller die Liebe Christi, die die Christen erfüllt. Liegt nicht hier der Angelpunkt des Zueinanders der getrennten Kirchen? Je mehr alle Kirchen auf Christus zugehen, desto näher kommen sie sich, denn er ist der Herr in der Mitte aller Glaubenden. Je tiefer unsere Erkenntnis des Sohnes Gottes, desto größer unsere Einigkeit im Glauben und in der Lehre. Wir sollen und können „wachsen auf den hin, der das Haupt ist, Christus" (Epheser 4, 25). Wenn wir das tun, kommen wir zur Einheit des Leibes Christi, der vom Haupt her erbaut wird. Gibt es Wege zur Wiedervereinigung der Kirchen? Gibt es überhaupt einen Weg, der gangbar ist, oder müssen wir uns damit abfinden, daß die Kirche bis zum Jüngsten Gericht getrennt und ihre Einheit zerrissen sein wird? Wir haben weder im Blick auf die ökumenische Bewegung das einfache Ja eines christlichen Optimismus noch im Blick auf die Unüberbrückbarkeit der Gegensätze zwischen Rom und den anderen Kirchen ein pessimistisches Nein sagen können. Beides ist uns von Christus nicht erlaubt. Er hat uns weder eine Hoffnung auf die Einigkeit aller Christen in der Welt gegeben noch uns der Verzagtheit überantwortet. Ihm allein dürfen wir die Antwort auf unsere Frage anbefehlen. Denn es liegt nicht an unserer Kraft, sondern an Christi Gnade, daß er uns schon hier auf Erden in seiner Gemeinde so zusammenführt, daß wir „einmütig mit einem Munde loben Gott, den Vater unsres Herrn Jesu Christi" (Römer 15, 6).

Können der Lutherische und der Heidelberger Katechismus unverkürzt nebeneinander in Geltung stehen ?* i. Im Blick auf die Evangelische Kirche der Union wird uns immer wieder die Frage gestellt, ob Luthers Kleiner Katechismus und der Heidelberger Katechismus in einer Kirche unverkürzt in Geltung stehen können. Darauf muß zuerst geantwortet werden, daß die beiden Katechismen in der ehemaligen preußischen Landeskirche lange Zeit hindurch unverkürzt nebeneinander in Geltung gestanden haben, und zwar dadurch, daß es sich um eine Landeskirche handelte, die außer den Gemeinden, die es in ihr gab, eigentlich nur staatskirchliche Organe hatte. Der Landesherr war es ja, der das Ganze zusammenhielt und der schon vor 1817 eine „Verwaltungsunion" für den schmalen Bereich praktizierte, den es damals als kirchliche Verwaltung gab. Es gab in dieser Landeskirche lutherische und reformierte Gemeinden nebeneinander. Die Zugehörigkeit des Landesherrn zum reformierten Bekenntnis hatte nicht zur Folge gehabt, daß das ganze Land dem reformierten Bekenntnis überliefert wurde. Der reformierte König war von vornherein geneigt, den Lutheranern gegenüber ein Maß an Toleranz zu gewähren, wie es die Lutheraner den Reformierten gegenüber bis dahin meistens nicht gewährt hatten. Diese besondere Voraussetzung einer zweihundert Jahre langen Geschichte der evangelischen Kirche in Preußen läßt es verstehen, warum 1817 der Aufruf, der ja nur ein Aufruf zu einer freiwilligen Union war, ein solches positives Echo fand. Es hat trotz der Union natürlich noch lange Zeit hindurch nur lutherische und reformierte Gemeinden gegeben, zumal da die zweite Königliche Kabinettsorder ausdrücklich betonte, daß das Bekenntnis der einzelnen Gemeinden durch den Beitritt zur Union nicht außer Kraft gesetzt würde. Lange Zeit blieb noch alles beim alten, obwohl selbstverständlich

* A u s : KIRCHE IN DER ZEIT 17, 1962, S. 4 0 5 - 4 0 8 . - V g l . a u c h J . BECKMANN, D i e

Lehrunterschiede der lutherischen und reformierten Theologie im Blick auf die gegenwärtige kirchliche Gemeinschaft. In: Nachrichtendienst der „Pressestelle der Ev. Kirche der R h e i n p r o v i n z " 2 , 1947, N r . 2 3 / 2 4 , S. 1 - 2 .

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unabhängig von diesem rechtlichen Tatbestand die Gemeinden sich mehr und mehr einander näherten. Man muß auch feststellen, daß im westlichen Gebiet, zum Beispiel im Rheinland, nicht erst der Aufruf des Königs das hervorrief, was an Unionen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geschah, sondern daß viele Gemeinden schon längst vorher aufeinander zugekommen waren, auch durch einen ganz anderen Faktor, der historisch sehr bedeutsam gewesen ist, herausgefordert, nämlich die Ubermacht der Römisch-Katholischen Kirche, in deren Raum sich die kleinen Diasporagemeinden nur sehr schwer halten konnten. Das Problem, das uns beschäftigt, entsteht erst in der Fortentwicklung dieser alten preußischen Landeskirche zu immer größerer Kirchlichkeit. Es werden Synoden geschaffen: Kreissynoden, Provinzialsynoden, dann die Generalsynode. Es gibt nicht nur eine kirchliche Verwaltung durch die Konsistorien, sondern es gibt ein ganz neues Zusammenarbeiten durch die kirchliche „Selbstverwaltung" der Gemeinden und Synoden, wie es in Rheinland und Westfalen begann und auf die Gesamtkirche übertragen wurde. So entstand eine ganz neu gestaltete Kirche, die zwar rechtlich lediglich Verwaltungsunion blieb, faktisch aber schon dadurch mehr war, daß man auf Synoden zusammensaß, daß man gemeinsame Pfarrkonvente hatte und daß man auch gemeinsame kirchliche Obere hatte, Generalsuperintendenten und Superintendenten. Dies alles geschah ohne Rücksicht auf die Bekenntnisverschiedenheit der Gemeinden, teils aus theologischen Uberzeugungen, teils aber natürlich auch aus Gleichgültigkeit gegenüber den traditionellen Bekenntnisverschiedenheiten. Man verstand sich als eigentlich doch in einer evangelischen Kirche zusammengehörig. So wurde auch diese Kirche nach und nach mehr als eine Föderation bekenntnisverschiedener Gemeinden. Sie schritt durch mannigfache Ereignisse über eine bloße föderative Union hinaus, und die Frage nach einer Konsensunion wurde in dieser Kirche in steigendem Maße gestellt. Das hat sich schon gezeigt bei der heftigen Diskussion um den Grundartikel der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union im Jahre 1922. Damals ist in der Präambel zum erstenmal niedergelegt worden, was die gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck brachte, die von großer Wichtigkeit für die faktische Kirchengemeinschaft war. Ich denke an die berühmten Sätze: „Getreu dem Erbe der Väter steht die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen Preußens auf dem in der Heiligen Schrift gegebenen Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes, dem für uns Gekreuzigten und Auferstandenen, dem Herrn der Kirche, und erkennt die fortdauernde Geltung ihrer Bekenntnisse an: des Apostolischen und der anderen altkirchlichen, ferner der Augsburgischen Konfession, der Apologie, der Schmalkaldischen Artikel

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und des Kleinen und Großen Katechismus Luthers in den lutherischen den, des Heidelberger Katechismus in den reformierten sowie der der Bekenntnisse, w o solche in Kraft stehen. D a s in diesen Bekenntnissen Evangelium ist die unantastbare Grundlage für die Lehre, Arbeit und schaft der Kirche."

Gemeinsonstigen bezeugte Gemein-

Dies war damals ein echtes Bekenntnis gegenüber denjenigen, die darauf aus waren, in der neuen Situation der Volkskirche nach Möglichkeit eine Bekenntnisbindung zu vermeiden. Es war damals bekanntlich die kirchliche Linke, der gegenüber von Lutheranern und Reformierten einmütig jene große Diskussion grundsätzlicher Art geführt wurde. Das Problem, vor dem wir stehen, entstand aber auch durch die Entwicklung der Theologie selbst. Ich meine, man kann nicht übersehen, daß die Schriftforschung von zwei Jahrhunderten entscheidend dazu beigetragen hat, daß die alte orthodoxe Position, unbeschadet des Problems der Aufklärung, das ich ganz beiseite lassen möchte, unhaltbar wurde. Die Heilige Schrift hat selbst gegen das, was in der Orthodoxie hier letzten Endes schriftwidrig gelehrt wurde, Protest eingelegt. In diesem Zusammenhang kam es natürlich auch zu einer Wandlung im Verständnis der überlieferten Bekenntnisse, wodurch das Problem der Geltung und der Verbindlichkeit der Bekenntnisse entstand. Die Frage ist natürlich, ob diese theologische Wandlung als berechtigt und notwendig anzusehen ist oder ob es hier nur ein entschlossenes Zurück hinter das 18. und 19. Jahrhundert, also in das 17. und 16. Jahrhundert, geben kann. Die theologische Entwicklung hat sich in der ganzen Breite des 19. Jahrhunderts, unabhängig von einzelnen Schuldifferenzen, bei aller Restauration doch um eine neue Interpretation der alten Bekenntnisse nach allem, was die Aufklärung einerseits und der Pietismus andererseits bewirkt hatten, bemühen müssen. Die Problemstellungen sind andere geworden als in der vorhergehenden Zeit. Der Verlust der alten konfessionellen Theologie und ihr Ersatz durch eine evangelische Theologie, die Bildung evangelischer Fakultäten, das Aufhören konfessioneller Bindung der Theologie an den Fakultäten - oder anders geredet, die in Deutschland aufkommende Grundthese, daß in der Universität einschließlich der theologischen Fakultät das Prinzip der freien Forschung und Lehre zu herrschen habe, dies alles ist von grundlegender Bedeutung für die Gegenwart geworden. Es ist für die kirchliche Geschichte, in der wir stehen, entscheidend, daß sich auch für das Mitglied einer theologischen Fakultät oder einer Kirchlichen Hochschule das Problem der Bekenntnisbindung heute neu und anders stellt - und zwar in einem Konsensus innerhalb der ganzen evangelischen Kirche - als in der Zeit, in der es die orthodoxe Bekenntnisbindung gab. Schließlich ist uns das Problem neu gestellt durch die kirchen-

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geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch den Kirchenkampf. Was im Kirchenkampf in der Barmer Theologischen Erklärung zu Wort gekommen ist, dies wäre vor 200 Jahren nicht möglich gewesen. Zum erstenmal ist hier etwas von der tiefgreifenden Übereinstimmung, dem magnus consensus, zwischen den reformatorischen Bekenntniskirchen zum Ausdruck gekommen.

II. Wie steht es auf diesem Hintergrund mit dem unverkürzten InGeltung-Stehen der beiden Katechismen in unserer Evangelischen Kirche der Union? Es ist wahr, die Evangelische Kirche der Union versteht sich als eine Kirche. Sie versteht sich nicht als ein Bund von Gemeinden verschiedenen Bekenntnisses. Sie versteht sich auch nicht als ein Bund von Bekenntniskirchen, sei es der Gliedkirchen oder sei es quer hindurch von drei großen Bekenntnisgruppen, nämlich einer lutherischen Bekenntniskirche, einer reformierten und einer konsensusunierten Bekenntniskirche. Sie versteht sich als eine Kirche, obwohl sie weiß, daß in ihr nicht ein „vollständiger" consensus de doctrina evangelii vorhanden ist. Die Frage ist, ob der vorhandene Konsensus, wie er sich ausspricht in den verschiedenen Bekenntnissen, einschließlich der Barmer Theologischen Erklärung, ausreicht, ob er die notwendige Grundlage schafft, auf der sich echte Kirchengemeinschaft aufbaut. Ich meine das bejahen zu dürfen, und zwar aufgrund des entscheidenden Gedankes, den ich den lutherischen Bekenntnisschriften, und zwar den Schmalkaldischen Artikeln, entnehme. Luther behandelt in diesen Artikeln die Frage des Konsensus und Dissensus zwischen Rom und den Reformatoren und spricht dabei von einem „Grundartikel", mit dem die Kirche steht und fällt, von dem man darum unter keinen Umständen lassen kann. Dieser Grundartikel ist nach meiner theologischen Uberzeugung das Integral der gesamten lutherischen Bekenntnisschriften, ja, nicht nur der lutherischen, sondern auch der reformierten. Er ist die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung. Von Luthers Theologie her bedeutet es nichts für die Kirchengemeinschaft, wenn nicht dieser Grundartikel in Kraft steht. Ich erinnere daran, daß Luther an der berühmten Stelle der Schmalkaldischen Artikel das Wort „glauben" durchgestrichen und geschrieben hat „bekennen": Wir bekennen das altkirchliche Dogma zwar mit den Katholiken gemeinsam, aber wir glauben es nicht gemeinsam. Warum? Weil die Katholiken nicht auf dem Grundartikel stehen, weil sie die Rechtfertigung des Sünders sola gratia sola fide nicht glauben und bekennen, weil sie in Wirklichkeit nicht das von Christus glauben, was von ihm in der Schrift bezeugt ist im Blick auf

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das alleinige Heil in ihm. Die Möglichkeit der Kirchengemeinschaft, die bei uns besteht, kommt daher, daß ein qualitativer Konsensus vorliegt, und zwar im Integral der lutherischen Reformation, das identisch ist mit dem von Luther so herausgestellten Haupt- und Grundartikel, mit dem die Kirche steht und fällt. Wir bejahen also das Miteinander der beiden Katechismen als eine Möglichkeit wegen des in beiden Katechismen zum Ausdruck kommenden echten Konsensus über das Evangelium von Jesus Christus trotz einiger nicht leicht zu nehmender Lehrdifferenzen. Die Unverkürztheit der Geltung beider Katechismen würde ich darin sehen, daß eben das Evangelium von Jesus Christus, wie es im Hauptartikel der Schmalkaldischen Artikel zum Ausdruck gekommen ist, unverkürzt in Kraft steht. Also in der gemeinsamen Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben an das Evangelium. Wenn daran gekürzt würde, dann wäre allerdings die Unverkürztheit in Frage gestellt. Die gemeinsam bezeugte Evangelium ist der Schlüssel der ganzen Heiligen Schrift, wie es Melanchthon in seiner Interpretation der Confessio Augustana, der Apologie, ausgeführt hat. Das ist allerdings von entscheidender Bedeutung für unser Beisammensein, daß wir überzeugt sind, daß der Lutherische und der Heidelberger Katechismus auf einer gemeinsamen Basis ruhen, daß sie nämlich denselben Schlüssel zur Heiligen Schrift haben und daß der Schlüssel zur Heiligen Schrift eben in diesem Integral, dem Grundartikel der Rechtfertigung des Sünders, liegt und daß er das Ganze beider Katechismen bestimmt.

III. Die zwischen beiden Katechismen vorhandenen Lehrdifferenzen sollen jetzt noch kurz in ihrem Gewicht zur Sprache gebracht werden. Natürlich wissen wir alle, daß diese Lehrdifferenzen lange Zeit hindurch ein Hindernis der Kirchengemeinschaft gebildet haben. O b mit Recht oder Unrecht, darüber wollen wir jetzt mit unseren Vätern nicht rechten. Jedenfalls ist es so gewesen. Man hat sich damals nicht als zu einer Kirche gehörig verstanden. Man hat sich grimmig in die Augen geschaut und hat sich gegenseitig heftigste Vorwürfe gemacht bis zu grenzenlosen Übertreibungen, an denen ja wohl heute niemand mehr festhalten kann, weil sie wider die Wahrheit sind. N u n aber steht es nach meiner Uberzeugung mit den kirchentrennenden Lehrdifferenzen so, daß diese sich nicht im Intellekt von Theologen ereignen, die mit einem Male entdecken, daß an irgendeinem Punkt eine Differenz vorliegt, die die Kirchen trennt, sondern daß sich im konkreten Akt eines geschichtlichen Vorganges etwas begibt, wodurch eine Kirche auseinandergerissen wird. Man könnte sich das an der Situation des Kirchenkampfes 1933/34

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besonders deutlich in Erinnerung rufen, wo mit einem Male der eine den anderen nicht mehr als in derselben Kirche befindlich ansah und ihm demzufolge erklärte: Du bist draußen, es sei denn, du bekehrtest dich von deiner Irrlehre. Es kann also irgendeine Auseinandersetzung aufbrechen, von deren Gewicht vorher niemand etwas ahnte, aber nun bricht darüber die Kirche auseinander. In der theologischen Reflexion wird dann herausgearbeitet, wo denn nun die wirklichen theologischen Gründe dafür liegen. Und dann begibt es sich, daß in der Kirche in einer späteren Generation die Fragen neu überlegt werden. Es fallen Dinge fort, die inzwischen ausgehandelt sind, obwohl alte Sätze und Texte noch dastehen. Sie werden aufgrund der Schriftforschung auch neu interpretiert, und man befindet sich eines Tages vor der Situation, daß man Differenzen über das, was die Väter trennte, für tragbar hält, obgleich man noch schmerzlich bewegt ist von der Tatsache, daß man nicht über sie hinwegkommen konnte. Aber sie haben ihre Aktualität verloren, zumal da unter anderem durch die geschichtlichen Fakten längst vordringlichere Fragen aufgerollt sind, denen gegenüber die Differenzen der lutherischen und reformierten Bekenntnisse zweitrangig sind, was ja in der Geschichte unserer Kirche sicher am Tage liegt. Aber auch unabhängig davon wird es dabei bleiben, daß alle Bekenntnisse der Kirche, die sich durch den Fortgang der Geschichte immer weiter von uns entfernen - das gilt von den altkirchlichen und den reformatorischen Bekenntnissen wie auch von den späteren - , nur dadurch lebendig bleiben, daß sie immer wieder neu von den jeweils lebenden Christen durch Interpretation angeeignet werden. Ich glaube nicht, daß es heute einen evangelischen Christen gibt, der imstande ist, nachzuvollziehen, was die Väter in Nicäa oder in Konstantinopel in ihrer Denk- und Glaubensweise gemeint haben. Er wird es bei aller positiven Schätzung und Wertung dieser Bekenntnisse immer tun als einer, der durch die Reformation hindurchgegangen ist und der im 20. Jahrhundert lebt. Das heißt also, zwischen uns ist etwa hinsichtlich der Lehrdifferenzen des Lutherischen und des Heidelberger Katechismus durch die Schriftforschung vieles in Bewegung gekommen. Das Gespräch ist neu lebendig geworden. Wir sind der Meinung, daß das Übereinstimmende durch das echte Integral der reformatorischen Bekenntnisse, die bei uns gelten, eine Tragfähigkeit für die Kirchengemeinschaft bewirkt. Dieses Ubereinstimmende ist von so entscheidender Bedeutung und qualitativ so einzigartig gegenüber den Differenzen, daß wir diese für tragbar halten. Aber noch etwas anderes möchte ich doch noch einmal herausstellen, weil es gerade im Blick auf die Sakramentenlehre, die ja different ist, von Wichtigkeit ist. Warum ist es tragbar, daß zwei so verschiedene Sakramentstheologien in einer Kirche nebeneinander bestehen können? Tragbar erscheint das einmal schon deswegen, weil das Eigenartige und 12

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Einzigartige der beiden Kirchen von der Reformation her doch in dem besteht, was alle anderen Kirchen in dieser Weise nicht praktizieren können, und das ist das echte sola scriptura, das heißt also, die alleinige Bindung an die Heilige Schrift; und zwar nicht in einem bloßen Formalismus, sondern in der Weise, wie ich es oben im Zusammenhang mit der Rechtfertigungslehre als dem Schlüssel der Schrift ausgesprochen habe. Anders geredet: In diesen beiden Kirchen der Reformation ist daran festgehalten: verbum dei condit artículos fidei, praeterea nemo, ne ángelus quidem; das heißt, wir bleiben als Kirche immer nur der Schrift unterworfen, wie es in der Koncordienformel so schön heißt, daß die Schrift der alleinige Richter und Prüfstein aller Lehre ist. Wo Kirchen sich so allein der Heiligen Schrift verantwortlich wissen, da ist die Tatsache, daß hier Schrifterkenntnisse gelegentlich different sind, nicht ohne weiteres kirchentrennend, weil diese Kirchen doch in der Hoffnung existieren, daß sie durch eine bessere, tiefere, gemeinsame Schrifterkenntnis wieder zusammengeführt werden. Die Bereitschaft, sich von daher korrigieren zu lassen, ist von entscheidender Bedeutung. Aber im Zusammenhang damit noch ein zweites. Mir scheint, es ist notwendig, herauszustellen, daß für die Reformation der Kirche Luthers Erkenntnis, daß das Wort Gottes das einzige Gnadenmittel ist, von grundlegender und einzigartiger Bedeutung ist. Das Wort Gottes als Evangelium ist das Gnadenmittel. Oder wieder in der Formulierung der Schmalkaldischen Artikel gesprochen: Das Evangelium hat nicht eine Gestalt, sondern mehrere Gestalten, nämlich die mündliche Predigt, die Taufe, das Abendmahl usw. Hier wird der Sakramentsbegriff ganz dem Evangelium, dem Worte Gottes als Gnadenmittel, unterworfen und also darin eingegliedert. Damit geschieht etwas Entscheidendes gegenüber der ganzen vorherigen Kirchengeschichte, das heißt gegenüber dem, was von den Sakramenten in der orthodoxen und der Römisch-Katholischen Kirche gelehrt wurde. Dahinter steht natürlich noch das andere, was mit dem Wort als dem eigentlichen Gnadenmittel ans Licht kommt, nämlich das Verständnis der Gnade nicht als einer übernatürlichen Kraft, sondern als des favor dei erga nos, der Gunst Gottes gegen uns. An diesen Gegensätzen kam es zu echter Kirchentrennung. Hier gibt es wirklich kirchentrennende Differenzen, wo die Gnade Gottes nicht mehr verstanden wird als favor dei erga nos, sondern als eine dingliche Kraft, in sakramentale Handlungen eingeschlossen. Und wo das Wort Gottes nicht mehr das Gnadenmittel ist, das uns diese Gnade Gottes zuspricht, so daß wir hineingenommen werden in sie, da ist allerdings eine Grenze, die eine Kirchengemeinschaft unmöglich macht. Demgegenüber sind die theologischen Konstruktionen, die im Heidelberger Katechismus über das Verhältnis von Wort und Sakrament aus einer bestimmten, ausgesprochen anti-römisch-katholischen Sorge gemacht werden, zwar nicht

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ohne eine gewisse Fragwürdigkeit, man könnte sagen, es wird hier zuwenig gesagt, es müßte hier kräftiger geredet werden - trotzdem könnte man doch nicht sagen, daß die Entscheidung über das Wie in der Selbstmitteilung Gottes im Sakrament oder der Gabe seiner Gnade, ob sie nun „in, mit oder unter" den Elementen geschieht oder nur in einem „zugleich", von kirchentrennender Bedeutung sein müsse. Dasselbe betrifft auch einige Punkte der Christologie, die ich aber nicht mehr im einzelnen behandeln möchte; denn ich glaube, daß wir gelernt haben, daß wir innerhalb der Christologie uns Grenzen gefallen lassen müssen, um nicht in eine Spekulation hineinzugeraten, wie sie unsere Väter zum großen Teil für möglich gehalten haben. Aber davon abgesehen, dürfte man sagen, daß hier theologisch diskutiert werden muß über die verschiedene denkerische Bewältigung dessen, was gemeinsam geglaubt und bekannt wird, nämlich daß das Wort Fleisch ward. Diese theologische Diskussion ist jedoch nicht der Inhalt des christlichen Glaubens selbst, sondern von ihm zu unterscheiden. Diese Unterscheidung, die ja auch zu den Ergebnissen der neueren Geschichte der evangelischen Kirchen gehört, ist von großer Wichtigkeit. Mir scheint, daß hier doch eine wesentliche Frage zu beantworten ist über den Unterschied von Glaubensbekenntnis und Theologie, das heißt von dem, was theologisch diskutiert wird und werden kann und was Inhalt des christlichen Glaubens selbst ist. Der Syllogismus practicus, um das nur am Rand zu bemerken, spielt faktisch in unseren Kirchen gar keine entscheidende Rolle. Die Reformierten in unserer Kirche betrachten ihn nicht als einen Bestandteil ihrer Soteriologie, sondern er ist für sie eine diskutable Lehrmeinung ohne zwingende Verbindlichkeit. Nun noch ein drittes im Anschluß an eine Schrift von Peter Brunner, die er vor vielen Jahren geschrieben hat. Sie heißt „Union und Konfession". In diesem Gutachten stehen einige wesentliche Dinge, auf die ich mich berufen möchte, um damit zu begründen, warum die beiden Katechismen in einer Kirche in Kraft stehen dürfen. Es heißt hier an einer entscheidenden Stelle: „Es ist nicht zu bestreiten, daß die Menschen auch dort die rettenden Gnadenmittel finden können, wo die Predigt des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente durch das reformierte Bekenntnis bestimmt ist. Es ist möglich, daß in unserer Generation kein Mensch lebt, der dadurch, daß er nur einer vom reformierten und nicht vom lutherischen Bekenntnis bestimmten Predigt und Sakramentsverwaltung begegnet ist, das Heil versäumt, so daß im Blick auf unsere Generation unter dem Gesichtspunkt der Rettung im Jüngsten Gericht tatsächlich gleichgültig wäre, ob das reformierte oder lutherische Bekenntnis in Kraft steht. Wenn aber bis zum Jüngsten Gericht auch nur eine Menschenseele deswegen verlorengehen sollte, weil sie den vollen Trost des

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Lutherischer und Heidelberger Katechismus

Evangeliums infolge der Außerkraftsetzung der dem lutherischen Bekenntnis eigentümlichen Lehre nicht hat vernehmen können, so würde diese Menschenseele von denen gefordert werden, die in eine solche Außerkraftsetzung der dem lutherischen Bekenntnis eigentümlichen Lehre eingewilligt haben. Wenn wir nicht der Uberzeugung wären, daß eine vom lutherischen Bekenntnis bestimmte Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung grundsätzlich noch in eine solche Tiefe der Anfechtung als rettende Kraft hinabreicht, die einer vom reformierten Bekenntnis bestimmten Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung nicht mehr zugänglich ist, auch wenn in unserer Generation dieser Fall praktisch überhaupt nicht vorkommen sollte, so wäre es uns nicht erlaubt, länger getrennte reformierte und lutherische Gemeinden und Kirchen aufrechtzuerhalten. Sind wir aber dieser Überzeugung, dann ist uns jede Union, in der die Geltung des lutherischen Bekenntnisses in seiner Ganzheit entweder außer Kraft gesetzt oder gefährdet oder in seinem letzten Ernst angetastet wird, untersagt." H i e r w ü r d e ich s a g e n : I c h k a n n das, w a s im z w e i t e n Teil dieser D a r b i e t u n g steht, n i c h t a n e r k e n n e n , w e n n es w a h r ist (was w i r g e h ö r t h a b e n ) , d a ß die H e i l s v e r k ü n d i g u n g beider K a t e c h i s m e n wirklich ü b e r e i n s t i m m t , anders g e r e d e t : w e n n es w a h r ist, w a s im ersten Teil steht, d a n n k a n n ich die Ü b e r z e u g u n g

des z w e i t e n Teils nicht m e h r

für

d u r c h s c h l a g e n d halten. In einer a n d e r e n Schrift - „ D a s lutherische B e k e n n t n i s in d e r U n i o n " - hat sich P e t e r B r u n n e r s e h r gründlich m i t derselben F r a g e beschäftigt, u n d d o r t heißt es n u n an einer Stelle f o l g e n d e r m a ß e n : „Es trifft zu, daß im B l i c k auf die Wiederherstellung der Apostolizität der Verkündigung der entscheidende Schritt die Aktualisierung dessen wäre, was die Lutherischen Bekenntnisse und der Heidelberger Katechismus zusammen mit dem altkirchlichen Glaubensbekenntnis als Inhalt des apostolischen Evangeliums gemeinsam bezeugen. Wenn heute Lutheraner und Reformierte das Evangelium so predigen könnten, wie es aufgrund des gemeinsamen Inhalts ihrer Bekenntnisse gepredigt werden müßte, wenn sie durch eine solche Predigt die Gefahr einer tiefgreifenden Zersetzung der apostolischen Verkündigung überwinden könnten, dann wäre zweifellos der größere, ja der entscheidende Schritt zur Wiederherstellung der Apostolizität der Verkündigung unserer Kirche getan." W e n n m a n das sagen k a n n , d a n n ist es v e r a n t w o r t b a r , daß beide K a t e c h i s m e n in einer K i r c h e in G e l t u n g stehen. D e n n d a n n ist das

satis

est des L u t h e r i s c h e n B e k e n n t n i s s e s v o n A u g u s t a n a 7 erfüllt: E s g e n ü g t z u r E i n i g k e i t d e r K i r c h e (das heißt z u r K i r c h e n g e m e i n s c h a f t ) , daß m a n einig ist in d e r P r e d i g t des E v a n g e l i u m s . A b e r n u n m e i n t P e t e r B r u n n e r an einer anderen Stelle: „Wenn ein Bekenntnis oder ein Katechismus nur als ein erstrangiger K o m mentar zur Heiligen Schrift gewertet wird, kann man die Frage bejahen, daß einander widersprechende Katechismen in einer Kirche in Geltung stehen können. Dann führen die Abweichungen dieser Kommentare den Prediger nur tiefer in die Exegese hinein."

Lutherischer und Heidelberger Katechismus

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Wir sollten darin eins sein, daß das Bekenntnis der Kirche immer in erster Linie ein erstrangiger Kommentar zur Heiligen Schrift sein will und auch ist und daß man es auf gar keinen Fall als eine Abwertung bezeichnen darf, wenn man sagt, es sei nichts anderes als ein erstrangiger Kommentar zur Heiligen Schrift. N u n ist freilich die Frage der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kommentaren zur Heiligen Schrift in der Kirche auch entschieden worden. Indem in unserer Kirche der Lutherische Katechismus und der Heidelberger Katechismus als Bekenntnisschrift in Kraft stehen, wird ja gesagt, diese beiden Kommentare zur Heiligen Schrift haben einen Rang, der sie von Schriften Luthers oder Calvins und anderer Größen der Vergangenheit unterscheidet. Wir haben eben nicht eine Schrift von Augustin, auch nicht eine Schrift von Luther, sondern ein kirchliches Bekenntnis als Katechismus bei uns in Geltung. Und dazu gehört doch die Erkenntnis, daß bei uns unterschieden wird zwischen Kommentaren der Väter, und damit also der Tradition, und solchen Kommentaren, die durch ihre kirchliche Rezeption eine besondere Autorität für die Kirche erlangt haben. Zwar ist nach meiner Uberzeugung die alte Weise der Bekenntnisbindung, wie sie in der Orthodoxie am deutlichsten in Erscheinung tritt, nicht mehr von uns theologisch nachvollziehbar; aber daraus folgt nicht, daß nun für uns die Bekenntnisse der Kirche einfach im Orkus einer unverbindlichen Tradition verschwinden. Ihre Verbindlichkeit hängt doch damit zusammen, daß eben die Kirche unserer Väter als solche diesen Katechismus zur Lehre ihrer Gemeinde gemacht hat. Damit haben die Katechismen als von der Kirche rezipierte Entscheidungen über die rechte Lehre des Evangeliums eine Bedeutung erlangt wie auch das altkirchliche Dogma durch die Rezeption der alten Symbole, die bei uns darin zum Ausdruck kommt, daß wir diese Bekenntnisse heute noch im Gottesdienst bekennen. Solange das geschieht, kann man von einer echten, einzigartigen Autorität sprechen. Denn wir lesen ja nicht im Gottesdienst und Unterricht Augustins oder Calvins Schriften oder andere Werke als Stimmen der Väter. Weder der Lutherische noch der Heidelberger Katechismus sind uns nur Stimmen der Väter, obwohl sie das ja auch sind. Sie sind aber als für die Kirche rezipierte Bekenntnisse von einer besonderen Würde und haben also hier für uns ein Gewicht, das mit anderen Schriften der Kirche nicht vergleichbar ist. Das Miteinander dieser zwei Katechismen in unserer Kirche kann diese nicht auf den Rang einer Privatmeinung herabdrücken. Das Bemerkenswerte freilich ist, daß in unserer Kirche Theologen lutherischen und reformierten Bekenntnisses miteinander über die Schriftgemäßheit der Lehre in den Katechismen in Auseinandersetzung stehen und daß ihnen nicht verboten wird, diese kontroverstheologische Prüfung vorzunehmen in gemeinsamer Beugung unter die Schrift. Ich würde aber bestreiten, daß dadurch, daß diese

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beiden Katechismen in einer Kirche in Geltung stehen, aus den Bekenntnisaussagen private Lehrmeinungen werden. Vielmehr bleibt das Paradox bestehen, daß hier ein gewisser Dissensus getragen wird im Blick darauf, daß wir hoffen dürfen, ihn angesichts der unbestrittenen, alleinigen Geltung der Heiligen Schrift zu überwinden. Wenn wir nicht überzeugt wären, gemeinsam zu glauben, daß sie für uns die einzige Regel und Richtschnur ist, dann hätte es ja im Grunde keinen Zweck, zu diskutieren, und dann wäre es unsinnig, hier etwas zu erhoffen. Die große Gefahr bei den Unionen des vorigen Jahrhunderts bestand darin, daß in jeder Landeskirche eine andere Formulierung der Union vollzogen worden ist. Jeder machte in seinem Bereich eine so oder so geartete „Konkordie", von deren Unzulänglichkeit die anderen überzeugt zu sein pflegten. Nicht ohne Grund kann man die mannigfaltigen „Konkordienformeln" der verschiedenen Konsensusunionen theologisch anfechten und ihre Unzulänglichkeiten aufdecken. Darum, meine ich, ist es der preußischen Union darin besser gegangen, daß auf die rasche Explizierung eines Lehrkonsensus verzichtet wurde. Mit Recht hat man nicht versucht, sofort festzulegen, inwieweit der Inhalt des Lutherischen Katechismus und inwieweit der Inhalt des Heidelberger Katechismus in Geltung bleibt und worin das Gemeinsame beider in einer Unionsgemeinde besteht. Wir sollten daher in der Unterscheidung von Schrift und Bekenntnis und angesichts dessen, was uns miteinander verbindet, in der Hoffnung beisammenbleiben, daß über unsere Partikularkirchen hinaus ein voller consensus de doctrina evangelii erreicht werden kann. Im Zeitalter der Ökumene sollten wir uns erst recht nicht mit provinzialen oder nationalen Lösungen einer Konsensusunion begnügen. Trotzdem wird es von Zeit zu Zeit gut sein, wenn gerade die in solcher Kirche verbundenen Theologen die Frage prüfen, ob sie imstande sind, in neuen theologischen Aussagen ihren Konsensus explizit zu machen, ohne daß damit die Meinung entsteht, es müsse nun so rasch wie möglich eine Lehrkonkordie formuliert werden. Vielleicht darf man hier auf den Evangelischen Katechismus verweisen, der in der Evangelischen Kirche im Rheinland von lutherischen und reformierten Theologen als ein Zeichen des bei uns vorhandenen Lehrkonsensus erarbeitet und von der Synode 1962 zum Gebrauch in den Gemeinden freigegeben worden ist.

Theologische Probleme der Strafrechtsreform"' Wenn ich mich bereitgefunden habe, theologische Fragen im Zusammenhang mit dem Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches zu erörtern, so muß ich sogleich darauf hinweisen, daß das von einem Theologen geschieht, der sich mit ethischen Fragen beschäftigt. Wenn ich es überhaupt wage, zu der Sache zu sprechen, so tue ich das deswegen, weil ich mich schon vor vielen Jahren mit der Materie beschäftigt habe. Bereits Ende der zwanziger Jahre gab es eine heftige Diskussion um den Entwurf eines Strafgesetzbuches. Damals wurde vor allen Dingen versucht, den berühmten §218 ganz zu Fall zu bringen. Auch einige andere Probleme tauchten auf, aber dann wurde alles hinweggefegt von der Wucht des Dritten Reiches. Geraume Zeit hat es gedauert, bis wieder ein Strafgesetz-Entwurf vorgelegt wurde, und wahrscheinlich werden noch Jahre vergehen, bis dieser Entwurf Gesetz werden kann.

I. 1. Zunächst nur ein paar grundsätzliche Bemerkungen über den Sinn der Strafe. Ich habe auf einer Juristentagung hier in der Evangelischen Akademie etwas über den Sinn der Strafe gesagt. Ich will von den inzwischen veröffentlichten 15 Thesen einige in Erinnerung rufen. „ G o t t erlaubt und gebietet uns, zu strafen, im väterlichen und obrigkeitlichen A m t . D i e menschliche Straferlaubnis ist in den Funktionen dieses Amtes beschlossen und dadurch auch begrenzt, im väterlichen oder elterlichen Mandat unmittelbar im Bereich der Erziehung der Kinder, im obrigkeitlichen Mandat, u m für Recht und Frieden zu sorgen. D u r c h die Erkenntnis der Gerechtigkeit Gottes in Christus sind wir Christen in unserem Strafen befreit von dem menschlichen Trieb, zu rächen und zu vergelten. Wir wissen alle, daß der Trieb

* Aus: KIRCHE IN DER ZEIT 18, 1963, S. 467-473. Nachschrift eines Vortrages, der am 11. Oktober 1963 in der Evangelischen Akademie Mülheim (Ruhr) gehalten wurde. - Vgl. auch J. BECKMANN, Theologische Fragen zur Todesstrafe. In: Evangelischer Pressedienst Nr. 42 vom 15. Oktober 1964. 1 Fünfzehn Thesen zur theologischen Besinnung über die Strafe. In: Zeitschrift für evangelische Ethik 5, 1961, S. 257-259.

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zur Vergeltung innerhalb der Völker ungeheuer stark ist. Wir sind befreit vom jus talionis und von der religiösen Vorstellung der Sühne im Sinne einer Wiederherstellung der Rechtsordnung. Diese im magisch-sakralen Strafrecht der Heiden begründete Strafvorstellung ist bis in das Alte Testament hinein wirksam. Aber sie ist durch das Kreuz Christi überwunden, freilich in der Kirchengeschichte immer wieder trotzdem unter heidnisch-metaphysischen Einflüssen in Erscheinung getreten. In der Gewißheit, daß die Strafe auf Christus liegt, unter dem Vorzeichen der Vergebung aller unserer Sünden, im Blick auf das Weltgericht Christi am Jüngsten Tag, sind wir dazu frei gemacht, menschlich zu strafen und nicht unmenschlich, das heißt, nicht Menschen zu ruinieren oder zu liquidieren, in der Meinung, sie dadurch büßen zu lassen. Wir dürfen es Gott überlassen, zu richten und zu retten an jenem Tage, und nicht sein Gericht vorwegnehmen. Darum darf die Strafe unter dem menschlichen Grundgedanken des Schutzes und der Wiedergewinnung stehen. Natürlich ist die Strafe Strafe und soll als Strafe wirksam sein, das heißt also die Auflage eines Übels. Es soll dem zu bestrafenden Menschen unmißverständlich gesagt werden, daß er schuldig geworden ist an seinem Mitmenschen, und ihm deswegen eine Auflage gemacht werden, die er zu tragen, zu erleiden und zu leisten hat. Es wird ihm etwas entzogen, was ihm als Menschen von Rechts wegen zusteht. Insofern etwas Derartiges durch Verurteilung eines Menschen zu einer Strafe geschieht, ereignet sich natürlich auch so etwas wie Vergeltung. Aber sie ist nicht unser Strafzweck, ebensowenig wie Sühne unser Strafzweck sein kann, da dies zu erreichen oder zu bewirken allein Gottes ist und nicht in unser menschliches Strafen eingeplant werden kann. Wir haben also Menschen nicht zum Abbüßen einer Schuld zu bestrafen. O b unter der Strafe ein Mensch zur Buße kommt, müssen wir Gott überlassen. Wir hoffen, daß das geschieht. Und darum bemühen wir uns in der Seelsorge an Straffälligen durch unsere Verkündigung, aus der es allein zu Buße und Glauben kommen kann. Wir strafen den Menschen nach Gottes Mandat im obrigkeitlichen Amt, um ihn durch die Strafe hindurch wiederzugewinnen. Allerdings auch, um die menschliche Gesellschaft vor solchen Mitmenschen zu schützen, die sich in ihr Recht nicht fügen und den Frieden unter den Menschen gefährden. Wir strafen den Menschen jedoch nicht, um ihn zu verstoßen, auch wenn wir meinen, daß der Rechtsbrecher es vielleicht verdient hat. Wir dürfen nie vergessen, daß wir alle davon leben, daß Gott uns trotz unserer Sünden nicht verstoßen hat, sondern uns zu sich ruft aus lauter Gnade ohne Ende. Von diesem Grundgedanken des menschlich erlaubten Strafens her ergibt sich auch Art und Maß der Strafe und die Weise ihrer Durchführung. Und hierzu gehören nicht nur gute Gesetzgeber, sondern auch besonnene Richter sowie barmherzige und kluge Gefängnisdirektoren und Wärter. Die Geschichte der menschlichen Strafgesetze und ihre Durchführung ist ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, daß Menschen nicht nur als Verbrecher, sondern auch als Bestrafende unmenschlich gehandelt haben."

2. Eine zweite Vorbemerkung zum Strafgesetzbuch. Wenn man es vor Augen hat, muß man sich zuerst als Nichtjurist vor allen Dingen darüber klarwerden, daß die Frage, was strafbar ist, eine juristische Formulierung in sich schließt, aber nun doch auch eine vorjuristische

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Erwägung verdient. Stellen wir uns schlicht die Frage: Ist Sünde strafbar? Anders klingt es ja, wenn wir sagen: Ist die Übertretung von Gottes Geboten ein strafbarer Tatbestand? Kann etwa ein Strafgesetzbuch verstanden werden als eine Ausführungsbestimmung zu dem, was Gott im Gesetz, etwa in den Zehn Geboten oder in den Geboten, die im Neuen Testament vorkommen, verurteilt hat? Denken wir doch nur an die Gebote der Bergpredigt über den Ehebruch, und stellen wir uns vor, ob es von dort aus ein Strafgesetzbuch geben kann. Wer, wie es dort heißt, ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Gerade die neutestamentliche Vertiefung der Sünde führt uns zu der These, die vielleicht überraschend ist: Sünde als Sünde gehört nicht in das Strafgesetzbuch. Es ist also verkehrt zu meinen, das Strafgesetzbuch sei sozusagen bestimmt von einem göttlichen Sittengesetz aus, das von Gott offenbart ist, ob bei Mose oder im Neuen Testament oder in der Bibel im ganzen oder in einer Naturordnung, die allen Menschen zugänglich ist. Natürlich, es gibt diese Uberzeugungen, und von daher gibt es auch ganz bestimmte Folgerungen. Aber für die evangelische Theologie muß es dabei bleiben: Es kann nicht einfach alles bestraft werden, was Gott verboten hat. Das ist objektiv nicht möglich, und es ist auch gar nicht die Meinung Gottes, daß er sozusagen seine Strafgewalt an den Strafrichter und ein Strafgesetzbuch abgetreten haben wollte. Der Sinn eines Strafgesetzbuches muß sicher woanders gesucht werden. Man kann nicht einfach vom Gebot Gottes her argumentieren. Das ist auch deswegen undurchführbar, weil man nicht aus den Geboten Gottes diejenigen auswählen kann, die einem geeignet erscheinen, und andere, die ebenso wichtig sind, gar nicht beachtet, etwa das Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen. Dies kommt im Strafgesetzbuch gar nicht vor, oder nur ganz am Rande. Andere Dinge wiederum, die in den Geboten Gottes gar nicht vorkommen, füllen im Strafgesetzbuch einen großen Raum aus, vielleicht mit Recht. 3. Eine dritte Vorbemerkung: Ich habe versucht, mich hineinzudenken in den Grundsatz des Strafgesetzbuches, das sogenannte Schuldprinzip, dem dann auch die These von der persönlichen Verantwortung des Täters entspricht. Die drei großen Thesen des Gesetzbuches heißen: 1. keine Strafe ohne Gesetz, 2. keine Strafe ohne Schuld, 3. keine Schuld ohne Verantwortung. Dabei ist klar, daß die letzte These wissenschaftlich in besonderer Weise umstritten ist. Es geht da um die Frage der Verantwortlichkeit des Menschen überhaupt, und es bleibt fraglich, ob hierüber die Wissenschaft überhaupt jemals zu einem einheitlichen Ergebnis kommen wird. Immerhin geht man hier von dem praktisch notwendigen Satz aus, daß der Mensch verantwortlich ist und daß es bewiesen werden muß, wenn er minder oder gar nicht verantwortlich gemacht werden kann. Es wird also davon ausgegangen, daß der Mensch

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vom 14. Lebensjahr an in steigendem Maße, vom 21. Lebensjahr ab völlig verantwortlich ist und daß er als solcher verantwortlich gemacht wird, es sei denn, es könnte bewiesen werden, daß er aus Krankheitsgründen (seelischen oder leiblichen Gründen) oder unter Zwang stehend, nicht verantwortlich gemacht werden kann. Ich halte darin das jetzige Strafgesetzbuch für grundsätzlich richtig und auch der Überzeugung der Bibel entsprechend. II. Darf ich nun zu einem zweiten Teil übergehen und gleich in die Besonderheiten des Strafgesetzbuches eintreten, denn mir scheint es am wichtigsten zu sein, daß wir uns an den Besonderheiten des Strafgesetzbuches die ethischen Fragen verdeutlichen, um die es praktisch ja viel mehr geht als um alle Grundsätze. 1. Straftaten gegen die Person heißt die Uberschrift des zweiten Abschnittes. Wir haben jetzt einen besonderen Teil mit dem Titel: Straftaten gegen das werdende Leben. Es wird unterschieden zwischen Straftaten gegen das Leben und gegen das werdende Leben. Das ist eine neue Unterscheidung, die bisher so nicht da war und die die Bedeutsamkeit der beiden Fragenbereiche sichtbar werden läßt (§§ 140 bis 145). Hier heißt es: „Wer eine Leibesfrucht abtötet, wird mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft. Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Gefängnis bis zu drei Jahren oder Strafhaft (übrigens eine neue Form der Bestrafung neben Gefängnis). Der Versuch ist strafbar." Ich rede jetzt nicht von den juristischen Problemen, sondern nur von den ethischen Problemen. Lassen Sie mich hierzu ein paar Bemerkungen machen, weil wir von hier aus dann gleich übergehen können zu dem umstrittensten Problem dieses ganzen Bereiches, zu dem im Regierungsentwurf gestrichenen § 160, nämlich der ethischen Indikation, wie sie gewöhnlich genannt wird. Als Ethiker würde ich zu diesem Komplex sagen: Das Leben des Menschen steht unter dem Schutz Gottes, der es den Menschen anvertraut. Das Gebot besagt: Gott will, daß wir Menschen nicht töten. Warum dieses Gebot eine so tiefe Begründung findet, im Unterschied von den Tötungen der Tiere und so weiter, das hängt sicher damit zusammen, daß Gott den Menschen zu seinem Bilde gemacht hat, wie die Bibel sagt. Also: weil der Mensch sich von allen übrigen Lebewesen grundsätzlich unterscheidet, ist der Schutz des Menschenlebens dem Menschen in besonderer Weise befohlen. Wir können sogar sagen: In der christlichen Überzeugung lebt die Gewißheit, daß die Verfügungsgewalt über Leben und Tod Gott allein zusteht. Deswegen hat sich ja auch

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die christliche Kirche gegen den sogenannten Selbstmord gewendet. Es folgt aus dieser Erkenntnis natürlich, daß auch das im Mutterleib empfangene und noch nicht in die Welt geborene Leben unter dem Schutz Gottes steht und darum nicht einfach beseitigt werden darf. Wir haben heute keine Möglichkeit mehr, einen Termin festzusetzen, zwischen einer Zeit, in der dieses Wesen noch nicht als Mensch angesprochen werden kann, und der Zeit, in der es schon als Mensch angesprochen werden muß. Die Vergangenheit hat sich zu helfen versucht, indem sie die ersten drei Monate etwa ausgeschaltet hat; auch die Theologie hat gelegentlich dahingehende Bemerkungen gemacht. Man hat eine Zeitlang angenommen, daß die Menschwerdung erst frühestens 40 Tage nach der Empfängnis einsetzt, da Gott die Seele erst dann in den Menschenleib hineingäbe. Alle diese Vorstellungen der Vergangenheit sind durch die Naturwissenschaft längst widerlegt, und es kann heute nicht mehr bestritten werden, daß in der Empfängnis selbst das neue Lebewesen entsteht. Insofern sind wir in einer schwierigeren Lage als unsere Väter. Wir sind vor die Tatsache gestellt, daß das keimende Leben im Mutterleib in gleicher Weise Leben, selbständiges Leben ist, wie das nach der Geburt. Insofern ist zu dem Grundsatz, der im Entwurf steht, mit Recht zu sagen, es handelt sich um eine Tötung; obwohl der Begriff der -A^tötung eine kleine Nuance gegenüber dem Wort töten darstellt. Aber wir müssen nun doch hinzufügen, daß das Problem, um das es hier überhaupt geht, mit diesem einfachen Grundsatz noch nicht gelöst ist. Es gibt in dem Entwurf auch noch einen Teil, der von ärztlichen Eingriffen und Heilbehandlungen redet. Wir haben § 157: ärztliche Unterbrechung der Schwangerschaft wegen Gefährdung der Schwangeren. Der Zusammenhang ist merkwürdigerweise durchbrochen, indem man die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit dazwischengestellt hat. Das hat rechtssystematisch seine Bedeutung, aber für unsere ethische Darbietung ist es besser, diesen Bereich des werdenden Lebens zusammenzufassen. Eines ist nach der Bibel sicher, daß auch das menschliche Leben nicht ein absolutes, schlechthin unantastbares Gut ist. Menschliches Leben wird ja auch sonst oft geopfert oder preisgegeben. Ich will gar nicht davon sprechen, in welch einem Maße oder Unmaße menschliches Leben preisgegeben wird im Krieg (wie die ganze Geschichte deutlich macht). Daraus sehen wir, wie wenig das menschliche Leben oft gilt. Aber wenn man es überhaupt für recht hält, daß Menschenleben eingesetzt werden darf, sagen wir für die Allgemeinheit, für das Volk oder für die Regierung, dann wird man ja sagen müssen: Es gibt also auch Preisgabe von Leben aus ethischen Gründen. Es gibt Opferung von Leben aus übergreifenden Gründen oder Zwecken. Das Leben von Menschen ist nicht ein absolutes Gut, dem alles andere untergeordnet

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Theologische Probleme der Strafrechtsreform

ist: Freiheit, Ehre, Recht. . . Viele Menschen setzen ja auch ihr Leben freiwillig ein, sei es für Mitmenschen, sei es für eine Sache, sei es für eine Weltanschauung, sei es auch für ihren Gott. Schließlich wird ja auch in diesem Gesetzbuch an bestimmten Stellen ausdrücklich von Notwehr gesprochen, von der Möglichkeit also, daß aus Notwehr Tötung erfolgt, die dann unter bestimmten Voraussetzungen straflos bleibt. Insofern ist also auch der Hinweis auf die Notwehr wichtig.

Strafrecht und persönliche

Verantwortung

Nun ergibt sich die Frage, wie es denn eigentlich mit der Situation jener Frau bestellt ist, die durch eine verbrecherische Handlung, durch den Angriff eines Vergewaltigers, in den Zustand der Schwangerschaft versetzt worden ist. Hier haben wir es also mit dem entfallenen § 160 zu tun, in dem es um die sogenannte ethische Indikation, ich würde lieber sagen um die Vergewaltigungsindikation geht. Wie ist es im Falle der Vergewaltigung? Ist eine Frau durch diese Handlung, die eine Schwangerschaft zur Folge gehabt hat, bedroht? Ist sie vielleicht sogar lebensgefährlich bedroht? Ist sie etwa nur, wie man sagt, seelisch bedroht? Oder ist sogar ihre Familie bedroht, ist ihre Existenz, ihre ganze Zukunft in einer ganz gefährlichen Weise bedroht, so daß hier ein besonders schwerer, geradezu auswegloser Notstand vorliegt? Sie wissen, daß sich die römisch-katholische Kirche über diesen Punkt ausführlich geäußert hat, ich glaube sogar in einer päpstlichen Ausführung, die besagt: von einer Notwehr und von einem Angreifer kann hier nicht die Rede sein, denn der Angriff ist ja beendet; hier handelt es sich um die Folgen, und das ist ein anderer Tatbestand, der nicht mit dem anderen verglichen werden kann. Ich glaube, daß hier ein ethisch sehr schwer zu beantwortender Grenzfall vorliegt. Wenn jedoch das Gesetzbuch es erlaubt, daß das keimende Leben abgetötet wird, falls die Mutter dadurch gefährlich bedroht ist: „Die Abtötung einer Leibesfrucht ist nicht strafbar, wenn nach den Erkenntnissen und den Erfahrungen der Heilkunde nur durch eine Abtötung die Gefahr des Todes oder einer unzumutbaren schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit von der Frau abgewendet werden kann", dann scheint es mir folgerichtig zu sein, daß eine Analogie hierzu auch für den Fall der Vergewaltigungsindikation angenommen werden kann. Natürlich kann in jedem Falle die Entscheidung der Beteiligten, vor allen Dingen der Frau, der Mutter, anders ausfallen. Die Entscheidung steht ihr ja vollkommen frei, denn es wird ja wohl niemals ein Arzt der Betroffenen eine Unterbrechung ihrer Schwangerschaft aufnötigen wollen. Im Gegenteil, der Arzt wird froh sein, wenn ein Schwangerschaftsabbruch nicht notwendig ist. Die betroffene Frau

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kann natürlich aus ihrem Glauben oder aus ihren seelischen Empfindungen (es braucht nicht nur Glaube zu sein) zu der Überzeugung kommen, daß sie es darauf ankommen lassen will; und sie kann als Christin sagen: Gott soll mit mir machen, was er will. Aber in diesem Punkte wird ja deutlich, daß der Staat, der das Strafgesetzbuch erläßt, eigentlich der Überzeugung sein müßte: In einem solchen Falle kann man keine Strafandrohung aussprechen, sondern hier muß man es der Frau und der ärztlichen Wissenschaft und Kunst überlassen, zu finden, was in diesem Falle zu geschehen hat. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die in den letzten Jahrzehnten herangereift ist. Soviel ich weiß, gibt es erst seit 1927 die Befreiung von der alten Vorschrift der generellen Strafbarkeit. So gewiß es keine Rechtfertigung der Tötung eines Menschen vor Gott gibt, so gewiß gibt es in auswegloser Notlage unter Umständen (wie bei der Notwehr auch) eine Entscheidung, über die kein Mensch zu Gericht sitzen sollte. Hierüber zu richten, muß der Mensch Gott überlassen. Von hier aus ergibt sich dann auch die von mir persönlich vertretene Meinung zur Frage der Vergewaltigungsschwangerschaft. Ich frage jetzt ganz unmittelbar: ob Gott von uns fordern kann, daß ein so entstandenes Leben unbedingt zur Welt gebracht werden muß. Hier liegt eine echte Aporie vor. Darf eine Frau in dem dargestellten Fall erwarten, wenn sie es nicht ertragen zu können glaubt, daß sie von den Folgen dieses Verbrechens, das ihr angetan ist, ohne Strafe befreit werden dürfte? Ich würde sagen: Ja. Man kann ihr den Glauben, der dazu gehört, ein so empfangenes Kind aus Gottes Hand zu nehmen, vom Gesetz und von Staats wegen nicht aufnötigen. Wenn sie aber solchen Glauben hat, dann ist es gut, dann Gott sei Dank. Aber wenn sie ihn nicht hat, sollt sie wenigstens von der Gesellschaft nicht unter Strafe gestellt werden. So etwa ist meine ethische Beurteilung eines solchen Falles. In einem so echten Notstand müßte es eine Möglichkeit der Straffreiheit geben analog der medizinischen Indikation. Dieses wäre vielleicht eine mögliche Position, die den verschiedenen Argumenten Rechnung trägt, denn es muß für mein Urteil offenbleiben, daß sich die Betroffene auch zu dem Glauben durchringt, daß ihr Glaube geschenkt wird, auch dieses Geschehene aus Gottes Hand zu nehmen. Das aber sind Dinge, die als solche nicht in ein Strafgesetzbuch gehören. Ausführlichere Darbietungen über diesen schwierigen Punkt sind schon von verschiedenen Seiten gemacht worden. Ich will hier nur darauf hinweisen, daß innerhalb der evangelischen Kirche bisher über diese Frage keine Einigkeit herbeigeführt worden ist und daß es hier zwei verschiedene Lösungen gibt. Die Erwägungen stehen sich gegenüber in einer Darbietung von der Evangelischen Studiengemeinschaft Christophorus-Stift in Heidelberg. Staatsanwalt a. D. Hans Dombois hat dort die gegensätzlichen Alternativen aufgeführt, indem er zeigt, wie unter-

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Theologische P r o b l e m e der Strafrechtsreform

schiedlich innerhalb der verschiedenen Kreise unserer Kirche, wo bisher darüber gesprochen worden ist, diese Frage beantwortet wird2. Allerdings ist es wohl doch so, daß man hier sagen kann, der Kreis der Befürworter einer Straffreiheit im Falle der Vergewaltigungsindikation ist etwas größer als der ihrer Gegner. 2. Im Anschluß daran nun ein paar Worte zum Problem der Strafta-

ten gegen die körperliche Unversehrtheit. Es sind die §§ 146 ff. Die

schwierigste Frage betrifft den Punkt, den man gewöhnlich unter dem Stichwort der Sterilisation des Mannes oder der Frau zu behandeln pflegt. Ich habe mich bereits des öfteren über das Problem der Sterilisation geäußert. Es gibt zu diesem Problemkreis inzwischen eine ganze Literatur. Professor Heinrich Gesenius hat mehrere Aufsätze in der Zeitschrift für Geburtshilfe und Frauenheilkunde zur Frage der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der freiwilligen Sterilisation aus sozialer Indikation geschrieben. Er hat sich außerdem zu der Sache geäußert auf einer Tagung unserer Evangelischen Akademie3. In dem erwähnten Buch hat sich Gesenius für die sogenannte Sterilisation ausgesprochen, als einer Möglichkeit - und in einigen Fällen unausweichlichen Notwendigkeit - der Geburtenkontrolle. Sie wissen, daß nach der Uberzeugung der katholischen Kirche eine Sterilisation in jedem Falle „gegen die guten Sitten" verstößt. So steht es auch in dem bisherigen Strafgesetzbuch unter der Formel, daß eine Körperverletzung mit Einwilligung nur dann strafbar ist, wenn sie gegen die guten Sitten verstößt.

Problematik der guten Sitten Die Kernfrage der Strafbarkeit liegt in der Frage des Verstoßes gegen die guten Sitten. Meine eigenen Überlegungen zum Problem der Empfängnisverhütung, der empfängnisverhütenden Mittel usw. sind entstanden aus der Frage: warum in Deutschland unter der Hand, mit dem Wissen aller Wissenden, eine riesige Abtreibungswelle umgeht, gegen die niemand ankommt. Einer der Journalisten unserer Zeit hat einen Artikel dazu verfaßt unter der Uberschrift: „Heuchelei". Alle wissen es, keiner will sich mit der Sache befassen, und jeder geniert sich, über diese Fragen zu sprechen. Warum eigentlich? Während einer Münchener 2

Vgl. FRIEDRICH KARRENBERG, Z u r F r a g e der Indikationen. I n : Kirche in der Zeit 18,

1 9 6 3 , S. 1 0 - 1 4 ; WILHELM GIESEN, Ethische Indikation? (ebd., S. 1 4 6 f . ) ; HANS DOMBOIS, D a s k o m m e n d e Strafrecht in der Sicht der evangelischen Ethik (ebd., S. 244—248). 3

Freiwillige Sterilisierung als empfängnisverhütendes Mittel. I n : J . B e c k m a n n ,

H.

Gesenius, G . N . G r o e g e r , K i r c h e und Geburtenregelung (Handbücherei für Gemeindearbeit. 19). Gütersloh 1 9 6 2 , S. 2 6 - 3 1 .

Theologische Probleme der Strafrechtsreform

179

Fernsehsendung mit Gynäkologen und Kriminologen wurde die Meinung vertreten, daß Jahr für Jahr Millionen Abtreibungen passieren und daß nichts dagegen getan werden kann. Nach meiner Überzeugung jedoch gibt es ein Mittel gegen die Abtreibungswelle: die Verhütung der Empfängnis. Dieser Weg, in verschiedener Form und mit verschiedenen Mitteln praktiziert, endet schließlich auch bei der unter Umständen unausweichlichen Notwendigkeit einer sogenannten Sterilisation. Diesen Problemkreis jetzt weiter zu entfalten, würde den Rahmen dieses Vortrages sprengen. Ich will nur sagen, daß wir hier in ähnlicher Weise, wie das bei einer medizinischen Indikation üblich ist, verfahren sollten. Ich glaube, daß es keinen erfolgreicheren Weg gibt, die große Zahl der Abtreibungen wirksam herabzusetzen. Professor Gesenius macht Vorschläge, in welchen Fällen unter sogenannter sozialer Indikation eine Sterilisation des Mannes oder der Frau nicht strafbar sein sollte. Ich persönlich wäre also dafür, daß man es wagte, hier eine umschriebene Gesetzesbestimmung zu bringen. Der vorliegende Entwurf ist jedoch nicht eindeutig genug. Er läßt überhaupt nicht erkennen, wo davon die Rede sein könnte. Gesenius schreibt: „Es ist in der Welt niemandem verboten, sich sterilisieren zu lassen. Wohl aber drohen wenigstens in Deutschland denjenigen Strafen, die eine Sterilisierung an einem anderen vornehmen, es sei denn aus medizinischer Indikation." Die Frage der Sterilisation spielt in der ganzen Welt eine große Rolle, in Amerika genauso wie in Indien, Japan usw. In den übervölkerten Ländern des Ostens wird ja die Sterilisation weitgehend von Staats wegen sogar als wünschenswert angesehen. Dort wird dafür geworben. Bei uns liegen die Probleme anders. Trotzdem wissen wir genau, daß auch hier unabweisbare Notwendigkeiten vorliegen. Wenn wir uns nun den Entwurf zum Strafgesetzbuch ansehen (§ 152), erkennen wir zwar eine Veränderung des bisherigen Textes, aber keine wirkliche Klarheit, denn es bleibt eben offen, ob nun die Sterilisation verwerflich ist. Es heißt dort: „Willigt der Verletzte in die Körperverletzung ein (es wird vorher gesagt, daß es Körperverletzung ist, wenn jemand in seiner Fortpflanzungsfähigkeit beschränkt wird), so ist die Tat nur dann rechtswidrig, wenn sie nach den Umständen, namentlich im Hinblick auf die Beweggründe und die Ziele des Täters und des Verletzten sowie die angewandten Mittel und den voraussehbaren Umfang der Verletzung, trotz der Einwilligung verwerflich ist." Das ist ein erstaunlicher Satz. Ein guter Rechtsanwalt wird daraus den Schluß ziehen, daß die Sterilisation einer Frau nach fünf Kindern nicht verwerflich ist. Dagegen könnte hiernach die Sterilisation eines zwanzigjährigen Mädchens als verwerflich bezeichnet werden. So oder ähnlich würde dann wohl argumentiert werden. Jedenfalls handelt es sich hier um eine sehr schwierige Frage, weil es um Dinge geht, die den Staat nicht so unmittel-

180

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bar angehen. Es gibt ja auch mit Recht keine staatlichen Bestimmungen darüber, wieviel Kinder wir im Durchschnitt haben müssen. Es gibt auch keine Strafandrohungen für den Fall, daß wir nicht genug Kinder haben. Insofern ist also vom Staat anerkannt, daß diese Fragen in die private Sphäre der Eheleute gehören, das heißt also, daß ihnen die Mittel dazu überlassen bleiben müssen. Freilich: Zur Empfängnisverhütung gibt es einige Mittel, die in der Konvention der Gesellschaft anerkannt werden, andere werden nicht anerkannt, einige werden als unsympathisch verachtet, andere werden als umstrittene Mittel angesehen. Nach meiner Uberzeugung wäre es nicht nötig, eine Sterilisierung aus sozialer Indikation unter Strafe zu stellen4. 3. Es wäre dann zum Abschluß dieses Teiles nur noch zu erwähnen, daß es in diesem Entwurf des Strafgesetzes keine Bestimmungen über den Zweikampf mehr gibt, und zwar mit Recht. Es gibt allerdings einige evangelische Ethiker und natürlich auch katholische, die hier anderer Meinung sind. Man müßte dann aber auch fordern, den Boxsport unter Strafe zu stellen; denn wenn es einen Sport gibt, der gefährlich ist, viel gefährlicher als alle Bestimmungsmensuren, dann ist es der Boxsport. Ich habe vor einiger Zeit gelesen, wie viele Boxer in den letzten Jahrzehnten infolge ihres Boxens ums Leben gekommen sind. Die Todesziffer ist erstaunlich hoch. Darum bin ich der Meinung, daß keine Einwendungen dagegen zu erheben sind, wenn der Staat dem Menschen, dem er das Boxen erlaubt, auch freistellt, mit schweren oder leichten Säbeln zu probieren, wie groß sein Mut ist.

III. Der dritte Teil des Strafgesetzbuches beschäftigt sich mit dem sogenannten Sittenstrafrecht, den Straftaten gegen die Sittenordnung. 1. Im ersten Abschnitt werden hier Straftaten gegen den religiösen Frieden behandelt. An diesem Punkte muß ich nun als Theologe zum Ausdruck bringen, daß ich der im Entwurf vorgesehenen Bestrafung der Gotteslästerung nicht zustimmen kann. Ich halte die Voraussetzungen dafür in unserer pluralistischen Gesellschaft nicht gegeben. In einem Punkt sind wir uns wohl alle einig: um Gottes willen brauchte es überhaupt keine Strafandrohung zu geben. Die Bestrafung der Gotteslästerung (wie es hier heißt: „Gott durch Beschimpfungen in einer Weise zu lästern" usw.) setzt voraus, daß in der Bundesrepublik vorhandenen

4 Vgl. J. BECKMANN, Ist Sterilisierung unsittlich? In: Sonntagsblatt, 16. Jg., N r . 43 vom 27. Oktober 1963; vgl. auch den folgenden Beitrag in diesem Band (S. 187ff.).

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Menschen den einen und gleichen Gott haben. Das aber ist im Bewußtsein der Menschen nicht so. Erstens gibt es eine Menge von Atheisten, die überhaupt an keinen Gott glauben, und die Frage ist, was mehr Gotteslästerung ist, Atheist zu sein oder einmal gegen Gott eine zornige Beschimpfung auszustoßen. In einer Welt, die nicht gebietet, daß alle Menschen Christen sind und an denselben Gott glauben, ist es verhängnisvoll, wenn im Gesetz von einem Gott geredet wird, der gar nicht derselbe Gott ist. Ich glaube, daß bei der Toleranz in unserer Gesellschaft, insonderheit der Duldung des Atheismus, bei dem Vorhandensein vieler Gottesbegriffe, vieler Vorstellungen, mannigfacher Glaubensweisen, es nicht mehr berechtigt ist, an einer solchen Bestrafung im Strafgesetzbuch festzuhalten. Fragen wir aber noch weiter: Was soll bestraft werden? Eine Beschimpfung, die geeignet ist, das allgemeine religiöse Empfinden zu verletzen. Was ist das allgemeine religiöse Empfinden von Katholiken, Protestanten usw. bis hin zu den Atheisten? Dahinter steht doch das frühere gemeinsame Empfinden der Christenheit. Aber haben wir ein christliches Volk, einen christlichen Staat? Ist es wirklich ganz klar, welcher Gott hier gemeint ist? Ich glaube nicht. Das religiöse Empfinden durch eine solche Strafandrohung zu schützen, halte ich für äußerst fragwürdig. Nach der Überschrift soll der religiöse Frieden geschützt werden. Das ist sicher wichtig und notwendig. Aber warum denn mit einer Strafandrohung wegen Verletzung der religiösen Gefühle durch Gotteslästerung? Ich persönlich bin der Meinung, daß es richtiger wäre, aus der Situation, in der wir uns in Deutschland befinden, die Folgerungen zu ziehen und die religiösen Gefühle oder besser den religiösen Frieden nicht durch Strafandrohung wegen Gotteslästerung schützen zu wollen. Hiermit verbunden ist ein weiterer Punkt (§ 188): Beschimpfung einer Kirche oder Religionsgesellschaft. Ich würde hier dasselbe noch einmal sagen. Ich bin der Meinung, daß die Kirchen ihrerseits auf diese Strafandrohung verzichten sollten. Sie sollten das tun unter dem Hinweis auf das Wort der Heiligen Schrift, „segnet, die euch fluchen". Von da aus gesehen, dürfte jedenfalls keine Kirche fordern, daß jemand zu bestrafen ist, der sie beschimpft. Das wäre ein unchristliches Handeln, meine ich. Wenn der Staat meint, er müsse die Kirchen schützen, dann würde ich sagen, er möchte es doch möglichst nicht auf diese Weise tun. Es wäre besser, wenn die Kirchen auf dem freien Felde der Gesellschaft ohne einen solchen Sonderschutz wirken müssen. Nach dem vorgeschlagenen Gesetzestext geht es auch hier wieder um das religiöse Empfinden der jeweiligen Angehörigen. Ein christliches religiöses Empfinden sollte sich aber nicht durch Beschimpfung verletzen lassen. Der Christ hat in der Haltung des Neuen Testamentes darauf zu antworten. Es ist überdies auch mein persönlicher Eindruck, daß eine solche Strafbestimmung 13

Beckmann, H o f f n u n g für die Kirche

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schon in ihrer Optik für die Kirchen in der heutigen Gesellschaft ausgesprochen ungünstig ist. 2. Wir kommen nun zu den Straftaten gegen die Ehe. Es geht um zwei wichtige Punkte, erstens um den Ehebruch (§ 193) und zweitens um die künstliche Insemination. In einem längeren Aufsatz über die Frage der Strafbarkeit des Ehebruchs habe ich bereits vor Jahren meine Uberzeugung zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es: die Ehe selbst bedarf des strafrechtlichen Schutzes nicht. Strafandrohung wegen Ehebruchs ist schon deswegen nicht erforderlich, weil die Ehe in einer solchen Tiefe ruht, daß sie nicht durch Strafandrohungen gesichert zu werden braucht. Im Hintergrund steht auch die Frage, ob man denn in diesem Falle, im Unterschied von den sonstigen Fällen, den außerehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe stellen will. Grundsätzlich aber steht doch der außereheliche Geschlechtsverkehr in diesem Strafgesetzbuch nicht unter Strafandrohung. Besonders fragwürdig scheint mir, die Strafbarkeit des Ehebruchs zu beschränken auf den Fall, daß die Ehe wegen Ehebruchs geschieden worden ist. Als Ethiker muß ich hier erhebliche Bedenken anmelden. Entweder ist der Ehebruch grundsätzlich strafbar wegen der Schwere des Vergehens gegen die Eheordnung, oder man muß aus wichtigen politischen Gründen darauf verzichten, ihn unter Strafe zu stellen. Wenn er aber nur dann strafbar ist, falls die Ehe wegen Ehebruchs geschieden worden ist, dann muß sich die Sache doch so auswirken, daß einer von den Betroffenen diese Anzeige aus Rache erstattet. Ich glaube, das Rachemotiv ist ein durchschlagender Grund gegen die Bestrafung. Und wenn hier in dem Entwurf steht, daß der Ehebruch mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Strafhaft geahndet wird, dann meine ich, ist die Ehe als Rechtsgut so niedrig eingeschätzt, daß man besser daran tut, die Strafbarkeit des Ehebruchs überhaupt abzuschaffen. Es wäre übrigens wohl auch noch die Frage zu stellen, ob beim Ehebruch überhaupt ein öffentliches Interesse vorliegt. 3. N u n sollen noch einige Anmerkungen zum Problem der künstlichen Insemination folgen. Ich möchte zunächst auf die Schrift „Probleme der künstlichen Insemination" (Luther-Verlag, Witten) hinweisen. Dort sind diese Fragen von theologischer, juristischer und von medizinischer Seite hinlänglich erörtert. Im Blick auf die Formulierungen in dem Strafgesetzentwurf sind von meinem ethischen Verständnis der Ehe und des Verhältnisses der Ehegatten zueinander die Probleme richtig gesehen. Allein die artifizielle homologe Insemination sollte erlaubt sein. Alle anderen Formen der artifiziellen Insemination sollten dagegen als strafbar erkannt werden. Wer einiges über die Probleme der heterologen Insemination gelesen hat, der wird sagen: Gott bewahre uns hier vor einer Weiterentwicklung, zumal wir noch gar nicht ahnen können, wessen die Menschen aufgrund ihrer biologischen Forschungen

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noch fähig sein werden. Dem Text des Entwurfes ist, wie gesagt, zuzustimmen. Der Inhalt ist praktikabel und ist auch der ethischen Grundlage nach richtig. Hier wird daran festgehalten, daß nur eine solche Insemination erlaubt ist, die in einer geschlossenen Ehe zwischen Ehegatten vollzogen wird. 4. Der letzte Punkt meiner Ausführungen betrifft die, wie es in dem Entwurf heißt, Straftaten gegen die Sittlichkeit. Es ist schade, daß das Wort Sittlichkeit hier wieder in einem eingeschränkten Sinn gebraucht wird, denn unter Sittlichkeit versteht man im Bereich der Ethik jedenfalls etwas anderes. Wir kommen hier zunächst zu einem sehr schwierigen und umstrittenen Punkt, nämlich der Strafbarkeit der Homosexualität. Uber diese Sache gibt es in neuerer Zeit einen ganz ausgezeichneten Aufsatz, den eigentlich jeder lesen muß, der über Probleme der Homosexualität reden will: „Erwägungen der evangelisch-theologischen Ethik zum Problem der Homosexualität und ihrer strafrechtlichen Relevanz" von Professor Helmut Thielicke 5 . Dieser Aufsatz ist in jeder Hinsicht grundlegend und bedeutsam. In diesem Artikel werden der Schweizer Psychiater Th. Bovet' und der englische Theologe S. Bailey als Zeugen für eine neue Beurteilung der Homosexualität zitiert. Die lutherischen Bischöfe Schwedens haben schon 1951 erklärt, daß zwar die Homosexualität in jedem Fall eine schwere Sünde sei, aber nicht vor den Strafrichter gehöre, sondern vor den Seelsorger oder den Arzt. Sehr beachtlich ist, daß auch in dem nordischen Luthertum dieser Gedanke Raum gewonnen hat. Noch wichtiger sind die Sätze in dem sogenannten „Wolfenden-Report" und in dem „Interim-Report der Church of England". Im Wolfenden-Report heißt es: „Nichtöffentliche gleichgeschlechtliche Handlungen, die sich aus freien Stücken unter Erwachsenen vollziehen, bilden keinen strafbaren Tatbestand mehr." Überraschend sind die Ausführungen in dem englisch-katholischen GriffinReport 1956 (nach dem Kardinal Bernhard Griffin). Hier wird die These vertreten, daß derartige Verstöße mehr in den Beichtstuhl als auf die Anklagebank gehören. Es folgt dann die These: „Es ist nicht Sache des Staates, in den höchstpersönlichen Bereich einzugreifen; vielmehr hat er sich darauf zu beschränken, als Verteidiger des Gemeinwohls aufzutreten. Dinge, die zwar sittlich verwerflich sind, die aber das Gemeinwohl nicht berühren, gehen den irdischen Gesetzgeber nichts an." Demnach wird empfohlen, das Strafrecht zu ändern, und die Strafbestimmungen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen auf Fälle zu beschränken, in denen zu verhindern sind: a) Verführung der Jugend, b) Handlungen gegen die öffentliche Sittlichkeit und c) gewinnsüchtige Ausbeutung des 5 In: Zeitschrift für evangelische Ethik 6, 1962, S. 150-166. ' Sinnerfülltes Anderssein. Seelsorgerliche Gespräche mit Homophilen. Tübingen 1959.

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Lasters. Thielicke meint: „Wir können uns die Empfehlungen der eben zitierten Dokumente (Griffin-Report 1956, Wolfenden-Report 1957, Hirtenbrief der schwedischen Bischöfe 1951) wesentlich in dem gleichen Sinne zu eigen machen, daß Homosexualität nicht unter gesetzliche Strafverfolgung zu stellen ist. Strafbar sollten dagegen sein: 1. Handlungen gegen Jugendliche und Abhängige, 2. Handlungen gegen die öffentliche Sittlichkeit (Ärgernis) und 3. gewinnsüchtige Ausnutzung der Homosexualität." Die Darlegungen Thielickes und der von ihm zitierten Stellungnahmen haben mich so stark beeindruckt, daß auch ich dafür plädieren würde, aus dem § 216 den ersten Satz zu streichen. Ich erwähne noch einmal: was von Gott als Sünde verurteilt wird, gehört nicht schon deswegen unter die Bestimmungen eines Strafgesetzbuches. Zur Sache ließe sich noch mancherlei fragen, zum Beispiel: warum nur Strafbarkeit männlicher, aber nicht weiblicher Homosexualität? Vom ethischen Standpunkt ist dies nicht einsichtig. Offenbar spielen hier politische Erwägungen eine ausschlaggebende Rolle. Ein weiterer Punkt, der mir vom ethischen Standpunkt aus fragwürdig erscheint, findet sich in dem § 221. Dort steht: „Wer in einer Sitte oder Anstand verletzenden Weise Mittel oder Verfahren, deren Zweck ganz oder überwiegend Verhütung von Geschlechtskrankheiten, von Krankheiten oder Leiden der Geschlechtsorgane oder der Empfängnis ist, öffentlich in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ankündigt oder anpreist. . .". Was ist das für eine Zusammenstellung? Was haben diese Dinge miteinander zu tun? Wie kann man empfängnisverhütende Mittel in Zusammenhang bringen mit Mitteln zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten? Diese Zusammenstellung ist schlecht. Außerdem muß das Problem der Verbreitung von empfängnisverhütenden Mitteln in einer anderen Weise behandelt werden als bisher. Die Behandlung der Probleme der empfängnisverhütenden Mittel muß aus dem Zusammenhang des § 221 heraus. Man sollte auch von Staats wegen nicht den Eindruck erwecken, als wolle man Wege und Mittel beschreiten, die eine Geburtenkontrolle behindern. Im übrigen ist ja auch unklar, was in diesem Zusammenhang unter „Sitte oder Anstand" zu verstehen ist, denn offenbar ist das alles ja nicht verboten, wenn es in einer Sitte und Anstand nicht verletzenden Weise geschieht. Wir kommen jetzt zu den §§ 222 und 223. Es geht um die sogenannte Unzucht. Unter Unzucht ist ja wohl der außereheliche Geschlechtsverkehr zu verstehen. Ich lasse dahingestellt, ob das Wort Unzucht hier wirklich generell am Platze ist. Zunächst geht es im § 222 um Werbung für unzüchtigen Verkehr, dann um die gewerbsmäßige Ausübung der Unzucht (§ 223). Dort heißt es nun: „Wer gewerbsmäßig Unzucht treibt und diesem Erwerb in der Nähe einer Kirche, in der Nähe einer Schule, einer Wohnung, nachgeht usw., der wird mit Strafhaft bestraft." Eine

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überraschend milde Strafe ist hier angedroht und nur dann, wenn gewerbsmäßige Unzucht unter bestimmten Voraussetzungen betrieben wird. Hier sieht man deutlich die Verlegenheit, in der sich der Staat bei der Behandlung dieses Problems befindet. Die Prostitution, ihre Einschränkung, ihre Kontrolle, ist ein weltumspannendes Problem. Hier hat man also, schmerzlicher- aber begreiflicherweise, wie man sagen könnte, davor resigniert, Unzucht überhaupt zu bestrafen. Ich würde, wenn wir das Wort Unzucht weglassen, herauslesen: geschlechtliche Beziehungen außerhalb der Ehe werden grundsätzlich nicht unter Strafe gestellt. Hier ist zwar nur von gewerbsmäßiger Unzucht die Rede, aber die wird ja nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen bestraft. Daß hier für einen Moraltheologen schwierige Fragen auftauchen, ist klar. Geradezu merkwürdig wirkt der Hinweis auf eine Gemeinde oder auf einen Bezirk einer Gemeinde, in denen die Ausübung der Gewerbsunzucht durch Rechtsverordnung verboten ist. Ist es gut und zu verantworten, wenn es in Deutschland Gebiete gibt, in denen gewerbsmäßige Unzucht erlaubt ist, und andere, in denen sie nicht erlaubt ist? Als Ethiker bin ich in großer Verlegenheit, wenn Strafbestimmungen getroffen werden, die durch solche Einschränkungen bestimmt sind. Ich weiß natürlich, daß der Versuch, die gewerbsmäßige Unzucht entweder zu kontrollieren oder sie zu bestrafen, in jedem Fall seine großen Schwierigkeiten hat. Das zeigen die verschiedenen Versuche in den Staaten, mit der Prostitution fertig zu werden. Ich selbst weiß nicht, welcher Versuch der bessere ist, aber unabhängig von dieser Frage muß man beim Strafgesetzbuch sehr sorgfältig überlegen, was eigentlich bestraft werden soll, weil es strafwürdig - und straffähig ist. Es ist für den Ethiker schwer zu verstehen, wenn Homosexualität, und zwar nur männliche, sehr streng bestraft wird, aber die gewerbsmäßige Unzucht eigentlich überhaupt nicht. Es ist sehr schwer zu verstehen, wenn einerseits nicht einmal die ethische Indikation zugelassen wird, andererseits gewerbsmäßige Unzucht mit ihren riesigen Ausweitungen faktisch straffrei gelassen werden muß, weil man durch Strafandrohungen diesem Übel nicht abzuhelfen vermag oder weil man es dulden muß, um größeres Übel zu verhindern. Es ist politisch begreiflich, sage ich, wenn der Staat auf die Strafbarkeit der Prostitution verzichtet. Aber damit wird leider die moralische Berechtigung für eine Reihe von Strafen im Bereich der „Sittenordnung" beziehungsweise des Geschlechtslebens fragwürdig. In den anderen Bereichen des Strafgesetzbuches sind mir keine für den Ethiker wesentlichen Dinge aufgefallen. Damit ist noch nicht gesagt, daß hier nicht auch noch schwierige ethische Probleme verborgen sein können. Mir ist nur aufgefallen, daß das Strafgesetzbuch immer größer wird, offenbar weil immer mehr Dinge passieren, die früher nicht vorkamen. Werden die Menschen eigentlich immer schlechter? Als

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Nichtjurist ist man erstaunt, wessen der Mensch offenbar alles fähig ist, woran deswegen ein Strafgesetzbuch denken muß. Vielleicht ist es gut, daß das Strafgesetzbuch von den meisten Menschen nicht gekannt wird, damit sie nicht am Menschen überhaupt verzweifeln. Ich habe versucht, einige wichtige Probleme anzusprechen, die sich mir als Theologen und Ethiker gestellt haben. Ich möchte nur noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich hier nicht die Stellungnahme der Evangelischen Kirche abgegeben habe. Die Kirche hat überhaupt noch keine Stellung genommen. Sie ist dabei, Stellungnahmen zu einzelnen Punkten auszuarbeiten, und wir haben gesehen, daß wir zu bestimmten Punkten noch keine gemeinsame Uberzeugung haben. Ich bitte, meine Ausführungen heute zu verstehen als einen Beitrag zur Klärung strittiger Fragen. Ich tue das nur, weil ich den Eindruck habe, daß sich die evangelische Christenheit, die Verantwortlichen der evangelischen Kirche, Theologen, Juristen, Gynäkologen und andere, mit dem Problem des neuen Strafrechts beschäftigen sollten, daß es einen Kreis geben müßte, der diese Fragen durchdenkt.

Geburtenregelung als ethisches Problem* Wieviel Kinder dürfen oder wollen wir haben? Diese Frage wird in jeder Ehe gestellt. Schon vor der Eheschließung taucht sie auf, spätestens jedoch nach der Geburt des ersten Kindes. Sie wird bedrängender, wenn zwei oder gar drei Kinder in einer Ehe geboren sind. Gibt es eine Antwort auf diese Frage? Muß jeder damit für sich allein fertig zu werden trachten, oder gibt es eine Antwort, die Gültigkeit beanspruchen darf, ja vielleicht sogar eine christliche Antwort? Hat die Kirche ein Wort zur Geburtenregelung? Jedenfalls sieht sich die Kirche in der heutigen Welt je länger desto mehr, nicht nur in Europa, sondern überall in der Welt, vor diese Frage gestellt. Sie muß einer Frage standhalten, der gegenüber sie auf die Dauer nicht unaufmerksam bleiben kann. Und es zeigt sich in neuester Zeit, zumindest seit einigen Jahrzehnten, daß dieses Thema auch in den Kirchen der Welt zum Gegenstand der Erforschung, der Auseinandersetzung und der Stellungnahme gemacht' worden ist1. Zwar zeichnet sich in diesem Bereich die Evangelische Kirche in Deutschland dadurch aus, daß sie im großen und ganzen zu dieser Sache wenig beigetragen hat, es sei denn, man werte die Stellungnahmen einzelner Theologen, die hier vorliegen, als ihren Beitrag. Im Grunde jedoch hat die Evangelische Kirche in Deutschland sich dieser Frage noch nicht gestellt. Ganz anders ist es seitens der römisch-katholischen Kirche geschehen, die spätestens mit der großen Eheenzyklika Casti connubii aus dem Jahre 19302 eindeutig zu den modernen Problemen der Ehe und der Geburtenkontrolle Stel-

* Stuttgart 1963. - Vgl. auch J. BECKMANN, Kirchliche Stellungnahme zur Frage der Empfängnisverhütung. In: J. Beckmann, H. Gesenius, G. N. Groeger, Kirche und Geburtenregelung (Handbücherei für Gemeindearbeit. 19). Gütersloh 1962, S. 32-70; Ist Sterilisierung unsittlich? In: Sonntagsblatt, 16. Jg., Nr. 43 vom 27. Oktober 1963; Ehe und Empfängnisverhütung. In: Bevölkerungsexplosion, Familienplanung, Geburtenkontrolle (Veröffentlichungen der Ev. Akademie in Hessen und Nassau. 51). 1963. 1 Vgl. The Family Today. The Lambeth Report (Bericht des 5. Ausschusses der Lambeth Konferenz 1958). New York 1958 (auszugsweise abgedruckt in: J. BECKMANN, Geburtenregelung als ethisches Problem. Stuttgart 1963, S. 53-66); Mansfield Report „Verantwortliche Elternschaft und das Bevölkerungsproblem" (Bericht einer außerordentlichen ökumenischen Studiengruppe, ausgearbeitet in Oxford, Mansfield College, 12.-15. April 1959; abgedruckt ebd., S. 67-79). 2 Auszugsweise abgedruckt ebd., S. 29-44.

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Geburtenregelung als ethisches P r o b l e m

lung bezogen hat. Auch die anglikanische Kirche hat sich seit langer Zeit schon ausführlicher mit diesem Problem beschäftigt und ebenfalls zahlreiche Kirchen in Amerika. Vom Ökumenischen Rat in Genf kann man eine ziemlich umfangreiche Ubersicht bekommen, aus der hervorgeht, daß diese Frage in weiten Gebieten der Welt in den Kirchen diskutiert worden ist und daß auch amtliche Stellungnahmen von Kirchen erfolgt sind. Da aber gerade auf deutschem Boden diese Frage nur sehr wenig verhandelt worden ist, scheint es mir dringend notwendig zu sein, in unserer evangelischen Christenheit Verständnis für die Erörterung dieser Frage zu wecken.

Die Bevölkerungsexplosion Denn an dieser Frage, die von einer großen ethischen Bedeutung ist, kann die Kirche nicht vorübergehen. Ich möchte dafür ein paar Tatbestände vor Augen führen, die uns zu denken geben werden. Ich entnehme diese Tatbestände den statistischen Unterlagen, die wir vom Statistischen Bundesamt beziehen können, Tatbestände, die darauf aufmerksam machen, wie es mit der Bevölkerungsentwicklung der Welt in unserem Jahrhundert bestellt ist3. Der Bevölkerungsstand der Welt hat sich seit dem Jahre 1650 vervielfacht. Zunächst hat es ungefähr 180 Jahre gedauert, bis die Zahl der Menschen, die man damals auf ungefähr 500 Millionen geschätzt hat, auf 1 Milliarde gestiegen ist. In einem weiteren Jahrhundert bis zum Jahre 1930 ist die Zahl der Menschen auf 2 Milliarden gestiegen. In weiteren 50 Jahren werden es 4 Milliarden und in weiteren 20 Jahren 6 Milliarden sein. Im Jahre 2000 also wird nach den Ausrechnungen der Statistiker, die in der ganzen Welt die Dinge im Auge haben, die Zahl der Menschen auf ungefähr 6 Milliarden gewachsen sein. Im Jahre 1980 werden es 4 sein, und schon jetzt sind es sicher über 3 Milliarden. Die Zeitspanne, in der sich die Menschheit verdoppelt, hat sich in den letzten Jahrhunderten von 180 Jahren auf 100, dann auf 50, dann auf 40 verkürzt. Die heutige Wachstumsrate der Menschheit bewegt sich in bestürzenden Ausmaßen nach oben. Es gibt Gebiete in der Welt, in denen sich die Bevölkerung binnen 23 Jahren verdoppelt. Wenn wir in bestimmten Ländern die Verhältnisse von Geburten- und Sterblichkeitsziffern der Vergangenheit vergleichen, so beobachten wir, daß in weiten Gebieten der Welt durch die Höhe von Geburtenziffer und Sterblichkeitsrate ein dauernder Ausgleich erfolgte, der ein übermäßiges Wachstum verhin3

Vgl. hierzu das instruktive B u c h v o n RICHARD M . FAGLEY, ZU viel Menschen.

Stuttgart 1 9 6 1 .

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derte, bis in der Gegenwart erst durch die Anwendung der neuen Medizin in diesen Gebieten eine Entwicklung in die Wege geleitet worden ist, die uns vor nahezu unlösbare Probleme stellt. Diese Probleme bestehen darin, daß der Bevölkerungszuwachs durch die starke Herabsetzung der Sterblichkeitsziffer in einem immensen Maße gestiegen ist. Das läßt sich an zahlreichen Beispielen deutlich machen. In Afrika, im nordafrikanischen wie im südafrikanischen Raum, ist die Zahl der Geburten auf 1000 Menschen ungefähr 45 bis 46, die Zahl der Gestorbenen entsprechend ungefähr 25 oder 25, so daß der Geburtenüberschuß hier ungefähr 20 beträgt. Ein Uberschuß von 20 Geburten auf 1000 Menschen im Jahr ist eine ungeheure Zahl, die man sich einmal verdeutlichen muß, um zu ermessen, welche Wachstumsexplosion sich hier ereignete. Dasselbe ist in Südostasien der Fall, wo wir es auch mit 46 Geburten bei 25 Gestorbenen auf 1000 Menschen zu tun haben, so daß auch dort der Uberschuß auf 20 pro 1000 im Jahr gestiegen ist. Noch in der Sowjetunion ist es so, daß bei einer Geburtenziffer von 26 und einer Sterbeziffer von nur 8 die Wachstumsrate bei 18 auf 1000 Einwohner liegt, während in Mitteleuropa die Wachstumsrate schon erheblich geringer ist. Bei einer Geburtenziffer von 19 und einer Sterblichkeitsziffer von 11 haben wir einen Geburtenüberschuß nur von 8 auf 1000 Einwohner. Diese Wachstumsrate dürfte als „normal" zu gelten haben, wie sie auch in weiten Gebieten der Welt lange Zeiten hindurch als „normal" bestanden hat. Freilich ist sie in diesen Gebieten dadurch normal gewesen, daß der hohen Geburtenziffer (während natürlich keine Geburtenkontrolle geübt wurde) eine hohe Sterblichkeitsrate gegenüberstand. Nun noch ein weiteres Dokument, das uns deutlich macht, welchen Situationen wir, menschlich geredet, entgegengehen. Im Jahre 1980 wird, wie wir eben hörten, die Bevölkerung der Welt mindestens 4 Milliarden groß sein. Auf die Bevölkerung Afrikas entfallen hiervon 8 Prozent, also 333 Millionen, auf die Bevölkerung Amerikas 14 Prozent der Weltbevölkerung, ungefähr 600 Millionen, auf Asien aber 2,4 Milliarden, also 55 Prozent der Weltbevölkerung. Die Zahl wird noch weiterwachsen bis auf 61 Prozent im Jahre 2000; daß Asien allein zwei Drittel der Weltbevölkerung stellt, rückt also in greifbare Nähe. Der Anteil Europas (ohne die Sowjetunion) dagegen fällt entsprechend, obwohl auch hier die Bevölkerungszahl immer weiter wächst, und zwar von 414 Millionen (1957) auf 495 Millionen (1980) und auf 568 Millionen (2000). Dabei ist zu beachten, daß Europa im Jahre 1957 noch 15 Prozent der Weltbevölkerung stellte, dagegen im Jahre 2000 nur noch 9 Prozent. Diese Tatbestände scheinen mir deswegen besonders wichtig zu sein, weil aus ihnen hervorgeht, in welch geradezu unnatürlichem Wachs-

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tumsprozeß die Bevölkerung großer Bereiche der heutigen Welt sich entwickelt, und zwar deswegen, weil die europäische Medizin, die europäische Naturwissenschaft und die europäische Technik dazu geführt haben, daß heute überall auf der Welt eine völlige Veränderung der bisherigen Verhältnisse eingetreten ist. Durch die Ausrottung der Malaria, durch die Beseitigung epidemischer Krankheiten oder der Seuchen wächst die Bevölkerung mancher Länder der Erde in einem bis dahin nie dagewesenen Maße, und dies stellt die Menschheit vor eine Fülle von schweren Problemen: Hunger, Elend und Not wachsen ununterbrochen, weil die Lebensmittel und die Arbeitsstätten fehlen, die das heranwachsende Geschlecht braucht. Wir haben es bei der heutigen Bevölkerungsexplosion in Asien, Afrika und Südamerika geradezu mit einer Bedrohung der Welt zu tun, die je länger je mehr auch auf uns in Europa zukommt. Nur dann werden wir dieser Weltgefahr begegnen, wenn es gelingt, durch die uns zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen und technischen Mittel dieser Bevölkerungsexplosion Einhalt zu gebieten, sie in Bahnen zu lenken, die es uns ermöglichen, auf dieser Erde zusammen leben zu können, ohne uns gegenseitig zu zerstören und zu vernichten. Darum ist diese Frage von so weltumspannender Bedeutung. Wer in Asien oder Afrika gewesen ist, der hat auch dort gesehen, wie die verantwortlichen Menschen sich Mühe geben, mit diesen Problemen auf ihre Weise fertig zu werden, obwohl sie es bis heute nicht vermocht haben, abgesehen von den Japanern. Sie sind bisher das einzige asiatische Volk, das angefangen hat, sich planmäßig mit den 90 Millionen Menschen, auf die sie angewachsen sind, auf ihren Inseln einzurichten. Die Japaner haben es durch ihre Rationalität und durch die Kraft, die sie damit entwickeln, erreicht, daß nun nicht mehr drohende Wachstumsraten sich aus ihren Geburten entwickeln. Sie haben planmäßig, von Staats wegen angeregt, eine Geburtenkontrolle durchgeführt, um damit auf den Inseln, auf denen sie bisher gelebt haben, leben bleiben zu können. Denn wohin sollten sie gehen? Niemand in der Welt will sie haben. Sie müssen also in ihrem Lande bleiben. Diese Situation muß man vor Augen haben, um deutlich zu sehen, welche Bedrohungen vor uns liegen. Das ist die eine Seite des Problems, mit dem wir es zu tun haben. Ich erwähne dies deswegen, weil es mir notwendig erscheint, daß wir uns in Europa im Gebiete der weißen Völker Gedanken darüber machen, wie wir dieser großen Bedrohung der kommenden Menschheit gerade in der Welt der Weißen entgegentreten wollen.

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Die Geburtenregelung Nun aber zur anderen Seite des Problems! Es steht außer aller Frage, daß Geburtenkontrolle zu den Tatbeständen gehört, die sich in weiten Gebieten der Welt, besonders aber in der Welt der sogenannten weißen Rasse, durchgesetzt haben. Daran kann gar kein Zweifel sein - das zeigen die statistischen Unterlagen - , daß in den Gebieten der weißen Völker überall mehr oder weniger planmäßig Geburtenkontrolle durchgeführt wird. Denn sonst wären die Unterschiede ihrer Geburtenziffern zu denen anderer Völker nicht so ausgesprochen groß. Wir haben also mit dem Tatbestand der Geburtenregelung zu rechnen. Man kann ruhig die Formel prägen: Geburtenregelung ist zum Ethos der Familien der christlichen und der nachchristlichen europäisch-nordamerikanischen Welt geworden. Sie geschieht gewiß aus verschiedenen Motiven, aber sie ist allgemein vorhanden. Es gibt zweifellos hier nur sehr wenige Ehen, in denen gar keine Geburtenkontrolle geschieht, sei es aus Überzeugung, sei es aus Gleichgültigkeit. Wir haben es also mit der Frage zu tun: Wie ist die Geburtenregelung zu beurteilen und was hat die Kirche dazu zu sagen? Die Kirche, für die ich jetzt spreche, ist die evangelische Kirche. Es geht um die Antwort, die die evangelische Ethik auf diese Frage der Geburtenregelung zu geben sich bemüht. Diese Frage stellt uns vor ein ethisches Problem von hohem Rang. Das ist nicht immer so empfunden worden. Das zeigt die Religionsgeschichte, aber auch die Geschichte der christlichen Ethik. Diese Frage hat in vergangenen Zeiten unter ganz anderen Voraussetzungen einen sehr verschiedenen ethischen Rang gehabt. Geburtenregelung hat es in den verschiedenen Gruppen und Klassen der Menschen unter ganz anderen Voraussetzungen gegeben, sei es innerhalb der Dynastien oder sei es innerhalb der Landbevölkerung. Je nach den gesellschaftlichen Verhältnissen ist nachweislich in mannigfacher Weise Geburtenkontrolle auch aus sehr unethischen Gründen geübt worden. Nur waren die Mittel und Methoden in den verschiedenen Zeiten anders als heute. Heute ist sie eine allgemein verbreitete Praxis geworden, die offenbar unvermeidlich für die Existenz der Menschen in unserer industriellen Welt ist, in die wir eingetreten sind. Aber sie bleibt für uns als Christen eine Frage von hohem Rang, weil wir - im Unterschied von heidnischen Völkern - im Glauben an Gott, den Schöpfer, den Stifter der Ehe, den Geber des Lebens, in dieser Sache eine andere ethische Grundüberzeugung haben als die Menschen, die diese Gotteserkenntnis und die daraus fließende Menschenerkenntnis nicht haben. Darum ist uns in der christlichen Gemeinde das Problem der Geburtenregelung immer auch eine echte Frage, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Wir können das nicht einfach so geschehen lassen und so tun, als

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ob uns das nichts anginge, sondern wir haben dazu Stellung-^u nehmen, denn wir haben auch den Menschen in ihrer wirklichen irdischen Situation die Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchen, um mit den Problemen dieser Welt fertig zu werden. In der Kirche ist sicher die Frage lebendig: Ist Geburtenregelung überhaupt erlaubt, oder ist sie nicht erlaubt? Ist sie eigentlich Sünde? Es gibt sicher in der Christenheit eine ganze Reihe von Menschen, die der Uberzeugung sind, jede Art von Geburtenregelung sei Sünde. Man muß es Gott überlassen, wieviel Kinder er schenkt, und man darf da in keiner Weise eingreifen. Jeder Eingriff ist verderblich und verboten. Dagegen gibt es eine ganze Anzahl von anderen Christen, die der Uberzeugung sind, daß eine Geburtenregelung sittlich geboten ist und daß es nur die Frage zu diskutieren gilt: Welche Mittel sind erlaubt, mit welchen Methoden darf man eine Geburtenkontrolle durchführen? Hinter all den Einzelfragen steht als die letzte Frage: Welches sind die ethischen Motive, die uns veranlassen dürfen, uns überhaupt diesen Problemen zu öffnen? Welches sind die Wege, die man jeweils gehen darf, und welches die Ziele? Denn man kann natürlich zur Geburtenkontrolle aus sehr verschiedenen Motiven ja oder nein sagen. Denken wir nur daran, wie im Dritten Reich von Seiten des Staates gegenüber jeder Art von Geburtenkontrolle ein entscheidenes Nein gesagt wurde aus dem Motiv heraus: soviel Kinder als möglich um der Vergrößerung des Volkes willen. So können nationale Motive, aber auch wirtschaftliche Motive eine Rolle spielen; es können auch Glaubensmotive sein, so wie aus Äußerungen hervorgeht, die man aus der römisch-katholischen Kirche zu hören bekam, nämlich, daß es den Eheleuten geboten ist, Gott soviel Kinder zu schenken als möglich, und daß jede Einschränkung dieser Zahl gegen das christliche Gewissen geht. Denn Kinder würden nicht für die Erde, sondern für den Himmel geboren. Wir sehen, hier begegnen wir tiefgreifenden Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Der Sinn der Ehe Wenn wir das ethische Problem der Geburtenregelung klären wollen, ist die Grundfrage diese: Was ist eigentlich der Sinn der Ehe? Wir müssen, um hier weiterzukommen, uns zumindest darüber Gedanken machen. Welches ist das c h r i s t l i c h e Verständnis der Ehe? Hier ist allerdings gleich von vornherein zu sagen: So gewiß es gemeinsame Überzeugungen über die Ehe innerhalb der gesamten Christenheit gibt, so gewiß ist auch gleichzeitig zu erkennen, daß das Verständnis der Ehe zwischen den Konfessionen nicht einfach identisch ist. Wie schwierig die Probleme liegen, zeigt schon die verschiedene Auffassung über die

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sogenannte gemischte Ehe in der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche oder die Auffassung über das Problem der Ehescheidung und der Wiedertrauung Geschiedener. Aber auch in den tiefsten Fragen des Wesens der Ehe kann man nicht sagen, daß die Uberzeugungen zwischen den Konfessionen einfach übereinstimmen. Gewiß, die Ehe ist Gottes Stiftung, die göttlich gebotene Ehe ist die Einehe. Soweit, könnte man sagen, ist eine gemeinsame Grundlage vorhanden. Aber hier schon unterscheidet sich die Lehre der römisch-katholischen Kirche vom Sakrament der Ehe von dem, was nach dem Glauben der evangelischen Kirche in der Heiligen Schrift von der Ehe gesagt ist. Wir sind der Überzeugung, daß in der römisch-katholischen Kirche eine Lehre von der Ehe sich entwickelt hat, die dem nicht entspricht, was in der Schrift von der Ehe gesagt ist. Hier stoßen wir auf eine tiefgreifende Differenz. Ich möchte daher versuchen, über das evangelische Verständnis der Ehe in ein paar Sätzen einiges zu sagen. Die Hauptfrage, mit der wir es hier zu tun haben, ist die: Ist die Ehe von einem Zweckgedanken her zu verstehen? Ist die Ehe von Gott um des Nachwuchses willen gestiftet, damit in ihr auf legitime Weise durch das menschliche Geschlechtsleben Kinder erzeugt werden, oder hat die Ehe einen Sinn vor diesem Zweck? Ist es überhaupt gut, von einem Zweck her die Ehe zu definieren, oder muß man nicht eher versuchen, das Wesen der Ehe zu begreifen? Wir fragen deswegen: Ist der Sinn mit dem Zweck der Ehe identisch, oder muß man nicht, wenn man schon vom Zweck der Ehe sprechen will, beide voneinander unterscheiden? Man könnte in der Tat sagen, daß die evangelische Ethik Sinn und Zweck der Ehe unterscheidet. Sie ist der Uberzeugung, daß der Sinn der Ehe in dem nicht leicht deutbaren und verschiedener Auslegung fähigen Worte der Schrift sich ausspricht, nämlich daß „zwei ein Fleisch werden". Diese geheimnisvolle Formulierung der Bibel ist freilich im Laufe der Geschichte mannigfacher Auslegung unterworfen gewesen. Wir versuchen sie so zu verstehen, daß ihr Sinn darin besteht: Gott hat den Menschen als Mann und Frau füreinander bestimmt, daß sie in der Ehe nach Leib und Seele ganz eins werden sollen. In dieser ehelichen Liebe besteht der eigentliche Sinn der Ehe. Der Sinn der Ehe ist mit dem Zweck, daß aus der Ehe der Nachwuchs der Menschen kommen soll, nicht identisch. Eine Ehe erfüllt ihren Sinn auch dann, wenn der Zweck der Ehe, nämlich der Nachwuchs, nicht erreicht wird. Denn sonst würde eine Ehe ihren Sinn verlieren, wenn sie nicht mit Kindern gesegnet wäre. Diese Vorstellung ist natürlich vorhanden gewesen, auch innerhalb der Christenheit. Man hat sogar gelegentlich die Meinung vertreten, daß eine kinderlose Ehe wegen Kinderlosigkeit geschieden werden dürfe, da sie ja ihren Zweck verfehlt habe. Aber je länger je mehr hat auch die Christenheit gerade an dieser Stelle

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eingesehen, daß die Ehe auch ohne Kinder Gottes Stiftung entspricht. Die Begründung war natürlich in der römsich-katholischen Kirche eine andere, sie geht von den ontologischen und theologischen Voraussetzungen des Begriffes der Ehe als Sakrament aus. Dagegen hat die evangelische Theologie die Begründung anders gesehen, sie hat gesagt: Die Ehe hat ihren Sinn in der ehelichen Gemeinschaft selbst. Daß sie außerdem noch einen Zweck hat, das ist die zweite große Gabe, die zu der eigentlichen Stiftung der Ehe hinzugegeben wird. Aber der Sinn der Ehe ist das Zusammenleben von Mann und Frau in einer Leib und Seele ganz umfassenden vollkommenen Gemeinschaft. Die Geschlechtlichkeit, die ja das Leben der Menschen als Mann und Frau grundlegend bestimmt, bekommt hier ihre Sinnerfüllung in dem Miteinander des Mannes und der Frau. Darum sind wir der Uberzeugung, daß das Leben von Mann und Frau in der Ehe seinen Sinn in sich selbst hat und daß die Ehe nicht nur um ihres Zweckes willen da ist, sozusagen als die von Gott gestiftete Einrichtung, die dem Menschen die Ausübung der geschlechtlichen Triebe unter dem Gesichtspunkt erlaubt, daß er auf diese Weise Kinder erzeugt. In der Tat, in der römisch-katholischen Theologie aber nicht nur in ihr - findet man sehr oft die Anschauung, als sei dies der allein erlaubte Zweck des ehelichen Verkehrs. Wir würden als evangelische Ethiker so nicht sprechen, denn für uns ist der eheliche Verkehr nicht zweckbestimmt, sondern Sinnerfüllung der Ehe. Die Kinder, die aus ihm hervorgehen, sind nicht Zweck, sondern Frucht der ehelichen Liebe. Der Nachwuchs, der von Gott für die Ehe und aus der Ehe gewollt ist, kommt zu uns als Frucht, als eine Segensgabe, die Gott der ehelichen Gemeinschaft verliehen hat. Und es bleibt dabei: auch wenn einer Ehe Kinder versagt bleiben, so macht dies die Ehe nicht sinnlos, im Gegenteil, auch sie kann sehr sinnerfüllte Ehe sein. Es ist kein Wunder, daß innerhalb der Geschichte der Kirche bis zum heutigen Tage immer wieder Verdunkelungen des rechten Eheverständnisses eine Rolle gespielt haben. Das ließe sich in der evangelischen Kirche an bestimmten Beispielen der Vergangenheit zeigen und auch an der Art und Weise, wie etwa in der römisch-katholischen Kirche von dem sakramentalen Denken über die Ehe her und vor allem aufgrund der Lehre von der Ehe als einer Naturgesetzlichkeit bestimmte Verdunkelungen entstanden sind, die in die Richtung gehen, als ob es sich hier um die Erfüllung einer bestimmten unwandelbaren Gesetzesordnung handle. Das evangelische Verständnis ist im ganzen ethischen Bereich bestimmt durch die Überzeugung, daß wir durch Glauben befreit sind von jeder Gesetzlichkeit, so daß also gesagt werden muß: Durch den Glauben werden wir frei zur Erkenntnis unserer wahren Verantwortung vor Gott. Die Verantwortung, die uns durch die Ehe auferlegt ist, ist die Verantwortung der gegenseitigen Liebe von Mann und Frau. In dieser

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Liebe, zu der wir uns von Gott gerufen wissen und in der wir miteinander auf Lebenszeit verbunden sind, die kein Gesetz ist, das über uns steht, die im Geschehen der Ehe sich verwirklicht, erfahren wir - mit der Schrift zu reden-, daß wir im Glauben als Christen nicht unter dem Gesetz leben, sondern unter der Gnade.

Die Notwendigkeit einer Geburtenregelung Von dieser Liebe her ergibt sich nun in der Ehe die Notwendigkeit einer Regelung der Geburten. „Kinder sind eine Gabe Gottes", heißt es in der Schrift, aber diese Gaben Gottes kommen nicht ohne unser Zutun unmittelbar vom Himmel, sondern sie kommen dadurch in die Welt, daß Menschen miteinander ehelichen Verkehr haben. Gott läßt uns persönlich teilhaben an dem, was wir seine Schöpfung und sein schöpferisches Tun nennen, aber eben so, daß er uns in Verantwortung zu dieser Anteilnahme ruft. Gerade aus der gläubigen Erkenntnis, daß es sich bei der Ehe und bei den Kindern als einer Gabe der Ehe um eine Gabe Gottes handelt, folgt nicht die grundsätzliche Ablehnung einer Geburtenregelung, sondern sie fordert sie geradezu. Denn wir können die Kinder, die Gabe Gottes, nicht ohne unser verantwortliches Handeln empfangen. Dieses Handeln steht nach Gottes Willen unter dem Gebot der Liebe. Das heißt also: Gott macht uns als Eheleute verantwortlich füreinander, auch im Blick auf die Kinder dieser Ehe. Wir brauchen uns nicht unter irgendein Gesetz zu stellen, wir dürfen uns aber auch nicht gegenseitig Gesetze auferlegen, sondern wir sind verantwortlich als die, denen Gott erlaubt, als Eltern Kinder zu haben, und denen es Gott zutraut und zumutet, daß sie Eltern ihrer Kinder sein dürfen. Das ist unsere große Verantwortung, die wir als Mann für unsere Frau und als Frau für unsern Mann haben und die wir miteinander für die Kinder haben, die in dieser Ehe zur Welt gebracht werden, gebracht werden können, gebracht werden sollen und dürfen. Darum sagt die evangelische Ethik zur Geburtenregelung: Verantwortliche Eheführung gebietet eine verantwortliche Elternschaft. Verantwortliche Elternschaft schließt in sich eine Regelung der Folge der Geburten, schließt in sich die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der Beschränkung der Kinderzahl im Blick auf die Lage, in der wir als Eheleute miteinander in dieser Welt leben. Hier gibt es für den glaubenden Menschen Aufgaben zu lösen. Man kann nicht so tun, als ob es hier nichts zu verantworten gäbe. Denn jedes Kind, ob wir es uns wünschen mögen oder ob es ungewünscht in unsere Mitte tritt, macht uns aufs neue verantwortlich. Und wenn wir in echter Verantwortung leben, dann haben wir hier nach dem Willen Gottes füreinander zu fragen.

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Wenn wir das tun, will Gott, daß wir unsere Vernunft, die er uns Menschen als entscheidende Gabe gegeben hat, in unsere Erwägungen hineinziehen, wie bei allen menschlichen Entscheidungen, die wir im Leben als Christen zu treffen haben. So haben wir im Blick auf die Kinder in unserer Ehe die Gesundheit des Leibes und der Seele der beiden Eltern, vor allen Dingen der Mutter, zu beachten, wir haben unsere Kräfte zu prüfen, wir haben die wirtschaftlichen und beruflichen Voraussetzungen und Aussichten zu erwägen, vor allen Dingen den möglichen Lebensraum, in dem wir existieren - denken wir an die Probleme der Wohnungsfragen im industriellen Zeitalter - , unter Umständen auch das Alter, in dem wir uns befinden. In all diesem ist und bleibt die Liebe die oberste Richtschnur, nicht die Eigenliebe, sondern die Liebe des Nächsten, des Allernächsten: des Ehegatten und des Kindes, das wir haben, des Kindes, das wir vielleicht möchten, oder des Kindes, auf das wir verzichten. Dies ist ethisch die Grundlage für die Frage, wie wir als Eheleute dem Problem der möglichen Kinderzahl in unserer Ehe begegnen sollen. Geburtenregelung also ist um der Liebe willen notwendig, erlaubt und geboten. Allerdings, in welchem Maße sie notwendig und geboten ist, dies kann nicht allgemein und sozusagen mit einem einzigen Satz entschieden sein, sondern hier ist die einzelne Ehe, hier ist der individuelle Mensch, das Ich und das Du, mit dem wir es in der einzelnen Ehe zu tun haben, mitbestimmend. Denn die letzte Entscheidung liegt immer bei den Eheleuten selbst. Sie haben vor Gott zu leben und zu handeln, sie haben vor Gott die Kinder zu verantworten, die sie haben möchten und bekommen, und auch die, die sie nicht bekommen. Sie haben beides zu verantworten, das Wagnis und das Versagen, den Wunsch nach einem Kind und das Nein zu ihm, denn aufgrund ihrer ehelichen Liebe können sie nur so verantwortliche Eltern sein. Alle, die selbst Eltern sind, wissen, welches große, unerhörte Maß an Verantwortung uns für jedes Kind, das wir in unserer Ehe empfangen, auferlegt ist. Hier liegt das Motiv und das Ziel der Geburtenregelung. Es liegt in der Liebe zwischen den Eltern und in der Liebe für die Kinder. Dies ist das Maß, und nach diesem Maß kann allein gehandelt werden. Es kann in enier solchen Ehe echte große Kinderfreudigkeit geben, aber unter Umständen auch einen schmerzlichen Verzicht auf ein weiteres Kind aus der Liebe, die die Eheleute zueinander und zu ihren Kindern haben. Diese kurzen Bemerkungen sollten ausreichen, um deutlich zu machen, worum es in der Ehe bei einer Ethik der Verantwortung in der Liebe geht.

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Die Mittel der Geburtenregelung Damit stehen wir aber nun vor der Frage des Wie. Was sollen wir tun? Wir fragen nach der sittlichen Berechtigung der möglichen Mittel einer Geburtenkontrolle. Denn es gibt hier gewiß eine Reihe von Mitteln, bei denen wir abzuwägen haben, ob sie verantwortbar sind, ob sie ethisch erlaubt sind oder ob sie die Grenze überschreiten, die Gottes Liebe gebietet. Außer aller Frage steht, daß es geboten sein kann, ja daß uns die Liebe gebietet, die schonende Liebe, auf Geschlechtsverkehr zu verzichten. Diese Möglichkeit ist uns vor allem gegeben, und wer kennt sie nicht aus seinem Eheleben. Aber sie darf und kann nur zeitlich begrenzt sein. Sie ist als solche jedenfalls nicht das Zeichen der höchsten Moral, sie kann auch das Zeichen einer erkaltenden Liebe sein. Sie ist darum nicht schlechthin richtig, sondern sie ist auch mit großem Ernst zu prüfen. Im Neuen Testament wird im Blick auf die in der Gemeinde erörterte Möglichkeit eines Verzichtes auf Geschlechtsverkehr gerade vom Apostel Paulus gesagt: „Entziehe sich nicht eines dem andern, es sei denn mit beider Bewilligung eine Zeitlang, daß ihr zum Beten Ruhe habt, und dann kommt wieder zusammen, auf daß euch der Satan nicht versuche" (l.Kor. 7, 5). Dies sagt der Apostel ausdrücklich als Erlaubnis und nicht als Gebot. Wahrlich, ein weiser seelsorgerlicher Rat. Es ist ganz zweifellos, daß auch Ehen daran zugrunde gehen können, daß man sich gewöhnt hat, auf das eheliche Leben zu verzichten. In der Gegenwart ist zu den bisher geübten Methoden der Geburtenkontrolle in der Ehe etwas hinzugekommen, was durch die wissenschaftliche Erforschung der biologischen Funktionen in den Bereich der empfängnisverhütenden Mittel getreten ist. Das ist die sogenannte Wahl der empfängnisfreien Tage (nach der Methode Knaus-Ogino), um dadurch größere Abstände zwischen den Schwangerschaften zu erreichen. Allerdings erfordert dieses Mittel ein sehr hohes Maß an Zucht und Ordnung und an Genauigkeit der Beobachtung der weiblichen Funktionen. Absolut zuverlässig ist es jedenfalls nicht. Es ist darum nur da brauchbar, wo Menschen in strenger Zucht zu leben vermögen und die Möglichkeit, daß trotzdem eine Schwangerschaft eintreten kann, bewußt auf sich nehmen. Es gibt aber in der weiten Welt viele Gebiete, in denen dieser Weg völlig ungangbar ist. Wer die gesellschaftlichen und sozialen Situationen weiter Bereiche gesehen hat, weiß, warum solche Methoden nur auf einem hohen Kulturniveau möglich sind. Interessant ist, daß die beiden bisher genannten Mittel diejenigen sind, die auch in der katholischen Ethik als erlaubte Mittel der Geburtenregelung neuerdings gestattet werden. Auch in der römisch-katholischen Ethik wird gegenwärtig mit Ernst über diese Fragen nachgedacht, allerdings unter dem Gesichtspunkt, daß es sich hier um ein Eingeordnetsein in die 14

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Naturgesetzlichkeit und damit in die Gottesgesetzlichkeit handelt, während andere Mittel als diese beiden bis auf weiteres nicht in Betracht kommen. Die evangelische Ethik kennt aber diese Gebundenheit an ein sogenanntes allgemeines Sittengesetz oder an die Vorstellung einer naturgesetzlich geregelten Eheordnung nicht, sondern ist von dem Gedanken der Verantwortung beseelt und ist deswegen auch offen für die Frage nach der Erlaubtheit anderer Mittel. Die Fragwürdigkeit der meisten empfängnisverhütenden Mittel muß zugestanden werden, zumal im Blick auf ihre mangelnde Zuverlässigkeit. Aber trotzdem sind sie als ein Ausdruck der Notsituation der Welt, in der wir Menschen leben, eine Möglichkeit, die immerhin sehr viel besser ist als die schlechten Auswege, die ja leider auch in unserer heutigen Gesellschaft sehr viel häufiger beschritten werden. Aber darauf wollen wir gleich noch ein paar Worte verwenden. Die verschiedenartigen physikalischen, chemischen und technischen Mittel der Empfängnisverhütung sind ethisch betrachtet grundsätzlich nicht anders anzusehen als die oben genannten. Denn wenn Empfängnisverhütung überhaupt eine ethisch verantwortbare Möglichkeit der Geburtenregelung ist, wird man zwischen „natürlichen" und „künstlichen" Mitteln keinen grundsätzlichen Unterschied machen können. Für die katholische Moraltheologie ist dieser Unterschied freilich entscheidend, aber nicht für die protestantische Ethik, die kein „natürliches Sittengesetz" kennt und für die auch das „Naturgemäße" nicht ohne weiteres das Gute ist. Darum sind künstliche Mittel, die verhindern, daß eine Empfängnis geschehen kann, wenn sie medizinisch verantwortlich sind, nicht ethisch zu verwerfen. Auch hier kommt es darauf an, warum und wo sie angewandt werden. Sie sind vielleicht unter anderen Gesichtspunkten noch zu beurteilen. Hier gibt es nicht nur eine ärztliche Frage, sondern möglicherweise sogar eine Frage der persönlichen Ästhetik, aber ethisch betrachtet gehören sie in den Bereich der möglichen Mittel, die in der Regel der Arzt zu wählen oder zu raten hätte, wenn sich andere als nicht durchführbar erweisen. In neuester Zeit ist zu den bisherigen noch ein Mittel der Empfängnisverhütung geschaffen worden unter dem in der Presse gelegentlich erscheinenden Namen einer sogenannten Babypille. Es handelt sich um ein biologisch-hormonales Präparat, das absolut zuverlässig ist, wie die Medizin sagt, aber auch wohl nur begrenzt verwertet werden kann, damit es nicht vielleicht durch die Länge des Gebrauches gewisse gesundheitliche Schäden hervorruft. Es ist in seiner Arbeitsweise darum absolut zuverlässig, weil es die Auslösung eines neuen Eies verhindert. Auf diese Weise gibt es eine sichere Möglichkeit, wie in medizinischen Kreisen gesagt wird, eine weitere Schwangerschaft zu verhindern oder jedenfalls aufzuschieben, was sehr oft dringend erforderlich ist. Die

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ethische Beurteilung dieses Mittels kann nicht anders sein als die der bisher genannten. Auch in der katholischen Kirche wird übrigens die sittliche Berechtigung dieses Verhütungsmittels zum mindesten diskutiert. Offenbar wird es für möglich gehalten, daß es nicht zu den „widernatürlichen" Methoden der Geburtenregelung zu rechnen ist. Das letzte, was in diesem Zusammenhang genannt werden sollte, ist ein besonders hart umstrittenes Mittel. Es ist in manchen Gebieten der Welt im Gebrauch, weil sich alle übrigen Mittel nicht als durchführbar erwiesen haben. Man nennt es, obwohl es so nicht ganz richtig bezeichnet ist, die Sterilisation des Mannes oder der Frau. Diese wird von katholischer Seite verworfen, weil sie gegen das Sittengesetz verstoße, da durch diesen Eingriff in die normalen Funktionen des menschlichen Körpers eine unerlaubte Körperverletzung vollzogen würde. Innerhalb der Medizin wird eingestanden, daß dieses Mittel absolut zuverlässig und auch nicht gefährlich ist. Es sei keineswegs gesundheitsschädigend. Allerdings ist es ein Mittel, das in gewisser Beziehung unwiderruflich ist, denn diese Unfruchtbarmachung kann nur schlecht, vielleicht sogar gar nicht mehr rückgängig gemacht werden. Es war mir sehr eindrucksvoll, festzustellen, wie etwa in Indien große Häuser von Staats wegen eingerichtet worden sind, in denen unter dem Stichwort „Familienplanung" die Frauen und Männer, die bereit sind, nach einer bestimmten Zahl von Kindern sich sterilisieren zu lassen, eine kostenlose Operation durchgeführt bekommen, weil man gar keinen anderen Ausweg sieht, die ungeheure Zahl der heranwachsenden Menschen einzuschränken. In dieser Weise ist auch in Japan verfahren worden, und es gibt gewiß manche Gebiete der Welt, in denen dies das einzig sichere Mittel der Geburtenkontrolle wäre. Es ist auch kein Zweifel, daß in der europäischen Medizin unter gewissen Voraussetzungen, nämlich einer medizinischen Indikation, eine solche Sterilisierung in allen Fällen vorgenommen wird, wo sich gewisse gefährliche Krankheiten zeigen und unter keinen Umständen eine Schwangerschaft eintreten darf. Aber es ist umstritten, ob es als ein allgemein zu gebrauchendes Mittel der Geburteneinschränkung verantwortbar ist. Hierüber wird in den nächsten Jahren wohl noch ein ziemlicher Streit ausbrechen, je mehr wir der Frage nähertreten, ob es innerhalb des Strafgesetzbuches eine Bestrafung für solche Eingriffe geben soll oder nicht, um so mehr, als während des Dritten Reiches Sterilisationen aus eugenischen Gründen zwangsweise durchgeführt worden sind, um dadurch den sogenannten erbkranken Nachwuchs zu verhindern. Gerade von hier aus gesehen, ist selbstverständlich der Widerstand gegen jede Sterilisation stärker geworden, obwohl man sagen muß: hier geht es ja um eine medizinisch geleitete Operation, die nur dann vorgenommen werden darf, wenn die Beteiligten einverstanden sind und wenn es - gerade zur Erhaltung der Gesund-

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heit der Frau - keinen anderen Weg gibt. Ich persönlich spreche mich darum dafür aus, diese Möglichkeit einer Geburtenregelung für den Arzt offenzulassen und also die Sterilisation nicht unter Strafe zu stellen. Denn sie ist nicht einfach grundsätzlich eine „strafbare Handlung".

Die Unterbrechung der Schwangerschaft Wenn ich über die empfängnisverhütenden Mittel gesprochen habe, so habe ich das deswegen getan, weil mir daran liegt, deutlich zu machen, daß die ethische Erörterung über die Mittel der Geburtenkontrolle weithin durchaus im positiven Sinne verlaufen kann. Aber jenes Mittel der Geburtenregelung, gegen das sich das christliche Ethos mit aller Leidenschaft wenden muß, das jedoch in der heutigen Zeit nicht nur in Deutschland, sondern überhaupt im europäischen Raum und darüber hinaus weithin praktiziert wird, ist die Methode der Abtreibung. Es gibt Arzte in unserer Zeit, die behaupten, daß in der Bundesrepublik in jedem Jahre mehr Kinder vor der Geburt getötet als geboren werden. Das ist eine ungeheure Zahl. Die Zahlen, die ausgerechnet werden, schwanken zwischen einer Mindestzahl von einer halben Million und zwei Millionen Abtreibungen jährlich. Die letzte Zahl wäre also weit größer als die Zahl der lebend Geborenen. Hinter dieser Erscheinung steht eine ungeheure Not. Meine Uberzeugung allerdings ist es, daß gerade dieser schlechte Ausweg in so unendlich vielen Fällen gewählt wird, weil man die guten und möglichen Mittel der Geburtenregelung, aus welchen Motiven auch immer, nicht verwandt hat. Erst, wenn es zu spät ist, muß unter allen Umständen etwas geschehen, muß das ungewollte Kind, das ungewollte Leben beseitigt werden. Dies ist nun ein ethisch nicht verantwortbares Mittel der Geburtenregelung. Denn es geht hier faktisch um die Beseitigung eines sich entwickelnden Lebens und ist also nichts anderes als Tötung. Außerdem ist es gesundheitsschädlich, wie die Medizin behauptet, und nicht nur für den Leib, sondern auch für die Seele der Frau gefährlich. So ist es begreiflich, daß fast alle Staaten, sogar die kommunistischen, die Abtreibung unter Strafe stellen. Der Kampf um die Freigabe der Abtreibung, wie wir ihn in den zwanziger Jahren gehabt haben, kann in unserer Zeit möglicherweise unter einem anderen Aspekt als damals wieder aufleben. Die Uberzeugung, die damals viel vertreten wurde, daß man am besten täte, die Strafbarkeit der Abtreibung zu beseitigen, nachdem sie im ganzen Volke längst allgemein geübt wurde, und daß die Strafbarkeitsandrohung die Sache nur noch schlimmer mache, scheint in unserem Lande augenblicklich nicht vertreten zu werden. Aber es ist doch eine ganz ernste Frage, warum nun schon jahrelang in unserem Lande nichts gegen diese, man

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kann wohl schon sagen, regelrechte Abtreibungsseuche geschieht. Ich bin der Überzeugung, daß Entscheidendes geschehen könnte und auch geschehen muß, allerdings nicht durch eine Verschärfung der Strafbarkeit. Die Strafbarkeitsandrohungen haben sich im allgemeinen hier als wirkungslos erwiesen, früher wie auch heute. Ehe wir hierüber noch etwas sagen, müssen wir uns zunächst darüber aussprechen, warum es ethisch unerlaubt ist, eine begonnene Schwangerschaft abzubrechen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß im Augenblick der Zeugung ein neues Wesen ins Leben gerufen ist, das sich in der Menschwerdung befindet und schon sehr bald als Embryo die ersten menschlichen Züge erkennen läßt. Nach einer Empfängnis ist die Entscheidung gefallen - ein neues Wesen ist im Keim vorhanden, das uns anvertraut ist und nach Gottes Bestimmung zum Leben in der Welt heranreifen will. Dazu haben wir ja zu sagen, und wir dürfen es nicht vernichten, wenn es uns „unerwünscht" erscheint. Eine entstandene Schwangerschaft darf nur dann unterbrochen werden, wenn durch sie Gesundheit und Leben der Mutter bedroht sind. Das ist die „medizinische Indikation", wie man herkömmlich sagt. Ein so schwerwiegender Eingriff, bei dem es nicht ohne die Opferung eines Lebens geht, darf ja nur dann vorgenommen werden, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist und eine andere Rettung nicht möglich erscheint. Auch hier wird es dabei bleiben müssen, daß die Beteiligten, also vor allen Dingen die Frau, um die es hier geht, selbst entscheiden müssen. Es kann ihr niemals aufgenötigt werden, ohne daß sie selbst dazu ihr Jawort gibt. Denn es geht auch hier im letzten Grunde um den Glauben an das, was Gott will und darum tun wird. Andere Gründe für die Utnerbrechung der Schwangerschaft, die früher und auch heute noch eine Rolle spielen, wie die soziale oder eugenische Indikation, können nicht als ethisch verantwortbar angesehen werden. Die einzige Ausnahme, über die auch in unseren Tagen schon viel diskutiert worden ist, betrifft den Fall der Vergewaltigungsoder der Notzuchtschwangerschaft. Hier wäre nach meinem Urteil die Unterbrechung der Schwangerschaft ethisch vertretbar, denn man kann einer Frau nicht zumuten, ihr zu dem ihr angetanen Verbrechen auch noch dessen Folgen aufzubürden. Wenn sie freilich im Glauben überzeugt ist, daß sie diese Folgen auf sich nehmen muß, so kann das selbstverständlich keinem Menschen verboten sein. Aber es wäre schlecht, wenn der Staat in solchen Fällen bei der Androhung der Strafe bliebe, wenn er die Unterbrechung der Schwangerschaft auch in diesem Falle für eine strafbare Handlung hielte. In einem so schweren Notstand wird man nicht von Staats wegen so entscheiden können. Dagegen muß es in allen übrigen Fällen dabei bleiben: Wir können die Abtreibung nicht freigeben. Die weit verbreitete Uberzeugung, der Mensch könne

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darüber verfügen, was in seinem Körper aufgrund des ehelichen Lebens erzeugt ist, er könne damit machen, was er wolle, solange dies Leben noch nicht geboren ist, und es ginge keinen Staat und keine Gesellschaft etwas an, ist Ausdruck schwerer sittlicher Verwirrung. Als Christen setzen wir dagegen unsere Überzeugung, daß Gott der Schöpfer des Lebens ist und daß wir also, von hier aus gesehen, es ihm zu verantworten haben, was wir mit diesem Leben tun.

Wege der Hilfe Immer bleiben wir in der Verantwortung vor Gott, der uns Leben anvertraut. Daran müssen wir uns halten. Darum müssen wir aber auch Wege finden, daß diese schweren Versuchungen abgewandt werden. So steht die Frage heute vor uns, welchen Weg man beschreiten kann, die Abtreibungsseuche unserer Tage einzudämmen. Ich sagte schon, daß dies nicht durch Strafbestimmungen geschehen wird. Was aber geschehen müßte, ist eine neue Sexualerziehung und Eheberatung. Hier scheinen mir vor allen Dingen auch die Aufgaben der Kirche zu liegen. Die Kirchen haben ja, aufs Ganze gesehen, noch nicht zu diesen aktuellen Fragen Stellung genommen, obwohl man sagen könnte: Ihre Lehren von der Ehe sind nicht unbekannt. Aber es scheint mir doch noch daran zu fehlen, daß die Kirche sich intensiver um diese modernen, heute schwerer gewordenen Ehefragen kümmert. Allerdings gehört hier auch noch etwas anderes dazu. Ich kann nur am Rande erwähnen, um welche Aufgaben es sich in unserer Gesellschaftsordnung handelt, angefangen bei der Aufgabe einer familiengerechten Wohnungsbaupolitik. Wir haben in den letzten Jahren hier sicher viel gesündigt. Es kann gar kein Zweifel sein, daß dieser Punkt für die Zukunft zu den ganz wichtigen gehört. Der zweite Punkt ist der, daß wir mit den bisherigen üblichen sogenannten Kindergeldsätzen bei weitem nicht auskommen werden, sondern daß etwas ganz anderes geschehen muß. Denn wenn in unserem Lande Eheleute aus den weniger begüterten Kreisen es wagen, mehr als zwei Kinder zu haben, so verarmt diese Familie dabei. Denn es ist unmöglich, mit den bescheidenen Vergünstigungen, die eine kinderreiche Familie heute in Deutschland hat, den Lebensstandard derer zu halten, die keines oder eins oder höchstens zwei Kinder haben. Hier liegt eines der großen Versäumnisse unserer Sozialpolitik, daß sie immer noch keine echte Familienpolitik ist. Auch an dieser Stelle werden wir etwas Helfendes tun können, um den Ausweg, der heute beschritten wird, die ungewollten oder unerwünschten Kinder zu beseitigen, bevor

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sie geboren werden, überflüssig zu machen. Aber das allein reicht natürlich nicht. Wir brauchen, heute mehr als früher, Eheberatung für die heranwachsenden Menschen, für die jungen Eheleute durch Arzt und Seelsorger. Arzt und Seelsorger sind beide, aufs Ganze gesehen, wie ich mich überzeugen konnte, in ihrer Aus- und Vorbildung nicht dazu gerüstet, Eheberater zu sein. Im Verlauf der üblichen Ausbildung kommt eine Vorbereitung auf die Ehefragen weder bei den Theologen noch bei den Medizinern vor. Ich habe mich bei den Medizinern erkundigt, die mir eingestanden haben, es käme bei ihnen nicht vor. Hier scheint mir ein großer Fehler vorzuliegen, denn es wird notwendig sein, daß in einer so aufgelösten und zersplitterten Gesellschaft, in der wir uns heute befinden, in ganz anderer Weise als je zuvor Eheberatung den Menschen angeboten wird, die diese Lebenshilfe entbehren. Sie brauchen heute in Verhältnissen, die es früher nicht so gegeben hat, eine andere Hilfe. Die Industriewelt, die Industriegesellschaft mit ihren ganz neuen schweren Fragen fordert dies von uns, fordert von uns auch eine neue rechtzeitige Erziehung der Jugend im Zeitabschnitt ihres erwachenden Eros. Wir wissen wohl, daß dies ein ganz schwieriger Punkt im Blick auf geschlechtliches Erwachen der Kinder und Jugendlichen ist, weil sich niemand recht herantraut und darum hier nur ganz weniges geschieht. Es wird - wie man so sagt - vielleicht geschlechtliche Aufklärung betrieben, im Biologieunterricht etwa, aber eine wirkliche Vorbereitung auf die Aufgaben der Ehe geschieht nicht. Statt dessen tun das dann andere Kreise, wie etwa Zeitschriften, die dazu nicht berufen sind. Vieles in dem Verderben der heutigen heranwachsenden Jugend, das uns gelegentlich begegnet, hängt eben damit zusammen, daß wir es nicht unternehmen, es nicht wagen, in rechter verantwortlicher Weise Sexualpädagogik und Eheerziehung der Jugend so vorzunehmen, daß hier weder Komplexe oder Tabus entstehen noch auf der anderen Seite eine völlige Rationalisierung durch einen banalen Aufklärungsunterricht erfolgt. Hier kommt es für unsere Kirche vor allen Dingen darauf an, daß wir in der christlichen Erkenntnis der Ehe uns selbst vertiefen. Es ist ein großer Schade, daß in der evangelischen Kirche von der Ehe und ihren Aufgaben so wenig geredet wird. Wir denken an den Unterricht, wir denken an die Predigt, wir denken an viele Dinge, die hier wahrscheinlich, wenn ich recht sehe, etwa in der römisch-katholischen Kirche sehr viel planmäßiger und gründlicher getan werden. Bei uns käme es darauf an, deutlich zu machen, in welchem Lichte Gottes die Ehe und das eheliche Leben stehen. Gerade das Geschlechtsleben ins rechte Licht zu stellen, wäre von großer Wichtigkeit in der gesamten Unterweisung der Kirche für die Menschen vor und in der Ehe. Dazu gehört natürlich auch eine Ausbildung der Theologen und Mediziner,

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die ja besonders damit zu tun haben. Schließlich gehört dazu die Einrichtung von Eheberatungsstellen, mit denen auch die evangelische Kirche in neuester Zeit angefangen hat. Aber noch rechnet fast kein Mensch mit so etwas, noch meint ein großer Teil der heranwachsenden Menschen, die Kirche habe zum ehelichen Leben nichts zu sagen, ja sie würde höchstens sagen: Ihr habt keine Geburtenregelung zu treiben, denn sie ist wahrscheinlich von der Kirche aus gesehen verboten. Darum gehen die meisten ihren Weg allein und schlagen sich durch, so gut und so schlecht es eben geht. Es müßte hier das, was wir von seiten der Kirche angefangen haben, in ganz anderer Weise entwickelt werden, denn Eheberatung scheint mir in der Tat eine große und wichtige Aufgabe der Kirchen zu sein. Es wäre aber auch gut, wenn die evangelische Kirche selbst, wie die römisch-katholische Kirche oder auch die anglikanische und andere christliche Kirchen es bereits getan haben, ihre Stellungnahme zu den Problemen von Ehe und Familie, von Ehe und Kindern entwickeln würde. Denn wir wissen, daß diese Frage in allen Familien unserer Zeit lebendig ist. Jeder, der selbst heranwachsende Kinder hat, der seine eigenen Kinder hat in die Ehe gehen sehen, weiß, welche Fragen hier für uns alle täglich vor der Tür liegen und welche Aufgaben uns gestellt sind. Wir können unsere Augen davor nicht schließen, daß entweder in rechter und guter Weise oder in schlechter Weise Geburtenregelung getrieben wird. Wir tun gut, den Menschen dazu zu verhelfen, auch in dieser Sache mit einem guten Gewissen zu leben und nicht immer in einem schlechten Gewissen, an das man sich dann schließlich so gewöhnt, daß man es gar nicht mehr als schlechtes Gewissen empfindet. Die evangelische Kirche hat hier sicher etwas versäumt. Sie hat zu stark unter der Vorstellung gelebt, daß das alles in der Bibel zu lesen sei und daß man hiernach verfahren könne, aber daß man im übrigen darüber gar nicht zu sprechen brauche, da sich ja eigentlich das alles von selbst verstehe. Die anglikanische Kirche ist uns in dieser Frage in einer geradezu vorbildlichen Weise vorangegangen. Die anglikanischen Bischöfe haben schon vor vielen Jahren angefangen, über die modernen Fragen der Ehe sich zu äußern. Sie haben auf verschiedenen Lambethkonferenzen, das letzte Mal im Jahre 1958, in einer guten und ausführlichen Weise zu diesem Problem „Familie heute" Stellung genommen 4 . Diese Stellungnahme enthält den Versuch der anglikanischen Kirche, den anglikanischen Christen in der ganzen Welt deutlich zu machen, wie unter dem Gesichtspunkt einer christlich verstandenen Ehe die Geburtenregelung sittlich verantwortbar ist, wie es heute unter den Problemen der Indu4

V g l . o b e n A n m . 1.

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striegesellschaft notwendig und richtig ist, Geburtenregelung zu treiben. In ähnlicher Weise sollte auch die evangelische Kirche ein gemeinsames christliches Zeugnis über verantwortliche Eheführung und das Thema „Eltern und Kinder" erarbeiten. Es sind auch in unserer Kirche Vorarbeiten da, aber sie sind, wenn man so sagen soll, nicht kirchenamtlich. Ich erwähne dazu nur, daß etwa die evangelischen Frauenverbände schon Ende der zwanziger Jahre eine sehr wertvolle Stellungnahme zu diesen Fragen entworfen haben 5 . Auch andere Kreise in unserer Kirche haben sich darüber schon Gedanken gemacht, aber erst in den letzten Jahren sind diese Fragen wieder diskutiert worden 6 . Die evangelische Kirche hat sich jedoch von Amts wegen noch nicht dazu geäußert. Machen wir uns nicht schuldig, wenn wir auch weiterhin beharrlich schweigen? Ich kehre zum Anfang zurück. Es gibt in unserer heutigen Lange natürlich Christen, die der Meinung sind, Geburtenkontrolle käme höchstens in solchen Situationen in Betracht, wie wir sie in Afrika und Asien vor Augen haben. Aber bei uns, etwa in Europa, wäre etwas ganz anderes zu sagen. Es ist zweifellos soviel daran richtig, daß in unseren Landen in den meisten Ehen Kinderarmut praktiziert wird, gegenüber der man darauf hinweisen müßte, daß ein weiteres Kind im Durchschnitt uns im allgemeinen keinen großen wirtschaftlichen Schaden zufügen würde. Aufs Ganze gesehen ist es doch so, daß im europäischen Raum die Zahl der Kinder geringer ist, als sie sein könnte. Trotzdem wird man auch hier sehen müssen, daß die Situation nicht einfach moralistisch beurteilt werden kann, denn wer lange Zeit im großstädtischen Leben unserer Zeit als Pfarrer gelebt hat, weiß, unter welchem schweren Druck eine Unzahl von Familien im Blick auf die Enge ihrer familienfeindlichen Wohnungen, im Blick auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt hat, eben auch angesichts der Notwendigkeit, in unserer Gesellschaft einen bestimmten Lebensstandard zu erhalten, um mit den anderen Menschen in einer gewissen Gleichheit leben zu können. In der Tat, so moralistisch, wie es manchmal geschieht, dürften und sollten wir in unserer Mitte über diese Fragen nicht sprechen, sondern wir sollten sehen, wie die Wirklichkeit ist, aus der heraus so gehandelt wird, wie es geschieht. D a ist es allerdings so, daß in unserem Bereiche die Durchführung einer 5 „ Ü b e r Fragen der Ehe und Mutterschaft". Ergebnis von Beratungen in Kreisen evangelischer Frauen unter Leitung von D . Magdalene von Tiling. Auszugsweise abgedruckt in: J . BECKMANN, H . GESENIUS, G. N . GROEGER, Kirche und Geburtenregelung (vgl. oben A n m . *), S. 66-70. ' Vgl. die Leitsätze des „Evangelischen Arbeitskreises für Sexualethik" zu den Fragen der Geburtenregelung aus dem Jahre 1932. In: CHRISTLICHE VOLKSWACHT, H e f t 5 , 1 9 3 2 ; abgedruckt in: J. BECKMANN, Geburtenregelung als ethisches Problem. Stuttgart 1963, S. 45-51.

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Geburtenregelung als ethisches Problem

bestimmten Regelung der Geburtenfolge eine unausweichliche Notwendigkeit ist, der sich niemand, wenn er verantwortlich lebt, entziehen kann. Es kommt nur darauf an, daß hier die rechten Wege beschritten werden und keine falschen, daß hier der ganze Ernst der Verantwortung dafür, ob ein weiteres Kind geboren werden darf oder nicht, gesehen oder sichtbar gemacht wird. Dazu kann keiner so viel beitragen, wie die Kirche durch ihre Verkündigung und Unterweisung. Im übrigen können wir deutlich sehen, daß wir mit dem Problem der Geburtenkontrolle in der ganzen Welt immer mehr in eine gemeinsame Situation versetzt werden, unabhängig davon, wie die Lage gerade bei uns noch im Augenblick ist. Wir haben mit diesen Fragen für die Zukunft der Welt zu ringen und auch für die Menschen Hilfe zu leisten, die in vielen Ländern vor Problemen stehen, mit denen sie gar nicht fertig werden können. Wir können nicht das Verhungern und Verkommen der Menschen mitansehen, die zu Hunderttausenden darüber sterben, daß ihnen niemand zur Seite steht. Es gilt für die abendländischen Kirchen, die europäischen und die amerikanischen, ihren Brüdern und Schwestern in der ganzen Welt für eine verantwortliche Elternschaft, um die in der ganzen Welt gerungen wird, Hilfestellung zu leisten. Gerade in den Kirchen draußen sieht man die Unlösbarkeit der Probleme, in die sie hineingestellt sind. N u r von der christlich bestimmten abendländischen Welt her kann eine solche Hilfe kommen, die es ermöglicht, daß die allerschwersten Probleme in den nächsten Jahrzehnten einigermaßen gelöst werden können. Die evangelische Kirche hat hierbei durch ihre Ethik die Verantwortung und die Möglichkeit, ihren besonderen Beitrag zur Bewältigung der Fragen zu leisten, an deren Lösung für die Zukunft der Menschheit Entscheidendes hängt.

Recht und Grenze sozialethischer Stellungnahmen der Kirche* Seit 1945 hat die Evangelische Kirche in Deutschland mit einer neuen Gewißheit ihrer Verpflichtung angefangen, in der Öffentlichkeit zu sozialethischen Fragen aller Art Stellung zu nehmen. Es gab auch schon vor 1945, zumal in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, Stellungnahmen der evangelischen Kirche auf dem Gebiet der Sozialethik. Aber es war doch eine große Seltenheit, wenn es überhaupt geschah, und dann geschah es in einer solchen Weise, daß die konkreten Fragen fast nicht berührt wurden, geschweige denn zu ihnen Stellung bezogen worden wäre. Man kann das am besten studieren, wenn man die Kundgebungen der damaligen Deutschen Evangelischen Kirchentage liest. Während des Kirchenkampfes kam es einige Male auf den Bekenntnissynoden auch zu sozialethischen Stellungnahmen, aber von wenigen Ausnahmen abgesehen wagte es die Kirche nicht, den Staat des Nationalsozialismus durch ihr Wort herauszufordern. Zwar gibt es ein paar leuchtende Beispiele des Mutes, wie z. B. die Denkschrift der Vorläufigen Leitung an den Führer oder das Bußtagswort der Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union von Breslau 1943, aber sonst begnügte man sich damit, um die Existenz der Kirche zu kämpfen, zumal da man ja damit ohnehin genug zu tun hatte. Nach dem Zusammenbruch jedoch empfand gerade die Bekennende Kirche ihre Schuld und klagte sich dessen an, daß sie es versäumt hatte, an dieser Front ihren Auftrag zu erfüllen. Es ist deswegen nicht überraschend, wenn nach 1945 in immer neuen Ansätzen der Versuch gemacht wurde, zu den Fragen des öffentlichen Lebens in Staat und Gesellschaft als Kirche Stellung zu nehmen. Die Synoden der Evangelischen Kirche in Deutschland und vieler Gliedkirchen verhandelten auf ihren Tagungen Jahre hindurch über sozialethische Gegenwartsfragen, besonders im politischen Bereich. Die innerkirchliche Diskussion wurde während dieser Zeit durch Auseinandersetzungen über Probleme der Sozialethik erfüllt, ja es schien so, als wollten sich kirchliche Parteien unter diesen Gesichtspunkten neu formieren. Glücklicherweise ist es dazu nicht gekommen, aber diese Diskussionen haben zur Folge gehabt, daß große Kreise der Kirche überhaupt resi* A u s : JOACHIM BECKMANN u n d GERHARD WEISSER ( H g . ) , C h r i s t l i c h e G e m e i n d e u n d

Gesellschaftswandel. Prof. D. Dr. Friedrich Karrenberg zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Stuttgart und Berlin 1964, S. 11-22.

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Recht u n d G r e n z e sozialethischer Stellungnahmen

gnierten und sich aus dem Felde der Gegensätze herauszogen. Wie eine Erschöpfung wirkte das letzthin sich durchsetzende Aufhören der Gespräche. Hatten damit nicht schließlich doch die recht behalten, die immer schon gewarnt hatten, die Kirche in die öffentliche Auseinandersetzung über die großen Fragen der Gesellschaft, der Sozialethik, Sozialpolitik, Außenpolitik und der Wirtschaft eintreten zu lassen? Während der ganzen Zeit seit 1945 waren diese Stimmen nicht verstummt, die aus theologischen, manchmal vielleicht auch aus politischen Gründen gegen das sprachen, was auf den Synoden erklärt wurde. So ist es schon begründet, wenn man sich der Aufgabe stellt, nach dem Recht und der Grenze sozialethischer Stellungnahmen der Kirche zu fragen. Denn darum ging und geht es: um das Recht der Kirche, zum weltlichen Gemeinschaftsleben überhaupt etwas zu sagen und zur Lösung dieser Probleme beizutragen - und wenn grundsätzlich dieses Recht nicht bestritten werden könnte, dann mindestens darum, die Grenzen zu erkennen, innerhalb deren es der Kirche allenfalls zusteht, zu sozialethischen Auseinandersetzungen Stellung zu nehmen.

I. Darf man davon ausgehen, daß es unumstritten ist, was man unter Sozialethik zu verstehen hat? Ist sie klar abzugrenzen von der „Individualethik" einerseits, von der „Sozialpolitik" andererseits? Ganz einfach wird das nicht sein. Der Begriff der Sozialethik ist modern, die Sache natürlich nicht. Und doch wird man sagen müssen, daß der Bereich der Sozialethik und damit die Erörterung sozialethischer Fragen erst heute eine enorme Ausdehnung angenommen haben. Das zeigt sich an den Lehrbüchern der Ethik, aber erst recht an den Monographien und Aufsätzen in den heutigen Fachzeitschriften. Die Sozialethik ist in den Vordergrund getreten und dabei in eine ganze Reihe von Sondergebieten auseinandergefallen: Man spricht z. B. von „politischer Ethik", von „Wirtschaftsethik". Und daran zeigt sich, welche Bedeutung die Fragen des Staates, der Politik, des öffentlichen Lebens, aber auch der Wirtschaftsordnung, der Arbeit, des Eigentums bekommen haben. Hinter diesen gesellschaftlichen Bereichen sind die Probleme der Ehe und Familie fast ungebührlich zurückgetreten, sehr zum Schaden dieses Lebensbereichs, wie man heute erkennt. Wenn man sich nur die Weite dieser Gebiete und die Kompliziertheit der Fragen vor Augen hält, dann fragt man sich, wie es überhaupt noch möglich ist, Sozialethik als normative Wissenschaft sachkundig zu betreiben. Denn dadurch würde sich ja Ethik von Soziologie unterscheiden müssen, daß sie nicht nach dem fragt, was ist und warum es so ist, sondern danach, wie es sein soll,

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was „richtig", angemessen, gut, menschenwürdig ist. Aber, wie schwer es auch immer sein mag, gerade auf Sozialethik kann auf keinen Fall verzichtet werden; denn hier geht es um die Grundfrage des menschlichen Zusammenlebens: um die Normen des Miteinander, die Richtlinien des Handelns in der Gesellschaft. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie es mit Sinn und Zweck des irdischen Tuns und Daseins, mit den gesellschaftlichen und staatlichen Ordnungen und Einrichtungen für den Menschen bestellt ist. Denn unser ist die Verantwortung, ihr können wir nicht entfliehen, wollen wir Menschen unter Menschen bleiben. Indem wir diese Worte von der Sozialethik hören, kommt uns zum Bewußtsein, daß es sich hier offenbar um lauter Dinge handelt, die ganz bestimmte Voraussetzungen der Ethik bezeichnen. In der Tat, in jeder Ethik kommen entweder eine Metaphysik oder eine Religion oder der christliche Glaube zur Entfaltung. In den ethischen Normen spricht sich etwas Vorgegebenes aus, das entweder auf „Offenbarung" oder „Geist" oder „Natur" zurückverweist. Darum gibt es nicht nur Sozialethik an sich, sondern christliche, katholische, evangelische und philosophisch begründete Sozialethik. Diese Erkenntnis ist für unser Thema sehr wichtig, denn sie zeigt, daß zwischen der Botschaft der Kirche und der Sozialethik eine Verbundenheit besteht, die nicht gelöst werden kann. Auf die Probleme der Sozialethik fällt von der Offenbarung her, vom Glauben an das Evangelium und Gebot Gottes her ein besonderes Licht. Von da aus werden die Antworten bestimmt, die im gesellschaftlichen Leben der Menschen, in ihrer Wirtschaft und Politik, aufgeworfen werden. Von der Erkenntnis des Wortes Gottes her kommt es zu christlichen Stellungnahmen, d. h. zu einer Beurteilung dessen, was ist, und zu einer Entscheidung gegen das, was nicht sein soll, für das, was „nach Gottes Willen" zu geschehen hat. In jeder christlichen Sozialethik finden sich solche Stellungnahmen, Urteile, Verwerfungen und Bejahungen, die ihre Legitimation von der Erkenntnis des Willens Gottes, wie er sich den Menschen kundgetan hat in seiner Offenbarung, nehmen. Allerdings kommt es dabei mit Notwendigkeit zu Glaubensentscheidungen, zu Stellungnahmen aus Glaubenserkenntnissen, die ihrerseits axiomatischen Charakter tragen, unableitbar sind und darum der exakten Beweisbarkeit entbehren. Sie stehen im Zusammenhang kirchlicher Bekenntnisse und tragen daher auch „konfessionellen" Charakter. In ihnen spricht sich eine Lehrtradition der Kirche aus, die sich als Antwort auf die Offenbarung Gottes versteht und in der sich die Wahrheit der Offenbarung niedergeschlagen hat. Deswegen gibt es die großen Verschiedenheiten sozialethischer Stellungnahmen nicht nur zwischen Christen und Nichtchristen, sondern auch zwischen den Konfessionen, und vor allem eine dauernde Auseinandersetzung zwischen evangelischer

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und katholischer Sozialethik. Gerade die Grundfragen sind es, in denen die Gegensätze tiefgreifend sind, und von da aus wird die Erörterung des einzelnen Problems bestimmt, zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich, so daß es nicht leicht ist, sich im Konkreten zu verständigen.

II. Unsere bisherige Darlegung hat zu zeigen versucht, wie es in der Kirche zu einer evangelischen Sozialethik kommt. Aber damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob nun auch die Kirche selbst als solche das Recht zu sozialethischer Stellungnahme hat. Denn Sozialethik ist Bestandteil der theologischen Wissenschaft, die durch einzelne Theologen auf ihre Verantwortung getrieben wird, nicht aber durch die Kirche als solche. N u r wo - wie in der römisch-katholischen Kirche - ein verbindlich entscheidendes kirchliches Lehramt geglaubt wird, kann es darüber hinaus zu einer offiziellen Soziallehre und sozialethischen Stellungnahme kommen, wie es in den päpstlichen Enzykliken geschehen ist, letzthin wieder in Mater et Magistra. Aber in der evangelischen Kirche ist doch etwas Derartiges grundsätzlich nicht möglich. Es gibt daher auch nicht eine „kirchliche Soziallehre" (Sozialethik und Sozialpolitik). Weder eine Synode noch eine Fakultät, weder eine Kirchenleitung noch ein Bischofskollegium könnten also eine kirchenamtliche evangelische Sozialethik oder auch nur eine sozialethische Stellungnahme entwerfen. Aber was bleibt dann übrig? Muß man nicht überhaupt als Kirche verzichten und es den einzelnen Christen bzw. Theologen überlassen, ihren Beitrag zur evangelischen Sozialethik und damit dann auch eine evangelische Stellungnahme zu einer sozialethischen Frage zu geben? Es gibt wohl Protestanten, die so denken. Aber ist das wirklich die einzige Alternative zur römisch-katholischen Lösung? Ich meine nicht. Ich würde sagen: Es gibt auch nach evangelischem Verständnis einen kirchlichen Auftrag, zu sozialethischen Fragen Stellung zu nehmen, so gewiß es den Auftrag der Kirche gibt, von Gottes Gebot und Verheißung er zu den Menschen und ihrem Leben in der Welt zu reden. De tgische Rechtsgrund sozialethischer Stellungnahme liegt in dem göttlichen Auftrag an die Kirche,den Zuspruch und Anspruch Jesu Christi in alle Bche des menschlichen Lebens hinein zu tung zu bringen, seine Herschaft über die ganze Welt und alles Geschehen in ihr auszurufen, ja gerade dabei keinen Bereich menschlicher Existenz auszulassen, als gbe es solche Bereiche, in die seine Herrschaft nicht hinnret. Hier kommt es allerdings auf beides an: auf die Einheit der Herrschaft Jesu Christi und den Unterschied von Evangelium und Gebot, von Glaube und Gehorsam. N u r wenn dies beachtet wird, kommt es nicht zu einer

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„Christianisierung der Moral" als Aufgabe der Kirche, aber andererseits auch nicht zu einer Trennung der „beiden Reiche", von denen eines dem Menschen oder der Selbstgesetzlichkeit der Bereiche der Welt überlassen wird, während das andere in die Innerlichkeit oder Jenseitigkeit verlagert und aus der wirklichen Welt ausgeklammert wird. Beides ist gleich verhängnisvoll für die Erfüllung des Auftrags der Kirche - und für die Welt, an die der Auftrag ergehen soll. Wir haben unsere Erfahrungen damit in unserm Jahrhundert gemacht und sind dabei, es zu lernen, das eine Wort Gottes in den zwei Worten Evangelium und Gebot zu erkennen, das eine Reich in den zwei Dimensionen seiner Herrschaft. Darum bemühen wir uns, Gottes Evangelium und Gebot auf die eine wirkliche Menschenwelt zu beziehen, die beides braucht: den Zuspruch und den Anspruch Jesu Christi. Nur so vermeiden wir es, der Welt als Gottes Wort eine Botschaft zu bringen, die sie nicht trifft, weil sie nicht in die menschliche Wirklichkeit hineingelangt. Diese menschliche Wirklichkeit ist nicht bloß eine private, innerliche, seelische, sondern ebenso sehr eine äußerliche, öffentliche, leibliche. Denn menschliches Leben ist Leben in der Welt mit den Menschen in „Ordnungen", „Institutionen", „Mandaten" oder „Anordnungen Gottes" oder wie man es nennen will - also in einer sozialethischen Exitenz. Daher kann der Auftrag der Kirche gar nicht ohne diese Erkenntnis, ohne den Bezug auf die Gesellschaftlichkeit des Menschen ausgerichtet werden. Gewiß ruft das Evangelium den Menschen gerade als einzelnen (und nicht kollektiv), aber welcher einzelne ist anders da als in mitmenschlichen Beziehungen? Kein einzelner ist ein bloßes Ich, sondern auch ein Bestandteil des Wir, er lebt ja nicht nur mit, sondern geradezu vom andern Menschen, in Familie, Volk, Staat, Gesellschaft, Geschichte als der durch dies Miteinander bezeichnete bestimmte Einzelne. Darum gehört zur Botschaft der Kirche ja auch die Kirche selbst, die Gemeinschaft der Glaubenden, der Leib Christi, das Volk Gottes. Dahinein ruft sie alle und jeden als zu dem Ziel des Willens Gottes an die Menschheit. Auch dieser Tatbestand weist erneut darauf hin, wo der theologische Rechtsgrund sozialethischer Stellungnahme der Kirche liegt, die diesen Auftrag hat, das Evangelium und Gebot Gottes allem Volk und jedermann zu predigen und dadurch die Gemeinde Jesu Christi in der Welt zusammenzurufen, gerade nicht aus der Welt heraus, sondern in die Welt hinein als die von Gott an die Welt gewiesene Schar.

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III. Was aber bedeutet das? Welches sind die Folgerungen, die sich aus dieser Begründung im Auftrag der Kirche für die Kundgabe ihrer Stellung zu Fragen im sozialethischen Bereich ergeben? Wenn wir recht von dieser Begründung geredet haben, heißt das doch: die sozialethische Stellungnahme ist ein Bestandteil der kirchlichen Verkündigung. Nur wenn sie irgendwie zu der Botschaft der Kirche dazugehört, kann ihr theologisches Recht, ja die Pflicht der Kirche, hier zu reden, sichergestellt werden. Es leuchtet nun ohne weiteres ein, daß kirchliche Verkündigung nicht auf eine knappe Formel zu bringen ist. Dem widerspräche auch das Neue Testament. Die Botschaft der Kirche, die ihr von Gott aufgetragen ist, ist in der Tat ganz umfassend. Sie ist tief und reich in ihrer Fülle, obwohl es möglich ist, sie mit dem bloßen Namen Jesus Christus zu beschreiben. Die biblische Entfaltung der Botschaft im Alten und Neuen Testament zeigt mit überwältigender Eindrücklichkeit, wie sehr Gott es mit dem ganzen irdischen „sozialen" Leben der Menschen zu tun haben will. Wie er den Menschen seinen Willen kundtut, miteinander in Volk und Familie, in Verbundenheit und Gehorsam, in der „Liebe zum Nächsten" zu leben. Seine Verheißung gilt seinem Volk, ja den Völkern, seine Gebote offenbaren den menschlichen Gemeinschaften die Grundvoraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens. Wovon redet Jesus in der Bergpredigt anders als von der wahren Nachfolge der Seinen mit den andern, den Nahen und Fernen, Freunden und Feinden? Bedarf es weiterer Hinweise? Ich meine nicht. Alle gewichtigen Worte der Sozialethik haben ihre große Bedeutung in der Bibel: Gerechtigkeit und Recht, Freiheit und Ordnung, Friede und Versöhnung, Gehorsam und Nächstenliebe. So ist „Gottes Wort" in Evangelium und Gesetz erfüllt mit Licht für das Zusammenleben der Menschen, d. h. für den Bereich der Sozialethik. Die Kirche empfängt von daher ihre Weisheit und Weisung, ihre Urteilskraft und ihre Kritik. Gottes Wort macht sie tüchtig, zu erkennen und zu urteilen, Stellung zu beziehen und zu Entscheidungen aufzufordern, die „aus Gottes Wort" gewonnen sind, die nach Gottes Wort gerichtet sein wollen und darum Gottes Willen auch zu unserem zeitlichen Heil und unserer irdischen Wohlfahrt aussprechen möchten. Dementsprechend sieht sich die Kirche in die Lage versetzt, zu den Fragen des politischen Lebens, zu Krieg und Frieden, zum Recht der Verteidigung und zu den Grenzen der staatlichen Macht etwas zu sagen. Die Probleme der Wirtschaft: Arbeit, Lohn, Eigentum sowie der gesellschaftlichen Ordnungen, insbesondere der Familie mit ihren vielfältigen Aufgaben für Bestand und Zukunft der Menschen und Völker - alles dies, beispielhaft angedeutet, gehört zu den Bereichen des menschlichen

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Lebens, auf deren ethische Fragen die Antwort der Kirche notwendig sein kann, zumal wenn besondere Gefahren für den Menschen sichtbar werden, die ihm durch zerstörerische Kräfte aus seiner eigenen Mitte, durch Unvernunft und Eigensucht, aber auch durch neue Entdeckungen und Erfindungen seines Geistes drohen können. Da der Mensch im Grunde nicht imstande ist, mit Hilfe seiner Vernunft die wahrhaft schweren Probleme seines Zusammenlebens auf Erden zu lösen, weil seine eigenen Kräfte nicht stark genug sind, die Bosheit seines eigenwilligen Herzens zu überwinden, ist er darauf angewiesen, daß ihm eine andere Kraft zuteil wird, die von oben ist: die Macht der selbstlosen Liebe. N u r durch diesen Geist vermag jene „Nächstenliebe" zu gedeihen, die für die Menschheit unentbehrlich ist. Damit hat es eben der Auftrag der Kirche für den sozialethischen Bereich zu tun. Die Kirche vermag aus dem Licht der Offenbarung und der erfahrenen Macht der Liebe Christi den Menschen zu helfen, zu erkennen, was zu ihrem Frieden dient und ihnen Zukunft eröffnet. So will Gott den Menschen durch die Mitwirkung der Kirche geholfen wissen. Dazu ist sie in der Welt als Gottes Gesandtschaft wirksam. Nicht allein zur Verkündigung des ewigen Heils, der Zukunft Christi und des kommenden Gerichts, sondern aufgrund der Versöhnung der Schöpfung durch das Kreuz Christi auch zur „Lebenshilfe", daß Menschen menschenwürdig leben können, zur „Mitmenschlichkeit", daß Menschen zueinanderkommen, zur Erleichterung der Lasten dieser Erde, zur Bekämpfung der Krankheiten, zur Uberwindung des Elends, zur Beseitigung des Hungers. Niemand darf das „Heil" gegen das „Wohl" der Menschen ausspielen wollen in der „übergeistlichen" Meinung, nur das ewige Heil sei der Kirche Auftrag und Ziel. Wenn die Erde Gottes Schöpfung ist, dann gehört auch das „Wohl" der Menschen dieser Erde zu den Fragen, an denen die Kirche nicht vorübergehen kann. Wie soll sie ihnen das Heil glaubwürdig predigen, wenn sie sich um das Wohl der Armen und Elenden nicht kümmerte?

IV. Nachdem dies gesagt ist, nachdem über das tief begründete Recht der Kirche zur „Stellungnahme in sozialethischen Fragen" keine Zweifel bestehen, ist es nun erlaubt, ja geboten, den Fragen standzuhalten, die uns schon am Anfang beschäftigten: ob es denn hier nicht auch Grenzen gibt, die der Kirche für ihre Stellungnahme gezogen sein könnten. Wenn wir uns aber dieser Frage zuwenden, müssen wir einen Augenblick darüber nachdenken, was unter Kirche auf dem Boden reformatorischer Theologie zu verstehen ist. N u r wenn man sich über den protestanti15

Beckmann, H o f f n u n g für die Kirche

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sehen Kirchenbegriff klar ist, kann man auch die Frage der Grenze recht beantworten. Die evangelische Theologie redet in einem doppelten Sinn von Kirche. Einerseits ist Kirche die Christenheit, d. h. die an Christus Glaubenden. Gottes Volk, über die ganze Welt verstreut, ist die Kirche. Andererseits ist die Kirche aber auch Institution. Sie hat Amter, Einrichtungen, Synoden, Organe der Leitung und der Diakonie. Als solche ist sie eine sichtbare, historische Größe mit menschlichen Ordnungen innerhalb der Staaten und Völker. Wenn also von dem Sprechen der Kirche die Rede ist, kann die Kirche als Christenheit oder als Institution bzw. als repräsentatives Organ einer bestimmten Kirche gemeint sein. Entweder nehmen hier also Christen als solche oder Einrichtungen der Kirche als solche Stellung. O b durch das Wort von Christen, bzw. eines Theologieprofessors, oder durch die Kundgebung einer Synode die Kirche spricht, das ist nicht dadurch entschieden, daß „natürlich", wie manche meinen, nur ein kirchenamtliches Organ als Kirche Stellung nehmen kann, denn der Christ als solcher sei ja Privatmann. Aber schon Luther sagte einmal im Blick auf Worms: Tunc ego eram ecclesia. Damals war ich die Kirche! Und die Kirchen der Reformation haben durch ihre Zustimmung zu Luther diese Behauptung bejaht. Das heißt doch: Die Stimme der Kirche Christi ist nicht an kirchliche Organe gebunden, sondern sie kann ebenso frei ergehen. Immer ist entscheidend, ob das, was hier jemand sagt, sich als die Stimme der Kirche - und das heißt doch als das Zeugnis der Wahrheit Gottes - erweist. Dafür gibt es keine Garantie - auch nicht bei „repräsentativen Organen der Kirche". Selbst Konzilien können irren! Um so mehr doch Kirchenleitungen oder Synoden. Aber natürlich können sie auch die wahre Stimme der Kirche sein. Und jedenfalls sind sie als Organe der Kirche in erster Linie dazu berufen, die Stimme der Kirche, die Zeugin des Wortes Gottes zu sein, wenn auch immer nur als eine Repräsentation einer bestimmten konfessionellen bzw. regionalen Kirche, mit ihrem konkreten Namen (z. B. Evangelische Kirche in Deutschland), die als solche nicht mit der Kirche Christi identisch ist, sondern nur glauben kann, daß sie zu dieser Kirche gliedhaft gehört. Damit ist aber ein gewisser Unterschied zwischen der Stellungnahme eines „Christen" mit oder ohne besonderem Amt in der Kirche, sei er Theologieprofessor, Pfarrer oder Bischof, und eines Leitungsorgans einer Kirche gegeben. Denn die Verantwortung zwischen diesen ist insofern verschieden, als die kirchlichen Organe immer „in Vertretung", „im Namen", „im Auftrag" der Kirche sprechen, wenn sie das Wort ergreifen. Das gilt nicht von dem einzelnen Christen, auch nicht vom einzelnen Pfarrer, Bischof oder Professor. Er ist in seinem Amt nicht der

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von der Kirche beauftragte Repräsentant, er ist nicht der Sprecher der Kirche von Amts wegen. Darum geht auch seine Stellungnahme zu sozialethischen Fragen auf seine Verantwortung. Sie kann ihm von der Kirche nicht begrenzt werden. Sie unterliegt selbstverständlich der Kritik und kann immer nur als ein christlicher Beitrag zum Gespräch über eine zur Entscheidung anstehende Frage angesehen werden. Gerade aber dies muß es unbedingt geben. Es wäre verhängnisvoll, wollte eine Kirche diese Freiheit der persönlichen, öffentlichen, christlichen Stellungnahme irgendwie einschränken oder mißbilligen. Nur durch das persönliche Wagnis der Kritik, des Urteils, der Forderung kommt die Sache zur Sprache, um die es in den sozialethischen Bereichen für die Kirche geht. Die Kirche als. Gemeinde ebenso wie in ihren Organen muß sorgsam darauf hören, was in christlich-theologischer Verantwortung der einzelne in ihrer Mitte entwirft. Denn ein kirchliches Organ als solches hat nicht eine größere Verheißung des Geistes als der einzelne Christ. Wohl aber hat dieses Organ der Kirche durch seine repräsentative Bedeutung in der Welt ein besonderes Maß von Verantwortung. Vor allem ist es auch darauf angewiesen, da es sich in der Regel um ein Gremium von mehreren handelt, ein gemeinsames Wort zu finden, dem der größere Kreis erst zugestimmt haben muß. Darüber hinaus wird es sich auch noch vor die Frage gestellt sehen, ob es im Blick auf die Gemeinde bzw. Kirche, deren Leitung dieses Organ in der Regel ist, deren Zustimmung erwarten darf. Gewiß kann es Situationen geben, in denen danach nicht gefragt werden wird und darf. Aber in der Regel wird es eine Kirchenleitung oder Synode nicht wagen, in der Öffentlichkeit eine Kundgebung zu einer sozialethischen Frage zu verabschieden, von der sie nicht gewiß ist, daß die Kirche wenigstens in ihrer Mehrheit - oder in ihrem kirchentreuen Kern - ihr zustimmt. Damit sind „Grenzen" aufgezeigt, die de facto eine nicht geringe Bedeutung haben. Natürlich kann es auch ganz andere Grenzen geben: Sie können von dem Staat her, mit dem die Kirche zusammenlebt, gezogen sein, indem dieser es der Kirche nicht erlaubt, zu öffentlichen Fragen das Wort zu nehmen. Ob sie es dann trotzdem tut, wird sie nach dem status confessionis. abschätzen müssen, in den sie sich möglicherweise versetzt sieht. Wieder anders sieht das Problem der Grenze aus, wenn man die einzelnen sozialethischen Fragen und die dazu möglichen Antworten selbst betrachtet. Wir brauchen hier als Beispiel nur die Auseinandersetzung in unserer Kirche über die Atombombe zu erwähnen. Es ist der Kirche nicht gelungen, zu einer wirklich gemeinsamen Stellungnahme in dieser Frage zu kommen, weil man über die der Kirche hier gebotene Grenze ihrer Stellungnahme nicht einig werden konnte. Ahnlich war es

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beim Problem der Wiederaufrüstung, des Kriegsdienstes und seiner Verweigerung. Immer stand die Frage der Grenze einer kirchlich möglichen Stellungnahme zu den konkreten Problemen sozialethischen Charakters da, und sie erwies sich als so unlösbar, daß man zeitweise so etwas wie eine Kirchenspaltung befürchtete. Dabei kam allerdings ans Licht, daß hinter der Grenzfrage ein tieferer theologischer Gegensatz in unserer Kirche stand und steht: eine Differenz über den Inhalt des Auftrags der Kirche aufgrund des Zeugnisses der Heiligen Schrift und eine entsprechende Differenz über den christlich gebotenen Gehorsam, über die Nachfolge Christi - mit einem Wort: über eine Kernfrage der Auslegung der Heiligen Schrift. Sie betrifft den Sinn und die Verbindlichkeiten ihrer ethischen Aussagen für die Christenheit in der Welt. Nichts Geringeres steht auf dem Spiel als die Frage: Was ist der Wille Gottes nach der Schrift, den wir Christen der Welt in den konkreten Fragen ihres Zusammenlebens zu sagen haben, und was ist der christliche Gehorsam gegen diesen Willen Gottes? Wenn es in einer Kirche - vielleicht muß man sagen: in der Kirche überhaupt - so steht, dann ist klar, daß die Grenzen dessen, was als gemeinsame Uberzeugung und Stellungnahme gesagt werden kann, ziemlich eng sind. Daraus folgt: Die Kirche kann wenig Konkretes sagen im sozialethischen Bereich, sie muß sich auf das Allgemeine, z. B. auf gewisse Richtlinien, beschränken. Das ist gewiß mehr als gar nichts, aber eben doch zu wenig und ein Zeichen ihrer geistlichen Schwäche. Vielleicht liegen die Gründe dafür, daß die sozialethischen Stellungnahmen ihre Grenzen in „Allgemeinheiten" ihrer Worte und Weisungen gefunden haben, letzten Endes doch darin, daß über den konkret einzuschlagenden Weg, über die konkrete Lösung eines Problems keine Einigung zu erzielen war, weil man über das Wort Gottes Heiliger Schrift uneinig war. Erst wenn hier die Grenzen des Verständnisses, auch des gegenseitigen Verstehens in der Kirche, gefallen sein werden, kann die offenkundige Verlegenheit nicht nur unserer evangelischen Kirche, sondern sagen wir ruhig: der christlichen Kirche überhaupt überwunden werden, die ja darin besteht, daß die Christenheit nicht imstande ist, auf die schweren, bedrängenden Fragen der Welt nach der Verwirklichung wahrhaft menschlichen Lebens in allen Erdteilen zu antworten. Leiden wir Christen nicht alle darunter, daß auch die Kirche keinen wirksamen Beitrag zur Lösung der Aporien unserer Welt zu geben vermag? Wie steht es mit der atomaren Rüstung der großen Mächte? Mit der Sicherung des Friedens durch die Überwindung des Ost-West-Konfliktes? Wie steht es mit der Rassenfrage, mit der Armut, dem Hunger und Elend von 80 % nichtchristlicher Menschheit angesichts des Reichtums und der wissenschaftlich-technischen Macht von 20 % christlicher Europäer und

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Nordamerikaner? Was sagen wir zur Bewältigung der Bevölkerungsexplosion der Farbigen? Genügt es, daß wir unsere Solidarität mit den Nichtchristen in der Unlösbarkeit der Probleme bekennen? E s wäre schon einiges gewonnen für die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Botschaft, wenn die Kirche in diese Solidarität der menschlichen Ohnmacht mit den Nichtchristen eintreten würde. Wieviel schlechter ist demgegenüber eine kirchliche Stellungnahme, die sich zwar einen hohen moralischen Anstrich gibt, aber im Grunde zur L ö s u n g der Sachfragen nichts beiträgt. Ein Ethos der Unbarmherzigkeit, mag es sich noch so sehr als Anwalt christlicher Moral oder des Gesetzes Gottes fühlen, ist tief unchristlich, wie uns Jesus in seinen Worten und seinem Verhalten zu den Sündern ein für allemal deutlich gemacht hat. Aber - das Bekenntnis der Solidarität in der Verlegenheit und Anerkennung der Unlösbarkeit sozialethischer Menschheitsfragen in der heutigen Weltlage genügt für die Kirche nicht. Gott fordert mehr von uns. Die Kirchen können nicht bei ihrer Verlegenheit beharren. E s wäre Unglaube und Ungehorsam gegen Gott. U n d dabei haben wir eine neue große Gelegenheit, aus unserer Verlegenheit herauszukommen. Ich meine das vor nun schon langer Zeit angefangene, tiefgreifende und umfassende ökumenische Gespräch - gerade auch über die sozialethischen Fragen der heutigen Welt. Hier ist uns eine neue Chance gegeben, die deswegen einzigartig ist, weil das ökumenische Gespräch ein weltumspannendes und überkonfessionelles Gespräch ist. N u r infolge dieser neuen Begegnung der Christenheit der Welt besteht eine H o f f n u n g , daß es in der Kirche zu einer Gemeinschaft christlichen Denkens, Erkennens und Handelns kommt, die der für das Leben der Menschheit so notwendigen Weltgemeinschaft der Staaten und Völker dient. Die sozialethischen Fragen haben längst begonnen, Menschheitsfragen zu werden. D a r u m ist ihre L ö s u n g immer weniger im Maßstab eines Volkes oder auch eines Erdteils möglich. U m so notwendiger ist es, daß die Kirchen ihre Antworten auf die sozialethischen Fragen der Menschen in der Gemeinschaft ökumenischer Zusammenarbeit zu geben versuchen. Denn auch ihre konfessionellen Traditionen reichen nicht mehr aus, zumal da diese ein Bestandteil der Geschichte nur eines Erdteils, nicht aber der Weltgeschichte sind. Diese Schlußbemerkungen zeigen uns, in welcher Richtung wir in unserer Kirche heute zu denken und zu handeln haben, wenn wir die Frage nach Recht und Grenze sozialethischer Stellungnahme der Kirche nicht bloß abstrakt-theoretisch, sondern konkret-geschichtlich zu beantworten versuchen.

Reichtum ist für die Kirche eine große Gefahr Gespräch mit den SRIEGEL-Redakteuren Werner Harenberg und Gerd Brüggemann* SPIEGEL: Herr Präses, bereitet es Ihnen Sorge, daß die Kirche viel oder sogar zuviel Geld einnimmt, daß sie reich oder sogar zu reich wird? BECKMANN: Der Reichtum ist für die Kirche, wie für alle Menschen, ein Problem. U m die Kirche steht es - ganz allgemein gesagt - besser, wenn sie nicht reich ist. SPIEGEL: Dann steht es heute um die Kirche schlecht - sie erhält so viel Geld wie nie zuvor in ihrer Geschichte. BECKMANN: Das bedeutet noch nicht, daß sie „reich" oder gar „zu reich" geworden ist. Aber immerhin müssen wir mehr als früher uns der großen Gefahr bewußt sein, die der Reichtum über die Kirche bringen kann. SPIEGEL: Wollen Sie dieser Gefahr vorbeugen? Man sagt, Sie seien dafür, daß der Prozentsatz der Kirchensteuer gesenkt wird, daß das „Kirchgeld", das in vielen Gemeinden zusätzlich erhoben wird, abgeschafft wird, daß die Kirche auf Staatszuschüsse verzichtet. BECKMANN: Das ist zum Teil schon richtig, aber ich würde diese Erwägungen natürlich gern erläutern, damit sie nicht falsch verstanden werden. SPIEGEL: Natürlich. BECKMANN: Vor allem kann man über die Einnahmen der Kirche nicht sprechen, ohne ihre Ausgaben zu betrachten. Ich wäre für eine radikale, sofortige Kürzung aller Einnahmen, wenn wir Reichtum anhäufen würden, wenn wir das Geld nicht richtig verteilen würden. SPIEGEL: Ist der Geldbedarf der Kirche unbeschränkt? Gibt es keine Grenze, die „maßhalten" gebietet? BECKMANN: Ich bilde mir ein, daß wir schon verstehen, maßzuhalten. Wir verschwenden gewiß keine Gelder. SPIEGEL: Nehmen wir nur einen Sektor: den Bau neuer Kirchen. Dafür wird ja sehr viel Geld ausgegeben. BECKMANN: Bei uns nicht von der Landeskirche, die meist nur * A u s : DER SPIEGEL N r . 2 2 v o m 27. M a i 1964, S. 5 5 - 6 1 .

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Zuschüsse zahlt oder den Schuldendienst übernimmt, sondern von den Gemeinden, die ja bei uns im Rheinland die Kirchensteuer erhalten, abzüglich der zirka 17 Prozent, die die Landeskirche bekommt. SPIEGEL: Im Rheinland sind seit Kriegsende allein 134 evangelische Kirchen wiederaufgebaut und 156 neu gebaut worden, mehr als vorher in mehreren hundert Jahren. Läßt sich absehen, wann Sie im Rheinland genug Kirchen haben? BECKMANN: N e i n .

SPIEGEL: Noch immer nicht? Böse Zungen sagen, es gelinge nicht einmal, die bereits gebauten Kirchen zu füllen. BECKMANN: Sie müssen das Problem umgekehrt sehen. Unsere Väter und Großväter haben Fehler gemacht und zu große Kirchen in den Stadtzentren gebaut. Der heutige Mensch scheut weite Wege; er will nicht kilometerweit zu einer Kathedrale marschieren. SPIEGEL: Liegt es wirklich an den Fußmärschen? BECKMANN: Zum Teil sicher. Die Zahl der Menschen, die in die Kirche gehen, wächst, wenn wir den Menschen nachfolgen in ihre neuen Wohngebiete. Das ist eine Erfahrung. SPIEGEL: Früher wurde gelegentlich gesagt, die Zahl der Kirchen müsse verdoppelt werden, weil sich nach dem Kriege beispielsweise hier bei Ihnen im Rheinland die Zahl der evangelischen Christen verdoppelt hat. Brauchen Sie noch mehr neue Kirchen? BECKMANN: Ja. Sehen Sie, da wird zum Beispiel in Düsseldorf eine neue Siedlung für 30 000 Menschen gebaut; davon sind 15 000 evangelisch. Denen müssen wir doch eine Kirche bauen! Hinzu kommt, daß wir ja auch im Gegensatz zu früher nicht nur Kirchen bauen, sondern zugleich auch neue Zentren der Gemeinschaft schaffen müssen, also Gemeindehäuser, Jugendräume. SPIEGEL: Dann werden also Kirchen und solche Nebengebäude weiterhin in so flottem Tempo gebaut werden wie in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten? BECKMANN: Das Tempo wird sich verlangsamen. Aber es muß weitergehen. Wer das nicht einsieht, sollte immerhin bedenken, daß nur ein relativ kleiner Teil unserer Ausgaben dem Kirchenbau gilt. SPIEGEL: Wieviel Prozent der Einnahmen werden denn für Kirchenbauten ausgegeben? BECKMANN: Von der Landeskirche oder von den Gemeinden? SPIEGEL: Insgesamt?

BECKMANN: Etwa zehn Prozent, schätze ich. SPIEGEL: Und wie verteilen sich die übrigen 90 Prozent? BECKMANN: Die Personalkosten machen bei der Landeskirche etwa 60 Prozent aus, bei den Gemeinden bis zu 90 Prozent. SPIEGEL: Könnte man es auch anders aufschlüsseln: Wieviel wird für

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die Seelsorge, wieviel für die Verwaltung, wieviel für karitative Zwecke ausgegeben? BECKMANN: Das läßt sich nur überschlägig sagen. Etwa 65 Prozent kostet die Seelsorge, etwa fünf Prozent die Verwaltung, etwa 30 Prozent die missionarische und diakonische Arbeit, davon ist ein Drittel für Weltmission und evangelische Arbeit im Ausland, insbesondere für Auslandsgemeinden, bestimmt. SPIEGEL: Wäre nicht ein höherer Anteil für Krankenhäuser, Kindergärten, Jugendheime zu wünschen? BECKMANN: Sicher, dafür wäre ich auch. Aber ich bin überzeugt, daß es wenige Institutionen mit einer so „billigen" Verwaltung gibt, und auch unsere Pfarrer werden nicht besser bezahlt als Akademiker in vergleichbaren Positionen des Staatsdienstes. Wir können eben nur so viel verteilen, wie wir einnehmen. SPIEGEL: Der rheinischen Kirche ist es doch aber gelungen, erhebliche Gelder anzulegen. 1,6 Millionen Mark Zinsen werden alljährlich verbucht. Ist es für Sie nicht beunruhigend, so viele zinsträchtige Millionen auf der Bank oder in Papieren zu haben? BECKMANN: Wir kommen da der Rechnung sehr nahe, die oft aufgemacht wird. Dann zählt man noch den Wert der Grundstücke und der Kirchengebäude hinzu, und schon heißt es, die Evangelische Kirche im Rheinland sei eine vielfache Millionärin. SPIEGEL: N u n gut, Kirchen können Sie nicht verkaufen, die bringen auch keine Zinsen. Aber auch ohne den Grundbesitz ist ja Ihre Kirche vielfache Millionärin, wenn wir so sagen dürfen. BECKMANN: Wir haben keine Reichtümer angesammelt. Es geht doch vor allem darum, daß wir 1000 Pensionäre und Witwen zu versorgen haben, dafür brauchen wir einen Fonds von einigen Millionen Mark. Die Synode... SPIEGEL: . . . das K i r c h e n p a r l a m e n t . . .

BECKMANN: . . . hat entschieden, daß wenigstens so viel Geld dasein muß, daß wir zwei bis vier Monate alle Forderungen der Pensionäre erfüllen können. Das ist noch gar nicht erreicht. SPIEGEL: Sie haben doch nicht nur die Rücklagen für pensionierte Kirchenbeamte, Pfarrer und Witwen. BECKMANN: Wir haben auch eine Baurücklage, und wir haben auch eine Rücklage, damit wir flüssig sind, auch wenn aus irgendeinem Grund plötzlich der Zustrom von Geld abgeschnitten wird. Das braucht jedes Unternehmen, jede Körperschaft, ja schon jeder Verein. SPIEGEL: Könnte sich die Kirche nicht wenigstens dann, wenn sie in N o t geraten sollte, auf freiwillige Spenden verlassen? BECKMANN: Aber denken Sie an eine Inflation, dann wäre es auch dem frömmsten Christen sehr schwer, seiner Kirche sofort spürbar zu helfen.

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SPIEGEL: Das relativ hohe, mehr oder minder „flüssige" Kirchenvermögen ist also Ihrer Meinung nach kein Zeichen des Uberflusses? BECKMANN: Überhaupt nicht. Wir folgen nur dem Rat unserer Finanzexperten, die uns immer wieder sagen, wir sollten nicht so von der Hand in den Mund leben. SPIEGEL: Wie legen Sie denn das Geld an? BECKMANN: Nicht in Aktien, das dürfen und wollen wir nicht. Wir kaufen nur Pfandbriefe und so etwas. SPIEGEL: Und wenn ein reicher Aktionär der Kirche seine Papiere vererbt? BECKMANN: Dann werden wir in die Verlegenheit versetzt, einmal und nicht wieder an die Börse zu gehen - so heißt wohl der Fachausdruck und die Aktien zu verkaufen, um dafür Pfandbriefe oder andere mündelsichere Papiere zu erwerben. SPIEGEL: Herr Präses, einerseits sind Sie offenbar überzeugt, daß die Kirche so viel Geld, wie sie bislang bekam, brauchen konnte - und noch viel mehr. BECKMANN: Sicher. Es ist so viel N o t in der Welt, bei uns und vor allem draußen, daß wir gar nicht genug helfen können. SPIEGEL: Andererseits aber sind Sie dafür, Steuer, Kirchgeld und Staatszuschüsse zu senken. BECKMANN: Ich wäre natürlich ein schlechter Kirchenmann, wollte ich partout durchsetzen, daß die Kirche finanziell schlechter gestellt wird. Es geht mir, vielleicht läßt es sich so sagen, um die Gerechtigkeit. SPIEGEL: U m die christliche Gerechtigkeit? BECKMANN: Ja, schon, aber hoffentlich meinen wir dasselbe. SPIEGEL: Ganz gerecht und evangelisch wäre es doch, wenn jeder Christ seiner Kirche freiwillig so viel zahlte, wie er für richtig hält. BECKMANN: Bitte vergessen Sie nicht, daß dies ja viel öfter geschieht als Sie es vielleicht vermuten. Wenn jemand zum Beispiel im Jahr 150 Mark Kirchensteuer zahlt und dazu noch 100 Mark spendet, dann sind doch im Grunde die 250 Mark der Betrag, den er so oder so geben würde. Und viele Leute spenden heute mehr als früher. SPIEGEL: Das gibt es sicher. Aber sind Sie nicht auch der Meinung, daß die Einnahmen radikal zurückgehen würden, wenn die Kirchensteuer nicht vom Staat eingetrieben würde? BECKMANN: Ein gewisser Rückgang würde wohl eintreten. SPIEGEL: Heute ist es doch so, daß nicht der am meisten zahlt, der sich der Kirche besonders verbunden fühlt, sondern der, der am besten verdient. BECKMANN: Im großen und ganzen ja. SPIEGEL: Bedrückt Sie das nicht? Das ist doch ein fiskalischer, kein evangelischer, kirchlicher Maßstab.

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BECKMANN: Dazu ist einiges zu sagen. Vorab dies: Ich wäre glücklich, und viele meiner Brüder wären es auch, wenn bei uns historisch ein System gewachsen wäre, das die Freiwilligkeit deutlicher hervortreten ließe. Keinem Menschen sind Zwangs-Steuern angenehm. SPIEGEL: Beim jetzigen System kann man von Freiwilligkeit ja nur insofern sprechen, daß es jedem freisteht, der Kirche anzugehören oder nicht. BECKMANN: Ja. Das System, wie es zur Zeit und sicher auch in Zukunft bei uns in der Bundesrepublik praktiziert wird, mag in dem Sinne, wie Sie es meinen, nicht ganz gerecht sein. Aber es ist immerhin auf jeden Fall gerechter als frühere Systeme. S P I E G E L : SO?

BECKMANN: Ja. Früher waren, jedenfalls in Preußen, die Hebesätze von Gemeinde zu Gemeinde sehr verschieden, je nach dem örtlichen Bedarf. Jetzt wird überall der gleiche Prozentsatz erhoben. SPIEGEL: Stört es Sie sehr, daß das Geld mit Hilfe, notfalls mit Zwangsmitteln des Staates eingetrieben wird? BECKMANN: Ich bin überzeugt, daß es mich als Theologen mehr stört als weitaus die meisten Kirchensteuerzahler, die dieses System für bequem halten. Das höre ich immer wieder. Außerdem ist das StaatsInkasso billiger als es jedes kircheneigene Erhebungssystem sein könnte. Wir zahlen dem Staat drei Prozent Gebühren und sparen einen eigenen Beamtenapparat, der sicher teurer wäre. SPEIGEL: Aber es müßte doch eigentlich jeden Geistlichen schmerzen, daß die Einnahmen der Kirche überhaupt kein Spiegelbild der Gläubigkeit der Christen mehr sind. BECKMANN: Wir dürfen uns kein Urteil anmaßen darüber, wer gläubig oder ungläubig ist. Wir dürfen dem Jüngsten Gericht nichts vorwegnehmen. Wie oft macht man die merkwürdige Erfahrung, daß plötzlich in einer vermeintlich ungläubigen Familie ein strahlender Glaube aufleuchtet. Auch wenn das Geld für die Kirche freiwillig gezahlt würde, würde ich mich doch scheuen, die Höhe der Beträge unbedingt als Barometer für den Grad der Gläubigkeit zu werten. SPIEGEL: A b e r . . .

BECKMANN: Ich habe lange über dieses Problem nachgedacht und bin zu der Erkenntnis gekommen, daß es viel mehr gläubige Menschen gibt als vielfach wegen der halbleeren Kirchen angenommen wird. Es ist nicht so, daß der Mensch in unserer industrialisierten Gesellschaft nichts mit Gott zu tun haben will, sondern er ist einfach überfordert. Die Müdigkeit der Menschen ist die große Gefahr für die Kirche wie für die Welt. SPIEGEL: N u n gibt es aber Ehemänner, die sich selbst für ungläubig

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halten und aus der Kirche ausgetreten sind. Sie müssen für ihre christlichen Ehefrauen die Kirchensteuer bezahlen oder mitbezahlen. BECKMANN: Nun, auch meine Frau und ich werden gemeinsam veranlagt . . . SPIEGEL: Herr Präses, das ist wohl nicht der rechte Modellfall. . . BECKMANN: Vielleicht doch. Ich habe auch schon im Scherz zu meiner Frau gesagt: Du bleibst zu Hause und verdienst doch eine Menge Geld, laut Finanzamt die Hälfte meines Gehalts. Dann sagte meine Frau: Das finde ich gar nicht komisch, was tue ich nicht alles für dich. Und so ist es doch wirklich, daß der Ehemann, ob Christ oder Nichtchrist, doch nur soviel verdient, weil er eben diese seine Frau zu Hause hat. SPIEGEL: Wir wollen nicht fragen, wie wesentlich dabei in einer Normalehe die Frömmigkeit der Frau ist. BECKMANN: Wenn die Frau so dächte wie ihr Mann - um auf Ihr Beispiel zu kommen - , dann wäre sie ja auch aus der Kirche ausgetreten. Wenn der Mann sonst die Gleichberechtigung in Anspruch nimmt, beispielsweise beim Finanzamt, dann muß er sie eigentlich auch in diesem Punkte akzeptieren. Die Frau und meistens ja auch die Kinder nehmen die Kirche in Anspruch. Dann halte ich es auch für gerecht, daß sie dafür zahlen. SPIEGEL: Es kann geschehen, daß ein Atheist, der mit einer Christin verheiratet ist, jährlich 10 000 oder 20 000 Mark Kirchensteuer zahlt. BECKMANN: Das ist ein extremer Fall. Aber bei den hohen Beträgen wird es manchmal nicht nur in solchen Ehen probematisch. SPIEGEL: SO hohe Beträge sind auch bei christlichen Großverdienern bedenklich? BECKMANN: In einigen Fällen ja. Nun haben wir ein sehr gutes Verhältnis zu den meisten hochbesteuerten Leuten. SPIEGEL: N a t ü r l i c h .

BECKMANN: Da wir jedoch als Landeskirche keine Steuern einnehmen, sondern die Gemeinden, so können auch nur diese einen Steuererlaß im Einzelfall aussprechen. Vielleicht wird man eine gesetzliche Regelung treffen können. Ich persönlich würde meinen, es sollte niemand mehr als etwa vier Prozent des Einkommens als Kirchensteuer abführen müssen. SPIEGEL: Nun gibt es aber einen anderen Unterschied: Der rheinische Protestant zahlt zehn, der Hamburger Protestant acht Prozent seiner Lohn- oder Einkommensteuer an die Kirche. Wollen Sie heruntergehen? BECKMANN: Wir haben in unserer Landessynode über eine Senkung gesprochen. Wir waren uns einig, daß wir den Satz sofort herabsetzen würden, wenn wir die Summe nicht mehr brauchten. Aber soweit sind wir nach Meinung vieler noch nicht. SPIEGEL: Wann wird es soweit sein? BECKMANN: Das läßt sich noch nicht sagen. Aber ich glaube und

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R e i c h t u m ist f ü r die K i r c h e eine große G e f a h r

hoffe, daß es von uns aus in absehbarer Zeit geschehen könnte. Leider können wir aber nicht allein entscheiden. SPIEGEL: W e r ist d a g e g e n ?

BECKMANN: Einer solchen Senkung müßte auch die katholische Kirche zustimmen. SPIEGEL: W a r u m ?

BECKMANN: Wir könnten uns nur gemeinsam entscheiden, weil die zuständigen Stellen - die Finanzämter und die Lohnbüros der Firmen nicht bereit sind, etwa den Protestanten einen anderen Prozentsatz abzuziehen als den Katholiken. SPIEGEL: Haben Sie denn schon mal mit der katholischen Kirche Kontakt aufgenommen? BECKMANN: J a . SPIEGEL: U n d ?

BECKMANN: Ich will mich vorsichtig ausdrücken: Ich hatte nicht den Eindruck, daß man auf katholischer Seite geneigt ist, den Satz zu senken. SPEIGEL: Aber Sie erwägen immerhin, herunterzugehen. Trotzdem wird in vielen Gemeinden noch zusätzlich ein Kirchgeld erhoben. Stehen Sie allein mit Ihrer Forderung, darauf zu verzichten. BECKMANN: D a bin ich nicht sicher. Viele weisen darauf hin, daß ein großer Teil der Glieder unserer Gemeinden, etwa ein Drittel, weder Lohn- noch Einkommensteuer und mithin auch keine Kirchensteuer zahlt. Viele halten es sicher nicht ganz zu Unrecht für ungut, daß ein so großer Teil nicht einmal mit ein paar Mark zum Unterhalt seiner Kirche beitragen soll. SPIEGEL: Kirchgeld wird also vor allem aus sozusagen pädagogischen Gründen kassiert? BECKMANN: Das ist ein bißchen zugespitzt formuliert, wenn auch im Kern richtig. Hinzu kommt, daß wir eben sehr viele arme Gemeinden haben. Nehmen Sie zum Beispiel Oberhausen. Die großen Steuerzahler wohnen außerhalb der Stadt. So ist es auch in anderen Ruhr-Städten. SPIEGEL: Dafür gibt es doch aber den kircheninternen „Lastenausgleich" zwischen reichen und armen Gemeinden. BECKMANN: Ich finde auch, daß er genügen könnte. Aber andere sagen, daß die Gemeinden, die Geld von anderen haben wollen, eben durch das Kirchgeld auch ein Zeichen ihres guten Willens geben müssen, damit nicht verkehrte Proportionen entstehen. SPIEGEL: Könnte man nicht wenigstens ausnahmsweise in diesem Punkt von einem Zwangsgeld absehen und in den armen Gemeinden um freiwillige Spenden bitten? BECKMANN: Dagegen wehrt man sich auch mit dem Argument, daß wir, solange wir das Kirchgeld erheben, eine eigene Steuerkartei behalten.

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SPIEGEL: Warum ist die so wichtig? Es gibt doch hierzulande niemanden, der an dem Staats-Inkasso der Kirchensteuer rüttelt. BECKMANN: Trotzdem fürchten manche, daß wir ohne Unterlagen zur Besteuerung dastehen, wenn plötzlich aus irgendwelchen politischen Gründen das ganze jetzige System auffliegt. SPIEGEL: AUS politischen Gründen - also nach einem Umsturz, nach einer Revolution? BECKMANN: Ja, so etwa. Ich habe meinen Brüdern auch gesagt, daß sie sich überflüssige Sorgen machen. Realistischer sind die Gespräche, die wir zur Zeit darüber führen, ob das Kirchgeld in seiner jetzigen Form abgeschafft werden und an seine Stelle ein Kirchenbeitrag treten soll, den nur diejenigen zahlen, die von der Kirchensteuer frei sind. Dann würden die einen nur Kirchenbeitrag, die anderen nur Kirchensteuer zahlen. SPIEGEL: Für viele Leute würde sich dann nur die Bezeichnung ändern. Es scheint, daß sich die Meinung, man solle auf das Kirchgeld ganz verzichten, nicht durchsetzen kann. BECKMANN: Das fürchte ich auch. SPIEGEL: Gilt das auch für die Bereitschaft zum Verzicht auf die Staatszuschüsse? Im vergangenen Jahr waren es noch 8,3 Milliarden Mark. BECKMANN: Ich glaube nicht, daß man zu einem ersatzlosen Verzicht bereit ist. Dagegen spricht ein gewichtiges Argument. Wir finanzieren ja viele Dinge, die durchaus nicht nur im kirchlichen, sondern im allgemeinen Interesse liegen. Denken Sie nur an die sehr teuren Arbeiten an alten Kirchen, Baudenkmälern also. SPIEGEL: Dafür könnte man ja von Fall zu Fall zweckgebundene staatliche Mittel beantragen, die es ja jetzt auch schon neben den festen jährlichen Staatszuschüssen gibt. BECKMANN: Sicher. Aber denken Sie auch an die Krankenhäuser, die Kindergärten, den Religionsunterricht und so weiter. Trotzdem möchte ich von den Zuschüssen wegkommen. Und vielleicht läßt sich eines Tages wenigstens erreichen, daß sie durch eine einmalige Zahlung, eine Art Abfindung, abgegolten werden. SPIEGEL: Herr Präses, wenn wir die Zahlen über die Einnahmen der Kirchen lesen, fällt uns ein, daß sogar auf dem Konzil einige Ihrer katholischen Amtsbrüder gefordert haben, ihre Kirche müsse eine Kirche der Armut werden. Nun leben die Kirchen in der Bundesrepublik wahrlich nicht in Armut - und fast ausschließlich von den Reichen. BECKMANN: Wenn von der Kirche der Armut gesprochen wird, dann ist sicher nicht eine Kirche in N o t als erstrebenswertes Ziel gemeint, sondern eine Kirche der Bescheidenheit. Und das sind wir geblieben. SPIEGEL: D a s G e l d

...

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BECKMANN: . . . regiert die Kirche nicht. Darf ich Ihnen dazu ein Beispiel erzählen, das ich auch anderswo schon benutzt habe? SPIEGEL: B i t t e .

BECKMANN: Vor einigen Jahren starb hier im Rheinland in einer sehr, sehr reichen Familie der Mann. Er war aus der Kirche ausgetreten, die Familie wußte das gar nicht. Die Angehörigen kamen zu mir und sagten: Was kostet das, wir zahlen die Kirchensteuer für die letzten zehn Jahre nach, wenn Sie ihn beerdigen. SPIEGEL: Wie haben Sie entschieden? BECKMANN: Ich habe gesagt, das können wir nicht machen. SPIEGEL: Das war ja fast schon ein Versuch der „Bestechung". Aber ist die Kirche, sind die Geistlichen, wenn so viel Geld in die Kassen fließt, nicht doch der - harmloseren - Versuchung ausgesetzt, hier und da doch großzügiger, vielleicht sogar verschwenderischer zu sein als es eigentlich guttut? BECKMANN: Sicher. Dem gilt es zu widerstehen. Ich halte aber eine Versuchung anderer Art noch für gefährlicher: Daß man nicht durch Uberzeugung, sondern durch Einsatz von Geldmitteln - also auf ungeistliche Weise - Einfluß oder „Macht" zu gewinnen versucht. Auch gegen ein falsches „Prestige"-Denken muß hier und da gekämpft werden, wenn zum Beispiel - so etwas kommt vor - eine Gemeinde eine zu große Kirche mit der Begründung fordert, die Nachbargemeinde oder die Katholiken im gleichen Ort hätten auch ein besonders großes Gotteshaus gebaut. SPIEGEL: Beunruhigen Sie solche „Versuchungen" sehr? BECKMANN: Nein, eigentlich nicht. Sie treten hier und da in Erscheinung, aber sie werden, wie ich meine, meistens rechtzeitig erkannt. Und, wissen Sie, wenn mich manchmal die Sorge überkommt, ob wir nicht doch zuviel Geld haben, dann schaue ich mir die Bilanzen der großen Firmen in der FAZ an und sage mir: Wir sind doch ein ganz kleines, noch dazu wohltätiges Unternehmen. SPIEGEL: Herr Präses, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft* Es kann sich bei dem Thema „Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft" nur um eine vorläufige und sehr bescheidene Einführung in die hier vorliegenden Probleme handeln. Uber diese Sache zu sprechen, ist außerordentlich schwierig, weil die Diskussion, die in den letzten Jahren darüber geführt wurde, uns eine Menge sehr komplizierter Fragen im ökumenischen Bereich vor die Füße gelegt hat. Das zeigt die hierzu vorhandene Literatur. Seit dem Jahre 1937, also nach der bekannten preußischen Bekenntnissynode in Halle, ist über dieses Thema immer wieder geschrieben worden, vor allen Dingen auch im ökumenischen Bereich1. In dem Memorandum des ökumenischen Ausschusses an die Kirchenleitung der VELKD vom 18. September 1954 steht unter Punkt 1 der schöne Satz: „Kirchengemeinschaft und Abendmahlsgemeinschaft bedingen und fordern einander." Dieser Satz ist unzweifelhaft richtig. Selbstverständlich bedingen Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft sich * A u s : KIRCHE IN DER Z E I T 19, 1 9 6 4 , S. 3 1 3 - 3 1 6 . 1 Zu der Vorbereitung der Konferenz in Lund lag ein in englischer Sprache erschienenes Buch vor, das sehr viel Material zur Sache bringt: DONALD BAILLIE und JOHN MARSH (Hg.), Intercommunion. The Report of the Theological Commission. London 1952. Als Ergebnis der Konferenz von Lund erschien: WILHELM STÄHLIN (Hg.), Kirche, Gottesdienst und Abendmahlsgemeinschaft. 1954. Wichtig ist dann noch im Zusammenhang mit der Diskussion über Abendmahlsgemeinschaft in der E K D : EISENACH 1948. Verhandlungen der verfassunggebenden Kirchenversammlung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hg. im Auftrage des Rates von der Kirchenkanzlei der EKD. Berlin 1951; PETER BRUNNER, Das Lutherische Bekenntnis in der Union. Ein grundsätzliches Wort zur Besinnung, zur Warnung und zur Geduld. Gütersloh 1952; WERNER ELERT, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche, hauptsächlich des Ostens. Berlin 1954; HELMUT GOLLWITZER: Die Kirchengemeinschaft in der Abendmahlsgemeinschaft. In: Evangelische Theologie 14, 1954, S. 516-522; WILHELM ANDERSEN, Möglichkeiten und Grenzen einer Abendmahlsgemeinschaft heute (Theologische Existenz heute. 7). München 1947; KOINONIA. Arbeiten des Ökumenischen Ausschusses der Vereinigten Ev.-Luth. Kirche Deutschlands zur Frage der Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft. Hg. vom Lutherischen Kirchenamt der VELKD. Berlin 1957. Hier ist besonders eine Dokumentation wichtig, in der die verschiedenartigen Formulierungen nebeneinandergestellt werden, mit denen man zur Abendmahlsgemeinschaft Stellung genommen hat. Erwähnt sei schließlich noch FRIEDRICH DELEKAT, Theologie und Kirchenpolitik. Eine Auseinandersetzung über Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Theologische Existenz heute. Neue Folge 46). München 1955.

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gegenseitig so, daß da, wo Kirchengemeinschaft ist, auch Abendmahlsgemeinschaft ist und umgekehrt. Aber die Frage ist doch eben die, was unter Kirchengemeinschaft und was unter Abendmahlsgemeinschaft zu verstehen ist. Der Ursprung unserer Problematik ist ganz deutlich darin zu sehen, daß wir im Blick auf die vorhandenen Kirchenspaltungen mit dem einfachen Gegenüber von Kirche und Häresie, von Kirche und Sekte, wie es in vergangenen Jahrzehnten noch der Fall gewesen ist, nicht mehr auskommen. Kurt Dietrich Schmidt hat sich darüber eingehend ausgesprochen. Er sagt, daß gegenüber der Vergangenheit mit ihrer einfachen Gegenüberstellung von Kirche und Sekte bzw. Kirche und Häresie die Situation von heute ganz anders ist; daß es heute niemand mehr geben dürfte, der außer seiner Kirche sämtliche übrigen Kirchen in der Welt als häretisch oder als sektiererisch ablehnt. Die Uberzeugung also, daß die Kirchenspaltungen nicht einfach unter dem Stichwort „Kirche oder Sekte", „Kirche oder Abfall" behandelt werden können, führt zu einer ganz neuen Erörterung des Problems des Verhältnisses der Kirchen zueinander. Dies zeigt sich im Ökumenischen Rat der Kirchen. Dabei hat die ökumenische Diskussion gezeigt, daß es zwischen den Lehrunterschieden in ihrer Mannigfaltigkeit, die man für allenfalls tragbar und bei denen man auch verschiedenartige Formulierungen für möglich hält, eine Anzahl gibt, die offenbar noch einen kirchentrennenden Charakter haben oder doch gehabt haben. Es läßt sich auch hier aus der Geschichte der Kirche zeigen, in welchem Maße kirchentrennende Lehrunterschiede in verschiedenartiger Weise dagewesen sind, die später oft keinen kirchentrennenden Charakter mehr hatten. Der Ursprung unserer heutigen Probleme ist also darin begründet, daß wir vor der Tatsache des Nebeneinanders von Kirchen stehen, die nicht einfach unter den Gegensatz gestellt werden können: Wir sind die Kirche, alle übrigen aber sind nur Sekten, Häresien. Von hier aus stellt sich auch die ganze Frage der Kirchengemeinschaft neu. Im Unterschied zum Beispiel zu der orthodoxen Kirche des Ostens und der römisch-katholischen Kirche des Westens, die am stärksten ihre eigene Identität mit der Kirche Christi behaupten, findet sich im gesamten Protestantismus, auch bei einem strengen Luthertum, nicht die Position der Exklusivität gegenüber allen anderen Kirchen und die Behauptung der Identität der eigenen Kirche mit der Kirche Christi. Es ist wichtig, daß wir uns bei der Frage nach der „Kirchengemeinschaft" klarmachen: zwischen den Kirchen in der Welt gibt es einen sehr verschiedenartigen Grad von Gemeinschaft, und auch die Kirchen haben sehr verschiedenartige Gemeinschaften geschlossen, angefangen bei der lockeren Kooperation im ökumenischen Rahmen im Weltrat der Kirchen über Kirchenföderationen zwischen verwandten Kirchen bis hin zu einer organischen Union. Als ein Musterbeispiel einer solchen vollen

A b e n d m a h l s g e m e i n s c h a f t und K i r c h e n g e m e i n s c h a f t

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Kirchengemeinschaft im engsten Sinne haben wir die Union vor Augen, die zwischen der evangelischen und reformierten Kirche Amerikas und den Kongregationalisten in den letzten Jahren geschlossen worden ist. Hieran kann man studieren, wie zwei Kirchen in eine volle Kirchengemeinschaft eintreten, durch die eine neue Kirche entsteht.

Formen der Kirchengemeinschaft Die Frage der Kirchengemeinschaft sei im Anschluß an Äußerungen, die an dem Werk von Peter Brunner „Das lutherische Bekenntnis in der Union" vorliegen, erörtert. Brunner hat sich hier mit diesem Problem im ersten Kapitel unter dem Stichwort „Legitime Formen der Kirchenvereinigung und der Kirchenverbindung" befaßt. Der Ausgangspunkt ist die Tatsache: Die Kirchen sind vorhanden, sie sind voneinander getrennt, sie wissen, daß dies dem widerspricht, was sie in ihrem Glaubensbekenntnis aussprechen: daß sie an die eine Kirche Christi glauben - und daß sie deswegen unausweichlich vor der Aufgabe stehen, als Kirche Christi zusammenzukommen oder wieder zusammenzukommen. Wie kann das in legitimer Weise geschehen? Hier unterscheidet Peter Brunner, um das Wort „Kirchengemeinschaft" durch ein anderes zu ersetzen, unter dem Begriff Kirchenvereinigung oder auch Kirchenverbindung eine Menge verschiedener Möglichkeiten. Zunächst gibt es eine regionale Konjunktion. Eine solche liegt zum Beispiel vor, wenn innerhalb Deutschlands eine Reihe bekenntnisgleicher Kirchen sich in der V E L K D miteinander verbinden und dabei eine Kirchengemeinschaft eingehen, in der es eine volle Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft gibt, ohne daß diese Kirchen jedoch aufhören, rechtlich selbständige Kirchen zu sein. Hier zeigt sich übrigens sofort die Tatsache, daß das Wort „Kirchengemeinschaft" sowohl ein geistliches als auch ein rechtliches Problem in sich schließt. Kirchengemeinschaft kann zwischen zwei Kirchen bestehen, die rechtlich miteinander gar nichts zu tun haben. Sie erkennen sich gegenseitig als Kirche Christi an, und zwar deswegen, weil sie sagen: Was die andere Kirche in ihrem Bekenntnis bekennt und was wir bekennen, ist das gleiche. Lutheraner in Amerika und in Deutschland gehören zum Beispiel in kirchlicher Hinsicht zusammen. Aber sie haben beide eine andere Verfassung, ein anderes Kirchenrecht, haben auch nicht vor, daraus eine gemeinsame Kirche zu bilden. Sie vollziehen keine Konjunktion, keine rechtliche Verbindung miteinander, aber sie erkennen sich gegenseitig an, leben in Kirchengemeinschaft miteinander mit oder ohne Zugehörigkeit zum lutherischen Weltbund. Es gibt also eine geistliche Kirchengemeinschaft, die rechtlich keine weitere Bedeutung in sich schließt, keine gemeinsame Verfassung, kein 16

Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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gemeinsames Kirchenrecht zur Folge hat. Das ist natürlich bei einer „regionalen Konjunktion" oder bei einer Union im Sinne einer „organischen Union" etwas anderes. Brunner nennt sodann den Weg der Reunion, den Weg eines Zusammenschlusses zweier Kirchen in eine vollkommene Gemeinschaft, die sich nicht nur geistlich gegenseitig anerkennen, sondern in der auch eine rechtliche Ubereinstimmung gefunden wird, so daß aus zwei Kirchen eine vollkommen geeinte Kirche wird, wie zum Beispiel in Schottland die Kirchenspaltung zwischen den beiden reformierten Kirchen aufgehoben wurde. Von den übrigen Formen der Kirchenvereinigung nenne ich nur noch diejenigen, die besonders bedeutungsvoll sind. Da ist zunächst der Begriff der sogenannten Konföderation hervorzuheben. Eine Konföderation von Kirchen geschieht in einem Kirchenbund, in dem sich Kirchen miteinander verbinden, ohne damit zum Ausdruck zu bringen, daß diese Konföderation der beiden zu einer Kirche macht, zum Beispiel ist die E K D hier zu nennen. Diese Kirchengemeinschaft ist enger als die einer Kooperation. Innerhalb des Weltrates der Kirchen kann man von einer ökumenischen Kooperation sprechen. Diese Kirchen arbeiten in einer gewissen Beziehung zusammen, sind aber voneinander streng geschieden. Dagegen ist eine Konförderation eine engere Kirchengemeinschaft, die Gemeinden zusammenfaßt in einer auch rechtlich verbindlichen Weise. So ist zum Beispiel die Lippische Landeskirche eine Konföderation von reformierten und lutherischen Gemeinden, die trotz gemeinsamer Verwaltung und Synode ihre bekenntnismäßige Selbständigkeit bewahrt haben. Aber auch von der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union könnte man sagen, daß sie eine Konföderation der beiden überlieferten Konfessionskirchen ist, zwischen denen im einzelnen ausgehandelt wird - je nachdem, wie weit die Überzeugung der Einigkeit reicht, ob man nur eine Verwaltung gemeinsam hat, oder ob darüber hinaus gemeinsame Gottesdienste gehalten werden, ja sogar gemeinsame Abendmahlsfeiern stattfinden können. Damit stehen wir vor dem Problem: Inwiefern hängt die Kirchengemeinschaft in ihrer großen Verschiedenheit mit der Abendmahlsgemeinschaft zusammen? Stufen der Abendmahlsgemeinschaft Damit stehen wir vor der anderen Frage: Was versteht man unter Abendmahlsgemeinschaft? Um darüber zu einer Klärung zu kommen, hat man sich in „Faith and Order" intensiv mit dem Problem der Interkommunion befaßt. In Analogie zu den verschiedenen Graden der Kirchengemeinschaft gibt es ganz verschiedene Grade der Abendmahlsgemeinschaft. Hier ist zu unterscheiden zwischen den Kirchen, die

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untereinander in irgendeiner Abendmahlsgemeinschaft stehen, und denen, die eine „geschlossene" Kommunion, also mit niemand Abendmahlsgemeinschaft haben. Nach dem Bericht von Lund sind sieben verschiedene Arten von Abendmahlsgemeinschaften vorhanden. Auch dies muß man sich kurz klarmachen, um zu sehen, was man jeweils unter Abendmahlsgemeinschaft verstehen kann. 1. Wo Kirchen in lehrmäßiger Ubereinstimmung oder als zur gleichen Konfessionsgruppe gehörig ihren abendmahlsberechtigten Gliedern erlauben, in voller Freiheit das Abendmahl in jeder dieser Kirchen zu empfangen, und wo für die Pfarrer dieser Kirche die Freiheit besteht, in jeder Kirche die Sakramente zu spenden, wie zum Beispiel innerhalb der orthodoxen, anglikanischen, lutherischen und reformierten Familien, da besteht eine volle Abendmahlsgemeinschaft. 2. Wo zwei Kirchen, die nicht zur gleichen Konfessionsgruppe gehören, aufgrund eines Ubereinkommens ihren abendmahlsberechtigten Gliedern erlauben, in voller Freiheit das Abendmahl in jeder dieser beiden Kirchen zu empfangen, und wo für die Pfarrer dieser Kirchen die Freiheit besteht, in jeder dieser beiden kirchen die Sakramente auszuteilen, da besteht Interkommunion mit Interzelebration. Hier wird also unterschieden zwischen einer vollen Abendmahlsgemeinschaft und einer Interkommunion und Interzelebration. Das sieht beides gleich aus, ist aber nicht genau dasselbe, weil es sich bei der Interkommunion um zwei Kirchen handelt, die miteinander, aus verschiedenen Konfessionsgruppen stammend, ein Übereinkommen getroffen haben. 3. Wo zwei Kirchen, die nicht zu der gleichen Konfessionsgruppe gehören, aufgrund eines Übereinkommens ihren abendmahlsberechtigten Gliedern erlauben, in voller Freiheit das Abendmahl in jeder dieser beiden Kirchen zu empfangen, da besteht Interkommunion ohne Interzelebration. Die Kirchen der anglikanischen Gemeinschaft und die altkatholische Kirche, die protestantisch-bischöfliche Kirche und die polnische Nationalkirche in USA sind Musterbeispiele dafür, daß zwischen Kirchen nur Interkommunion besteht und keine Interzelebration. 4. Wo eine Kirche grundsätzlich Glieder anderer Kirchen zum Empfang des Abendmahls einlädt, wenn sie in ihren Abendmahlsgottesdiensten zugegen sind, wie zum Beispiel die methodistischen, kongregationalistischen und die meisten reformierten Kirchen, da redet man von offener Kommunion. Offene Kommunion ist zum Beispiel für alle evangelischen Kirchen in der Evangelischen Kirche im Rheinland in der Kirchenordnung festgelegt. Zu deren Abendmahlsfeiern sind grundsätzlich die Glieder anderer evangelischer Kirchen eingeladen. 5. Wo zwei oder mehr Kirchen grundsätzlich die Glieder der betreffenden anderen Kirchen zum Abendmahlsempfang willkommen heißen und wo die Gemeindeglieder die Erlaubnis haben, die Einladung anzu-

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nehmen, da besteht eine gegenseitige offene Kommunion. Dabei ist Interzelebration nicht notwendigerweise eingeschlossen. Solche gegenseitige offene Kommunion besteht zum Beispiel zwischen der Kirche von Schottland und der Kirche von Dänemark. Diese haben ein Abkommen miteinander getroffen, daß schottische Reformierte in Dänemark zu den dänischen Abendmahlsfeiern eingeladen sind und umgekehrt. Das ist eine typische gegenseitige offene Kommunion, die man durch Verabredung trifft. 6. Die Zulassung von Gliedern anderer Kirchen, mit denen weder volle kirchliche Gemeinschaft noch Interkommunion besteht, in Notstandsfällen oder unter anderen besonderen Umständen heißt begrenzte offene Kommunion. Dies ist nach Peter Brunner eigentlich die Form der Interkommunion in der Evangelischen Kirche der Union. Brunner behauptet, daß es in der preußischen Union verschiedene Arten von Abendmahlsgemeinschaft gibt; daß die uniert-reformierten und uniertlutherischen Gemeinden eine andere Abendmahlsgemeinschaft haben als die nichtunierten-lutherischen Gemeinden und die nichtunierten-reformierten. Letztere haben nur eine begrenzte offene Kommunion, und zwar die Zulassung der Glieder aus den anderen Kirchen aus Liebe und nicht, um zu bezeugen, daß zwischen ihnen die unitas ecclesiae besteht. Für die Vergangenheit mag das gelten, heute hat sich die Lage grundsätzlich und praktisch gewandelt. 7. Wo eine Kirche die Berechtigung, am Abendmahl teilzunehmen, auf ihre eigenen Mitglieder beschränkt, da besteht geschlossene Kommunion. Das ist am stärksten in der orfhodoxen Kirche und in der römischkatholischen Kirche der Fall. Auch bei den Altkatholiken war es nicht anders, aber diese haben ja neuerdings eine Abmachung mit den Anglikanern getroffen. Die beiden ersten Kirchen haben diese Form am strengsten. In dem Buch „Koinonia" ist es die Uberzeugung eines größeren Teils der Lutheraner, daß die Lutherische Kirche eigentlich an der geschlossenen Kommunion festhalten solle. Man legt Wert darauf, daß erst eine volle Kirchengemeinschaft durch eine völlige Lehrübereinstimmung hergestellt werden muß und daraufhin erst die volle Abendmahlsgemeinschaft durchgeführt wird. Allerdings haben sich auch beachtliche lutherische Kreise ausdrücklich dagegen gewendet, daß man nur dadurch weiterkommen könne, daß man Verhandlungen von Kirche zu Kirche aufnehme, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die volle Kirchengemeinschaft vorliegen. Sie halten eine begrenzte offene Kommunion für verantwortbar. Wenn man sich diese verschiedenartigen Auffassungen innerhalb der Ökumene ansieht, dann erkennt man in deren Hintergrund, daß die verschiedenen Standpunkte über das Verhältnis von Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft etwas zu tun haben mit den

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Grundvoraussetzungen, unter denen diese Kirchen sich selbst verstehen. Ist es falsch gesehen, daß die Kirchen, die sich in erster Linie als sakramentale Kirchen verstehen, die also eigentlich nur die Sakramente als Gnadenmittel kennen, für eine streng geschlossene Kommunion eintreten? Daß demgegenüber die spiritualen Kirchen, bei denen dort, wo bei den Katholiken und den Orthodoxen das Sakrament steht, das freie Walten des Geistes gilt, am offensten sind, wie man es bei den Kongregationalisten in England erleben kann, wo der Pfarrer im Gottesdienst zum Abendmahl mit den Worten einlädt: „Wir laden zum heiligen Abendmahl alle ein, die hier versammelt sind. Mögen sie zu einer Kirche gehören oder zu keiner, mögen sie getauft sein oder nicht." Man kann also sagen, daß zu einer Erörterung der Problematik von Kirchenund Abendmahlsgemeinschaft eine Erörterung darüber hinzukommen muß, was die Kirchen von sich selbst halten und über sich selbst lehren. Ohne diesen Zusammenhang wird man dem Thema der Abendmahlsund Kirchengemeinschaft nicht gerecht werden.

Das Gewicht der Lehrdifferenzen Ein weiteres Problem bilden die Grenzen, die sich bei dem Problem der Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft ergeben. Es wird sich dabei zeigen, daß zwischen den Kirchen die Lehrdifferenzen als entscheidendes Hindernis einer Abendmahls- und Kirchengemeinschaft im Wege stehen. Das Maß dieser Grenzen kann sehr verschieden sein. Es gibt Kirchen und Kirchenfamilien, bei denen eine völlige Ubereinstimmung hergestellt werden muß. Ohne eine solche völlige Eingliederung gibt es keine Möglichkeit von Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft. Bei den Kirchen, die zu der Evangelischen Allianz gehören, ist die Uberzeugung, daß die „geistliche" Gemeinschaft, die man hat, genügt, um miteinander das Abendmahl zu begehen, ohne daß man damit eine Kirchengemeinschaft vollzieht. Das Phänomen ist hier - im Unterschied zu den sakramental bestimmten Kirchen - : die Kirchen, die eine offene Kommunion haben, bleiben alle als Kirchen für sich. N u r gelegentlich, ein- oder zweimal im Jahr, begeht man mit anderen christlichen Brüdern das heilige Abendmahl. Warum ziehen diese Kirchen nicht die Folgerung daraus, daß sie am Tisch des Herrn zusammenkommen? Hier greift darum die Gegenseite an und sagt: Welchen Sinn hat die Feier des gemeinsamen heiligen Abendmahles, wenn daraus keine Folgerung gezogen wird für eine echte Kircheneinheit? Ich glaube, daß diese Frage mit Recht gestellt werden muß. Es scheinen sich hier zwei Grenzen zu zeigen. Einmal, wenn die Kirche in der anderen Kirche, die ihr gegenübersteht, nur noch einen Abfall, eine

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Häresie sehen kann. In dieser Richtung wird jedenfalls allein die echte Grenze gesehen werden müssen. Auf der anderen Seite glaube ich, daß man, auch was die Verwaltung des Sakraments angeht, gewisse Grenzen wird erkennen müssen, die unübersteigbar sind, wenn nämlich die eine Kirche in der Feier des Sakraments der anderen Kirche nicht mehr eine legitime Feier des heiligen Abendmahls erkennen kann. Die Einladung der römisch-katholischen Kirche zur Kommunion würde doch von einem Protestanten abgelehnt werden müssen, weil man in der römischen Messe nicht das Abendmahl Christi anerkennen kann. So wird es wahrscheinlich immer auf die Frage hinauskommen, ob man in der Abendmahlsfeier, zu der ein Christ eingeladen oder zugelassen wird, erkennt, daß hier das Abendmahl Christi gefeiert wird. Ich bin persönlich zum Beispiel bei den ökumenischen Konferenzen so verfahren: wenn wir die Einladung erhielten, an dem Abendmahl einer Kirche teilzunehmen, habe ich die Liturgie dieser Kirche durchgesehen, mir aufgrund dieser Durchsicht klargemacht, ob hier das Abendmahl Christi gefeiert wird, und bin danach der Einladung zur Abendmahlsfeier gefolgt, um damit zu bezeugen: Das Abendmahl, das ihr hier feiert, ist das Abendmahl Christi. Im anderen Falle würde ich Bedenken gehabt haben, an einer solchen Abendmahlsfeier teilzunehmen.

Auf dem Wege zu einer Lösung? Zum Abschluß einige Bemerkungen über die Richtung einer Lösung der hier vorliegenden Fragen. Ich meine, es müßte von uns Evangelischen daran festgehalten werden, daß „Kirchengemeinschaft" durchaus nicht eine vollständigen rechtliche und zu einer gemeinsamen Kirchenverwaltung usw. führende sein muß. Das ist ein Denken, das dem römischen Katholizismus und auch dem von dem kanonischen Denken bestimmten orthodoxen Kirchentum gemäß ist. Ich meine, daß die Unterscheidung der Reformation zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Kirchenordnung und Evangelium, uns dazu führt, daran festzuhalten: Gemeinschaft zwischen Kirchen ist ein geistliches Verhältnis und braucht sich nicht in dem rechtlichen Verhältnis einer gemeinsamen Kirchenorganisation auszudrücken. Das würde zum Beispiel bedeuten, daß beim gleichzeitigen Eintritt mehrerer Kirchen in eine Kirchengemeinschaft daraus nicht folgt, daß sie zusammen eine Synode und ein Kirchenregiment bilden und im weiteren Verfolg eine volle Kirchenorganisation sich ergeben muß. Ich glaube, man hat die Freiheit, auch Kirchenbünde und Föderationen zu gestalten, die in einer vollen Kirchengemeinschaft stehen, wenn sie nur gegenseitig den Zugang zu Wort und Sakrament offenhalten.

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Kirchengemeinschaft kann natürlich nur bestehen, wenn sie mindestens soviel ist wie eine ökumenische Kooperation. Auch eine ökumenische Kooperation ruht auf einem gewissen Konsensus. Ich meine, daß es bei dem bleiben muß, was im Weltrat der Kirchen als Grundlage ausgesprochen ist, daß es ohne ein Minimum an Ubereinstimmung in bestimmten Uberzeugungen keine ökumenische Kooperation geben kann, ganz gleich, wie man nun den Konsensus im einzelnen faßt. Innerhalb dieses Konsensus, bzw. einer darauf ruhenden ökumenischen Kooperation, wird es darauf ankommen, ob die hier aufeinander zugehenden Kirchen sich überlegen müssen, ob und wieweit sie sich eine gegenseitige Zulassung zum Abendmahl gestatten dürfen. Man wird das ja nie durch einen Druck oder Zwang erreichen wollen, aber man wird doch darauf aus sein, daß man sich bei der ökumenischen Kooperation nicht beruhigt, sondern die Frage stellt: Können wir nicht mehr erreichen? Viele Kirchen sehen in diesem Punkt eine Stagnation in der Ökumene, weil sie den Eindruck haben, diese Gesamtorganisation habe nicht den Drang, die Kirchen enger miteinander zu verbinden und gerade auch in der wichtigen Frage der Abendmahlsgemeinschaft Schritte zu tun. Zu viele Fragen sind offensichtlich unlösbar. Die Gegensätze sind zu groß, als daß man hier weiterkäme. Wir dürfen uns auf keinen Fall dabei beruhigen, eine ökumenische Zusammenarbeit in der ganzen Welt zu haben, sondern müssen etwas tun, was zu einer stärkeren gegenseitigen offenen Kommunion führt. Zumindest müßte es bei den Kirchen, die zur gemeinsamen reformatorischen Kirchenfamilie gehören - wie den lutherischen und reformierten Kirchen - dazu kommen, daß zwischen ihnen eine geordnete Interkommunion besteht. Ich glaube, in diesem Punkte liegt immer noch ein Ärgernis innerhalb unserer Evangelischen Kirche in Deutschland vor. Unter den evangelischen Kirchen sollte es im Blick auf die Weite des Konsensus, auch ohne daß eine Ubereinstimmung in allen Fragen erzielt worden ist, möglich sein - wenn man schon in eine solche Konföderation, Evangelische Kirche in Deutschland genannt, eintritt, wenn man sich schon das Wort Gottes gemeinsam sagen läßt in Synoden, in gemeinsamen Gottesdiensten usw. - , zu einer Abendmahlsgemeinschaft zu kommen. Selbst Peter Brunner hat das in seinem Buche „Das lutherische Bekenntnis in der Union" bejaht und auch in dem Werk „Koinonia" ausdrücklich in seinem Aufsatz „Die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Frage der offenen Kommunion" erörtert. Ich meine, daß wir in der Thematik „Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft" in unserer Diskussion noch ziemlich am Anfang stehen. Bisher haben wir uns so intensiv, wie das in anderen Gebieten der Ökumene geschehen ist, mit diesem Problem nicht befaßt. Ich meine

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aber, es ist notwendig, daß wir uns vordringlich innerhalb unserer Evangelischen Kirche in Deutschland mit der Sache beschäftigen. Die Frage ist nur, welchen Weg schlägt man dabei ein? Wir könnten Überlegungen anstellen, ob die Ansätze, die zwischen unseren Kirchen vorhanden sind, dazu führen sollten, formell zu einem weiteren Ziel zu kommen. Ich erinnere daran, daß die pfälzische, aber auch die Hessennassauische Kirche, einen solchen Vorstoß gemacht haben. Sie haben Anregungen gegeben über eine gegenseitige Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Wir haben die Hoffnung, daß die Arnoldshainer Thesen über das Abendmahl zu einer Abendmahlsgemeinschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland den Weg bahnen werden. Wenn die Kirchen diese Thesen annehmen, wäre die Voraussetzung dazu gegeben. Denn dann könnte niemand mehr die Gemeinschaft des Abendmahls aus Gründen der Lehrdifferenzen verweigern. Wir dürfen mit Dankbarkeit feststellen, daß der Rat der E K D inzwischen einen Ausschuß zur Klärung dieser Frage eingesetzt hat.

Die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihre Probleme* Wie aktuell die Frage nach der Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland ( E K D ) ist, kann man aus der Reaktion ersehen, die der Aufsatz von Präses D . Scharf in „Christ und Welt" (Nr. 22 vom 29. Mai 1964) unter dem Thema „Kirchen oder Kirchenbund?" hervorrief. N a c h d e m es lange Zeit hindurch in der kirchlichen Publizistik ziemlich still geworden war, flammte bei diesem Wort des Ratsvorsitzenden sofort der Protest auf der Seite der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands ( V E L K D ) auf. Diese Reaktion war verständlich, denn es wurde den Vertretern der V E L K D einiges zugemutet. Die wichtigsten Sätze des Aufsatzes lauteten folgendermaßen: „Von 1945 an haben wir versucht, nach dieser in der Verfolgung der Kirche gefundenen und erprobten Regel Evangelische Kirche in Deutschland zu werden. Wir haben es miteinander versucht, Lutheraner, Reformierte und Unierte. Auch gerade die, die das Recht der Sonderbekenntnisse bei all diesen Bemühungen immer wieder geltend machten und uns dadurch den Weg zur Einheit der Kirche erschwerten, haben dazu geholfen, daß eine solide gegründete, gewissenhaft überprüfte, eine standhafte Einheit gewachsen ist. Gleich 1945, schon im August des Jahres 1945, wurde die erste vorläufige Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland verkündet. Von ihr hieß es, diese Ordnung geht davon aus, daß die Evangelische Kirche in Deutschland zur Einheit durch den Kampf gegen die Irrlehre und gegen den Staatszentralismus geführt ist. . . Heute ist die Evangelische Kirche in Deutschland Kirche, wirkliche Kirche, handlungsfähige und einheitliche Kirche. Sie steht auf gemeinsamem Fundament des Glaubens und des Bekennens. Dabei hat sich ergeben: Die Bekenntnisse der Reformation sind nicht kirchentrennend. Ihr Unterschied ist nicht größer als der der verschiedenen Theologien im Neuen Testament selbst, als der Unterschied zwischen der Theologie des Johannes von der des Paulus oder des Matthäus. In ihr, der Evangelischen Kirche in Deutschland, besteht Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft. Das beweisen die Arnoldshainer Thesen über das Verständnis des Heiligen Mahles. Sie hat Lehrgemeinschaft, indem sie das vierfache .Allein' der Reformation bejaht: Allein das Wort Gottes, allein aus Gnaden, allein durch den Glauben, allein Jesus Christus, der Heiland und Herr aller Menschen! Das kommt zum Ausdruck in einheitlichen Gottesdienstordnungen, im gemeinsa* A u s : IM LICHTE DER REFORMATION. Fragen und Antworten (Jahrbuch des Evangelischen Bundes. 8). Göttingen 1965, S. 5-24. - Vortrag am Eröffnungsabend der 57. Generalversammlung des Evangelischen Bundes am 16. Oktober 1964 in Freiburg/Breisgau.

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men Gesangbuch und in übereinstimmenden Kirchengebeten, in der gemeinsamen Arbeit am Luther-Text der deutschen Bibelübersetzung. Auf vielfache Weise übt die Evangelische Kirche in Deutschland eine übergreifende geistliche Leitung, echtes Kirchenregiment aus. . . . Die Evangelische Kirche in Deutschland, ihr Rat und ihre Synode mit all den Organen der Synode tun dies als Leitung einer Einheitskirche. . . . Für mein Empfinden ist der stärkste Beweis dafür, daß die E K D Kirche geworden ist, Einheitskirche, und als Kirche handelt, die Freudigkeit, mit der Gliedkirchen und Gemeinden sich zu ihrer Einheit bekennen und in ihr mittun "

Aus diesen Ausführungen war den Lutheranern vor allem die starke Betonung der EKD als „Einheitskirche" ärgerlich. Hier mußten sie protestieren. Taten sie es mit Recht oder nicht? Um eine Klärung dieser Frage soll es uns heute gehen. I. Um zu begreifen, wie es noch heute zu einer solchen Kontroverse kommen kann, wird es gut sein, einen Blick in die Geschichte der EKD zu werfen, zumal da es immer noch Protestanten gibt, die der Meinung sind, Luther habe in der Reformation die EKD begründet. Am Ende des Reformationszeitalters hat sich in dem aus vielen Ländern bestehenden Deutschen Reich eine ganze Reihe von konfessionellen Landeskirchen gebildet. Nur so war es möglich, in dem gemeinsamen Reich konfessionell getrennt zu „koexistieren". Es gab neben der römisch-katholischen Kirche in katholischen Ländern lutherische Landeskirchen mit der Konkordienformel und solche ohne diese, außerdem als „konfessionsverwandt der Augsburgischen Konfession" die reformierten Landeskirchen in protestantischen Ländern. Zwischen diesen bestand keine Kirchengemeinschaft, wenn freilich auch zwischen den konfessionsgleichen Landesherren politische Bündnisse geschlossen wurden. Der deutsche „Protestantismus" war und blieb gespalten. Nicht einmal die Aufklärung und der Pietismus änderten hieran grundsätzlich etwas, wenn auch durch diese Bewegungen die Wandlung vorbereitet wurde, die im 19. Jahrhundert mit den „Unionen" begann. Mit den Reformationsjubiläen 1817 wurde der Anfang zu einer ganzen Reihe von Unionen zwischen lutherischen und reformierten Kirchen gemacht. Ich nenne die wichtigsten: Die Preußische Union, die Nassauische, die Pfälzer, die Badische und die Hessische Union. Diese Unionen waren untereinander verschieden, sie reichten von der bloßen Verwaltungsunion bis zur Konsensusunion. So bildeten die Unionen keineswegs eine neue evangelische Kirchengemeinschaft, aber auch nicht so etwas wie eine dritte protestantische Konfession.

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Das Landeskirchentum blieb bestehen, solange es das landesherrliche Kirchenregiment gab, denn die Fürsten wollten auf ihre Landeskirchen, deren oberste Bischöfe sie waren, nicht verzichten. Die Einigungsbestrebungen (die Kirchentage, die Eisenacher Kirchenkonferenzen) kamen bis zum 20. Jahrhundert nicht recht vorwärts, wenn es auch schon überkonfessionelle Arbeits- und Dienstgemeinschaften gab, wie den „Zentralausschuß für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche", den „Christlichen Verein junger Männer", aber auch Missionsgesellschaften, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Erst das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 bot den elischen Landeskirchen den Ansatz zur Verwirklichung eines Zusammenschlusses der evangelischen Kirchen in Deutschland. So kam es schon 1922 zur Bildung des „Deutschen Evangelischen Kirchenbundes". Er war der erste rechtliche Verband evangelischer Kirchen seit der Reformation, es war noch nicht viel, wie man aus dem Paragraph 1 der Bundesverfassung ersehen kann: „Der Deutsche Evangelische Kirchenbund hat den Zweck, zur Wahrung und Vertretung der gemeinsamen Interessen der deutschen evangelischen Landeskirchen einen engen und dauernden Zusammenschluß derselben herbeizuführen, das Gesamtbewußtsein des deutschen Protestantismus zu pflegen und für die religiös-sittliche Weltanschauung der deutschen Reformation die zusammengefaßten Kräfte der deutschen Reformationskirchen einzusetzen, dies alles unter Vorbehalt der vollen Selbständigkeit der verbündeten Kirchen in Bekenntnis, Verfassung und Verwaltung."

Dieser Paragraph offenbart in jedem seiner Sätze die landeskirchliche Sorge und starke Zurückhaltung gegenüber einem handlungsfähigen und bevollmächtigten Bund. Darum ist auch von „gemeinsamen Interessen der Landeskirchen", vom „Gesamtbewußtsein" und der religiös-sittlichen Weltanschauung die Rede, aber nicht vom Evangelium und auch nicht von den Bekenntnissen der Reformation. Dennoch war dies ein wirklicher Schritt nach vorn, der sich leider in der Kürze der Zeit nicht recht entfalten konnte. Denn schon 11 Jahre später wurde die Evangelische Kirche Deutschlands auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, als 1933 die Deutschen Christen im Namen des Nationalsozialismus eine nationale Einheitskirche forderten. In den Richtlinien der DC von 1932 hieß es: »•

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2. Wir kämpfen für einen Zusammenschluß der im .Deutschen Evangelischen Kirchenbund' zusammengefaßten 29 Kirchen zu einer Evangelischen Reichskirche und marschieren unter dem Ruf und Ziel:

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,Nach außen eins und geistgewaltig Um Christus und sein Werk geschart, Nach innen reich und vielgestaltig, Ein jeder Christ nach Ruf und Art!' 10. Wir wollen eine Evangelische Kirche, die im Volkstum wurzelt, und lehnen den Geist eines christlichen Weltbürgertums ab. Wir wollen die aus diesem Geiste entspringenden verderblichen Erscheinungen wie Pazifismus, Internationale, Freimaurertum usw. durch den Glauben an unsere von Gott befohlene völkische Sendung überwinden. Die Zugehörigkeit eines evangelischen Geistlichen zur Freimaurerloge ist nicht statthaft. Diese zehn Punkte der Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' rufen zum Sammeln und bilden in großen Linien die Richtung für eine kommende Evangelische Reichskirche, die unter Wahrung konfessionellen Friedens die Kräfte unseres reformatorischen Glaubens zum Besten des deutschen Volkes entwikkeln wird. . . . " D i e ganze Schrecklichkeit dieses deutsch-christlichen Nationalismus kam zwar erst richtig im Frühjahr 1933 heraus, aber er fand trotzdem nur bei einer • kleinen Schar von Theologen und Gemeindegliedern Widerstand. Zu sehr war offenbar die große Mehrheit von der nationalsozialistischen politischen Einheitsidee ergriffen und nahm die deutschchristlichen Irrlehren nicht ernst. Durch das Drängen der Deutschen Christen, hinter die sich, um ihnen zum Durchbruch in der evangelischen Kirche zu verhelfen, die N S D A P , ja Adolf Hitler persönlich stellte, kam es durch kurze, aber heftige Wirrnisse im Sommer 1933 zu der „Deutschen Evangelischen Kirche", deren Verfassung v o m 11. Juli 1933 auf revolutionäre Weise in Kraft gesetzt wurde. Sie begann mit den bezeichnenden Worten: „In der Stunde, da Gott unser deutsches Volk eine große geschichtliche Wende erleben läßt, verbinden sich die deutschen evangelischen Kirchen in Fortführung und Vollendung der durch den Deutschen Evangelischen Kirchenbund eingeleiteten Einigung zu einer einigen Deutschen Evangelischen Kirche. Sie vereinigt die aus der Reformation erwachsenen gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Bekenntnisse in einem feierlichen Bunde und bezeugt dadurch: ,Ein Leib und ein Geist, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller, der da ist über allen und durch alle und in allen'. . . ." Wer diese Sätze sorgfältig bedenkt, muß zu dem Ergebnis kommen: Diesem Eingangswort hätte kein lutherischer Kirchenführer zustimmen dürfen. Warum geschah es? Wurden sie unter Druck gesetzt oder überrumpelt oder war es trotz aller Bedenken die Hoffnung, die Artikel 1 und 2 der Verfassung würden ein hinreichender Schutz gegen die Gefahr des Endes ihrer Konfessionskirche sein?

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„Artikel 1 Die unantastbare Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist. Hierdurch werden die Vollmachten, deren die Kirche für ihre Sendung bedarf, bestimmt und begrenzt. Artikel 2 1. Die Deutsche Evangelische Kirche gliedert sich in Kirchen (Landeskirchen). 2. Bekenntnisverwandte Kirchengemeinschaften können angeschlossen werden. Die Art des Anschlusses wird durch Gesetz bestimmt. 3. Die Landeskirchen bleiben in Bekenntnis und Kultus selbständig. 4. Die Deutsche Evangelische Kirche kann den Landeskirchen für ihre Verfassung, soweit diese nicht bekenntnismäßig gebunden ist, durch Gesetz einheitliche Richtlinien geben. Sie hat die Rechtseinheit unter den Landeskirchen auf dem Gebiet der Verwaltung und Rechtspflege zu fördern und zu gewährleisten." Der nach den Kirchenwahlen vom Juli 1933 und der Machtergreifung der D C nun erst beginnende Kirchenkampf zeigte, wie wenig diese Verfassung gegenüber den revolutionären Absichten und Vorstößen der D C die Kirchen zu schützen vermochte. U n d doch konnte sich die Bekennende Kirche immer wieder auf die Artikel 1 und 2 der Verfassung der D E K berufen. Vor allem bei der ersten Bekenntnissynode der D E K in Barmen, w o es in der Einleitung der berühmten Theologischen Erklärung zur gegenwärtigen Lage der D E K hieß: „Die Deutsche Evangelische Kirche ist nach den Eingangsworten ihrer Verfassung vom 11. Juli 1933 ein Bund der aus der Reformation erwachsenen, gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Bekenntniskirchen. Die theologische Voraussetzung der Vereinigung dieser Kirchen ist in Art. 1 und Art. 2,1 der von der Reichsregierung am 14. Juli 1933 anerkannten Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche angegeben. Art. 1: Die unantastbare Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist. Hierdurch werden die Vollmachten, deren die Kirche für ihre Sendung bedarf, bestimmt und begrenzt. Art. 2,1: Die Deutsche Evangelische Kirche gliedert sich in Kirchen (Landeskirchen). Wir, die zur Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche vereinigten Vertreter lutherischer, reformierter und unierter Kirchen, freier Synoden, Kirchentage und Gemeindekreise erklären, daß wir gemeinsam auf dem Boden der Deutschen Evangelischen Kirche als eines Bundes der deutschen Bekenntniskirchen stehen. Uns fügt dabei zusammen das Bekenntnis zu dem einen Herrn der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche. Wir erklären vor der Öffentlichkeit aller evangelischen Kirchen Deutschlands,

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daß die Gemeinsamkeit dieses Bekenntnisses und damit auch die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche aufs schwerste gefährdet ist. Sie ist bedroht durch die in dem ersten Jahr des Bestehens der Deutschen Evangelischen Kirche mehr und mehr sichtbar gewordene Lehr- und Handlungsweise der herrschenden Kirchenpartei der Deutschen Christen und des von ihr getragenen Kirchenregimentes. Diese Bedrohung besteht darin, daß die theologische Voraussetzung, in der die Deutsche Evangelische Kirche vereinigt ist, sowohl seitens der Führer und Sprecher der Deutschen Christen als auch seitens des Kirchenregimentes dauernd und grundsätzlich durch fremde Voraussetzungen durchkreuzt und unwirksam gemacht wird. Bei deren Geltung hört die Kirche nach allen bei uns in Kraft stehenden Bekenntnissen auf, Kirche zu sein. Bei deren Geltung wird also auch die Deutsche Evangelische Kirche als Bund der Bekenntniskirchen innerlich unmöglich. Gemeinsam dürfen und müssen wir als Glieder lutherischer, reformierter und unierter Kirchen heute in dieser Sache reden. Gerade weil wir unseren verschiedenen Bekenntnissen treu sein und bleiben woen, dürfen wir nicht schweigen, da wir glauben, daß uns in einer Zeit gemeinsamer N o t und Anfechtung ein gemeinsames Wort in den Mund gelegt ist. Wir befehlen es Gott, was dies für das Verhältnis der Bekenntniskirchen untereinander bedeuten mag. Wir bekennen uns angesichts der die Kirche verwüstenden und damit auch die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche sprengenden Irrtümer der ,Deutschen Christen' und der gegenwäritgen Reichskirchenregierung zu folgenden evangelischen Wahrheiten: . . . "

Es folgen nun die bekannten sechs Thesen. In dem gleichzeitig beschlossenen Aufruf an die Gemeinden und Christen Deutschlands hieß es sehr betont: „In Barmen hat vom 29.-31. Mai 1934 die Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche getagt. Hier haben sich Vertreter aus allen deutschen Bekenntniskirchen im Bekenntnis zu dem einen Herrn der einen, heiligen, apostolischen Kirche einmütig zusammengefunden. Glieder lutherischer, reformierter und unierter Kirchen haben aus der Treue zu ihrem Bekenntnis heraus ein gemeinsames Wort zur N o t und Anfechtung der Kirche in unseren Tagen gesucht. Mit Dank gegen Gott glauben sie gewiß, daß ihnen das gemeinsame Wort in den Mund gelegt worden ist. Sie wollten weder eine neue Kirche gründen noch eine Union schaffen. Denn nichts lag ihnen ferner als die Aufhebung des Bekenntnisstandes unserer Kirchen. Vielmehr war ihr Wille, der Zerstörung des Bekenntnisses und damit der Evangelischen Kirche in Deutschland im Glauben und in der Einmütigkeit zu widerstehen. Den Versuchen, durch falsche Lehre, durch Anwendung von Gewalt, Unlauterkeit des Vorgehens die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche herzustellen, setzt die Bekenntnissynode entgegen: Die Einigkeit der Evangelischen Kirchen Deutschlands kann nur werden aus dem Worte Gottes im Glauben durch den Heiligen Geist. So allein wird die Kirche erneuert. . . . "

Diese Formulierungen zeigen fast noch deutlicher als die Barmer Theologische Erklärung, wie schmal die Basis des gemeinsamen Ver-

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ständnisses der DEK war, wie man sich abzuschirmen mühte besonders gegen das Mißverständnis, als wolle die „Bekennende Kirche" mit ihrer „Bekenntnissynode" die DEK als Kirche verstehen. Die innere Zwiespältigkeit der Verfassung der DEK und ihr Mißbrauch durch das damalige DC-Kirchenregiment führte dazu, daß die Bekennende Kirche immer gleichzeitig für und wider die D E K kämpfte. Daß sie dabei je länger desto mehr sich selbst spaltete, hing auch mit diesem Konfliktstoff zusammen, wenn auch der immer stärkere Eingriff des Staates in die Kirche und die damit gegebene Frage des Widerstandes hiergegen noch stärker spaltende Wirkungen hatte. Die Uberzeugungen von dem notwendigen und gebotenen Widerstand der Kirche gegen die NS-Regierung waren seit der Zeit der Kirchenausschüsse nicht mehr einhellig, der Weg des „Lutherischen Rates" trennte sich von dem Weg der Bekenntnis-Synode der DEK und ihrer bruderrätlichen Leitung, deren „Radikalismus" in der Verneinung des Nationalsozialismus und des von ihm getragenen Staates, aber auch in der Bejahung der Einheit der D E K die führenden Kräfte des deutschen Luthertums nicht zu billigen vermochten. Der spätere Versuch eines „Einigungswerks", den der württembergische Landesbischof Wurm unternahm, ging in den Bedrängnissen des 2. Weltkrieges unter. Nach dem Ende dieses Krieges stand der deutsche Protestantismus vor der Möglichkeit, sich in Freiheit sein Kirchentum neu zu gestalten. Diese große Chance wurde nur schwach genutzt. Seit der ersten Kirchenkonferenz von Treysa 1945 wurde an der Errichtung einer „Evangelischen Kirche in Deutschland" gearbeitet, bis endlich 1948 in Eisenach ein Kompromiß zwischen den Vertretern der lutherischen Kirchen und des „Bruderrats der EKD" in Gestalt der Grundordnung der EKD geschlossen wurde. Das Ringen um die Einheit der EKD war zu einem vorläufigen Ziel gekommen, das in den Formulierungen der Grundordnung folgendermaßen seinen Niederschlag gefunden hat: „Grundlage der Evangelischen Kirche in Deutschland ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift Alten und N e u e n Testaments gegeben ist. Indem sie diese Grundlage anerkennt, bekennt sich die Evangelische Kirche in Deutschland zu dem Einen Herrn, der einen heiligen allgemeinen und apostolischen Kirche. Gemeinsam mit der alten Kirche steht die Evangelische Kirche in Deutschland auf dem B o d e n der altkirchlichen Bekenntnisse. Für das Verständnis der Heiligen Schrift wie auch der altkirchlichen Bekenntnisse sind in den lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen und Gemeinden die für sie geltenden Bekenntnisse der Reformation maßgebend.

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Artikel 1 1. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist ein Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen. Sie achtet die Bekenntnisgrundlage der Gliedkirchen und Gemeinden und setzt voraus, daß sie ihr Bekenntnis in Lehre, Leben und Ordnung der Kirche wirksam werden lassen. 2. In der Evangelischen Kirche in Deutschland wird die bestehende Gemeinschaft der deutschen evangelischen Christenheit sichtbar. Mit ihren Gliedkirchen bejaht die Evangelische Kirche in Deutschland die von der ersten Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Entscheidungen. Sie weiß sich verpflichtet, als bekennende Kirche die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen. Sie ruft die Gliedkirchen zum Hören auf das Zeugnis der Brüder. Sie hilft ihnen, wo es gefordert wird, zur gemeinsamen Abwehr kirchenzerstörender Irrlehre. . . . Artikel 4 1. Der Dienst am Wort und die Verwaltung der Sakramente geschieht in den Gliedkirchen und Gemeinden nach der Ordnung ihres Bekenntnisses. Vereinbarungen über Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft bleiben Aufgabe der Gliedkirchen. 2. Berufenen Dienern am Wort wird der Dienst der Verkündigung auch in Gemeinden eines anderen Bekenntnisses im Rahmen der geltenden Bestimmungen der Gliedkirchen nicht verwehrt. 3. Der ordnungsmäßige Vollzug der Heiligen Taufe wird in allen Gliedkirchen anerkannt; dasselbe gilt für alle Amtshandlungen. 4. Über die Zulassung zum Heiligen Abendmahl besteht innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland keine volle Ubereinstimmung. In vielen Gliedkirchen werden Angehörige eines anderen in der Evangelischen Kirche in Deutschland geltenden Bekenntnisses ohne Einschränkung zugelassen. In keiner Gliedkirche wird einem Angehörigen eines in der Evangelischen Kirche in Deutschland geltenden Bekenntnisses der Zugang zum Tisch des Herrn verwehrt, w o seelsorgerliche Verantwortung oder gemeindliche Verhältnisse die Zulassung gebieten. Die rechtliche Kirchenzugehörigkeit und die Bestimmungen über die allgemeine Kirchenzucht bleiben in jedem Falle unberührt. . . . " A u s d i e s e n B e s t i m m u n g e n geht e i n d e u t i g h e r v o r , d a ß die E K D nicht eine rechtlich g e o r d n e t e „ E i n h e i t s k i r c h e " ist. H i e r w i r d z w a r der E K D d a s W o r t K i r c h e nicht streitig g e m a c h t , m a n k a n n sie s o g a r als „ B e k e n n e n d e K i r c h e " b e z e i c h n e n , a b e r es ist z u g l e i c h klar, d a ß dies ihr „ K i r c h e s e i n " n u r in F o r m eines „ B u n d e s lutherischer, r e f o r m i e r t e r u n d unierter K i r c h e n " g e s c h e h e n k a n n . D a ß i m G r u n d e nicht m e h r m ö g l i c h ist, z e i g t v o r allem die B e s t i m m u n g ü b e r die G r e n z e n der A b e n d m a h l s g e m e i n s c h a f t in der E K D . Sie ist z w a r m ö g l i c h z w i s c h e n d e n K i r c h e n d e r E K D , a b e r nicht als rechtlich gültige G r u n d b e s t i m m u n g der E K D . D i e s e rechtliche F e s t s t e l l u n g v o n 1948 ist s e i t d e m u n v e r ä n d e r t geblieb e n . N i e m a n d hat es v e r m o c h t , an d i e s e m m ü h s a m g e w o n n e n e n K o m p r o m i ß i r g e n d w i e z u rütteln. T r o t z d e m bleibt die F r a g e , o b d a m i t w i r k l i c h alles g e s a g t ist, w a s g e m ä ß der G r u n d o r d n u n g z u r E i n h e i t der

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E K D zu sagen ist: Sie ist keine Einheitskirche, es besteht kein Lehrkonsensus, keine Abendmahlsgemeinschaft, sondern lediglich ein Kirchenbund autonomer bekenntnisverwandter Kirchen, deren Bekenntnissverschiedenheit den Vollzug der Einheit hindert.

II. Es kann von niemand bestritten werden, der die Wirklichkeit der E K D heute erkennt und anerkennt, daß über die rechtliche Gestalt hinaus die E K D dabei ist, zur Einheit zusammenzuwachsen. Hier ist ein Prozeß im Gange, der - wie wir glauben und hoffen - nicht rückgängig zu machen ist. Es läßt sich an einer ganzen Reihe von Tatbeständen verdeutlichen, was hier gemeint ist. Die E K D ist inzwischen eine überaus wirksame Arbeitsgemeinschaft geworden. Diese verwirklicht sich in mannigfachen Formen, zunächst in den Synoden der E K D , auf denen diese Verbundenheit immer neuen Bewährungsproben ausgesetzt wurde, die sie trotz allem bestand. Das zeigen die erstaunlichen Erklärungen dieser Synoden zu den großen Fragen unserer Zeit, die aus teilweise erbitterten Diskussionen hervorgingen. Diese gemeinsamen Erklärungen sind Dokumente gemeinsamen theologischen und kirchlichen Denkens. Neben der Synode wurden Ausschüsse für die gemeinsame Arbeit auf allen möglichen Gebieten gebildet, vor allem für die sozial-ethischen Fragen. Aber es ist auch zu festen Arbeitsgemeinschaften der Referenten der Kirchenleitungen in vielen Bereichen des kirchlichen Lebens gekommen. Die Frauen-, Männer- und Jugendarbeit in der E K D umgreift alle Kirchen, ebenso die Studentengemeinden, die Akademikerverbände, aber auch die Publizistik in all ihren Untergliederungen, die Auslandsarbeit wie die Militärseelsorge, die Innere Mission und Diakonie, die Sozialarbeit und zuletzt auch die Mission - es gibt eigentlich kein Gebiet des kirchlichen Lebens, das nicht im Bereich der E K D in weitgehender und tiefgreifender Gemeinschaft aller Verantwortlichen aus den Gliedkirchen bearbeitet wird. Hier ist echte kirchliche Einheit durch die Gemeinschaft des Dienstes im Wachsen. Uber diesen Punkt, vermute ich, besteht in der ganzen E K D Einmütigkeit. Wir arbeiten seit Jahren in allen Bereichen kirchlichen Lebens und Dienstes zusammen, und dabei wächst Gemeinschaft und Einmütigkeit. Schwieriger wird es mit dem nächsten Tatbestand. Wie steht es mit der Theologie im Bereich der EKD? Kann man bestreiten, daß ihre konfessionelle Tradition nicht erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts überwunden ist? Natürlich gibt es auch noch lutherische bzw. reformierte Theologen, wohl auch noch einige 17

Beckmann, H o f f n u n g für die Kirche

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„lutherische Theologische Fakultäten" - aber gibe es eigentlich noch eine lutherische und reformierte Theologie, durch deren Kontroversen das theologische Leben bestimmt ist? Ist etwa die Barthschule reformiert oder die Bultmannschule lutherisch? Jedermann weiß, daß es gar nicht möglich ist, zwischen den großen theologischen Schulen konfessionell zu scheiden. Nur wenn das der Fall wäre, könnte man im Ernst von Konfessionstheologie reden. In Wirklichkeit ist aber die echte Kontroverse der Theologie gänzlich verwandelt. Jeder weiß, worum eigentlich die Auseinandersetzung heute geht. Andererseits sind die wichtigsten theologischen Zeitschriften gerade nicht konfessionell bestimmt, aber auch nicht die großen Gemeinschaftswerke der deutschen evangelischen Theologie wie das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament", das „Evangelische Kirchenlexikon" oder das Handwörterbuch „Religion in Geschichte und Gegenwart". Gibt es einen überzeugenderen Beweis dafür, daß hier gegenüber der Vergangenheit so etwas wie ein Erdrutsch geschehen ist? Öder was bedeutet es, wenn man es den Kommentaren evangelischer Theologen zum Alten Testament und Neuen Testament nirgendwo mehr anmerkt, ob ihr Verfasser lutherischer oder reformierter Herkunft ist? Ich meine, es sei von entscheidender Bedeutung, wenn die theologische Auslegung der Heiligen Schrift nicht mehr durch die Gegensätze der konfessionellen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts bestimmt ist. Es ist deswegen auch nicht überraschend, daß die evangelische Publizistik, vertreten durch ihre großen Blätter, keine charakteristisch-konfessionelle Note hat. Oder meint jemand: Das „Sonntagsblatt" von Hanns Lilje sei ein „lutherisches" und nicht ein schlechthin evangelisches Organ? Steht es mit „Christ und Welt" anders? Warum? Weil auch die Verkündigung des Evangeliums in den evangelischen Kirchen Deutschlands sich nicht nach den überlieferten Bekenntnissen unterscheidet, sondern - sofern überhaupt - durch eine Reihe von ganz verschiedenen Merkmalen, teils theologischen, teils untheologischen Charakters. Ich jedenfalls konnte bei meinen Reisen durch Deutschland nicht finden, daß in Düsseldorf, München, Nürnberg, Stuttgart, Berlin, Hamburg und in den Erholungsorten an der See oder im Gebirge „konfessionell" bemerkenswert verschieden gepredigt wurde. Eher noch konnte man Unterschiede zwischen pietistischer Tradition und moderner Theologie feststellen. Damit wären wir bei der Frömmigkeit der evangelischen Christen. Auch sie ist seit dem 18. Jahrhundert durch die Gewalt des Pietismus und der Aufklärung über die alten konfessionellen Gegensätze hinaus verwandelt worden. Gewiß gibt es noch hier und dort Restbestände konfessioneller Tradition, aber auch bei ihnen ist nicht das Bewußtsein des harten Gegensatzes lutherischer und reformierter Kirchlichkeit vor-

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handen, das einst die Menschen geprägt und getrennt hat. Heute kämpft der Pietismus für kirchliche „Orthodoxie" und die Mc^fpietisten, d. h. neu-orthodoxe und liberale Volkskirchler, um weltoffene Kirchlichkeit. Was prägt die Frömmigkeit der evangelischen Christen heute? Lutherische oder reformierte Tradition? Oder nicht viel stärker die Nachwirkungen des Pietismus wie der Aufklärung? In der modernen Volksmission wird sichtbar, wie sehr alle Frömmigkeitsüberlieferungen sich auflösen und wir um ganz neue Anfänge im nachchristlichen Zeitalter der wissenschaftlichen Zivilisation (oder gar der Religionslosigkeit?) zu ringen haben. Verkündigung, Theologie und Frömmigkeit verbinden sich in der Kirche in besonderer Weise im Gottesdienst. Auch hier hat sich in den letzten beiden Generationen Gemeinsames angebahnt, so daß immer stärker die konfessionellen Traditionen zusammengeflossen sind. Wir haben nicht nur ein gemeinsames Liedgut, zusammengewachsen aus allen Bereichen und Jahrhunderten der Geschichte des Protestantismus, seit langem schon in einem Gesangbuch vereint, lutherische Lieder, reformierte Psalmen, Erweckungsgesänge und moderne Dichtungen. Wir sprechen die gleichen Gebete, ja wir haben durch die Ubereinstimmung der großen Agenden der V E L K D und der Evangelischen Kirche der Union (EKU) eine Gemeinsamkeit der gottesdienstlichen Ordnungen in Ordinarien und Proprien, in Perikopen und Predigttexten, daß man kaum noch Unterschiede finden wird. Darüber hinaus sind auch die „Amtshandlungen", wie man sie herkömmlich nennt, d. h. die Ordnungen der Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung usw., so weitgehend übereinstimmend, wie das nur bei gemeinsamen theologischen Grundüberzeugungen sein kann. Schließlich könnte man auch noch in den „Kirchenordnungen", von ziemlich unwichtigen Verschiedenheiten abgesehen, dieselben Feststellungen treffen: die Ordnung des gemeindlichen Lebens hat ihre früheren konfessionellen Akzente verloren (z. B. die Privatbeichte lutherischerseits und Kirchenzucht reformierterseits), so daß auch hier die Gemeinsamkeiten im evangelischen Verständnis durchschlagend sind. Man braucht nur die Lebensordnung der V E L K D und der E K U zu vergleichen! Bedarf es weiterer Hinweise? Ist der Tatbestand nicht eigentlich von überwältigender Uberzeugungskraft? Ich meine ja, und ich glaube auch sagen zu können, warum dieses Zusammenwachsen möglich geworden ist: Ursprung und Grund des Zusammenwachsens in der E K D ist die den Bekenntnissen der Reformation zugrundeliegende Theologie der Rechtfertigung. Sie ist das „Integral" dieser Bekenntnisschriften, d. h. Luthers Rechtfertigungslehre („Allein durch die Gnade, allein durch den Glauben") bestimmt das Ganze der Aussagen dieser in mancher Hinsicht verschieden geprägten Bekenntnisse. Daß es trotzdem wegen der Sakra-

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mentenlehre zu Trennungen zwischen den Kirchen dieser Bekenntnisse kam, hat seinen Grund in der besonderen geschichtlichen Lage der Reformation im 16. Jahrhundert. Außerdem hat sich hier längst ein Wandel vollzogen, nicht zuletzt durch die Ergebnisse der Schriftforschung in den letzten beiden Jahrhunderten. Daher wirken diese Lehrunterschiede der Bekenntnisse im Unterschied vom 16. Jahrhundert heute nicht mehr „kirchentrennend". Es gab einst - und gibt heute erst recht einen alle evangelischen Christen verbindenden gemeinsamen evangelischen Glauben, den Glauben an die im Evangelium von Jesus Christus uns zukommende freie Gnade Gottes, der den Sünder rechtfertigt. III. Was ist das Ergebnis der bisherigen Erörterungen? Die EKD ist auf dem Wege zur Vertiefung ihrer Einheit. Man wird sagen dürfen: die geistliche Einheit der EKD ist tiefer als ihre äußerliche Uneinheitlichkeit. Der Heilige Geist ist in der evangelischen Christenheit den Institutionen ihrer Kirchentümer voraus, so wie er uns voraus ist im ökumenischen Zusammenkommen der Kirchen Christi. Dementsprechend ist auch die faktische Einheit größer als die rechtliche Gestalt, wie sie sich in der Grundordnung der EKD und entsprechend den Ordnungen der Landeskirchen ausspricht. Das Recht folgt sowieso immer der jeweiligen Gegenwart, es kodifiziert immer das geschichtlich Gewordene. Manchmal hält es das Gewordene auch allzu lange fest, so daß die Ordnungen weit hinter der inzwischen gewandelten Wirklichkeit des kirchlichen Lebens zurückgeblieben sind. Ich fürchte, daß es auch mit manchen Ordnungen unserer Kirchen sich so verhält. Andererseits muß eingesehen werden, daß das kirchliche Recht niemals vorwegnehmen kann, was erst im Kommen ist. Wir können daher auch nicht erwarten, daß die Rechtsordnung der EKD schon das aussprechen könnte, was auf dem Weg, im Entstehen, im Werden und Wachsen ist. Aber auch darauf muß hingewiesen werden: Die Einheit der EKD wird und darf nie als Uniformität verstanden werden. Wir dürfen uns den Begriff der Einheit nicht von der römisch-katholischen Kirche vorschreiben lassen. Was im VII. Artikel der Augsburger Konfession steht, weist in eine andere Richtung: „Es ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen W o r t gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirchen, daß allenthalben gleichförmige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt 1 , gehalten werden." 1

Lateinisch: „traditiones humanas seu ritus aut ceremonias ab hominibus institutas."

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Freilich - in diese Formulierungen der Augsburgischen Konfession ist immer wieder allerlei hineingeheimnist worden. Artikel VII wurde häufig „überinterpretiert", als sei hier von einem vollständigen dogmatischen Lehrkonsens und nicht bloß von der Predigt des biblischen Evangeliums die Rede. Gerade das „Es ist genug" und „es ist nicht not" dieses Artikels muß wirklich ernstgenommen werden in Ubereinstimmung mit seinem geschichtlichen Sinn seiner Ursprungssituation. Nach den Erfahrungen der protestantischen Kirchengeschichte von vier Jahrhunderten würden wir auch noch ein anderes hierzu sagen: Es kann im Protestantismus keine Uniformität der theologischen Lehre geben, denn sie wäre nur durch die Errichtung eines verbindlichen Lehramtes (welcher Art auch immer) festzuhalten und damit allerdings unter Preisgabe des Grundes, auf dem die reformatorische Theologie steht. N u r in der Spannung der biblischen Zeugnisse lebt die Wahrheit des Evangeliums. N u r im Dialog der Theologie bleibt die Wahrheit des Wortes Gottes, seine und nicht unsre Wahrheit. Darum sind auch die Bekenntnisaussagen der Kirche - wie die Konkordienformel richtig erkennt - „Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die Hl. Schrift in streitigen Artikeln in der Kirche Gottes von den damals Lebenden verstanden und ausgelegt wurde." Diese echte Relativierung der kirchlichen Bekenntnisse - und damit der Konfessionen - gegenüber dem Worte Gottes Hl. Schrift selbst gehört zum Wesen reformatorischer Theologie und muß daher auch bestimmend sein für Verständnis, Maß und Grenze der Einheit bzw. Einigkeit der Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte. Wir sagten, die E K D sei auf dem Weg zur Vertiefung ihrer Einheit. Aber nun haben wir unser Augenmerk auf die Hindernisse zu richten, die heute noch auf diesem Weg hemmend wirken. Zunächst ist hier die Macht der Tradition zu nennen. Kirchen wandeln sich nur sehr langsam. Sie sind in ihrem Wesen konservativ. So muß man es verstehen, wenn die Besorgnis vieler lutherischer Theologen groß ist, man würde etwas Unverantwortbares tun, wenn man etwa ohne Ausräumung der traditionellen Lehrdifferenzen, ohne die Formulierung eines vollständigen Lehrkonsens die Kirchengemeinschaft auch rechtlich zwischen den bekenntnisverschiedenen Kirchen herstellen würde. In Auslegung des bekannten Satzes aus dem VII. Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses vom „consentire de doctrina evangelii" etc. sind sie überzeugt, daß nur ein expliziter Lehrkonsensus den Weg nach vorn zur Einheit der Kirche öffnet. Hinzu kommt, daß in diesen Kreisen echte Besorgnisse vorhanden sind wegen der Unionen des 19. Jahrhunderts. Die rasche und weittragende Ausbreitung der Unionen in den Jahren 1817-1822 hatte den konfessionellen Vätern einst einen schweren Schock versetzt, vergleich-

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bar dem Schock der römischen Kirche im 16. Jahrhundert über den großen Abfall der Protestanten. Die Unionskirchen zusammen waren zahlenmäßig mehr als 50 % des deutschen Protestantismus. Infolge dieser bedrohlichen Entwicklung kam es im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer kräftigen lutherischen konfessionellen Restauration, verbunden mit harter Bekämpfung der Union. Hier liegen die Wurzeln der lutherischen Einigungsbestrebungen in Deutschland, die das ganze Jahrhundert hindurchgingen und im Jahre 1948 mit der Gründung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zum Ziele kamen. Die Entstehung dieser Kirche ist nur zu verstehen aufgrund der konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts mit ihrem stark anti-unionistischem Affekt. Inzwischen haben sich im Zeitalter der ökumenischen Bewegung zahlreiche konfessionelle Weltbünde gebildet. Die Anglikaner, Presbyterianer (Reformierte), Lutheraner, Baptisten, Methodisten und andere haben bedeutende weltumspannende Kirchenbünde geschaffen, und diese wirken natürlich heute ganz stark in die örtlichen, landschaftlichen und nationalen kirchlichen Verhältnisse hinein. So gewiß es verständlich ist, ja notwendig erscheint, daß sich solche Weltbünde bildeten, so gewiß müssen sie zwangsläufig auch im ökumenischen Bereich wie innerhalb örtlicher Beziehungen in bestimmter Richtung auch hemmend wirken. Es ist klar, daß landschaftliche oder örtliche Kirchengemeinschaften nicht von ihren ökumenisch-konfessionellen Verbindungen absehen können. Und die Weltbünde werden immer darauf bedacht sein, daß sie durch Unionen keine Mitglieder verlieren. In der E K D ist es so auch begreiflich, daß sowohl der Lutherische wie der Reformierte Weltbund unvermeidlich zur Erhaltung der bestehenden Konfessionskirchen beitragen und demgemäß einer möglichen Überbrückung konfessioneller Traditionen nach vorn faktisch im Wege stehen. Dabei wäre zu fragen, ob nicht der Lutherische und der Reformierte Weltbund so „verwandt" sind, daß diese beiden (möglicherweise auch noch mit anderen) eine Protestantische Föderation in der Ökumene bilden könnten, was auch aus anderen Gründen gut wäre: es geht um die Stärkung des reformatorischen Erbes! Das Kernproblem auf dem Wege zur Verwirklichung der Einheit der E K D als einer Kirchengemeinschaft im vollen Sinne ist natürlich die Frage der Abendmahlsgemeinschaft. Wir haben oben aus Art. 4 der Grundordnung der E K D den rechtlichen Stand kennengelernt. Es gibt also hiernach über die Zulassung der Christen innerhalb der E K D keine volle Ubereinstimmung, d. h. es gibt in der E K D Gliedkirchen, die generell auch die Glieder anderer Bekenntnisse zum Abendmahl zulassen, aber auch solche, die dies nur im Ausnahmefall tun. Rechtlich steht

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hier also, wie es in der Ökumene heißt, „offene" und „geschlossene" Kommunion nebeneinander. Wie es de facto mit der Zulassung in der E K D bestellt ist, kann man wohl kaum in Zweifel ziehen: Der evangelische Christ kann der an ihn eigentlich überall ergehenden Einladung zum Abendmahl in den Gliedkirchen der E K D Folge leisten. Insofern ist die „Abendmahlsgemeinschaft" der Christen den rechtlichen Ordnungen voraus. U m aber auch hier weiterzukommen und diesen doch irgendwie unbefriedigenden Zustand zu überwinden, hat der Rat der E K D eine Theologenkommission zur Erarbeitung einer Erklärung über das Abendmahl eingesetzt, die zu einem erstaunlichen Ergebnis gekommen ist. Hier wurde ein bedeutender Schritt getan, der viele Hemmnisse und Widerstände zu überwinden vermag. Wir meinen, die Annahme der Arnoldshainer Abendmahls-Thesen müßte im Entscheidenden das „Satis est" der Augsburger Konfession bewirken. Wir warten und hoffen, daß alle Kirchen der E K D ihre Zustimmung geben und den Weg frei machen - zum mindesten zu einer „gegenseitigen offenen Kommunion". Hoffentlich werden in der z. Zt. tagenden Zweiten Abendmahlskommission der E K D die Schritte gefunden, durch die es möglich wird, eines Tages in der Grundordnung der E K D die „Zulassung aller evangelischen Christen zum Tisch des Herrn" (also gegenseitige offene Communion) auch von Rechts wegen zu proklamieren. Eines jedoch ist nach meiner Uberzeugung zur Erkenntnis des Weges nach vorn zur Einheit der E K D unerläßlich: Dieser Weg kann weder bestimmt sein durch das Konfessionsverständnis noch durch das Unionsverständnis des 19. Jahrhunderts, allerdings auch nicht durch die Uberzeugungen des 16. Jahrhunderts hinsichtlich der kirchentrennenden Macht der Lehrunterschiede. Die protestantische Schriftforschung von Jahrhunderten hat die „Relativität" der kirchlichen Bekenntnisse gegenüber der alleinigen Autorität des Wortes Gottes, verfaßt in der Hl. Schrift, immer wieder ans Licht gebracht. Darum sind auch die protestantischen Traditionen der Hl. Schrift immer neu zu unterwerfen. Hier allein können sich die Wege zur Uberwindung der Gegensätze des 16. Jahrhunderts öffnen. Hinzu kommt, daß wir am Anfang eines neuen, des ökumenischen Zeitalters der Kirche stehen. Hier sind uns ganz neue Erkenntnisse über die Kirche, ihre Einheit und Einigkeit zugewachsen. Mehr und mehr muß uns einleuchten, daß wir uns nicht mehr mit „innerdeutschen" Lösungen des Problems der Einheit der Kirche begnügen können. Das war der begreifliche, aber fragwürdige Weg bei den Unionen des 19. Jahrhunderts in Deutschland: Sie geschahen auf nationalem Boden, im Rahmen von Staatskirchentümern und waren somit zwangsläufig „provinziell". Wir sehen es heute deutlich: Die Frage der Einheit der Kirche kann nicht national-provinziell, sie kann nur ökumenisch in Angriff genommen werden. Dies haben wir

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eigentlich erst seit den Tagen der ersten ökumenischen Kirchenkonferenzen zu lernen begonnen. Die Kirche ist nicht „national", sondern weltumspannend, und die Lösung der Frage, wie die Zerrissenheit der Kirche in Konfessionen und Denominationen und Unionen beseitigt werden kann, ist nur im ökumenischen Rahmen sachgemäß und zukunftsträchtig in Angriff zu nehmen. Die EKD samt ihrer Gliedkirchen ist seit 1948 Mitglied des Ökumenischen Rats der Kirchen. Indem wir diesen Schritt vollzogen haben, sind wir nicht mehr frei, für uns allein zu handeln, oder wir hätten nicht verstanden, was dieser Beitritt zum Ökumenischen Rat bedeutet. Wir haben uns einer „Gemeinschaft von Kirchen" eingeordnet, „die den Herrn Jesus Christus gemäß der Hl. Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes", wie es in der Basis des Ökumenischen Rates heißt. In dieser Gemeinschaft begegnen wir einander - nicht nur als Lutheraner den Reformierten und beide den Unierten - , sondern als Christen zahlreicher Konfessionen und Denominationen aus aller Welt in der Überzeugung und Gewißheit, daß es nur eine Kirche trotz unserer Verschiedenheiten und Spaltungen gibt, so gewiß es nur einen Herrn gibt, der unser Gott und Heiland ist. Indem wir dieser Gemeinschaft angehören, bekennen wir, daß unsere Verschiedenheit und Uneinigkeit nicht konfessionell gerechtfertigt werden kann, aber auch nicht durch Unionen einzelner Konfessionen untereinander zu überwinden ist. Freilich, wir wissen alle miteinander den Ausweg nach vorn, den Weg zur Wiedervereinigung der gespaltenen Kirche nicht. Vorerst wissen wir nur um die unüberwindlichen Hindernisse, die der Wiederherstellung der Einheit der Kirche sichtbar vor der Welt entgegenstehen. Aber wir beginnen zu erkennen, daß die Einheit der Kirche von dem einen Herrn, dem einen Evangelium, dem einen Auftrag dieses Herrn an die Welt herkommen muß und wird. Von der Front der Kirche in der Welt her, von der Sendung des Wortes Gottes in der Welt her beginnt ein neues Einswerden der Kirchen sich anzubahnen. Nicht eigentlich durch Lehrgespräche, durch Unionsverhandlungen, durch Konsensuserklärungen so gewiß es auch hier Aufgaben g i b t - , sondern offensichtlich an der Spitze des Vormarsches der Kirche in der Welt begibt sich das Neue, von dem die Weltkirchenversammlung in Neu Delhi sprach. Der große Wendepunkt, an dem wir stehen, ist nach meiner Uberzeugung und Erfahrung die Entdeckung der Kirchen als Gottes Gesandtschaft in die Welt, anders geredet: die Erkenntnis der Identität von Kirche und Mission Christi.

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Was sich hier auftut, ist nicht nur für die der Kirche in ökumenischer Sicht überhaupt tung. Ja, auch in der römisch-katholischen dafür, daß hier ebenfalls die Zukunft schon

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Einheit der E K D , sondern von entscheidender BedeuKirche gibt es Anzeichen begonnen hat.

Probleme und Aufgaben der Kirche in der Gesellschaft der wissenschaftlichen Zivilisation* Wir sind Zeitgenossen einer der größten Wandlungen innerhalb der menschlichen Geschichte, denn das Industriezeitalter ist wohl die tiefgreifendste Veränderung, seit Menschen angefangen haben, seßhaft zu werden und den Acker zu bebauen. Jedenfalls ist sicher, daß damals die Erde zum ersten Male ein neues Gesicht bekam und daß sie nun in der Industrielandschaft von heute zum zweiten Male ein ganz neues Gesicht bekommt. Die Industrielandschaft wird eine andere Landschaft sein als die überlieferte, von der wir Bilder aus der Vergangenheit genug vor Augen haben. Aber gerade diese Bilder von der Vergangenheit zeigen uns die ungeheure Wandlung. Die Kirche nimmt an diesen Wandlungen teil. Sie steht ja nicht außerhalb dieser Geschichte, sondern sie steht mitten darin und ist von den Problemen dieser Wandlung stark berührt. Die Aufgaben, die die Kirche hat, werden durch diese Wandlung verändert. Obwohl es nur ein und dieselbe Grundaufgabe gab und gibt: den Auftrag Jesu Christi für die Kirche in der Welt, so ist doch die Erde, und die darauf wohnende Menschheit nicht dieselbe geblieben wie vor zweitausend, vor tausend, vor fünfhundert Jahren. Die großartigen Werke der Menschen in der Industrie haben eine tiefgreifende gesellschaftliche Wandlung geschaffen. Denken wir ganz kurz an Dinge, die in diesem Zusammenhang die Kirche ganz besonders betroffen haben und betreffen. Wir stehen hinter dem Zerbruch einer mehr als tausend Jahre währenden christlich bestimmten gesellschaftlichen Ordnung. Die gesellschaftliche Ordnung des alten Abendlandes ist ja tatsächlich bestimmt gewesen durch Antike und Christentum, vor allen Dingen ganz stark durch das Christentum, das dieses ganze Land geprägt hat. Die christliche Gesellschaft hat über tausend Jahre bestanden und ist langsam seit dem 18. Jahrhundert am Abbröckeln. Der Kirche ist damit eine neue Rolle zugewiesen worden. Das Christentum war durch mehr als ein Jahrtausend die Religion des Abendlandes. Die Kirche hat für die abendländische Gesellschaft als ihre Institution die religiöse Grundlage dieser Welt dargestellt, und alles, was * Aus: DIE MITARBEIT. Zeitschrift zur Gesellschafts- und Kulturpolitik 14, 1965, S. 1 - 1 2 .

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in dieser Gesellschaft geschah, war ja dadurch geprägt. Deswegen gab es auch gar keinen Unterschied zwischen Kirche und Nichtkirche. Es gab keinen Unterschied zwischen Kirchengemeinde und Kommunalgemeinde, wie wir ihn heute vor Augen haben. Es gab also den für uns typischen Unterschied einer bürgerlichen Welt und einer Kirche so nicht. Beides war ineinander vollkommen verschlungen. Diese Zeit ist langsam dahingegangen, und zwar schon damit, daß im vorigen Jahrhundert die Entscheidung der Toleranz getroffen und dadurch auch die Möglichkeit geschaffen wurde, als Nichtchristen zu existieren, also die Möglichkeit des freien Austritts aus der Kirche. Und alle modernen Verfassungen seit dem vorigen Jahrhundert in Europa zeigen ja, daß das Christsein zu einer privaten Angelegenheit geworden ist, wenn auch noch die christlichen Kirchen eine große Rolle innerhalb dieser Gesellschaft von heute spielen, einfach kraft ihrer gewaltigen Tradition. Es ist so auch nicht überraschend, daß bei uns im Jahre 1918 das überlieferte Staatskirchentum aufgehört hat, und alle Beteiligten, glaube ich, sind dankbar dafür, daß dieses Zeitalter zu Ende gegangen ist. Jedenfalls hat die evangelische Kirche durch das Ende des Staatskirchentums viel gewonnen, sie hat eine ganz neue Freiheit gewonnen, die sie bis dahin so nicht gehabt hat. Das dritte, das kurz erwähnt werden muß, ist eben doch jener für uns in Deutschland besonders gewichtige Tatbestand, der nicht nur Europa angeht, sondern darüber hinaus die ganze Welt, aber in Deutschland besonders gewichtig ist: die Weltspaltung des Jahres 1945, die ja in den letzten 20 Jahren bis zum heutigen Tage für das ganze Leben von durchschlagender Bedeutung wurde. Diese Weltspaltung geht mitten durch Deutschland und durch die evangelische Christenheit Deutschlands hindurch. Die evangelische Christenheit Deutschlands lebt zum Teil in einem totalitären Weltanschauungsstaat kommunistischer Prägung, im Kampf um ihre Existenz, ganz anders als im Westen. Dort ist offenkundig - in gewisser Beziehung der heutigen Weltgeschichte vorauseilend - am weitesten die christliche Gesellschaftsordnung radikal abgebaut worden und schon ersetzt durch eine atheistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung. Während wir im Westen vielleicht sprechen können von einer Gesellschaftsordnung, die humanitäre Züge einer überlieferten christlich-humanistischen Philosophie trägt, ist es dort so, daß, obwohl der Name humanistisch auch gebraucht wird, eine atheistische Gesellschaftsordnung im Entstehen begriffen ist, in der die Kirche nur noch eine geduldete Größe darstellt.

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I. Die Kirche vor den neuen gesellschaftlichen Realitäten Nach diesen ersten Feststellungen, die von großem Gewicht sind und zeigen, in welch enger Verbindung Geschichte und Gesellschaftsentwicklung zur Kirche stehen, möchte ich nun auf einige Dinge aufmerksam machen, die uns in der Kirche der Bundesrepublik vor eine Fülle von schweren Problemen stellen. Die Einwirkungen der technischen, industrialisierten Lebensordnung auf das kirchliche Leben sind außerordentlich stark. Es zeigt sich eben, daß die großen Wandlungen der technisch-industriellen Lebensordnung die überlieferte Volkskirche nicht das sein lassen, was sie war. Die Volkskirche war mitbestimmt dadurch, daß sie im Dorf wie in der Stadt nicht nur das äußere Profil bestimmte, sondern auch den Charakter der Gesellschaftsordnung. Diese Gesellschaftsordnung ist zerbrochen. Stadt und Dorf haben aber auch gleichzeitig damit angefangen, ihren Charakter zu verlieren. Es gibt die Stadt der vergangenen Jahrhunderte sozusagen in Deutschland fast überhaupt nicht mehr, sondern nur noch hier und da einige museale Städtchen, die von Ausländern in großen Scharen besucht werden, wie etwa Rothenburg ob der Tauber. Aber im ganzen sind ja die Städte, die geschichtliche Bedeutung hatten und haben, die Großstädte, die eine ganz neue Gesellschaftsordnung entwickelt haben. Sie sind keine Zentren menschlicher Verbundenheit mehr. In ihnen finden sich unzählige Menschen zusammen, die nur durch bestimmte Interessen harten Existenzkampfes miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind und die darum nicht mehr sich in der früheren Weise für eine bestimmte Stadt oder ihr Dorf verantwortlich wissen. Und das bedeutet auch etwas Entscheidendes für die Kirche. Die Kirchen sind aus der Mitte dieser Städte an die Seite gerückt und an ihre Stellen sind die großen Industriegebäude getreten, die gewaltigen Hochhäuser der großen Firmen und des Handels. Die großen, berühmten, mächtigen Gebäude sind der Ersatz für die Kathedralen von einst. Was die Kathedralen bis ins 19. Jahrhundert noch waren, das sind heute die industriellen, gewaltigen Bauwerke. Die Stadt in Amerika wie in Europa und darüber hinaus, man kann ruhig sagen, in der ganzen heutigen Industriewelt bis hin nach Buenos Aires, Sydney oder Johannesburg: überall dasselbe Bild! Die Trinitatis-Kirche in New York, zwischen den riesigen Industriegebäuden, ist ein Beispiel für die Wandlung der Welt. Sie steht als eine ganz kleine, noch im Schatten großer Mächte geduldete Größe da, rings um sie herum die bisher größten Gebäude der menschlichen Weltgeschichte. Das zweite, was ebenso wichtig ist, ist die Auswanderung des Lebens aus den bisherigen Wohngemeinden. Das Dorf und die Stadt von einst kannten nicht die Trennung von Familie, Arbeitsplatz und Freizeit in dem Stile, wie er sich im Industriezeitalter entwickelt hat. Schon die

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Tatsache, daß aus mannigfachen Gründen heute der Mensch im Durchschnitt sein Leben nicht in seiner Familie beginnt, sondern im Krankenhaus oder in einer entsprechenden Klinik, und daß er auch da meistens sein Leben beschließt, wenn er nicht auf der Straße ums Leben kommt, ist für die Kirche nicht unwichtig. Der Gemeindepfarrer ist nicht mehr dabei, wenn Menschen zum Leben kommen und wenn sie sterben, das heißt also, die Kirchengemeinde ist fern von dem, was Anfang und Ende des Lebens betrifft. Wir haben deswegen eine ganze Menge von neuen Einrichtungen entwickeln müssen, z. B. den heutigen Krankenhauspfarrer, der keine Gemeinde mehr hat, der nur noch für ein Krankenhaus da ist; er ist ein Hinweis darauf, welche Änderung sich hier begeben hat. Früher war doch klar, daß der Ortspfarrer für seine Kranken zuständig war. Das hat aufgehört. Die Auswanderung des Lebens bedeutet aber auch, daß es z.B. in der Kleinstadt den Stammtisch mit dem Herrn Pastor, dem Herrn Apotheker, dem Herrn Doktor und wer sonst da war, nicht mehr gibt. Diesen Ort, an dem man die gemeinsamen Dinge des Ortes besprach, gibt es nicht mehr. Man fährt mit seinem Wagen hinaus aus der Industrielandschaft irgendwo an einen Platz, wo man versucht, in besserer Luft ein paar Stunden zuzubringen. Die Trennung des Raumes der Arbeit und der Freizeit, die Trennung der Wohnung vom Arbeitsplatz und die große Beweglichkeit des Menschen hat für die Kirche außerordentlich tiefgreifende Folgen gehabt. Wenn ich an meine eigene Gemeinde denke, die ich in Düsseldorf viele Jahre hatte, so habe ich schon, als ich im Jahre 1933 dort hinkam, beobachtet, daß bei den 5000 „Seelen" (wie man zu sagen pflegt), die mir anvertraut waren, in jedem Jahre mehr als tausend Zu- und Fortzüge zu verzeichnen waren; dabei war das noch gar keine außergewöhnliche Gemeinde. In wenigen Jahren ist eine solche Großstadtgemeinde völlig verwandelt. Was das für eine Gemeinde bedeutet, kann sich jeder klarmachen: Es gibt dann fast keine Gemeindeglieder mehr, die festgewurzelt sind. Und die wenigen, die sich entschlossen hatten zu bleiben, waren entweder die Ruheständler oder die so weit gekommen waren, wie sie auf ihrer Lebensstufe kommen wollten, die über 50 Jahre alt waren und meinten, jetzt hätten sie es geschafft, und weiter könnten sie sowieso nicht mehr kommen. Sie wurzelten dann auch wieder in einer Kirchengemeinde ein. Die übrigen aber sagten: Was sollen wir die paar Jahre, die wir vielleicht hier wohnen, uns in der Gemeinde hier ansiedeln; wir werden das später wieder tun, wenn wir Zeit dafür haben, jetzt müssen wir für andere Dinge da sein. Die Beweglichkeit des Menschen ist ja dadurch so groß geworden, daß die Menschen gezwungen werden, der Industrieentwicklung zu folgen. Man könnte eine Fülle von Beispielen anführen. In summa heißt das: die frühere heimatliche Verwurzelung in einer Ortskirchengemeinde hört auf. Daher kommt es, daß der Kirchenbesuch so

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stark zurückgegangen ist, denn der frühere Kirchenbesuch bestand nicht nur aus lauter frommen Leuten. Man muß sich darüber klar sein; es hat in der Welt immer nur wenig fromme Menschen gegeben, die aus Uberzeugung zur Kirche kamen, sondern man ging eben in die Kirche, weil alle Nachbarn auch hingingen, und man wollte nicht als einer erscheinen, der außerhalb stand. Man gehörte eben zu dieser Gemeinschaft, und diese forderte, daß „man" bestimmte Dinge tat. Dieses tut man heute so nicht mehr, weil man nicht mehr in einer Gemeinschaft kirchlicher, völkischer und heimatlicher Art verwurzelt ist, sondern in eine eigentümliche Vereinsamung einzelner Menschengruppen in Siedlungen hinein zerstreut ist. Es gibt eine riesige Diaspora heutzutage, in der es eine Fülle von einzelnen Christen gibt, die zum Teil mit der Kirche, zum größeren Teil ohne die Kirche leben. Ein ganzer Kreis von Menschen lebt mit der Kirche nur durch das Fernsehen bzw. durch die großen anderen Massenmedien; ein anderer Teil hat auch das Bedürfnis, mit anderen zusammen, etwa in einer Kirchengemeinde, zu existieren. Und gerade dieser Tatbestand der Wandlung, daß das Streben nach christlicher Gemeinschaft nicht sehr groß ist, ist kennzeichnend für unsere Lage. Man trifft sich wohl noch in ganz großen Vereinigungen, die gewisse Interessen gemeinsam haben, z. B. in einer Reisegesellschaft, aber nicht mehr in einer größeren Gemeinschaft, die sich regelmäßig sonntags in der Kirche versammelt. Das ist nur einem ganz kleinen Kreis noch vorbehalten, und meistens sind es die älteren Leute, die das weiterpraktizieren. Noch ein Letztes in diesem Zusammenhang: Der Sonntag geht immer mehr in dieser Industriegesellschaft verloren. Er ist nicht zu halten, einfach deshalb nicht, weil die Industrie durch ihre technische Entwicklung die Menschen dazu zwingt, den Rhythmus des Industriewerkes zu übernehmen. Und der ist nicht nach der Sieben-Tage-Woche eingerichtet. Es gibt überall den Kampf mit den Problemen der Sonntagsarbeit. Im Grunde ist er längst entschieden. Denn abgesehen von der Großindustrie sind es vor allen Dingen die in steigendem Maße zunehmenden Dienstleistungen, die für die arbeitenden Menschen in ihrer Freizeit nötig sind, die also für sie in den Dienstleistungsbetrieben in immer größeren Mengen zur Verfügung stehen müssen. Denken wir nur an den Verkehr, Eisenbahn, Autobusse usw. An die Stelle des Sonntags ist etwas anderes getreten, eine mehr oder weniger auswärtige Wochenendveranstaltung, in der die Leute, die einen freien Sonntag haben oder einen freien Samstag und Sonntag, nun die Gelegenheit benutzen, herauszufahren. Aber auch wenn sie zu Hause blieben, würden sie im allgemeinen nicht daran denken, diesen Sonntag in ihrer Kirchengemeinde zu begehen, weil für sie Kirchengemeinde oder Kirche keinen Lebenszusammenhang bedeutet. Sofern sie überhaupt zu diesen Dingen

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noch ein gewisses Verhältnis haben, haben sie es mehr individuell, sind also eher noch zu verstehen als „Protestanten ohne Kirche". Um das Bild zu vervollständigen, muß ich, ohne es hie'r weiter ausführen zu können, noch eins hinzufügen: Durch die Macht der gewaltigen äußeren Wandlungen, durch die Inanspruchnahme des Menschen in diesem ganzen Bereich ist es auch zu inneren Wandlungen gekommen. Diese inneren Wandlungen zeigen sich darin, daß der Mensch von heute in einem ganz starken Maße auf Weltbeherrschung aus ist. Das heißt nicht im Sinne eines Imperialismus, sondern so, daß die Welt, in der er lebt, von ihm bemächtigt werden soll, und zwar kollektiv, in der gewaltigen Industrialisierung und Technisierung der großen wie auch der kleinen Welt. Daß auch zu Hause alles maschinell gemacht werden muß, das gehört ja zu den Notwendigkeiten des Lebens, weil es nicht mehr die Großfamilie gibt, in der früher diese Dinge gemacht wurden. Die Verwandlung der Großfamilie in die Kleinfamilie ist auch ein Tatbestand der industrielllen Entwicklung und hat dazu geführt, daß Großeltern, Eltern und Kinder nicht mehr zusammenwohnen, weder in ihrem Dorf noch in ihrer Stadt, wie es durch Jahrhunderte der Fall gewesen ist, sondern daß sie in der Regel ihren Berufswünschen folgen. In jeder Familie kann es angetroffen werden: jeder wohnt woanders. Die Großeltern haben ganz woanders gewohnt als die Kinder, als wir. Und wir leben anderswo als unsere Kinder und Enkelkinder. So geschieht überall jene tiefgreifende Wandlung durch die Änderung des Verhältnisses des Menschen zur Welt und damit auch die Notwendigkeit, sich durch technische Maßnahmen die Hilfen zu beschaffen, die früher Menschen geleistet haben. Dahinter steckt aber natürlich auch das Bewußtsein, daß der Mensch mit Hilfe der Technik sich sein Leben so schön, so angenehm, so erfreulich, so inhaltsreich wie möglich machen möchte. O b ihm das dadurch gelingt, ist eine ganz andere Frage; aber er ist doch auf das Diesseitige und die Bemächtigung der diesseitigen Welt aus. Dem entspricht auf der anderen Seite natürlich eine Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die Kirche ihm sagen möchte. Er ist der Kirche gegenüber nicht feindselig, aber gleichgültig. Er ist weniger von Gegnerschaft erfüllt als von einer gewissen Taubheit, weil ihm das alles nichts sagt. Das hängt einfach damit zusammen, daß die anderen Stimmen zu laut, zu mächtig, zu gewaltig sind, und er aus sich selbst nicht so recht die Zeit findet, sich darüber Gedanken zu machen. Darum schmilzt die gottesdienstliche Gemeinde stark zusammen. Der Zugang zu den Sakramenten ist schwächer geworden, und das christliche Gemeindeleben ist nur noch ein bescheidener Kreis innerhalb der heutigen europäischen Gesellschaft. Wenn der Mensch trotzdem an der Kirchenzugehörigkeit festhält, sogar in einem gewissen Sinne die Kirche bejaht, so tut er das aus Gründen, die in gewissen kirchlichen Sonderlei-

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stungen liegen. Wenn auch, wie es so schön im „Spiegel" einmal hieß, eine solche Trauung „das teuerste Fest seines Lebens" war, weil es das einzige war, wo er die Kirche in Anspruch nahm bei der hohen Kirchensteuer, die er bezahlte, so läßt er sich doch auch so eine Familienfeier gern etwas kosten. Er möchte doch nicht ganz ohne Feierlichkeit und ohne einen Mann, der mit einer gewissen Beredsamkeit einige nette Worte sagt, seine Familienfeste begehen. Das ist in allen Kreisen so, da gibt es keinen großen Unterschied zwischen den Menschen. Es hängt einfach mit unserer menschlichen Natur zusammen, daß wir in bestimmten Situationen stimmungsvolle Feierlichkeit haben möchten. Wer möchte seine Ehe beginnen ohne eine Hochzeitsfeier? Das geht ja doch eigentlich nicht. U n d wenn man dazu ein wenig Kirche haben kann, ohne daß es etwas Besonderes kostet - es kostet ja auch gar nichts Besonderes - , dann ist das doch gar nicht schlecht und nicht zu verachten. Auch wenn die Kirche dafür sorgt, daß die Kinder die Zehn Gebote lernen, ist das nicht gering zu schätzen. Das haben Arbeiter, aber auch Bürger in der Gemeinde zu mir gesagt, die ich gefragt habe, warum sie eigentlich Interesse daran hätten: es sei gut, wenn die Kinder das lernten, sie bekämen dadurch ein moralisches Autoritätsbewußtsein. Schließlich denke man auch an die Notfälle, in denen man unter Umständen jemand braucht, wo eine Schwester kommen muß. Mun muß ins Krankenhaus und ist froh, daß es Leute gibt, die ihr Leben daransetzen, für die Pflege ihrer Mitmenschen bereit zu sein. Das tun bis zum heutigen Tag ja immer noch viele Frauen, die sich hier als Christen um Gottes willen einsetzen. Diese Dinge scheinen dem Menschen doch eben so wichtig zu sein, daß man, wenn man auch mit der Botschaft der Kirche nichts zu tun haben will oder meint, davon nichts zu verstehen, doch in einer bestimmten Weise die Kirche und ihre Einrichtungen bejaht. Allerdings ist dabei die Gefahr der inneren Auflösung des Christentums nicht von der Hand zu weisen. N u n muß ich aber, um gerecht zu sein, noch sagen, daß die Kirche selbst an dieser inneren und äußeren Auflösung der überlieferten Volkskirche mitschuldig ist und auch dazu beigetragen hat, daß das geschehen konnte. Es ist ganz klar, daß hierbei auf allen Seiten heute schwere Versäumnisse zu beklagen sind. Auf der einen Seite hat die Kirche z. B. viel zu sehr der Macht der Tradition vertraut und tut das wahrscheinlich auch heute noch. Man sieht ja auch: Institutionen sind eben doch sehr hartnäckig in ihrer Lebensdauer. Wenn sie auch schon sehr ausgehöhlt wären oder es nur noch wenig Menschen gäbe, die für sie Interesse hätten, so macht es doch heute noch, nicht nur in kirchlichen, sondern auch in politischen Reden, oft den Eindruck, als ob wir immer noch ein kirchlich-christliches Land wären und alles so wäre wie vor 300 Jahren. Aber das ist eben ein falsches Zutrauen zu äußerlichen Erscheinungsfor-

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men, hinter denen doch nicht mehr eine innere Wahrheit steckt. Und dann muß man sagen, daß die Kirche ja leider zu den konservativsten Einrichtungen der Geschichte gehört (neben den Universitäten übrigens, wie ich den Eindruck habe). Wie schwer ist es doch geworden, wenn man die Industrieentwicklung des 19. Jahrhunderts sich vor Augen stellt, bis die Kirchen erkannt haben, was eigentlich passiert ist. Sie haben das ja gar nicht geglaubt, sie haben gar nicht daran gedacht, daß hier eine große Umwandlung sich vollziehen würde. Sie haben wirklich zurückschauend gemeint, es bliebe alles, wie es immer gewesen ist. Dabei zerfiel vor ihren Augen eine ganze Menge von dem, was sie bisher gehabt hatten, aber sie hatten dann höchstens den Eindruck, daß die Menschen der Gegenwart schlechter wären als früher. Und dann haben sie über sie geklagt, aber nicht daran gedacht, einmal zu fragen, was denn nun eigentlich an der Kirche reformbedürftig wäre, was denn hier notwendig anders gemacht werden müsse, nachdem ein neues Zeitalter hereingebrochen sei. Es hat mindestens 100 Jahre gedauert, bis das gesehen wurde. Inzwischen ist vieles passiert, was sehr schmerzlich ist und jetzt sehr schlecht wieder aufgeholt werden kann. Ich erinnere an folgende Tatbestände: Unsere herkömmlichen Gemeinden sind seit dem 19. Jahrhundert in einem nie dagewesenen Maße gewachsen. Es hat ja bis dahin in der ganzen Kirchengeschichte, seit den ersten Tagen, in denen es Kirche gegeben hat, auch seit dem Mittelalter oder der Reformation so große Gemeinden nie gegeben. Tausende und aber Tausende von Menschen wurden in einer Gemeinde zusammengefaßt. Sie waren nur noch Verwaltungsgrößen, aber keine Gemeinden mehr. Aber so hat man sie wachsen lassen und hat eine Entwicklung nicht rechtzeitig erkannt, wie es notwendig gewesen wäre. Das hing natürlich auch mit unserem Staatskirchentum zusammen. Was wurde im 19. Jahrhundert versäumt, wenn z.B. in den Großstädten Berlin und Hamburg und anderswo die alten Gemeinden um das Zehnfache wuchsen, ohne daß die Zahl der Pfarrer wuchs, obwohl es genug Theologen gegeben hätte. Als im Jahr 1897 mein Vater sein Examen als Theologe gemacht hatte, da sagte der Generalsuperintendent zu den Kandidaten, die da standen das waren ungefähr 30 Leute in Münster in Westfalen-: „Ja, meine Herren, das Examen haben sie alle bestanden, aber eine Stelle für Sie haben wir nicht. Sehen Sie mal zu, wo Sie Arbeit finden. Wenn irgendeine Stelle frei wird, sagen wir Ihnen Bescheid." Da wundert man sich nicht, wenn in einer Zeit, von der man sagen müßte, daß Tausende von Pfarrern notwendig gewesen wären, so etwas geschieht, und wenn dann eine ganze Kirche innerlich ausstirbt, weil sie nicht mehr betreut werden kann. Das ist durch eine ganze Zeit hindurch so gewesen. Um 1900 gab es in der preußischen Landeskirche 2000 unbeschäftigte Kandidaten der Theologie. In einer Zeit, in der es in Berlin Pfarrer gab, deren 18

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Bezirk 10 000 Gemeindeglieder hatte, wurden keine neuen Stellen begründet. Auf diese Weise sind eben die Großstädte faktisch entchristianisiert worden. Die Pfarrer konnten ihre großen Bezirke nicht bewältigen und können das auch heute noch nicht, denn sie haben ja alle viel zu viel zu tun. In der typischen Industriegemeinde hat bei uns jeder Pfarrer auch heute noch 5000 Menschen zu betreuen trotz vieler Neugründungen von Pfarrstellen. Die katholische Kirche hat gegenüber der evangelischen Kirche im Durchschnitt einen Pfarrer auf 1000 Seelen. Schon darum hat sie eine viel größere Kirchlichkeit. Wie gesagt, diese ganze Entwicklung ist ein großes Verschulden der Landeskirchen, der Staatskirchen, bis in unsere Tage hinein. Was haben wir noch bis in die Jahre nach 1945 darum kämpfen müssen, daß rechtzeitig neue Pfarrstellen begründet wurden. Aber dann haben wir im Unterschied zu früher in einer noch nie dagewesenen Menge neue Pfarrstellen errichtet. Die Rheinische Kirche hatte im Jahre 1933 etwa 800 Pfarrer. Sie hat jetzt mehr als 1500. U n d trotzdem haben wir noch nicht genug Pfarrer. Die Folge der großen Pfarrbezirke ist, daß der größte Teil der Pfarrer seine Gemeinde nicht kennenlernen kann. Wenn ich an meine Gemeinde denke, da war es überhaupt nicht möglich, zumal da ein Fünftel dieser Menschen in einigen Jahren schon wieder weggezogen war, ehe man sie kennenlernen konnte. Aber außerdem verschlingen Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht, Amtshandlungen usw. einen großen Teil der Zeit. U n d dann die Inanspruchnahme durch viele ziemlich kleine Kreise. Es ist darum auch kein Wunder, daß in solchen Großgemeinden die sogenannte Laienmitarbeit nicht zu organisieren ist. In unübersichtlichen Verhältnissen will keiner mitarbeiten. So wird in unserer überlieferten Kirche aus ursprünglichen Gemeinden eine große Verwaltungsorganisation, in der nur noch hauptamtliche Kräfte mitarbeiten können, weil es gar nicht anders geht. Auch die kirchliche Verkündigung ist infolge der industriellen Entwicklung aufgrund der naturwissenschaftlichen und technischen Leistungen in eine große Verlegenheit gekommen. Die große Verlegenheit hat angefangen in den Zeiten, als die Menschen im 18. Jahrhundert sich überzeugten: Was in der Bibel steht, stimmt mit der Naturwissenschaft nicht überein. Bis dahin hatte die Kirche daran festgehalten: Die Naturwissenschaft irrt sich, denn die Bibel hat recht. Aber dann waren die Leute allmählich so gebildet, daß sie sagten: Das kann gar nicht stimmen. Die Theologen haben zu lange daran festgehalten und gesagt: Es stimmt doch! Und dann im 18. Jahrhundert fielen sie ganz plötzlich um, sie wurden plötzlich vernunftgläubig und hatten im 19. Jahrhundert viel Mühe und N o t , das Unglück wieder gutzumachen. Aber es ist doch ganz klar, daß eines Tages die ganze Christenheit merken mußte: Was wir bisher nach der Bibel geglaubt haben, z. B. daß die Welt in sechs

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Tagen geschaffen wurde, das stimmt ja so nicht. D a kamen die Pastoren in die große Schwierigkeit, wie sie denn nun predigen sollten, zumal da sie auch selbst längst die überlieferten Uberzeugungen von der Verbalinspiration der hl. Schrift überwunden hatten. An dieser Frage hängt eigentlich unsere ganze theologische Problematik seit zwei Jahrhunderten: in welcher Weise man unterscheiden muß zwischen dem, was der Vergangenheit angehört, was wirklich preisgegeben werden kann und muß, und dem, was die Substanz des Evangeliums, der Botschaft Gottes ist und nicht preisgegeben werden darf. Dasselbe betrifft die ethischen Probleme bei der ungeheuren Wandlung der überlieferten abendländischen Moral. Es ist nun einmal so, daß die Moral einer Agrargesellschaft, auch wenn sie christlich ist, nicht dasselbe ist wie die eines Industriezeitalters. Wie stark sie sich ändert, das wird uns erst heute bewußt, wenn wir zurückschauen, was früher als moralisch galt und was heute als moralisch gilt oder nicht als moralisch galt und umgekehrt. Man könnte eine Fülle von Beispielen gebrauchen, um das deutlich zu machen. Man muß diesen Dingen mit völliger Nüchternheit ins Auge schauen, um deutlich zu erkennen, welche Aufgaben heute neu auf die Kirche zukommen. Von diesen Aufgaben möchte ich einige nennen, nachdem ich die Hauptprobleme der Kirchen im Industriezeitalter aufgezeigt habe.

II. Der Dienst der Kirche am Menschen unserer Tage Ich gehe von dem Grundgedanken aus, daß die Kirche von Gott um der Menschen willen geschaffen wurde und nicht der Mensch um der Kirche willen. Die Kirche wurde um des Menschen willen geschaffen, und ihre göttliche Sendung ist die Sendung an die Menschen in dieser Welt. Gott will sich durch sie um die Menschen kümmern, sich durch sie in besonderer Weise an sie wenden und ihnen Hilfe zuteil werden lassen, die sie auf andere Weise nicht bekommen können. Darum ist es eine bleibende und immer neu durchzuführende Aufgabe der Kirche, sich um das Verstehen des jeweils existierenden Menschen zu bemühen. Sie muß Einsichten bekommen in seine Existenz, in seine Situation. Sie muß versuchen, wie ein guter Arzt Herzschlag und Kreislauf abzuhorchen. Der Mensch des wissenschaftlich-industriellen Zeitalters ist nicht schlechter als der Mensch anderer Zeitalter. Er ist keineswegs gottloser oder unmoralischer. Aber er ist nicht derselbe. Er ist nicht derselbe, der er einmal war, denn er hat sich eine andere, eine neue Welt geschaffen. Diese Welt ist nicht mehr die der Agrarlandschaft, nicht mehr die der alten Städte, sondern sie ist die Welt der Großindustrie. Der Mensch hat damit nun auch eine neue Gesellschaft geschaffen, und die Kirche muß

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sehen, wie die Existenz des Menschen der Industriegesellschaft sich entfernt hat von dem alten Bauerntum, von der städtischen Gesellschaftsordnung früherer Jahrhunderte. Ich glaube, dies zu erkennen, gehört zu den gewichtigsten Aufgaben, mit denen es die Kirche zu tun hat. Es ist gar nicht leicht, diese Frage richtig zu beantworten, nämlich, wer dieser Mensch ist, mit dem wir es heute zu tun haben. Denn die Kirche muß dem Menschen auf seine Fragen Antwort geben. Welches sind seine Fragen? Das ist das große Problem, mit dem sich die Kirchen in der Welt abgeben. Denn die Fragen recht zu definieren, zu erkennen, ist ja nicht ganz einfach. Aber ich möchte es versuchen an ein paar Beispielen zu zeigen, welches die großen Fragen in der heutigen Welt sind, Fragen, die es mit Dingen zu tun haben, die im Evangelium von Gott angesprochen und von ihm beantwortet werden, Fragen, die immer wieder neu unter den Menschen lebendig sind. Es ist klar, daß heute die Frage die Welt bewegt: Kann es eine friedliche Welt geben, in der es keinen Krieg mehr gibt? Das heißt also: die Frage nach dem Weltfrieden ist eine Kernfrage der Menschheit unserer Zeit. Und die Menschheit fragt die Kirche: Was könnt ihr dazu tun, daß das nicht wiederkommt, was hinter uns liegt, und daß nicht noch Schlimmeres kommt? Die Kirche in Asien und Afrika und Europa ist danach gefragt, ob sie imstande ist, auf diese Frage eine wirkliche Antwort zu geben, die dazu dient, daß der Friede auf Erden gefestigt wird, an dem die Zukunft der Menschheit hängt. Die andere Frage ist die Frage der Gerechtigkeit. Welch großen Probleme liegen hier vor uns bei der riesigen Differenzierung der heutigen Welt, die den gewaltigen Unterschied erfährt zwischen der wohlhabenden und reichen abendländischen Welt und der im ganzen doch sehr armselig lebenden und unter sehr schwierigen Verhältnissen dahinsiechenden Welt in großen Gebieten Afrikas und Asiens mit all ihrem Elend, ihrer Hungersnot und ihren fehlenden Chancen für eine Zukunft im Blick auf die Erhöhung ihres Lebensstandards. Was tut die Kirche für die bessere Gerechtigkeit unter den Menschen? Oder ist ihr das gleichgültig? Dasselbe wäre über die Freiheit zu sagen. Man denke an die rasende Sehnsucht nach der Freiheit in weiten Gebieten Afrikas und Asiens bei Menschen, denen wir als die „Väter", die schon große Erfahrung in der Freiheit haben, sagen: Was ihr da denkt, das sind Träume, so geht das überhaupt nicht. Und wir möchten ihnen so gerne helfen! Aber diese herangewachsene Jugend ist inzwischen so groß geworden, daß sie sich von den Vätern nichts mehr sagen läßt. Man sagt ihnen: „Seht zu, wie ihr fertig werdet". Aber die großen Gefahren, die damit verbunden sind, Lebensgefahren für die ganze Welt, hängen eben mit der heutigen Ausbreitung unserer Zivilisation auf dem ganzen

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Erdkreis zusammen. Wir sind also Mitschuldige an dieser so rätselhaften und schwierigen Entwicklung, zu der wir noch im Grunde ja sagen müssen, da wir wissen, daß die Menschen von Gott zur Freiheit bestimmt sind. Diese Beispiele sollten hier genügen. Hinter all den Fragen im einzelnen steht letzten Endes die eine Frage der Menschen unserer Zeit in allen Bereichen der Welt: die Frage nach einem menschenwürdigen und sinnerfüllten Leben. Unter diesen Gesichtspunkten ist ihr Problem „Arbeit und Freizeit", ist ihre Frage nach allem, was sie an Besitz, Wohlstand und Freiheit haben möchten, sind ihre Wünsche doch im ganzen bestimmt. Die Menschen möchten wissen, warum sie eigentlich da sind und wozu sie da sind, was es eigentlich soll, hier auf Erden zu leben, warum man sich da rackern und abplacken muß, und ob es da nicht eine Möglichkeit gibt, daß es etwas anders würde. Das ist in der Welt das große Problem: die Menschenwürdigkeit unserer Existenz. Dazu gehören noch andere Fragen, was die Zukunft angeht, was die menschliche Solidarität in der Gemeinschaft angeht, das berühmte Thema von der sogenannten Mitmenschlichkeit, das ja zweifellos eine der großen Menschheitsfragen ist. Darum ist ja auch in der Kirche seit einigen Jahrzehnten das Thema „Sozialethik" so groß geschrieben, weil einfach hier die ganz schweren Fragen liegen, die großen Aufgaben, mit denen wir es zu tun haben und die wir in Gemeinsamkeit mit vielen Menschen aus allen Bereichen des Lebens von heute lösen möchten. Denn es liegt uns in der Tat daran, daß wir um der Botschaft willen, um des Auftrags willen, den wir haben, um des Verständnisses der Menschheit willen, an die wir uns wenden, diese Fragen erkennen und auch mitbeantworten müssen, weil nur dann, wenn wir das vermögen, auch das, was wir sagen und tun, wieder von den Menschen gehört und angenommen werden kann. Darum sei nun noch darauf hingewiesen, daß es zu den Aufgaben in der Kirche in dieser sich wandelnden Welt in besonderer Weise gehört, beispielhaft zu leben. Das heißt also, in der neuen Lage, in der sich die Kirche getrennt hat, hat trennen müssen von ihrer vollkommenen Verbundenheit mit der überlieferten Welt, wird sie um so mehr nur dann etwas sein können, wenn sie den Menschen in dieser Welt durch ihr Leben etwas sichtbar macht, was diese Menschen, die ja sehr realistisch denken und denken müssen von ihrer naturwissenschaftlich-technischen Bildung her, überzeugt. Uberzeugend kann ja nur dann eine Botschaft gesagt werden, wenn ihr auch eine Existenz entspricht. Und das würde doch bedeuten, daß die heutige Gemeinde in stärkerem Maße als bisher nach Wegen suchen müßte, wodurch sie eine beispielhafte Lebensform der Christen in ihrer Gemeinschaft vor- und mit den anderen herausfände. Dazu gehört natürlich ein ganz anderer Einsatz der Christen für

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Menschen in Armut, Hunger, Elend, Unrecht, also ein ganz anderer Einsatz für „Brot für die Welt". Es folgt aber daraus auch eine andere Notwendigkeit: das beispielhafte Leben muß sich auch in der kirchlichen Ordnung und Gestaltung zeigen, und da gäbe es eine Menge von Punkten zu erwähnen, die ich nur stichwortartig anzeigen kann: Wie gewinnen wir in der heutigen Industriewelt mit ihrer großen Siedlungsbreite echte Gemeinden, in denen wirklich etwas von einer christlichen Gemeinschaft miteinander gelebt werden kann? Wie verändern wir das gottesdienstliche Leben dieser Kirche bei dem Verschwinden des alten Sonntags? Wie führen wir die Menschen wieder zusammen außerhalb des Gottesdienstes zum gemeinsamen Reden, Essen, Spielen, Tanzen usw., was alles in die Gemeinschaft der Menschen hineingehört und was nicht aus der Kirche verbannt werden sollte und dürfte? U n d wie bekommen wir eine von Laien verantwortlich getragene Gemeindearbeit? Wie kann in Zukunft die traditionelle, vor allen Dingen protestantische Pastorenkirche überwunden werden? Dies sind einige von den Punkten, die in diesem Zusammenhang wenigstens genannt werden sollten, um deutlich zu machen, an welchen Stellen wir etwas sehen von dem, was sich ändern müßte und was in unserer Kirche dauernd in der Diskussion ist, wo wir Erwägungen anstellen, wie wir die Kirche ändern können. Aber wir sehen hier ganz deutlich, daß die Großmacht der Industriewelt doch so gewaltig ist, daß dagegen anzukommen und in ihr sich zu behaupten, gar nicht einfach ist; daß uns zum Teil noch gar nicht die richtigen Wege gezeigt sind, daß wir noch gar nicht richtig wissen, wie wir es machen sollen, und daß deswegen so viel Arbeit, die versucht wird, vergeblich geschieht, weil sie nicht auf den richtigen Wegen läuft. Aber damit hängt nun eben auch zusammen, daß die Glaubwürdigkeit der Kirche sehr stark auf dem Spiel steht. Sie war immer wieder dann glaubwürdig, wenn in bestimmten Situationen einer großen Bedrängnis eine Kirche sich widerstandskräftig zeigte. Insofern war die Kirche, waren die Evangelischen Kirchen in Deutschland oder wenigstens ein Teil von ihnen, mit einer gewissen Glaubwürdigkeit ausgestattet durch ihr mutiges Verhalten in der harten Angriffssituation durch den Nationalsozialismus. Die Glaubwürdigkeit der Kirche ist zum Beispiel deswegen im ganzen Ostraum größer, weil es dort etwas ganz anderes kostet an Risiko, sich zu behaupten als Christ und als Verkündiger der Kirche, als bei uns. Aber bei uns ist es nun tatsächlich so, daß in dieser so anonym werdenden Gesellschaft, in der die Menschen zu vereinzelten Wesen werden, die Kirche es sehr viel schwerer hat, glaubwürdig zu verkündigen und glaubwürdig zu sein. Glaubwürdiges Zeugnis zu geben, ist für die Kirche nur möglich, wenn es ihr gelingt, den Menschen deutlich zu machen, daß sie für sie da sein will, daß echte Anteilnahme

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bezeugt an den Problemen und Verlegenheiten des Menschen, daß sie sein geschichtliche Existenz bejaht, sich nicht lamentierend ins Ghetto zurückzieht und sagt: die böse verlorene Welt muß man ihrem Schicksal überlassen; im Gegenteil, sich in redlicher Bemühung um die Erfüllung des menschlichen Lebens in diesen heutigen Fragen bemüht. Allerdings kann sie das auch nur, wenn sie ihrer eigenen Sache dabei ganz gewiß ist. Zum Schluß ein paar Worte, worauf es eigentlich entscheidend für die Kirche heute ankommen muß. Die Kirche ist von Gott in die Welt gesandt, und sie ist als die Beauftragte Gottes für die Welt da. Sie ist immer in der Gefahr, diese Aufgabe zu verkehren, sich selbst zum Inhalt ihrer Aufgabe zu machen, sich auf irgendeine Weise dieser Aufgabe zu entziehen, weil es ernst ist und nicht leicht, diese Aufgabe wirklich durchzuführen. Wir sehen heute in der Kirche, daß wir in einer neuen Weise zum Anwalt der Welt werden müssen. Das heißt also, daß wir eine Öffnung zur Welt hin haben müßten, die uns noch zum großen Teil fehlt. Die Verstrickung der Kirche in ihre eigenen Probleme ist eine Gefahr, die überall und immer wieder sichtbar ist. Heute sehen wir, daß die Änderung der menschlichen Gesellschaft, der Existenz des Menschen auf dieser Welt, von der Kirche erkannt und als Aufgabe angenommen werden muß und daß sie darum ihre eigene Introvertiertheit zu überwinden hat. Die Introvertiertheit ist vielleicht das Problem, das für die Kirche von heute am schwierigsten zu bewältigen ist. Wie kann diese Nachinnengewandtheit, diese religiöse, moralische Introvertiertheit, überwunden werden? Hier ist die große Frage, an der wir arbeiten. Denn wir sind überzeugt, daß die Kirche sich den Menschen in der wirklichen Welt zuwenden muß, weil sie dazu von Gott berufen ist. Auf der anderen Seite haben wir in dieser Sicht der heutigen Lage den Eindruck, daß auch die moderne Industriegesellschaft der Gefahr erliegen könnte, daß die Ziele, die sie erreichen möchte, nicht erreicht werden. Die Ziele, mit denen die Menschen angetreten sind, durch die Technisierung der Welt sich ein besseres, leichteres, angenehmeres Leben zu verschaffen, sind durchaus zu bejahen. Die Kirche hat zwar auch manchmal in verkehrter Richtung des Denkens und Handelns gemeint, dies seien im Grunde alles schlechte und falsche Gedanken, aber wenn man schon die Bibel daraufhin ansieht, wird man sagen müssen, daß Gott dem Menschen die Erde zum Leben übergeben hat und daß die Bestrebungen, die die Menschen im Blick auf die Unterwerfung der Erde und ihrer Kräfte haben, von Gott dem Menschen aufgetragen worden sind. Aber die Gefahr ist vorhanden, und sie wird von manchen verantwortlichen Leuten in der Wirtschaft und in der Gesellschaft gesehen, daß das Massenschicksal nicht bewältigt wird, das mit dieser ungeheuren Ausdehnung der Menschheit verbunden ist, und daß die Maschinenherrschaft so groß wird, daß der Mensch nicht mehr der

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Herr seiner eigenen Werke ist, sondern daß die Werke Herr werden über ihn. Das braucht nicht im Stil des berühmten Roboters, der gelegentlich einmal vorgeführt wird, zu geschehen, der dann sozusagen die Menschen dirigiert. Schon heute ist die Herrschaft der maschinellen Entwicklung so groß, so mächtig, daß die Gefahr besteht, daß der Mensch sich seinen Maschinen unterwirft und von ihnen so beherrscht wird, daß darunter seine Menschlichkeit in steigendem Maße leidet. Bei dem Massenschicksal ist die Gefahr so groß, daß, je größer die Menschenmasse auf der Welt wird, die Vereinsamung der einzelnen um so stärker wird, und die Gefahr einer diktatorischen Beherrschung dieser Massen um so größer wird, je mächtiger die technischen Mittel des Menschen werden, seine Staaten mit einer Machtfülle auszustatten, wie die Staaten sie bisher noch nie gehabt haben. Hier liegen die großen Gefahren, bei denen die Kirche sich gefordert sieht: die Gefahren der Unmenschlichkeit, des Verfalls des Menschen in eine innere und äußere Knechtschaft hinein, aus der er nicht wieder herausfindet. Um diesem Problem wirksam zu begegnen, tut es not, daß die Kirche eine neue wirklich selbstlose Liebe zur Welt lernt und übt. Hierin sind wir alle schwach, das wissen wir. Wir sind ja selbst mit unsern eigenen Problemen noch längst nicht fertig, wir wissen noch gar nicht, wie wir es machen sollen, wir können deswegen auch so wenig tun, auch wenn wir es möchten, für Freiheit und Gerechtigkeit, für Frieden und Solidarität auf der Erde. Wir sind überzeugt, daß sich die Kirche um ihres Dienstes willen wandeln muß. Sie muß ihrer Sendung gewisser werden, und sie muß vor allen Dingen in Erkenntnis ihrer Aufgabe an der wirklichen Welt lernen, daß sie für den Menschen, den von Gott geliebten Menschen, da zu sein hat, so gewiß sie Gottes Gesandtschaft in der Welt ist.

Fragen der modernen Welt an die Kirche* Wenn wir heute das Wort „moderne Welt" gebrauchen, so ist schon darauf hingewiesen worden, daß diese moderne Welt die Welt des Industriezeitalters ist. Man wird auch hinzufügen dürfen, daß diese moderne Welt eine die ganze Erde umspannende Größe ist. Bei allen Verschiedenheiten, auf die man, wenn man in die verschiedenen Gebiete der Welt reisen kann, stoßen wird, ist doch eins deutlich, daß der uns ja nicht unbekannte große katholische Forscher Teilhard de Chardin mit Recht darauf aufmerksam gemacht hat, daß wir es mit einer „Planetarisierung der Menschheit" zu tun haben, wie er es ausdrückt, daß nämlich die ganze Menschheit in einen Zusammenhang gebracht wird, wie er bisher bei weitem noch nie so bestanden hat, daß alle Dinge, die auf der Welt irgendwo geschehen, so sind, daß sie die ganze Menschheit betreffen, daß man heute nicht mehr sagen kann, wie vor Zeiten noch: Was interessiert uns das, was in Australien oder Ostasien geschieht? Nicht nur die Tatsache ist bedeutsam, daß wir alle Nachrichten über Nacht bekommen und von heute bis morgen schon wissen, was auf der anderen Seite der Weltkugel geschieht, sondern daß alle diese Dinge heute in einem derartigen Maße in einer Verbindung unlösbar zueinander stehen, daß alles, was heute geschieht, die ganze Menschheit betrifft, daß uns also nicht gleichgültig sein kann, ob und wozu in Vietnam Krieg geführt wird oder in Kaschmir oder anderswo. Die moderne Welt ist in der Beziehung eine neue Welt gegenüber der Vergangenheit, als sie eine erdumspannende Gemeinschaft darstellt, in der Europa, Afrika, Asien, also alle herkömmlich sogenannten Kontinente zusammengehören. Die Zusammengehörigkeit geht aber über diese durch Industrie ermöglichte Gemeinsamkeit dadurch hinaus, daß tatsächlich in diesem Industriezeitalter ganz bestimmte Tatbestände sich auf der ganzen Welt gemeinsam vorfinden. Nicht nur auf europäischem, sondern auch auf afrikanischem und asiatischem Boden finden wir insofern eine verwandte Welt, als alle gemeinsam heute mit dem Problem der Bemächtigung der Welt befaßt sind, und zwar mit einer Bemächtigung der Welt mit Hilfe der menschlichen Wissenschaft und der aus ihr folgenden Technik. Die Begeisterung für die Lösung technischer Probleme ist in Asien und Afrika nicht * A u s : Z E I T S C H R I F T FÜR EVANGELISCHE ETHIK 10, 1 9 6 6 , S . 2 7 2 - 2 8 4 . -

Nachschrift

eines Vortrags auf Kreissynoden der rheinischen Kirche im November 1965 (nach einem Besuch in Indonesien).

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anders als in Europa, und über alle Gegensätze ideologischer Weltverschiedenheit hinweg ist diese Gemeinsamkeit zu beobachten, daß überall die nach vorne drängende Menschheit der Erforschung der Kräfte der Welt sich mit Leidenschaft hingibt, um damit die technischen Voraussetzungen zu schaffen, die es dem Menschen ermöglichen sollen, in einer für den Menschen vollkommeneren, besseren, angenehmeren, lebensvolleren Welt leben zu können; denn die Technik würde ja nicht diese große Bedeutung für uns haben, wenn sie nicht tatsächlich durch ihre gewaltigen Leistungen es dem Menschen ermöglichte, ein anderes Leben zu führen, als er in der Vergangenheit hat führen können. Was die Technik für eine unerhörte Bedeutung hat, erlebt man am stärksten, wenn man, wie ich das diese Tage wieder erlebt habe, von einer Südseeinsel, wie es die Insel Nias ist, jenseits von Sumatra, zurückkehrt in die europäische Welt hinein. D a kann man sehen, wie der Mensch lebt im vortechnischen Zeitalter. Wie die Vorfahren vor Jahrhunderten und Jahrtausenden gelebt haben, so lebt man dort noch heute, den Gewalten der Natur in einem ganz anderen Maße ausgesetzt, als wir das heute noch kennen, primitiv und elementar in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den lebendigen Kräften der Natur, aber auch ihnen ausgesetzt und darum im Grunde noch ganz ungeschichtlich. Dies Leben aber geht nun auch dort heute zu Ende. Auch die technischen Ereignisse dringen bis an die äußersten Enden der Erde vor. U n d überall ist ein Streben danach, ein Leben zu führen, das den Menschen über die elementare und primitive bisherige Lebensweise hinaus in ein besseres Dasein versetzt. Und wer von uns vermöchte es den Menschen übelzunehmen, wenn sie so leben wollen, wie wir auch leben? Wer möchte es den Menschen übelnehmen, daß sie herauswollen aus einer dumpfen Ungeschichtlichkeit ihrer eigenen jahrtausendealten Vergangenheit, wo sie Kräften ausgesetzt waren, denen sie nicht Herr werden konnten? Man denke an die ungeheuren Mächte der nicht zu bewältigenden Krankheiten. Dort, wo ich jetzt war, ist es noch bis zum heutigen Tage nicht gelungen, eine Krankheit, wie die Malaria, auszurotten. Es wäre ein leichtes, mit einigen hunderttausend Mark eine solche Insel von Malaria zu befreien. An dieser Stelle stehen wir schon vor einer Frage der modernen Welt an die Kirche. In einem anderen Zusammenhang werde ich darauf zurückkommen. Im Hintergrund dieser modernen Welt scheint mir, steht eine gemeinsame Uberzeugung, die sich von Europa her durchgesetzt hat, daß nämlich mit Hilfe der rationalen Wissenschaft in der Welt Unerhörtes geschafft werden kann, daß die Welt verwandelt werden kann, und zwar zugunsten des Menschen verwandelt werden kann, daß die Welt also dazu bestimmt ist, durch die Erforschung, die wissenschaftliche Arbeit, mit Hilfe der daraus folgenden Technik für den Menschen etwas Neues,

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Besseres, Größeres zu werden, als sie bisher war. N u r so ist es verständlich, wenn in den gewaltigen Gebieten Asiens heute der Drang so mächtig ist, teilzuhaben an der europäischen Zivilisation, an der europäischen Wissenschaft und an der europäischen Technik. Geschaffen ist sie allerdings in diesem europäisch-nordamerikanischen Lebensraum, und nicht ohne Grund ist sie hier entstanden im Zusammenhang mit christlichen Grundüberzeugungen über die Erde, die den Menschen anvertraut wurde, um die Welt zu erforschen und sich zu unterwerfen; denn die wissenschaftliche Arbeit, besonders die Technik, ist ja nichts anderes als der großangelegte Versuch des Menschen, sich die Welt zu unterwerfen, sich der Welt zu bemächtigen mit oder ohne ideologische Komponenten, ob im östlichen oder im westlichen Raum, wie wir zu sagen pflegen. Im Grunde geht es überall um dasselbe, um die Bemächtigung der Welt durch Erforschung und Inanspruchnahme ihrer Kräfte in technischer Vollkommenheit, um dadurch eine bessere Zukunft für die Menschheit zu schaffen. Aber diese Welt ist zugleich von heimlich oder auch offen gestellten Fragen bewegt. U n d zwar da ist sie besorgt, wo Menschen tätig sind, die an den verantwortlichen Stellen stehen. Nicht überall ist man besorgt im Blick auf die Zukunft; aber es gibt doch in allen Bereichen der Welt Menschen, die sich Gedanken darüber machen, ob es denn eine Möglichkeit gibt, die Zukunft der Welt durch diese Arbeit und Tätigkeit, an die wir alle unsere Kräfte setzen, wirklich zu bewältigen. D a steht nun eine Reihe von Fragen, die ja tatsächlich Fragen sind, die auch an die Kirche gerichtet werden. Man muß bedenken, daß für die weite nichtchristliche Welt, die ja mindestens zwei Drittel der Menschheit u m f a ß t vielleicht sogar noch etwas mehr im Laufe der nächsten Generation; denn die nichtchristliche Welt wird bei weitem wachsen gegenüber der sogenannten christlichen Welt - , eben Europa und Amerika als die christliche Welt angesehen werden. Und was von hier aus immer geschieht, steht unter dem Vorzeichen des Christentums. Unter dem Vorzeichen des Christentums entsteht die wissenschaftliche und technische Arbeit, die von hier ausgegangen ist. Für uns ist das zweierlei. Wir unterscheiden das sehr genau; aber von draußen, von der weiten Welt aus gesehen, ist das nicht zu trennen. Der weiße Mann ist eben dort schlechthin der Chirst, ganz gleich, wo er privat oder persönlich Christ ist oder nicht. Darum werden an ihn die großen Fragen gerichtet, die die Menschen im Bereiche der weiten Welt beschäftigen, die auch unsere Fragen sind, Fragen, die, meine ich, wir uns als Kirche in ganz besonderer Weise gestellt sein lassen sollten. Lassen Sie mich einige von diesen Fragen kurz erörtern. Vor nicht langer Zeit ist der Papst - für uns alle sicher überraschend - plötzlich zur U N O gereist und hat dort eine Friedensrede gehalten. Die Bedeutsamkeit dieses Schrittes ist gar nicht

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zu überschätzen. Es zeigt sich auch hier einmal wieder, mit welchem Eifer, mit welcher Intensität in Rom die großen Weltfragen wirklich gründlich und planmäßig ins Auge gefaßt werden. In der Tat, die Frage des Friedens auf Erden ist eine der größten, der leidenschaftlichsten und gewichtigsten Fragen der Menschheit von heute. Ich erinnere an einige in Deutschland gehaltene Reden wie die von Weizsäcker etwa, der gerade an diesem Punkte des Weltfriedens immer wiederholt, von welch elementarer Bedeutung die Aufgabe ist, vor die wir alle gestellt sind, einem neuen Ethos entgegenzugehen, einer Welt ohne Krieg, einer Welt, in der die Probleme, die zwischen uns bestehen, auf andere Weise gelöst werden, als sie herkömmlich gelöst worden sind. Ist es zu verwundern, wenn die Welt an die Kirche die Grage richtet, ob sie einen Weg zum Frieden auf Erden weiß? Aber, diese große Frage ist ja nun auch eine Frage in der Kirche, eine Frage, die weder vom Papst noch von einer evangelischen Kirchensynode, noch von irgend jemand anders innerhalb der Christenheit so beantwortet worden ist, daß sie eine schlechthin eindeutige Beantwortung hat finden können. In Wirklichkeit muß man, das ist ein schmerzlicher Tatbestand, an dieser Frage sehen, in welchem eigentümlichen Konflikt sich die Christenheit auf Erden befindet, eben diesem merkwürdigen Konflikt, daß sie zwar den Frieden verkündigen kann, daß sie den Menschen heute etwas zu sagen weiß von dem, was eigentlich sein müßte, daß sie aber auch selbst nicht dazu imstande ist, in ihrer eigenen Mitte unter ihren eigenen Völkern Frieden zu halten. Dies ist der Konflikt, der dazu beiträgt, daß die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft in der weiten Welt umstritten ist und es in dieser Frage zu dem Vorwurf kommt: Was redet ihr von Dingen, die ihr selbst nicht bewältigen könnt. Eine ernste, schmerzliche und schwierige Frage, die einem auf dem weiten Weltrund immer wieder gestellt wird, daß der Friede auf Erden offenbar auch von den Christen und von den Kirchen nicht bewältigt werden kann. Und doch wissen wir ganz genau, daß wir mit der ganzen Welt zusammen vor der Notwendigkeit ihrer Lösung stehen. Der Papst hat das ja in eindrucksvoller Weise gesagt, daß dieser Friede von uns allen mit Hilfe einer neuen Weltgemeinschaft der Völker geschaffen werden muß. Diese Frage ist an uns gerichtet, eine Frage, die unsere Synoden, unsere Kirche, die Kirchen der Ökumene angeht. Was können wir als Antwort auf die Frage der Welt nach dem Frieden auf Erden geben? Welchen Weg vermögen wir zu zeigen? Ich glaube, daß es einen Weg dazu gibt, daß dieser Weg entschlossen beschritten werden muß, daß alle Kirchen Grund haben, in derselben Richtung, wie es der Papst von Rom jetzt getan hat, weiter zu marschieren, nämlich das Zeugnis von dem von Gott gebotenen Frieden und von dem von den Menschen zu gehenden Weg mit Energie und dauernder Wiederholung auszurichten, damit der Weg in die Zukunft ein Weg ist, auf dem

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Menschen miteinander leben können. Wir wissen alle, daß es im heutigen Zeitalter, dem Industriezeitalter, keinen anderen Weg des Überlebens geben wird als den Weg einer Welt ohne Krieg. Die zweite Frage der Welt ist ebenso heftig umstritten. Es ist die große Frage nach der Gerechtigkeit. Wer die tiefen Verschiedenheiten zwischen den Bereichen der heutigen Welt vor Augen hat, dem wird die Frage nach der Gerechtigkeit noch viel größer, als sie schon zwischen uns in vergangenen Jahrhunderten je und je gewesen ist. Es ist bestürzend, dem Tatbestand sich gegenüberzusehen, daß die christliche Welt, die zwanzig bis dreißig Prozent der Menschheit umfaßt, die reiche Welt ist und daß die nichtchristliche Welt, aufs Ganze gesehen, die arme Welt ist. Die nichtchristliche Welt, die achtzig Prozent, das ist die Welt, in der die große Mehrheit der Menschen in einer unendlichen Armut leben muß. Ihnen fehlen die notwendigen Dinge, und sie strecken die Hände nach der christlichen Welt, um von ihr Hilfe zu empfangen, um einen Lebensstandard zu erlangen, der es ihnen ermöglicht, auch so zu leben, wie wir leben. Die ungelöste Frage nach der Gerechtigkeit ist die große Frage, die im Grunde dazu beigetragen hat, daß es möglich wurde, daß sich der Kommunismus, der in den verschiedenen Bereichen der Welt etwas Verschiedenes darstellt, so hat ausbreiten können. Der Ruf nach Gerechtigkeit, nach Gleichheit und Gemeinsamkeit des Menschen im Gegensatz zu dem gewaltigen Spannungsverhältnis zwischen den wenigen Uberreichen und den großen Massen der Allzuarmen ist es gewesen, der es hat möglich werden lassen, daß ein so gewaltiger Teil der Welt heute unter der Vorherrschaft des Kommunismus steht und daß es große Gebiete der Welt heute noch gibt, die dieser Frage so ausgesetzt sind, daß es wahrscheinlich ist, daß hieraus eines Tages noch viel größere revolutionäre Umwälzungen erwachsen werden. Es ist mir in Indonesien aufs neue deutlich geworden, wie diese Frage der Armut, der übermäßigen Armut neben dem übermäßigen Reichtum eine leidenschaftliche Frage ist nach der Gerechtigkeit unter den Menschen, nach der Gerechtigkeit der Verteilung der auf der Welt vorhandenen Kräfte, Güter und Möglichkeiten. Ungerechte Verhältnisse, Verhältnisse, in denen die Menschen aus ihrem Elend nicht herauskommen können, sind es, die an die Kirche die Frage richten, was wir zu tun vermögen in Worten und Taten, daß diese leidenschaftliche Frage eines Großteils der Menschheit eine bessere christlichere Antwort findet als bisher. Die dritte Frage der Welt, von ebenso großer Leidenschaft wie die beiden ersten, ist eine ganz andere; aber auch eine ebenso wichtige. Es ist die Frage nach der Freiheit des Menschen zu seiner eigenen Lebensgestaltung. Die Uberwindung jeder Art von Sklaverei gehört zu den Dingen, die die heutige Welt gemeinsam, überall in allen Bereichen der Welt zu beantworten sucht. Die Uberwindung jeder Art von Sklaverei,

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von Unfreiheit und Unselbständigkeit, von politischen, geistigen, religiösen Abhängigkeiten. Die Frage nach der Freiheit ist eine der großen Fragen unserer Zeit. Nicht umsonst sind es gerade die sogenannten jungen Völker, die jetzt zur Selbständigkeit gekommen sind, die mit einer besonderen Intensität um die Fragen ringen, die Freiheit haben möchten, eine Selbständigkeit, eine Unabhängigkeit von ihren bisherigen Herren. Wir wissen, daß die große Geschichte der europäischamerikanischen Welt im vorigen Jahrhundert auf der einen Seite mit ihren gewaltigen, positiven Leistungen auch jene negative Wirkung gehabt hat, daß eine zu große Anzahl von Völkern unter europäischer Vorherrschaft gelebt haben. Das heißt, das Zeitalter des Kolonialismus hat in der Welt einen Gegendruck erzeugt, einen gewaltigen Gegendruck, der sich heute in starkem Maße überall zeigt, der sich darin für uns unerfreulich bemerkbar macht, daß er eine anti-europäisch-amerikanische Spitze hat und daß sich die verschiedensten Völker und Gruppen in der sogenannten farbigen Welt immer dann zusammenfinden, wenn es gemeinsam gegen die überlieferte Herrschaft der Weißen geht. Darum sind Kolonialismus oder Neokolonialismus Worte, die man in Indonesien zum Beispiel alle Tage lesen kann: Der große Kampf der farbigen Welt gegenüber immer neuen Versuchen der reichen und mächtigen Völker, sie zu unterwerfen, auf welche Weise auch immer, ist der Inhalt ihres politischen Lebens. Man kann natürlich die Frage stellen, wie es mit der Ideologie dieser Freiheit in Wahrheit bestellt ist. Aber die Kirche sollte doch eigentlich tiefer sehen, als die Menschen zu sehen vermögen, denn sie weiß ja um die wahre Freiheit, zu der Gott den Menschen berufen hat. Sie weiß deswegen auch darum, daß Gott den Menschen dazu bestimmt hat, nicht in einer Versklavung unter politischen, geistigen oder auch religiösen Mächten zu leben, sondern frei zu sein zu einer selbständigen Gestaltung seines Lebens. Darum ist im Grunde diese Frage nach der Freiheit des Menschen eine Frage an die Kirche, was sie dazu beitragen kann, um den Menschen zu der Freiheit zu verhelfen, ja zu jener schlichten menschlichen Freiheit, die es den Menschen ermöglicht, in Selbständigkeit und Unabhängigkeit von politischen und anderen Mächten so zu leben, wie Gott die Menschen auf dieser Welt zu leben bestimmt hat. Die vierte hier noch zu nennende Frage scheint mir die zu sein, die uns ja in der ganzen industriellen Welt durch alle Landschaften hindurch besonders bewegt: es ist die Frage nach der menschlichen Verbundenheit oder, wie wir herkömmlich zu sagen pflegen, die Frage nach der menschlichen Gemeinschaft. Die sogenannten natürlichen Ordnungen, wie wir sie bisher meistens nannten, sind ja in einer merkwürdigen, auf der ganzen Welt sichtbar werdenden Auflösung begriffen. Das gibt viele Gedanken und Erwägungen, ja Verwirrungen. Man weiß nicht, was das

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bedeutet. Man versucht, es moralisch zu verstehen, aber das Problem ist doch gar nicht mit moralischen Erörterungen zu lösen, denn die von uns selbst so geschaffenen Großwerke der menschlichen Vernunft, die damit zusammenhängende Wandlung der menschlichen Gesellschaft in der uns ja vor Augen stehenden Industriewelt bringen mit sich, daß die Ordnungen des vorindustriellen Zeitalters erschüttert werden. Die überlieferte Ethik erfährt eine Erschütterung, weil man bisher gemeint hat, daß die Ethik der uns überlieferten Geschichte die Ethik schlechthin sei. Man hat sie sogar mit der christlichen Ethik in eine solch enge Verbindung gebracht, daß man sie auch für die christliche Ethik hielt. Heute wird deutlich, daß christliche Ethik, christliche Erkenntnisse von Gottes Gebot und das, was vom Christentum in seinen Gesellschaftsordnungen je und je als Ethik aufgefaßt worden ist, nicht schlechthin identisch ist und auch nicht identifiziert werden kann. Bedenken wir, daß das Industriezeitalter für die Menschen ein anderes Verhältnis zur Natur, zu ihrer eigenen Vergangenheit und zu ihrer Zukunft und zu dem neben ihnen stehenden Mitmenschen zur Folge hat. Die Menschen wachsen ganz anders zusammen zu Interessengemeinschaften, auf der anderen Seite wachsen sie auseinander durch eine Vereinsamung innerhalb der großindustriellen Räume, in denen es die herkömmliche gesellschaftliche Ordnung nicht mehr gibt. Die Atomisierung der Familienzusammenhänge in den großen Räumen der Industrie zeigt sich in Indonesien, in Südafrika, oder wo immer, genauso wie bei uns, nur daß dort die Dinge stürmischer vor sich gehen, weil eben die Menschen oft zweitausend Jahre überspringen müssen, um aus der Vorzeit gleichsam hineinzusteigen in ein Zeitalter, in dem es technische Wunderwerke gibt. Hier entsteht die neue Frage nach dem Zusammenleben der Menschen in neuen Ordnungen. Was soll in diesen Ordnungen, die wiederkommen werden, ja am Kommen sind, maßgebend sein? Die ganzen Auseinandersetzungen der letzten Jahre, hier in Deutschland zum Beispiel, sind nur eine Widerspiegelung dieses merkwürdigen Tatbestandes, mit dem wir in gar keiner Weise fertig geworden sind, und in der übrigen Welt ist es genauso. Die religiöse Welt des alten Heidentums geht in afrikanischen wie in asiatischen Räumen bedingungslos dem Ende entgegen, auf der einen Seite durch die Macht des Kommunismus, vor allen Dingen aber auch durch die Gewalt der Industriegesellschaft; denn diese Menschen werden aus ihren alten Naturreligionen völlig entwurzelt und stehen jetzt vor der Frage, die die einzige, große, letzte Frage ist, ob sie dem modernen atheistischen Kommunismus verfallen oder ob sie doch noch Christen werden können. Das ist eine der größten Weltfragen, die einem draußen überall begegnet, weil die Rückkehr zu den alten Religionen nirgendwo möglich ist. Deswegen sind ja auch die alten Religionen dabei, um ihre Existenz zu rechtfertigen, sich zu modernisieren und

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dabei eine Menge von christlichen Bestandteilen aufzunehmen. Interessant ist es, zu beobachten, welche eigentümliche Art von Christianisierung der Religionen vor sich geht. So kann man es auch bezeichnen, daß innerhalb des noch vorhandenen Heidentums, innerhalb des Hinduismus und des Buddhismus usw. eine Menge von christlichen Bestandteilen aufgenommen wird, weil sie den Eindruck haben, die überlieferte Religiosität ist so stark mit einer vergangenen Gesellschaft und Weltordnung verbunden, daß sie den Menschen des Industriezeitalters nicht mehr anspricht. In der Tat, die große Frage ist die Frage nach dem Zusammenleben der Menschen im Industriezeitalter, nach einer neuen Gemeinschaft, und diese Frage zu beantworten, scheint mir in der Tat eine Aufgabe der Kirche zu sein; denn wer sollte diese Frage besser beantworten können als die Kirche, die sich als Gemeinde versteht, die auf die große Antwort aus ist, daß auch in einer modernen Massengesellschaft Menschen zusammengerufen werden zur Ecclesia, zu dem Aufgebot Gottes in einer Gemeinsamkeit auf dem Boden gemeinsamen Glaubens, einer gemeinsamen Zukunft. Damit stehe ich bei der Frage, die im Hintergrund dieser Probleme natürlich die gemeinsame große Frage ist, die Frage nach der Zukunft des Menschen angesichts des großen Gegensatzes der Farbigen und der Nichtfarbigen, oder der Weißen, wie man zu sagen pflegt, angesichts des immer noch gewaltig wachsenden Hungers und Elends auf der Welt und angesichts der stürmisch anwachsenden Bevölkerung dieser Erde auf sechs bis sieben Milliarden am Ende dieses Jahrhunderts. Diesen Fragen versuchen verantwortliche Kräfte, etwa in der U N O , U N E S C O und anderswo, nach Kräften zu begegnen, sie zu beantworten; aber es sind Fragen, die offenbar so groß, so gewaltig, so stürmisch und so schwierig sind, daß die bisherigen Antworten alle versagen und man noch gar keine Antwort auf diese Fragen weiß. Die Frage des Hungers ist eine überaus ernstzunehmende Frage im Blick auf die nächste Generation; denn das Wachstum der Menschheit steht in keinem Verhältnis zum Wachstum der Produktion im Bereich der Landwirtschaft. Darum ist das Problem der menschlichen Ernährung eines der wichtigsten Weltprobleme überhaupt, was die Zukunft angeht, der wir entgegengehen. Schon jetzt müssen allzuviel Menschen Hungers sterben, schon jetzt müssen allzuviel Menschen ihr Leben lang unterernährt leben und darum der Krankheit und einem frühen Tod verfallen. Millionen und aber Millionen von Menschen sind es, die täglich neu hinzukommen und dem Elend verfallen. Wer in den gewaltigen asiatischen Räumen einmal das menschliche Elend von Millionen gesehen hat, kann von dieser Frage nicht wieder loskommen. Dabei ist die Welt der Gegensätze von arm und reich, derer, die im Besitz der großen Macht sind, der gewaltigen technischen und auch der großen militärischen Mächte, und auf der

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anderen Seite der großen armen Reiche, die darauf angewiesen sind, vor den Türen zu stehen als die armen Lazarusse, zugleich die Welt der Gegensätze zwischen farbig und weiß und deswegen von einer ungeheuren tiefen Geladenheit, einer gefährlichen Wucht im Blick auf die Zukunft, der wir entgegengehen. Man muß nur einmal sehen, welche tiefen Probleme allein diese Rassenfrage nicht nur in Südafrika, sondern ebenfalls in Nordamerika aufwirft. Wir dürfen noch von Glück sprechen, daß wir diese Frage noch nicht in Mitteleuropa gestellt bekommen haben; aber wo sie gestellt wird und wo sie lebendig wird, da zeigt sie auch ihre große menschheitsbedrohende Gefahr. Die Frage ist, hat die Kirche nicht eine Antwort darauf zu geben? Die katholische Kirche weiß auf die Rassenfrage eine ganz klare Antwort. Sie weiß etwas von der Einheit des Menschengeschlechtes in Berufung zur einen Kirche. Leider haben die Protestanten in dieser Sache bis heute versagt. Für sie scheinen die Rassenprobleme im Bereiche der Welt so zu liegen, daß man nicht daran denken darf, rassische Verschiedenheiten aufzuheben oder sie nicht als letzte Gegebenheiten ernst zu nehmen. Dabei müßte man auch als evangelische Christen über sie hinaus auf die Zukunft einer großen, alle Rassen umspannenden Kirche aus sein. Es ist charakteristisch, daß in den Bereichen der Welt, in denen der Katholizismus dominiert, die Rassenfrage eine untergeordnete Rolle spielt. Anders aber ist es bei den Gebieten, in denen protestantische Kirchen dominieren. Das zeigt sich nicht nur in Nordamerika. Das zeigt sich in Südafrika und auch anderswo. Ein schmerzlicher Tatbestand, der uns um so mehr vor die Aufgabe stellt, rechtzeitig die Dinge zu bedenken, die uns durch die Tatsache der verschiedenen Hautfarbe und der verschiedenartigen Existenzweise menschlicher Rassen als Kirche gegeben sind im Blick auf eine Zukunft, in der die Getrenntheit der Rassen immer mehr einer Vermischung weichen wird, weil es, wie sich heute schon zeigt, nicht mehr möglich sein wird, im Industriezeitalter die Menschheit, wie sie durch Jahrtausende getrennt gelebt hat, in verschiedenen Gruppen voneinander geschieden leben zu lassen. Die Mischung der Religionen, die Mischung der Rassen, die Mischung der verschiedenen Gruppen und Völker wird immer stärker zunehmen eben gerade in der modernen Welt, der wir entgegengehen. Diese Welt ist nun moralisch erschüttert durch Tatbestände, wie ich sie aufgezeigt habe, sie ist erschüttert, weil sie vor Fragen steht, die sie beunruhigen, auf die sie keine Antwort hat. Die Versuche der Menschen, durch sogenannte Ideologien oder Weltanschauungen und die Rückkehr in alte Religionen diese Fragen zu beantworten, scheinen mir in unserer Welt unglaubwürdig zu sein. Letzten Endes zeigt sich ja, daß es nicht Ideologien sind, die etwa in China oder auch in Rußland die eigentliche Macht und Kraft darstellen, sondern die leidenschaftlichen 19

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Versuche, die Fragen der Menschheit in eigene Hand zu nehmen und zu beantworten. Für große Bereiche der Welt ist eben der sogenannte Kommunismus eine Antwort auf ihre Frage nach einer wahren Gemeinschaft der Menschen, in der es Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit und eine gerechte Verteilung der vorhandenen Mittel und Kräfte gibt. Diese Vorstellungen sind es, die einen so großen Teil der Welt begeistert fragen lassen nach der Möglichkeit einer kommunistischen Gesellschaftsordnung, denn es ist klar, auch in Indonesien zum Beispiel ist dieser Kommunismus weder russisch noch im Grunde chinesisch. Von beiden versteht man im allgemeinen nicht viel, aber eins will man, man möchte eine gerechte Verteilung der Mittel und der Kräfte, eine Gemeinsamkeit, eine Ubereinstimmung in Gerechtigkeit. Dies alles bewegt die Kreise der Menschen, weil die Kirche immer wieder zu schwach war oder versagte in der Antwort, die sie vielleicht hätte geben können, anstatt rückwärts gewandt zu schauen, nach vorwärts zu sehen, um die großen Fragen der Menschen zu erkennen und ihnen mit ihrer Antwort nach Kräften zu begegnen. Wenn wir das, was wie bis jetzt gesagt haben, rückwärts betrachten, kommen wir zu der Erkenntnis: der Mensch von heute in allen Bereichen der Welt wird aufs stärkste von einer großen Frage bewegt, von der Frage nach dem Sinn seiner menschlichen Existenz. Das Leben auf der Welt ist stärker als je bedroht. U m so mehr meint man, daß es eigentlich doch darauf ankäme, der Menschheit ein Leben zu schenken, das des Menschen würdig wäre, ein menschliches Leben, für das zu arbeiten und einzusetzen sich lohnt. Innerhalb der großen Zahl der sogenannten jungen Völker in den jungen Staaten, die heute am Werke sind, sieht man ganz deutlich, wie sich die verantwortungsbewußten Kräfte darum bemühen, den Menschen dazu zu verhelfen, einen Einsatz zu wagen für ein besseres Leben, ein Leben, das den Menschen von den bisherigen primitiven Gegebenheiten auf einen höheren Lebensstandard versetzt, einen Lebensstandard, der uns allen selbstverständlich ist. Wir sind gefragt, was wir dazu tun können, tun sollen, denn auch für die Kirche sind diese elementaren Fragen des menschlichen Lebens von größter Wichtigkeit. Ich will's an einem Beispiel kurz verdeutlichen. Eine Kirche, die so arm ist, daß sie nicht imstande ist, sich selbst zu erhalten, leidet darunter, sie wird sogar demoralisiert. Man kann das in Indonesien an den dortigen armen Kirchen genau studieren. Ich habe auch anderswo diesen Eindruck gewonnen, im afrikanischen Raum auch. Die Demoralisierung durch die Armut ist etwas ganz Elementares. Man kann es auch Korruption nennen. Ich nenne es Demoralisierung, die daher kommt, daß die Menschen, mit ganz wenigen Ausnahmen, im Grunde das Existenzminimum nicht haben. Wenn man darunter sinkt, dann ist es enorm schwer, sagen wir es, nicht zu stehlen und sich nicht

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auf irgendeine unrechte Weise zu den Lebensbedürfnissen zu verhelfen, die man nötig hat. Nun muß man bedenken, daß der große Teil, etwa Indonesien, nicht das Minimum an Existenzmitteln hat, die er eigentlich braucht. Deswegen sind viele natürlich geneigt, auf irgendwelchen unrechten Wegen zu verfahren, ich erinnere an gewisse Zeiten der Inflation, in denen es manches bei uns auch gegeben hat, was jetzt durch die Entwicklung wieder hinter uns liegt. Wenn man weiß, daß das Geld immer weniger wert wird und daß die Gehälter nirgendwo ausreichen, daß es nicht möglich ist, von dem bißchen, was man an Geld in die Hand bekommt, bis zum nächsten Monatsersten durchzukommen, dann weiß man, in welcher Situation sich eine Kirche befindet, die nicht imstande ist, ihren Pastoren auch nur ein Minimum an Existenzmitteln darzureichen. Es zeigt sich, daß auch für eine Kirche eine ordentliche, menschliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wesentlich ist, daß die Kirche nicht dadurch glücklich wird, daß sie so arm ist, daß sie keinen Menschen mehr in ihrer Mitte für den Dienst am Wort freistellen kann, weil die Menschen nur noch von heute auf morgen von der einzigen Sorge bewegt sind, wie kriegen wir zu essen? Wie kommen wir durch? An diesem Punkte zeigt sich, welche elementare Verpflichtung für die Kirche darin besteht, sich auch um diese Fragen zu kümmern. Also auch um die Frage des elementaren menschlichen Lebens, einer menschenwürdigen Existenz, die über dem Minimum liegt, das ein großer Teil der Welt von heute noch nicht einmal erreicht. Haben wir als Kirche auf diese Frage eine Antwort? Haben wir uns, können wir sogar fragen, um diese Fragen überhaupt schon Mühe gemacht, ihnen zu begegnen oder Antwort darauf zu suchen? Gewiß, wir können sagen, wir haben uns um eine Reihe von Fragen wirklich Mühe gegeben. Ich denke an die Bemühungen um die Frage des Friedens in den letzten zwei Jahrzehnten. Gewiß, wir haben uns in unserer Kirche auch um moderne Fragen gemüht. Ich denke an die Sozialarbeit. Alles, was wir angefangen haben, zeigt ja, daß wir uns diesen Fragen neu zu stellen begonnen haben. Aber wenn man sieht, was innerhalb des ökumenischen Raumes, aber auch in der katholischen Kirche an Antworten versucht ist, zeigt sich doch, daß unsere Verlegenheit zu einer guten Antwort nicht gering ist. Die katholische Kirche bemüht sich in den letzten Enzykliken der Päpste und in ihrem ökumenischen Konzil, die großen Fragen der Menschheit in Angriff zu nehmen. Denken wir an die großen Diskussionen über Religionsfreiheit, die begonnen haben, wo man ein Thema zu bearbeiten versucht, was für die katholische Kirche in besonderer Weise schwierig war. Denken wir an die Enzyklika des Papstes: Pacem in terris, Friede auf Erden, und das Wort des Papstes in New York. Denken wir an die Enzyklika Mater et magistra, die große Frage der sozialen Gestalt der Welt, die Frage der Gerechtigkeit, der Industriewelt mit ihren neuen

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Aufgaben. Denken wir auf der anderen Seite in der evangelischen Kirche an eine Reihe von Versuchen, an Denkschriften, die hier einen Anfang gemacht haben. Sie zeigen aber auch wiederum, wieweit wir erst diesen Fragen gewachsen sind, wie groß die Verlegenheiten sind, wie groß unsere eigenen inneren Differenzen sind, wie groß die Verlegenheiten sind, wie groß unsere eigenen inneren Differenzen sind, zu einer Antwort, die wir zu geben versuchen, zu kommen. Wie schwer das ist, zeigt jeder Versuch innerhalb der evangelischen Kirche, aber auch innerhalb des Konzils, in bestimmten Fragen, die die Welt angehen, zu gemeinsamen Antworten zu kommen. Die ganze Diskussion, die um das große Thema „Die Kirche und die moderne Welt" auch auf dem Konzil in letzter Zeit geführt wurde, zeigt ja, welche tiefen Gegensätze innerhalb der Christenheit da sind, wie also hier noch kein gemeinsames Ethos die christliche Uberzeugung von der Aufgabe der Kirche in der modernen Industriewelt trägt. Es wäre darum gut, wenn wir uns zunächst einmal angesichts dieser schweren Fragen mit der Welt in eine gewisse Solidarität der Verlegenheit begeben würden; denn wir sollten ruhig sagen, daß wir an vielen Stellen keine Antwort wissen, daß wir auch in großer Verlegenheit sind und daß wir diese Fragen als eine uns betreffende Not empfinden. Eine ganze Reihe von Menschen etwa im pazifischen Raum glauben, die Weißen, die Christen, haben die großen Antworten auf ihre Probleme, aber sie verraten sie ihnen nicht. Es ist eine merkwürdige Situation, daß sie der Meinung sind, die Weißen haben uns zwar das Evangelium gebracht, sie haben uns zwar zur Kirche gemacht, aber, wie man gesund und reich und besitzend wird, das verraten sie uns nicht. Auch Leute, die man nach Europa schickt, um dort zu sehen, wie man das macht, kommen zurück und sagen, sie wissen es auch nicht; denn das ist das Geheimnis, das die Weißen nicht verraten. Diese seltsame Meinung, die verbreitet ist im ganzen ostasiatischen Raum, zeigt nur darauf hin, welchen Eindruck es macht, eine reiche, besitzende, mächtige Welt und ein Teil daran zu sein gegenüber einer armen, einer in Verlegenheiten, in Sorgen und Not befindlichen Welt. Darum, sage ich, wäre eine Solidarität notwendig, eine Solidarität, die sich daran macht, wirklich mit den armen, mit den in Verlegenheit befindlichen Menschen in der weiten Welt übereinzukommen. Vielleicht ist das eine der wichtigsten Aufgaben innerhalb der ganzen missionarischen Tätigkeit, die heute in der Welt geschieht. Die missionarische Tätigkeit, die von Europäern auf dem asiatischen oder afrikanischen Kontinent geschieht, muß in stärkstem Maße diesen Weltfragen zugewandt sein. Die da arbeiten, müssen genau erkennen, von welch elementarer Bedeutung es ist, den Menschen zu einem neuen irdischen Leben zu verhelfen, zu einem Leben, in dem dann auch die Kirchen existieren können, in dem Gemeinden und Häuser und Einrichtungen der Kirche zu Stand und

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Wesen kommen. Darum ist die ökumenische Diakonie eine der wichtigsten kirchlichen Großaufgaben unserer Zeit. Zum Schluß möchte ich nun ein paar Bemerkungen machen, in welcher Richtung vielleicht die Antworten zu suchen seien; mehr wüßte ich auch nicht zu sagen. Die erste Antwort würde heißen: Von entscheidender Bedeutung wird es sein, daß wir in der Kirche glaubwürdig reden, wahrhaftig, bescheiden, nicht lauter ungedeckte Schecks ausstellen, hinter denen nichts steht, keine wirkliche Kraft und Vollmacht, so daß die Menschen das Wort, das wir ihnen sagen, annehmen können als das Wort, das es sein möchte, das Wort der Wahrheit. Das ist eine der großen Aufgaben, mit denen wir uns heute in der Verkündigung, im Unterricht, in der Theologie, in allen Kirchen herumzuschlagen haben. Nicht ohne Grund ist die theologische Diskussion letzten Endes eine Diskussion um diese Kernfrage der biblischen Botschaft im Blick auf die heutige Welt. In welcher Weise ist die Botschaft für eine Gesellschaft, für eine Industriegesellschaft nun so neu zu sagen, so glaubwürdig, so wahrhaftig, so recht zu sagen, daß sie hier gehört wird nicht als ein Wort aus einer längst vergangenen Zeit, einer vergangenen vorindustriellen Welt, sondern als ein lebendiges, heute ergehendes Wort, das den Menschen in seiner wirklichen Existenz anspricht und trifft. Dies ist die große N o t und Schwierigkeit, mit der alle Kirchen in der ganzen Welt, welche Konfessionen sie auch sein mögen, zu tun haben. O b in Amerika oder Ostasien, überall steht dieses Problem vor der Christenheit, wenn man sich dieser Frage stellt. Das zweite: Ebenso gewiß wird es notwendig sein, daß wir es lernen, als Gemeinden Jesu Christi beispielhaft in der Welt zu leben. Das heißt heute: weltumspannend, ökumenisch leben als eine Gemeinde, die mit allen Gemeinden in der Welt in Jesus Christus sich als eine gemeinsame Christenheit versteht. Daß wir alle daran zu lernen haben, was das bedeutet, ökumenisch zu leben, das ist außer aller Frage. Welche Probleme sich dadurch stellen, daß die katholische Kirche anfängt, überhaupt die Fenster zu den anderen Kirchen zu öffnen und nach ihnen zu fragen, das zeigen die Dokumente dieses Konzils, und es ist vielleicht auf diesem Konzil das wirklich Vorwärtsweisende, das hier versucht wird, Wege zu finden zu den christlichen Brüdern oder, wie man dort sagt, zu den getrennten Brüdern. Allerdings, eine gewaltige Aufgabe, die uns im Grunde nicht viel leichter fallen wird. Denn auch wir haben zu lernen, was es heißt, als Gemeinde Jesu Christi auch in Spannungen, auch in Konflikten mit anderen Gemeinden zu leben. Beispielhaft leben, würde auch vor allen Dingen bedeuten, daß wir es lernen, in der menschlichen Gemeinschaft von heute gegenüber den Ideologien, den rassischen und anderen die Menschheit spaltenden und trennenden

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Gegensätzen immer wieder Verbundenheit herzustellen, also in Konkreto, in solchen Konflikten wie Vietnam als christliche Kirche auf beiden Seiten zu stehen und auch nach beiden Seiten um eins zu ringen, daß Friede gewährt wird, daß Gemeinschaft sich wiederherstellen kann, damit das, was die Menschen gegeneinander aufgebracht hat, aus der Welt geschafft wird. Ein weiteres Beispiel ist die große Rassenfrage, die die ganze Welt durchzieht. Sie ist eine der wichtigsten Fragen, auf die die Kirche eine echte Antwort finden muß in einem beispielhaften Leben, einer Gemeinschaft, die keinerlei Rassendiskriminierung mehr zuläßt. Und das dritte: Da Gott die Kirchen mit so viel Reichtum gesegnet hat, da die Kirchen Christi in den Gebieten der Welt besonders stark sind, in denen es die großen Mächte, die Großindustrie, die Reichtümer, gibt, sind wir aufgerufen zur Hilfe gegenüber den armen, den hungernden, gegenüber all den Menschen, die das nicht haben, was Gott ihnen zugedacht hat. Aus diesem Grunde, ich sagte eben schon, ist ökumenische Diakonie, aber nicht nur sie, sondern wahre Entwicklungshilfe mit aller Macht zu bejahen. Natürlich sind hier Probleme besonderer Art. Sie hängen einfach damit zusammen, daß europäische und asiatische Vorstellungen über eine Menge von Dingen nicht einfach übereinstimmen, aber helfen kann man nur, wenn man sich mit dem, dem man helfen möchte, solidarisch macht, wenn man an seine Seite tritt, wenn man ihn zu verstehen sucht. Dazu braucht es nicht großer Milliardenspenden, sondern dazu braucht es einer wirklichen Liebe; und was hier in den Missionskirchen aller Konfessionen geschieht, ist bewundernswert. Es ist bewundernswert, was hier für ein Einsatz, für eine Hilfe im einzelnen, ob auf Nias oder Indonesien oder in Südafrika oder sonstwo geschieht. Was ich dort gesehen habe, zeigt mir, daß es eine Fülle von Menschen gibt, von der Liebe Christi getrieben, die hier kraftvoll helfen, dem Hunger, der Krankheit, dem Elend entgegentreten, ihr ganzes Leben einsetzen. Es gibt noch viel mehr Leute als der berühmte Albert Schweitzer, viele andere Albert Schweitzer, die kein Mensch kennt. Ich habe sie gesehen am Rande des Dschungels, in der Wüste und sonstwo. Diese kräftige Hilfe, die hier getan wird, muß ausgebreitet werden. Wir müssen allen unseren reichen Leuten sagen, ihr müßt noch viel mehr tun, als ihr bisher getan habt. Wir sind ja alle so mächtig, so reich, so stark, aber diese Menschen sind so arm, so hungrig, so elend. Wir müssen ihnen helfen, von ihren großen Krankheitsnöten freizukommen. Wir können es. Wir müssen bloß konkret ansetzen, wo uns Gott gerufen hat. Schließlich der vierte Satz: Es bedarf eines wahren Einsatzes für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Die Resignation ist die größte Gefahr unseres Zeitalters in Europa, wie mir scheint, die Resignation, daß man sagt, wir schaffen es doch nicht, es hat doch alles keinen

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Zweck. Laßt uns sehen, wie wir fertig werden, die anderen müssen auch sehen, wie sie fertig werden. Es wäre verhängnisvoll, wenn Christen einer Resignation verfielen. Wir hätten gerade allen Grund, allen Menschen der Welt, die Verantwortung tragen, den politisch und militärisch und wirtschaftlich Kräftigen in den Ohren zu liegen, für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zu sorgen. Hierfür gilt es allerdings auch als Kirche in echter Weise einen geistlichen Kampf auszukämpfen; denn hier geht es um die menschenwürdige Existenz unter uns allen, um die Zukunft, die Gott uns zugedacht hat, als er den Menschen schuf, mit dem Menschen in Gerechtigkeit und Freiheit und Frieden zu leben. Die Schwachheit unserer Kirche steht uns vor Augen. Wir wissen alle, wie wenig wir imstande sind, die großen Fragen, die auf uns zukommen, so zu beantworten, daß daraus etwas Entscheidendes für die Welt wird. Die christliche Kirche ist in der Tat eine Minderheit in der Welt. Aber sie ist auch eine Minderheit, die von Gott mit Kräften ausgestattet ist wenn sie nur eingesetzt würden! Das Wichtigste, wenn ich recht sehe, müßte darin bestehen, daß wir eine gewisse Art von kirchlicher Introvertiertheit, der wir allzuleicht verfallen, überwinden, und wir aus einer Betreuungsgemeinschaft zu einer Gemeinschaft werden, die aktiv wird in die Welt hinein. Man sagt heute „missionarisch und diakonisch". Man kann auch sagen: die in einer opferbereiten Liebe bereit ist, für die gefährdete Menschheit, die in einer großen Gefahr der Unmenschlichkeit schwebt, sich einzusetzen. Dies ist die große Aufgabe der Kirche in der heutigen Welt, und wenn dazu unsere Gemeinden in unserem Lande etwas beitrügen, hätten wir einen Teil der Sendung der Kirche in die Welt von heute erfüllt.

Die Aufgabe der Christenheit an Israel heute"' Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Freunde! Was ich hier sagen kann, ist eigentlich noch kein Referat; so weit ist das alles noch nicht gediehen. Wenn wir uns dem Thema überhaupt stellen wollen, wie es hier formuliert heißt: „Die Aufgabe der Christenheit an Israel heute", dann wird dies erst am Ende einer erwas längeren Erörterung stehen können, und zwar deswegen, weil man die Aufgabe, mit der wir es heute zu tun haben, erst dann verstehen kann, wenn man eine gewisse Rückschau hält auf einige Geschehnisse, von denen wir herkommen. In dem schönen Buch „Der ungekündigte Bund", eine der wichtigsten Veröffentlichungen, die im Zusammenhang der Kirchentage je herausgekommen sind (Kreuz-Verlag, Stuttgart), steht eine sehr instruktive Darstellung, die ganz besonders lesenswert ist, nämlich unter dem Thema „Versuch theologischer Wiedergutmachung" (Renate Maria Heydenreich, Berlin). Ich wollte darauf hinweisen, weil es mir heute gar nicht möglich ist, auf alle Probleme einzugehen, die über mich gekommen sind beim Bedenken dieses Themas.

I. Zunächst möchte ich zur Information derer, die hier sind, und von denen ich vermute, daß die meisten keine Theologiegeschichte kennen, etwas sagen über jene geheimnisvolle und unbegreifliche Geschichte, vor der wir stehen, eine Geschichte, die uns noch in den 20er Jahren, als wir Kirchengeschichte gelernt haben, im Grunde verschwiegen worden ist, nämlich die Geschichte vom Zusammenleben oder Nichtzusammenlebenkönnen der Kirche mit Israel; immerhin durch neunzehnhundert Jahre Kirchengeschichte! In der Kirchengeschichte, die uns vorgetragen worden ist, kommt das Judentum und das Juden-Christentum im Anfang vor. In der Folgezeit ist die Geschichte der Kirche mit Israel vergessen. Natürlich meistenteils deswegen, weil die Taten, besser gesagt: die Untaten der Christen an den Juden so grauenvoll sind, daß man sie gar nicht beschreiben möchte. * NES AMMIM. Zeichen für die Völker. Sonderdruck Nr. 1 (1966). - Vortrag auf der Mitgliederversammlung Nes Ammim am 25. November 1966 in Mülheim/Ruhr.

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Einige dieser Untaten sind in viel späteren Zeiten von Leuten, die sozusagen als Außenseiter Geschichte geschrieben haben, aus der Geschichte der Kirche ans Licht gebracht worden, z. B. die Judenverfolgungen im Mittelalter. Diese Greuel wurden theologisch begründet, und zwar auf Grund einer Fehlinterpretation des Neuen Testamentes. Bemerkenswerterweise hat gerade die kirchliche Interpretation des Neuen Testamentes, natürlich des Alten eingeschlossen, dazu geführt, daß durch Jahrhunderte hindurch bestimmte Thesen in der Kirche gegolten haben, z. B. die These von der Verwerfung Israels, obwohl im Römerbrief gerade das Gegenteil steht, aber dieser Text wurde durch andere Bemerkungen, die wiederum mißverstanden waren, sozusagen ausgeräumt. Dies spielt im Laufe der Geschichte eine gewaltige Rolle. Man denke auch an die bekannte Folgerung aus einem Text des Neuen Testamentes und zwar im Johannes-Evangelium. Hier hat erst in neuer Zeit die formgeschichtliche Exegese richtig herausgefunden, daß mit dem Stichwort „Juden" jemand ganz anderes gemeint war, nämlich gar nicht die historischen Juden, sondern unter diesem Namen in der eigentümlichen Rückblende, die Johannes vollzieht, „die Welt", die „ungläubige Welt". Jenes Mißverständnis hat verheerend gewirkt in der christlichen Theologie, indem man der Uberzeugung sein mußte, daß gerade Johannes ein ausgesprochener Antisemit war, der er gar nicht gewesen ist. Seine Sprachweise ist zu späteren Zeiten völlig mißverstanden worden, und zwar bis in unser Jahrhundert hinein. Erst die moderne historisch-kritische Schriftdeutung ist es gewesen, die uns hier theologisch einen neuen Einblick in die Bibel verschafft hat, in die Wahrheit der Heiligen Schrift. Es ist z. B. kein Wunder, daß, als im Anfang des „Dritten Reiches" über den Arier-Paragraphen zwei Gutachten erstattet worden sind, das eine Gutachten von Bultmann ausgesprochen christlich war, neutestamentlich, während das Gutachten der Erlanger ausgesprochen antisemitisch und unneutestamentlich war. Gegen die orthodoxen Thesen, auf die man sich bis heute beruft, hat seinerseits Bultmann protestiert im Namen des Neuen Testamentes. Ein frappanter Tatbestand, der darauf hinweist, daß in der Tat die christliche Orthodoxie durch Jahrhunderte hindurch in dieser Sache in Deutschland auf alle Fälle radikal versagte. Auf Grund einer Tradition allerdings, die auf die frühe römische Kirche zurückgeht. Ich vermute, daß gewisse antisemitische Einflüsse in Rom eine Rolle gespielt haben. Mein Eindruck von einer Reihe von Dokumenten der römischen Kirchengeschichte ist, daß ein unchristlicher Antisemitismus christliche Gestalten noch mehr profiliert antisemitisch gemacht hat. Darüber kann die Geschichte des Antisemitismus ein eigentümliches Zeugnis ablegen. Die Wendung im Verständnis dieser Probleme ist

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eigentlich in der Theologie erst im zwanzigsten Jahrhundert eingetreten. Es gibt zwar einige Einsichten im neunzehnten Jahrhundert, die neue Erkenntnisse anzeigen, und auch schon im achtzehnten Jahrhundert beginnt es, etwas anders zu werden, nachdem die alte orthodoxe Schriftüberzeugung zerbrochen war. Der alte, ursprüngliche Pietismus hat auch einige gute Einflüsse gehabt, aber sie waren nicht genug theologisch begründet. So muß man wohl sagen, daß erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, kurz vor dem „Dritten Reich", durch die theologische Arbeit Karl Barths eine neue Entdeckung in dieser Frage möglich geworden ist, denn jetzt erst wurde die kirchliche Uberlieferung radikal in Frage gestellt. Diese Tradition sagte, Israel habe durch die Kreuzigung Jesu den Anspruch verloren, das Volk Gottes zu sein, und das neue Volk Gottes sei die Kirche. Auf dieses neue Israel sind alle Verheißungen übergegangen. Diese Thesenreihe wurde durchweg vertreten und aus ihr die Folgerungen für das Verhältnis zum Judentum gezogen. Freilich, die radikalen Folgerungen aus dieser Theologie haben letztlich erst die Nationalsozialisten gezogen. Das kann man auch schon bei den Deutschen Christen sehen, die zwar nicht den Judenmord selbst betrieben, aber der Ansicht waren: Wenn der Staat die Juden beseitigt, ist das seine Sache. Wenn er es als seine Aufgabe betrachtet, kann er es mit Recht tun. Die Kirche dürfe ihm dabei nicht in den Arm fallen. Es gibt in dieser ganzen Geschichte der Kirche bis in die Zeiten von Karl Barth hinein, bei dem zum ersten Male von einem Theologen von Rang das Verhältnis von Kirche und Israel völlig anders gesehen worden ist, innerhalb der Theologie bis heute ein unerschütterliches Mißverständnis des Verhältnisses der Kirche zu Israel. Es ist eine Tradition, die leider auch in den Schriften Luthers eine entscheidende Rolle spielt, etwa die These über die Alleinschuld Israels an der Kreuzigung Christi oder die andere These, daß durch die Verwerfung des ihnen gesandten Messias nun das Reich Gottes einem anderen Volk gegeben worden wäre, und dieses andere Volk sei das Volk der Christen, die Kirche. Diese These führt ja dazu zu sagen, die Rolle Israels sei ausgespielt. Und dann kommen die Sätze, die man dann in sehr guten christlichen Darbietungen finden kann, daß eben das ganze Schicksal Israels bis zum heutigen Tage ein Zeichen dafür ist, daß Gott es verworfen hat um der Kreuzigung Jesu willen. Noch im „Dritten Reich" haben christliche Theologen gesagt, daß die Judenverfolgung letzten Endes der Vollzug des Gottesgerichtes sei. Übrigens hat es auch Adolf Hitler selbst gesagt. Lesen Sie „Mein Kampf". Da steht an einer berühmten Stelle: „Indem ich mich des Juden erwehre, vollziehe ich das Werk des Herrn." Es wird heute vergessen, daß dies Wort einer der wichtigsten Sätze aus dem

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ganzen Buch ist. Es ist ja ein schauderhaftes Buch, aber diese Ausführungen sind von ganz großem Gewicht, und sie zeigen letzten Grundes, wo er herkommt, nämlich aus der christlichen Tradition des Antisemitismus. Der Katholizismus des Mittelalters ist stark antisemitisch gewesen, das läßt sich nicht leugnen, und der Protestantismus hat nachgezogen, er hat sich davon nicht getrennt. Er hat, ohne daß das immer zu Verfolgungen geführt hat, immerhin gesagt: Hier ist Gottes Gericht vollzogen, der Jude in der Diaspora hat im Grunde kein Lebensrecht. Wir dulden ihn zwar, wir müssen ihn sogar unter Umständen gebrauchen, aber er kann niemals mit uns gleichberechtigt werden. Der einzige Weg zur Gleichberechtigung ist die Taufe. Und wie seltsam und rätselhaft hier noch argumentiert wird, zeigt Ihnen das Erlanger Gutachten von 1933, in dem jener unglaubliche Satz steht: „Freilich, bei getauften Juden kann es sogar dazu kommen, daß sie gute Deutsche werden." „Die Taufe hat diese Wirkung", meint der Verfasser, ein deutscher Theologe, der einen großen Namen gehabt hat. Immerhin, zu solchen rätselhaften Dingen ist eine Theologie gekommen, die die Heilige Schrift an entscheidenden Stellen nicht hat verstehen können. Als wir noch bei den Alten lernten, den Römerbrief zu studieren, da galt es von Römer 9-11, das sei das klassische Kapitel über die Prädestination. Daß diese Kapitel ein ganz anderes Thema behandeln, ist eigentlich erst in der jüngsten Zeit ans Licht gekommen. Es ist merkwürdig, wie eine Behauptung durch Jahrhunderte hindurchgeht, zumal auch der große Martin Luther dieses Kapitel ja in Anspruch genommen hat für seinen Kampf gegen Erasmus. Die Hauptargumentation gegen Erasmus kommt nämlich aus Römer 9-11, und seitdem ist es natürlich klar für die protestantische Theologie, Römer 9-11 ist sozusagen die klassische Prädestinationslehre der Bibel. Aber gerade hier, in den bekannten Sätzen aus Römer 9, auf die ich besonders aufmerksam machen möchte, sagt Paulus ja eindeutig, was er von Israel hält, wie er es versteht. Und dann kommt der berühmte Satz in Römer 11: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Nein, das sei ferne." Dieses Wort des Paulus zeigt, daß die kirchliche These von der Verwerfung Israels nicht dem Neuen Testament entspricht. II. Seit den zwanziger Jahren haben wir exegetisch und auch dogmatisch angefangen zu lernen, ganz neu über das Verhältnis von Israel und der Kirche nachzudenken. Dies hat uns in der Bekennenden Kirche Möglichkeiten gegeben, neu zu sprechen, so wie das eine ganze Reihe von uns damals getan hat; z. B. auf der einen Seite Hans Ehrenberg oder

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Heinrich Vogel, aber auch Rudolf Bultmann, wobei natürlich Karl Barth und seine Schule hier eine besonders große Rolle gespielt haben. Wir haben ja im Laufe des Kirchenkampfes von 1933 an gegenüber den Deutschen Christen und ihren Lehren einer ganzen Reihe von Stellen widersprechen können, widersprechen müssen; für sie zu ihrer großen Überraschung, denn das hatten sie nun gar nicht erwartet, daß an dieser Stelle von uns widersprochen werden würde. Und sie konnten nicht verstehen, wieso wir zu so ganz anderen Überzeugungen kamen. Wenn man z. B. die deutschchristlichen „28 Thesen der Sächsischen Volkskirche zum Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche" vom 10. Dezember 1933 liest, da muß man sagen, was hier im großen und ganzen drinsteht, ist die bis dahin weit verbreitete Überzeugung der protestantischen Christenheit, ja überhaupt der Christenheit gewesen. Hier kommen nun Rassenakzente noch hinzu, aber das kann man sogar überhören: „Wir erkennen im Alten Testament den Abfall der Juden von Gott und darin ihre Sünde. Diese Sünde wird vor aller Welt offenbar in der Kreuzigung Jesu. Von daher lastet der Fluch Gottes auf diesem Volke bis zum heutigen Tage." Bei der großen Zahl evangelischer Pfarrer war das immer so gelehrt worden. Ebenfalls, was hier zum Ausdruck gebracht wird über das Alte Testament, daß es nicht den gleichen Wert wie das Neue Testament habe. Die spezifisch jüdische Volksreligion sei nun überwunden. Wichtig bleibt das Alte Testament, weil es die Geschichte und den Verfall eines Volkes überliefert, das trotz Gottes Offenbarung sich immer wieder von ihm trennte. Die gottgebundenen Propheten zeigen an diesem Volke uns allen: „Die Stellung einer Nation zu Gott ist entscheidend für ihr Schicksal in der Geschichte." So wird das Alte Testament gesehen, und das war durchaus allgemeine Überzeugung über den Sinn des Alten Testaments in den Thesen, die hier aufgestellt wurden. In ihnen stand z. B. auch der Satz: „Der Streit, ob Jesus Jude oder Arier war, erreicht das Wesen Jesu überhaupt nicht, Jesus ist nicht Träger menschlicher Art, sondern enthüllt uns in seiner Person Gottes Art." Wenn man so formulierte, sprach man eine radikale Irrlehre aus. Man war aber der Überzeugung, daß gerade dieses die Wahrheit war, die man zum Ausdruck bringen wollte. Ich habe damals geschrieben: „Der Streit, ob Jesus Jude oder Arier war, ist nach der Schrift entschieden. Es ist daher von einer Kirche, die auf dem Boden der Schrift steht, zu erklären, daß Jesus als Jude geboren und nach dem Fleisch ein Sohn Davids ist. Für eine in der Schrift begründete Theologie ist die Geburt des Christus als Glied dieses auserwählten Volkes eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit. Wer meint, an dieser Frage vorbeigehen zu können, steht nicht auf dem Boden der Heiligen Schrift." Das war eine von den Antithesen, die damals von uns formuliert wurden. Wenn man jetzt diese Sätze liest, dann sieht man, wie uns von unserem

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damaligen Lehrer Karl Barth her deutlich geworden ist, wie eigentlich das Alte und Neue Testament ausgelegt werden müßten, gerade im Blick auf diese Frage. So wird man sagen können, daß seit jenen Tagen der Theologie Karl Barths, aber auch seit den Tagen der Neuerforschung der Heiligen Schrift in einer wirklich geschichtlichen Methode ganz neu erkannt worden ist, was die Schrift wirklich sagt. Wir haben damals den Kampf dieser Jahre wirklich mit dieser Theologie zu kämpfen versucht, so schwer es uns auch geworden ist, uns in allen diesen Sätzen ganz und gar im Gegensatz zu der herrschenden Überzeugung, und zwar nicht nur des Staates, sondern der Mehrheit der Christenheit in Deutschland, zu stellen. Das letzte Dokument, an dem man das noch einmal zeigen kann, ist jene im Jahre 1939 verfaßte „Godesberger Erklärung" der Nationalsozialistischen Deutschen Christen und die Versuche des damaligen Kirchenministers, die Bischöfe der Kirche zur Anerkennung der Erklärung zu bringen. Die Erörterung der Versuche, um die sich die Bischöfe bemüht haben, die Erklärung durch Abschwächungen des ursprünglichen Textes für sie tragbar zu machen, sind überaus interessant. Aber man sieht ganz deutlich, daß sie letzten Endes hier auf einem abschüssigen Weg waren. Wir haben am 13. April 1939 für eine Konferenz der Landesbruderräte eine Stellungnahme hierzu vollzogen, und zwar zu dem Satz der Godesberger Erklärung: „Der christliche Glaube ist der unüberbrückbare religiöse Gegensatz zum Judentum." Dieser Satz wurde von den meisten deutschen Bischöfen unterschrieben. Wir sagten dagegen: „Es hat Gott gefallen, Israel zum Träger und Werkzeug der göttlichen Offenbarung zu machen. Das wird dadurch nicht aufgehoben, daß die Juden selbst ihrer göttlichen Bestimmung untreu geworden sind. Die Kirche als das wahre Israel (das war damals auch unsere Meinung) ist Erbe der Verheißung, die dem Volke Israel gegeben wurde. Der christliche Glaube steht in einem unüberbrückbaren religiösen Gegensatz zum Judaismus. Dieser Judaismus lebt aber nicht nur im Judentum, sondern ebenso in allen nationalkirchlichen Bestrebungen." Das war also eine theologische Formulierung, in der wir uns bemüht haben, in dieser schwierigen Frage theologisch wahre Sätze zu sagen. Freilich müssen wir rückschauend sagen, daß hier noch nicht alles klar und deutlich genug geworden ist. Aber man sieht hieran, wie etwas ganz Neues auf den Plan tritt, etwas, das einige Jahre vorher so noch nicht möglich gewesen wäre. Die neue theologische Stellung, die hier langsam aufgekommen ist, entstammt den großen furchtbaren Kämpfen der Jahre 1933-1945, in denen wir eigentlich mehr gelernt und auch mehr Ergebnisse gewonnen haben, als ganze Generationen vor uns haben erreichen können.

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Deswegen ist es dann ja auch dazu gekommen, daß nach dem 2. Weltkrieg die EKD zum erstenmal in ihrer Geschichte ein Wort zu der uns bewegenden Frage gesagt hat. Dieses Wort ist gar nicht lang, und es ist ganz instruktiv, daß die meisten Menschen in Deutschland es wohl nie gehört haben, denn es ist nicht weit verbreitet worden. Auf der Synode in Berlin-Weißensee am 27. April 1950 wurde diese Erklärung im Zusammenhang eines Friedenswortes der Evangelischen Kirche erlassen und gegen einige Widerstände durchgesetzt, wobei einer von den Synodalen sagte, dieses Schuldbekenntnis könne von Israel dazu mißbraucht werden, um Geld von uns zu fordern. Darum wäre es gut, es nicht zu sagen. So konnte geredet werden! Aber dieser Einwand wurde von Lothar Kreyssig wirklich in einer großartigen Weise beantwortet. Der Text dieses Wortes lautet in seinem ersten Teil: „Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf daß er sich aller erbarme (Römer 11,32). Wir glauben an den Herrn und Heiland, der als Mensch aus dem Volk Israel stammt. Wir bekennen uns zu der Kirche, die aus Judenchristen und Heidenchristen zu einem Leib zusammengefügt ist und deren Friede Jesus Christus ist. Wir glauben, daß Gottes Verheißung über den von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist." Dies ist ein entscheidender neuer Satz, der in einer kirchlichen Lehräußerung bisher so noch nicht vorgekommen ist. Ich meine, es ist einer der wichtigsten und bedeutsamsten Sätze, herausgewachsen aus der Erkenntnis dessen, die uns Karl Barth in seiner Auslegung des Römerbriefes vermittelt hat. Ich zitiere deshalb an dieser Stelle aus einem der großen Bände, Band 11,2 - es ist der wichtigste theologische Abschnitt, § 34 „Die Erwählung der Gemeinde." Was hier steht, ist ja in diesem ganzen Paragraphen nichts anderes als ein Satz unter der Auslegung von Römer 9-11. Eine großartige Sache - muß ich schon sagen - ist das ganze Kapitel, ich lese nur den einen Satz vor, der dem, was wir 1950 gesagt haben, vorangegangen ist, obwohl wir das 1950 so im einzelnen noch nicht gewußt haben, denn die meisten hatten diese Bände noch nicht gelesen. Sie waren ja im Ausland erschienen, und wir kannten sie noch nicht. Wir hatten zwar einige Dokumente unter der Hand erhalten, z. B. die Auslegung von Römer 9-11, dies war aber ein ganz tief geheimnisvolles Opus, es war geradezu lebensgefährlich, so etwas zu besitzen. Barth schreibt: „Die Gnadenwahl ist als Erwählung Jesu Christi zugleich die ewige Erwählung der einen Gemeinde Gottes, durch deren Existenz Jesus Christus der ganzen Welt bezeugt, die ganze Welt zum Glauben an Jesus Christus aufgerufen werden soll. Diese eine Gemeinde Gottes hat in ihrer Gestalt als Israel der Darstellung des göttlichen Gerichtes, in ihrer Gestalt als Kirche der Darstellung göttlichen Erbarmens zu dienen. Sie ist in ihrer Gestalt als Israel zum Hören,

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in ihrer Gestalt als Kirche zum Glauben der an den Menschen ergangenen Verheißung bestimmt. Es ist der einen erwählten Gemeinde Gottes dort ihre vergehende, hier ihre kommende Gestalt begegnet." Interessant ist diese gewagte Formulierung, inweifern Israel und die Kirche unlöslich zusammengehören. Diese Erkenntnis gehört zu den bedeutsamsten Erkenntnissen der Theologie unserer Tage, sie ist eine ganz junge Erkenntnis. Man hat bisher im äußersten Fall versucht, sich einer Antwort zu enthalten oder hat die Bemerkungen des Paulus Römer 9-11 als das einzige, was hier zu sagen wäre, wiederholt. Aber was hier von Karl Barth eindringlich dargeboten wird, inwiefern Kirche und Israel nur zusammenleben können, beide aufeinander angewiesen sind, und zwar weil Gott es so gefügt hat, ist schlechterdings neu. Paulus freilich sagte schon, daß gerade das Nichtannehmen des Messias durch die Juden um der Kirche der Heiden willen geschah, d. h. also, daß das, was hier Israel widerfahren ist, daß sie den Messias nicht angenommen haben, dazu dient, daß die heidnische Welt gepredigt bekommt, daß der wahre Gott der Gott Israels ist und daß Jesus sie befreit und erlöst hat. Was Barth hier ausführt, ist gegenüber der vergangenen Geschichte wie ine unerhörte Häresie, denn so ist noch nie gesprochen worden, und es gibt ja zahlreiche Leute, die diesem gegenüber behaupten, daß es theologisch durchaus nicht vertretbar sei, die gerade an diesem Punkte Karl Barth widersprechen und der Uberzeugung sind, daß doch nach dem Neuen Testament eigentlich anders geurteilt werden müßte, daß man zwar nicht vom Fluch Gottes und dem Gericht Gottes und der Verwerfung Israels sprechen müßte, sondern von dem Faktum, daß mit der Kreuzigung Jesu die Sendung Israels am Ende ist. So heißt die Formulierung nicht, weil Israel allein schuldig daran wäre, sondern weil Israels Geschichte als Volk Gottes hier zu Ende ging und jetzt das neue Volk Gottes begann. Das Volk Gottes ist dann das an den Gekreuzigten glaubende Volk des Messias Jesus. Darum, weil das so ist, ist das Volk Israel als das bisherige Volk nun überholt, überholt faktisch durch die Kirche. Hier versucht Karl Barth in einer sehr ausführlichen Darbietung gerade anhand der Römerbrief-Auslegung in Römer 9-11 Satz für Satz auszusagen, wie eben Israel und die Kirche die zwei zueinander gehörenden Gestalten der einen Gemeinde Gottes sind. Ich muß sagen, ich habe mich schon durch lange Zeit hindurch davon überzeugt, daß diese Ausführungen, wie sie hier Karl Barth in seiner Wese gebracht hat, dem, was im Neuen Testament gesagt wird, am nächsten kommt, vor allem dem, was Paulus gesagt hat. Es gibt für mich keine Gestalt im Neuen Testament, die Wesentlicheres zu diesem Problem gesagt hat. Kaum einer hat sich mit dieser Frage auch innerlich so herumgeschlagen. Wer hat das je so getan, wie er es getan hat? Wir glauben also, was Römer 9 geschrieben steht, daß Gottes Verheißung

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über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist. Das Wort der Synode fährt fort: „Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist." Hier hat die Evangelische Kirche in Deutschland über die Schulderklärung von 1945 hinaus 1950 eine Erklärung der Mitschuld eben an diesem Frevel zum Ausdruck gebracht. Wir lesen in ihr weiter: „Wir warnen alle Christen, das, was über uns Deutsche als Gericht Gottes gekommen ist, aufrechnen zu wollen gegen das, was wir an den Juden getan haben, denn im Gericht sucht Gottes Gnade den Bußfertigen." Ein sehr gewichtiger und bleibend bedeutsamer Satz, ein Satz, der gerade heute angesichts der Notgemeinschaft christlicher Deutscher noch einmal gründlich wiederholt werden müßte. „Wir bitten alle Christen, sich von jedem Antisemitismus loszusagen und ihm, wo er sich neu regt, mit Ernst zu widerstehen und den Juden und Judenchristen in brüderlichem Geist zu begegnen. Wir bitten den Gott der Barmherzigkeit, daß er den Tag der Vollendung heraufführe, an dem wir mit dem geretteten Israel den Sieg Jesu Christi rühmen werden." Das bezieht sich auf den letzten Satz des Paulus, aus dem ja auch die Uberschrift stammt, Römer 11,32. Diesem Wort sind noch andere gefolgt. Ich erinnere nur an eine Erklärung der Berlin-Brandenburgischen Synode von 1960, die auch ein ganz ausgezeichnetes Wort ist. Das Wort wiederholt die Erklärung von Weißensee und fährt dann fort: „Wir müssen heute bekennen, daß wir diesen Verpflichtungen nur unzureichend nachgekommen sind. Wir sind vor allem schuldig geworden an der Jugend, der gegenüber wir es an der nötigen Belehrung und dem verpflichtenden Zeugnis haben fehlen lassen. Daher ist es nicht zu verwundern, daß der Ungeist auch in Kreisen der Jugendlichen sich immer wieder aufs neue breitmacht. Demgegenüber müssen wir es uns erneut klarmachen und es bezeugen: der immer wieder durchbrechende Judenhaß ist offenkundige Gottlosigkeit. Darum erarbeitet euch die biblische Erkenntnis, daß unsere Rettung von der Erwählung Israels nicht zu trennen ist. Macht Gebrauch von den Hilfsmitteln, die euch zur Verfügung gestellt werden, damit ihr in der Predigt, in gemeinsamer Arbeit der Gemeindegruppen und in der Unterweisung der jungen Menschen Gottes Willen mit Israel erkennt. Darum brecht als Eltern und Erzieher das weitverbreitete peinliche Schweigen in unserem Land über unsere Mitverantwortung am Schicksal der Juden und wiedersteht dem, daß die junge Generation zur Judenfeindschaft verführt wird. Darum sucht die Begegnung mit den überlebenden jüdischen Mitbürgern, solange sie unter uns wohnen wollen, und zeigt euch dankbar dafür, daß wir um Jesu willen ihre Brüder und Schwestern sind."

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III. Von hier aus ergibt sich natürlich dann die Frage, was ist denn eigentlich jetzt die Aufgabe der Kirche? Bisher war ganz klar, daß man Judenmission treiben müsse, denn im Grunde gibt es keinen Unterschied zwischen der jüdischen Religion und irgendeiner anderen „heidnischen" Religion. Die Juden müssen bekehrt werden, sie müssen die Predigt von Christus bekommen, sie müssen sich dazu bekennen. Wenn sie auch von ihrer Geschichte her dem Christentum näherstehen als andere, so gilt das doch nichts, es ist daran nichts zu ändern: Mission ist Mission und gilt für alle in gleicher Weise. Von dieser Argumentation her, die dann nach jeder Seite theologisch unterbaut worden ist in der Geschichte der Kirche, gibt es dann natürlich die Judenmission nur als eine besondere Aufgabe der Heidenmission, wenn man sie auch aus taktischen Gründen voneinander trennt und hier eine besondere Aufgabe zu sehen überzeugt ist. Ganz anders sieht sich das an, wenn die Sätze ernst genommen werden, die wir eben gehört haben, und wenn wir also auch ernst nehmen, was im Römerbrief 9-11 steht. Wenn wir das ernst nehmen, dann müssen wir uns fragen, worin dann eigentlich unsere Aufgabe besteht. Darüber hat man sich in neuerer Zeit zum erstenmal Gedanken gemacht. Allerdings ist man in dieser Frage noch steckengeblieben. Wie weit man steckengeblieben ist, das zeigt eine ganze Reihe von Dokumenten auf. Ich denke dabei auch an unsere, die wir selbst noch verfaßt haben. Wir sind noch nicht durch alles hindurchgekommen, weil so viel neu umzulernen war. Mir ist das am stärksten zum Bewußtsein gekommen nach dem 2. Weltkrieg im ökumenischen Bereich. Hier hat man sich ja auch mit diesen Problemen beschäftigt, und zwar in der Weltkirchenkonferenz Amsterdam 1948 zum ersten Mal expressis verbis über „Wir Christen und die Juden." Wir lesen hier eine ausführliche Darbeitung über den Auftrag der Kirche, das Evangelium allen Menschen zu predigen. Auch Römer 9-11 taucht auf, dann die nicht zu überwindenden Schranken, dann das christliche Zeugnis für das jüdische Volk und „Empfehlungen". Bei diesen Empfehlungen ist ganz charakteristisch, daß das eine wie das andere gesagt wird: Die Kirchen möchten ihren Mitgliedern Mut machen, sich um brüderlichen Kontakt mit ihren jüdischen Nächsten, um ihr brüderliches Verständnis und um Zusammenarbeit mit Organen zu bemühen, die den Kampf gegen Mißverstehen und Vorurteile führen. Und: Wir möchten bei der Missionsarbeit unter den Juden aufs peinlichste jede Art von unwürdigem Druck und Beeinflussung vermeiden. Aber zum Schluß heißt es, der Rat möge darüber sorgfältig nachdenken, um diese ganze Frage zu fördern. Als wir das zweite Mal zusammen waren nach dem 2. Weltkrieg in Evanston, war ich Zeuge einer spannen20

Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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den Situation auf der Weltkonferenz. Es war das einzige Mal, wo es eine Revolte gab aus dem Plenum heraus. Das kam durch einen Satz in einem Bericht, der angenommen werden sollte, und zwar über Israel. D a gab es die ersten Widersprüche der arabischen Christen. Sie sagten: Nein, Israel, der N a m e darf gar nicht genannt werden, das ist der Staat Israel. U n d dann kam eine Reihe von anderen Leuten, die sagten, man solle doch mit der Judenmission aufhören. D a fand sich ein Kreis zusammen von über 30 Leuten aus allen Bereichen der Welt, der verfaßte eine Erklärung, und zwar wiederum nach Römer 9-11: „Wir glauben auch, daß Gott Israel erwählt hat, um seinen Heilsplan auszuführen. Jesus Christus ist als Mensch ein Jude. Die Kirche Christi ist erbaut auf dem Grunde der Apostel und Propheten, die alle Juden waren. Ein Glied der Kirche Christi zu sein, bedeutet daher, mit den Juden zusammengeschlossen zu sein in unserer einen unteilbaren Hoffnung auf Jesus Christus. Jesus, der Messias Israels, wurde angenommen von den Heiden, aber verworfen von seinem Volk, Gott jedoch ist so gnädig und mächtig, daß er selbst durch die Kreuzigung seines Sohnes die Rettung der Heiden bewirkte. O b wir uns daran ärgern oder nicht; wir sind eingepfropft in den alten Baum Israel, so daß das Volk des Neuen Bundes und des Alten Bundes nicht voneinander loskommen."

Diese Deklaration zeigt einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem, was bei den Delegierten zunächst, als das Thema zur Sprache kam, gemeint war: Der Glaube, der Bestandteil unserer einen Hoffnung für Juden und Heiden und Christen ist. Unsere Hoffnung auf den Sieg Christi schließ in Christus unsere Hoffnung für Israel und den Sieg über sein eigenes Volk ein. Diese Texte zeigen, welche Wendung inzwischen eingetreten ist. A m deutlichsten finde ich immer noch das, was bisher das Beste ist, was von einer Kirche hierüber gesagt wurde, nämlich was die Holländer erklärt haben. „Israel und die Kirche" ist die von der Generalsynode der Niederländisch-Reformierten Kirche zusammengestellte Studie aus dem Jahre 1959, in deutsch zum erstenmal 1961 erschienen. Hier finden sich Auswirkungen der Barthschen Theologie. Gerade dieser Kreis der Christenheit, der mehr reformiert bestimmt gewesen ist, hat es leichter gehabt als die Lutheraner. Warum, das ist eine Frage, die noch einer besonderen Erörterung bedarf, auf die ich nicht eingehen möchte. Zweifellos sind in dieser schönen Darbietung ganz ausgezeichnete Sätze zu finden, bei denen auch klar ist, was jetzt geschehen soll. Denn was geschehen soll, wird hier ausgesprochen unter der Parole „nicht Judenmission, sondern Gespräch mit Israel." Das ist eine Formulierung, in der die Kirche zum erstenmal nebeneinander stellt: „Heidenmission" und „Gespräch mit Israel." Es ist klar,

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daß in dem Gespräch mit Israel das zu bezeugen ist, was der Christ im Blick auf seine Erkenntnis der Bibel als Altes und Neues Testament zu bezeugen hat; aber entscheidend ist, daß hier etwas anderes getan werden muß als in der Heidenmission. Für mich ist eine Sache durchschlagend über alle anderen Gründe hinweg. Die Situation, in der Paulus missioniert hat, als er zuerst in die Synagoge gegangen ist und dann zu den Heiden, obwohl er selbst sich ja ganz ausgesprochenermaßen als Heidenapostel angesehen hat, wie man aus seinen Briefen deutlich ersehen kann, war grundanders als in den folgenden Generationen. Die Geschichte der Kirche nach diesen Tagen des Paulus war so antijüdisch auf ganze gesehen, daß nur dadurch, daß die Kirche eine grundlegende Wendung vollzieht, das Evangelium überhaupt wieder für Israel glaubwürdig werden kann. Denn das, was sie von Jesus sagt, wird ihr deswegen so schwer auszusprechen, weil alles, was sie sagen kann, mit dem, was sie getan hat, in tiefstem Widerspruch steht. Ihre eigene Geschichte zeigt ihr ihre Unbarmherzigkeit, ihr Nein zu Israel in einer vollkommen unchristlichen Weise. Alles dies, das Versagen gegenüber dem, was in der Heiligen Schrift beider Testamente ausgesprochen wird, ja sogar bis dahin, daß man der Uberzeugung gewesen ist, daß man von einem Christen- und von einem Judengott sprechen konnte, macht klar, daß die Kirche angesichts ihrer Schuld, daß sie in ihrem Verhalten zu den Juden sich so unchristlich betätigt hat, einen anderen Weg zu einem Gespräch mit Israel suchen muß als die Wege, die sie bisher unter dem Stichwort „Judenmission" unternommen hat. Es ist für mich gar nicht überraschend, daß im Laufe dieser Geschichte der letzten Jahrhunderte diese Missionsversuche an Israel im großen und ganzen gescheitert sind. Sie sind letzten Endes an der Unglaubwürdigkeit der Botschaft gescheitert, weil die Boten, die sie gebracht haben, gegen das sprachen, was sie sagten, eben in der Weise, wie sie das Christentum zu vertreten versuchten, und deswegen auch darum nicht geglaubt werden konnten. Wir wissen ja über die christlichen Ursprünge des Antisemitismus und über die Verfolgungen, die durch alle Zeiten hindurchgehen, genug, so daß - abgesehen davon, daß wir Deutsche etwas besonderes hierzu zu sagen hätten - ganz allgemein gesagt werden muß, daß hierin eigentlich die ganze Christenheit gemeinsam schuldig geworden ist, und daß sie deswegen sich darüber besinnen muß, was sie jetzt noch tun kann. Von da aus gesehen würde ich sagen: Einerseits keine missionarischen Aktivitäten, auf der anderen Seite wahre Solidarität! Das wichtigste Christuszeugnis, das die Christenheit in echt missionarischem Verständnis ihrer Sendung gegenüber Israel hätte, wäre die einer bedingungslosen Solidarität, einer Solidarität, um die in allen Bereichen gerungen werden müßte, und die vor allem imstande wäre, den verhängnisvollen Antise-

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mitismus, der den Menschen so tief innewohnt und gerade auch in der Geschichte der Christenheit sich tief eingefressen hat, auszurotten. Darum muß das Gespräch geführt werden als ein Gespräch aus der Solidarität - sagen wir des gemeinsamen Glaubens an den einen Gott und an die Gottesverheißungen, aus dem gemeinsamen Glauben an das gemeinsame und verbindende Gebot Gottes und an den Bund. Die Bundestheologie Karl Barths jetzt ins Spiel zu bringen, wäre natürlich eine große Sache. Gerade in seiner Dogmatik ist ja seine Bundestheologie die Uberwindung dessen, was in herkömmlicher Weise über den Alten und Neuen Bund gesagt worden ist. Denn hier sind ja die Meinungen aufgekommen, in denen man letzten Endes der Uberzeugung war, die bei den Deutschen Christen dazu führte zu sagen: „Fort mit dem Alten Testament! Was haben wir damit zu tun? Es ist ein Judenbuch, das uns gar nichts angeht." Dies ist freilich nicht erst im 20. Jahrhundert gesagt worden, sondern auch schon vorher. Ein Gespräch kann nur dann überhaupt geschehen, wenn es in dieser Solidarität eben auch eine Solidarität der Liebe gibt, die gerade aus diesem Grunde heraus gar nichts anderes will, als das, was zur Liebe gehört, eben diese bedingungslose Annahme des Bruders, in der es um gar nichts anderes geht als um ihn selbst. Ich meine, daß damit eigentlich das Wesentliche, was hier gesagt werden könnte, gesagt worden ist. Ich möchte alles andere, was mir sonst noch am Herzen liegt, beiseite lassen. Ich hoffe, daß die Hauptsache doch herausgekommen ist und daß das auch verstanden worden ist, so gewiß das Ganze mehr aus Fragmenten besteht, denn wir sind ja hier tatsächlich noch auf dem Wege und im Ringen um die rechten Erkenntnisse und um den rechten Weg, der hier beschritten werden muß, zumal wir in unserer eigenen Kirche noch mit denjenigen in einer Diskussion stehen, die diesem allem zumindest mißtrauisch gegenüberstehen. Der Bruderrat der E K D , früher Reichsbruderrat genannt, brachte 1948 ein Wort zur Judenfrage heraus, das nun eben gerade doch nicht zu dem durchgedrungen ist, was in der Theologie Karl Barths am deutlichsten zum Ausdruck gebracht wurde, und was darin meiner Ansicht nach den wahren biblischen Grund hat, nämlich die Zusammengehörigkeit und die Gebundenheit aneinander von Israel und der Kirche als den beiden Gestalten der einen Gemeinde Gottes. Das zeigt, wie stark in unseren Kirchen selbst dies noch nicht ausgereift ist, wie da erst etwas überwunden werden muß, was noch lange nicht durch ist. Das sieht man auch an solchen gegensätzlichen Äußerungen, die in einer schönen Schrift, die ja wirklich gute Stücke enthält, „Juden, Christen, Deutsche", auch zum Ausdruck kommen. Was hier an einer Stelle gesagt wird unter dem Stichwort „Begegnung statt Mission?" von Karl Heinrich Rengstorf, das zeugt von einer gewissen Verlegenheit, weil der

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Theologe so recht in dieser Situation keinen Ausweg weiß, was er nun sagen soll, und das ist ergreifend an seinen Darbietungen. „Welchen Sinn kann das christliche und jüdische Gespräch für die Christen haben?" heißt die Frage, und was er dazu schreibt, ist für mich unzulänglich, während das, was Ernst Ludwig Ehrlich schreibt als Jude: „Welchen Sinn kann das Gespräch für Juden haben?" meine volle Zustimmung findet. Es ist ganz ausgezeichnet, was er hier schreibt über das Gespräch. Das müßte ein Christ geschrieben haben, dann wäre es genau richtig. Es ist merkwürdig, daß wir in einer durch solche Gegensätze bestimmten Situation heute noch stehen. Inzwischen ist auch in der RömischKatholischen Kirche eine Morgendämmerung in dieser Frage angebrochen, und zwar wurde auf dem Konzil etwas verfaßt, freilich theologisch an einer völlig verkehrten Stelle. Vielleicht interessiert Sie das, diese Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen zu hören. Es ist zwar verkehrt, wenn man hier von den Juden spricht. Sie haben doch keine nichtchristliche Religion! In der Erklärung des Konzils kommt erst eine Stellungnahme zu den Buddhisten und Hinduisten und anderen großen Religionen. Dann kommt der Islam, und da wird behauptet, daß wir mit dem Islam denselben Gott anbeten. Das ist eine Frage, aber lassen wir sie auf sich beruhen. Dann kommt die jüdische Religion. Von jüdischer Religion zu sprechen, ist zwar ein Problem für sich, aber was der erste Satz hier sagt, ist eine erstaunliche Leistung: „Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist." Das Ganze, was jetzt kommt, hätte eigentlich in die Lehre von der Kirche gehört. Aber es ist woandershin abgedrängt worden, und zwar schon deswegen, weil man hierüber ja so lange gestritten hat. Hier ist wirklich um jeden Buchstaben gerungen worden, bis herauskam, was hier jetzt zu lesen ist, wozu einige beklagenswerte Vereinfachungen gehören. Aber immerhin, respektabel sind einige Sätze, z. B. die bekannten Worte, die ja berühmt geworden sind: „Wie die Schrift bezeugt, hat Jerusalem die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt, und ein großer Teil der Juden hat das Evangelium nicht angenommen, ja, nicht wenige haben sich seiner Ausbreitung widersetzt. Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis des Apostels immer noch von Gott geliebt um der Väter willen." Wir sehen, inzwischen ist auch dieser Satz des Neuen Testamentes durchgedrungen. - „Sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich. Mit dem Propheten und mit demselben Apostel erwartet die Kirche den Tag, der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm einträchtig dienen." (Weisheit Salomons 3,9) „Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige

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Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist." Auch hier Gespräch! „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den T o d Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiß ist die Kirche das neue Volk Gottes. Trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern." Wiederum ein wichtiger Satz! „Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend) emanden gegen die Juden gerichtet haben." In diesen letzten Sätzen ist ein sehr verschwiegenes Schuldbekenntnis enthalten. Leider ist der Satz, der hier ursprünglich stand, der stärker und kräftiger war, nämlich, daß die Kirche nicht nur beklagt, sondern daß sie das als ihre Schuld bekennt, geändert worden. Das ist bedauerlich. Immerhin, es wird beklagt, und es wird ja mit einer großen Kraft gesagt, was die Kirche bis dahin so noch nicht gesagt hat. Sie hat sich damit ja in einer gewissen Weise gegenüber ihrer eigenen Geschichte festgelegt. Sie hat nämlich damit zumindest gesagt: Wenn unsere Väter das getan haben, so verurteilen wir das heute. Das hat sie getan, und das war für das Konzil eine beachtenswerte Leistung. Ich denke, daß ich damit auf alles Wesentliche aufmerksam gemacht habe, was hier jetzt zu sagen war. Lassen Sie mich dieses Fragment nun eben so schließen, wie Fragmente am Ende sind. Wir sind noch nicht am Ende, aber wir können jetzt vielleicht im Gespräch fortfahren, damit wir besser verstehen, was das Thema von uns fordert.

Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert*

Das Problem des Krieges, und zwar einer Stellungnahme zum Krieg überhaupt wie der Beteiligung am Krieg durch den Dienst mit der Waffe, hat die Kirche auf ihrem langen Weg durch die Geschichte begleitet. Nie ist es ganz zur Ruhe gekommen, wenn es auch lange Zeiten gab, in denen es so scheinen konnte, als sei nun das Problem eindeutig und endgültig gelöst. Immer wieder kam es zu neuer Fragestellung, ob es dem Christen von Gott erlaubt sei, die Waffe zu ergreifen und den Feind zu töten. Immer wieder wurde der Versuch wiederholt, den Krieg trotz aller Fragwürdigkeit zu rechtfertigen. Ebenso jedoch wurde die Rechtfertigung des Krieges wieder verworfen. Das Ja und Nein zur Verweigerung des Kriegsdienstes insbesondere stand immer wieder gegeneinander, wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß das Nein zur Verweigerung des Kriegsdienstes die Regel, das Nein zum Krieg und Waffendienst die Ausnahme war. Die großen Volkskirchen haben seit den Zeiten Konstantins bis heute in der Regel die Pflicht des Christen zum Kriegsdienst bejaht, jedoch meist ihre Priesterschaft davon entbunden. Nur die wenigen und zahlenmäßig unbedeutenden sogenannten „historischen Friedenskirchen" machten die Verweigerung des Kriegsdienstes dem Christen zur Pflicht, wie auch die ethische Verwerfung des Krieges als Sünde ein wesentlicher Bestandteil ihrer Kirchenlehre war. Es waren dies die Mennoniten, die Quäker und die amerikanische Kirche der Brüder. Diese Kirchen erlitten deswegen von ihren Mitchristen aus den katholischen und protestantischen Kirchen lange Zeit hindurch Bedrängnis und Verfolgung, erst das Zeitalter der Aufklärung mit ihrer Toleranzidee machte dem ein Ende, und die modernen Staaten haben den Mitgliedern dieser Kirchen oft sogar durch Sondergesetz die Befreiung vom Kriegsdienst gewährt, während dies Privileg den Mitgliedern der Volkskirchen nicht zugestanden wurde. Das Problem der Kriegsdienstverweigerung stellt sich auch für die Kirchen ganz neu, als in der Neuzeit, seit der französischen Revolution * Aus: KIRCHE UND STAAT. Festschrift für Bischof D. Hermann Kunst D . D . zum 60. Geburtstag am 21. Januar 1967. Hg. von Kurt Aland und Wilhelm Schneemelcher. Berlin 1967, S. 2 4 9 - 2 7 6 . - Vgl. auch J. BECKMANN, Kirche und Kriegsdienstverweigerung. In: Sonntagsblatt N r . 49 vom 4. Dezember 1955.

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die allgemeine Wehrpflicht in den meisten europäischen Staaten eingeführt wurde. Wie nicht anders zu erwarten war, verteidigten die Kirchen seither zumeist das Recht des Staates - damals des monarchischen, aber auch später des demokratischen Staates - , seine Bürger allgemein zum Waffendienst heranzuziehen, ja sie hatten eine durchaus positive Stellung zum stehenden Heer, zum Waffendienst der ganzen Nation, und natürlich auch zum nationalen Kreig als einer gottgewollten, ethisch schlechthin zu bejahenden Aufgabe der Völker und Staaten zur Stärkung ihrer Kräfte, zur Bewährung ihres Amtes und zur Bewahrung ihrer Würde und Macht untereinander. Aufgrund dieser theologischen Belehrung und geistlichen Prägung ihres Lebens war es dann auch kein Wunder, daß die christlichen Kirchen 1914 mit Begeisterung in den großen Krieg eintraten in der festen Uberzeugung, daß diese Stunde der Erprobung durch den Herrn der Geschichte ihren vollen Einsatz in ihren Völkern erfordere. Kriegsdienstverweigerung als eine christlich mögliche Entscheidung lag völlig außerhalb dieser Geisteswelt. Mit Recht hätte ein Kriegsdienstverweigerer als Feind des Volkes, ja als Sünder vor Gott und den Menschen sein Leben verwirkt. Erst nach dem Ende des ersten Weltkrieges bahnt sich in der Christenheit ganz langsam und zuerst sehr schüchtern hervortretend ein Wandel an. In den zwanziger Jahren kann man es wagen, die Fragen auch in den Volkskirchen aufzuwerfen, ob das traditionelle J a der Kirche zum Krieg und zum Kriegsdienst wirklich unbestreitbar sei, ob nicht vielleicht in der Verurteilung des Krieges seitens einiger Freikirchen ein Körnlein Wahrheit stecke, und zwar deswegen, weil auch im Neuen Testament die Grundrichtung der Nachfolge Christi eher im Dienst am Frieden auf Erden als in der selbstverständlichen Bejahung des Krieges und einer christlich zu verantwortenden Beteiligung an Kriegen zu erblicken sei.

I. Kriegsdienstverweigerung in der ökumenischen Diskussion Als 1925 in Stockholm zum ersten Male die Weltkonferenz für „Leben und Werk" der Kirchen zusammenkam und damit eine neue Epoche ökumenischer Bewegung der Kirchen eröffnet wurde, wurde zwar an dem denkwürdigen 25. August das Thema verhandelt „Was kann die Kirche tun, um den Frieden zu fördern und die Kriegsursachen zu beseitigen?", aber trotz der zum Teil guten Referate zur Friedensaufgabe der Kirche, die über die traditionellen Anschauungen hinausgingen, kam die Konferenz zu keinem Entschluß in dieser Sache. Selbst damals also war die Stunde noch nicht reif, ein Neues zu pflügen. Vielmehr währte es noch mehr als ein Jahrzehnt, bis endlich 1937 in Oxford das Thema

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„ K i r c h e u n d K r i e g " gründlich neu bedacht u n d in den Entschließungen der W e l t k o n f e r e n z f ü r „ L e b e n u n d W e r k " der Kirchen einen kräftigen N i e d e r s c h l a g f a n d . In d e m Bericht der V . Sektion w i r d zunächst die einmütige Verurteilung des K r i e g e s durch die K i r c h e a u s g e s p r o c h e n . „Der Krieg, die Möglichkeiten, die zum Kriege führen können, und jede Lage, die die Tatsächlichkeit eines Konflikts unter dem täuschenden Schein äußeren Friedens verbirgt, sind kennzeichnend für die Welt, in der die Kirche das Evangelium der Erlösung zu verkündigen beauftragt ist. Zum Krieg gehört erzwungene Feindschaft, teuflische Vergewaltigung der menschlichen Persönlichkeit und willkürliche Verzerrung der Wahrheit. Der Krieg ist ein besonders eindrückliches Zeichen für die Macht der Sünde in dieser Welt und ein Hohn auf die in Jesus Christus dem Gekreuzigten offenbarte Gerechtigkeit Gottes. Wir dürfen nicht erlauben, daß durch irgendeine Rechtfertigung des Krieges diese Tatsache verborgen oder verharmlost wird."' D a n a c h aber tritt heraus, daß die Vertreter aus den verschiedenen K i r c h e n nicht einig w e r d e n k o n n t e n über die F r a g e nach der Beteiligung des C h r i s t e n a m K r i e g . Z w e i weitgehend unvereinbare S t a n d p u n k t e in der K r i e g s f r a g e w e r d e n festgestellt: „Die einen hoffen, den Krieg in der Kraft des in der Gesschichte wirkenden Gottes durch religiöse und moralische Belehrung der Menschen und durch Betätigung des freien Willens aus der Welt zu schaffen; die anderen dagegen sehen den Menschen so in die Zwänge einer sündigen Welt verstrickt, daß der Krieg erst als Folge der Wiederkunft Jesu Christi in Herrlichkeit endgültig beseitigt werden wird." 2 H i e r a u s ergeben sich drei verschiedene praktische S t e l l u n g n a h m e n : „1. Einige meinen, daß der Krieg, vor allem in seiner modernen Form, in jedem Fall Sünde ist. Er steht im Widerspruch mit dem Wesen Gottes, das Liebe ist, mit dem durch das Kreuz bezeichneten Weg der Erlösung und mit der Gemeinschaft des Heiligen Geistes... Die Kirche kann nur dann ein schöpferisches, erneuerndes und versöhnendes Werkzeug zur Gesundung der Völker werden, wenn sie dem Krieg ganz und gar absagt. Die Vertreter dieser Haltung müssen deshalb die Teilnahme am Krieg für sich selber verweigern, unter ihren Mitmenschen für die gleiche Achtung des Krieges zugunsten einer besseren Methode eintreten und aktive Friedensarbeit an die Stelle bewaffneter Gewalt setzen. 2. Andere wieder würden nur an einem gerechten' Kriege teilnehmen. Unter ihnen kann man wieder mindestens zwei Ansichten unterscheiden, die von der Definition dessen abhängen, was ein .gerechter' Krieg ist. ' KIRCHE UND WELT IN ÖKUMENISCHER SICHT. Bericht der Weltkirchenkonferenz in O x f o r d . G e n f 1938, S. 250. J E b d . , S. 251.

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(A) Einige sind der Meinung, daß Christen nur an solchen Kriegen teilnehmen dürfen, die vom Völkerrecht her zu rechtfertigen sind. Sie meinen, daß in einer sündigen Welt der Staat die Aufgabe hat, im Gehorsam gegen Gott Gewalt anzuwenden, wenn Recht und Ordnung gefährdet sind. Kriege gegen internationale Vertrags- und Friedensbrecher sind mit Polizeimaßnahmen zu vergleichen, und die Christen haben die Verpflichtung, daran teilzunehmen. (B) Andere würden einen Krieg dann als ,gerecht' betrachten, wenn er unternommen wird, um einen von ihnen als wesentlich angesehenen christlichen Grundsatz zu verteidigen. Um den Opfern eines unprovozierten Angriffes zu Hilfe zu kommen oder Unterdrückten Freiheit zu verschaffen, würde es ihnen, wenn alle anderen Mittel versagt haben, als christliche Pflicht erscheinen, zu den Waffen zu greifen. 3. Andere wieder betonen zwar, daß der Christ verpflichtet ist, für den Frieden und das gegenseitige Verstehen der Völker zu wirken, doch sind sie der Uberzeugung, daß keine Bemühung dieser Art den Krieg in dieser Welt beseitigen kann. Ja, sie sehen zwar, daß politische Autorität häufig in selbstischer und unsittlicher Weise ausgeübt wird; nichtsdestoweniger glauben sie, daß der Staat das von Gott dazu eingesetzte Organ ist, ein Volk vor den schädlichen Auswirkungen anarchistischer und verbrecherischer Neigungen seiner Angehörigen zu schützen und seine Existenz gegen die Angriffe seiner Nachbarn zu behaupten. Es ist daher die Pflicht des Christen, der Staatsgewalt soweit als möglich zu gehorchen und alles zu unterlassen, was sie schwächen könnte. Das bedeutet, daß normalerweise der Christ für sein Land die Waffen tragen muß. Nur wenn er unbedingt gewiß ist, daß sein Land für eine ungerechte Sache kämpft (z. B. im Falle eines ungerechtfertigten Angriffskrieges), hat der einfache Bürger ein Recht, Kriegsdienst zu verweigern."3 Die bedeutsame Folgerung, die die Konferenz aus dieser Lage zieht, ist nun die, daß sie erklärt: „Wir behaupten nicht, daß eine dieser Stellungnahmen vom christlichen Standpunkt aus als die einzig mögliche Haltung bezeichnet werden kann. Die Kirche muß es deutlich aussprechen, daß diese ungeklärte Lage ein Zeichen der Sünde ist, in die ihre Glieder verstrickt sind. Sie kann sich aber nicht auf die Dauer mit dem Weiterbestehen dieser Meinungsverschiedenheit als etwas Unvermeidlichem abfinden, sondern muß alles tun, was in ihren Kräften steht, um ein gemeinsames Studium dieser Frage dadurch zu fördern, daß sie Vertreter verschiedener Auffassungen zusammenführt, die bei ihrem Bemühen, den in Jesus Christus offenbarten Willen Gottes zu verstehen, voneinander lernen können. In klarer Erkenntnis der Tatsache, daß ihre Glieder auch im Raum von Volk und Staat zu leben haben und daß daher im Kriegsfall ein Widerstreit der Pflichten unvermeidlich ist, muß die Kirche diesen helfen, Gottes Willen zu erfassen, und dann ihre gewissenhafte Entscheidung achten, gleichviel, ob sie nun dazu geführt werden, am Krieg teilzunehmen oder nicht. Sie muß mit beiden in gleicher Weise die volle Gemeinschaft des Leibes Christi aufrechterhal3

Ebd., S. 2 5 1 - 2 5 3 .

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ten. Sie muß sie auffordern, Buße zu tun und gemeinsam die Erlösung von dem sie verstrickenden Bösen zu suchen, die in Christus allein gefunden werden kann."4

Entsprechend heißt es nun auch in der „Botschaft der Konferenz an die christlichen Kirchen": „Darum muß die Kirche Christi, die ihre Glieder in allen Völkern hat, den Krieg ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung verurteilen. Krieg ist immer Folge und Ausbruch der Sünde. Dieser Satz hat Gültigkeit, was immer die Pflicht eines Volkes sein möge, das zwischen dem Krieg und einer Politik, die es als Verrat an seinem Recht empfindet, wählen muß, oder was immer die Pflicht des einzelnen christlichen Staatsbürgers sein möge, dessen Land in einen Krieg verwickelt ist. Die Verurteilung des Krieges bleibt bestehen, ebenso wie die Verpflichtung, Mittel und Wege zu finden, die Menschheit von seinen physischen, moralischen und geistigen Verheerungen zu befreien."5

Das Ergebnis der ökumenischen Diskussion in Oxford 1937 ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ein entscheidender Durchbruch nach vorn ist gelungen. Die traditionelle Stellung der großen Kirchen zu Krieg und Kriegsdienstverweigerung ist erschüttert, wenn auch noch keine neue gemeinsame Stellung errungen werden konnte. Der Krieg ist den Kirchen ganz neu zu einem ernsten und unausweichlichen Problem geworden. Das ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Krieg. Das Urteil über den Krieg ist einhellig negativ. Wir hören keinerlei Verherrlichung des Krieges, auch keine Rechtfertigung des Krieges, sondern seine Verurteilung ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung. Der Dienst am Frieden, an der Verhinderung des Krieges, der Bekämpfung seiner Ursachen ist darum die Aufgabe der Kirche. Nur in der Frage der ethisch zu verantwortenden Beteiligung am Kriege kommt es zu keiner Einigung. Es bleibt bei dem Gegenüber des pazifistischen und nichtpazifistischen Standpunktes. Die einen verwerfen grundsätzlich aus Gehorsam gegen Gottes Willen jede Beteiligung am Krieg, die anderen bejahen grundsätzlich die ethische Möglichkeit einer Beteiligung am Krieg - wenn auch nicht im bedingungslosen Gehorsam gegen die Obrigkeit und unter allen Umständen, so doch im Regelfall. Jedoch die Möglichkeit einer konkreten Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird von niemand bestritten. Auch wird - und das ist am bedeutungsvollsten - von allen die verschiedene Stellungnahme der Christen zum Krieg als eine solche anerkannt, die aus christlicher Verantwortung geschieht. Es erscheint in der Tat als eine Erkenntnis von 4 5

Ebd., S. 2 5 3 f. Ebd., S. 262.

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weittragenden Folgen, wenn in der Kirche gegensätzliche ethische Entscheidungen als christliche Möglichkeiten des versuchten Gehorsams gegen das Gebot Gottes respektiert werden. Freilich wird darin nicht das letzte Wort gesehen, im Gegenteil, dieser Tatbestand wirkt beunruhigend und fordert eine weitere Vertiefung der Erkenntnis der Wahrheit des Wortes und Willens Gottes in seiner Kirche. Zwei Jahre nach Oxford begann der zweite Weltkrieg. Als 1945 die Waffen wieder ruhten, ging die ökumenische Bewegung, durch die Kriegs) ahre zwar lange aufgehalten, aber nicht zerstört, aufs neue ihre Bahnen zur Vertiefung der Gemeinschaft unter den Kirchen. 1948 in Amsterdam wurde der Ökumenische Rat der Kirchen begründet. Auf dieser ersten Vollversammlung kam begreiflicherweise auch das große Thema: Kirche, Krieg und Kriegsdienstverweigerung wieder zur Verhandlung. Man hoffte über Oxford hinaus weiterzukommen, zumal die furchtbaren Geschehnisse im zweiten Weltkrieg mit dem Einsatz moderner Massenvernichtungsmittel eine deutlichere und entschlossenere Stellung der Kirche zum Krieg notwendig machten. Wenn man die Ergebnisse von Amsterdam prüft, wird man allerdings nicht sagen können, daß man in der ökumenischen Diskussion und Stellungnahme wesentlich weitergekommen ist, als man schon in Oxford gestanden hatte. Immerhin war auch der ökumenische Raum der Beteiligung christlicher Kirchen an der Aussprache in Amsterdam bei weitem größer als in Oxford. Das Problem des Krieges erscheint unter dem Thema der Sektion IV „Die Kirche und die internationale Unordnung". In dem von der Vollversammlung geprüften und den Kirchen zu ernster Erwägung und geeignetem Vorgehen empfohlenen Bericht heißt es zunächst von dem Krieg 6 : „Der Krieg k o m m t daher, daß die Menschen sich um G o t t nicht gekümmert haben. Eben darum aber ist er nicht unvermeidlich, wenn die Menschen sich nur wieder zu G o t t wenden, Buße tun und seinen Geboten gehorchen wollten. Es gibt keine Flut, der man nicht widerstehen könnte und von der man sich der Vernichtung entgegentreiben lassen müßte. Kein Ding ist unmöglich bei G o t t ! W i r wissen sehr wohl, daß Kriege bisweilen von Ursachen herkommen, auf die Christen keinen Einfluß haben. U n d doch brauchen wir nicht blind oder einsam unsere Arbeit zu tun. W i r sind Gottes Mitarbeiter. E r hat uns in unserem H e r r n Christus den W e g gezeigt, wie dämonische Kräfte in der Geschichte der Menschen überwunden werden k ö n n e n . . . Jeder Mensch hat in Gottes Plan seinen Platz. G o t t hat ihn nach seinem Bild geschaffen und ihm gilt die Erlösung durch die ewige Liebe, die in Jesus offenbar geworden ist. So muß er denn auch frei sein, den Ruf Gottes zu hören und eine A n t w o r t darauf zu geben... 6

AMSTERDAMER DOKUMENTE. Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz in

Amsterdam 1948. Hg. von Focko Lüpsen. Bethel (1948), S. 57-67.

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Wir sind gefordert, daß wir Glauben halten und gehorsam sind, was daraus wird, steht bei Gott. So möge denn jedermann sich in den Dienst des Friedens stellen und darauf vertrauen, daß er, was immer auch geschieht, nicht verloren ist und kein unnützes Werk treibt; denn Gott, der Allmächtige, sitzt im Regiment! In solchem Vertrauen bezeugen wir der ganzen Welt einmütig:

I. Krieg soll nach Gottes Willen nicht

sein.

Die Rolle, die der Krieg im heutigen internationalen Leben spielt, ist Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen. Gerade jetzt sieht sich die Christenheit vor besonders brennende Fragen in bezug auf den Krieg gestellt. Der Krieg bedeutet heute etwas völlig anderes als früher. Wir haben jetzt den totalen Krieg. Jeder Mann und jede Frau wird jetzt zum Kriegsdienst aufgeboten. Dazu kommt der ungeheure Einsatz der Luftwaffe und die Entdeckung der Atombombe und anderer neuer Waffen. Dies alles führt in einem modernen Krieg zu unterschiedslosen Zerstörungen in einem Umfang, wie ihn die Welt bei früheren Kriegen nicht gekannt hat. Die herkömmliche Annahme, daß man für eine gerechte Sache einen gerechten Krieg mit rechten Waffen führen könne, ist unter solchen Umständen nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es mag sein, daß man auf Mittel der Gewalt nicht verzichten kann, wenn das Recht zur Geltung gebracht werden soll. Ist der Krieg aber erst einmal ausgebrochen, dann wird die Gewalt in einem Umfang angewandt, der dem Recht seine Grundlage zu zerstören droht." A u s dieser grundsätzlichen Verurteilung des Krieges wird nun die entscheidende Folgerung gezogen, indem die Frage gestellt wird: „Kann der Krieg heute noch ein Akt der Gerechtigkeit sein?" An dieser Stelle erwartet man eigentlich ein Nein. Aber - auch die Amsterdamer Versammlung kann sich dazu nicht einmütig bekennen: „Auf diese Frage können wir freilich keine einmütige Antwort geben. Drei verschiedene Grundhaltungen werden in unserer Mitte vertreten." „1. Da sind zunächst jene, die die Uberzeugung haben, daß, wenn der Christ auch unter bestimmten Umständen wird in den Krieg ziehen müssen, ein moderner Krieg mit seinen allumfassenden Zerstörungen niemals ein Akt der Gerechtigkeit sein kann. 2. Da es gegenwärtig unparteiische, übernationale Instanzen nicht gibt, so meinen andere, militärische Maßnahmen seien das letzte Mittel, um dem Recht Geltung zu verschaffen, und man müsse die Staatsbürger klar und deutlich lehren, daß es ihre Pflicht ist, das Recht mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. 3. Wieder andere lehnen jeden Kriegsdienst irgendwelcher Art ab und sind überzeugt, daß Gott von ihnen verlangt, bedingungslos gegen den Krieg und für den Frieden Stellung zu nehmen, und nach ihrer Meinung müßte die Kirche im gleichen Sinne sprechen... 9. Wir bekennen offen, daß es uns schwer ist, so verschiedene Meinungen in dieser Sache unter uns zu haben. Wir bitten alle Christen dringend, sie möchten es als ihre Pflicht ansehen, dauernd um diese schwierige Frage zu ringen und in

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aller Demut Gott zu bitten, er wolle ihnen den rechten Weg zeigen. Wir glauben, daß hier die Theologen die besondere Verpflichtung haben, den theologischen Fragen nachzugehen, um die es sich hier handelt. Derweilen darf die Kirche nicht aufhören, alle, die eine dieser drei Meinungen mit Ernst vertreten und die bereit sind, sich von Gott erleuchten zu lassen und sich seinem Willen zu unterwerfen, als ihre Brüder und Schwestern anzusehen. 10. Bei aller Verschiedenheit der Meinungen aber gibt es gewisse Grundsätze, in denen wir alle übereinstimmen. D a es ein unparteiisches Organ für die Sicherung des Rechtes nicht gab, sind Völker in den Krieg gegangen in dem Glauben, eben damit der Gerechtigkeit zu dienen. Wir sind der Überzeugung, daß sowohl im internationalen Leben als auch im Leben der einzelnen Nationen Gerechtigkeit walten muß. Auch die Völker müssen sich frei machen von dem Verlangen, ,das Gesicht zu wahren'. Denn dies Verlangen ist ein Zeichen von falschem Stolz und ist gefährlich. Aufgabe der Kirchen ist es, die sittlichen Grundsätze geltend zu machen, die der Gehorsam gegen Gott im Kriege wie im Frieden fordert. Sie dürfen ihre geistlichen und sittlichen Kräfte vom Staat weder im Kriege noch im Frieden dazu mißbrauchen lassen, um eine bestimmte Ideologie zu propagieren oder irgendeine Sache zu unterstützen, der sie nicht von ganzem Herzen zustimmen können. Wenn Krieg ist, müssen sie lehren, daß wir unsere Feinde lieben und für sie beten sollen; und wenn der Krieg vorüber ist, müssen sie dafür eintreten, daß Sieger und Besiegte sich versöhnen. 11. Die Kirchen müssen sich darum bemühen, daß das, was geändert werden muß, auf friedliche und gerechte Weise geändert wird, und müssen eben dadurch den Ursachen des Krieges zu Leibe gehen. Sie müssen dafür eintreten, daß Treu und Glauben gewahrt und daß das einmal gegebene Wort gehalten wird. Sie müssen den überheblichen Ansprüchen imperialistischer Mächte Widerstand entgegensetzen und für die allseitige Verminderung der Rüstungen eintreten. Sie müssen dagegen ankämpfen, daß sich angesichts der Erfahrung, daß Kriege zu nichts führen, Gleichgültigkeit und Verzweiflung breitmachen. Sie müssen jedem einzelnen Christen zum Bewußtsein bringen, daß ein geistiger Widerstand, wenn er auf einer weitverbreiteten festen Uberzeugung beruht, eine Macht ist, die vom Kriege abhalten kann." A n g e s i c h t s dieser E r k l ä r u n g w i r d m a n s a g e n k ö n n e n : D i e V e r w e r f u n g d e s K r i e g e s ist stärker u n d e i n d r u c k s v o l l e r als b i s h e r : D e r K r i e g ist g e g e n G o t t e s Willen. E r ist S ü n d e . E s k a n n keine R e c h t f e r t i g u n g f ü r ihn als M i t t e l d e r internationalen P o l i t i k m e h r g e b e n . A n d e r e r s e i t s w i r d der E i n s a t z d e r K i r c h e f ü r den F r i e d e n dringlicher g e f o r d e r t , w ä h r e n d d a s P r o b l e m d e r V e r w e i g e r u n g des K r i e g s d i e n s t e s d a d u r c h z u r ü c k t r i t t . E s w e r d e n in n e u e r F o r m u l i e r u n g die v e r s c h i e d e n e n S t e l l u n g n a h m e n z u r F r a g e der B e t e i l i g u n g a m K r i e g w i e in O x f o r d n e b e n e i n a n d e r g e s t e l l t , w o b e i die O x f o r d e r b e s o n d e r e n D i f f e r e n z i e r u n g e n nicht w i e d e r k e h r e n . A b e r i m E r g e b n i s hat sich nichts g e ä n d e r t . D i e D i s k u s s i o n ist g e r a d e hier nicht v o r w ä r t s g e k o m m e n . D i e s veranlaßte die h i s t o r i s c h e n F r i e d e n s k i r c h e n z u e i n e m g e m e i n s a m e n Schritt an d e n Ö k u m e n i s c h e n R a t d e r K i r c h e n , z u m a l die A m s t e r d a m e r E r k l ä r u n g die T h e o l o g e n g e b e t e n

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hatte, angesichts der schwer zu tragenden Differenzen zwischen den Kirchen über den Kriegsdienst den theologischen Fragen nachzugehen. Dieser „Aufruf", 1953 unter dem Titel „Gottes Wille ist der Friede" erschienen, ist ein eindrucksvolles Zeugnis des christlichen Pazifismus, das eine stärkere Kenntnisnahme und Antwort seitens der Kirchen des Ökumenischen Rates verdient hätte. Leider ist es nicht recht gehört und darum auch nicht kritisch verarbeitet worden. Infolgedessen gab es auch auf der zweiten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston 1954 keinen Niederschlag einer theologischen Auseinandersetzung über die Frage der christlich zu verantwortenden Beteiligung am modernen Krieg. Der Bericht der Sektion IV „Internationale Angelegenheiten" verhandelt das Problem des Kriegs unter dem Thema: „Die Sehnsucht nach Frieden und die Angst vor dem Krieg". In dieser Darbietung heißt es 7 : „Die Christen haben sich überall dem Weltfrieden als einem Ziel verschrieben. ,Friede' heißt für sie jedoch mehr als das bloße ,Fernsein des Krieges'; er ist positiv gekennzeichnet durch Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe. Für einen solchen Frieden muß die Kirche arbeiten und beten... Die Entwicklung von Atomwaffen macht aus diesem Zeitalter ein Zeitalter der Angst. Wahrer Friede kann nicht auf Angst beruhen. Es ist müßig zu denken, die Wasserstoffbombe oder ihre Entwicklung garantiere den Frieden, weil die Menschen sich davor fürchten, in den Krieg zu ziehen; auch stellt Angst keine ausreichende Sicherung gegen die Versuchung dar, eine solch entscheidende Waffe in der Hoffnung auf totalen Sieg oder in der Verzweiflung der totalen Niederlage zu benutzen. Der Gedanke an einen Atomkrieg auf der ganzen Linie ist in der Tat grauenerregend. Ein solcher Krieg stellt eine neue moralische Herausforderung dar. Der Gedanke daran hat dazu geholfen, die öffentliche Meinung aufzuschrecken, und hat das Wissen darum vertieft, wie dringlich es ist, Mittel zur Vorbeugung zu finden. Der Einzelne kann sich nicht länger den Folgen eines Krieges entziehen; die gesamte Menschheit ist einem Unheil ausgesetzt, vor dem es kein Entrinnen gibt. Die oberste Verantwortung der Kirche in dieser Lage weist ohne Zweifel dahin, die umwandelnde Macht Jesu Christi in den Herzen der Menschen zur Wirkung zu bringen. Die Christen müssen mit größerer Hingebung für den Frieden beten, müssen ernsthafter für ihr persönliches und gemeinsames Versagen gegenüber der Aufgabe der Schaffung einer internationalen Ordnung Buße tun und sich in weit stärkerem Maße darum bemühen, weltweite Verbindungen im Dienst der Versöhnung, Gemeinschaft und Liebe herzustellen. Die Tatsache, daß sehr oft erhabene Ziele ausgedacht wurden, um den Krieg zu rechtfertigen, kann die Wahrheit nicht verbergen, daß ein gewaltsamer und zerstörerischer Charakter durch und durch böse ist. Deshalb dürfen sich die 7

EVANSTON DOKUMENTE. Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz in E v a n -

ston 1 9 5 4 . H g . v o n F o c k o Lüpsen. W i t t e n 1 9 5 4 , S. 9 2 - 9 4 .

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Christen, ein jeder in seinem Lande, zu diesem Betrüge nicht hergeben, sondern müssen ihn aufdecken. Es reicht nicht aus, wenn die Kirchen verkünden, der Krieg sei etwas Böses. Sie müssen aufs neue die christlichen Wege zum Frieden studieren und dabei beides in Rechnung setzen, christlichen Pazifismus als eine Möglichkeit des Zeugnisses und die Uberzeugung anderer Christen, daß unter besonderen Umständen militärisches Eingreifen zu rechtfertigen ist. Welchen Standpunkt Christen in diesen Fragen auch einnehmen mögen, sie müssen die psychologischen und sozialen, die politischen und die wirtschaftlichen Ursachen des Krieges ergründen, analysieren und sie zu beseitigen helfen. Ohne ihre Uberzeugung aufzugeben, daß alle Waffen des Krieges böse sind, sollten die Kirchen auf Zurückhaltung in ihrem Gebrauch drängen. Christen in allen Ländern müssen bei ihren Regierungen dafür eintreten, geduldig und ausdauernd nach Mitteln zur Rüstungsbeschränkung und Förderung der Abrüstung zu suchen... Vor allem rufen wir die Nationen dazu auf, sich zu verpflichten, von jeder Drohung mit und jedem Gebrauch von Wasserstoff-, Atom- und allen anderen Waffen der Massenvernichtung sowohl wie von dem Einsatz jeglicher anderen Machtmittel gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit irgendeines Staates Abstand zu nehmen... Die Kirchen müssen die planmäßige Massenvernichtung von Zivilpersonen in offenen Städten, gleichviel mit welchen Mitteln und zu welchen Zwecken, verurteilen. Die Kirchen sollten über die C . C . I . A . und andere Kanäle auf den automatischen Einsatz von Friedensausschüssen der Vereinten Nationen in Gebieten voller Spannungen drängen, die feststellen, wenn sich irgendwo eine Aggression vollzieht; die Christen müssen unablässig auf soziale, politische und wirtschaftliche Maßnahmen zur Verhinderung des Krieges drängen." M a n e r k e n n t aus d i e s e n A u s z ü g e n , die n u r ein Teil d e r u m f a n g r e i c h e n E r ö r t e r u n g e n z u m P r o b l e m des K r i e g e s sind, daß m a n sich v o r allem den zahlreichen praktischen A u f g a b e n zur Verhütung des Krieges zugew a n d t hat, w o b e i sich die E i n s i c h t d u r c h g e s e t z t hat, d a ß hier der N a c h d r u c k d e s D i e n s t e s der K i r c h e a m F r i e d e n auf E r d e n liegen m u ß , d e m g e g e n ü b e r die F r a g e der V e r w e i g e r u n g d e s K r i e g s d i e n s t e s d u r c h a u s als z w e i t r a n g i g erscheint. Statt sich in a u s s i c h t s l o s e u n d d a r u m u n f r u c h t b a r e D i s k u s s i o n e n ü b e r die K r i e g s d i e n s t v e r w e i g e r u n g als christliche E n t s c h e i d u n g g e g e n d e n K r i e g e i n z u l a s s e n , hat m a n sich d e n d r i n g e n d e n A u f g a b e n d e s T a g e s z u g e w a n d t u n d m ö c h t e d e n K i r c h e n nahelegen, sich f ü r ein „ Z u s a m m e n l e b e n in einer e n t z w e i t e n W e l t " , f ü r „ i n t e r n a t i o n a l e O r d n u n g e n " , f ü r eine „ W e l t g e m e i n s c h a f t der V ö l k e r " , f ü r ein „ i n t e r n a tionales E t h o s " , i n s o n d e r h e i t d e n „ S c h u t z der M e n s c h e n r e c h t e " e i n z u s e t z e n , d a allein auf d i e s e n W e g e n der A u s b r u c h eines „dritten W e l t k r i e g e s " v e r h i n d e r t w e r d e n k a n n , w o r a u f es g e g e n w ä r t i g e n t s c h e i d e n d a n k o m m t . In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g ist a u c h n o c h einmal a u s d r ü c k l i c h die R e d e v o n der K r i e g s d i e n s t v e r w e i g e r u n g , u n d z w a r als R e c h t , d a s die Staaten g e w ä h r e n sollen. D a b e i k a n n auf ein D o k u m e n t v e r w i e s e n w e r d e n , d a s d i e R e c h t s f r a g e n der K r i e g s d i e n s t v e r w e i g e r u n g a u s G e w i s -

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sensgründen zu klären sich bemüht. Dementsprechend heißt es im Bericht: „Der K a m p f für die wesentlichen Freiheiten des Menschen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verteidigt werden, ist der Kampf für den Frieden. Die gegenwärtige Untersuchung des Ökumenischen Rates der Kirchen über das Recht der Kriegsdienstverweigerung und dessen Unterstützung, wie sie 1951 v o m Zentralausschuß gutgeheißen wurde, ist ein notwendiger Schritt in der Richtung nationalen und internationalen Vorgehens zu dessen Sicherung. Bis dahin müssen die Kirchen soweit wie möglich für gerechte Beurteilung und menschliche Behandlung derer eintreten, die sich zu diesem »persönlichen Zeugnis für den Frieden' berufen wissen."'

An diesen Bericht schließt sich ein „Appell des Ökumenischen Rates der Kirchen" an, der sich an die Regierungen der Völker wie an die Kirchen in aller Welt mit eindringlichen Worten wendet, den Frieden auf Erden zu wahren und zu festigen. Er gibt dazu eine Reihe von Hinweisen, was unbedingt geschehen muß, um in unserer heutigen bedrohten und gespaltenen Welt den Krieg zu verhüten und den Frieden zu sichern. Damit ist die Erörterung des Kriegsproblems im ökumenischen Feld nicht zu Ende gekommen. Vielmehr hat sich nach Evanston der Zentralausschuß des Ökumenischen Rates immer wieder mit den Fragen des Atomkrieges und der Verhütung des Krieges im atomaren Zeitalter befaßt, nicht jedoch mit dem Problem der Kriegsdienstverweigerung als theologisch-ethischer Frage der Kirche. Auch in Neu Delhi, bei der 3. Vollversammlung des Ökumenischen Rates, kam diese Frange nicht anders zur Sprache als in Evanston, jedoch noch knapper und nur am Rande. Der einzige Satz im Bericht von Neu Delhi hierzu lautet: „Es ist nötig, die Kriegsdienstverweigerer zu verstehen und ihre Rechte als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen im Atomzeitalter anzuerkennen."'

Dieser Satz macht deutlich, wie wenig in der ökumenischen Diskussion des letzten Jahrzehnts die Frage der Verweigerung des Kriegsdienstes als Problem der christlichen Ethik eine Rolle gespielt hat. Sie hat offensichtlich ihre frühere Bedeutung mehr und mehr verloren, ohne daß von einer Lösung in irgendeiner Richtung die Rede sein kann. Immerhin könnte man eine gewisse Einmütigkeit der im Ökumenischen Rat vertretenen Kirchen in folgenden Punkten feststellen: Eine fraglos selbstverständliche Beteiligung des Christen am Krieg auf Grund des von Gott gebotenen Gehorsams gegen die Obrigkeit kann nicht mehr als Ebd., S. lOOf. NEU DELHI 1961. Dokumentarbericht über die dritte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Hg. von Willem A. Visser't Hooft. Stuttgart 1962, S. 290. 8

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Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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eine Forderung christlicher Ethik gelten. Andererseits jedoch kann auch die Forderung der bedingungslosen Verweigerung des Kriegsdienstes nicht als ein allgemeingültiger Satz christlicher Ethik gelten. Dagegen wird die Möglichkeit einer konkreten Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gründen einer Gewissensentscheidung gegen die staatliche Forderung der militärischen Teilnahme an einem Krieg als eine christlich zu bejahende und ethisch verantwortliche Handlung allgemein bejaht. Darüber hinaus kann jedoch auch die Forderung an alle Staaten, der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen Raum zu geben und diese Möglichkeit auch rechtlich zu ordnen, als eine allgemein vertretene Uberzeugung der Kirchen angesehen werden. Zum Abschluß nur noch eine Bemerkung. Keine Klarheit im ökumenischen Gespräch konnte bisher erzielt werden über die eigentlichen Ursachen, aus denen die Differenzen zwischen den „pazifistischen" und „nichtpazifistischen" Uberzeugungen herzuleiten sind. Liegen sie in einem ganz verschiedenen Verständnis der Hl. Schrift oder nur in einer entgegengesetzten Auffassung über Gottes Gebot, über die Herrschaft Christi in der Welt, über die Aufgabe der Kirche und das Verhältnis von Kirche und Welt (Zwei-Reiche-Lehre), oder sind es auch ganz „untheologische" Faktoren, die für die Entscheidung maßgeblich sind? Wir können hier die Fragen nur aufwerfen. Ihnen müßte im ökumenischtheologischen Gespräch ganz anders nachgegangen werden, wenn man zu Klärungen kommen wollte. II. Die Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Kriegsdienstverweigerung Wir verlassen nunmehr den Bereich der ökumenischen Diskussion über unser Thema, obwohl hier noch auf viele wichtige Auseinandersetzungen und kirchliche Stellungnahmen aufmerksam gemacht werden könnte. Hingewiesen sei nur auf das seit Jahren geführte Gespräch zwischen den historischen Friedenskirchen mit Vertretern der reformatorischen Volkskirchen in der sogenannten Puidoux-Konferenz, bei dem es gerade um die Klärung der theologischen Grundfragen des Themas geht. Auch verdient die gründliche und ausführliche Stellungnahme der Generalsynode der Nederlandse Hervormde Kerk vom 26. Juni 1962 unter dem Titel „Das Problem der Atomwaffen" besondere Beachtung10. Leider können wir auch auf diese gewichtige und entschiedene kirchliche Äußerung der Verurteilung des mit atomaren Waffen geführten Krieges nicht eingehen. Wir müssen uns jetzt der Erörterung des Themas in der 10 Vgl. KIRCHE, KRIEG UND FRIEDEN. Eine kirchliche Stellungnahme zur Atomwaffenfrage. Aus dem Holländischen übersetzt von E. Meijering. Zürich 1963 (Polis. 16).

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Evangelischen Kirche in Deutschland zuwenden, da uns dieser Bereich begreiflicherweise besonders angeht. Als die Synode der E K D im April 1950 die Frage behandelte: „Was kann die Kirche für den Frieden tun?", zeichnete sich ein Wandel in der Geschichte des deutschen Protestantismus ab. Bisher war so noch nie die Friedensfrage als Aufgabe der Kirche in den Blick eines amtlichen Organs der evangelischen Christenheit Deutschlands gekommen. Erst recht wird die Wende deutlich, wenn man den Synodalbeschluß als Ganzes ins Auge faßt. Für unser Thema genügt es jedoch zu sehen, wie hier zum ersten Male ausdrücklich die Möglichkeit einer Verweigerung des Kriegsdienstes anerkannt wird, und zwar steht dies in folgendem Zusammenhang der Erklärung der Synode: „Was kann die Kirche für den Frieden tun? U n s e r H e r r Jesus Christus sagt: Selig sind, die Frieden stiften, denn sie sollen Gottes Kinder heißen. Als solche, die an den Friedensbund Gottes mit der Welt glauben, wissen wir uns berufen, Frieden zu suchen mit allen Menschen und für den Frieden der Völker zu wirken gemeinsam mit allen, die ihn ernstlich und ehrlich wollen. W i r bitten deshalb alle Glieder unseres Volkes, wie wir es schon in unserer Botschaft von Eisenach im Jahre 1948 getan haben: Haltet E u c h fern dem Geist des Hasses und der Feindseligkeit! L a ß t E u c h nicht z u m W e r k z e u g einer Propaganda machen,-durch die Feindschaft zwischen den Völkern gefördert und der Krieg vorbereitet wird, auch nicht zum Werkzeug irgendeiner Friedenspropaganda, die in Wirklichkeit H a ß sät und den Krieg betreibt! Verfallt nicht dem W a h n , es könne unserer N o t durch einen neuen Krieg abgeholfen werden! W i r rufen allen Gliedern unseres Volkes im Westen und im Osten z u : Werdet eindringlich und unermüdlich vorstellig bei allen, die in politischer Verantwortung stehen, daß sie nicht in einen Krieg willigen, in dem Deutsche gegen Deutsche kämpfen. W i r legen es jedem auf das Gewissen, zu prüfen, o b er im Falle eines solchen Krieges eine Waffe in die H a n d nehmen d a r f . " "

Wenn man von den ökumenischen Diskussionen herkommt, wirkt der Anlaß, aus dem auf der Berliner Synode der Kriegsdienstverweigerung recht gegeben wird, schlechthin überraschend. Es scheint so, als ob hier lediglich der denkbare Bürgerkrieg Deutscher gegen Deutsche ethisch durchschlagender Grund zur christlich verantwortbaren Verweigerung des Waffendienstes sei. Aber vielleicht muß man doch zur Entschuldigung der Synode darauf hinweisen, daß der Hintergrund dieses Krieges eine auf ideologischer Gegnerschaft beruhende weltumspannende Auseinandersetzung zwischen dem „Westen" und dem „Osten" ist. Jedenfalls wird hiermit von der Synode der auch im

" KUNDGEBUNGEN. Worte und Erklärungen der Ev. Kirche in Deutschland 1945-1969. Hg. von Oberkirchenrat Dr. Merzyn. Hannover o.J., S. 95 f.

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ökumenischen Bereich vorhandene Standpunkt bejaht, daß es eine konkrete Kriegsdienstverweigerung geben kann auf Grund einer in actu zu treffenden Gewissensentscheidung, d. h. also aktueller, nicht prinzipieller Pazifismus. Aber die Synode geht darüber hinaus, indem sie in einem späteren Abschnitt ihres Beschlusses sich ausdrücklich an die Staaten wendet mit der Bitte, für rechtlichen Schutz der gewissensmäßigen Kriegsdienstverweigerer Sorge zu tragen. „Wir beschwören die Regierungen und Vertretungen unseres Volkes, sich durch keine Macht der Welt in den Wahn treiben zu lassen, als ob ein Krieg eine Lösung und Wende unserer N o t bringen könnte. Wir begrüßen es dankbar und voller Hoffnung, daß Regierungen durch ihre Verfassung denjenigen schützen, der um seines Gewissens willen den Kriegsdienst verweigert. Wir bitten alle Regierungen der Welt, diesen Schutz zu gewähren. Wer um des Gewissens willen den Kriegsdienst verweigert, soll der Fürsprache und der Fürbitte der Kirche gewiß sein." 12

Die Folgerungen aus diesem Beschluß haben die Evangelische Kirche in Deutschland durch die Jahre seither immer mehr beansprucht, vor allem nach der Wiederaufrichtung der allgemeinen Wehrpflicht im Westen und Osten Deutschlands. Zum ersten Male zeigte sich dies schon, als im August 1950 das offizielle Angebot der Bundesregierung an die Westmächte in Richtung eines Wehrbeitrags der Bundesrepublik für die westliche Verteidigung die Öffentlichkeit überraschte. Während des Essener Kirchentages nahm der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in einer „Erklärung zur Wiederaufrüstung" dazu Stellung. In ihr hieß es in Ziffer III: „Einer Remilitarisierung Deutschlands können wir das Wort nicht reden, weder was den Westen noch was den Osten anbelangt. Die Pflicht der Kirche kann es immer nur sein, die schwergerüsteten Mächte der Welt wieder und wieder zu bitten, dem heillosen Wettrüsten ein Ende zu machen und friedliche Wege zur Lösung der politischen Probleme zu suchen. In jedem Fall aber muß derjenige, der um seines christlichen Gewissens willen den Dienst mit der Waffe verweigert, die Freiheit haben, sein Gewissen unverletzt zu erhalten." 13

Es wurde also angesichts der zu erwartenden Wiederaufrüstung die Forderung der evangelischen Kirche auf eine rechtliche Ordnung der Wehrpflicht angemeldet, in der dem Verweigerer des Waffendienstes dazu von Rechts wegen die Befreiung von der Wehrpflicht gewährt wird. Die leidenschaftliche Diskussion der fünfziger Jahre über die Wieder-

12 13

Ebd., S. 96. Ebd., S. 104.

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aufrüstung in Deutschland, die allen unvergeßlich bleiben wird, die daran beteiligt waren, kann hier nur erwähnt werden, weil daraus auch verständlich wird, wie sehr die Evangelische Kirche in Deutschland immer wieder auch auf ihren Synoden sich um diese Frage und damit natürlich auch um den ganzen Komplex der Kriegsfrage gestritten hat, ohne allerdings zu einer vollen Einmütigkeit zu kommen. Zu unserem Thema wurde jedoch auf einer Synode nur noch einmal Stellung genommen, und zwar 1952 in Elbingerode angesichts der Tatsache, daß im „Osten und Westen deutsche Streitkräfte aufgestellt werden, die gegeneinander eingesetzt werden können". Die Synode ruft „in aller unserer eigenen Ohnmacht und Ratlosigkeit noch einmal zu Taten des Friedens". Sie wendet sich nacheinander an die „Brüder im Osten" und „im Westen" und schließt daran die folgenden Worte an alle: „Wir alle, ob wir nun im Osten oder im Westen den Ort unseres Dienstes und unserer Bewährung haben, dürfen mit allen Christen in der ganzen Welt gewiß sein, daß in dem Herrn zusammengehören, die Ihm gehören. Wir dürfen an dem Platz, auf den uns Gott gestellt hat, in der Verantwortung für unseren Nächsten ausharren, in der Gewißheit, daß wir in Christus bleiben und leben werden, auch wenn wir stürben. Wir dürfen einer für den andern einstehen gerade auch da, wo es die Gewissensnot des andern gilt. Wir achten jede Gewissensentscheidung, die vor Gottes Angesicht im Blick auf den Gehorsam, den die Obrigkeit fordert, getroffen wird. Wir sind auch nicht in der Lage, einen für alle in gleicher Weise verbindlichen Gewissensrat zu geben. Den vielen aber unter euch, die sich in einer Lage sehen, in der sie nur mit verletztem Gewissen zur Waffe greifen könnten, sagen wir noch einmal, daß wir gewillt sind, nicht nur in der Fürbitte vor Gott, sondern auch vor den politischen Instanzen für die einzutreten, die aus Gründen des Gewissens den Kriegsdienst verweigern." 1 ''

„Eintreten auch vor den politischen Instanzen" für die, „die aus Gründen des Gewissens den Kriegsdienst verweigern", das ist die eigentliche Entscheidung der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Frage der Kriegsdienstverweigerung. Das ist die Form der kirchlichen Bejahung der sittlichen Berechtigung auf Verweigerung des Waffendienstes. Die Folgerung, die der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1955 angesichts der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik zog, war die Einsetzung eines Ausschusses zur Ausarbeitung der kirchlichen Vorschläge zur gesetzlichen Regelung der Kriegsdienstverweigerung in Ausführung des Grundrechtes auf Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen, wie dies in Artikel 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 niedergelegt war. Das Ergebnis dieser Ausschußarbeit wurde als „Ratschlag des 14

Ebd., S. 145 f.

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Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer" am 16. Dezember 1955 veröffentlicht. Dies ist das wichtigste D o k u m e n t der Evangelischen Kirche in Deutschland, das zur Frage der Kriegsdienstverweigerung geschaffen wurde. Es hat freilich in dem Memorandum des Ökumenischen Rates der Kirchen zur rechtlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerung von 1951 einen beachtlichen Vorgänger, dessen Gedanken auch in dem D o k u m e n t der Evangelischen Kirche in Deutschland mit verarbeitet worden sind, aber es ist doch mit seiner ausführlichen Begründung, die mit dem Ratschlag publiziert wurde, durchaus von eigener theologisch begründeter Prägung 15 . In der Begründung werden vor allem die Stellung des Christen zum Krieg in der Gegenwart, das Problem der allgemeinen Wehrpflicht sowie die Frage des Gewissens und seiner Prüfung durch ein menschliches Tribunal eingehend erörtert. Die Bedeutung des Ratschlags der Evangelischen Kirche in Deutschland läßt es als geboten erscheinen, die acht Punkte im vollen Wortlaut folgen zu lassen: „1. Die erschreckende Ausweitung des modernen Krieges und die geschärfte Verantwortung gegenüber Waffengewalt und Krieg legen jedem Christen die Frage in das Gewissen, ob der Krieg als ein letztes Mittel der Verteidigung und die Teilnahme am Kriege oder die Vorbereitung dafür erlaubt sein kann. Wenn der Staat die Befugnis zur Heranziehung seiner Bürger zum Wehr- und Kriegsdienst in Anspruch nimmt, so steht er vor der Frage, ob er nicht um der Würde des Menschen willen und als ein Zeichen eigener staatlicher Selbstbegrenzung darauf verzichten muß, von Menschen den Kriegsdienst zu fordern, die dadurch in ernste Gewissensnot geraten. Die Kirche bittet die Regierenden in Ost und West unseres Landes, für eine zureichende Gesetzgebung zum Schutz derjenigen Sorge zu tragen, die aus Gewissensgründen den Kriegs- und Waffendienst verweigern. 2. In Ausführung der in Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland niedergelegten grundrechtlichen Gewährleistung, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf, erscheint es erwünscht, die nähere rechtliche Ordnung der Kriegsdienstverweigerung in den Rahmen des Wehrpflichtgesetzes einzufügen. Das würde der Besorgnis entgegenwirken, eine besondere gesetzliche Regelung der Kriegsdienstverweigerung könne diskriminierende Nachteile gegenüber der allgemeinen Wehrpflichtgesetzgebung enthalten. 3. Der Schutz des Kriegsdienstverweigerers sollte nicht auf den Fall des eigentlichen Krieges beschränkt werden, sondern wäre auch auf die Teilnahme an der militärischen Ausbildung im Frieden zu erstrecken.

15 KIRCHE UND KRIEGSDIENSTVERWEIGERUNG. Ratschlag zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer. München 1956.

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4. An den Staat ist die dringende Bitte zu richten, in seinem Bestreben, praktisch anwendbare Abgrenzungen zu schaffen, den Kreis der Gewissensbedenken, denen er Gehör schenkt, nicht eng oder gar schematisch (z. B. in Beschränkung auf Angehörige bestimmter Gruppen und Gemeinschaften) abzustecken, damit er nicht Gewissenszwang an vielen übt, die solchen Festsetzungen nicht entsprechen. Die evangelische Kirche muß daran erinnern, daß für den evangelischen Christen die Stimme des Gewissens in einer konkreten Lage vernehmbar wird und nicht an allgemeinen Maßstäben zu messen ist. Wenn der Staat, eingedenk dessen, daß es nicht das Amt des menschlichen Richters ist, über das Gewissen zu urteilen, objektiv feststellbare Momente für die Anerkennung der Haltung des Kriegsdienstverweigerers fordert, sollte doch das staatliche Gesetz die Möglichkeit offen lassen, auch der konkreten Gewissensentscheidung im Einzelfall eines unlösbaren Gewissenskonflikts Raum zu gewähren. Der Wertung der Persönlichkeit des Dienstverweigerers und dem Gewissensernst seiner Stellungnahme gebührt dabei Berücksichtigung. In der weitherzigen Rücksichtnahme auf die Gewissensnot gewährt der Staat die Gewissensfreiheit, der er in Art. 4 Abs. 3 G G besonderen Schutz zugesagt hat. Angesichts des in manchen Fällen auftretenden Widerstreites zwischen der evangelischen Anschauung vom Gewissen und den Forderungen einer praktisch zu handhabenden Gesetzesregelung werden Fälle vorkommen können, in denen echte Gewissensbedenken vor den staatlichen Stellen keine Anerkennung finden. Die Möglichkeit einer geordneten Seelsorge gerade in diesen Fällen muß gewährleistet sein. 5. Bei der Einrichtung und Zusammensetzung der Stellen, die über die Zulässigkeit und Ernsthaftigkeit der Ablehnung des Kriegsdienstes um des Gewissens willen entscheiden, sind die Grenzen menschlichen Urteils und die Notwendigkeit besonderer Qualifikation der zur Entscheidung Berufenen zu bedenken. Nicht den Wehrersatzbehörden, sondern von ihnen auch in der personalen Zusammensetzung unabhängigen Stellen sollte die Entscheidung gegeben werden. Sie sind durch unabhängige Persönlichkeiten mit den erforderlichen Erfahrungen in richterlicher Praxis und mit umfassender Menschenkenntnis zu besetzen. Den Dienern der Kirche ist auf Verlangen des Kriegsdienstverweigerers die Möglichkeit des persönlichen Zeugnisses über ihn im Verfahren zu eröffnen. Eine unabhängige richterliche Berufungsinstanz ist offenzuhalten. 6. Es sind verfahrensrechtliche Möglichkeiten vorzusehen, daß der Wehrpflichtige Gewissensbedenken, die ihn zu der Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe zwingen, auch nach der Einberufung zum Wehrdienst geltend machen kann, wenn er die Ernsthaftigkeit des Gewissensanstoßes glaubhaft zu machen vermag. 7. Finden die Gewissensbedenken Anerkennung, so kann der Wehrpflichtige, wenn er sich dazu bereit findet, zum waffenlosen Dienst in der Truppe (z. B. Sanitätsdienst) einberufen werden. Andernfalls ist er zu einem unter ziviler Leitung stehenden Ersatzdienst von gleicher Zeitdauer und gleicher Schwere wie der Wehrdienst einzuziehen. Die Möglichkeit der Ableistung eines „Friedensdienstes" zu gleichen Bedingungen in besonderen Einrichtungen kirchlicher oder freier Organisationen ist vorzusehen. Dem zum waffenlosen Dienst oder Ersatz-

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dienst Herangezogenen soll ein Rechtsmittel gegen Heranziehung zu einer von ihm als militärische Tätigkeit betrachteten Dienstleistung gegeben werden. 8. In seiner Versorgung und Betreuung während des Ausgleichsdienstes muß der Kriegsdienstverweigerer denen, die Kriegsdienst mit der Waffe oder eine entsprechende Ausbildung ableisten, gleichgestellt sein. Jede bürgerliche oder staatsbürgerliche Benachteiligung des Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen ist auszuschließen. Das gilt auch für die Wiedereinstellung in die frühere Beschäftigung und das berufliche Fortkommen." Damit konnte die Evangelische Kirche in Deutschland überzeugt sein, ihre Zusage von 1950 eingelöst zu haben. Der Ratschlag wurde beiden Regierungen in Deutschland übergeben, und im Frühjahr 1956 wurde an die Volkskammer der D D R noch zusätzlich die Bitte gerichtet, in der Verfassung der D D R analog der Bestimmung des Grundgesetzes der Bundesrepublik eine ausdrückliche Anerkennung des Rechtes auf Verweigerung des Waffendienstes vorzusehen 16 . „Die Evangelische Kirche ist der Meinung, daß ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu den verfassungsmäßig zu verankernden Grundrechten des Staatsbürgers gehört, unabhängig davon, ob in einem Staat Wehrpflicht besteht oder nicht." Der Vorschlag der Verfassungsänderung lautete folgendermaßen: „Kein Bürger darf an kriegerischen Handlungen teilnehmen, die der Unterdrückung eines Volkes dienen. Der Dienst zum Schutz des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen ist eine ehrenvolle nationale Pflicht des Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik. Jedoch darf ein Bürger zum militärischen Dienst nicht herangezogen werden, wenn er dagegen Gründe vorbringt, die ihn nach seinem religiösen Glauben oder nach seiner sittlichen Überzeugung in seinem Gewissen binden." Leider blieb dieser Vorschlag unbeachtet, zumal damals in der D D R keine allgemeine Wehrpflicht bestand. Dagegen hat sich der Ratschlag bei den Beratungen des Bundestages in Bonn weithin positiver ausgewirkt, wenn auch nicht alle Wünsche der Kirche berücksichtigt wurden. Aufs Ganze gesehen konnte die Evangelische Kirche in Deutschland mit der Regelung des durch das Grundrecht geschützten Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen in der Bundesrepublik zufrieden sein. Immerhin hat die E K D seither nicht nachgelassen, sich um Verbesserungen der gesetzlichen Regelung, des Verfahrens zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer sowie der Durchführung des „Ersatzdienstes" zu bemühen. Sie hat dafür auch einen besonderen Beauftragten einge" Vgl. A n m . 11, dort S. 212.

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setzt und in der „Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung" ein Organ der Zusammenarbeit aller für diese Fragen Verantwortlichen begründet. Die Synode der E K D hat sich auf einer westlichen Sondertagung in Frankfurt a.M. November 1965 einen ausführlichen Bericht über die Lage und die Arbeit der Organe und Amter der E K D auf diesem Gebiet geben lassen, wobei die Fragen des Anerkennungsverfahrens, der Durchführung des Ersatzdienstes und der Seelsorge an Wehrdienstverweigerern und Ersatzdienstpflichtigen im Vordergrund standen. Viele Fragen der Praxis sind bis heute noch nicht befriedigend gelöst, und sie werden darum zwischen Kirche und Staat unaufhörlich erörtert, wobei die wesentlichen Wünsche und Anregungen von der Kirche ausgehen, die es als einen Bestandteil ihrer Zusage an die Wehrdienstverweigerer ansieht, ihnen in ihrer nicht immer leichten Situation Beistand zu leisten. Die Entwicklung nahm in der D D R nach Errichtung der Mauer 1961 eine erschwerende Wendung durch die plötzliche Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für die Nationale Volksarmee. Jetzt war die Kirche aufs neue herausgefordert, Wehrdienstverweigerern beizustehen. Ein wichtiges Dokument zu dieser Sache ist die Erklärung der Ostberliner Regionalsynode der Berlin-Brandenburger Kirche vom 16. März 1962 „Zum Wehrdienst und zur Wehrdienstverweigerung17: „Die Evangelische Kirche in Deutschland hat lange vor einer drohenden Aufrüstung der beiden deutschen Teilstaaten ihre Stimme gegen die Wiederbewaffnung der Deutschen erhoben. T r o t z aller Bitten und Warnungen ist nun doch die Wehrpflicht in beiden Hälften Deutschlands eingeführt worden. Damit ist die Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen auch im R a u m der Deutschen Demokratischen Republik in ein neues Stadium eingetreten. Angesichts dieser Situation bekennt sich die Synode, die das Verteidigungsrecht eines Staates in seiner Verantwortung für das Recht und den Frieden bejaht, nach wie vor zu den Erklärungen der Synoden der Evangelischen Kirche in Deutschland von Weißensee und Elbingerode."

Hier folgen dann die oben zitierten Beschlüsse. Dann fährt die Erklärung fort: „Die Synode, die alle jungen Christen, die den Wehrdienst leisten, an das über allem gültige erste G e b o t erinnert, erklärt gleichzeitig ihre Bereitschaft, für diejenigen einzutreten, die aus prinzipiell oder situationell bestimmten Gewissensgründen glauben, den Dienst mit der Waffe nicht leisten oder den Eid in der geforderten F o r m nicht ablegen zu können. Die Synode hofft, daß die Bemühungen der Regierungen, auch der unserer Deutschen Demokratischen Republik, dazu führen möchten, in der Absage an 17 HAT DIE KIRCHE GESCHWIEGEN? Das öffentliche Wort der evangelischen Kirche aus den Jahren 1945-1964. Hg. von Günter Heidtmann. 3. Aufl. Berlin 1964, S. 359.

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alle Massenvernichtungsmittel auf dem Wege über eine allgemeine Abrüstung die Achtung des Krieges zu erreichen. Die Synode bittet die Beauftragten der Kirchenleitung, bei den Räten der Bezirke im Sinne dieser Grundsätze dafür einzutreten, daß der Staat eine Regelung schafft, bei der die echten Gewissensgründe derer respektiert werden, die auf ihre Weise bereit sind zum Einsatz für die Gemeinschaft, zu der sie gehören."

Die Bemühungen der evangelischen Kirchen in der D D R ließen nicht nach, obwohl es aussichtslos erschien, bei der Regierung irgendetwas zu erreichen. In den 10 Artikeln über „Freiheit und Dienst der Kirche", verabschiedet von der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der D D R 1963, heißt es wiederum 18 : „Der Dienst der Versöhnung verpflichtet uns auch, für den Frieden unter den Völkern ehrlich und ernstlich zu wirken. Angesichts der Massenvernichtungsmittel ist der Kreig weniger denn je eine Möglichkeit zur Lösung politischer und ideologischer Spannungen zwischen den Völkern und Machtblöcken. Die Kirche setzt sich für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält. Wer wegen seines Dienstes für die Versöhnung leiden muß, darf der Treue Gottes gewiß sein und soll die Hilfe und fürbittende Liebe der Gemeinde erfahren."

Ein Jahr später, im Herbst 1964, ergab sich für die Kirche in der D D R eine neue Lage, als durch eine „Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates über die Aufstellung von Baueinheiten" (vom 7. September 1964) seitens des Staates eine Lösung des Problems der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen versucht wurde. Durch die Aufstellung von Gruppen waffenloser „Bausoldaten" im Rahmen der Armee sollte den Wünschen der Kirche entgegengekommen werden. Allerdings erwies sich diese Lösung durchaus nicht als befreiend und befriedigend, da keine echte Trennung des Waffendienstes von der Bauarbeit - oft für militärische Zwecke! - vollzogen wurde. So gab es denn auch Verweigerer unter den Bausoldaten und darauf natürlich Gefängnisstrafen. Aus diesem Grunde versuchte die Kirche immer wieder, den Staat für eine Verbesserung dieser an sich nicht grundsätzlich verwerflichen Regelung willig zu machen, leider bisher ohne Erfolg. Deswegen sah sich die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der D D R veranlaßt, eine Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen zu erarbeiten, die unter dem Titel „Zum Friedensdienst der Kirche" am 1. November 1965 verabschiedet wurde". In dieser ganz hervorragend gearbeiteten Hand18

Ebd., S. 395. " Als Vervielfältigung der Konferenz erschienen.

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reichung wird im ersten Teil theologisch über den „Friedensdienst der Kirche" nachgedacht, der aus dem zentralen Schriftzeugnis des Friedensbundes Gottes mit der Welt heraus entwickelt wird. „Unter den geschichtlichen Lebensbedingungen der noch bestehenden alten Welt, die ohne Androhung und Ausübung von Gewalt als Mittel der Rechtswahrung nicht auskommen kann, bezeugt die Gemeinde den zum Sieg kommenden Gottesfrieden in Wort und T a t . " N o c h ein paar Zitate seien hinzugefügt: „Weil Christus, der dienende Herr, seine Gemeinde unter der Verheißung seines Friedensbundes und mit seinem Gebot als Dienende in die Welt sendet, kann die Gültigkeit des Friedensgebotes nicht individualethisch verengt und auf den Bereich der Gemeinde begrenzt werden." „Christlicher Friedensdienst unterscheidet sich damit grundsätzlich von der Begründung des Pazifismus in den historischen Friedenskirchen." „Wenn wir heute erkennen, daß bewaffnete Auseinandersetzungen unter den Bedingungen des technischen und atomaren Zeitalters kein sinnvolles Mittel der Politik mehr sein können, so ist dies eine Einsicht der politischen Vernunft, die sich in der gegenwärtigen Weltsituation in diesem Punkt mit der Glaubenserkenntnis und dem Glaubensgehorsam trifft." „Von dieser Erkenntnis des Friedenszeugnisses der Schrift her trat die Kirche erstmals für die Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen ein und befreite sie damit von der Mißdeutung, in einer schwärmerischen Verirrung des Gewissens befangen zu sein. Sie gab dieser Entscheidung den legitimen Ort im Zusammenhang des der ganzen Kirche gebotenen Friedensdienstes und erkannte sie als einen Schritt des Gehorsams in diesem Dienst an, ohne die Wehrdienstverweigerung zur allgemein verbindlichen Norm zu erheben und damit dem einzelnen die persönliche Entscheidung in der konkreten Situation abzunehmen." Der zweite Teil bemüht sich um eine „Situationsklärung" des Wehrdienstproblems angesichts der atomar bewaffneten Heere der Großmächte im Osten und Westen der Welt bis hin zu der Frage des verschiedenen Verhaltens der wehrpflichtigen Christen in der D D R . Der dritte Teil behandelt die „Aufgaben der Kirche" 1. in ihrem Zeugnis v o m Frieden in Predigt und Unterweisung, 2. in ihrer Seelsorge an Wehrpflichtigen, besonders an den Wehrdienstverweigerern, 3. in ihrem Verhältnis zum Staat. A u s dem letzten Abschnitt sei das Wort der Kirchen an den Staat wegen seiner Bedeutung für unser Thema in seinen wichtigsten Sätzen wörtlich wiedergegeben: „Die Mitverantwortung um den Schutz und die Bewahrung der Menschen unseres Landes zwingt die Kirche angesichts der verheerenden Folgen eines atomaren Krieges, ihren Staat immer wieder mahnend darauf hinzuweisen:

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Es gibt keinen denkbaren Grund, der einen Krieg rechtfertigen würde. Ein Krieg muß auf jeden Fall verhindert werden. Die Kirche muß mit ihrem Zeugnis den Staat auf die Gefahren des Wettrüstens und der Haßpropaganda hinweisen, die unmittelbar die Entwicklung zum bewaffneten Konflikt fördern, und sie muß ihn mahnen, ständig um die Errichtung einer internationalen Friedensordnung bemüht zu sein. Sie wird ihm zubilligen müssen, daß er nicht einseitig auf jede Rüstung verzichten kann, und sie wird ihn bestärken müssen bei allen Ansätzen echter Verhandlungsbereitschaft und allen Bemühungen um die Abrüstung und die Bewahrung des Friedens. Die Kirche wird bei einer verantwortlichen Unterstützung der den Frieden erhaltenden und fördernden Schritte des Staates aber immer bedenken müssen, daß sie ihn nicht in seinen Vorurteilen bestärken und in seinen Zwangsvorstellungen und seinem Mißtrauen belassen darf. Die Kirche hat ihr Zeugnis zum Frieden dem Staat auch in ihrem Eintreten für die durch die Wehrdienstpflicht bedrängten Gewissen zu geben. Sie wird ihm geduldig und unbeirrbar den legitimen Glaubenscharakter dieser Entscheidungen zu bezeugen haben und ihn um Respektierung dieser Auffassungen bitten müssen. Auch sollte die Kirche dem Staat konkrete Vorschläge zur Gestaltung eines zivilen Ersatzdienstes unterbreiten. Die Kirche wird den Staat mahnen, den Gewissensentscheidungen auch einen gesetzlichen Raum zu geben und die ihre Entscheidung praktizierenden Glieder der Kirche in den bewaffneten Organen, in den Baueinheiten oder in den Gefängnissen als Christen existieren zu lassen. Die Kirche muß dem Staat aus ihrer Mitverantwortung deutlich machen, daß eine Bedrängnis des Gewissens gewissenloses Verhalten züchtet und den Staat als Ganzes untergräbt. Die Kirche hat aber auch für die einzelnen bedrängten Gewissen gegenüber dem Staat einzutreten und im konkreten Einzelfall dem Gemeindeglied, dessen Entscheidung zugleich Zeugnis der Kirche ist, zur Seite zu stehen." Diese Handreichung macht deutlich, daß unter dem Druck der besonders schweren Probleme in einem totalitären Staat die theologische Vertiefung der Erkenntnisse heranreift, die für die gesamte Kirche fruchtbar gemacht werden muß. Gerade in dieser Handreichung ist viel mehr enthalten als eine praktische Anweisung zur Seelsorge, hier wird die Frage des Krieges und der Verweigerung des Wehrdienstes aus einer theologischen Perspektive erhellt, die auch im ganzen ökumenischen Bereich wirklich weiterhilft über die bisherigen Gegensätze hinweg. In den Jahren 1 9 5 7 - 1 9 5 9 hat eine auf Anregung von Hermann Kunst gebildete Kommission der Evangelischen Studiengemeinschaft über das Thema „Krieg und Frieden im Atomzeitalter" gearbeitet 20 . Der Beitrag dieser Kommission zur Klärung unseres Themas „Kirche und Kriegsdienstverweigerung" soll diesen Aufsatz beschließen, weil er für den 20 GÜNTHER HOWE (Hg.), Atomzeitalter, Krieg und Frieden. Witten und Berlin 1959 (Forschungen und Berichte der Ev. Studiengemeinschaft. 17), Neuauflage Frankfurt a.M. 1963 (Ullstein-Bücher 614).

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Stand der Sachfrage überaus charakteristisch ist, aber auch weil die Ergebnisse dieser Kommission in ihren 11 Thesen bei der Synodaltagung der Evangelischen Kirche in Deutschland in Frankfurt 1965 kritisch zur Sprache gekommen sind, wobei in der Entschließung der Synode von dem „vorläufigen Charakter" der 11 Thesen gesprochen wird, die „als erster Versuch einer Antwort auf eine paradoxe Lage notwendigerweise fragmentarisch" sind, und deren Gebrauch des Begriffs „Komplementarität" in der „Anwendung auf ethische Fragen" nicht genügen könne. In der These 6 war dies so versucht worden. „Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen." 21 D a s wird dann in den Thesen 7 und 8 entwickelt. Die These 7 lautet: „ D i e Kirche muß den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen" 22 , und die These 8 fährt fort: „ D i e Kirche muß die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen." 2 5 Z u m Verständnis der für unser Thema besonders wichtigen These 7 fügen wir abschließend den Text der Erläuterung bei, den die K o m m i s sion verfaßt hat: „Der absolute Waffenverzicht der Friedenskirchen ist in früheren Zeiten von den herrschenden Kirchen verurteilt worden. Die Uberzeugung breitet sich heute auch bei denen aus, die nicht Pazifisten sind, daß dieser Verzicht als eine dem Christen mögliche Haltung anerkannt werden muß. Die Schrecken der Atomwaffen sind so groß, daß wir es als unbegreiflich empfinden müßten, wenn sich ihnen gegenüber ein Christ nicht wenigstens ernstlich prüfte, ob der Verzicht auf sie, ohne Rücksicht auf die Folgen, nicht unmittelbar verständliches göttliches Gebot ist. Die einzige uns begreifliche Rechtfertigung des Besitzes von Atomwaffen ist, daß ihre Anwesenheit heute den Weltfrieden vorläufig schützt. Ihre Anwesenheit wirkt aber nur, wenn mit ihrer Anwendung für bestimmte Fälle gedroht wird. Die Drohung wirkt nur, wenn die Bereitschaft, Ernst zu machen, vorausgesetzt werden kann. Eine Rechtfertigung ihres tatsächlichen Einsatzes durch die traditionelle Kriegsethik vermögen wir aber nicht mehr zu geben. Dieser Gedankengang hat nach unserer Ansicht jedenfalls eine allgemeine und eine individuelle Konsequenz. Die allgemeine Konsequenz ist, daß die Unmöglichkeit einer grundsätzlichen Rechtfertigung des Atomkrieges nach der Lehre vom gerechten Krieg ausdrücklich anerkannt werden muß. Über die Frage, ob Atomrüstung gleichwohl gerechtfertigt werden kann, siehe These 8.

21 22 25

Ebd., S. 229. Ebd., S. 230. Ebd., S. 231.

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Die individuelle Konsequenz ist, daß jeder, den sein Gewissen drängt, hieraus die Konsequenz eines vollen freiwilligen Verzichts auf jede Beteiligung an diesen Waffen zu ziehen, von der Kirche in dieser Haltung anerkannt werden muß. Auch wer die entgegengesetzte Entscheidung trifft, weiß nicht, ob nicht jener den Weg gewählt hat, der mehr im Sinne des Evangeliums ist. In Lagen wie diesen erschließt oft genug erst das Wagnis die Erkenntnis, zeigt erst der getane Schritt den festen Boden, auf den der Fuß beim nächsten Schritt gesetzt werden kann. Daß diese Entscheidung die einzige dem Christen mögliche sei, behaupten wir jedoch nicht. O b oder unter welchen Umständen sie von der des vollen Verzichts auf jeden Kriegsdienst noch getrennt werden kann, erörtern wir nicht."

Die Kirche und die Massenmedien"' Wenn das Thema von Massenmedien spricht, so möchte ich heute nur von dem einen doppelten Massenmedium sprechen, das noch beisammen ist in Rundfunk und Fernsehen, weil es sich hier in einem ganz besonderen Sinne um ein Massenmedium handelt, das nicht zu vergleichen ist mit dem Film und der Presse, denn im Unterschied von allen übrigen Massenmedien bis hin zu den großen Illustrierten handelt es sich hier um eine Institution unserer Gesellschaft. Das ist von großer Wichtigkeit zur Beurteilung dessen, was in Rundfunk und Fernsehen geschieht. Nicht umsonst sind es Körperschaften öffentlichen Rechts, sind es keine Wirtschaftsunternehmen. Wir sind deswegen nicht besonders glücklich, daß es hier überhaupt so etwas gibt wie wirtschaftliche Faktoren etwa in dem Stile der von vielen Erwachsenen und Kindern geliebten Reklamen. Ich glaube, daß es entscheidend darauf ankommt, daß dieses Institut allein von der Gesellschaft insgesamt getragen und verantwortet wird, weil sich in unserer heutigen Zeit darin ein gewichtiger Dialog abspielt, ein Dialog, der wirklich die Masse angeht, weil es unermeßlich viele Menschen, immer nach Millionen zählende Menschen sind, die hieran beteiligt sind. Es ist ja heute schon so, daß z. B. der Religionsunterricht in den Schulen von der Volksschule ab nicht mehr gehalten werden kann, ohne daß die Lehrkräfte sich mit dem befassen, was in den Massenmedien vorgeführt worden ist. Das zeigt die weittragende Bedeutung, die man diesem großen Faktor unserer demokratischen Gesellschaft zuerkennen muß. Damit sehen wir uns vor die Frage gestellt, ob die Massenmedien Rundfunk und Fernsehen für die Kirche Hilfe oder Gefahr sind. Denn man muß realistisch sehen, daß die Massenmedien für die Kirche auch eine Gefahr bedeuten. Nicht nur da, wo diese Massenmedien in den Dienst einer antichristlichen Propaganda gestellt werden, - auch das gibt es ja in der Welt - , sondern auch da, wo einfach die Tatsache dieses gewaltigen Instrumentes ganz von selbst gleichsam die Stimme des Evangeliums an den Rand der Gesellschaft drückt. Luther hat schon zu seiner Zeit, als es noch keine Massenmedien gab, von dem armen * Aus: MITARBEITERBRIEFE DER JUGENDKAMMER der Ev. Kirche im Rheinland und der Ev. Kirche von Westfalen Nr. 85. Wuppertal-Bannen 1967, S. 3-5. - Rede bei der Einweihung des Film-, Funk- und Fernsehzentrums der Evangelischen Kirche im Rheinland am 28. September 1967.

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Windlicht Gottes gesprochen. Damit meinte er das gesprochene Wort des Evangeliums. U n d wir müßten heute noch viel mehr sagen, wie im Unterschied zu den gewaltigen Jupiterlampen des Fernsehens sich das Evangelium daneben wie eine kleine Kerze ausnimmt, die gegenüber dem Licht dieser Welt mit ihren gewaltigen Leistungen vollkommen verschwindet, einer Welt, in der gezeigt wird, was der Mensch vermag, wie groß er ist und wie mächtig er werden wird. Rundfunk und Fernsehen sind heute die Kanzeln unserer Gesellschaft, die Stellen, die in Jahrhunderten die Kirchen ausgeübt haben. Denn die Kirchen waren ja nicht nur deswegen voll, weil sich die Menschen zu Millionen nach dem Wort Gottes gedrängt haben, sondern die Kirchen waren in der Regel die einzigen Stellen, in denen öffentlich geredet wurde, in denen alle Dinge zur Sprache kamen bis hin zu der Weitergabe staatlicher Verordnungen, weil ja der Großteil der Menschen weder lesen noch schreiben konnte, und die Pfarrer die Interpreten der damaligen sogenannten christlichen Obrigkeit zu sein hatten. Wer noch vor nicht langer Zeit auf den Dörfern gelebt hat, der wird sich erinnern, daß die Versammlungen in den Kirchen dazu dienten, daß man hinterher noch eine halbe Stunde beisammen blieb, um miteinander zu reden, unter Umständen auch noch anschließend einen kleinen Schoppen zu nehmen. Jedenfalls waren die Kirchen überall das, was man heute in der Öffentlichkeit eine gesellschaftlich entscheidende Stimme nennen würde. Heute ist dagegen die öffentliche Stimme an viele verteilt, aber die eigentliche Stimme der Öffentlichkeit scheint mir im ganz besonderen Maße eben dies Instrument Rundfunk und Fernsehen zu sein. Denn es kann kein Zweifel sein, daß dieses Institut durch das, was hier gesagt und auch gespielt wird, von einer gewaltigen Einflußkraft ist. Hier werden Vorbilder geschaffen für die Entscheidungen der Menschen, daß ihnen hier Maßgebliches gesagt wird, obwohl es vielleicht nicht so gemeint ist. Daß die Medien auf die Menschen so einwirken, muß man sehen, ebenso daß demgegenüber die Stimme der Kirche an den Rand, man könnte auch sagen, ins Getto gedrängt wird, obwohl das nicht in den Absichten der Menschen liegt, die dieses Institut verwalten oder auch geschaffen haben. Es ist klar, daß solche Möglichkeiten bestehen, weil im bestimmten Maße weltanschauliche Komponenten eine entscheidende Rolle spielen, vor allem in einem totalitären Staat, wo nur die eine maßgebende Weltanschauung vertreten wird, damit die Kirche mit ihrer Stimme zum Schweigen gebracht werden soll, so daß sie sich nur noch im bescheidenen Gegensatz dazu vernehmen lassen kann. Es ist sicher, daß durch eine solche moderne Gegenkirche ein Gegenbekenntnis entsteht, das alles tut, um die Stimme der Kirche zu vernichten. Es gibt genug Beispiele in der heutigen Welt, in der etwas Derartiges geplant oder auch durchgeführt wird. Wenn die Kirche in dieser Situation die

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Gefahren betrachtet, denen sie ausgesetzt ist oder sein kann, ist es begreiflich, daß entweder so etwas geschieht wie eine Resignation, eine gefährliche Resignation unter Umständen, oder auf der anderen Seite möglicherweise auch eine ebenso gefährliche Aktion. Es gibt ja auch die Möglichkeit, daß die Kirche in Verkennung ihres Auftrages sich hierin mit klerikal gearteten Ansprüchen der Welt gegenüber verhält und meint, sie hätte im besonderen Maße einen Anspruch auf eine bestimmte Zahl von Stunden, und man müsse das auch zur Geltung bringen auf Grund einer langen Tradition, auf Grund der Bedeutung des Christentums für das Leben der Menschen überhaupt. Alle solche Ansprüche können gerade dazu führen, daß es zu einem unguten Verhältnis von Kirche und Massenmedien kommt. Bei allen Gefahren, die man deutlich sehen muß und die nie ganz aus der Welt geschafft werden können, auch bei den besten Verhältnissen, muß man das Hilfreiche der Massenmedien für die Kirche in der heutigen Welt sehen. Die Kirche kann an der unerhörten Wirksamkeit partizipieren, wenn sie es recht versteht, ihre Stimme zu Wort zu bringen. Es könnte sein, daß bei den Rundfunkgottesdiensten möglicherweise ebenso viele Menschen zuhören wie in allen Kirchen Deutschlands zusammen. Es könnte sein, daß ein großer Prozentsatz von Menschen lange Zeit hindurch sich nicht an den Gemeindeveranstaltungen beteiligt, aber vielleicht doch in allen Rundfunkgottesdiensten mithört. Jeder, der diese Gottesdienste gehalten hat, weiß ja, wie enorm groß das Echo ist, das solche Gottesdienste haben. Aber auch kirchliche Nachrichten, Vorträge und Stellungnahmen im Bereich des Kirchenfunks sind Möglichkeiten, an viele Menschen heranzukommen, ihnen Anstöße zu geben, sie vor Fragen zu stellen, die sie auf irgendeine andere Weise nicht erreichen würden. Ich will nicht verschweigen, daß ich an dieser Stelle eine Frage habe, nämlich ob die Art und Weise, wie praktisch in unseren Massenmedien heute etwa im Bereich des WDR und des N D R die Übertragung von Gottesdiensten stattfindet, die relativ beste Möglichkeit ist, diese Aufgabe zu erfüllen, die uns hier gegeben ist. Ich bekenne, daß ich immer ein Gegner der Übertragung von Gemeindegottesdiensten gewesen bin, und zwar aus dem Grunde, weil man unterscheiden muß zwischen der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinde und dem an sie zu richtenden Wort und einem Wort, das in der Hauptsache an Menschen ergeht, die weit außen irgendwo stehen, die zu der großen Gruppe von Menschen gehören, die zwar nicht gegen die Kirche, aber auch nicht für sie sind, und deshalb keinen Gottesdienst besuchen, sondern höchstens gelegentlich einmal einen Rundfunkgottesdienst hören. Hier ist die große Gefahr für jeden, der solche Rundfunkgottesdienste hält, daß er sich immer überlegen muß: sprichst du nun besser zu der versammelten Gemeinde oder sprichst du zu denen, die draußen sitzen? Und man muß zu diesen 22

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beiden Gruppen verschieden sprechen, das ist einfach eine Notwendigkeit. Es wäre Unsinn, zu meinen, man brauche darauf keine Rücksicht zu nehmen, daß draußen vielleicht Tausende von Zuhörern sitzen und das Wort anders hören, schon weil sie nicht in der Kirche sind. Wer unter einer Kanzel sitzt, kann auch ein Pathos leichter ertragen, als wenn er es am Rundfunk hört. A m Rundfunk wird es unerträglich, was in einer Kirche mit entsprechenden Schallwirkungen noch tragbar ist, oder weil der Hörer es auch gewohnt ist, so angeredet zu werden. Aber im Rundfunk wirkt der Kanzelton überaus fragwürdig. Im Fernsehen kommen noch einige andere Dinge dazu, auf die ich nicht eingehen möchte. Jedenfalls ist und bleibt die Frage der kirchlichen Sprech- und Sprachweise eine wichtige Aufgabe, aber auch zugleich eine Hilfe für die Kirche, wenn sie genötigt wird, bei den Massenmedien und bei dem Umgang mit ihnen die eigene Sprache zu überprüfen. Gefahren müssen erkannt werden, aber die Hilfe, die uns hier geboten wird, ist so wichtig, daß man von da aus gesehen eigentlich nur noch von der Aufgabe der Kirche sprechen müßte, sozusagen von der Herausforderung, die uns dieses gewaltige Instrument bietet. Dazu möchte ich in aller Kürze nur das folgende noch hinzufügen: Die Kirche hat die Aufgabe, die Massenmedien ernstzunehmen als eine gesellschaftliche Größe, die keine spezifisch kirchlichen Aufgaben zu erfüllen hat. Es ist notwendig, sich darüber klarzuwerden, daß in der heutigen Gesellschaft, in der wir jetzt leben, nicht mehr die Vorstellung dominiert, daß die Gesellschaft im Dienst der Kirche steht, dies war so in der hinter uns liegenden Geschichte einige Jahrhunderte hindurch. Aber wir haben nach dem Neuen Testament nicht die Verheißung, daß es immer so sein und bleiben muß, nicht einmal, daß dies ein Ideal ist für die Kirche und für die Welt. Die Verweltlichung der Kirche und die Verkirchlichung der Welt sind zwei gegenläufige Entwicklungen, die hinter uns liegen und die wir mit guten Gründen als in keiner Weise zu fördern ansehen sollten. Das Massenmedium, das im Dienst der Gesellschaft steht, muß als gesellschaftliche Größe ernstgenommen werden, man muß ihm nicht kirchliche Aufgaben zuerkennen, die wir als Kirche selbst zu erfüllen haben, und also keine verkehrten Ansprüche an diese Institutionen stellen. Wir bekommen ja auch als Leiter von Landeskirchen oft Protestschreiben über irgendetwas, was im Fernsehen oder Rundfunk geschehen ist. Darin heißt es: „Herr Präses, greifen Sie ein!" Viele meinen, daß ein Landeskirchenleiter imstande ist, bei dem Intendanten vorstellig zu werden und zu sagen: Dies kommt vom Programm! Dies zeigt, daß bei uns noch die Vorstellung herrscht: die Kirche ist der Wächter über das, was in der Welt gesagt werden darf. Und wenn ihr etwas nicht gefällt, hat sie einzugreifen, und der Staat hat danach zu verfahren. Die Kirche

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sollte ihre Aufgabe anders sehen, nämlich den Versuch der großen und schweren Aufgabe einer freien Partnerschaft zu machen. Ich sage das im Anschluß an ein Wort der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die sich vor Jahren mit der Schulfrage beschäftigt hat. In dem Schulwort der Synode von 1958 steht der schöne Satz, daß die Kirche zu einem freien Dienst an einer freien Schule bereit ist. Wäre das nicht ein schönes Wort: Die Kirche ist zu einem freien Dienst an einem freien Massenmedium bereit? Dieser freie Dienst der Kirche soll die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit beider zum Ausdruck bringen, die sich je und je im Konkretum finden müssen; denn nur so ist die Möglichkeit da, daß in einem gesellschaftlichen Massenmedium auch die Kirche auf ihre Weise zu Wort kommt. Die Kirche hat das größte Interesse daran, daß das Massenmedium ein Raum der Freiheit ist und bleibt, d. h. der Freiheit gegenüber aller Art von Lobbyismus, gegenüber aller Einflußnahme von Menschen, die in dieser oder jener Richtung die hier notwendige freie Aussprache einschränken wollen. Es muß so sein, auch wenn es uns oder anderen nicht gefällt, auch wenn es Rumor gibt, aber es muß eben die „Agora" (wie einst in Athen) geben in einer Demokratie; und eine andere Agora, d. h. einen anderen Marktplatz als den des Massenmediums haben wir eigentlich nicht. Was ist an seine Stelle zu setzen? Auf dieser Agora kommt alles darauf an, daß das Wort der freien Überzeugung, der freien Rede im Gegensatz der Meinungen gesagt werden darf, also auch über die theologischen Probleme unserer Zeit, wenn uns dafür Raum gegeben wird, daß die schärfsten Gegner sich dort treffen. Dann sollte nicht gesagt werden: Das darf nicht sein, daß solche Ketzereien durch Rundfunk oder Fernsehen vor allen Leuten gesagt werden. Man muß ihnen sagen: Hier müßt ihr zuhören und eure Meinung bilden und stärken. Das gehört in dem politischen wie in dem theologisch-kirchlichen Raum zur Sache. Das gehört zur Aufgabe der Kirche. Sie hat ja auch das Ihre zu tun versucht, die Unabhängigkeit und Freiheit der Massenmedien zu schützen. Denn es ist von entscheidender Bedeutung, daß hier in einem ganz und gar unwirtschaftlichen Bereich keinerlei wirtschaftliche Macht zur Geltung gebracht wird, damit nicht jene gefährlichen Beeinträchtigungen geschehen, die dann nachher in einer ganz bestimmten Weise die Demokratie gefährden und schädigen. Die Aufgabe, die wir in den Massenmedien haben, scheint mir die zu sein, daß wir in Zusammenarbeit mit den Männern dieser Massenmedien etwas möglichst Wertvolles und Beachtliches leisten. Es kommt für die Kirche darauf an, ob sie imstande ist, etwas dem Massenmedium gerecht Werdendes zu leisten. In mancher Hinsicht sind wir da schwierig dran, vor allem, was das Fernsehen angeht. Die katholische Kirche hat es leichter, denn sie ist eine sichtbare Kirche, die man im Fernsehen zeigen kann, wir aber sind eher eine unsichtbare Kirche. Sie transparent zu

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machen, ist sehr viel schwerer. U m so mehr muß man sich dabei etwas einfallen lassen, denn wir können ja nicht aus Gründen der besseren Sichtbarkeit Dinge vollziehen, die der Sache nicht gemäß sind. Die größte Gefahr für die Kirche wäre aber gerade dies, daß die Leute, die im Namen der Kirche in den Massenmedien sprechen oder handeln, es so schlecht machen, daß die Millionen, die da zuhören, sagen: furchtbar, diese Kirche! Die wichtigste und schwerste Aufgabe der Kirche ist ihr Wort an die Welt von heute, wie es durch Rundfunk und Fernsehen an die Welt herangebracht werden kann, gründlich zu bedenken. Es geht ja nicht nur um das Wie (Wie sag ich's meinem Kinde?), sondern es geht heute auch um das Was. Auch dies muß zur gründlichen Besinnung gestellt werden. Der Hörer und Zuschauer, mit dem die Massenmedien es zu tun haben, gehört - darf ich es mal so formulieren - zur nachchristlichen Welt. Er ist aus dem Christentum geistlich ausgewandert, nicht als einer, der dagegen wäre, sondern der es irgendwie hinter sich gelassen hat als einer, der es zwar in den christlichen Schulen und im kirchlichen Unterricht zur Kenntnis genommen hat, bei dem es aber nicht gelungen ist, ihm das für sein Leben in der Wirklichkeit der Welt so zu sagen, daß er daran festgehalten hätte. Er ist in seinen Lebensbeziehungen woandershin gewandert, ohne die Kirche damit beiseite geschoben zu haben. Wenn sie etwas zu sagen hat, hört er schon zu. U n d so ging es heute gerade darum, eine neue, moderne Weise der Evangelisation zu versuchen, d. h. Menschen anzureden, die auf dem Wege von der Kirche weg sind, zu Menschen zu sprechen, die es nötig haben, daß ihnen das Evangelium noch einmal ganz neu übersetzt wird, weil die überlieferte Weise ihnen ebenso vorkommt wie alte Münzen, die man zwar sammeln kann, die aber nur Liebhaberwert haben. Die große Frage ist, ob es der Kirche gelingt, wieder in ihren Prägeanstalten, das sind die theologischen Fakultäten und kirchlichen Ausbildungsstätten, Münzen, die Valuta haben, in die Welt zu bringen, und nicht nur sehr schöne alte Münzen, die ein paar hundert Jahre alt sind und die gewisse Liebhaber für teures Geld erwerben und sie dann in ihren schönen Museen ausstellen. D a z u war das Evangelium nicht in die Welt gekommen, sondern es sollte in der Welt die Menschen ergreifen. Es geht also um die Wiedergewinnung eines geistgeladenen Wortes, das Menschen zu überzeugen vermag, weil es sie auf dem Wege, auf dem sie sind, trifft. Wir sind uns darüber klar, daß wir hier uns in unerhörten Schwierigkeiten befinden, besonders wo es sich um Rundfunkgottesdienste und Fernsehgottesdienste und dgl. handelt, wo es um dies merkwürdige Auseinander zwischen der kirchentreuen Gemeinde und den Christen in der Welt geht, die Sprache für sie zu finden, die die Sache des Evangeliums so an sie neu heranbringt, daß es sie auf ihrem Wege ergreift. Wir sollten aufrichtig dankbar sein als Kirche, daß bei uns die

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Massenmedien der Kirche nicht verschlossen, sondern offen sind. Wir sollten dafür dankbar sein, daß bei uns die Massenmedien keine Wirtschaftsunternehmungen sind, sondern Einrichtungen der Gesellschaft. Wir müssen Wert darauf legen, daß sie das bleiben. Wir dürfen dafür dankbar sein, daß im großen und ganzen doch eigentlich überall im uns bekannten Umkreis unsere kirchliche Mitarbeit erwünscht ist. Es ist ja nicht so, als ob man dort wie ein unerfreulicher Zeitgenosse erschiene, sondern wenn wir ohne falsche Ansprüche, aber in sachgemäßer Mitwirkung da sind, dann wird diese Mitarbeit angenommen. Wir sollten darum unsere kirchliche Aufgabe in und an den Massenmedien absolut ernstnehmen. Wir sollten als Kirche hierfür Charismatiker suchen, die es dafür geben muß. Denn letzten Endes kommt es darauf an, ob es solche Charismen gibt, und ich glaube, daß es sie gibt, sie müssen nur gefunden und eingesetzt werden. Es kann z. B. nicht jeder von uns der Reihe nach das „Wort zum Sonntag" sagen, auch dazu gehört eine charismatische Begabung. Die Tatsache, daß wir in den Massenmedien das Wort an die Welt sagen können, müßte uns dies strengstens zur Pflicht machen, uns zu Höchstleistungen anzuspornen und nicht mit einem gewissen Durchschnitt zufrieden zu sein.

Theologische Besinnung über die Leitung der Kirche* i. Die Kirche ist auch nach reformatorischer Theologie ein Bestandteil des christlichen Glaubensbekenntnisses, und zwar gerade die sichtbare Kirche, die Kirche in ihrer Sichtbarkeit als Versammlung, Zusammenschluß, Organisation von Menschen. Denn von ihr wird geglaubt, daß sie „Kirche Christi" sei, was man ihr nicht ansehen kann. Die Kirche ist ein Glaubensartikel, aber nicht ihre irdische „Ordnung". Denn diese ist kein Bestandteil des Wesens der Kirche, und darum gibt es auch keine göttlich geoffenbarte und vorgeschriebene Kirchenordnung, sondern die Ordnung der Kirche ist Werk von Menschen. Christen haben sie geschaffen und geändert. Sie ist als Werk des Glaubens ein Bestandteil der Kirchengeschichte und damit auch der Vergänglichkeit und der Verbesserungsbedürftigkeit ausgeliefert. Indem die Reformation im Gegensatz zur römisch-katholischen Lehre von der Kirche den grundlegenden Unterschied von Kirche und Kirchenordnung auf Grund ihrer Einsicht in den Unterschied von Evangelium und Gesetz, von Glaube und Gehorsam konstatierte, stellte sie die biblische Wahrheit neu ans Licht, daß Jesus Christus selbst der Herr der Kirche ist und bleibt und an niemand in der Kirche seine Herrschaft oder einen Teil dieser Herrschaft abgegeben hat. Die Ämter Christi setzen sich weder in der Kirchenordnung (hierarchische Struktur der Kirche) noch in Leitungsämtern der Kirche (Bischöfe, Konzil, Papst) fort. Mit Recht hat demgemäß auch die Theologische Erklärung von Barmen 1934 in Art. 3 erklärt: „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt", und im Vorspruch der Rheinischen Kirchenordnung von 1952 heißt es in Auslegung dieser Wahrheit: „Jesus Christus baut und erhält seine Kirche durch sein Wort und Sakrament in der Kraft des Heiligen Geistes bis zu seiner Wiederkunft."

* A u s : EVANGELISCHE FREIHEIT UND KIRCHLICHE O R D N U N G . F r e u n d e s g a b e a n l ä ß l i c h

des 65. Geburtstages von Theodor Dipper. Hg. vom Landesbruderrat der Bekenntnisgemeinschaft in Württemberg. Stuttgart 1968, S. 128-136.

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II. Wenn wir uns also darüber besinnen wollen, was theologisch unter „Leitung der Kirche" (bzw. Gemeinde) zu verstehen ist, so werden wir zuerst den Satz des evangelischen Glaubensbekenntnisses von der Kirchenleitung so zu formulieren haben: Jesus Christus leitet als der gekreuzigte und auferstandene Herr seine Gemeinde als der im Heiligen Geist Gegenwärtige durch sein Wort und Sakrament. Er hat das „Kirchenregiment" in der ganzen Kirche, die über die Welt verstreut ist, und ebenso in jeder Gemeinde, an welchem Ort sie sich auch versammelt, gemäß seiner Zusage: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Matth. 18,20). Jesus Christus leitet selbst und „baut und erhält" dadurch seine Kirche als der „gute Hirte", als der König seines Volkes, als der erhöhte Herr durch die von ihm selbst eingesetzten Werkzeuge seiner Herrschaft: sein Wort, seine Botschaft, sein Evangelium und die beiden „Sakramente", die Taufe und das Abendmahl. In diesen „Werkzeugen" (den „Instrumenta" und „Media salutis", wie die Väter sagten) ist er selbst als der Redende und Handelnde gegenwärtig in der Mitte der Seinen, die er zu seinem heiligen Tempel „erbaut" und als seine Gemeinde schützt, erhält, stärkt und zu seinem Ziel führt. Aber diese seine eigene Leitung der Kirche geschieht nur durch die Inanspruchnahme und Indienststellung von Menschen, die er erweckt zum Glauben und zu Zeugen beruft. Der Herr spricht zu seiner Gemeinde durch berufene Diener der Gemeinde, denn er hat als der Gekreuzigte und Auferstandene den Seinen den Auftrag gegeben, sein Evangelium zu verkündigen „bis an die Enden der Erde". So regiert er durch Indienstnahme von Menschen, die sein Wort und Sakrament verwalten sollen. In dem Vorspruch der Rheinischen Kirchenordnung heißt es demgemäß: „Der Herr hat seiner Kirche den Auftrag gegeben, das Evangelium aller Welt zu verkündigen, und schenkt ihr zur Erfüllung dieses Auftrages mannigfache Gaben und Dienste, die der Verherrlichung seines Namens und der Erbauung seiner Gemeinde dienen." Dieser Satz ist wiederum eine Auslegung des 6. Artikels der Theologischen Erklärung von Barmen, welcher sagt: „Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk." Mit den reformatorischen Vätern dürfen wir von dem „Mandatum Christi" reden, das geradezu als solches die Kirche zur Kirche macht. Denn der Auftrag der Verkündigung, dies Mandatum Christi, ist kein bloßer Zusatz zum Kirchenbegriff, sondern Wesensbestandteil der Kir-

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che. Kirche existiert als „Missio Dei", Gesandtschaft Gottes, Botin an Christi Statt. Dazu ist sie in der Welt: als in die Welt mit dem Wort Gesandte. Dies ist darum ihr göttliches Existenzrecht, ihr „jus divinum", wie unsere Väter sagten. „De jure divino" ist der Auftrag des Evangeliums, das Mandatum Christi. N u r dies ist „göttliches Recht", sonst nichts. Alles andere Recht der Kirche ist „de jure humano", d. h. irdisch-menschliches Kirchenrecht, das in der „Ordnung der Kirche", von Christen gemacht, sich niederschlägt und sein Existenzrecht dadurch empfängt, daß es im Dienst des Mandatum Christi steht. Zur Ausrichtung dieses Auftrages gibt der Herr seiner Kirche selbst die Gaben, Kräfte und Dienste, und zwar nicht nur deswegen, weil die Kirche aus ihrer Kraft nicht imstande wäre, diesen Auftrag durchzuführen, sondern auch deswegen, weil der Dienst am Evangelium selbst zur Gabe des Evangeliums gehört. Darum spricht der Epheserbrief von den Gaben Christi an seine Gemeinde in der Gestalt der Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten, Lehrer: „Er hat sie gesetzt, daß die Heiligen zugerüstet würden zum Werk des Dienstes" (Eph. 4,11.12).

III. Auf diesem „Mandatum Christi", seiner Gabe und Aufgabe für den „Dienst der Kirche" (in der reformatorischen Theologie, meist „Amt der Kirche" genannt, ruht alles, was „Kirchenordnung" heißt. In der These 4 der Barmer Erklärung wird von den „verschiedenen Amtern in der Kirche" gesagt, daß sie die „Ausübung des der ganzen Kirche anvertrauten und befohlenen Dienstes" „begründen". Dementsprechend steht auch im Vorspruch der Rheinischen Kirchenordnung der Satz: „Alle Glieder der Kirche sind auf Grund der heiligen Taufe berufen, an der Erfüllung dieses Auftrages im Glauben mitzuwirken. Es ist Aufgabe der Gemeinde, im Gehorsam gegen ihren Herrn alle zur Durchführung dieses Auftrages notwendigen Dienste einzurichten und zu ordnen." Damit ist ausgesprochen, was theologisch von der Ordnung der Kirche, ihrer Begründung und ihrem Sinn zu sagen ist. Freilich muß noch eines hinzugefügt werden, was in der Barmer Erklärung ausdrücklich vom Zeugnischarakter der Ordnung der Kirche gesagt wird. Hier wird ja behauptet, daß die Kirche nicht nur mit ihrer Botschaft, sondern auch „mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen hat, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte". Die Ordnung ist Bezeugung des christlichen Gehorsams, wie die Botschaft Bezeugung des Glaubens ist. Eben damit ist klar, daß die Kirchenordnung nicht neue eigene Kirchen-

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geböte anstelle oder über die Gebote Gottes hinaus enthalten darf. Hier wird aber die Richtlinie deutlich, der Maßstab aufgezeigt, nach dem die Ordnung der Kirche zu geschehen hat. Die christliche Freiheit zur Ordnung der Kirche kann nicht als beliebige Willkür verstanden werden, sondern ist Gebundenheit an den Auftrag, denn sie steht ausschließlich im Dienst an der rechten Ausrichtung des Mandatums Christi. Was der Herr anordnet in seinem Wort und Sakrament, das ordnet die Gemeinde in ihrer Ordnung. Insofern ist Kirchenordnung, theologisch verstanden, eigentlich Ordnung des Auftrages der Kirche oder Einrichtung und Ordnung aller zur Durchführung dieses Auftrages notwendigen Dienste. Dies ist die Berufung der Gemeinde zur Mitwirkung an der Erfüllung des Auftrages Christi und darum ihre Aufgabe, im Glauben an Jesus Christus und seine Botschaft gehorsam zu werden im Dienst an der Ordnung und Einrichtung kirchlicher Amter und Dienste. Dieser Gehorsam geschieht in der Freiheit des Glaubens, er ist Antwort, Werk und Frucht des Glaubens. Darum ist die Kirchenordnung kein göttliches Gesetz, wie es denn im Neuen Testament keine Offenbarung der wahren Kirchenordnung und keine Anweisung Jesu Christi für diese gibt. IV. Damit, daß der Herr seiner Kirche mit der Gabe des Auftrags die in diesem Dienst stehende Aufgabe der Kirchenordnung anbefohlen hat, aber auch damit, daß er ihr charismatische Gaben, Dienste und Kräfte durch bestimmte Menschen gibt (wie es neben Eph. 4 auch 1. Kor. 12 heißt: „Gott hat gesetzt in der Gemeinde aufs erste Apostel, aufs andere Propheten, aufs dritte Lehrer..."), hat er ihr anvertraut und anbefohlen, was „Leitung der Kirche bzw. der Gemeinde" heißt. In dieser „Leitung" wird die Ordnung aktualisiert. Die Ordnung geschieht durch die Dienste der „Leitung". Das Wort „Leitung" ist in der Kirche grundsätzlich verschieden von seinem Gebrauch im politischen Leben der Menschen. Im letzteren ist Leitung Vollzug von Rechtsbefugnissen „unter Androhung und Ausübung von Gewalt" (d. h. äußere, polizeiliche und militärische Macht), und unsere Väter redeten von „weltlicher Obrigkeit". Sie wollten diese von der geistlichen Vollmacht des kirchlichen Amtes streng unterschieden wissen, konnten es jedoch nicht recht praktizieren, da bei ihnen gerade die weltliche Obrigkeit zugleich wesentliche Funktionen der Kirchenleitung ausübte. Sie haben uns deswegen in diesem Bereich mehr Fragen als Antworten hinterlassen, und erst in unserem Jahrhundert ist die Frage nach der Kirchenleitung in der evangelischen Theologie durch die politischen Ereignisse und Wandlungen dieser Zeit neu gestellt und durchdacht worden.

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Wir dürfen bei dem Wort Leitung innerhalb der Kirche nicht an die Art und Weise der Leitung von Staaten, Völkern oder auch von Wirtschaftskonzernen denken. Wir müssen vielmehr uns daran erinnern, daß die Leitung der Kirche es mit ihrer Ordnung, genauer mit dem praktischen Vollzug dieser Ordnung, zu tun hat und daß deshalb für sie derselbe Maßstab gilt, der uns für die Ordnung der Kirche gegeben ist. Das Wesen von Kirchenleitung ergibt sich allein von dem Auftrag her, der der Kirche anvertraut und befohlen ist, und so ist Leitung Dienst, wie es der Herr seinen Jüngern im Neuen Testament zusprach: „Einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder." - „Der Größte unter euch soll euer Diener sein" (Matth. 23, 8.11). Ist Leitung der Kirche bzw. der Gemeinde „Dienst am Auftrag", so müssen wir zwei Arten von Leitung unterscheiden, die es notwendigerweise gibt: unmittelbarer und mittelbarer Dienst am Auftrag der Kirche. Beide sind verwandt, aber zu unterscheiden. Beide sind notwendig, damit der Auftrag der Kirche erfüllt werden kann. N u r in dem Zusammenwirken beider Weisen der Leitung wird der Dienst am Auftrag so vollzogen, daß die Gemeinde erbaut werden kann. Der unmittelbare Dienst am Auftrag der Kirche geschieht durch die Leitung des Gottesdienstes, die Predigt des Evangeliums, die Verwaltung der Taufe und die Feier des heiligen Abendmahls, sowie durch alle „geistlichen Handlungen", die damit in Beziehung stehen: Konfirmation, Trauung, Bestattung usw. bis zur Ordination und Amtseinführung der Diener der Kirche. Diese „geistliche Leitung" geschieht in Gemeinde und Kirche auf mannigfache Weise, zugeordnet nach den örtlichen und zeitlichen Umständen, in denen eine Kirche lebt. Was alles im einzelnen zu dieser „geistlichen Leitung" gehört, ferner ob sie immer nur durch den hauptamtlich bestellten „Diener am Wort" ausgeübt wird, darüber wird sich nichts schlechthin Allgemeingültiges sagen lassen; aber hier wird man in der Kirchenordnung Regelungen treffen können, die die bestmögliche Weise des Dienstes sicherstellen, sich aber auch für Änderungen durch Erfahrungen und geschichtlichen Wandel offen halten. Der unmittelbare Dienst am Auftrag bedarf als geordnete Einrichtung in der Kirche gerade zu seinem ordentlichen Vollzug des „mittelbaren" Dienstes, d.h. der Leitung der Kirche im mittelbaren Sinn. Es ist ohne weiteres klar, daß hierzu die Berufung der Diener der Kirche, ihre Auswahl, Wahl und Bestellung, gehört, aber auch der Dienst der Aufsicht, dem alle Diener der Kirche unterworfen sind. Von alters her sind „Ordinatio" (= Berufung oder Amtsübertragung) und „Visitatio" (= Aufsicht) die wichtigsten „kirchenleitenden" Aufgaben gewesen. Zu diesen Aufgaben „mittelbarer Leitung" gehört das meiste, was in den Kirchenordnungen den Kirchengemeinderäten, den Synoden, ihren Vorständen sowie den Kirchenbehörden und leitenden Amtsträgern als

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ihre Aufgaben übertragen ist. Dabei ist nicht ausdrücklich unterschieden zwischen den Aufgaben unmittelbarer und mittelbarer Erfüllung des Dienstes am Auftrag der Kirche, was ja von daher zu verstehen ist, daß diese beiden Aufgabenbereiche zwar unterschieden, aber nicht getrennt oder geschieden werden dürfen. Im Kirchenkampf hatte man hier wichtige Erkenntnisse gewonnen, die sich in der Forderung niederschlugen: geistliche Leitung und Verwaltung der Kirche gehören zusammen und dürfen nicht voneinander geschieden werden. Denn alle „Verwaltung" hat allein der Verkündigung zu dienen und empfängt ihr Recht zu ihren Maßnahmen allein von dem Auftrag oder Mandatum Christi her. Bei unserer Erörterung des theologischen Begriffs der Kirchenleitung haben wir grundsätzlich nicht unterschieden zwischen Kirche und Gemeinde. Darin steckt eine Entscheidung von großem Gewicht, nämlich die reformatorische Verwerfung des römisch-katholischen Kirchenbegriffs mit seiner hierarchischen Struktur, dem Amteraufbau nach Weihegraden, dem bischöflich-päpstlichen Leitungsgedanken und dem Unterschied von Klerus und Laien - sowie dem kanonischen Recht (mit seinen Rechtsbestimmungen de jure divino). Wie ist aber nun die evangelische Konzeption der Kirche, ihrer Ordnung und Leitung im Gegensatz zu dieser grandiosen römischen Kirchenidee zu formulieren? Muß es nicht den Eindruck machen, als sei auf protestantischer Seite nichts als Grundsatzlosigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber der Ordnung, Ohnmacht der Leitung der Kirche - ein spiritualistisches Chaos? Wir werden den „bösen Schein", der sich hier leicht ergibt, in Kauf nehmen müssen, wollen wir den grundsätzlichen Erkenntnissen treu bleiben: von der Leitung der Kirche durch Christus und von der Freiheit des Glaubens zur Ordnung der Kirche im Dienst am Auftrag Christi. Es hat auch sein theologisches Gewicht, an der theologischen Identifikation von Gemeinde und Kirche - gemäß dem Neuen Testament - festzuhalten und also nicht die Gemeinde als Teil oder Untergliederung der Kirche zu verstehen. Gemeinde ist theologisch Kirche, nichts anderes, und Kirche ist in keinem Sinn eine Ordnung über der Gemeinde. Aber während wir hier theologisch nicht unterscheiden dürfen, müssen wir es im Bereich der kirchlichen Ordnung und Leitung. Denn die Kirche Christi ist beides zugleich: eine weltumspannende Größe, ebenso aber eine Ortsgemeinde, wo immer Christen zusammenleben, -kommen und im Dienst am Auftrag Christi stehen. Aber um dieses „Zugleich" willen sind alle Gemeinden einander zugehörig, einander Dienst und Hilfe und Gemeinschaft schuldig. Weil sie eine Kirche sind, die sie glauben und bekennen, haben sie sich auch einander zuzufügen zu gemeinsamer Verbundenheit in Ordnung und Leitung. Welche Rechtsgestalt dies annimmt, steht nicht ein für allemal fest, denn es gibt kein kanonisches Recht, das die Gesamtkirche in Bistümer usw. gliedert. Aber es gibt die

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Forderung der christlichen Bruderschaft über alle Orte und Länder hinweg, die uns in Anspruch nimmt, Gemeinschaft zu suchen, zu festigen und so weit als nötig auch in rechtliche Formen zu bringen. Dabei wird sich innerhalb der Völker und Staaten und über die Weltmeere hinweg eine große Verschiedenheit der Verbundenheit ergeben, die auch von manchen nichttheologischen Faktoren mitbestimmt sein wird. Auch wird dabei die unmittelbare Leitung und die mittelbare Leitung in mannigfacher Weise zugeordnet sein. Hierüber wird es keine ein für allemal gültigen Regeln geben. Wohl aber werden sich geschichtliche Uberlieferungen und gemeinsame Erfahrungen bei den Bildungen und Wandlungen kirchlicher Ordnung und Leitung stark auswirken. Kritische Rückschau und Gegenwartsanalyse kann sich im Bereich protestantischer Tradition leichter zur Geltung bringen als anderswo. Aber dies alles gehört zur reformatorischen Befreiung von einem gesetzlichen Verständnis des Evangeliums und dem entsprechenden D o g m a von der Rechtskirche. Wir dürfen darum gerade auch bei der „Regelung" der kirchlichen Dienste durch eine „Kirchenleitung" offen sein für eine vernünftige, praktisch brauchbare und durchführbare Verteilung der kirchenleitenden Funktionen zwischen „Gemeinde" und „Kirche", zwischen Presbyterium und Synode, ohne uns besorgt nach irgendwie festgelegten bestimmten Prinzipien richten zu müssen. Wir sind „frei vom Gesetz", d.h. wir sind als Kirche nicht unbedingt gebunden an bestimmte kirchenrechtliche Prinzipien episcopaler, presbyterialer, synodaler oder kongregationaler Art als göttlich oder biblisch vorgeschriebene Verfassungsnormen. Diese Freiheit ist keine Ermächtigung zur Willkür, sondern Freiheit zum Dienst, zur bestmöglichen Lösung der Probleme der Kirchenordnung und Kirchenleitung im Blick auf den Auftrag Christi heute. Unsere geschichtliche Tradition wird dabei ohnehin ihr großes Gewicht haben - aber wir haben sie nicht deswegen oder um des Prinzips willen zu pflegen, denn wir haben hier letztlich in der uns geschenkten Freiheit nur nach dem Mandatum Christi zu fragen, dessen Auftrag uns unbedingt bindet.

Menschliche Zukunftsplanung und christliche Zukunftshoffnung* Wie verhalten sich die menschlichen Planungen der Zukunft zur christlichen Zukunftshoffnung? Das ist ein schwieriges und bislang offensichtlich ungelöstes Problem der christlichen Theologie. Je mehr der Mensch darangeht, die Zukunft zu planen, um so mehr steht der glaubende Christ vor der Frage, welchen Sinn demgegenüber die überlieferte christliche Erwartung der Zukunft der Welt haben kann. Es wird darum immer notwendiger, darüber nachzudenken, wie man beides zusammen begreifen kann. Denn es wäre eine ernste Gefährdung des christlichen Glaubens, wenn es keine Möglichkeit gäbe, die irdische Zukunft als Aufgabe und Verantwortung des Menschen und den entscheidenden Inhalt der christlichen Hoffnung für die Welt in Verbindung zu bringen. In den folgenden Ausführungen handelt es sich um einen Versuch, beides voll zu bejahen: Planungen der Zukunft des Menschen und christliche Zukunftserwartungen als zueinander gehörig zu verstehen aus der Uberzeugung des christlichen Glaubens, daß der Schöpfer und der Erlöser der Welt derselbe Gott ist.

I. Die Planungen der Zukunft des Menschen Wir beginnen mit einer Erörterung der Fragen und Aufgaben, die mit dem Begriff der Planung der Zukunft des Menschen gegeben sind - ohne Rücksicht auf die Frage nach der christlichen Zukunftshoffnung. Wir stehen dabei gleich zu Beginn vor der Frage, ob verantwortliche Planung der Zukunft des Menschen überhaupt möglich ist. Man nennt heute oft Daten, die man für bestimmte Entwicklungen annimmt; offenbar ist man der Ansicht, heute schon voraussagen zu können, wann

* Gladbeck 1970 (Wahrheit und Wagnis - Eine Schriftenreihe hg. von Fritz Mybes). Die Schrift basiert auf einem im Herbst 1969 bei einer Vorständekonferenz der Ev. Frauenhilfe in Duisburg gehaltenen Vortrag.

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aller Wahrscheinlichkeit nach ein bestimmtes Ereignis im Bereich der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung eintreten wird. Dabei geht es nicht um Prognosen; Prognosen gab es in der Geschichte schon immer, aber das ist etwas anderes. Wir alle haben gewisse Prognosen in unserem eigenen Leben, wir überlegen uns, was im nächsten Jahr oder in einigen Jahrzehnten geschehen wird oder was wir tun wollen. Verantwortliche Planung aber ist etwas ganz anderes, ist viel mehr. Zukunftsplanung hat mit Wissenschaft zu tun und wird nur durch die Wissenschaft, wie wir sie heute betreiben, ermöglicht. Dabei ist aber gerade die wissenschaftliche Zukunftsplanung davon durchdrungen, daß es keine absolut sicheren Planungen gibt, daß alle Planungen bestenfalls nur einen mehr oder weniger hohen Grad der Wahrscheinlichkeit haben. Die von uns betriebene Wissenschaft aber hat uns gezeigt, daß man gewisse Dinge voraussagen, ja auch vorausplanen kann. Wir sind nicht einfach einer unbestimmten Zukunft ausgeliefert, wir müssen nicht einer Zukunft entgegengehen, von der wir schlechterdings nichts wissen, sondern wir gehen einer Zukunft entgegen, auf die wir entscheidenden Einfluß nehmen können. Ich meine sogar, daß wir für die Zukunft der Welt in einem bestimmten Sinn Verantwortung übernehmen müssen. Darum besteht kein Zweifel, daß Planung der Zukunft des Menschen nicht nur möglich, sondern notwendig und auch sinnvoll ist. Die Planung der Zukunft des Menschen ist eine notwendige wissenschaftliche Aufgabe von heute um der menschenwürdigen Existenz der kommenden Generationen willen. Wir dürfen an diesem Punkte nicht versagen, wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken und meinen, für die Zukunft hätten wir keine Verantwortung. Wir sind für die Zukunft der Menschen mitverantwortlich. Durch das, was wir heute tun, und durch das, was wir heute unterlassen, bestimmen wir die Zukunft des Menschen entscheidend mit. Unser Handeln wirkt sich heute mehr denn je auf die Zukunft aus, weil der Mensch mit Hilfe der seit Jahrhunderten entwickelten modernen Wissenschaften und der darauf aufbauenden Technik dabei ist, sich auf dieser Erde eine eigene, von ihm selbst errichtete künstliche Welt zu schaffen. Ich nenne diese Welt künstlich, weil sie unter Inanspruchnahme der in der Natur gegebenen Dinge, aber prinzipiell über diese hinausgehend, von dem Menschen neu geschaffen wird, der dann darin lebt. Das wird uns deutlich, wenn wir unser eigenes Leben, die Umgebung, in der wir existieren, betrachten. Denken wir nur an den Verkehr, wie er heute von uns allen in Anspruch genommen wird. Während dem Menschen von der Natur die Beine gegeben sind, um sich fortzubewegen, hat er sich mit Hilfe seiner Vernunft großartige Möglichkeiten geschaffen, mit einer unerhörten Geschwindigkeit die Erde zu umkreisen. Er hat künstliche Straßen erbaut, verglichen mit den Pfaden, die er

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durch den Dschungel getreten hatte. Auf einem anderen Gebiet des Lebens wird uns die tiefgreifende Wandlung des menschlichen Lebens ebenso deutlich: Wir umgeben uns immer mehr mit Kunststoffen. Unsere Umwelt, die Kleidung, die wir tragen, die Haushaltsgeräte sind nicht mehr aus den ursprünglichen Produkten der Natur hergestellt, sondern aus künstlichen Produkten des Menschen. Alle unsere Einrichtungen werden in steigendem Maße vom Menschen selbst geschaffen, und unser Verkehr miteinander vollzieht sich in immer stärkerem Maße in sekundären Beziehungen. Die ursprünglichen Beziehungen der Natur, von Familie zu Familie, von Geschlecht zu Geschlecht, sind verändert worden. Wir Menschen finden uns heute zusammen in großen Interessengemeinschaften, in Verbänden, Gewerkschaften, Parteien; aber auch überall im übrigen Leben sind wir in ganz anderer, in künstlicher Weise, d.h. in vom Menschen selbst geschaffener Weise, verbunden im Miteinander und Gegeneinander, im Unterschied zu einer Welt, in der es nur die ursprünglichen, natürlichen Verbindungen gegeben hat. Das Tempo der Entwicklung, der Umbruch der bisherigen Welt vollzieht sich so ungeheuer schnell, daß man sagen kann: In den letzten Jahrzehnten ist in der Veränderung der Welt mehr geschehen als in Jahrtausenden vorher. Von daher muß man begreifen, daß es für den Menschen eine Notwendigkeit ist, in der Welt, in der wir heute leben, und für die Welt, auf die wir zugehen, mit Hilfe all der Kräfte, die ihm zur Verfügung stehen - Naturwissenschaften, Physik, Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie, politische Wissenschaft - das zu bedenken und zu planen, was für die Existenz des Menschen unausweichlich notwendig ist. Ich möchte an einigen wesentlichen Beispielen zeigen, welche Aufgaben einer wirklichen Planung der Zukunft des Menschen vor uns stehen.

I. Die Planung des Weltfriedens Die Planung des Weltfriedens ist eine elementare Notwendigkeit für die Zukunft der Welt. Wir empfinden heute alle, daß die Abschaffung des Krieges angesichts der modernen, vom Menschen geschaffenen Waffentechniken zu den unerbittlichen Voraussetzungen gehört, wenn die Welt bestehen bleiben soll, wenn die Menschen überleben sollen. Wir wissen aber auch, daß die Abschaffung des Krieges nicht von selbst und auch nicht nur mit einigem guten Willen geschehen wird, sondern im Grunde nur dadurch, daß der Mensch daran geht, planmäßig und grundlegend die möglichen Ursachen eines Kreiges aus der Welt zu schaffen. Im Laufe der Geschichte haben sich bestimmte Rechtsverhält-

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nisse zwischen den Menschen geändert, - denken wir nur an die heutige Großpolitik im Gegensatz zu den früheren Stammesfehden - . Die Menschen haben lernen müssen, in immer größeren Räumen miteinander in Frieden zu leben. Sie haben lernen müssen, in immer größeren Räumen Gebiete zu schaffen, in denen die Auseinandersetzungen um Leben und Recht, um die Zukunft des einzelnen nicht mehr durch Gewalt, sondern durch Rechtsentscheidungen erfolgen. Dies muß sich nun auf die ganze Welt ausdehnen, nachdem deutlich ist, daß es in der Welt keine Kontinente mehr gibt, die unabhängig voneinander leben können. Wir sehen das heute alle und sind überzeugt, daß etwas getan werden muß, um den Krieg als Mittel der Politik aus der Welt zu schaffen. Hierzu gehört aber nicht nur die Beseitigung möglicher Kriegsursachen, sondern auch eine ganz klare Zielplanung. Diese wird darin bestehen müssen, daß alle Völker, Staaten und Nationen sich in einer universalen Weltgemeinschaft vereinigen. Dazu gehört die gemeinsame Überzeugung aller Beteiligten, daß nur dieser Weg übrig bleibt, ganz gleich, ob er dem einzelnen angenehm und erfreulich oder unerfreulich scheint; es kann keinen anderen Weg geben als den aller Völker, Staaten und Rassen in eine große politische Gemeinschaft der Menschheit. Um dieses Ziel aber zu erreichen, werden drei Dinge notwendig sein, die sorgfältig erwogen und für die Welt geplant werden müssen: Die Umschichtung der Souveränität, die bslang und noch heute größtenteils bei den einzelnen Staaten und Völkern liegt, in eine gemeinsame Föderation, in der letzten Endes alle Souveränität kulminiert. Es wird ein weltumspannendes Recht geben müssen. Das erscheint uns heute noch utopisch, aber wer daran denkt, in welch großen Räumen heute schon gemeinsame Rechtsordnungen durchgesetzt worden sind - man denke nur an die großen Weltstaaten, mit denen wir heute zu tun haben - , der wird es nicht für grundsätzlich unmöglich halten, zumal es zu den elementaren Notwendigkeiten gehört. Den Krieg als eine der größten Gefährdungen des Menschen wird man nur aus der Welt schaffen können durch eine neue, von allen anerkannte, gemeinsame Rechtsordnung. Unser heutiges Völkerrecht ist schon ein Anfang dazu, aber es reicht nicht aus, und die Bemühungen, die unternommen werden, um die Rechtsgemeinschaft unter den Völkern zu stärken, gehören zu den wichtigsten Zukunftsplanungen im Blick auf den Weltfrieden, den die kommenden Generationen notwendigerweise brauchen. Das Letze, was den Weltfrieden sichern wird, ist schon seit vielen Jahren in den ökumenischen Diskussionen erörtert worden als eine Aufgabe, die besonders der Kirche zukommt: ein gemeinsames menschliches, politisches Ethos zu schaffen, das in immer größerem Maße alle

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Menschen verpflichtet. Nur durch ein gemeinsames politisch-gesellschaftliches Ethos wird auch das Recht die Grundlage empfangen, so daß es nicht nur Spielregel für das Zusammenleben ist, sondern eine anerkannte, im tiefsten Grunde verpflichtende und verbindliche Norm des Zusammenlebens der so verschiedenartigen Gruppen. Wir erkennen heute mehr als früher, daß der Weltfriede zu den elementaren Notwendigkeiten der Zukunft des Menschen gehört, wir sehen aber auch die Fülle der noch ungelösten Probleme, die den Frieden bedrohen, so daß er noch immer ungesichert ist. U m so dringender wird die verantwortliche Übernahme der Friedenssicherung im Zeitalter der atomaren und chemischen Vernichtungswaffen, um ein Uberleben der Menschheit gegen die aus ihr selbst hervorgehende Bedrohung ihrer Existenz zu ermöglichen.

II. Die Planung des menschlichen

Nachwuchses

Auch der menschliche Nachwuchs wird geplant werden müssen. Wir wissen durch viele Berichte in Zeitungen, Zeitschriften und den Massenmedien, welche auffallende Entwicklung die Gesamtbevölkerung genommen hat. Wissenschaftliche Gesellschaften und auch die U N O führen heute ununterbrochen Überlegungen, Planungen und Kontrollen durch, um die Zahlen, um die es sich hier handelt, immer genauer und sorgfältiger zu erfassen. In dem von der U N O herausgegebenen demographischen Handbuch werden folgende Zahlen angegeben, die nach den Erfahrungen der letzten Jahre eher als zu niedrig denn als zu hoch gegriffen erscheinen: Die afrikanische Bevölkerung betrug im Jahre 1957 225 Millionen, im Jahre 1980 wird sie auf 330 Millionen gestiegen sein, und im Jahre 2000 auf 517 Millionen, auf über eine halbe Milliarde. Asien ohne die Sowjetunion hatte 1957 etwa 1550 Millionen Menschen, davon mehr als 1,5 Milliarden Chinesen. Europa wird von 414 Millionen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 570 Millionen gewachsen sein, und die gesamte Erdbevölkerung von 2,8 Milliarden im Jahre 1957 auf über 6 Milliarden im Jahre 2000. Diese Zahlen zeigen, daß ein Wachstum stattfindet, wie es in der hinter uns liegenden Geschichte noch nie festzustellen war. Es gibt eine Reihe von Gründen für dieses ungeheure Wachstum: Die Entwicklung der europäischen Medizin, die Industrialisierung, die wachsende Hygiene, der Analphabetismus bei dem größeren Teil der Menschheit und der unter dem eigentlichen Existenzminimum liegende Lebensstandard von mehr als 2 Milliarden Menschen. Alle diese Tatbestände wirken zusammen, so daß man heute mit Recht von einer gefährlichen Bevölke23

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rungslawine spricht, die vor allen Dingen die reichen Länder in Europa und Amerika bedrohen wird. „Der Hunger bedroht uns", heißt es in einem Heft des Diakonischen Werkes für die Sammlung „Brot für die Welt".* Die Eindämmung dieser gewaltigen Explosion der Farbigen ist in den bisher denkbaren Weisen nicht möglich. Die Maßnahmen der Geburtenregelung, die uns in Europa und Amerika bekannt sind, sind dort vollkommen vergeblich. Sie sind nicht nur viel zu kostspielig, sondern auch deshalb nicht durchführbar, weil die Menschen dort zum allergrößten Teil für solche Maßnahmen noch kein Verständnis haben. Die Flutwelle, die da heranbricht, kann nur in den Griff genommen und aufgefangen werden, indem man Wege zur Anhebung des Lebensstandards und des kulturellen Standards dieser Menschen beschreitet. Daher ist Bildungsplanung für die Zukunft der Welt von ausschlaggebender Bedeutung. Der Kampf, der heute gegen den Analphabetismus geführt werden muß, gehört zu den wichtigsten Planungen, um die Bevölkerungslawine der farbigen Welt einzudämmen. Ebenso wichtig ist aber auch die Industrialisierung der Welt. N u r dadurch, daß in den großen Gebieten der Welt, die heute noch „unterentwickelt" sind, mit Hilfe der europäischen und amerikanischen Zivilisation technische Maßnahmen getroffen werden, die es möglich machen, diesen Menschen Arbeit und Brot zu geben, werden sich zwangsläufig ähnliche Entwicklungen wie in Europa vollziehen. Es ist nachgewiesen, daß in der europäischen Geschichte die Industrialisierung zunächst zu einem gewissen Anwachsen der Bevölkerung geführt hat, dem aber dann Einhalt geboten wurde dadurch, daß den Menschen in steigendem Maße Arbeit und Brot gegeben und ihnen ein höherer Lebensstandard ermöglicht wurde. Die Entwicklung hat in unseren Ländern auch gezeigt, daß sich das Verhältnis von Geburten- und Sterbezahlen wieder einpendelt. Das Verhältnis war ja immer merkwürdig aufeinander abgestimmt, indem einer hohen Frühsterblichkeit eine hohe Geburtenziffer gegenüberstand. Heute ist die hohe Sterblichkeit durch Medizin, Technik und andere Wissenschaften zurückgegangen, so daß die Menschen heute eine höhere Lebenserwartung haben und die Zahl der alt werdenden Menschen enorm ansteigt, was neue Probleme aufwirft. Die Bedrohung der Zukunft der Menschheit durch die Bevölkerungsexplosion ist um so ernster zu nehmen, als es bisher und für die kommende Zeit kein Mittel von durchschlagender Kraft gibt, damit fertig zu werden. Eine wirklich großzügige „Entwicklungshilfe" ist das einzige Mittel, das uns gegenwärtig zur Verfügung steht, der bedrohten farbigen Welt zu helfen.

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III. Die Planung der Lebensmittel Im Zusammenhang hiermit steht ein Weiteres: Es wird notwendig sein, die menschlichen Lebensmittel in der Zukunft enorm zu vermehren. Schon heute gibt es den Kampf gegen den Hunger. Die Zahl der hungernden Menschen ist in einem nie dagewesenen Maße gestiegen. Das hängt mit den Schwierigkeiten in den unterentwickelten Ländern zusammen, deren man bisher noch nicht Herr werden konnte. N u r dadurch, daß in den Industrieländern, vor allem in Nordamerika, die Landwirtschaft so großartig industriell entwickelt ist, war es bisher möglich, den Hunger wenigstens einigermaßen durch Lieferung von Getreide zu stillen. Wie weit das auf die Dauer möglich sein wird, ist noch nicht zu sagen, wir können bisher und auf lange Sicht dem gewaltigen Massenhunger nichts Genügendes entgegensetzen. Die Unterernährung der Millionen hängt damit zusammen, daß die landwirtschaftliche Entwicklung mit der Bevölkerungsexplosion nicht Schritt halten konnte. Heute noch werden zwei Drittel der gesamten Landwirtschaft der Welt auf die primitivste Weise betrieben, wie sie schon vor Jahrtausenden üblich war; nur ein ganz kleiner Bereich, 10 Prozent innerhalb der Welt, ist landwirtschaftlich modern entwickelt, so daß dort mehr produziert werden kann, als benötigt wird. Eine der wichtigsten Erfindungen auf diesem Gebiet ist der künstliche Dünger. N u r mit ihm ist es möglich, daß wir auf so kleinem Raum so gewaltige Ernten erzielen. Hinzu kommt die planmäßige Züchtung von Pflanzen, die für die Ernährung des Menschen neue Möglichkeiten bieten. Wir stehen vor der Notwendigkeit, alle landwirtschaftlich nutzbaren Gebiete so modern wie möglich zu bewirtschaften. Wenn das geschieht, werden wir nicht nur 6, sondern ohne Schwierigkeiten auch 12 Milliarden Menschen ernähren können. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg, der sehr schwer und schmerzlich sein wird. Die Planungen, um die es gehen wird, betreffen in der Tat den Acker der ganzen Welt. Wir leben ja von dem relativ wenigen Humusboden, den es auf der Erde gibt. Dieser Boden reicht aus, wenn er mit den modernen Methoden gut bebaut wird; das aber kann nur geschehen, wenn wir auch die Industrie für die Landwirtschaft einsetzen. Das Bauerntum der Vergangenheit kann es nicht mehr geben. Wir müssen die Landwirtschaft in der ganzen Welt neu planen und Sorge tragen, daß der vorhandene Acker intensiver bebaut wird und darüber hinaus bisher ungenutzte Gebiete landwirtschaftlich genutzt und mit modernen Methoden bebaut werden. Die U N O hat eine Einrichtung für Welternährunfragen, die F A O , mit Sitz in Rom, beauftragt, diese Probleme in Angriff zu nehmen, - die Leistungen dieser Organisation sind respektabel.

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Zum Acker gehört auch der Wald. Wir Menschen haben durch Jahrtausende den Wald mißhandelt, und inzwischen ist es soweit gekommen, daß die Welt gefährdet ist durch die immer kleiner werdende Zahl der Bäume, die auf Erden wachsen. Aus diesem Grunde gehört in vielen Gebieten die Aufforstung zu den wichtigsten Aufgaben der Sicherung unserer Zukunft, denn durch den Wald wird das Klima beeinflußt und die Wasserwirtschaft wird begünstigt. Vielerorts wurde Landwirtschaft unter Preisgabe der Waldwirtschaft betrieben mit dem Erfolg, daß sich das Klima wandelte und die Landwirtschaft nicht mehr gedeihen konnte. Um so notwendiger ist daher die Wiedergewinnung des verlorenen Raumes an Wald. Schließlich gehört auch die Planung der Wasserwirtschaft dazu. Die größten Wassermengen in der Welt, die Ozeane, sind für den Menschen nicht trinkbar. Die übrigen Quellen, von denen wir bisher gelebt haben, reichen je länger desto weniger aus, um uns mit dem nötigen Wasser zu versorgen. Die kommende Menschheit steht vor dem Problem, ob sie genug zu trinken haben wird. Nicht nur, daß 6 Milliarden Menschen doppelt soviel trinken wie 3 Milliarden, auch die Landwirtschaft, der Wald und die Industrie werden viel mehr Wasser brauchen. Während der Wasserverbrauch in unerhörtem Maße steigt, wird das Wasser immer weniger und - wir sehen es an unseren Flüssen - immer schlechter. Wir sind schon heute darauf angewiesen, aufgearbeitetes, „künstliches" Wasser zu uns zu nehmen. Die einzige Rettung, die wir haben werden, wird sein, daß wir mit Hilfe der nuklearen Energie das ozeanische Wasser entsalzen, um so Trinkwasser zu schaffen. Dies geht der Kosten wegen nur in ganz großem Stile, so daß wir in der Wasserwirtschaft vor den größten Planungsproblemen der Zukunft stehen. Damit haben wir die wichtigsten Faktoren dieser Frage genannt. Am Rande sei erwähnt, daß es auch um die Reinheit der Luft und die Erhaltung eines einigermaßen erträglichen Klimas gehen wird. Nur durch all diese Dinge wird es eine Zukunft geben, in der die Menschen miteinander leben können. Der Kampf um die Futterplätze auf der Welt wird grauenvolle Ergebnisse haben, wenn es nicht gelingen wird, um Acker, Wald und Wasser für alle Menschen Sorge zu tragen. Dies gelingt nicht von selbst, sondern kann nur zustande kommen, wenn es der Menschheit gelingt, diese drei großen Probleme gemeinsam zu lösen. Hier steht eine Aufgabe vor uns, die genauso wichtig ist wie der Weltfriede. Allerdings ist der Weltfriede die Voraussetzung dafür, daß diese Dinge gemeinsam geplant und durchgeführt werden können. Einiges andere kann ich nur noch kurz anreißen: In der Ernährungsfrage der Menschheit stehen wir heute vor dem Problem, daß es an einigen Stellen Überproduktionen gibt, daß wir aber das, was wir übrig haben, nicht dahin gelangen lassen können, wo es fehlt. Das liegt nicht

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nur daran, daß die Fracht viel zu teuer ist, sondern vor allem daran, daß die Produkte den Transport nicht vertragen. So wird zu der großen Planung der Landwirtschaft und Lebensmittel eine riesige Aufgabe der Konservierung gehören. Was nicht konserviert wird, hält sich nicht lange. So wird die Chemie und die damit zusammenhängende Wirtschaft der Konservierung notwendig sein, um die Lebensmittelproduktion zu verteilen, so daß die Nahrung immer auch da ist, wo sie gebraucht wird. Diejenigen, die in der FAO oder an anderen Stellen, an Universitäten im Bereich der Wirtschaftswissenschaft, der Landwirtschaft usw. arbeiten, sagen uns, daß man in bezug auf die Möglichkeiten der Erde durchaus optimistisch sein kann. Die Welt hat viel mehr Schätze, als wir brauchen, nur wir können sie uns bisher nicht so zunutze machen, daß allen Menschen ihr Anteil an den Nahrungsmitteln der Welt zuteil wird. Es gibt heute schon Besorgnisse, ob es nicht schon zu spät ist, ob nicht schon die Schere zwischen landwirtschaftlicher Produktivität und Bevölkerungsexplosion zu groß ist und dadurch Katastrophen unabsehbarer Art eintreten können.

IV. Die Planung einer Weltwirtschaft

Nur kurz kann ich auf das Problem der Planung einer Weltwirtschaft eingehen. Schon seit Jahrzehnten befaßt sich in der Welt eine immer größere Zahl von Wirtschaftsfachleuten mit dem Problem einer echten Weltwirtschaft. Sie wissen, daß die heutige Wirtschaft aufs stärkste darunter leidet, daß die Welt durch Ideologien zerrissen ist und daß zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Wirtschaftsordnung heftige, leidenschaftliche Gegensätze bestehen. Dieser Gegensatz hindert uns heute, die Probleme der Welt gemeinsam zu lösen. In diesen Zusammenhang gehört auch das große Aufgabengebiet der Hilfe für die unterentwickelten Länder. Nur durch eine die ganze Welt umspannende Wirtschaftsgemeinschaft wird es möglich sein, die Zukunftsprobleme der Menschen zu lösen. Auch andere Fragen tauchen auf, die von einigen als besonders zukunftsträchtig angesehen werden. Man bedenkt die Frage einer künftigen Weltgesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer Großentwicklung der heutigen Energieproduktion, die dazu führen kann, daß in absehbarer Zeit die Zahl der Menschen, die im Arbeitsprozeß benötigt werden, kleiner wird. Die Frage, wie man die übrigen Menschen in ihrer Freizeit beschäftigen soll, wird sehr drängend, weil die Menschen nicht mehr durch ihre Arbeit ausgefüllt sind. Es wird dann nicht mehr „Arbeit und Brot" heißen, sondern „Brot und Freizeit". Was wird aus dem Menschen werden, wenn er nicht mehr vor der Notwendigkeit der Arbeit stehen wird? Das Schlimmste, was passie-

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ren kann, wäre eine für die Menschen tödliche Langeweile, die noch grauenvoller sein würde als die Überarbeitung. So haben mit Recht schon heute Planungen der Freizeit der Menschen begonnen, wenn auch erst in bescheidenem Ausmaße.

V. Die Planung der Gesundheit des Menschen Schließlich muß auch für die Gesundheit der Menschen planvoll Sorge getragen werden. Hier sind zwei wichtige Dinge zu nennen: 1. Hunger und Seuchen fordern zur Zeit noch zwei Drittel aller Todesopfer. Diese Zahlen, die uns noch nicht lange bekannt sind, haben zu verstärkten Bemühungen im Kampf gegen Hunger und Seuchen geführt. Zu der Frage der ärztlichen Versorgung will ich nur einige Daten nennen: In der Bundesrepublik kommt auf 740 Einwohner ein Arzt, in der Schweiz auf 700, in den USA auf 760, in Israel sogar auf 400. Dagegen ist das Verhältnis in der farbigen Welt wesentlich ungünstiger: In Ägypten kommt auf 35000 Menschen ein Arzt, im Kongo auf 50000, in Nigeria auf 60000, in Tunesien auf 70000, in Vietnam auf 65 000. Die Frage des Pflegepersonals ist hier noch gar nicht berücksichtigt. Diese Zahlen verdeutlichen, in welcher unermeßlichen Gefahr von Krankheit und Tod sich ein großer Teil der Menschen befindet. Wenn man sagen muß, daß von den 4 Milliarden Menschen, auf die wir zugehen, wohl fast 2 Milliarden als krank zu bezeichnen sind, bei denen auch keine Aussicht besteht, daß sie jemals wirklich gesund werden, so ist das eines der traurigsten Symptome der Situation, in der wir uns in der heutigen Welt befinden. Die Welt ist zum großen Teil eine kranke Welt, und davon ist vor allem die farbige Welt betroffen. Es gibt nicht genügend Ärzte, Medikamente, Krankenhäuser und Pfleger. Was heute in der Welt auf diesem Gebiet von einem kleinen Kreis von Menschen geschieht, ist bewundernswert; es gibt nicht nur einen Albert Schweitzer! Viele Menschen auf der ganzen Welt setzen ihr Leben daran, zu helfen, und sie leisten Unerhörtes! Ich habe z.B. in Nias gesehen, wie Tag für Tag 150 bis 300 Menschen in die Sprechstunde eines Arztes an einem christlichen Hospital kamen, um von ihm Hilfe zu erhalten. 2. Auf der anderen Seite steht das Problem der Gefahr der menschlichen Degeneration, das in den alten Kulturländern die Biologen und Mediziner sehr beschäftigt. Die Degeneration durch Krankheiten haben wir in den asiatischen Ländern deutlich vor Augen. Bei uns aber sieht es anders aus. Es ist einmal gesagt worden: Die heutige Medizin züchtet immer schwächere Menschen und immer stärkere Bakterien! Daran ist sicher etwas Richtiges. Außerdem ist die Beunruhigung größer geworden, die darin besteht, daß gewisse Schwächeerscheinungen, die früher

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durch die „natürliche Auslese" aus der Welt geschafft wurden, heute durch die ärztliche Kunst am Leben erhalten und weitervererbt werden. Die Beunruhigung in bezug auf die Zukunft der Menschheit besteht in folgenden Punkten, die ich in Gestalt eines Zitats aus der „Naturwissenschaftlichen Rundschau" (Oktober 1965) darbiete: „Viele erbliche Krankheiten, die früher zum Tode oder doch zur verringerten Chance der Fortpflanzung führten, können heute zwar nicht geheilt, aber doch so vollständig substituiert werden, daß deren Träger praktisch keinen Selektionsnachteil gegenüber gesunden Menschen erleiden. Da auch das Auftreten neuer erblicher Defekte durch Spontanmutation in Zukunft nicht mehr der biologischen Regulation unterliegt, sondern mit der Zunahme unserer genetischen und biochemischen Kenntnisse kompensiert werden wird, muß zwangsläufig eine Erhöhung des Bestandes defekter Gene in der Bevölkerung und ein immer häufigeres Auftreten erbkranker Menschen resultieren. Eine wachsende Zahl menschlicher Individuen wird ohne Hilfe der Medizin nicht mehr lebensfähig sein. Die Menschheit könnte zu einer gendefekten „Prothesengesellschaft" werden, in der das Weiterwuchern kaschierter Erbkrankheiten und Erbschwächen mit Hilfe einer humanitären Heilkunst schließlich zur genetischen Katastrophe führt. Eine weitere Mutationsbelastung des menschlichen Erbgutes stellt der steigende Gebrauch von scheinbar harmlosen Schlaf- und Beruhigungsmitteln, von Kunststoffen, Pflanzenschutzmitteln, Konservierungs-, Färb- und Aromastoffen dar. Ihre bedenkenlose und uneingeschränkte Verwendung trotz unvollständiger Kenntnisse über ihre Wirkung auf die Biosphäre, ja trotz Verdachtsmomenten auf mutagene Wirkung bilden einen Gefahrenherd, dessen Auswirkung zwar in vielen Fällen noch nicht direkt erkennbar, jedoch in den folgenden Generationen manifest werden wird. Die großen Fortschritte der Technik, der Biochemie, der Medizin und Sozialhygiene sind also in einem noch nicht überschaubaren Umfange mit genetischen Schadensmöglichkeiten gekoppelt. Das biologische Gleichgewicht zwischen Mutationen und deren Selektion wird ferner durch die Zunahme der strahlenbedingten Mutationsrate gestört. Berechnungen führten zu dem Ergebnis, daß in etwa 10 Generationen die genetische Qualität der Menschheit weitgehend derjenigen der am stärksten betroffenen Uberlebenden von Hiroshima entsprechen w i r d . . . Schließlich resultiert ein beunruhigendes soziologisches Phänomen aus der Tatsache, daß Individuen mit positiven geistigen Eigenschaften (wie spezielle natur- und geisteswissenschaftliche Begabungen, hohe Intelligenz, Verantwortungsgefühl, geistige Regsamkeit) eine unterdurchschnittliche Fortpflanzungsrate aufweisen. Da Intelligenz und Begabung genetisch festgelegte Merkmale darstellen, findet auf diese Weise eine den Interessen der Menschheit entgegengesetzte Auslese statt. Die hier genannten Gründe einer kontinuierlichen genetischen Verschlechterung des menschlichen Erbgutes bilden die Hauptargumente bei der Forderung, aktiv in den Vorgang der zukünftigen Evolution einzugreifen und den Menschen von morgen nach Möglichkeit genetisch zu manipulieren."

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Vor einigen Jahren hat zu diesen Fragen ein sehr beunruhigendes Gespräch in London stattgefunden, wo sich eine ganze Reihe von bedeutenden Genetikern über das Problem unterhielten, wie man den Menschen den Erfordernissen der Zukunft anpassen und genetisch so verändern könne, daß er seiner Aufgabe in der künftigen Umwelt besser entspreche. Man müsse auf seine Evolution planmäßig einwirken, und die Möglichkeiten der Einwirkung sind nach den Versuchen im Tierreich nicht zweifelhaft. Wir wissen von den Züchtungsmöglichkeiten, die im Tierreich schon angewandt werden, auch wenn wir noch nichts unternommen haben, die gleichen Methoden auf den Menschen anzuwenden. Den ethischen Problemen, auf die wir hier stoßen, sind wir noch gar nicht gewachsen, zumal wir nicht bestreiten können, daß hier Tatbestände vor uns liegen, die uns vor die Aufgabe stellen, die Gesundheit des Menschen für die Zukunft zu sichern, um seiner möglichen Degeneration entgegenzuwirken, und andererseits ihn körperlich so zu kräftigen, daß er nicht ein Opfer der großen medizinischen Begabungen unserer Zeit wird. Die Arbeit der modernen Biologie ist für die Zukunft der Menschheit von ebenso großer Wichtigkeit wie die anderen bisher genannten Bereiche der Planungen der Zukunft des Menschen. Ich schließe diesen ersten Teil mit der Frage, ob es einem gläubigen Christen überhaupt erlaubt ist, sich der Zukunft des Menschen durch Mitwirkung oder Bejahung solcher Planungen hinzugeben. Ist es dem Menschen nicht verboten, in bezug auf seine Zukunft sich solche Gedanken zu machen? Widerspricht das nicht den Worten der Heiligen Schrift „Sorget nichts!" oder „Alle eure Sorge werfet auf ihn!"? Vor allem, widerspricht das nicht dem Inhalt der christlichen Hoffnung? Müssen wir nicht sagen: Wir haben nur für heute zu sorgen, denn die Zukunft ist allein Gottes Sache, die wir dem Herrn überlassen müssen? Aber wie steht es nun mit der christlichen Hoffnung für die Zukunft der Welt?

II. Die christliche Zukunftserwartung Die christliche Hoffnung im Blick auf die Zukunft gründet sich ausschließlich auf die Verheißungen Gottes, wie sie in der Heiligen Schrift durch das Zeugnis der Propheten und Apostel ihren Niederschlag gefunden haben. Der Unterschied zwischen den reichen und vielfältigen Aussagen der Heiligen Schrift über das in der Zukunft zu Erwartende und zwischen den einigermaßen kargen Aussagen der christlichen

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Bekenntnisse von der Zukunft ist beachtenswert. Daraus wird deutlich, daß sich die christliche Kirche nicht ohne weiteres die Gesamtheit der großenteils apokalyptischen Voraussagen zu eigen gemacht hat, die in manchen Teilen der Heiligen Schrift einen großen Raum einnehmen; im Neuen Testament besonders im Buch der Offenbarung des Johannes. Es bleibt auch beachtenswert, daß ein großer Teil der die Kirche begleitenden Sekten mit ganz besonderer Kraft die apokalyptischen Aussagen der Bibel zum Hauptinhalt ihrer Verkündigung gemacht hat. Demgegenüber enthält z.B. das Apostolische Glaubensbekenntnis eigentlich nur drei Aussagen von der Zukunft: Von der Wiederkunft Christi zum Weltgericht, von der Auferstehung der Toten und vom ewigen Leben.

I. Die Auferstehung

der Toten

Zuerst ein Wort über die Auferstehung der Toten, die für viele Christen die einzige Hoffnung der Zukunft ist: Der Radikalität des christlichen Todesverständnisses entspricht die ebenso unerhört radikale Botschaft von der Auferstehung der Toten. Sie hat ihren Ursprung allein in der Auferstehung Jesu Christi, denn erst von da her gibt es die Erkenntnis und das Zeugnis davon, was es um die Auferstehung der Toten ist. Denn Auferstehung ist etwas völlig anderes als Unsterblichkeit. Die Idee von der Unsterblichkeit der Seele hat ihren Ursprung in der griechischen Philosophie. Sie ist so etwas wie eine philosophische Sublimierung des heidnischen Animismus. Sie hat sich als eine heidnische Heilslehre vor allen Dingen seit Piatos Philosophie von der Unsterblichkeit der Seele entwickelt, und sie ist bedauerlicherweise auch in die christliche Kirche und ihre Lehre eingegangen. Im Unterschied von der philosophischen Spekulation über die Unsterblichkeit der Seele meint Auferstehung gerade nicht das Weiterleben eines unsterblichen seelisch-geistigen Kerns des Menschen. Die Schrift verkündigt, daß Gott allein unsterblich ist. Auferstehung ist daher Erweckung eines Toten, Neuschöpfung eines nicht mehr Seienden, also ein Wunderwirken Gottes, - auf keinen Fall eine Art von Verwandlung oder so etwas wie ein geistiger Prozeß. Dagegen spricht die Schrift mit ihrer Verkündigung von der Auferstehung als einem leibhaftigen Geschehen, einer Erwekkung zu einer neuen leibhaftigen Existenz. Paulus prägt dabei den paradoxen Begriff einer pneumatischen Leiblichkeit, was nicht verstanden werden darf, als ob damit eine Auferstehung des irdischen Leibes (des Fleisches) gemeint sei. Der Text des Apostolischen Glaubensbekenntnisses versteht unter Fleisch in Übereinstimmung mit dem Alten Testament Auferstehung der Menschheit. In der Auferstehung wird die tote, d.h. also nicht mehr seiende Person des Menschen wieder zu

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neuem Leben gerufen. Es ist dieselbe Person, die von Gott einst geschaffen war. Aber in der Auferstehung wird sie zugleich in eine gänzlich neue Existenzweise versetzt. Der irdische Unterschied von Mann und Frau z.B. gilt für die neue Auferstehungsleiblichkeit nicht mehr. Weil es sich bei der Auferstehungshoffnung um den Glauben an das neuschaffende Wunderwirken Gottes handelt, ist jede Lehre von einem Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung als Mythologie abzulehnen, da sie mit dem christlichen Begriff von Tod und Auferstehung nicht vereinbar ist. Die hier von den Menschen immer wieder aufgeworfenen Fragen sind falsch gestellt. Zwischen Tod und Auferstehung ist „nichts". Ebenso wie zwischen zwei Dimensionen nichts ist, so ist auch zwischen Zeit und Ewigkeit kein „Zwischenzustand" denkbar. Die Identität der Person heute und in Zukunft, jetzt und in Ewigkeit liegt allein in Gott, wie unsere Väter von den Toten sagten, daß sie „in Gott ruhen". Unser Sein im Tode ist in Gott, d.h. in seinem Denken an uns, ein für alle Mal und in Ewigkeit aufgehoben. Die Auferstehung der Toten geschieht nach der christlichen Zukunftserwartung „am Jüngsten Tage", d. h. sie ist nicht ein individuelles Ereignis, sondern betrifft die ganze Menschheit in einem Akt Gottes, sie hängt mit dem Jüngsten Tage, d. h. mit dem Ende aller Dinge und der Wiederkehr Christi zum Weltgericht zusammen, und sie ist daher Auferstehung zum Gericht, in dem das letzte Wort über alle gesprochen wird. Die christliche Hoffnung und Botschaft von der Auferstehung der Toten ist also nicht zu trennen von den sonstigen Zukunftserwartungen. Vielmehr ist sie ein Bestandteil der christlichen Hoffnung und Erwartung der Erscheinung Jesu Christi.

II. Das Ende der Welt Die christliche Zukunftserwartung ist kosmisch-universal. Sie weiß nicht nur etwas von der Auferstehung der Menschen, sondern auch vom Ende der Geschichte, der Zeit, ja vom Ende dieser unserer heutigen Welt: „Wir warten auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde." Dadurch erfährt die geschichtlich verlaufende Welt eine besondere Beurteilung. Ihre Vergänglichkeit ist nicht ein natürlicher Zustand, d.h. so etwas wie der Inbegriff der Zeitlichkeit, sondern sie ist ein Auf-dasEnde-gerichtet-Sein, ein Zum-Vergehen-verurteilt-Sein. Diese Überzeugung hängt mit der christlichen Lehre von Schöpfung und Sünde, insonderheit mit der Verfallenheit der Welt durch den Fall des Menschen zusammen. Es ist dies jedoch nicht als eine pessimistische Welt- und Geschichtsbetrachtung mißzuverstehen, sondern als Erkenntnis und Anerkennung des Urteils Gottes über die durch die Sünde des Menschen

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zum Vergehen, zum Ende bestimmte Welt. Wie wenig es sich hier um eine pessimistische Weltbetrachtung handelt, zeigt die Doppelseitigkeit der christlich-eschatologischen Geschichtsbetrachtung. Das Ende ist nicht bloß ein Zunichte-Werden, sondern zugleich von Christus her, dem Schöpfungsmittler und Erlöser der Welt, ein neuer Anfang. Das Ende der W'cli macht die in Jesus Christus bereits vollzogene totale Wende zu einem neuen Leben offenbar. Wir stehen durch die Erscheinung Jesu Christi in dieser Welt, durch sein Kreuz und seine Auferstehung, bereits in der Wende, der Mitte, der Fülle der Zeiten, also bereits im „Eschaton". Das Ende ist in Christus bereits angebrochen, der neue Aon ist inmitten des vergehenden alten Aon im Kommen. Jesus Christus ist der Schnittpunkt des vergehenden und des kommenden Aon, denn sein Kreuz und seine Auferstehung sind das eschatologische Heilsereignis. In seinem Kreuz ist die Welt bereits gerichtet, in seinem Tod ist dem Tode bereits die Macht genommen, und in seiner Auferstehung hat bereits die neue Welt begonnen, auch wenn sie unter dem Kreuz verborgen ist. Dennoch, die Glaubenden sind bereits mit Christus gekreuzigt und auferstanden zu einem neuen Leben. Wir stehen also nicht erst vor dem Vollzug der Endgeschichte, sondern es ist heute bereits die letzte Stunde („.. .und ist schon jetzt" im Johannes-Evangelium). Was aussteht, ist allein die Apokalypsis, d.h. die Enthüllung dessen, was schon jetzt verborgen wirkt. N u r unter diesem Gesichtspunkt ist von dem zu reden, was unter Endgeschichte verstanden werden kann, d.h. also, was Geschichte der Welt ist auf Grund der Thronbesteigung des Gekreuzigten, was Geschichte ist zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft Jesu Christi. Die Endgeschichte ist bestimmt von der Herrschaft Christi in der Welt, die gerade zum Heil der verlorenen Welt zwar noch unter dem Kreuz verborgen ist, bis sie in Herrlichkeit endgültig ans Licht treten wird. Diese Endgeschichte hat ihre eigentümlichen Zeichen seit den Zeichen Jesu Christi, den Zeichen in seinen Wundern, in seinem Leiden, Sterben und Auferstehen. Diese Zeichen sind Zeichen des Endes, aber gerade nicht Zeichen, die sich zur Berechnung des Endes eignen, sondern allein Buße und Glauben erwecken sollen. Einen Fahrplan der Endzeit gibt es nicht. Die Zeichen der Endzeit sind die Ausbreitung des Evangeliums über die ganze Welt, die Aufbewahrung des Volkes Israel, der Aufstieg antichristlicher Weltmächte, die Verfolgung der Gemeinde Christi und schließlich die Weltkatastrophen durch Entfaltung dämonischer Kräfte in den Auseinandersetzungen der Menschheit. Alle Zeichen der Wirksamkeit Gottes in der Endgeschichte der Welt sind Signale dafür, daß durch Christus die Krisis in die Welt gekommen ist, und d.h. sie sind Hinweise darauf, daß es sich in der Botschaft von Jesus Christus um Gottes letztes Verheißungswort handelt, das Gott in seiner freien Gnade

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der Welt anbietet. Gottes Botschaft bewirkt eine unheimliche Krisis darin, daß sie Glauben wirkt und auch zum Unglauben reizt, - was das eigentliche Thema der Weltgeschichte seit Christus ist. Darum geht es in der Endzeit um die Verwerfung oder die Annahme Jesu Christi. In dieser christlich eschatologischen Geschichtserkenntnis ist deutlich, wie völlig sich dies von einer menschlichen oder auch christlich gedachten Geschichtsphilosophie unterscheidet. Hier it kein Zutrauen zu den Begriffen „Entwicklung" oder „Fortschritt" als solchen, sondern hier ist die Uberzeugung von der Kontingenz der Entscheidung; diese ist geschichtsmächtig, weil das Evangelium von Jesus Christus nicht Bestandteil einer historischen Entwicklung ist, sondern von Gott hineingesprochen ist in die Geschichte, deren entscheidender und bleibender Partner der lebendige Gott selbst ist. Die Welt wird also nicht durch eine christliche Einwirkung immer höher entwickelt. Diese Idee, die durch Jahrhunderte hindurch in der Christenheit lebendig gewesen ist, besonders wieder seit dem 18. Jahrhundert, haben wir allmählich preisgegeben. Wir sahen, daß dies nicht Gottes Wege waren. Oder doch nicht? Müssen wir heute nicht wieder sehen, daß diese Idee in neuer Gestalt bei uns sich Bahn bricht? Wir beobachten einen neuen Fortschrittsglauben von dem kommenden Reich Gottes, an dem wir durch unsere Mitarbeit wirken, daß es zu Stand und Wesen kommen kann. In Wahrheit gibt es eine unaufhebbare Ambivalenz der Geschichte, in der wir leben: Verurteilung zum Tode und Berufung zum neuen Leben sind in ihr enthalten. Die Welt kann nicht tiefer fallen, als sie gefallen ist, denn sie ist gerichtet, ist zum Tode verurteilt, aber sie ist auch durch Gottes Liebe zu neuem Leben berufen. Die Welt geht ihrem Ende entgegen. Es gibt keinen Ubergang, keine Verwandlung oder Entwicklung zu einer neuen Welt, und wir können auch nicht annehmen, daß durch irgendwelche Ereignisse, durch einen Sieg des Christentums oder wie man sich das sonst gedacht hat, am Ende Gottes Reich steht. Solche Vorstellung haben in der Urchristenheit gelegentlich die Christen gehabt. Sie haben sie ganz neu gewonnen in jenem Zeitalter, als das Christentum zum ersten Mal eine anerkannte Religion im römischen Reich wurde. Wer einen Einblick gewonnen hat in die unerhörten Zeiten der Christenverfolgungen der Kaiser Decius und Diokletian und dann liest, wie durch Konstantin jene wahrhaft epochale Wende eintrat, der kann verstehen, daß damals große christliche Theologen der Meinung waren, das Reich Gottes sei jetzt hereingebrochen. Sie verwechselten das Reich Gottes mit dem römischen Kaiserreich, weil sie mit einem Male befreit waren von der dauernden Gefahr der Vernichtung, der Zerstörung, der Anfechtung. So hat dann von dort aus eine Entwicklung begonnen, als sei das Reich Gottes im Römischen Reich bereits Realität

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geworden. Sie haben sich darin getäuscht, und wir sollten heute in der Rückschau auf diese Geschichte ein für allemal erkennen, daß das Reich Gottes so nicht kommt. Wir haben auch nicht damit zu rechnen, daß durch die Ausbreitung der Weltmission oder andere christliche Initiativen oder Entwicklungshilfe oder durch Weltrevolutionen das Reich Gottes sichtbar in Erscheinung treten wird. Die Schöpfung ist von Gott zum Tode verurteilt und von demselben Gott zu neuem Leben bestimmt. Das Ende ist in seiner Eigentlichkeit die Enthüllung des Gottesgerichtes über alles Gottfeindliche und darum der Vollzug des Zunichtewerdens der vergänglichen Welt. Darum hat die christliche Lehre vom Ende nichts mit naturwissenschaftlichen Theorien über die Vergänglichkeit der Erde usw. zu tun, sondern allein mit dem personalen Handeln Gottes, des Schöpfers und Richters, des Versöhners und Erlösers. Sie ist nur verständlich im Zusammenhang mit dem Zeugnis von Gottes Gericht in der Wiederkunft Jesu Christi.

III. Die Offenbarung

Christi

Das Herzstück der christlichen Zukunftshoffnung ist die Offenbarung Christi, die herrliche Enthüllung des im Kreuz verborgenen und auferstandenen Herrn. In der Auferstehung Jesu Christi begründet, im Herrschaftsantritt, wie er in der Schrift bezeugt ist, in seiner Verheißung ausgesprochen, muß das Recht Jesu Christi, die Rechtfertigung Gottes, die Gott in Jesus Christus der Welt geschaffen hat, an den Tag kommen. Das ist Wiederkunft Christi, nicht nur Auferstehung, Himmelfahrt, Gegenwart in seiner Gemeinde, sondern Offenbarung seiner Herrlichkeit vor der ganzen Schöpfung. Die Ankunft Christi in dieser Welt in Herrlichkeit fällt zusammen mit der Auferstehung der Toten und dem Ende der Welt. Der Wiederkommende erweckt die Menschen, er bringt in seiner Wiederkunft die Welt an das ihr von Gott bestimmte Ziel. Er erscheint, er bricht herein - wie die Schrift sagt - unübersehbar, aber überraschend und unberechenbar. Seine Wiederkunft ist das Gericht, und die letzte Entscheidung hat damit angehoben, wie sie in der Epiphanie, in der Erscheinung Jesu Christi ihren Anfang gehabt hat. Solange es aber Heute heißt, solange es Zeit ist, ist es seine Zeit, in der alle Menschen zum Heil, zur Barmherzigkeit, zur Gnadenherrschaft Gottes gerufen sind. Aber diese Zeit geht zu Ende, die Zeit ist nicht Ewigkeit, sie ist für jeden und für alle begrenzt durch Gottes unerforschlichen Heilsrat. N u r der Vater weiß Zeit und Stunde, sagt Jesus, die er seiner Macht vorbehalten hat. Dann aber, wenn alles erfüllt ist, wenn Gottes Plan, in den wir keine Einblicke haben, zu seinem Ziel gekommen ist,

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wird der Sohn dem Vater alles übergeben. Die Vollmacht, die der Sohn vom Vater empfangen hat, erweist sich dann als die Vollmacht des Weltrichters. Die Botschaft vom Weltgericht ist zweifellos ein Wort ohnegleichen, unbegreiflich groß. Das Gericht Gottes steht am Ende, kein irdisches Gericht ist eine Vorwegnahme dieses Gerichtes Gottes. Das ist eine wichtige, bedeutsame Entscheidung, die auch für die christlichen Gerichte und die Gerichte unserer Zeit gelten muß, die oft den Eindruck erwecken, als solle mit ihnen Gottes Endgericht bereits vorweggenommen werden. Gott allein hat das letzte Wort über alles, was je geschehen ist. Schillers Wort ist falsch; die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht! Erst im Endgericht Gottes wird alles gerichtet, nichts bleibt unerledigt, nichts wird vergessen, nichts wird übersehen; im Gericht Gottes kommt Gottes Gerechtigkeit zum Sieg - erst dann, aber dann auch völlig. Alles wird in Ordnung gebracht. In Gottes Gericht ist die Vollstreckung enthalten, sein Urteil bewirkt, was es sagt. Dieser Spruch hat allein ewige, unwiderrufliche Gültigkeit und Wirksamkeit. Gott gibt dieses Gericht in die Hand seines Sohnes. Das ist der große Trost der christlichen Hoffnung. Der Vater richtet durch den Sohn, der Sohn aber ist der Mittler, wie bei der Schöpfung so bei der Erlösung. Der Richter ist der Heiland der Welt, der sein Leben gab zur Errettung der verlorenen Welt. Dies ist das Wunder der freien Gnade, durch die wir Errettung vor dem zukünftigen Zorn empfangen, allein dadurch empfangen können. Hier ist unsere Hoffnung, unser Trost, unsere Zuversicht im Blick auf das Gericht Gottes: Der Richter der Welt ist ihr Heiland, unser Heiland! Er tritt für uns ein. Was für ein Gericht, in dem der Richter für die zu Richtenden eintritt! Er bedeckt mit seinem Opfer die Schuld und Sünden der ganzen Welt. So allein werden wir im Gericht gerechtfertigt, durch den Glauben an Jesus Christus. Deswegen das große Wort in Römer 10: „Wer den Namen des Herrn anrufen wird, wird gerettet werden." Paulus meint das hier ganz spezifisch auf die Anrufung des Kyrios im Gericht, wenn er kommt, um die Welt zu richten. Der Herr erkennt uns dann als die, die sich auf ihn verlassen, und er bekennt sich dann zu uns. Das ist unser Freispruch im Gericht. Gottes Gerechtigkeit ist seine Liebe. Das hat uns kein geringerer als Paulus eindringlich vor Augen gestellt, und danach wird nun auch das Gericht über die ganze Welt gehalten. Nach der Schrift wird die ganze Welt, nicht nur ein Teil, gerichtet, aber nicht nach dem Gesetz, sondern nach dem Maßstab der Liebe. Das ist der eigentliche Gehalt des berühmten Gerichtskapitels Matthäus 25: Gottes Liebe in Christus rettet überall und immer jedermann auf der ganzen Welt. Darum rettet der Glaube an die Liebe Gottes in Christus, darum ist dies der Maßstab des Endgerichts auch für die Heiden, auch für die, die nichts vom Evangelium

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gehört haben; auch sie werden nach der Liebe, die sie in der Welt erwiesen haben, gerichtet - wie die Glaubenden. Auch für die Glaubenden gibt es ein Gericht nach den Werken, allein die das Evangelium verworfen haben, die wider den Heiligen Geist darin gesündigt haben, sie empfangen nach ihrem Unglauben. Gott gibt ihnen das, was sie gewollt haben: Sie werden keinen Gott haben, wie sie keinen haben wollten. Weil sie nicht von der Liebe Gottes haben leben wollen, kann und wird sie ihnen nicht zuteil werden können; denn die Liebe kann nur den erneuern, der diese Liebe annimmt im Glauben. Das Urteil des Gerichtes aber offenbart Gottes Gerechtigkeit in seiner Barmherzigkeit, im Freispruch, in der Errettung durch die Gabe des ewigen Lebens, und in der Vollstreckung des Urteils, das die Menschen sich selbst zugezogen haben und von dem sie sich nicht haben befreien lassen wollen. Was das ist, vermag kein menschliches Wort zu sagen, und wir werden vergeblich darüber streiten, was das sein wird, das eine wie das andere, das ewige Leben oder die ewige Verdammnis. Wir dürfen auch hierüber hinaus kein Wort zu sagen wagen, denn wir haben uns an den zu halten, der uns in seinem lebendigen Wort heute begegnet. Wir haben auch nichts zu erfinden über das, was die Entscheidungsschwere des heute ergehenden Gerichtes in der Krisis Jesu Christi abschwächt durch irgendeine Lehre, die besonders in den Apokalypsen der Sekten ihre Triumphe feiert. Der Sinn der Wiederkunft Christi zum Gericht ist die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in Jesus Christus. Das Amt, das Gott seinem Sohn gegeben hat in seiner Sendung an die Welt, kommt nun zum Ziel. Die Vollendung der Welt ist die Sammlung der Gemeinde Gottes, aller Völker, aller Nationen, aller Menschen in das Volk Gottes. Die Königsherrschaft Jesu Christi kommt zur Vollendung in dem „regnum gloriae", wie unsere Väter sagten, in dem Reiche der Herrlichkeit, w o Gott sein wird alles in allem.

IV. Die Erneuerung der Schöpfung Darin vollzieht sich nun, was wir mit dem Wort „Erneuerung der Schöpfung" zu sagen wagen. Gottes Reich ist kein jenseitiges Reich im zeiträumlichen Sinne. Ein Jenseits der Schöpfung in dem Sinne, daß man sich sozusagen die Zukunft außerhalb der bisherigen Schöpfung Gottes denken müßte, ist nach der Heiligen Schrift nicht vorhanden. Die Schrift kennt nur den Bereich, den wir gewöhnlich als das „Diesseits" bezeichnen; das, was dort etwa „Himmel" heißt, ist im biblischen Verständnis, wie man ganz deutlich erkennen kann, ein Bestandteil dessen, was wir „Welt" nennen. Wenn wir uns z.B. die Vorstellung des Apostels Paulus vor Augen halten, der sagt, er sei in seinen Visionen versetzt, erhoben

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worden in den siebenten Himmel, müssen wir uns zunächst die überlieferte Lehre, von der aus er so spricht, vergegenwärtigen. Die damalige Lehre ging davon aus, daß die Erde die Mitte der Schöpfung Gottes sei, umgeben von dem gewaltigen Ozean; unter dieser Erde dachte man an einen Aufenthaltsraum der Verstorbenen für die Erwartung des Gerichtes und des Lebens (damals gab es diese Lehre schon im Pharisäismus), darüber befand sich der normale, der blaue Himmel, der das große Dach über der Erde darstellt. Durch den blauen Himmel hindurch führt der Weg in den nächst höheren Himmel. In den verschiedenen folgenden Himmeln leben die verschiedenen Wesen, die Engel in ihren bestimmten Kategorien. In dem sechsten Himmel sind die letzten hohen Wesen, in dem siebenten Himmel steht man nun unmittelbar vor dem Thron der Herrlichkeit Gottes. Das Ganze aber ist ein Bestandteil dieser unserer Welt. Das ist deswegen sehr wichtig, weil demjenigen, der heute sagt, die Bibel verheiße eine Verwandlung, Veränderung dieser Schöpfung, oft vorgeworfen wird, er verstehen nichts von der Heiligen Schrift, denn die Bibel kenne ein Jenseits usw. Die Bibel kennt aber in diesem Sinne kein Jenseits; die Unterscheidung des Diesseits vom Jenseits ist eine Vorstellung aus einer viel späteren Zeit. Die Worte vom Diesseits und Jenseits waren eine erste Reaktion auf die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft, die festgestellt hatte, daß der blaue Himmel kein „Himmel" sei. In Wirklichkeit ist aber das, was wir „Himmel" nennen (z.B. „Vater unser im Himmel"), ein Unbeschreibliches, das nicht in Worte zu fassen ist. In der Naturwissenschaft sagen wir: Der Kosmos besteht aus einer großen Fülle von Sternsystemen, und wir wissen, daß die Meinung, der Himmel könne über uns in einer meßbaren Höhe liegen, eine kindliche, vorwissenschaftliche Meinung ist und sicherlich nicht der Wahrheit entspricht. Von hier ausgehend, prägte man dann die Begriffe vom Diesseits und Jenseits. Im Gegenüber zum Begriff des Diesseits folgt aber für den Begriff des Jenseits eine Begrenztheit, erst hinter der Grenze ist dann das Jenseits. Dieses Jenseits aber ist mit dem Diesseits dann wieder dadurch gekoppelt, daß es in derselben Dimension liegt. Man kommt der Sache nur bei, wenn man es aufgibt, in dieser Weise von dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, von Gegenwart und Zukunft usw. zu sprechen, und sich deutlich macht, daß es sich hierbei um so etwas wie zwei Dimensionen handelt, die immer nur punktuell aufeinanderstoßen, für die es aber keine gemeinsamen Formen gibt wie innerhalb des Bereiches, den wir Naturwissenschaft, Geschichtswissenschaft etc. nennen. Denn wenn man ernst nimmt, was hier in der Bibel gesagt wird, heißt das doch, daß alles, was für unser Denken, Reden und Leben entscheidend ist, nämlich die Zeitlichkeit und die Räumlichkeit, in der wir existieren, gerade durch das, was hier verkündigt wird, überholt,

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also in eine andere, uns nicht mehr beschreibliche Existenz verwandelt wird. Darum versuchen wir, mit dem Begriff „Erneuerung der Schöpfung" dieses zu sagen, daß Gott der Welt eine ewige Zukunft in Aussicht stellt und daß diese ewige Zukunft in Aussicht gestellt ist nicht als eine ewige Fortsetzung der Zeitlichkeit, in der wir heute leben, sondern als eine schlechthinnige Überholung desssen, was Zeit und damit auch Vergänglichkeit und Tod in sich schließt. Es ist etwas völlig anderes, wir können versuchen zu sagen: Eine ewige Gegenwart Gottes, die nicht mehr ein Woher und ein Wohin kennt, sondern sich darin erschließt, daß wir ihn schauen werden von Angesicht zu Angesicht, wie Paulus einmal sagt. Das sind Versuche von Aposteln, von christlichen Theologen oder Gläubigen, etwas gänzlich Unaussprechliches nun doch in Worte zu fassen. Es muß uns aber klar sein, daß das alles nur Versuche sind, die letzten Endes nur einen Hinweischarakter haben, den auch die auf Grund der Schrift gewagte Aussage hat: Das Ziel der Welt Gottes ist sein Reich in ewiger Herrlichkeit, in der er alles in allem ist, und in der seine Schöpfung, die er von Ewigkeit erdacht und bestimmt hat, ihre letzte Vollendung findet. Die Vollendung der Welt aber ist gerade die Verherrlichung Gottes, des Vaters, im Sohn durch den Heiligen Geist. Dieses „alles zur Ehre Gottes", das ein wesentlicher Gehalt der neutestamentlichen Botschaft ist, ist gerade seine Liebe. Das ewige Leben, das Gott ist, der allein Unsterblichkeit hat, besteht gerade darin, daß er nicht ohne seine Geschöpfe sein will, weder heute noch in Ewigkeit. Dies ist seine Barmherzigkeit mit uns, und das ewige Leben zur Ehre Gottes ist dann das Leben im freien Gehorsam des Kindes und des Geschöpfes aus und in der Liebe des Vaters. Das ist der eigentliche Inhalt der christlichen Hoffnung, von der wir dann auch - wie es einmal Rudolf Bultmann ausgesprochen hat - sagen können: Wir hoffen, wir glauben, wir sind gewiß: Gott hat mit uns noch Großes vor. Dieses Große, diese Größte ist in den Worten auszusprechen, die Jesus schon von dem kommenden Reich sagte, die im Neuen Testament von der Zukunft dieses Reiches gesprochen werden. Im Mittelpunkt dieser Hoffnung aber steht gerade nicht der Mensch, sondern Gott, der sich des Menschen annimmt, der allein durch seine freie Gnade diesen Menschen Leben schenkt, daß sie etwas sein dürfen zu seiner Verherrlichung. Wir dürfen zur Verherrlichung Gottes durch unseren Glauben, durch unsere Liebe und durch unsere Hoffnung auch hier und jetzt beitragen und haben damit schon Anteil an dem Leben der künftigen Welt.

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Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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III. Menschliche Zukunftsplanung als Frucht christlichen Glaubens Wir standen am Ende des ersten Teiles vor der Frage, ob es dem Christen erlaubt sei, sich für die Zukunft des Menschen durch Planung verantwortlich zu machen. Ist es nicht ein Zeichen menschlicher Hybris, wenn er es wagen will, an der Zukunft des Menschen zu planen? Widerspricht das nicht dem, was in der Heiligen Schrift dem Christen zugesprochen wird, was der Glaubende zu erwarten hat, der sich als Fremdling, als Beisasse in der Welt zu bewegen hat? Welche Verbindungen lassen sich zu dem, was als christliche Hoffnung ausgesprochen wird, finden? Wir haben versucht, die Hauptbestandteile der christlichen Zukunftserwartung in den wesentlichen Begriffen „Auferstehung", „Gericht", „Weltende" und „ Vollendung" darzubieten auf Grund der christlichen Hoffnung, wie sie in der Heiligen Schrift und in den Bekenntnissen wohl aller Kirchen enthalten ist. Wenn ich recht sehe, was die Heilige Schrift, in der ja die prophetische und apostolische Tradition in einer besonderen, einzigartigen und maßgeblichen Weise beschlossen ist, uns an die Hand gibt über die Zukunft der Menschheit, der Erde und der Welt überhaupt, so möchte ich in kurzer Zusammenfassung folgendes sagen: Die Schöpfung ist durch Gott, den Schöpfer, von Anbeginn auf Zukunft ausgerichtet. Gott hat der Welt eine Hoffnung eingestiftet. Die Zukunft der Welt unterliegt der Verheißung Gottes, des Schöpfers, aber auch der Verheißung Gottes, des Erlösers und Versöhners. Zwar ist diese Verheißung nicht ohne die Ankündigung des Gerichtes, aber das ist die Folge dessen, daß der Mensch, der von Gott geschaffen ist auf seine Zukunft, sich dieser ihm von Gott gegebenen und zugesprochenen Verheißung versagt hat. Darum ergeht von den Propheten des Alten Testamentes an jene Gerichtsdrohung, die im Dienst der Verheißung steht, weil Gott daran liegt, daß der Mensch lebt, nicht, daß er zugrunde geht; nicht, daß er sich zugrunde richtet, sondern daß er gerettet wird. Die Zukunftsverheißungen der Bibel des Alten und Neuen Testamentes stehen vor uns in einer großen geschichtlichen Verschiedenheit, ihre Vorstellungswelt ist im wesentlichen bestimmt durch die Vorstellungen des antiken Weltbildes und gehört als solche nicht zu dem eigentlichen Kerngehalt der christlichen Zukunftserwartung. Die Vorstellungen von dem, was Reich Gottes ist oder sein wird, die Vorstellungen von der Stadt Gottes und von der Vollendung der Welt Gottes sind in den verschiedenen Generationen der christlichen Geschichte gewandelt worden; schon in der Heiligen Schrift sind diese Vorstellungen in verschie-

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dener Weise vorhanden. Beachtlich ist, daß gerade Jesus von Nazareth nur gleichnishaft von dem spricht, was zur entscheidenden Botschaft von dem kommenden Gottesreich gehört. Die Hauptfrage ist, in welcher Verbindung das, was menschliche Verantwortung für die Zukunft der Welt beinhaltet, zu Gottes Zukunftsverheißung steht. Haben diese beiden etwas miteinander zu tun? Es gibt in der Christenheit Überzeugungen, die sogar einen starken Einfluß haben, welche besagen: Die Verantwortung des Menschen für die Zukunft und die Zukunft Gottes haben nichts miteinander zu tun! Ich möchte dagegen fragen: Ist es möglich, in der Schöpfung Gottes einen Sinn zu erkennen, ist es also sinnvoll, sich selbst zu verstehen, und zwar nicht im Horizont eines Nihilismus, sondern im Horizont der Verheißung Gottes, wenn diese beiden, die irdische Zukunft des Menschen und Gottes Zukunftsverheißung, nichts miteinander zu tun haben? Ich glaube nicht. Die Frage wird dann nämlich zweifellos nicht lösbar, welchen Sinn es haben könnte, daß wir Menschen nach der Erscheinung Jesu Christi überhaupt noch weiterleben; welchen Zweck es haben könnte, daß diese Geschichte trotz dem, was in der Heiligen Schrift von Jesus Christus als dem Erlöser der Welt verkündigt wird, noch weitergeht. Daß hier eine bleibende Anfechtung in der christlichen Geschichte vorliegt, wird nicht zu bestreiten sein. Wir haben es mit einer Frage zu tun, die schon von den ersten Tagen der Erscheinung Jesu Christi an gestellt wurde: Wie steht es um die Wiederkunft Christi? Wir fragen uns also: Haben die beiden etwas miteinander zu tun, die Zukunft des Menschen in der Sicht unserer menschlichen Möglichkeiten und ihrer Verantwortung und Gottes Zukunftsverheißung? Angesichts der Verborgenheit der Offenbarung Gottes, angesichts dessen, daß das Evangelium Wort vom Kreuz ist, und angesichts dessen, daß auch das Neue Testament gerade in dem entscheidenden Zuspruch uns keine Möglichkeit gibt, eine Terminfestlegung oder einen Plan von Gottes Heilsgeschichte zu vollziehen, kann man nur sagen: Was beide direkt miteinander zu tun haben, können wir nicht sagen. Wir können aber gewiß sein, daß sie etwas miteinander zu tun haben. Man kann nicht zwischen beiden einen Schnitt machen, als ob das eine das andere nichts anginge. Was können wir sagen? Zunächst das folgende: Die Verheißung der Zukunft, wie sie uns als Gottes Zukunft zugesprochen wird, und die verantwortliche Planung der Zukunft des Menschen kommen darin zusammen, daß wir glauben dürfen, daß die Zukunft des Menschen nach vorne hin offen ist, daß es also kein Programm, keine Festlegung gibt, in der schon alles von Anfang bis zum letzten i-Tüpfelchen vorausbestimmt ist. Dies richtet sich gegen jede Vorstellung eines irgendwie gearteten Determinismus. Es gibt eine Weise, von Zukunft zu reden, die

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deterministisch ist, die glaubt, gerade das wäre Verherrlichung Gottes, wenn man meint, alles liege fest, es sei nicht mehr zu ändern. Hierzu muß wohl gesagt werden: Unser Verständnis der Heiligen Schrift als einer geschichtlichen Größe hat uns davon überzeugt, daß ein echtes Verständnis von der Geschichtlichkeit unserer Existenz den Determinismus ausschließt. Die Zukunft des Menschen ist offen; es ist nicht alles vorweg entschieden, sondern der lebendige Gott, der den Menschen zu seinem Partner gemacht hat, ist auf dem Wege mit uns. Zwar hat er sein Ziel im Auge, aber die Wege zu diesem Ziel werden mit dem Menschen gleichsam ausprobiert, sie werden in der Geschichte mit ihm vollzogen. Anders gesagt: Die Verheißung der Zukunft Gottes an den auf Zukunft ausgerichteten Menschen ist so zu verstehen, daß Gott den Menschen, den er liebt, den er zu seinem Ziel bringen möchte, nicht ohne ihn zu seinem Ziel bringen möchte, sondern er möchte ihn mitnehmen auf seinen Wegen, auf dem Weg zum Ziel, und kommt dem Menschen darum entgegen. Dieses Entgegenkommen kann in mannigfacher Weise beschrieben und ausgesprochen werden, es geschieht in der Heiligen Schrift wesentlich darin, daß von der „Parusia Christu", d.h. von der Ankunft Christi gesprochen wird. Diese Ankunft Christi wird in dreifacher Weise entwickelt als die Ankunft Christi, die ein für allemal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, die zweitens geschieht in jeder Verkündigung von seiner Wirklichkeit und seinem Tun, und drittens in dem auf uns zukommenden Herrn uns begegnen wird, also die Zukunftserwartung der Christen auf Grund des Zuspruches Gottes in Christus. So allein, meine ich, kann man die Erwartung der Wiederkunft Christi nicht mirakulös, nicht als Ausführung einer bereits fertig vorliegenden Planung Gottes verstehen, sondern man kann sie verstehen, wie es im Bilde der Gleichnisse des Neuen Testaments in mannigfacher Weise ausgesprochen wird von dem zu seiner Herrschaft Zurückkehrenden, dem, der aus der Fremde wiederkommt, von dem Vater, der seinen Sohn erwartet - es gibt da eine Menge sehr verschiedener Gleichnisworte, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind, die aber in der Sache eben dieses meinen, daß Gott dem Menschen entgegenkommt und daß also der Mensch diesen auf ihn zukommenden Herrn erwarten darf. Die Zukunft ist Gottes Zukunft für den Menschen! Von daher ist unsere Aufgabe der Planung der Zukunft des Menschen nicht eine unchristliche Hybris, sondern Frucht des christlichen Glaubens. So gewiß das Werk der Liebe die eigentliche Frucht des Glaubens ist, so ist die verantwortliche Planung der Zukunft der Welt des Menschen jene Liebesverantwortung, die wir Menschen für unsere Nachkommen haben, für unsere Kinder und Enkelkinder. Die Voraussetzung

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für ihre Welt, die Welt der Zukunft wird ja von uns geschaffen auf sie hin, und so ist es ein Werk der Liebe, wenn wir alles, was wir planen und tun, für sie, für ihr zukünftiges Leben tun. Zugleich aber ist die Planung der Zukunft der Welt des Menschen eine Auswirkung der christlichen Hoffnung. Gottes Geschichte mit uns Menschen war und ist und wird nicht ohne Sinn und Ziel sein - das ist unsere christliche Grundüberzeugung, wenn wir von Gott, dem Vater, dem Gott, der uns befiehlt, gegen falsche Besorgnisse anzugehen, sprechen. Unsere Geschichte ist nie sinnlos, wenn sie auch für uns nicht durchschaubar ist, auch wenn wir oft vor schweren Rätseln und Problemen stehen, die wir nicht zu durchschauen vermögen. Entscheidend ist, daß wir im Glauben an den lebendigen Gott, wie er uns in Christus begegnet, die Gewißheit empfangen, daß wir als seine Geschöpfe nicht in die Welt gesetzt sind zu Nichtigkeiten, sondern nach Gottes Willen zur Erfüllung dessen, was er sich von den Menschen gedacht hat, als er das Leben schuf. Ich meine, die Gewißheit des christlichen Gottesglaubens bringt diese Uberzeugung hervor, die sich gegen alle Gefahren eines irgendwie gearteten Nihilismus stellt. Denn die große Gefahr, mit der wir täglich zu ringen haben, ist die, die sich unter den Menschen unserer Zeit immer wieder zeigt; die Frage, ob es denn im letzten Grunde eigentlich lohnt, gelebt zu haben. Was sich in einer Fülle von Demonstrationen auch der heutigen Studenten und in vielen Provokationen widerspiegelt, ist die Frage: Wißt ihr wirklich, wozu dieses ganze Leben eigentlich da ist? Hat es eigentlich einen Sinn, daß wir etwas lernen, tun, sind, etwas wollen, wenn doch schließlich alles vergeblich ist? Wenn alles so war und ist und sein wird, wenn es im Grunde keine echten Fortschritte gibt und keine wirkliche Zukunft? - Dies ist ein Zeichen dafür, daß eine echte Verantwortung für die Planung der Zukunft des Menschen ihre tiefste Voraussetzung hat in der christlichen Zukunftshoffnung, die darin ruht, daß Gott der die Welt umgreifende Herr ist, von der Schöpfung bis hin zu dem Ziel, das er ihr gestellt hat, um sie zur Vollendung zu führen. Die Planungen der Zukunft der Menschen sind also letztlich etwas, das uns von Gott aufgetragen und geboten ist. Gerade als Christen können wir nicht meinen, dies sei eine Art menschlicher Hybris; es ist vielmehr ein Bestandteil des Auftrages, in den Gott uns an den Menschen, der kommt, gestellt hat. Daß Gott uns diesen Auftrag hat zuteil werden lassen, ist ein Zeichen der hohen Würde, die der Mensch von Gott empfangen hat. Darum bejahe ich als einer, der die Uberzeugungen der christlichen Zukunftshoffnungen vertritt, ganz bewußt die Wege und Notwendigkeiten der Planung menschlicher Zukunft - allerdings mit der notwendigen Kritik, weil alle unsere Planungen auch bestimmt sein können von Ideologien, Weltanschauungen und anderen Verkehrt-

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heiten, die den Menschen verplanen möchten. Gerade darum aber sollten wir Christen an unserem Teile die Verantwortung für die Zukunft des Menschen übernehmen, wo immer wir dafür in Anspruch genommen werden.

Hoffnung für die Kirche* Wer über die Hoffnung der Kirche spricht, legt ein Glaubensbekenntnis ab. Denn die Hoffnung wurzelt im Glauben, und die Kirche gehört auch zu den Artikeln des christlichen Glaubens. Wer Hoffnung für die Kirche hat, kann das nur, weil die Kirche Bestandteil seines christlichen Glaubens ist. Es ist darum auch nicht überraschend, wenn es heute viel Zweifel an der Zukunft der Kirche gibt; denn die Christenheit, vornehmlich in Europa, ist nicht stark im Glauben. Der christliche Glaube ist nicht nur von außen bestritten, was ja begreiflich wäre, nein, er ist unbegreiflicherweise drinnen, in unserer eigenen Mitte, ja in der Theologie der Kirche umstritten. Q u e r durch die Konfessionen geht der Streit um den Glauben, um Gott, Christus, die Kirche. Und deswegen steht die Zukunft der Kirche in der Christenheit selbst auf dem Spiel. Verzagtheit und Resignation, Zweifel und Sorge erfüllen viele, die glauben möchten und es fast nicht mehr wagen, weil anscheinend alles dagegenspricht, daß es überhaupt Sinn hat, in Ubereinstimmung mit der christlichen Uberlieferung heute noch zu glauben, wie es die Bekenntnisse der Kirche bisher zum Ausdruck gebracht haben. In dieser Situation soll ich als evangelischer Christ und Theologe mich zu der Frage nach der Zukunft der Kirche äußern, genauer: worin die Hoffnung besteht, die ich für die Kirche habe. Es geht natürlich um mehr als um meine Prognosen, es geht um Wahrheit, um Zukunftsgewißheit, um eine „lebendige Hoffnung", d. h. um eine solche, die Leben spendet und ermöglicht. Es ist kaum zu vermuten, daß die Fragenden von heute im Grunde weniger hören wollen. Lohnte es sonst überhaupt, eine Frage nach der Zukunft der Kirche zu stellen, wenn es sich hierbei nicht um eine „existentielle", um eine „letzte Frage" handelte, an deren Beantwortung Entscheidungen für das Leben, Wahrheit über den Sinn menschlicher Existenz hinge? In der Tat, darum geht es: Die Zukunft der Kirche ist Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte. Ist Geschichte letzten Endes nur Unsinn, eine Mischung von Gewalt, Verbrechen, Unvernunft und Unmenschlichkeit mit einigen bescheidenen menschlichen Lichtblicken, die jedoch das Dunkle im ganzen nicht aufhellen können, oder weist die Existenz der Kirche auf eine Zukunft * A u s : JOACHIM BECKMANN, HEINRICH FRIES, FRIEDRICH HEER, ERNST GOTTFRIED

MAHRENHOLZ, Kirche ohne Zukunft? Bilanzen und Prognosen. Gütersloh 1972, S. 67-106.

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hin, die den Sinn der Geschichte enthüllen wird? An diesem EntwederOder zeigt sich, wie sehr die Hoffnung der Kirche Glaubensbekenntnis ist, im Glauben wurzelt und auf den Glauben angewiesen ist.

I. Zukunft als Gottes Verheißung Der Ursprung des Glaubens, der für die Kirche Hoffnung hat, ist die biblische, insonderheit die neutestamentliche Botschaft von der Zukunft, von der Verheißung Gottes für die Welt, für das Ende aller Geschichte, für das Kommen seines Reiches, für die Vollendung seiner Schöpfung. In diese Hoffnung Gottes ist die Hoffnung der Kirche eingeschlossen, denn die Kirche ist zwar eine zeitlich geschichtliche Größe, jedoch mit einem ewigen Ziel: der vollendeten ewigen Gemeinde der Kinder Gottes. Der Herr der Kirche hat ihr verheißen: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen" (Matthäus 16, 18). So ist das N e u e Testament ein Buch voll der Gewißheit vom Sieg Gottes über alle Gewalten und voll der Hoffnung aus Glauben an Jesus Christus, den Todesüberwinder und wiederkommenden Herrn, in dem Gott mit seiner Welt zum Ziel seiner Herrlichkeit kommt. Diese Hoffnung jedoch ist Inhalt der Botschaft der Kirche Christi an eine Welt, in der man von der Möglichkeit ihrer Erfüllung eigentlich nichts zu erkennen vermag. Selbst die Kirche in ihrer irdischen Wirklichkeit erweist sich nicht als ein überzeugendes Zeichen der von ihr proklamierten Verheißungen Gottes, weder durch die Kraft ihres Glaubens noch durch die Stärke ihrer Liebe oder die Festigkeit ihrer H o f f nung, erst recht nicht durch ihre anerkennenswerten Leistungen, ihre exemplarische Existenz, ihre Fähigkeit, die Welt in Richtung auf Gottes Ziel zu verändern. Die Christenheit ist schwach, ohnmächtig, ihrer Aufgabe in keiner Weise gewachsen, nicht Abglanz ihrer göttlichen Botschaft, Widerschein ihrer unerhört großen Hoffnung. Sie ist kein Beweis für die Wahrheit ihres Wortes. Man kann es ihr nicht ansehen, was sie eigentlich ist, und darum ist sie nicht fähig, die Verheißung ihrer Hoffnung glaubwürdig zu machen. Das vermag allein die selbstwirkende Macht des Wortes, dessen Botschafterin die Kirche bestenfalls nur sein kann. Aber noch ein anderes ergibt sich aus dem Zeugnis des Neuen Testamentes für die Kirche auf ihrem Weg durch die Welt. Die Hoffnung steht über einem merkwürdig düsteren Vordergrund. Der Weg der Kirche in der Welt und ihre Geschichte sind nicht so einfach, klar und selbstverständlich, wie man es für Gottes Botschaft hätte erwarten können. Die Aussichten der Kirche für ihren Dienst an der Welt, die Ausrichtung ihres Auftrags und die Möglichkeiten ihres Lebens unter

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den Menschen erscheinen außerordentlich dunkel und schlecht. Was gibt es eigentlich im Neuen Testament für die Kirche in ihrer irdischen Existenz für Hoffnungen? Irgendwelche großen Aussichten werden ihr weder von ihrem Herrn noch von seinen Aposteln gemacht. Sie hat zwar eine lebendige ewige Hoffnung, aber nur wenig irdische Hoffnungen. Es wird ihr nicht verheißen, daß sie große Erfolge haben wird, nicht zugesagt, daß es ihr gutgehen wird bei der Ausrichtung ihres Auftrages, im Gegenteil: Die Menschen werden die Kirche abweisen, verachten und bekämpfen. Es wird dabei Haß und Feindschaft bis in die Familien hinein geben. Die öffentlichen Gewalten werden sie verfolgen und zu vernichten trachten. Die Weisen werden sie verspotten und ihre B o t schaft Torheit nennen. Arm und verlassen wird sie dastehen - in der Nachfolge ihres gekreuzigten Herrn. Martyrium wird das Kennzeichen ihrer Geschichte sein. Verheißungen einer Christianisierung der Welt fehlen dagegen ebenso wie die einer Machtergreifung auf einem politischen Weg. Wie bemerkenswert ist dieser Tatbestand im Rahmen der neutestamentlichen Botschaft von der Zukunft der Kirche auf Erden! Der Raum, den diese negativen „Verheißungen" im Neuen Testament einnehmen, ist ziemlich umfangreich, ja, ein ganzes Buch des Neuen Testamentes ist davon erfüllt: die Offenbarung. Daran wird die Bedeutung sichtbar, die in der Bibel den rätselvollen Voraussagungen für den Weg der Kirche, ihre irdische Zukunft beigemessen wird. Es ist ganz offenbar, daß im Neuen Testament beide Seiten dieses so gegensätzlichen Zeugnisses von der Zukunft der Kirche untrennbar zusammengehören. Wenn wir bei der biblischen Botschaft von der Kirche bleiben wollen, können wir keine der beiden Seiten streichen. So schwer es uns auch fallen mag, dies Geheimnis des Weltregimentes Gottes zu verstehen, so verkehrt wäre es, wenn wir Wege suchten, es zu bestreiten und aufzuheben. Wieweit wir imstande sind, an der Kirchengeschichte der beiden Jahrtausende, die bisher hinter uns liegen, abzulesen, wie sich die Verheißungen und Voraussagen des Evangeliums bewahrheitet haben, ist eine in der Christenheit immer umstrittene Frage gewesen. Ich halte es für nicht möglich, eine Kirchengeschichte zu schreiben, in der Gottes Weg mit der Kirche und Welt auch nur in Umrissen nachgezeichnet werden kann. Wir bleiben auch hier ganz auf Glauben angewiesen. Trotzdem ist uns nicht verboten, die Geschichte der irdischen Kirche zu erforschen und nachzuzeichnen, auch wenn wir uns gerade hier unserer Unzulänglichkeit bewußt sein werden. Die Christen jeder Generation werden für ihren Dienst und ihr Leben auf Erden aus dieser Geschichte Wesentliches zu lesen haben. Das gleiche gilt aber nun auch für die Möglichkeit, die irdische Zukunft der Kirche angesichts ihrer Geschichte und ihrer gegenwärtigen

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Situation ins Auge zu fassen und also nicht nur „Kirchenhistorie" zu versuchen, sondern sogar so etwas wie eine „Futurologie der Kirche" zu wagen, natürlich ebenfalls und noch mehr im Bewußtsein unserer menschlichen Unzulänglichkeit. Ich meine, daß auch dieses Unternehmen dem Theologen nicht verboten sein dürfte, so gewiß es sich hierbei gerade nicht um eine Prophetie handelt, die nur dem pneumatischen Charismatiker zukommt, der die Gabe der Prophetie empfangen hat. Es geht hier um eine theologische Besinnung über die Kirche von morgen angesichts ihrer gegenwärtigen Lage in der Welt. Vielleicht darf man es versuchen, sich in Analogie zu der neuerdings so stark entwickelten Futurologie weltlicher Wissenschaft Gedanken zu machen über „die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft" (Hoekendijk), über „die Zukunft, die schon begonnen hat" (Jungk), wobei wir dies als gläubige Christen nur können im Horizont der biblischen Hoffnung für die Kirche in ihrer Doppelseitigkeit für Zeit und Ewigkeit. Wir werden uns dabei dessen bewußt sein, daß wir uns bei diesen Gedanken und Erwägungen „auf schwankendem Boden" befinden, da uns nur die Kategorie der Wahrscheinlichkeit zur Verfügung steht. Es kann sich also nur um Entwürfe, um Umrisse und um Wagnisse gläubiger Gedanken handeln, über die in der Christenheit nachgedacht werden sollte, weil wir alle vor die Frage nach den irdischen Aussichten der Kirche gestellt sind und sie nicht beiseite tun dürfen, da wir doch für heute und morgen für unsern Weg, unser Reden und Tun als Kirche Orientierung brauchen, nicht nur Standortbestimmung durch Analyse, sondern einen Kompaß für das Steuer, das Gott seinen Boten in die Hand gegeben hat. Der Auftrag der Gottesbotschaft macht die Christenheit verantwortlich für die Ausrichtung des Evangeliums, und darum haben wir die Frage nach dem Weg in die irdische Zukunft der Kirche, den zu finden und zu gehen Gott durch die Verheißung des Geistes uns überlassen hat, zu prüfen und uns um die rechte Antwort zu bemühen. So gewiß unsere menschliche Existenz als solche geschichtlich ist, so gewiß ist es auch unsere christliche Existenz. Wir können Christen nur sein, wenn wir weder nur Rückschau halten noch stehenbleiben, sondern gerade wenn wir auch nach vorn auf den Weg blicken, der, soweit wir es nötig haben, nach Gottes Zusage immer auch im Licht seines Wortes uns erkennbar sein wird.

II. Die Kirche in der Welt von heute Wenn wir nun darangehen, eine kleine kirchliche Futurologie zu entwerfen, so kann dies nur so geschehen, daß wir uns klarmachen, was für die Zukunft der Kirche aus der Sicht heutiger Geschehnisse von

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Wichtigkeit sein könnte. Nur so kann man der Gefahr einer Zukunftsträumerei entgehen, daß man in nüchterner Erkenntnis heutiger Tendenzen des Geschehens sich auf die wahrscheinlichen Folgen für die Kirche von morgen besinnt. Es ist dabei verständlich, wenn wir uns vor allem mit der Bedeutung der Entwicklung Europas oder des sog. „christlichen Abendlandes" befassen, nicht nur deswegen, weil wir hier zu Hause sind, sondern auch deswegen, weil dieses Gebiet der Erde für die Kirche von morgen von entscheidender Bedeutung sein wird. Wenn wir recht sehen, ist Europa immer noch ein einzigartiger christlicher Kontinent und ist der größere Teil der Christenheit der Welt hier beheimatet. So wird das Schicksal Europas und der europäischen Kirche für die ganze Welt weittragende Folgen haben.

Das Ende des christlichen Abendlandes Das christliche Abendland geht langsam, aber sicher seinem Ende entgegen, denn die Grundvoraussetzungen seiner Existenz zerbrechen mehr und mehr. O b damit Europa an sein Ende gekommen sein wird (O. Spengler, Untergang des Abendlandes), ist noch nicht sicher. Aber es wird nicht mehr das uns bekannte alte Europa sein. Denn dieses war in seiner Kultur und geistigen Leistung auf den Bund zwischen der antiken Philosophie und der biblischen christlichen Theologie gegründet. Philosophische Metaphysik, von den Großen der Antike, Plato und Aristoteles, geschaffen, verband sich in langer Geschichte mit dem christlichen Gottesglauben zu einem durch viele Jahrhunderte wirksamen Ganzen, das jene großartige Einheit von Kirche und Welt schuf, in der sowohl eine Christianisierung der Welt als auch eine Verweltlichung des Christentums geschah. Diese Einheit hat bis in die Neuzeit die Völker des Abendlandes als christliche Völker einer großen Familie zusammengehalten, wenn es zwischen ihnen auch immer wieder heftige Gegensätze gab. Die Religion, die Moral und das Recht waren international vom griechisch-römischen Christentum geprägt. Auch die abendländische Kirchenspaltung infolge der Reformation änderte daran noch nichts. Wirksamer dagegen erwiesen sich die rationalistische Aufklärung des 18. Jahrhunderts und erst recht ihre Folgen in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, in der der Bund von christlicher Theologie und Philosophie aufgekündigt wurde. Der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens in seiner Uberzeugung von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus galt nicht mehr widerspruchslos, vielmehr tauchte die Frage nach der Denkbarkeit der Offenbarung, ja des Gottesbegriffs überhaupt auf. Der moderne philosophische Atheismus ersetzte den christlichen Theismus der Tradition. Damit begann das Ende der abendländischen

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christlichen Religion und Ethik. Die Rede vom „Tode Gottes" ist dafür symptomatisch. Es begann zunächst die innere und dann auch weithin die äußere Emigration besonders der Bildungsschicht aus der Kirche, während zur gleichen Zeit in der Arbeiterschaft der Marxismus zum Religionsersatz wurde. Zwar gehört bis heute in den meisten Ländern Europas die große Mehrheit der Bevölkerung einer christlichen Kirche an, aber das kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Verhältnis der meisten zum Kern des christlichen Glaubens gestört ist. Was Goethe seinen Faust sagen läßt, gilt weit und breit: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!" Es gibt natürlich noch Gründe, die Kirche nicht zu verlassen, aber keine Gründe des christlichen Glaubens, in ihr zu bleiben. Wie lange wird die christliche Kirche im Abendland diese gefährliche innere Aushöhlung überstehen? Niemand kann das sagen. Ohne die Tiefe der Krise, in der sich die Kirche befindet, zu verharmlosen - das seit etwa zwei Jahrhunderten öfter vorausgesagte Ende des Christentums in Europa steht noch nicht vor den Toren. Wohl aber werden sich Wandlungen vollziehen, die das Verhältnis von Kirche, Volk, Staat und Gesellschaft betreffen werden, denn der Weg zurück in die europäische christliche Vergangenheit ist unmöglich.

Das Ende der christlichen

Gesellschaftsordnung

Was wir in unsern Tagen als stärkste Auswirkung der Aufkündigung des christlich-antiken Bündnisses in Europa erleben, ist der Zerbruch der christlichen Gesellschaftsordnung. Sie war konstitutiv für das öffentliche und private Leben des christlichen Abendlandes. Jede menschliche Gesellschaft ist auf ein gemeinsames Ethos gegründet, sonst kann sie nicht bestehen. Die christliche Moral, exemplarisch ausgedrückt im neutestamentlichen Verständnis der Zehn Gebote, bestimmte das Zusammenleben, die zu treffenden ethischen Entscheidungen, das verbindliche Recht in allen Bereichen des Lebens der Menschen. Die christliche Moral ist zwar in der abendländischen Gesellschaft von heute noch nicht durch eine andere ersetzt worden, aber es ist deutlich zu erkennen, wie sie ihre verbindliche Autorität verliert. Man kann diese Entchristlichung zum Beispiel in der Presse, vor allem in den Illustrierten, im Rundfunk und Fernsehen feststellen. Die „Emanzipation", die „Mündigkeit" des modernen Menschen, die Freiheit von allen bisherigen Autoritäten - beispielhaft sichtbar im Streit um die Strafrechtsreform ( § 2 1 8 ) oder die Freigabe der Pornographie - zeigen die Wandlung in Richtung eines nachchristlichen (gelegentlich auch antichristlichen)

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Ethos der Freiheit des einzelnen in einer Gesellschaft ohne Autorität und ethische Anforderung an das persönliche und private Leben ihrer Mitglieder. Von da aus ergibt sich dann auch der Angriff gegen die Kirche, ihre „Privilegien", ihr bevorrechtetes Mitspracherecht in der Öffentlichkeit, ihren Anspruch auf Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen, ihren Charakter als Volkskirche, ihre Steuerhoheit. Die Kirche wird ohnehin als Hüterin des konservativen Geistes, als Schutzherrin der alten Moral, als Gegnerin allen Fortschritts und der Befreiung des Menschen von fremden Autoritäten angesehen. Darum findet über die Idee der Religionsfreiheit, der Toleranz hinaus die Forderung der Religionslosigkeit von Staat und Gesellschaft, der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens oder (mit der alten Formel des Marxismus) die Anerkennung und Praktizierung des Grundsatzes „Religion ist Privatsache" so weithin Anklang, und die Meinung bricht sich Bahn: Die Kirche gehört aus der Öffentlichkeit in das private Leben. Keine Religionsfeindschaft steht dahinter, wenn der Abbau der kirchlichen Öffentlichkeitsansprüche und -rechte, der Verwandlung der Volkskirche in eine Vereinskirche der einzelnen, die christliche Religionsgemeinschaft pflegen wollen, gefordert wird. Das heißt jedoch eine grundsätzliche Änderung der gesellschaftlichen Rolle, die die Kirche im Abendland bisher gespielt hat. Nicht nur Trennung von Staat und Kirche, sondern von Kirche und Gesellschaft. Damit wird in der Tat das Ende einer christlich bestimmten Gesellschaftsordnung offenbar. Freilich, noch ist dies Ziel nicht erreicht. Noch lebt die Mehrheit der abendländischen Gesellschaft von den christlichen Uberlieferungen. Die christliche Moral lebt weithin auch unter humanistischer Ideologie weiter. Aber wer wollte verkennen, wohin der Trend geht? Jedenfalls fort von christlicher Religion und Moral, Zurückdrängung der Kirche ins Ghetto. Aber wohin es geht, das ist noch nicht auf eine eindeutige Formel zu bringen.

Unbewältigte

Weltprobleme

Bisher haben wir uns hauptsächlich mit Geschehnissen im Bereich des Abendlandes befaßt, weil hier für die Kirche von morgen besonders weittragende Entscheidungen fallen. Aber wir müssen uns nun auch der sogenannten „Dritten Welt" zuwenden. Denn wir sind spätestens im 20. Jahrhundert ins Zeitalter der We/tgeschichte eingetreten. Wir gehen in allen Bereichen auf eine „Weltgesellschaft" zu. An ihrer Verwirklichung wird unablässig gearbeitet und muß gearbeitet werden, wenn die Menschheit ihrer Existenzprobleme Herr werden und überleben will. Die heutigen weltumspannenden Ereignisse, Bewegungen, Ideologien und Machtentfaltungen haben auch für die Kirche von morgen eine

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große Bedeutung, zumal der ökumenische Weg der Kirche unseres Jahrhunderts ihre Verflechtung in die Probleme und Ereignisse der Weltgeschichte ans Licht gebracht hat. Die Bewältigung oder Nichtbewältigung der heutigen Weltprobleme ist für die Zukunft der Kirche von weittragenden Folgen, ganz abgesehen davon, daß sie selbst in die Erörterung und Lösungsversuche dieser Probleme einbezogen ist. Ungelöste, bisher unlösbar gebliebene Weltprobleme bestimmen die Geschichte der Menschheit in unsern Tagen. Das anhaltende explosionsartige Anwachsen der Erdbevölkerung, besonders in der farbigen Welt, das sich bisher nicht eindämmen ließ, stellt eines der elementarsten Probleme der Zukunft dar. Eine Eindämmung dieser Flut gelingt offenbar nicht. Die Aufgabe, die nächsten nachwachsenden Milliarden bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu ernähren, wird unlösbar, der Hunger oder die Unterernährung und die damit zusammenhängenden Krankheiten bestimmen das Leben von mehr als der Hälfte der Menschheit. Trotz aller großen Bemühungen um die Ernährung der Armen, Elenden und Kranken ist die Gefahr von Katastrophen keineswegs gebannt. Auch wenn die Industrialisierung und Technisierung der Welt ständig Fortschritte macht, so daß in allen unterentwickelten Bereichen der Welt Möglichkeiten der Arbeit und des sozialen Aufstiegs geschaffen werden, so ist neben dem Hunger Armut und Arbeitslosigkeit das ungelöste Problem. Alle bisherige Entwicklungshilfe der reichen Länder war unzulänglich, sie vermochte die Wirtschaft der armen Länder nicht auf eine bessere Grundlage zu stellen und echten sozialen Fortschritt zu bewirken. Auch die Anstrengungen um die Überwindung des Analphabetismus in der Dritten Welt haben noch zu keinen durchschlagenden Erfolgen geführt, da das Wachstum der Schulen mit dem Zustrom der Kinder nicht Schritt hält. U m so bedrohlicher ist das Heraufkommen einer Weltrevolution, bei deren Entwicklung die verschiedenen Faktoren, Hunger, Arbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildung und Erziehung, zusammenwirken, ferner auch der Einfluß von Ideologien, die von politischen Gewalten ausgebreitet werden, um damit ihre Machtbereiche auf die farbige Welt auszudehnen. Das Ringen der großen Mächte um die Weltbeherrschung wird besonders in der Dritten Welt ausgetragen, so daß eine vernünftige Weltwirtschaftspolitik zugunsten der Armen gehindert wird, da Rüstung offenbar wichtiger wird als landwirtschaftliche und industrielle Investitionen. Außerdem wird das Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen durch den weltweit wirksamen Rassismus zerstört, der Fanatismus und Haß gegeneinander entzündet; und es bleibt festzustellen, daß die leidenschaftlichen Bemühungen um die Erhaltung und Festigung des Weltfriedens sich immer noch nicht als so wirksam erwiesen haben, daß die Gefahr des großen Krieges einigermaßen gebannt wäre. Nicht einmal die kleineren Kriege konnten verhin-

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dert werden, vielmehr begleiten sie uns durch die Jahre, ohne daß ein Ende abzusehen wäre. All dies Geschehen steht in krassem Gegensatz zu den Parolen, die in allen Kontinenten vor allem von der Jugend ausgerufen werden: Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden, Bildung, Arbeit und Freizeit. Muß man nicht sagen, daß je länger desto mehr die Existenz des Menschen die Menschlichkeit des Lebens der Menschheit auf der Erde in Frage gestellt wird, ganz im Gegensatz zu den überall laut werdenden Prognosen der Revolutionäre aller Kontinente? Was auf uns zukommt, sieht eher nach einer elementaren Bedrohung des menschlichen Lebens auf dieser Erde aus, vor allem, wenn wir, was neuerdings erst richtig entdeckt wurde, die Gefährdung des Lebens aller Erdbewohner durch die Auswirkung der Zivilisation, der Industrie, der Wissenschaft und Technik auf die Natur der Erde., die Umwelt des Menschen, auf Luft, Wasser, Nahrungsmittel, Rohstoffe, ins Auge fassen. So ist es also offensichtlich um die Welt bestellt, in der wir heute und erst recht morgen zu leben haben werden. In ihr hat die Kirche Christi heute und morgen ihren Auftrag auszurichten, ihren Dienst am Menschen zu tun. Die Futurologien unserer Zeit kommen, wenn ich recht sehe, in weitgehender Einmütigkeit zu ziemlich pessimistischen Prognosen. Sie stehen dem heraufkommenden Geschehen der Weltgeschichte mit einer Ratlosigkeit gegenüber. Wer weiß Hilfe? Wo gibt es einen Ausweg? Genug Katastrophen zeichnen sich ab, ob es aber ein Uberleben der Menschheit geben wird, daran wird Zweifel laut. Weiß die Kirche vielleicht Rat? Kennt sie Möglichkeiten der Hilfe zur Rettung der Menschheit, kann sie für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit des Menschen Wesentliches beitragen? Oder wer sonst in der Welt? Etwa der Kommunismus, der den Menschen die große Zukunft der Menschheit verheißt? In jedem Fall scheint mir hier eine entscheidende Zukunftsfrage des Auftrags der Kirche in der Welt zu liegen, deren Erörterung und Inangriffnahme nicht auf morgen vertagt werden sollte. Die Anfänge dazu sind immerhin schon gemacht. Die Zuwendung der Kirche zur Erkenntnis und Übernahme der Weltprobleme ist eine Frucht der ökumenischen Bewegung, die von den Anfängen ihrer Wirksamkeit an (seit Stockholm 1925) sich der Aufgabe des „Dienstes an der Welt" geöffnet hat. In ihrer Mitte sind die großen Diskussionen und Pläne zur Durchführung entstanden, die seitdem unaufhaltsam in die Mitgliedskirchen aller Kontinente Eingang gefunden haben: Sozialethik und Sozialpolitik, Frieden und Gerechtigkeit, verantwortliche Gesellschaft und Entwicklungsdienst, Rassenfragen und Antirassismusprogramm. Menschenrechte und Religionsfreiheit, internationales Ethos und Aufgaben der U N O in der Weltgesellschaft. Keine wichtige Frage ist ausgelassen worden, aber es ist auch einiges Beachtliche getan worden, wodurch in Flüchtlingsgebieten, bei Naturkatastrophen, in kriege-

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rischen Auseinandersetzungen, in Bereichen rassischer Spannungen Hilfe geleistet wurde.

Die ökumenische

Bewegung

Nachdem wir nun schon etwas über die Wirksamkeit der ökumenischen Bewegung ausgeführt haben, knüpfen wir hier am besten einige allgemeine Hinweise im Zusammenhang unseres Kapitels an, die Entstehung und Bedeutung dieses außerordentlichen Phänomens der Kirchengeschichte für Gegenwart und Zukunft der Kirche darstellen sollen. Die ökumenische Bewegung unseres Zeitalters zeigt eine große Kehre in der Geschichte der Kirche an. Während seit der Reformation in der Kirche die Tendenz vorherrschte, auseinanderzugehen, immer neue Konfessionen und Denominationen und Sekten zu bilden, wobei besonders die von Rom gelösten und dann vor allem in Nordamerika begründeten Kirchen als Beispiel einer immer größer werdenden Zersplitterung der Kirche zu nennen sind, beginnt im späten 19. Jahrhundert eine überraschende Wende. Die Frage nach der Einheit der gespaltenen Kirche wird lebendig. An den Fronten der Weltmission taucht sie auf, aber auch in Nordamerika, wo die Zersplitterung den höchsten Grad erreicht hatte. Man erkennt, daß für die Mission, die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft, für die Aufgabe der Kirche in der modernen Welt die Einigkeit der Getrennten, die Wiedervereinigung der Auseinandergegangenen, das Miteinander der Christen in einer Kirche von entscheidender Bedeutung sind. Die Fragen finden ein immer weitergehendes Echo. Nach den Erlebnissen des Ersten Weltkrieges ist es soweit. Die ökumenische Bewegung tut ihre ersten weltbedeutenden Schritte zueinander und miteinander. Sie sucht nach dem Weg der Einheit, sie erforscht die Tragweite der Lehrdifferenzen, aber bedenkt auch die Notwendigkeit, als christliche Bruderschaft angesichts der vielfältigen Nöte in der Welt etwas Gemeinsames an wirksamen Diensten zu planen und durchzuführen. Die ökumenische Bewegung wächst und gewinnt immer mehr Mitglieder. Sie übersteht den Zweiten Weltkrieg und initiiert eine große Welthilfe für alle vom Krieg betroffenen Gebiete. Sie bringt die Kirchen aus den zerstrittenen Völkern zusammen und gründet den „Ökumenischen Rat der Kirchen" (1948), stattet ihn mit den nötigen Mitarbeitern und Geldmitteln aus und macht „Genf" zum symbolischen Mittelpunkt der nicht-römisch-katholischen Christenheit der Welt. Diakonie und Mission werden zu Bestandteilen ihrer Aktionen. Es gelingt, über die wesentlich protestantisch-westliche Christenheit der ersten Generation auch die Orthodoxie in den Ökumenischen Rat einzugliedern. Ja, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kommt

H o f f n u n g für die Kirche

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es auch zur Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Zwar kann diese dem Ökumenischen Rat nicht beitreten, aber sie wird faktisch ein Glied der ökumenischen Bewegung. Die Zahl der Gemeinsamkeiten zwischen Genf und Rom wächst. Ist es zuviel gesagt, wenn man diese Geschichte der letzten 50 Jahre, in denen die ökumenische Bewegung zu einer kirchlichen Größe von Weltbedeutung wurde, als eine Wende in der Kirchengeschichte seit der Reformation versteht? Was noch vor Jahrzehnten undenkbar erschien: Zusammenarbeit von protestantischen, katholischen, anglikanischen und orthodoxen Konfessionen in einem kirchlichen Werk und Dienst, ist heute zur Selbstverständlichkeit geworden. Nicht nur die großen ökumenischen Konferenzen haben die Fortschritte der Verbundenheit deutlich gemacht, auch bis in die einzelnen Gemeinden hinein ist etwas vom ökumenischen Geist gedrungen. In Deutschland sind es z. B. zwei wesentliche Wandlungen, die durch diese Einflüsse des ökumenischen Geistes geschehen sind. Die evangelischen Christen haben gelernt, daß die Kirche nicht Bestandteil der deutschen Nation ist, sondern eine weltumspannende Größe, an der sie teilhaben. Bisher galt dies Denken als Zeichen katholischen Geistes. Das Nationale an der Kirche hielt man für das typisch Protestantische. Endlich wird das Bekenntnis zur Kirche als einer ökumenischen Bruderschaft Wirklichkeit. Das andere, was neu geworden ist, betrifft das Verhältnis der evangelischen zur katholischen Kirche. Hier ist durch die Ökumene und das Zweite Vatikanische Konzil geradezu ein Erdrutsch geschehen. An die Stelle einer kühlen Koexistenz ist eine freudige Kooperation getreten: Zusammenarbeit auf allen Gebieten, wo immer sie möglich erscheint, statt Konkurrenz und heimlichem Neid, Haß und Feindschaft. Ja, kühn wird schon die Interkommunion beider Kirchen von ökumenisch entflammten Kreisen gefordert. Ökumenische Gottesdienste werden gehalten, gemeinsame Freizeiten und Treffen von Pastoren und Laien beider Kirchen; ökumenische Arbeitsausschüsse regeln die Zusammenarbeit in Diakonie, Schularbeit, Sozialpolitik, Mischehenseelsorge usw. Begegnungen sind auf allen Ebenen der kirchlichen Wirksamkeit selbstverständlich geworden - bei Synoden, Einweihungen von Kirchen, Einführungen von Pfarrern, und schon fand so etwas wie ein gemeinsamer Kirchentag statt (Augsburg 1971). Das Verhältnis der z. T. seit vielen Jahrhunderten getrennten Kirchen zueinander hat sich in unseren Tagen tiefgreifend geändert. Noch sind die alten gewichtigen Lehrdifferenzen zwischen ihnen nicht aus der Welt geschafft. Noch hat sich hier trotz vieler Bemühungen kein durchgreifender Erfolg gezeigt. Noch sind hier erst die Verständnis suchenden Gespräche in Gang gekommen. Und es wird noch lange dauern, bis hier Früchte reifen. Aber diese Hindernisse haben die ökumenische Bewegung nicht erstarren lassen. Man hat sich in der Arbeit an den Aufgaben 25

Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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H o f f n u n g für die Kirche

der Welt zusammengefunden und trotz der ungelösten Lehrfragen die Verantwortung der Kirche für ihre eigene bruderschaftliche Zusammenarbeit und für die N ö t e der Menschheit ergriffen. Dabei ist ein vertieftes Verständnis der verschiedenen Konfessionen füreinander, ein starkes Erleben der Wirklichkeit der einen Kirche Christi bei allen Unterschieden auch in wichtigen Glaubensfragen entstanden, das ein neues Bewußtsein der in der Welt zerstreuten, aber zusammengehörigen christlichen Familie füreinander geschaffen hat, das auf dem Wege ist, die konfessionellen Bindungen an ihrer traditionellen Absolutheit zu überwinden.

Krise der

Theologie

Zum Abschluß unseres Kapitels haben wir uns noch einem besonders beachtlichen innerkirchlichen Phänomen zuzuwenden, das in gewisser Weise eine geradezu ökumenische Dimension hat. Ich meine die theologischen Spannungen in der Kirche, Spannungen, die nicht zwischen den Konfessionen bestanden oder bestehen, sondern bemerkenswerterweise quer durch die Konfessionen hindurchgehen und von einer erstaunlichen Härte und Tiefe sind. Theologische Spannungen und Gegensätze gab es bisher meist nur innerhalb einer Konfession, besonders im Protestantismus, der seit Jahrhunderten in Spannungen lebt. Aber theologische Gegensätze überkonfessionellen, ja geradezu ökumenischen Ausmaßes scheinen mir etwas ganz Neues zu sein. Sie zeigen an, welche Auswirkungen die ökumenische Bewegung schon gehabt hat, wie stark man schon über die Konfessionsgrenzen- ins Gespräch gekommen ist. Aber sie zeigen auch, daß die gegenwärtig aufflammenden Spannungen den christlichen Glauben, die Grundlagen der Kirche überhaupt betreffen. Hier findet nicht ein dogmatischer Streit zwischen theologischen Schulen statt, sondern eine Auseinandersetzung über den Kerngehalt des christlichen Glaubens, über das Verständnis des kirchlichen Bekenntnisses und seiner zentralen Aussagen über Gott, Christus, das Heilsgeschehen, die Kirche, die Zukunft des Reiches Gottes. Was hier z. B. nach Ausweis der reformatorischen Bekenntnisse zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche nicht strittig war (der Lehrgehalt der altkirchlichen Bekenntnisse, der Glaube an die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift), das ist nun Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen „konservativen" und „progressiven" Kräften in den verschiedenen Konfessionen. Die christliche Theologie als solche steht auf dem Spiel, nicht ein einzelner Lehrpunkt der Bekenntnisse. Die traditionellen Grundlagen des kirchlichen Dogmas, das seit den alten Konzilien die meisten Kir-

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chen trotz ihrer Trennung "miteinander verband, werden heute grundsätzlich in Frage gestellt, rationalistisch zersetzt und als für den modernen Menschen nicht mehr zutreffend abgewiesen. Hier wirkt sich die Aufkündigung des Bündnisses zwischen Theologie und Philosophie, von der schon die Rede war, aus. Jetzt wendet sich die Philosophie in der Kirche als „moderne Theologie" gegen die Bekenntnisgrundlage der Kirche und ihrer Theologie. Was in der Aufklärung seinen Anfang genommen hatte, der Ersatz der Gottesoffenbarung durch die Vernunft, die Alleinherrschaft der menschlichen Ratio, das wird nun in der gegenwärtigen Diskussion in der Kirche und ihrer Theologie selbst angewandt. Dabei kommt es zu einer „atheistischen" Theologie (Theologie „nach dem Tode Gottes"), zu einem Ersatz der Christologie durch eine Art „Jesulogie", ähnlich, wie es z. B. in der frühen Christenheit eine sog. „ebionitische" Sekte gab, für die Jesus nichts als Mensch war und nicht der Sohn Gottes. Der Glaube hat nicht mehr den sich in Christus offenbarenden Gott zum Inhalt, sondern nur noch die Menschlichkeit Jesu von Nazareth. Glaube wird als ein politisches Engagement im Sinne der „Revolution" Jesu, der am Kreuze scheiterte und in uns auferstehen muß, verstanden. Die Kirche wird dabei notwendigerweise zu einer Gruppe politischer Aktionisten oder auch Revolutionäre („Theologie der Revolution"). Aber auch, wo nicht eine neomarxistische Philosophie die extreme Wandlung im Verständnis von Theologie anzeigt, ist die innere Unsicherheit weiterhin spürbar, wenn es um die Interpretation der Wahrheiten der Bibel geht. Man traut sich nicht mehr recht, von Gott, Himmel, Menschwerdung, Ewigkeit, Schöpfung und Weltende, kurz von dem Inhalt des Evangeliums nach Schrift und Bekenntnis, zu reden, man verändert den Sinn in eine humanistische Anthropologie; nachdem der alte theologische Liberalismus beim ethischen Monotheismus endete, begegnen wir hier schon einem ethischen Atheismus, und dieses nicht nur da, wo offen Marx anstelle Jesu Christi verehrt und verkündigt wird. Weit und breit zeigt sich eine Aushöhlung des christlichen Glaubens und sein Ersatz durch eine moderne empiriokritische Philosophie oder auch Soziologie. Die Fundamente des Glaubens erscheinen erschüttert oder auch zerbrochen infolge der Herrschaft der Wissenschaft, in der sich der Rationalismus der Aufklärung Raum geschaffen hat. Die Wissenschaft nimmt offenbar dem Glauben Kraft und Lebensmöglichkeit. Die Vernunft ist glaubwürdiger geworden als Gott. Nur was vor der Strenge der Naturoder Geschichtswissenschaft bestehen kann, erscheint annehmbar als menschliche Lebensgrundlage. Gott, Wort Gottes, Offenbarung Gottes, Rechtfertigung des Sünders, ewiges Leben - das sind für viele „Leerformeln", Worte ohne Inhalt, da sie sich der rationalen Beweisbarkeit gemäß der wissenschaftlichen Methodik nicht unterwerfen. Sinn

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kann die theologische Überlieferung, kann die Botschaft der Bibel, der Inhalt der Bekenntnisse nur bekommen durch eine neue Interpretation von dem Selbstverständnis des heutigen Menschen oder den Anforderungen der modernen Gesellschaft her. Anlaß zur Sorge bietet das Bild jedoch auch dort, wo nicht die radikalen Forderungen die Veränderung des Christentums, des Glaubens, der Bekenntnisse erhoben werden, also bei den „Konservativen". Bei vielen ist die Gewißheit des Auftrags erschüttert, Fragen sind aufgekommen, wie es mit der Kirche und ihrer Theologie weitergehen soll. Resignation zeigt sich, weil so viel vergeblich bleibt, was man im Dienst am Wort in der Gemeinde tut. Das Interesse vieler Gemeindeglieder wird schwächer, die Gottesdienste werden weniger besucht als zuvor. Von Gemeindeleben kann oft gar nicht mehr die Rede sein. Wer hat noch ein Herz für die Kirche? Wer will hören, was die Kirche im Evangelium der Menschheit zu sagen hat? Der Prediger des Wortes Gottes beginnt unter seinem Auftrag zu seufzen. O f t ist in den Gemeinden die Gemeinschaft der Pastoren zerbrochen. Erst recht in den theologischen Fakultäten. Sie sind zum O r t härtester Gegensätze und Kämpfe geworden. Nicht nur deswegen, weil auch sie teilhaben an den Konflikten der heutigen Universität, sondern weil die theologischen Gegensätze unüberbrückbar sind. Angesichts dieser verwirrenden, oft chaotisch wirkenden Zustände im Bereich von Kirche und Theologie ist es wie ein Wunder, daß die Kirche trotzdem unerschütterlich erscheint. Als ob ihr das alles nichts antäte. Die Handlungen der Kirche, die Taufen der Kinder, Konfirmationen, Trauungen, Bestattungen, aber auch Einzelseelsorge, dies alles wird begehrt wie eh und je. Insofern ist die „Volkskirche" in Europa weithin immer noch gefragt. Daran haben bisher auch größere Austrittsbewegungen nichts geändert. Die Kirche ist gewiß schwach, aber die Kirchenfeindschaft auch. Verbreitet und wirksam ist jedoch eine Gleichgültigkeit allem gegenüber, was Religion heißt. Es scheint, als seien im Abendland die religiösen Kräfte ausgebrannt. Um so vergeblicher muß der Versuch von Theologen in allen Konfessionen sein, Religion durch „Moral" in der Gestalt eines „politischen Engagements" zu ersetzen, aus der Hoffnung, dadurch beim modernen Menschen anzukommen. Aber der moderne Mensch sieht sehr rasch, daß man dazu eigentlich keine Kirche braucht, sondern eine politische Partei. Infolgedessen erreichen auch die Modernisten, die Progressiven nur wenig. Zwar gibt es Augenblickserfolge bei „politischen Nachtgebeten", aber keinen Gewinn neuer kirchlicher Aktivisten aus der jungen Generation, wie man wohl erwartet hatte. Die Kirche muß eben, ganz gleich, ob sie dabei viel oder wenig Erfolg hat, ob ihr Massen zuhören oder ob nur wenige kommen, bei ihrer Sache

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bleiben, bei ihrem Auftrag, den ihr keiner abnehmen kann, den sie aber auch um keinen Preis verändern darf in der Erwartung, dadurch Menschen anzulocken. Die Geschichte der Kirche zeigt auch, daß nicht immer „Zeit" ist für das Evangelium, sondern auch „Unzeit", d. h. Ablehnung, Gleichgültigkeit, ja Feindschaft, so daß es Zeiten der Dürre und Zeiten der Fruchtbarkeit gibt, worüber die Kirche mit ihren eigenen Kräften nicht verfügt. Aber eines ist ganz gewiß: Die Kirche lebt in Tiefen und Höhen ihrer Geschichte immer nur durch ihren Auftrag, für das Evangelium, kraft des Heiligen Geistes in Treue als Botschafter an Christi Statt, anscheinend meist ohnmächtig und doch immer wieder vollmächtig, „wo und wann Gott es will" (ubi et quando visum est Deo, Augsburgische Confession, Art. V). So besorgniserregend die innere Lage der Kirche und ihrer Theologie quer durch die verschiedenen Konfessionen und wohl auch die Kontinente ist, so kann es für die vielleicht bescheidene Minderheit der Glaubenden in den Kirchen nie einen Grund zur Verzweiflung geben. Die Anfechtung mag schwer sein und die Schwachheit groß. Der Glaube ist gewiß, daß die Kirche Christi immer Hoffnung hat, auch wenn viele unter uns nichts Hoffnungerweckendes sehen können. Aber haben wir nicht doch auch in dem, was wir in diesem Kapitel beobachten, trotz allem einiges, das Hoffnung zu erwecken vermag, erkannt?

III. Die Kirche von morgen Nachdem wir uns ein Bild der kirchlichen Gegenwart in ihren Tendenzen in Umrissen vor Augen gestellt haben, sind wir vorbereitet, unseren Blick auf die Kirche von morgen zu richten und dabei nach der Hoffnung zu fragen, die sich angesichts der im Heute liegenden Möglichkeiten für die Kirche entdecken läßt. Da wir nach der irdischen Zukunft der Kirche fragen, können wir kaum viel weiter schauen als auf morgen oder übermorgen. Auch bei dieser Begrenzung sind wir uns dessen bewußt, daß unsere Aussagen im Horizont der „Wahrscheinlichkeit" ergehen, nicht der vorausberechenbaren Sicherheit. Wir leben als glaubende Christen unter dem Vorbehalt, daß alle Zukunft, wie die Geschichte auch erweisen kann, in den Händen Gottes, seiner uns unbekannten Führung ruht, so daß auch in der Zukunft Wendungen, Überraschungen eintreten können, die in keiner Weise vorausgesehen werden konnten. Trotzdem wagen wir es, im Nachdenken über gestern und heute auch das Morgen der Kirche zu bedenken, wie wir ja auch unser persönliches Leben ohne Planungen und Ausblicke in eine wahrscheinliche Zukunft nicht führen können.

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Hoffnung für die Kirche

Kirche in Zukunft: Diaspora Unsere erste These lautet: Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche in

der Diaspora sein. Auch darin liegt für ihren Dienst in der Welt eine große Hoffnung. Die Geschichte Europas zeigte uns Kirchen als „Volkskirchen", d. h. solche, zu denen ganze Völker gehören, und es ist noch nicht abzusehen, wie lange diese Volkskirchen noch leben werden. Denn obwohl die Tendenz offenkundig ist, daß diese Volkskirchen innerlich ausgehöhlt werden und also das „Christentum" nicht mehr „die Religion" dieser Völker ist, wie das lange Zeit hindurch der Fall war, so ist doch die Hartnäckigkeit dieser Verbundenheit oder Identität von Kirche und Volk bewundernswert. Es ist daher immer noch verfrüht, der Volkskirche das in Kürze bevorstehende Ende vorauszusagen. Ihre Existenzmöglichkeit hängt auch heute und morgen davon ab, ob die führende Schicht eines Volkes, die die Regierung in der Hand hat, die Kirche duldet oder auf irgendeine Weise bedrängt, um ihr das Leben zu nehmen. In den Staaten des Ostblocks kann man das in mannigfaltigen Variationen sehen. Man kann nicht mehr von einer Volkskirche in Rußland sprechen, wohl aber in Polen. Andererseits gibt es auch im Westen und Norden Volkskirchen, die alle Freiheit der Religion haben, aber wie ausgebrannte Krater wirken, wenn man ihre religiöse Wirksamkeit ins Auge faßt. Kirche und Gesellschaft trennen sich mehr oder weniger stark überall in Europa, das gilt auch für katholische Länder, und so ist auch der Bestand von einigen Staatskirchen im Norden und Nordwesten keine Garantie für die Christlichkeit oder Kirchlichkeit der Gesellschaft dieser Länder. Es ist wahrscheinlich, daß die letzten Staatskirchen der Welt keine sehr lange Lebensdauer mehr haben werden. Die Kirchen sind überall schon dabei, sich gegenüber den politischen Mächten in Staat und Gesellschaft eine neue Weise der Selbständigkeit zu beschaffen. Auf deutschem Boden ist dies besonders deutlich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, und die Tendenz in den Kirchen geht klar in die Richtung der Unabhängigkeit von den irdischen Mächten. Natürlich vollzieht sich dies nur schrittweise und braucht bis zum Ziel seine Zeit. Aber es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß am Ende dieser Entwicklung die „Trennung von Staat und Kirche" - auch von Kirche und Gesellschaft - stehen wird. Die Kirchen Europas erkennen, daß sie je länger desto mehr auf eigenen Füßen werden stehen müssen. Ihre Autorität, ihre Wirksamkeit, ihre Stellung in der Öffentlichkeit, ihre Finanzierung - das alles wird ganz bei der Kirche selbst liegen und von ihrer Kraft und Fähigkeit abhängen. Sie kann nicht mehr von „Anleihen" bei den öffentlichen Autoritäten leben, sondern wird auf sich selbst allein angewiesen sein. Damit verändert sich die Rolle, die sie in der Gesellschaft spielt. Sie wird

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nicht mehr die religiöse Untermauerung der Völker und ihrer Moral sein. Sie wird dann nur noch von ihrem Auftrag an die Menschen leben, das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen, und aufhören „Volksreligion" zu sein. Sie wird wohl nur noch eine Minderheit in den Völkern darstellen und nicht mehr die Mehrheit sein. Ihre überlieferten Privilegien werden stark zusammenschmelzen, und die Kirche wird froh sein, wenn man ihr von Staats wegen keine besonderen Schwierigkeiten macht, wenn sie Freiheit zur Wirksamkeit behält. Es könnte ja auch viel schlimmer kommen, wie das heute schon im Osten der Welt sichtbar geworden ist. Aber auch dort hat sich etwas von der eigentümlichen Kraft und Unüberwindlichkeit der Kirche in Bedrängnis und Verfolgung gezeigt, so daß auch unter dem Druck der Unduldsamkeit neue Möglichkeiten aufkommen. Durch das heraufkommende Ende der abendländischen Volkskirchen wird die Situation der Kirche in Europa derjenigen angeglichen, die außerhalb dieser „christlichen" Kontinente in Asien, Afrika und anderswo die normale Lage der Kirche in der Welt war und ist: Kirche in der Zerstreuung, Kirche ohne Identifikation mit Volk, Staat und Gesellschaft, nicht „Volks"- und „Staats"kirche also, sondern eine eigenständige Größe, eine unabhängige „Gruppe", vielleicht eine „Freiwilligkeitsgemeinde", mit allen neuen Problemen dieser anders gearteten Rolle. Aber mit einer wesentlichen Hoffnung: daß ihr Auftrag nicht verwechselt werden kann mit politisch-moralischen oder auch religiösen Werten. Es wird weithin deutlicher sein, daß die Kirche nicht dazu da ist, politische oder gesellschaftliche Mächte zu stabilisieren, sondern das Wort Gottes, die Botschaft von der Versöhnung an alle zu verkündigen. Ihr Auftrag wird mit neuer Kraft zu leuchten anfangen, wenn gewisse Verdunkelungen, die bei Volks- und Staatskirchen unvermeidbar sind, in den neuen staatsfreien Kirchen keinen Grund mehr haben werden.

Kirche in Zukunft: Mission Die neue Verdeutlichung des Auftrags der Kirche an die Welt also erhoffen wir für die Kirche der Zukunft. Damit sehen wir uns jedoch zugleich vor eine zweite These gestellt, die unserer Hoffnung noch einen andersartigen Ausdruck zu geben vermag. Unsere zweite These lautet: Die Kirche der Zukunft wird wieder in erster Linie Kirche der Mission, der Sendung Gottes an die Welt, sein. Es ist in der abendländischen Kirchengeschichte erwiesen, daß Volks- und Staatskirchen ihren missionarischen Auftrag verwandeln, nach innen kehren, ihn lediglich ihren „Völkern" als ihren Mitgliedern zuwenden und die Welt draußen ohne Mission sich selbst überlassen. Ihre Hauptaufgabe wurde die religiöse

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und moralische Betreuung ihres Volkes, und darin sahen die Staatsmänner meist auch ihren eigentlichen Wert. Welche Mühe hat es gekostet, daß in den Volkskirchen die sogenannte „Außere" Mission, d. h. Mission nach draußen, wieder als Aufgabe der Kirche gesehen wurde. Und wie verhängnisvoll mußte für die Christenheit wie für die „Heidenwelt" diese christliche Introvertiertheit wirken. Der Auftrag, für den die Kirche in die Welt gesandt war, blieb oft jahrhundertelang liegen. Schon die Auflockerung des Verhältnisses von Kirche und Staat im 19. Jahrhundert hat dazu beigetragen, die Gedanken der Glaubenden und „Erweckten" auf die Aufgabe der Weltmission zu lenken, so daß gerade die Neuzeit der Kirche des Abendlandes eine missionarische Leistung ohnegleichen hervorgebracht hat. Aber nun ist gerade die hinter uns liegende Weltmission der weißen, abendländisch-amerikanischen Christenheit durch die tiefgreifenden Wandlungen der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert in eine eigenartige Krise geraten, die damit zusammenhängt, daß diese Missionsbewegung ausgesprochenermaßen gleichzeitig als eine auf den Wogen der Kolonisation treibende Kulturmission der europäisch-weißen Welt an der farbigen unterentwickelten Menschheit in Erscheinung trat. Das christliche Abendland missionierte, kultivierte, zivilisierte mit seinen religiösen, geistigen und technisch-industriellen Kräften die übrige Welt. Wir wissen, was seit dem Ersten Weltkrieg geschehen ist: das Ende der Weltherrschaft der westlichen Mächte, Ende der Kolonisation der farbigen Welt, Aufkommen ganz neuer Machtkonstellationen, Aufbruch der farbigen Welt zu eigner Freiheit, Staatlichkeit, Kultur, Wirtschaft, also völligen Unabhängigkeit vom weißen Mann. Das Christentum mußte in eine Krise geraten, da es ja als die „Religion des weißen Mannes" erschienen war. In der Tat, die weltweite Krise der Mission der Kirche Europas und Amerikas ist unbestreitbar. Aber es ist nun geradezu ein Glück, daß auch die Asiaten und Afrikaner je länger desto mehr erkennen mußten, daß von einer Identifikation der weißen Völker mit dem Christentum keine Rede sein konnte. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten die Kriege der weißen Völker, aber auch die ökumenische Bewegung, die Weiße und Farbige ganz neu zusammenbrachte. Je mehr ans Licht kommt, daß die Kirche zwar auf ihrem Weg von Vorderasien (!) nach Europa und Amerika gekommen ist, aber eben dabei immer auch eine „übernationale", interkontinentale Größe war und heute erst recht ökumenisch und nicht abendländisch ist, desto mehr wird die nachkoloniale Krise der Mission überwunden werden. So wirkt es außerordentlich günstig für die Mission in den farbigen Gebieten der Welt, daß auch in Europa und Amerika Wandlungen der kirchlichen Existenz begonnen haben. Die Mission wird im ökumenischen Rahmen heute schon angesehen als eine gemeinsame Sache aller Kontinente und

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Hoffnung für die Kirche

nicht mehr als die Sache der weißen Christen an den Farbigen. Die Lösung des Auftrags der Kirche von der westlichen Welt, ihrer Kultur und Zivilisation ist für die Zukunft der Kirche von großer Wichtigkeit. Hier wird es zu einer Erneuerung der Mission als des „ökumenischen", weltumspannenden Auftrags aller Christen in allen Kontinenten kommen, eines neuen Verständnisses von Mission als der „Missio Dei", der Gottesgesandtschaft der Kirche als „Botschafterin an Christi Statt", allen die Versöhnung Gottes mit der Menschheit zu proklamieren und dadurch aller Welt die eine Kirche Christi ins Leben zu rufen, in der alle Differenzen und Unterschiede der Rassen, Völker und Kontinente aufgehoben sind, so daß die eine Weltgesellschaft der Menschen die ethische Hilfe bekommt, die sie braucht, um zu Stand und Wesen zu gelangen. Wenn man nun die Frage aufwirft, ob denn wirklich Gründe dafür da sind, daß man die Hoffnung haben kann, die Kirche von morgen werde zu ihrem missionarischen Auftrag erneuert werden, so meine ich, daß solche Hoffnung keineswegs grundlos ist. Wer im ökumenischen Raum mitgearbeitet hat, wird von den erstaunlichen Tatbeständen betroffen sein, daß hier je länger desto mehr die Mission als ökumenischer Auftrag der Kirche in den Vordergrund getreten ist. Die Uberzeugung, die in Neu-Delhi 1961 zum erstenmal zum Beschluß der Weltkonferenz der Kirche erhoben wurde, lautet: Das Zusammenkommen und -wirken der einen Kirche hat seinen Grund nicht in der „Einheitsidee" als solcher, sondern im missionarischen Auftrag der Kirche an die Welt. Der Zusammenschluß aller Kirchen steht im Dienste der Missio Dei! Und in Uppsala 1968 hieß eine Arbeitsgruppe „Erneuerung in Mission". Hier wurden besonders heftige Kämpfe um den gemeinsam zu ergreifenden weltumspannenden missionarischen Auftrag ausgefochten. Aber gerade diese Entwicklung der Ökumene zeigt auch nach vorn auf die Hoffnung, die man für die Kirche haben kann: Sie wird sich wieder erkennen als Gottes Gesandte und ihre Aufgabe gemeinsam im Glauben neu übernehmen, um ihren Dienst an der ständig wachsenden nichtchristlichen Menschheit, gehorsam ihrem göttlichen Auftrag, an alle auszurichten.

Kirche in Zukunft: Rückkehr zum

Evangelium

Dies setzt jedoch ein Doppeltes voraus: eine innere Erneuerung der Kirche selbst und eine Vertiefung der ökumenischen Bruderschaft und Kirchengemeinschaft am gemeinsamen Dienst. Und das ist nun meine dritte These: Die Kirche der Zukunft wird wieder eine Kirche des Wortes Gottes sein. Wie kann man solche Kühnheit verantworten? Nun, das eine ist doch wohl klar, wenn es in der Zukunft überhaupt noch Kirche

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Hoffnung für die Kirche

geben wird, kann sie nur bestehen als eine solche, die durch das Wort Gottes erneuert und zur Verkündigung eben dieses Wortes Gottes bevollmächtigt ist. Wenn man glauben müßte, daß die gegenwärtige, oben geschilderte Situation der Kirche, ihrer Theologie und Verkündigung so bliebe oder sich gar noch weiter verschlechtern würde durch Gleichgültigkeit und Abfall, dann käme das einer Preisgabe des Glaubens an Gottes Verheißung für seine Kirche gleich. Trauen wir aber der Wahrheit der Zusage Gottes an seine Kirche, können wir auch gewiß sein, daß die Kirche aus ihrer gegenwärtigen Krise herausgeführt werden wird. Wir haben für solche Wendungen in der Kirchengeschichte genug Beispiele. Wenn wir nur in die letzten Jahrhunderte schauen, wiederholt sich geradezu alle hundert Jahre so etwas wie eine kirchliche Erneuerung. Im 18. Jahrhundert war es der Pietismus, im Gegensatz zum Rationalismus, im 19. Jahrhundert war es die Erweckungsbewegung, im Gegensatz zum Modernismus und Liberalismus, im 20. Jahrhundert war es die Bekennende Kirche und ihre Vorgeschichte in der Theologie nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber dem Nationalismus. In der Regel sind es zwei Generationen der Christen, für die eine solche Erneuerung wirksam wird, dann bemerkt man ein Abflauen der geistlichen Kräfte, so wie viele es seit etwa einem Jahrzehnt bei uns bemerken. Man könnte also (etwas kühn vielleicht) geradezu sagen, daß die Kirche von Zeit zu Zeit immer wieder neu Anstöße durch Gottes Geist empfängt, die ihr Erneuerung schenken, aber die ihr dann nicht so zur Verfügung stehen, wie sie es gern möchte. Die Kirche ist ohne den Geist, den sie nur erbitten, aber auch erwarten kann, sehr schwach und ohnmächtig. Aber sie darf gewiß sein, daß er immer wieder wehen wird, wo er will. Wir erwarten also eine Erneuerung der Theologie, des geistlichen, gottesdienstlichen, gemeindlichen Lebens, eine Uberwindung unserer gegenwärtigen Schwachheiten, Spannungen und Verwirrungen durch eine Wiederentdeckung des biblischen Christus. Dazu bedarf es einer neuen Öffnung der Bibel als des Offenbarungszeugnisses des lebendigen Gottes, daß sie wieder in die Mitte der Kirche hineinkommt, von Theologen und Laien gelesen, im Unterricht Heranwachsender wieder Hauptgegenstand der Lehre, auf der Kanzel wieder mit Vollmacht als Gottes Wort ausgelegt wird. Und dabei wird es nicht abgehen ohne eine Lösung der Theologie vom Wissenschaftsideal der Aufklärung, wodurch eine Abgötterei mit der Vernunft getrieben wurde, die sich heute auch inmitten der Theologie angesiedelt hat. Die Wissenschaftsidee der christlichen Metaphysik freilich kann nicht wiederaufgerichtet werden, wie es einige zur Rettung der Kirche versuchen. Ihr Ersatz durch die Wissenschaftsidee der „historischen Kritik" hat sich auch nicht als tragfähig erwiesen, und die heutigen Ideen religionspsychologischer oder soziolo-

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Hoffnung für die Kirche

gischer Herkunft, die Versuche, mit den Voraussetzungen, Ideen und Methoden der modernen Natur- und Geschichtswissenschaft neue Theologie zu schaffen, die dem modernen Menschen akzeptabel erscheint, zeigen sich als unfähig, der Theologie Grundlage und Richtlinien zu geben. Die großen Theologen der Mitte des 20. Jahrhunderts, deren Theologie die tragfähige Grundlage für den Kampf der Bekennenden Kirche wurde, haben uns gezeigt, wie biblische, altkirchliche und reformatorische Theologie, theologisch, aus ihren eigenen Voraussetzungen - den Glauben an den in Jesus Christus offenbaren Gott - ausgelegt, der Kirche die Basis und Weisung geben kann, die sie für ihr Wort an die Welt braucht. Heute heißt das: Die Theologie von morgen wird ihre Verwandlung in Anthropologie durch eine neue christologisch-trinitarische Grundlegung überwinden, es sei denn, es gäbe keine Theologie mehr. Aber der göttliche Auftrag der Kirche ist die wahre Hoffnung der Theologie, nicht der Verstand der Theologen. Denn Theologie wird entweder als Funktion der Kirche und ihrer Verkündigung leben oder aber irgendeine Philosophie werden. Andererseits, ohne Theologie wird auch in Zukunft keine Kirche sein. Ist es darum zu verstehen, wenn man für die Zukunft der Kirche eines gewiß erwartet: daß in ihr kraft der Gabe des Heiligen Geistes das Wort Gottes, das Evangelium von Jesus Christus wieder allein geglaubt, verkündigt und gelehrt werden wird? Darf man noch auf eines hinweisen: Auch auf die seltsamste Weise zeigt es sich, daß die Christenheit Jesus nicht los wird, daß er ihr begegnet, wo sie ihn nicht erwartet, daß er auch dort verehrt und angenommen wird, wo man in ihm noch nichts anderes erkennt als einen Menschen, aber nun doch ganz einzigartigen Menschen in seiner Liebe, seinen Worten, seiner Hingabe in den Tod - vielleicht als den einzigen unter uns, der ein Mensch war für uns. Die Versuche in Kirche und Theologie, Jesus durch andere Wahrheiten, Ideen und Gestalten zu ersetzen, sind immer noch gescheitert. Denn E r bleibt bei seiner Gemeinde, auch da, wo sie ihm untreu wird. Er steht zu seiner Verheißung. „Er kann sich selbst nicht verleugnen." (2. Timotheus 2,13)

Kirche in Zukunft: Ökumenische

Kooperation

Am Anfang unserer Ausführungen über die dritte These war schon von einem Zweiten die Rede, was außer der Erneuerung der Kirche für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein würde: die ökumenische Bruderschaft. Dies ist nun unsere vierte These: Die Kirche der

Zukunft wird eine Kirche der ökumenischen Bruderschaft sein. Von der

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H o f f n u n g für die Kirche

ökumenischen Bewegung in Vergangenheit und Gegenwart haben wir im zweiten Kapitel ausführlich gesprochen. Jetzt fahren wir fort mit unseren Ausblicken auf die Zukunft, wenn wir das Wagnis unternehmen, von unserer Hoffnung auf die „ökumenische Kirche" von morgen zu sprechen. In der kurzen Geschichte der ökumenischen Bewegung ist schon, wie wir oben ausführten, Erstaunliches geschehen. Man kann von einem Zusammenwachsen der Kirchen zu tieferer Gemeinschaft reden. Aus der Koexistenz ist längst eine Kooperation geworden, die sich besonders auch in einer „ökumenischen Diakonie" ein bedeutendes Feld der Verbundenheit im Dienst an den Menschen und Kirchen in der Welt geschaffen hat. Die regelmäßigen, auf verschiedenen Gebieten der theologischen Fragen und der kirchlichen Arbeitsbereiche geschehenden Begegnungen, die Studien über Lehre und Dienst der Kirche, die Arbeitsgemeinschaft im Feld des Entwicklungsdienstes der Kirche und der Hilfe an den Katastrophen in irgendeinem Gebiet der Welt bis hin zu den großen Konferenzen des Ökumenischen Rates der Kirchen haben eine Kooperation entwickelt, wie sie bisher so noch nie zwischen den Kirchen bestanden hat. Man darf daher hoffen, daß es langsam über die Etappe der Kooperation nach vorwärts in Richtung der „Wiedervereinigung" der christlichen Kirchen gehen wird. Die Vorstufen in den Weltkirchenfamilien sind erreicht. Das gilt besonders für den so sehr zersplitterten Protestantismus. Hier ist eine neue „Kirchengemeinschaft" der bisherigen Großfamilien lutherischer und reformierter Herkunft deutlich sichtbar im Kommen. Die Zuwendung der römischkatholischen Kirche zur ökumenischen Bewegung nach dem Beitritt der Orthodoxie zum Ökumenischen Rat der Kirchen ist ein weiterer Schritt, der uns hoffen heißt! Was in den letzten Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil allein auf deutschem Boden möglich geworden ist, hätte keiner vorher für möglich gehalten. Dennoch ist man sich darüber bei allen Verantwortlichen klar, daß der tiefste Graben in der Gesamtchristenheit die Differenz zwischen den protestantischen Kirchen einerseits und der katholischen und orthodoxen Kirche andererseits ist. Eine „Wiedervereinigung" allein schon der evangelischen Kirche mit der römisch-katholischen Kirche steht noch gar nicht im Horizont kirchlicher Hoffnungen. Auch wenn das Verlangen vor allem der christlichen Jugend nach einer Uberwindung der Kirchenspaltung durch die Gewährung der Interkommunion ein Symbol für die Leidenschaft und Tiefe des ökumenischen Geistes in der Christenheit ist, so muß doch gesagt werden, daß auch die Abendmahlszulassung (falls sie von beiden Kirchen ermöglicht würde) die Hauptprobleme einer Wiedervereinigung der reformatorischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche nicht löst. Darum sollte dieser Weg nicht beschritten werden. Je nachdem würde er uns zu einer weiteren „Konfession" führen und nicht zur

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Hoffnung für die Kirche

Einheit. Der Weg zur Einheit in der Wahrheit ist noch sehr weit. Nach den bisherigen bescheidenen Erfolgen der ökumenischen Arbeit am Problem der Vereinigung aufgrund eines grundlegenden theologischen Konsensus über die bisherigen Hauptstreitfragen kann man erst recht bei dem Gegensatz der katholischen und reformatorischen Theologie und Kirche nicht mit einem baldigen Ergebnis rechnen. Ohne eine solche Übereinstimmung wird es aber nicht zur Wiedervereinigung kommen. Dagegen erscheint der immer auch schon beschrittene Weg der praktischen Zusammenarbeit im ethischen Bereich, der Weg des gemeinsamen Gebetes und Wortgottesdienstes als der ersten Stufe der Kirchengemeinschaft, aussichtsreich und für die Kirche von morgen das „Übungsfeld" der Verbundenheit in Christus. Was erhofft werden kann, wäre über die Kooperation hinaus eine „Konföderation" der Kirchen, d. h. so etwas wie ein „Weltkirchenbund", der zu gemeinsamer Wirksamkeit auf allen Gebieten die Voraussetzungen schafft, indem dadurch sich die Kirchen trotz ihrer Lehrdifferenzen und der damit verbundenen Verschiedenheiten in Ordnung und Frömmigkeit als Kirchen Christi gegenseitig anerkennen und in dieser Gemeinschaft sich langsam und behutsam, soweit gewissensmäßig möglich, zwischen den Kirchenfamilien die „gegenseitige Abendmahlszulassung" gewähren. So käme es zur Kirche der ökumenischen Bruderschaft. Sie in absehbarer Zukunft zu erhoffen, ist nach meiner Überzeugung keine phantastische Utopie, sondern liegt in der großen Richtung, die die christlichen Kirchen im 20. Jahrhundert in der ökumenischen Bewegung eingeschlagen haben. Dieser Schritt der ökumenischen Bewegung würde keiner Kirche Untragbares zumuten, zumal alles, was hier geschieht, nur in freier Zustimmung und Vereinbarung geschehen kann. Das biblische Verständnis von kirchlicher Einheit ist geistlich und fordert keine verbindliche Rechtsordnung für die ganze Christenheit. Das biblische Verständnis des Gehaltes an gemeinsam zu glaubender Wahrheit des Wortes Gottes muß erst noch und wieder neu gewonnen werden. Aber das ist kein Hindernis, die Bruderschaft der Kirchen und Christen zu vertiefen, denn sie ist notwendig, wenn das Gebot Christi aus Johannes 17 gilt: „. . . auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt."

Kirche in Zukunft:

Ökumenische

Diakonie

Diese kommende Kirche der ökumenischen Bruderschaft wird nach dem Gebot, das sie herausgerufen und verbunden hat, der Weisung Christi, sich der Menschen in ihrer Not, Armut und Krankheit, ihrem Elend, ihrer Bosheit und Feindschaft anzunehmen und ihnen aus dem Erbarmen Christi zu einem menschenwürdigeren Leben nach dem Wil-

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Hoffnung für die Kirche

len ihres Schöpfers zu verhelfen, darangehen, die Weltprobleme, von denen wir im zweiten Kapitel sprachen, mit vereinten Kräften zu bewältigen. Dies ist meine letzte (5.) These von der Hoffnung für die Kirche der Zukunft: Sie wird eine Kirche der ökumenischen Diakonie sein. Die Größe der auf sie zukommenden Aufgaben zur Bewältigung von Hunger und Analphabetismus, von Rassenwahn und Ideologiezwang, von Krankheit und Arbeitslosigkeit geht weit über die Kraft der Kirchen, wie sie jetzt leben, hinaus, gewiß auch über die vereinte Kraft der ganzen Christenheit. Aber die Vereinigung der Christenheit an diesem Werk der „Vermenschlichung" des Lebens auf der Erde hat vor allem auch die Wirkung, daß die in Politik und Wirtschaft Verantwortlichen einen größeren Einsatz in der Hilfe für die „Unterentwickelten" wagen werden. Denn ohne den Einsatz der großen Mächte, die in der Weltpolitik, dem Welthandel, der Weltwirtschaft, dem Weltverkehr und dem Kapital über die entscheidenden Hilfsquellen verfügen, die die Milliarden Menschen der farbigen Welt in Anspruch nehmen müssen, um aus ihrem unüberwindlichen Elend Leibes und der Seele, in dem sie stecken, herauszukommen, geht es nicht. Es gehört zu unseren heißesten Hoffnungen, daß es den weißen, immer noch im wesentlichen christlichen Völkern gelingen wird, in den nächsten Jahrzehnten die Not der farbigen Welt zu lindern, ihnen die Chance eines menschenwürdigeren Lebens zu bieten, so daß sie aus der Verzweiflung ihrer jetzt immer noch aussichtslosen Lage heraus zu einer Gestalt ihres Lebens finden, die ihrem Leben Sinn, Friede und Hoffnung verleiht. Bei der Verwirklichung dieser Hoffnung ist die Kirche unserer Tage schon mehr als je zuvor engagiert. Für viele Christen erscheint Entwicklungshilfe geradezu als die eine vordringliche christliche Aufgabe der Gegenwart und Zukunft. Freilich kann die Kirche sich nicht in ein Institut für Entwicklungshilfe oder zur politisch-sozialen Weltveränderung verwandeln oder umformen lassen. Sie muß in jedem Fall Kirche bleiben und darf ihren Auftrag nicht verändern. Aber daß die Frucht des Evangeliums und damit des christlichen Glaubens in der christlichen Tat heute ganz besonders für den farbigen „armen Lazarus" vor der Tür des reichen weißen Mannes da ist, weil wir es hier mit den augenblicklich ärmsten Brüdern Christi zu tun haben, daran kann kein Zweifel sein. In der ökumenischen Bewegung wußten es schon lange viele, und sie bewirkten, daß es immer mehr hörten: Christus ruft heute seine Kirche besonders zum Dienst an der leidenden Menschheit, die vor allem in Asien, in Afrika und in Südamerika unseren Einsatz fordert. Zur Rettung des Menschen auf Erden und seiner irdischen Zukunft wird darum die ökumenische Kirche in den kommenden Jahren entscheidende Einsätze wagen. Sie wird das nur können in der Kraft der Liebe Christi, die auch sie selbst allein zusammenfügt. Sie wird es tun, je mehr

Hoffnung für die Kirche

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sie sich erkennt als die weltumspannende Bruderschaft Christi - die eine „katholische" Kirche, die von Christus zur „Kirche für die Welt" bestimmt ist. So dürfen wir hoffen, daß dieser Dienst in der Kirche der Zukunft weltweit geschieht, und damit gewiß sein, daß die Hoffnung für die Kirche letzten Endes Hoffnung für die Welt in sich schließt. Es gibt Beispiele genug in der Kirchengeschichte, wie die geistliche Kraft von Christen und Kirchen in der Welt tiefgreifende Veränderungen hervorgerufen hat. So kann es auch im 21. Jahrhundert sein, daß die kommende Weltgesellschaft nicht eine Gemeinschaft des Elendes und der Verzweiflung, nicht eine Welt der Ratlosigkeit, der Feindschaft und des Hasses ist, die das Leben auf Erden zur Hölle macht, sondern eine Menschheit, in der aus der Macht der Liebe Christi das Elend verringert, die Krankheiten eingedämmt, dafür Arbeit und Brot den vielen zuteil wird und der Kampf für die Menschenrechte, für Freiheit und Gerechtigkeit zu einigen Erfolgen auf dem ganzen Erdkreis geführt hat. Daß solche weltbewegenden Wandlungen eintreten, dazu bedarf es allerdings der Gabe des Geistes Gottes, der auch die Kirche allein erneuert. Hier liegt darum auch der wahre Grund aller unserer Hoffnung, daß Gott seine Welt nicht sich selbst und ihrem Untergang überläßt, sondern nach seiner Verheißung, wie sie in der Bibel ihren kraftvollen Niederschlag gefunden hat, sie erhaltend regiert und zu seinem Ziel bringt. Und unsere Hoffnung für die Kirche Christi ist in Gottes Hoffnung für seine Welt eingeschlossen. Denn aus seiner Liebe zur Welt sandte Gott seinen Sohn - und in seinem Dienst seine Kirche - , um ihr Rettung, Heil und Leben in Ewigkeit zu schenken. Es ist etwas Merkwürdiges, ja Unbegreifliches mit der christlichen Hoffnung. Vielleicht haben manche Leser am Ende dieses Versuchs, von der Hoffnung der Kirche zu sprechen, den Eindruck, daß dies alles unbegründete Utopien sind, Phantasien eines Glaubenden, die niemand im Ernst annehmen kann. Aber so war das immer schon, wie man aus den Texten der Bibel bereits ersehen kann. Paulus sagt deswegen Römer 4 von Abraham, dem Vater der Glaubenden, daß er „geglaubt hat auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen war", denn er „wußte aufs allergewisseste: was Gott verheißt, das kann er auch tun". Wir können daher nicht anders von der Hoffnung reden, als indem wir Gottes Verheißungen über alles trauen und unsere Hoffnung für die Kirche nicht auf unsere eigenen Hoffnungen gründen, sondern auch da, wo wir keinen Hoffnungsschimmer zu sehen vermögen, dennoch unsere Hoffnung auf Gott setzen.

Freiheit und Bindung der kirchlichen Amtsträger im Blick auf die politische Betätigung* Anlaß zur Erörterung dieses Themas ist die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von Jahr zu Jahr zunehmende Diskussion um das „politische Engagement" der Kirchen, besonders ihrer Amtsträger. Der Streit um die politische Betätigung von Pfarrern, um die Erklärungen von Bischöfen, Kirchenleitungen, von Synoden zu politischen Fragen flammt bei jeder neuen Gelegenheit wieder auf und scheint bis heute nicht zur Ruhe kommen zu können, da die Meinungen in der Kirche selbst einigermaßen polarisiert sind. Ein hartes Nein und ein ebenso heftiges Ja zur Frage stehen einander gegenüber. Noch zeichnet sich eine Entscheidung nicht ab. Wir versuchen zur theologischen Klärung der besonderen Frage nach der politischen Betätigung kirchlicher Amtsträger die Grundvoraussetzung zu klären, indem wir uns der Frage zuwenden, wie es denn überhaupt mit der politischen Verantwortung der Kirche bestellt ist. A. Die politische Verantwortung der Kirche I. 1. Das Recht zur politischen Verantwortung wird der Kirche bestritten. Die Kirche muß unpolitisch sein, fordern manche Christen aus der Uberzeugung, daß die Kirche e i n e Aufgabe hat: Menschen zu bekehren und für ihr Seelenheil Sorge zu tragen und darum sich nicht um die Dinge der Welt zu kümmern, zu denen vor allem die Politik gehört. Auch für den einzelnen wiedergeborenen Jünger Jesu gilt es: Hände weg von der Politik, es ist ein sündiges Geschäft, das der Heiligung abträglich ist. Im übrigen wird die Kirche durch Beschäftigung mit politischen Dingen verwirrt und gespalten durch politische Gegensätze in Parteien, sie leidet schweren Schaden in ihrem geistlichen Leben. Darum ist Entpolitisierung der Kirche die dringende Forderung der Stunde, Rückkehr der Kirche zu ihrem wahren Auftrag an den Menschen. * A u s : Z e v K R 19, 1974, S. 10-30. - Vortrag auf der Mitarbeitertagung der Z e v K R am 13. April 1973 in Heidelberg.

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Aber nicht nur aus der Kirche kommt ein solcher Ruf nach Entpolitisierung der Kirche, sondern auch aus der Welt. Schon lange erschallt die Forderung nach Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens, die Warnung vor Klerikalisierung der Politik. Die Kirche hat unpolitisch zu sein, sie sollte sich lediglich um ihre religiösen Aufgaben kümmern, aber nicht um die irdischen Dinge. Religiöse Wahrheiten, moralische Forderungen und Seelsorge seien ihr unbestritten, aber der weltliche Bereich des Staates und der Gesellschaft, das politische Wollen und seine weltanschauliche Begründung - alles das gehe die Kirche nichts an. So oder ähnlich hörte man schon früher die Warnrufe des alten Marxismus, aber auch aus dem bürgerlichen Lager, heute besonders von Seiten der totalen Weltanschauungsstaaten. 2. Was sagen wir zu dieser Frage angesichts der so grundsätzlichen Bestreitung politischer Verantwortung der Kirche? Zunächst dies: Die Kirche ist ihrem Wesen nach keine politische Größe, sie hat auch keine politische Botschaft. Ihre Aufgabe ist nicht, Politik zu treiben, sondern Gottes Wort zu verkündigen. Sie muß streng von Staat und Gesellschaft unterschieden werden, denn sie ist nicht von dieser Welt. Wohl aber ist sie für die Welt da. Sie kann ihren göttlichen Auftrag nur erfüllen, wenn sie sich nicht aus der Welt heraushält, sondern wirklich in und mit der Welt lebt, in echter Solidarität mit ihr verbunden. Nicht umsonst wird die Kirche das königliche Priestertum genannt, und dazu gehört auch die Solidarität der Christenheit mit der verlorenen, aber mit Gott versöhnten Welt. Sie ist durch ihre Existenz als Kirche mit der Welt verbunden, denn sie lebt als Kirche in Staaten, die Gott zur Erhaltung der Welt gebraucht. Darum kann und darf sich die Kirche der ihr damit von Gott auferlegten politischen Verantwortung gar nicht entziehen. Weil sie die Gemeinde der an Christus, den Herrn und Heiland der Welt, Glaubenden ist, die miteinander in der von Gott angeordneten Staatlichkeit leben, darum muß sie in christlicher Weise politische Verantwortung wahrnehmen. Selbst dann, wenn sie meint, unter Verzicht auf solche Verantwortung rein geistlich, innerlich, abseits der Öffentlichkeit nur ihrer Frömmigkeit zu leben, wirkt ihr Handeln politisch. Der Auftrag der Kirche ist die Verkündigung der Botschaft Gottes an die Welt. Dazu ist sie gesandt, die Herrschaft Jesu Christi über die Welt anzusagen, die Völker zu Jüngern Jesu zu machen. Mit dieser Sendung hängt die politische Verantwortung der Kirche zusammen. Zwar ist die Botschaft der Kirche keine politische, sondern Gottes Heilsbotschaft aber Botschaft von Gottes Reich und Gerechtigkeit, Proklamation der Herrschaft Christi über die Welt, Ankündigung des im Kreuze Christi bereits vollzogenen Weltgerichtes und der damit geschehenen Versöhnung der Welt mit Gott. Die Botschaft der Kirche hat es mit der Welt zu tun, und darum auch mit dem politischen Leben auf Erden. Es gibt 26

Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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keinen Bereich in der Welt, der dem Zuspruch und Anspruch Jesu Christi entzogen werden könnte. Weil er der erhöhte Herr ist über alle Herren, so ist nicht nur der private Bereich, sondern auch das öffentliche Leben in Staat und Gesellschaft davon betroffen, und die Kirche hat daraus die Folgerungen zu ziehen. Allerdings ist die „Herrschaft Christi" kein Prinzip oder ein Machtfaktor, der in der Verfügung der Kirche stände und mit dem sie eine kirchliche Beherrschung der Welt durchzuführen hätte. Das Reich Gottes ist nicht zu definieren. Von ihm wird im Neuen Testament nur in Gleichnissen geredet. Denn es ist Gottes endzeitliches Geheimnis. Die Kirche ist jedenfalls Gottes Reich nicht, sie kann es auch nicht herbeiführen. Aber weil sie im Glauben an die verborgene Weltherrschaft des Gekreuzigten lebt, verkündigt sie nicht eine christliche Weltanschauung und Moral, sondern versteht ihre Sendung in die Welt als Gottes Gesandtschaft. Darum ist in dieser Sendung an Christi Statt auch Verantwortung für das Politische, d. h. für das von Christi Kreuz und Auferstehung her auf das Ende gerichtete geschichtliche Miteinanderleben der Menschen eingeschlossen. 3. Denn zum Glauben gehört der Gehorsam. Die Kirche verkündigt ja nicht nur Gottes Wort anderen Menschen, sondern sie ist selbst durch dieses Wort zum Glaubensgehorsam gerufen. Er ist die vom Geist Gottes geschenkte Antwort der Menschen. Zu dieser Antwort gehört die politische Verantwortung. Man kann deswegen auch sagen: Die Kirche empfängt ihre politische Verantwortung aus ihrer Botschaft. Aber sie ist mit ihrer Botschaft nicht identisch. Beides muß genau unterschieden werden: wie Gottes Wort und des Menschen Antwort. Darum kommt die politische Verantwortung aus dem Glauben an das Wort Gottes. Sie gehört zu den Früchten des Glaubens. Gottes Anruf in seinem Evangelium und Gebot fordert sie heraus. Gottes Wort also ist es, das die Christen verantwortlich macht für das politische Leben und Geschehen. Es nimmt ihnen die hier zu treffenden Entscheidungen nicht ab, vielmehr mutet Gott selbst uns durch sein Wort zu, auch im politischen Bereich gute Werke der Liebe zu tun. Denn dazu macht er uns im Glauben frei. So heißt es in der zweiten Barmer These: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. - Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürfen." Das heißt doch: Auch das politische Leben steht unter dem Zuspruch und

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Anspruch Gottes in Christus. Gott mutet uns als seinen Kindern zu, daß wir die hieraus erwachsene Verantwortung so wahrnehmen, daß wir dabei auf sein Wort hören und uns von seinem in Christus an uns ergehenden Zuspruch und Anspruch leiten lassen. Wäre dies nun eine „christliche Politik" ? Oder sollen wir nicht lieber das umstrittene Wort vermeiden? Christliche Politik ist jedenfalls nicht Politik im Namen Gottes oder im Namen des Christentums oder der Kirche, auch nicht Politik nach christlichen Grundsätzen, nach den Forderungen der Bergpredigt oder nach den Richtlinien des Naturgesetzes, sondern kann nur recht verstanden werden als Politik von Christen, die sich bei ihrem politischen Denken und Handeln im Glauben unter den Zuspruch und Anspruch Gottes in Jesus Christus gestellt wissen und Gott auch in diesem Bereich gehorsam sein möchten.

II. 1. Nachdem wir uns verdeutlicht haben, daß der Grund der politischen Verantwortung der Kirche im Worte Gottes selbst zu finden ist, wenden wir uns der Frage zu: Wie hat die Kirche ihre politische Verantwortung wahrzunehmen? Das erste Problem, das uns hier begegnet, lautet: Wer ist die Kirche? Was kann nicht alles unter Kirche verstanden werden! Wir erinnern uns daran, wenn wir im Glaubensbekenntnis sagen: „Ich glaube an eine heilige christliche Kirche", andererseits aber von der „Evangelischen Kirche in Deutschland" oder von der „Ev.-Luth. Kirche in Bayern" sprechen. Wir können hier freilich nicht eine Lehre von der Kirche geben, sondern nur auf eins aufmerksam machen, das für unser Thema wichtig ist: Es muß in einem doppelten Sinn von Kirche geredet werden. Die Kirche ist einerseits Gottes Volk in der Welt, wie Luther einmal so schön gesagt hat: „Die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören" oder „Die ganze Christenheit auf Erden". Das heißt also: Die Kirche, das sind die Christen in der Welt, die Menschen, die an Jesus Christus glauben. Andererseits ist die Kirche auch „Institution". Sie hat Ämter, Organe, Einrichtungen, Synoden, Leitungen. Sie ist eine sichtbare irdische Größe mit einer menschlichen Ordnung innerhalb der Völker und Staaten. Das hat seinen tiefsten Grund darin, daß Gott der Kirche das Predigtamt eingestiftet hat und daß sie als versammelte Gemeinde unter Wort und Sakrament zu leben berufen ist. Wenn also die Kirche spricht und handelt, kann die Kirche als Christenheit oder als Einrichtung gemeint sein. Entweder sprechen und handeln hier Christen oder Ämter und Organe der Kirche als solche. Es ist also zu unterscheiden: die

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politische Verantwortung der Christen und die politische Verantwortung der verfaßten Kirche. 2. Zunächst ein Wort von der politischen Verantwortung der Kirche, wie sie durch die Christen wahrzunehmen ist. Jeder Christ ist als Glied der Kirche und Jünger Jesu Christi auch Botschafter an Christi Statt. Nicht nur die Pastoren sind vom Herrn zu seinen Botschaftern bestimmt, sondern alle Glaubenden. Denn es gibt keinen Glauben ohne Bekennen. Die Glaubenden sind berufen, Zeugen ihres Herrn zu sein. Sie sind mit dem Worte Gottes gesandt in die Welt. Als solche haben sie Recht und Pflicht von Gott, im politischen Leben mitzusprechen und nicht zu schweigen. Natürlich ist damit nicht gemeint, der Christ solle hier „predigen", Bibelsprüche zitieren oder fromme Worte machen. Vielmehr hat er auch hier zur Sache zu sprechen, aber eben in der Verantwortung vor Gott, aus Glauben an sein Wort und im Gehorsam gegen seine Gebote. So ist das Wort des Apostels ( l . P e t r . 4,11) zu verstehen: „Wenn jemand redet, daß er's rede als Gottes Wort", das heißt so zuverlässig, so wahr, so treu, so sachverständig und menschenfreundlich wie das Wort Gottes! Zum Mitsprechen des Christen in der Politik tritt die Mitarbeit. Gewiß ist der Christ auf Erden „Beisasse und Fremdling", sein „Bürgerrecht ist im Himmel". Aber gerade als solcher ist er von Gott gesandt in die Welt, Anteil zu nehmen an der Last und Schwere der Not menschlichen Zusammenlebens von Sündern in der gefallenen Welt. Um Gottes willen, um der Liebe willen soll er Mitverantwortung übernehmen in seinem politischen Beruf. Er darf auch als Christ Politiker, Staatsmann, Bürgermeister, Abgeordneter sein. Das versteht sich nicht von selbst, und viele Christen verstehen es überhaupt nicht, denn es kann nur im Glauben an Gottes Wort erkannt und gewagt werden. Und jeder von uns dürfte ahnen, daß der politische Beruf alles andere ist als eine einfache und erstrebenswerte Sache. Wie täuscht gerade hier so oft der Schein? Der Christ weiß wohl wie kein anderer um die wahre Schwere und Last des politischen Amtes in der Welt der Sünde und des Todes, um die Tiefe der Verantwortung, die Unzulänglichkeit aller menschlichen Möglichkeiten, die eigene Ohnmacht und Schwäche der Natur, ja um die Gefahren der Eigensucht, des Machtrausches, der Geldgier und aller zerstörerischen Triebe des Menschen, die gerade in diesem Bereich ihre Triumphe feiern. Um so notwendiger ist es, daß gerade hier Christen ihre Verantwortung ergreifen, illusionslos, aber im Vertrauen auf Gott, in nüchterner Wirklichkeitserkenntnis und Sachkunde, aber aus wahrer Liebe zum Mitmenschen, für den Christus gestorben ist. 3. Der Christ könnte diese Verantwortung nicht zu übernehmen wagen, gäbe es keine Kirche, in deren Gemeinschaft ihm der Quell der Kraft und der Ort der Geborgenheit geschenkt würde. Auch die Kirche

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steht ja nicht außerhalb der politischen Welt, in der er seine Verantwortung zu ergreifen hat. Im Gegenteil, sie ist selbst schon durch ihr Dasein als Gemeinde, die aus Menschen besteht, die ein christliches Zusammenleben führen, in politische Verantwortung versetzt. Die Kirche ist als Gemeinde der Jünger nach Jesu Wort „Stadt auf dem Berge". Sie wird gesehen in der Welt und kritisch geprüft auf ihre Wahrheit: ob sie den Vergleich zwischen ihrer Botschaft und ihrem Leben aushält. Ist es glaubwürdig, was sie predigt, wenn sie nicht in ihrem konkreten Zusammenleben etwas davon sichtbar macht, daß sie Jesu Christi Eigentum ist? An der Liebe der Christen untereinander, sagt Jesus, wird die Welt erkennen, ob sie seine Jünger sind! Darum ist die Kirche auch durch ihr Zusammenleben als Gemeinschaft von Menschen in politische Verantwortung gerufen. Ihr Beispiel ist von ausschlaggebender Bedeutung. Vergegenwärtigen wir uns die besondere Aufgabe, welche die Diakonie der Kirche als Tat-Zeugnis von der Herrschaft Christi in der Welt der Sünde und des Todes hat. Dienst am Menschen um Christi willen - hier ist das Herzstück aller politischen Verantwortung der Kirche. Aber das Amt der Kirche ist dennoch in erster Linie das Wort der Verkündigung. Es gäbe keine Gemeinde, keinen Dienst um Christi willen ohne die Botschaft. Und gerade auch hier gibt es Wahrnehmungen der politischen Verantwortung der Kirche. Denn das Wort, das die Kirche durch ihre Prediger, ihre Kirchenleitungen oder Synoden spricht, ist nicht auf den sogenannten religiösen Bereich beschränkt. Die Predigt des Evangeliums als Proklamation der Christusherrschaft in der Welt schließt eine Einschränkung auf einen innerlichen Bereich frommen seelischen Lebens aus. Weil Gott in Christus kräftigen Anspruch erhebt auf unser ganzes Leben, darum hat die Kirche auch den Auftrag, in ihrer Verkündigung, ihren Predigten und Kundgebungen zu politischen Fragen Stellung zu nehmen. Gewiß nicht zu allen, weil es auch unbedeutende gibt, gewiß nicht bei jeder Gelegenheit, weil die Kirche ihr Wort nicht durch Häufigkeit verbrauchen darf, aber doch, wenn es um eine echte Lebens- und Existenzfrage geht. Und darum geht es immer, wenn der Mensch auf dem Spiele steht, wenn er mit Zerstörung oder Vernichtung bedroht ist, wie es z. B. der Fall war bei der Judenverfolgung, der Ausrottung unheilbar Kranker, bei der Frage der Massenvernichtungsmittel usw. Nun darf man aber an das Wort der Kirche keine falschen Erwartungen knüpfen. Denn die kirchliche Kundgebung zu politischen Fragen darf nicht selbst zu einer politischen Stellungnahme werden. Die Kirche hat keine politische Stellungnahme als Wort Gottes zu verkündigen und politische Weisungen als göttliches Gebot auszugeben - das wäre Verkehrung ihres Auftrages und mit Recht als „Klerikalisierung" der Politik zu verwerfen sondern sie hat die politischen Fragen in das Licht des

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Zuspruchs und Anspruchs Jesu Christi zu stellen, um damit die Menschen zu ihrer politischen Verantwortung zu rufen. So wenig das Wort Gottes selbst uns unsere politische Verantwortung abnimmt, kann dies die Aufgabe der Kirche sein. Sie würde damit Gottes Wort nur verdunkeln. Das Wort der Kirche zu den politischen Entscheidungen kann nur als der immer neu zu wagende Versuch einer Antwort auf das Wort Gottes verstanden werden, und es bleibt als solches dauernd der Kritik des Wortes Gottes unterworfen. Es bleibt darum auch der offenen Diskussion der Christen überantwortet, da diese zu Hörern des Wortes Gottes berufen und Organen der Kirche nicht unterworfen sind. Zum Wort der Kirche tritt die Aufgabe ihrer Zusammenarbeit mit den politisch Verantwortlichen. Es wäre zuwenig, wollte sie nur in Kundgebungen politische Verantwortung wahrnehmen. Die Kirche lebt als sichtbare Gemeinschaft von Menschen in der noch nicht erlösten Welt, die Gott den politischen Gewalten unterworfen hat. Ihnen gegenüber kann die Kirche nicht gleichgültig sein, als ob sie der Staat nichts anginge. Gewiß möchten das manche Staatsmänner, gewiß möchten das manche Christen, ja auch kirchliche Amtsträger, weil es eine meist schwierige Sache ist, zu einer solchen Zusammenarbeit von Kirche und Staat zu gelangen, die um die Verschiedenheit der Mandate Gottes weiß, keine Herrschaft des einen über den anderen erstrebt, sondern dem anderen zur rechten Erfüllung seines Auftrages in der Welt zu verhelfen sich bemüht. Die Kirche weiß, was der Staat für die Welt und das Leben der Menschen bedeutet, sie weiß um die Schwere und Last, die von den Männern des politischen Lebens zu tragen ist. Die Kirche wird jedoch hier nicht nur eine seelsorgerliche Verantwortung zu erfüllen haben, sondern in echter politischer Verantwortung auch die eigentümliche Sachkunde zum Einsatz bringen, die ihr auf dem Grunde der biblischen Einsichten über den Menschen als Gottes gefallenes Geschöpf und als versöhnten Sünder und zur Freiheit berufenes Kind Gottes zuwächst.

III. 1. Die Wahrnehmung der politischen Verantwortung der Kirche kann allerdings auch zu einer „Politisierung der Kirche" führen. Der Streit geht bloß darüber, worin sie besteht. Eine Entscheidung in dieser Streitfrage läßt sich nur aufgrund theologischer Erkenntnisse treffen, die im Verständnis des Wortes Gottes gründen. Darum gibt es hier auch Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen, weil sie ein verschiedenes Verständnis des Wortes Gottes haben. Nach evangelischem Schriftverständnis jedenfalls kommt es zu einer Politisierung der Kirche, wenn die Botschaft der Kirche und ihre politische Verantwortung

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vermischt oder wenn die Grenzen der politischen Verantwortung der Kirche überschritten werden. Es ist deswegen von entscheidender Bedeutung, sich über die Grenzen der politischen Verantwortung der Kirche klar zu werden. Dabei ist von vornherein zu unterscheiden zwischen solchen Grenzen, die in der Welt als äußere Grenzen in verschiedenem Maße für die Kirche vorhanden sind, und solchen Grenzen, die als grundsätzliche sich vom Wesen der Kirche und ihres Auftrages her ergeben. Natürlich können die äußeren Grenzen der Kirche ebensoviel N o t und Schwierigkeiten bereiten wie die inneren, wobei der Grund dafür ebenso in der Kirche wie in der politischen Welt, in der die Kirche lebt, liegen kann. Außerdem aber stellt sich die Frage der Grenze anders, wenn man die politische Verantwortung der Christen oder der Kirche als Institution betrachtet, denn wir sahen schon, daß beide Verantwortungen nicht einfach dieselben sind. Die Christen sind Staatsbürger, nicht die Kirche, die Christen gehören zu Kirche und Staat, Gemeindegliedschaft und Staatsbürgerschaft betreffen dieselbe Person in der geschichtlichen Menschenwelt. Das verleiht der christlichen Existenz eine unauflösliche Spannung der christlichen Verantwortung des Staatsbürgers und der staatsbürgerlichen Verantwortung des Christen. Hier liegen die inneren und äußeren Grenzen ganz anders als bei der Kirche als Institution im Gegenüber zum Staat. 2. Der Christ kann sich die Grenzen seiner politischen Verantwortung nicht in eigener Willkür setzen. Er kann sich hier nicht in falscher Innerlichkeit für unbeteiligt erklären. Leider ist die Gleichgültigkeit vieler Christen gegenüber der Mitarbeit im politischen Leben weit verbreitet. Und dabei hält man sich gerade deswegen noch für besonders fromm. Schon Luther mußte für eine willige Übernahme politischer Verantwortung durch die Christen kämpfen. Hier will Gott die guten Werke getan haben. Darum darf der Christ sich nicht dieser ihm von Gott auferlegten Verantwortung entziehen und sich mit einer möglichst risikofreien Mitarbeit, z. B. der Ausübung des geheimen Wahlrechts, begnügen. Er hat sich hier keine selbstgewählten Grenzen zu setzen. Es werden ihm in der politischen Wirklichkeit schon Grenzen gesetzt, mit deren Bewältigung er seine Last haben wird. Zwar wäre es falsch, zu meinen, die Grenzen würden ihm schon durch ein bestimmtes politisches System als solches gesetzt. Es gab christliche Monarchisten, die der Demokratie die Mitarbeit versagten, weil für sie als Christen nur ein monarchischer Staat gottwohlgefällig war. Andererseits gibt es heute auch Christen, die allein die westliche Demokratie für ein christlich vertretbares Staatswesen halten. N u n läßt sich nicht bestreiten, daß es in einem totalitären Weltanschauungsstaat für den Christen Situationen geben kann, wo ihm

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eine politische Mitarbeit christlich nicht mehr verantwortbar erscheinen wird. Gerade hier werden die Fragen nach der Grenze, die dem Christen als Staatsbürger begegnen, sehr schwer generell zu beantworten sein. Muß er die politische Mitarbeit schon deswegen grundsätzlich verweigern, weil es sich im totalitären Weltanschauungsstaat von heute um ein prinzipiell atheistisch begründetes System handelt? Andererseits: Darf er sich die Verweigerung der politischen Mitverantwortung, die ihm seitens eines solchen Staates widerfährt, überhaupt gefallen lassen, da er von Gott zu seiner politischen Verantwortung verpflichtet ist und darum nicht durch Menschen davon entbunden werden kann? Vielleicht kann man zur Beantwortung dieser schweren Fragen das Folgende sagen: Die Grenze der politischen Verantwortung begegnet dem Christen grundsätzlich immer da, wo er die politische Aufgabe ohne Verleugnung Christi nicht übernehmen könnte oder wo ihm die Mitwirkung in der Politik nur in einem offenkundigen Widerspruch zu Gottes Gebot möglich wäre. Das meinte der Apostel vor dem Hohen Rat mit den Worten: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen." Oder unsere Väter in Augsburg 1530, wenn sie sagten, daß die Christen schuldig seien, „der Obrigkeit Untertan und ihren Geboten und Gesetzen gehorsam zu sein in allem, so ohne Sünde geschehen mag". Also in allem nicht, wodurch der Christ sich von Gott scheiden würde. Wo dies geschieht, wo also der Grenzfall eintrifft, kann nicht allgemeingültig, sondern nur konkret im Gehorsam des Glaubens entschieden werden. Und das Maß dieses Glaubensgehorsams, seiner Erkenntnis und Kraft ist auch bei den Christen verschieden. Um so weniger kann hier anstelle der christlichen Entscheidung eine allgemein verbindliche kirchliche Entscheidung treten. Wohl aber kann es hier auch eine gehorsame Grenzüberschreitung für den Christen geben. Die Wahrnehmung politischer Verantwortung des Christen ist nicht durch den Gehorsam gegenüber dem ihm durch Gottes Anordnung gesetzten Staat schlechthin begrenzt. Wenn die Obrigkeit zur Tyrannei entartet, wenn sie unmenschliche Züge annimmt, kann die politische Verantwortung den Christen im Gehorsam gegen Gott dazu nötigen, außerordentliche Maßnahmen zur Beseitigung des Tyrannen zu treffen, wie es in der Widerstandsbewegung des Jahres 1944 gegen Hitler geschah. Solche gehorsame Grenzüberschreitung der Christen kann die Kirche weder fordern noch verbieten, denn sie kann nicht generell festzusetzen suchen, wann und wo hier der Christ Gott mehr gehorchen muß als den Menschen. 3. Wie steht es nun mit der Grenze der politischen Verantwortung für die Kirche? Es ist einleuchtend, daß die politische Welt, in der sie lebt, ihr in sehr verschiedener Weise Grenzen setzt, innerhalb deren sie ihre politische Verantwortung zur Geltung bringen kann. Weithin ist es so,

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daß die Kirche vom Staat geduldet wird. Es kann freilich auch sein, daß es zwischen Kirche und Staat zu einer dauernden Spannung, ja einem offenen Konflikt kommt, bis dahin, daß die Kirche vom Staat verfolgt und mit Vernichtung bedroht wird. Andererseits kann es aber auch geschehen, daß der Staat die Kirche fördert, ja bevorzugt behandelt. Durch diese so verschiedenen Einstellungen der Staaten ergibt sich immer eine andere Grenze politischer Verantwortung der Kirche, und jede ist von ihrer eigenen Versuchung für beide begleitet. Der Staat kann die ihm von Gott gesetzten Grenzen gegenüber der Kirche überschreiten, und er tut es immer dann, wenn er der Kirche den Raum der Freiheit zu Verkündigung und Diakonie, zum Bekenntnis und Leben im Gehorsam des Glaubens einengt oder verweigert. Aber auch die Kirche kann der Versuchung erliegen, die ihr von Gott gebotene Grenze nach dem Staat hin zu überschreiten. Sie tut es immer dann, wenn sie versucht, den Staat zu beherrschen und die Politik zu ihrem irdischen Vorteil oder im Dienst kirchlicher Zwecke zu lenken. Die hierdurch hervorgerufenen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche sind ein fast ununterbrochenes Thema in der Geschichte des Christentums. Es ist einleuchtend, daß die Grenzziehung seitens des Staates weitgehende Folgen haben muß für die mögliche Zusammenarbeit der Kirche mit dem Staat, aber auch darüber hinaus für die jeweils mögliche Wahrnehmung politischer Verantwortung in Wort und Wirken der Kirche. Wenn z. B. ein Staat die politische Verantwortung der Kirche dadurch eingrenzt, daß er lediglich Anerkennung seiner Politik, ihr J a zu seinen Zielen verlangt, aber jede verantwortliche Kritik seitens der Kirche gegenüber seinen gesetzgeberischen Maßnahmen, seiner Sozialreform oder seiner Weltanschauung verbietet, kann die Kirche die ihr hier gesetzten Grenzen ohne weiteres respektieren? Darf sie sich auf den Kultus zurückziehen und dem Staat die Welt überlassen? So wenig es .auch hier eine ein für allemal festliegende N o r m der tragbaren Grenze gibt, so gewiß ist es der Kirche geboten, ihre Entscheidungen über die Respektierung dieser Grenze oder die unerläßliche Grenzüberschreitung im Gehorsam des Glaubens zu treffen. Ganz anders wieder stellt sich die Frage nach der Grenze der politischen Verantwortung der Kirche, wenn man sie von dem Auftrag der Kirche her, Gottes Wort zu verkündigen, in den Blick nimmt. Hier kommt die innere, grundsätzliche Grenze der politischen Verantwortung der Kirche in Sicht. Denn es ist so: Gottes Wort, wie es in der Heiligen Schrift verfaßt ist, zieht der politischen Verantwortung der Kirche in ihrem Reden und Handeln selbst die Grenze. Was heißt das? Die Botschaft der Kirche ist nach der Heiligen Schrift das Evangelium von der freien Gnade Gottes zur Rettung der Verlorenen durch Glauben allein. Zu dieser Botschaft gehört alles, was sie in der Verbindlichkeit des

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schriftgemäßen Wortes Gottes sagen kann. Darüber hinaus hat sie nichts als Gottes Wort zu verkündigen. Wohl hat sie in ihrer Wortverkündigung zu den politischen Fragen und Aufgaben Stellung zu nehmen, soweit sie dafür die Verbindlichkeit des Wortes Gottes selbst in Anspruch nehmen kann bzw. in Anspruch zu nehmen sich getraut. Kann man mit dieser Behauptung etwas anfangen? Gibt sie der Kirche, ihren Predigern Klarheit über die Grenze ihres Wortes in der Wahrnehmung ihrer politischen Verantwortung? N u r dann, wenn es gilt, daß nur das zum Zeugnis der Kirche gehört, wofür der Zeuge seine Existenz zu riskieren entschlossen ist. Wenn sich die Predigt der Kirche an diese Grenze hält, wird sie auf dem rechten Wege sein und falsche Grenzüberschreitungen aus Verwechslung von Gottes Wort und menschlichen Meinungen (so gut sie auch sein mögen) vermeiden. Die Versuchung zur Grenzüberschreitung ist leider um so größer, je größer der Freiheitsraum ist, den der Staat der Kirche läßt. Unter der Drohung eines kirchenfeindlichen Regimes ist die Versuchung in der Regel nicht vorhanden, obwohl vielleicht gerade hier Gottes Wort eine strengere Wahrnehmung der politischen Verantwortung der Kirche gebieten möchte. Die Kirche wird daher gerade dann der Versuchung begegnen müssen, eine politisierende Kirche zu werden, je weniger sie vom Staat daran gehindert wird, ihre politische Verantwortung zu erfüllen. Sie wird das immer nur dann recht tun, wenn sie die Grenze innehält, die ihr in der Unterscheidung von Gottes Wort und politischer Verantwortung gegeben ist. Wie kann das eigentlich in der evangelischen Kirche, in der es kein unfehlbares Lehramt gibt, dem sich alles zu beugen hätte, geschehen? Wird es hier nicht bei einem großen Durcheinander von Meinungen bleiben? Die evangelische Kirche muß sich immer neu um das rechte Verständnis des Wortes Gottes, die rechte Auslegung der Heiligen Schrift bemühen. Denn das Lehramt in der evangelischen Kirche kommt allein der Heiligen Schrift zu. Die Kirche hat die Aufgabe, immer wieder um eine Gemeinsamkeit in der Erkenntnis und im Glauben an das Wort Gottes, um eine Ubereinstimmung in der Lehre des Evangeliums zu ringen. U n d zwar mit den Vätern wie mit den Brüdern, so mühsam das auch sein mag. Sie kann ohne dieses brüderliche Zusammenkommen zu gemeinsamem Hören auf die Heilige Schrift zur Uberwindung ihrer Meinungsverschiedenheiten in der Auslegung des biblischen Wortes als Kirche nicht existieren. U n d hier liegt ja auch die grundlegende Bedeutung des kirchlichen Bekenntnisses. Die Ubereinstimmung im Verständnis des Wortes Gottes ist selbstverständlich auch für die Wahrnehmung der politischen Verantwortung der Kirche von großer Bedeutung. Sie bezeichnet die innere Gernze für die Möglichkeit, als Kirche gemeinsam in Predigt oder Kundgebung politische Verantwortung wahrzunehmen.

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Die Worte unserer Synoden zu den großen Fragen der politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit mußten an dem zu erreichenden theologischen Konsensus ihre innere Grenze finden. Das gemeinsame kirchliche Wort, die einmütige kirchliche Handlung wird auch hier bestimmt und begrenzt durch die gewonnene oder vorhandene gemeinsame Erkenntnis des Herrn Jesus Christus, wie und soweit sie sich in der Verkündigung des Evangeliums und in der Antwort des bekennenden Glaubens auszusprechen vermag. Daß die Kirche es trotz allem immer wieder vermag, ihre politische Verantwortung wahrzunehmen, verdankt sie allein dem Worte Gottes selbst, von dem sie lebt. Gottes Wort, das allein ihr Auftrag ist in der Welt, gibt der Kirche und allen Christen Freudigkeit und Freiheit, politische Verantwortung zu übernehmen. Gottes Wort macht uns verantwortlich für seine Welt, in der nach seiner Anordnung der Staat „die Aufgabe hat, nach dem Maß der menschlichen Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen"; und weil das so ist, dürfen wir gewiß sein, daß Gott uns auch die Erkenntnis und den Willen gibt, in Weisheit und Kraft zu tun, was er uns gebietet.

B. Das Problem der politischen Betätigung kirchlicher Amtsträger I. Die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit kirchlicher Amtsträger Die Amtsträger der evangelischen Kirche sind schon seit geraumer Zeit nicht mehr mit den Pastoren der Gemeinden identisch, auch sind sie nicht alle „Theologen". Im Gegenteil, seit dem 20. Jahrhundert hat sich die Zahl der nicht theologisch vorgebildeten kirchlichen Amtsträger enorm vergrößert, und zwar in allen Bereichen und Ebenen kirchlichen Dienstes. „Amtsträger" sind nicht mehr bloß die ordinierten Prediger, sondern alle, die in der Kirche ein kirchliches Amt ausüben. Freilich sind die Amter sehr verschieden, und so ergibt sich von da aus auch eine Verschiedenheit des Problems der politischen Betätigung. 1. Im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen begreiflicherweise alle Amtsträger, die in der Öffentlichkeit wirksam sind, die „öffentlichen Dienst am Wort und Sakrament" versehen. Das sind die Pfarrer, die theologischen Lehrer, die „Religionslehrer". Sie stehen bei der Verschiedenheit der Dienste im Verkündigungsauftrag der Kirche, der Großteil der Pfarrer dabei als „Gemeindepastoren" im Hirtenamt und in der Leitung des öffentlichen Gottesdienstes der Kirche. 2. Der ebengenannten Gruppe verwandt sind die im „Kirchenregiment" stehenden Amtsträger. Superintendenten, Pröpste, Oberkirchen-

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räte, Bischöfe, Präsides und Kirchenpräsidenten. All diese gelten in der Öffentlichkeit in stärkerem Maße als Repräsentanten der Kirche, ihr Wort und ihre Betätigung als eminent „kirchliches" Handeln. Um so mehr Beachtung findet der politische Einsatz von Amtsträgern aus dem Kirchenregiment in der Öffentlichkeit. 3. Ganz anders steht es dagegen mit den sogenannten Kirchenbeamten, d. h. den Amtsträgern in der kirchlichen Verwaltung auf den verschiedenen Stufen der Landeskirchen. Sie gelten in der Öffentlichkeit weniger als Repräsentanten der Kirche, zumal der größte Teil dieser Verwaltungsbeamten auch wenig in der Öffentlichkeit hervortritt. Immerhin gibt es hier einige herovrragende Positionen (z. B. Präsidenten kirchlicher Körperschaften), die als solche einen Repräsentationscharakter tragen. 4. Zu den kirchlichen Amtsträgern müssen aber auch die zahlreichen „nebenberuflich" tätigen „Laien" gerechnet werden, die als Presbyter, Kirchenvorsteher, Synodale und Mitglieder kirchenleitender Körperschaften kirchliche Amter verwalten. Die politische Betätigung dieser Amtsträger steht praktisch gar nicht im Licht der Auseinandersetzung, da sie nicht als Amtsträger der Kirche im eigentlichen Sinne angesehen werden - wenn auch zu unrecht. II. Die Verschiedenheit politischer Betätigung der kirchlichen Amtsträger Der Bereich politischer Betätigung ist ziemlich breit und von großer Mannigfaltigkeit. Zur Klärung der hier aufkommenden Probleme wird es nützlich sein, auf die Vielzahl dieser Betätigungen hinzuweisen, die für einen kirchlichen Amtsträger in Betracht kommen: 1. das politische Wort in der Öffentlichkeit, sei es in Rede, Predigt oder Presse, Rundfunk und Fernsehen, die sogenannte Stellungnahme zu Fragen des öffentlichen Lebens; 2. die politische Betätigung in „Aktionen", z. B. anläßlich der Wahl von Abgeordneten, aber auch bei „Bürgerinitiativen" zur Durchsetzung oder Verhinderung bestimmter Absichten in der Gesellschaft; 3. der Einsatz für eine bestimmte politische Partei, sei es bei der Wahlpropaganda oder bei politischen Auseinandersetzungen sonstiger Art; 4. die Mitgliedschaft in einer politischen Partei, besonders aber auch die Amtsübernahme in der Partei; 5. die Übernahme politischer Mandate, sei es in der Ortsgemeinde, im Kreis, in der Stadt oder im Land und Bund. Dabei ist zwischen den Abgeordneten gesetzgebender Körperschaften und der übrigen in Stadt und Land noch zu unterscheiden.

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Diese große Mannigfaltigkeit politischer Betätigung läßt verständlicherweise eine allgemeine Entscheidung nicht zu. Das zeigt auch das Bild der kirchlichen Ordnungen in dieser Frage. N u r auf ganz wenige Einzelheiten wird konkret eingegangen. Eine ganze Reihe von politischen Betätigungen kommt kaum ins Blickfeld - es sei denn durch allgemeine Bestimmungen. Im Blick auf die zahlreichen kirchlichen Ordnungen der Landeskirchen über die politische Betätigung ihrer Amtsträger wird man sagen können, daß sie sich im Ergebnis wenig voneinander unterscheiden. In der Regel werden pastoraltheologische Ermahnungen in Gesetzesform erteilt, die den kirchlichen Amtsträgern nahelegen, bei politischer Betätigung die Bedeutung und den Auftrag ihres Amtes zu bedenken. Ein generelles Verbot politischer Betätigung findet sich nirgends. N u r ist die Formulierung der Gesetze mehr oder weniger streng im Blick auf die Bindung des kirchlichen Amtes. Einigkeit herrscht darüber, daß das Abgeordneten-Mandat ein Ausscheiden aus dem kirchlichen Amt (Wartestand, Pension) zur Folge hat, und zwar offensichtlich aus dem praktischen Grund, daß die Ausübung eines Abgeordneten-Mandates wegen der Beanspruchung dieses Amtes die Weiterführung z. B . eines Gemeindepfarramtes unmöglich macht. Man wird also sagen können, daß die kirchlichen Ordnungen in der evangelischen Kirche in Deutschland die Freiheit des kirchlichen Amtsträgers - als eines Christen mit besonderem kirchlichen Dienstauftrag nicht einschränken oder gar in Frage stellen. Die Bindung der Amtsträger vor allem durch die Ordination wird als ausreichend empfunden, so daß die Pfarrerdienstgesetze sich nur darauf zu beziehen brauchen, um die allein aus der Freiheit des Evangeliums kommende Freiheit und die allein aus der Bindung an den Auftrag des Herrn der Kirche kommende Bindung im Dienst an den Menschen sicherzustellen. Was nicht in Form von Rechtsbestimmungen geschehen kann, sondern nur an Schrift und Bekenntnis als den geistlichen Grundlagen der Kirche zu gewinnen ist1.

III. Pastoraltheologische Ratschläge zur politischen Betätigung der kirchlichen Amtsträger Ein W o r t über Freiheit und Bindung kirchlicher Amtsträger im Blick auf ihre politische Betätigung kann nur dahin ausgehen, daß zum Thema

' D a das Korreferat sich ausführlich mit den kirchlichen Ordnungen für den Bereich politischer Betätigung

der Amtsträger

befaßt, ist dieser ursprünglich

ausführlichere

Abschnitt fast ganz fortgelassen, um Duplikate zu vermeiden. Vgl. HARTMUT MAURER, Freiheit und Bindung kirchlicher Amtsträger. Z u r politischen Betätigung der kirchlichen Amtsträger, insbesondere der Pfarrer. In: Z e v K R 19, 1974, S. 3 0 - 7 2 .

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einige pastoraltheologische Ratschläge gegeben werden, die in einigen Punkten über das hinausgehen, was in den Dienstordnungen der Amtsträger ausgesprochen ist. 1. Ein allgemeines Wort zur politischen Betätigung der Pfarrer Der Pfarrer kann sich seiner politischen Verantwortung nicht entziehen, ganz gleich, wie er sich in concreto entscheidet. Es steht ihm frei, sich zu Fragen des öffentlichen politischen Lebens auch gar nicht zu äußern. Ebenso braucht er sich nicht politisch zu betätigen. Seine Entscheidung wird mit seiner Theologie, insonderheit seinem Verständnis von Gesetz und Evangelium und der damit zusammenhängenden Lehre von den „zwei Reichen" zusammenhängen. Die Kirche kann ihm hier eine bestimmte Entscheidung nicht vorschreiben, denn sie weiß um die „Variationsbreite" der hier möglichen Standpunkte im Bereich der evangelischen Kirche aufgrund der in ihrer Mitte vorliegenden theologischen Differenzen. Sie legt den Pfarrer nicht auf eine unter den zur Zeit in der evangelischen Kirche vorhandenen theologischen Uberzeugungen fest. Sie gibt ihm nur zu bedenken, daß er keine „Privatperson" ist, sondern in seinem Amt immer die Kirche vertritt, in der er predigt, unterrichtet, Seelsorge treibt. Dies Amt gibt ihm die Richtlinie bei „allen" Äußerungen zu Fragen des öffentlichen Lebens, seien es Äußerungen auf der Kanzel - sie sind keineswegs ausgeschlossen - oder in einer Gemeindeversammlung oder bei politischen Veranstaltungen, im Rundfunk oder in der Presse durch einen Aufsatz oder Aufruf. Immer hat er jedoch zu beachten, daß er a. als Gemeindepfarrer an die ganze Gemeinde gewiesen ist, b. als Pfarrer mit der gesamten Kirche verbunden ist, c. in der Öffentlichkeit nicht als Privatmann gilt, sondern als Repräsentant der Kirche. Dies Dreifache hat sein Wirken im politisch-öffentlichen Raum, in dem er mit allen anderen lebt, zu bestimmen. Was das heißt, ist zwar grundsätzlich in ein paar Sätzen zu sagen, jedoch immer auch wieder nur in concreto verantwortlich zu entscheiden, und zwar sowohl bei „Äußerungen" wie bei „Betätigungen". Der Pfarrer muß immer daran denken, daß er als „Hirte und Prediger der Gemeinde" Pastor aller seiner Gemeindeglieder ist und daß er daher seine Gemeinde durch politische Rede oder Betätigung nicht spalten darf in Anhänger und Gegner. Der Pfarrer muß immer daran denken, daß er Pfarrer der Kirche, nicht nur seiner evangelischen Landeskirche, sondern der Kirche Christi ist und daß er dadurch verpflichtet ist, mit seinen „Brüdern im Amt" Gemeinschaft zu suchen und Einigkeit in Reden und Handeln zu erstreben.

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Der Pfarrer muß immer daran denken, daß niemand in der Welt ihn anders ansieht als „Repräsentanten der Kirche" und daß es ihm nicht abgenommen wird, wenn er meint, er könnte sich privat als bloßer „Mitbürger" zu Fragen des öffentlichen Lebens äußern bzw. sich irgendwie politisch betätigen. Sein Amt ist ein öffentliches Amt, und zwar nicht deswegen, weil die Kirche eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, sondern weil der Auftrag des Amtes, das Evangelium zu verkündigen, öffentlich ist und keine Privatisierung zuläßt. In Summa: Der Pfarrer muß bei seinen Äußerungen zu Fragen des öffentlichen Lebens wie auch bei politischer Betätigung immer daran denken, daß dies Reden und Tun unlöslich mit seinem pfarramtlichen Dienst als Hirte, Prediger und Seelsorger verbunden ist und sein muß. Was er hier sagt oder tut, darf nicht im Widerspruch zu seinem öffentlichen Amt als Diener Christi in der Gemeinde stehen, im Gegenteil, es muß sich immer zeigen lassen, wie seine Äußerungen zu Fragen des öffentlichen Lebens oder seine politische Bestätigung mit seinem kirchlichen Amt in positiver Verbindung stehen, gleichsam als ein „Konsekutivum", eine Folgerung aus dem Indikativ und Imperativ des Wortes Gottes, das ihm anvertraut ist. Das evangelische Pfarramt ist ein Amt von höchster persönlicher Verantwortung, darum kann der Inhaber des Amtes immer nur daran erinnert werden, wie groß seine Verantwortung als Diener des Wortes Gottes ist und wie ihm diese Verantwortung, die er in der Ordination übernommen hat, von niemand abgenommen werden kann. Das Risiko ist hoch, daß er dabei versagt. Er kann auch hier so versagen, daß er in seiner Amtsführung für die Kirche und die Gemeinde untragbar wird. O b es dazu kommt, läßt sich nur im konkreten Fall entscheiden, wozu die Kirche auch ihre geordneten Organe geschaffen hat. 2. Zur Übernahme politischer Mandate durch kirchliche Amtsträger Die hierfür in den evangelischen Kirchen bestehenden Gesetze bestimmen für Pfarrer und Kirchenbeamte, wie schon oben erwähnt, daß die Übernahme eines Abgeordneten-Mandats bei gesetzgebenden Körperschaften (Bund und Länder) mit den Pflichten eines kirchlichen Amtes als Pfarrer und Kirchenbeamter unvereinbar ist, daher werden entsprechende Regelungen gesetzlich festgelegt. Daß die Unvereinbarkeit hier praktisch und nicht „grundsätzlich" gemeint ist, darf man aus den Texten schließen. Eben deswegen ist auch keine Bestimmung für den „kommunalen" Bereich getroffen. D. h. in Stadt und Kreistag und in den Landgemeinden kann der Amtsträger der Kirche sowohl Abgeordneter werden, als auch gewisse nebenberufliche Ämter (z. B. Bürgermeister) bekleiden. So verständlich es ist, daß hier keine Verbote ausge-

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sprochen worden sind, so unverständlich wäre es doch, wenn ein kirchlicher Amtsträger, besonders ein Gemeindepfarrer, ein solches politisches Mandat übernehmen würde. Die Konflikte zwischen seinen beiden „Mandaten" können gar nicht ausbleiben. Es ist auch bleibend fragwürdig, wenn in der Person eines Pfarrers „kirchliche und weltliche Macht" sich vermischen würden, so schwach auch im einzelnen die „Macht" sein wird. Die Unterscheidung der beiden Regimente kommt auch heute noch Staat und Kirche zugute. 3. Teilnahme an politischen Aktionen Eine konkrete Entscheidung in dieser nicht unwichtigen Frage findet sich in den Gesetzen nicht. Aber es ist doch nicht zu leugnen, welches Gewicht allein schon die Teilnahme eines Pfarrers an einer politischen Demonstration hat - gleich welcher Art und gleich ob mit oder ohne Talar - . Die mannigfaltigen Ereignisse der letzten Jahre haben bewiesen, daß es weder der Sache politischer Demonstrationen noch auch etwa der Kirche genützt hat, daß sich Pfarrer daran beteiligten. Der kirchliche Amtsträger, insonderheit der Pfarrer, soll seine Stellungnahme auf andere Weise zum Ausdruck bringen, ist gewiß keine verkehrte weitverbreitete Uberzeugung in Kirche und Gesellschaft. Der Einsatz des kirchlichen Amtes in politischen Aktionen erscheint mir bis auf bessere geistliche Belehrung fragwürdig, und der Verzicht sollte daher die Regel sein, ob es sich um Wahlpropaganda-Aktionen oder Demonstrationen allgemeiner oder spezieller Art in Fragen der Politik handelt. 4. Mitgliedschaft in einer politischen Partei Von der Mitgliedschaft kirchlicher Amtsträger in politischen Parteien ist in den Ordnungen der evangelischen Kirche nicht die Rede, sondern es begegnet gelegentlich nur das Verbot der Zugehörigkeit kirchlicher Amtsträger zu Personenvereinigungen mit kirchenfeindlichen Tendenzen. Die Kirche hat es für richtig gehalten, kein generelles Verbot der Mitgliedschaft und Betätigung in politischen Parteien für Pfarrer und Kirchenbeamte auszusprechen. Damit ist aber die Frage noch nicht entschieden, ob der kirchliche Amtsträger gut daran tut, einer Partei beizutreten - und sei es nur als zahlendes Mitglied. Die Freiheit des kirchlichen Amtes wird m. E. sicherer gewährt, wenn er keiner Partei angehört. Es mag ihm die Freiheit, der Partei seiner Neigung anzugehören, nicht versagt bleiben, es wird jedoch für sein Amt, vor allem als Gemeindepfarrer, immer Probleme und Konflikte geben, die seinem Hirtenamt abträglich sein werden. Darum sollte er sich um der Freiheit und Bindung seines Amtes willen dazu entschließen, darauf zu verzichten.

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E i n e b e s o n d e r e F r a g e hat sich in j ü n g s t e r Zeit e r g e b e n , weil K a n d i d a ten der T h e o l o g i e , H i l f s p r e d i g e r u n d a u c h P f a r r e r nicht n u r mit der D K P s y m p a t h i s i e r t e n , s o n d e r n das R e c h t in A n s p r u c h n a h m e n ( u n d n e h m e n ) , M i t g l i e d e r der D K P z u sein. D i e evangelische K i r c h e hat sich s e i t d e m m i t dieser F r a g e befaßt, o h n e bisher z u einer E n t s c h e i d u n g g e k o m m e n z u sein. A b e r hier m u ß eine E n t s c h e i d u n g g e t r o f f e n w e r d e n . E s g e h t u m m e h r als bloße „ p o l i t i s c h e B e t ä t i g u n g " . E s geht u m eine G r u n d f r a g e der Z u g e h ö r i g k e i t kirchlicher A m t s t r ä g e r z u einer P e r s o n e n g e m e i n s c h a f t , d e r e n G r u n d l a g e n i m W i d e r s p r u c h z u den G r u n d v o r a u s s e t z u n g e n des kirchlichen A m t e s stehen. M . E . hat der k ü r z l i c h v e r ö f f e n t l i c h t e ( w e n n a u c h n o c h nicht v e r a b s c h i e d e t e ) E n t w u r f einer kirchlichen S t e l l u n g n a h m e die E n t s c h e i d u n g , u m die es hier geht, eindeutig und zutreffend vollzogen: „ 1 . Der Pfarrer einer evangelischen Kirche bekennt sich in seiner Ordination zu dem Auftrag, den die Kirche von ihrem Herrn erhalten hat, und verpflichtet sich, das in der Heiligen Schrift gegebene, in den Bekenntnissen der Kirche bezeugte Evangelium von Jesus Christus als dem alleinigen Herrn und Heiland der Welt und des Menschen recht zu verkündigen, die Sakramente recht zu verwalten und der Gemeinde in allen ihren Gliedern, ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer politischen Entscheidung, mit dem Wort der Verkündigung und der Seelsorge zu dienen. 2. D a r u m kann ein Pfarrer keiner Organisation oder Vereinigung beitreten und angehören, die die Wirklichkeit Gottes leugnet und Ziele verfolgt, die den Absichten Gottes mit der Welt und den Menschen, wie sie uns aus der Offenbarung Gottes in Jesus Christus erkennbar sind, widersprechen. 3. Weil der Atheismus ein wesentlicher Bestandteil des Marxismus-Leninismus ist, besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen dieser Ideologie und der Lehre der Kirche. 4. Weil die D K P ihre Tätigkeit auf die Lehre von Marx, Engels und Lenin gründet und auf die Frage, ob der von ihr vertretene wissenschaftliche Sozialismus die atheistische Dimension und Komponente des Marxismus-Leninismus ein- oder ausschließt, bisher keine Antwort gegeben hat, drängt sich der Schluß auf, daß derzeit und unter den gegebenen Umständen ein Pfarrer nicht Mitglied dieser Partei sein kann. Entscheidend für die Beurteilung jeder Gesellschaftsordnung ist die Frage, ob Freiheit und Gerechtigkeit ausreichend gewahrt sind, um dem Menschen als dem Mittelpunkt aller politischen und gesellschaftspolitischen Bemühungen Raum für die eigene Verwirklichung und Hilfen für ein geordnetes Zusammenleben mit anderen zu geben. Im Mittelpunkt für die christliche Betrachtung steht dabei die Frage nach der Glaubens- und Gewissensfreiheit. N u r wo diese Freiheit gewahrt ist, bleiben auch die übrigen Menschenrechte gesichert." 2

2 D e r R a t der Evangelischen Kirche in D e u t s c h l a n d hat inzwischen, am 28. M a i 1973, eine Stellungnahme zur Mitgliedschaft von Pfarrern in politischen Parteien beschlossen, in der eine Entscheidung f ü r die Frage getroffen wird, die in der Richtung der von mir oben

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Beckmann, Hoffnung für die Kirche

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5. Ein Schlußwort zur Wahrnehmung politischer Verantwortung durch kirchliche Amtsträger Ich bin mir darüber klar, daß die meisten meiner pastoral-theologischen Vorschläge heute von vielen Theologen - vor allen Dingen der jungen Generation - abgelehnt werden. Um so mehr möchte ich alle, die anderer Uberzeugung sind, wie heute politische Verantwortung durch Amtsträger der Kirche wahrgenommen werden muß, noch einmal daran erinnern, daß es letzten Endes um die Freiheit der Kirche in der heutigen Gesellschaft geht, um die Freiheit der Verkündigung und des kirchlichen Handelns, um ihre Unabhängigkeit von menschlichen Parteien und Weltanschauungsprogrammen. Die freimachende Bindung allein an das Evangelium Jesu Christi darf nicht für das Linsengericht politischer Aktivität der Pfarrer und Kirchenbeamten preisgegeben werden. Vor allem sollte der Prediger des Evangeliums wissen, was sein Auftrag für sein ganzes Reden, Tun und Lassen in sich schließt. Auch sollte er dem Wort, das er im Gottesdienst oder sonstwo in der Gemeinde oder Öffentlichkeit zu sagen hat, mehr Wirkung zutrauen, als einer etwaigen politischen Aktion. Das offene, unabhängige freie W o r t des Predigers ist für die Welt immer noch besser und gewichtiger als alles andere - wenn er selbst an dieses W o r t glaubt und gewiß ist, daß der Inhalt dieses Wortes Heil und Wohl für die Welt enthält. So darf und soll er mutig und ohne Furcht zur Sache der Menschen, des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit, zur Hilfe für Unterdrückte (von wem auch immer!)

entwickelten Überzeugung liegt. Der Text dieses Ratsbeschlusses (und zwar des Rates der EKD, dessen Amtszeit am 2. Juni 1973 mit der Wahl eines neuen Rates auf der Synode der EKD in Coburg beendet wurde) hat folgenden Wortlaut: „Zu der seit längerer Zeit in den Gliedkirchen erörterten Frage der Mitgliedschaft von Pfarrern in politischen Parteien leitet der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihre Anfrage den Leitungen der Gliedkirchen folgende Stellungnahme zu: U m der Unabhängigkeit des pfarramtlichen Dienstes willen wird nach wie vor empfohlen, daß Pfarrer sich parteipolitisch zurückhalten. Es ist auch heute zu beobachten, daß der Pfarrer, der sich parteipolitisch betätigt, in der Regel nicht mehr uneingeschränkt und ohne auf Vorbehalte zu stoßen, zu allen Gemeindegliedern Zugang hat. Die Mitgliedschaft eines Pfarrers in einer politischen Partei ist als Ausübung staatsbürgerlicher Rechte anzusehen. Unmöglich wird die Parteimitgliedschaft jedoch da, w o eine Partei durch ihre weltanschauliche Ausrichtung und ihre strenge Parteidisziplin in Theorie oder Praxis die Freiheit der Verkündigung des Evangeliums und den Dienst der Kirche in Staat und Gesellschaft einschränkt und dem Parteiinteresse unterwirft. W o Parteien solcher Art die Macht innehaben, ist infolge der Verordnung der Parteiraison eine entsprechende Unterordnung oder auch Unterdrückung des Zeugnisses und Dienstes der Kirche fast überall zu beobachten. Es ist folgerichtig, wenn Parteien dieser Art auf die Mitgliedschaft von Pfarrern keinen Wert legen. A u s alledem ergibt sich, daß die Mitgliedschaft eines Pfarrers in einer solchen Partei zu der freien Ausübung des pfarramtlichen Dienstes in Widerspruch steht."

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für Verfolgte, für Ohnmächtige und Schwache das Wort nehmen. Aus dem Evangelium in politischer Verantwortung der Kirche soll er reden und tun, was ihm der Herr gebietet, in dessen Dienst er berufen ist und als dessen Diener er sich sein Leben lang zu bewähren hat.

Index Aachen 21, 42 Abendland 95,105,133,206,254,367ff„ 380 Abendmahl 9, 71, 107,109,113,137ff„ 166, 331, 334, 384 f. Abendmahlsgemeinschaft 105f., 109, 146ff., 227ff„ 237, 244f„ 250 - vgl. auch Interkommunion Abrüstung 308 Abtreibung 200 f. - vgl. auch Empfängnisverhütung; Geburtenregelung; Schwangerschaftsunterbrechung Ägypten 346 Alteste vgl. Presbyter Afrika 130,140,144 f., 189f., 205,264, 269ff., 275, 280, 341, 379f„ 386 - vgl. auch Südafrika Agenden 247 Agrargesellschaft 263 Akademien 27, 42, 115, 171, 284 Akademikerverbände 245 Aldag, Hans, Konsistorialrat 6, 9 Alliierter Kontrollrat 31, 47 - vgl. auch Besatzungszonen; Militärregierung Alte Kirche 64,66f., 145,161,163,165, 168 f., 243, 374, 382 Altenkirchen 24 Altkatholiken 231 f. Altpreußische Union vgl. Preußen Amerika 84,122,134,140,179,188f., 206, 229, 256, 281, 299, 342f„ 380 Amsterdam 59,135f., 138,142f., 293, 304 ff., 372 Amt, Ämter 7 f „ 20,31,38, 75,109f„ 124, 151, 171, 214, 247, 262, 330ff„ 388 Analphabetismus 342, 370, 386 Andersen, Wilhelm, Theologe 227 Anglikaner vgl. Kirche, anglikanische Animismus 349 Anthropologie 375, 383 Antisemitismus 88,285 ff., 292,295,298, 393

- vgl. auch Drittes Reich; Nationalsozialismus Apokalypse 349, 355 Apologie der C A 101, 161, 164 Apostel 78, 129, 145, 150f., 168, 294, 333 Apostolikum 108, 349 - vgl. auch Glaubensbekenntnis Arbeiter, Arbeiterschaft 74, 79 f., 82, 368 Arbeitslose, Arbeitslosigkeit 95,97,370, 386 Arier-Paragraph 285 - vgl. auch Antisemitismus; Kirchenkampf Aristoteles 367 Arnoldshainer Thesen 236f., 251 - vgl. auch Abendsmahlsgemeinschaft Arndt, Ernst-Moritz, Schriftsteller 121 f. Asien 134,140,144 ff., 179,189f., 205, 264, 269ff., 275, 282, 341, 379ff„ 386 Athanasianum 68, 70 - vgl. auch Glaubensbekenntnis Atheismus 181, 367, 375 Athen 327 Atomwaffen 123 f., 215f„ 305,307ff., 320 f. - vgl. auch Massenvernichtung Auferstehung 82f., 85f., 349ff. Aufklärung 162, 238, 246f., 299, 367, 382 Augsburgische Konfession 67ff., 72,108, 161, 164, 168, 238, 248f„ 251, 377, 396 Augustin(us), Aurelius, Kirchenvater 169 Ausbildungs- und Prüfungswesen 4f., 10, 15, 21, 38, 40, 328 - vgl. auch Schule; Studenten Auslandsgemeinden 43, 220, 245 Australien 134, 269

Bad Boll 42 Bad Ems 30 Baden 238 Baden-Baden 60 Bailey, S., Theologe 183 Baillie, Donald, Theologe 227 Baptisten 250

Index Barmen - Theologische Erklärung (1934) 4,34,44, 64ff., 85,90f., 108,163,241, 330ff„ 390 - vgl. auch Bekennende Kirche; Bekenntnissynoden; Kirchenkampf Barth, Karl, Theologe 16,96,103f„ 110, 121. 246, 286, 288, 294, 296 Bauernkrieg 77 Bausoldaten 318 - vgl. auch Deutsche Demokratische Republik; Kriegsdienstverweigerung Bayern 36 Bea, Augustin, Kardinal 144 Bebel, August, Parteiführer 82 Becker, Dr., Konsistorialrat 6, 9 Beckmann, Joachim, Pfarrer 2 ff., 73 Bekennende Kirche 9,29,34,40, 71,131, 207, 241 ff., 287, 382 - vgl. auch Barmen; Bekenntnissynoden; Kirchenkampf Bekenntnis(se) 4, 7,12,35,64 ff., 83 f., 100f., 103f., 107, llOff., 137,142ff., 146,148,155,160 ff., 237,239,241 ff., 348, 373 ff., 398, 405 - vgl. auch Augsburgische Konfession; Kirchengemeinschaft; Reformation; Reformierte; Union Bekenntnisschriften 64,102,105, 108,155, 163, 241 ff., 247 Bekenntnisschule 27 - vgl. auch Schule Bekenntnissynoden 2 ff., 15,25, 71,207, 227 - vgl. auch Barmen; Bekennende Kirche; Kirchenkampf; Rheinland Bergpredigt 173, 212, 391 Berlin 51, 58, 120, 129, 246, 261 Berlin-Brandenburg 292, 317 Berlin-Spandau 99 Berlin-Weißensee 91,94,290ff., 311 ff., 317 Besatzungsmächte 2, 14, 37, 60, 94 Besatzungszonen 26 - amerikanische 30, 47 - britische 24, 31, 42 Arbeitsgemeinschaft der Kirchen 29, 58 - französische 7, 24, 30, 43, 47 - sowjetische 59 - vgl. auch Alliierter Kontrollrat; Militärregierung

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Berg, Fritz, Unternehmer 130 Bestattung 247, 334, 376 Bethel 58 ff., 62 Bevölkerungsexplosion 187ff., 216,341 ff., 370 Bibelgesellschaften 23, 51 Bibelübersetzung 238 Bielefeld 18 Bildungsplanung 342 Biologie 348 Bismarck, O t t o von, Reichskanzler 77 Bodenreform 48 Bolschewismus 84, 87ff. - vgl. auch Kommunismus; Ost-WestKonflikt Bonifatius VIII., Papst 151 Bonn 15f., 32, 40, 42, 120f„ 125, 316 - vgl. auch Bundesrepublik Deutschland Bopp, Friedrich, Pfarrer 23 Borkum 41 Bovet, Theodor 183 Boxsport 180 Braunfels 45, 53 Breslau 207 Brot für die Welt 266, 342 Bruderrat der E K D 243 - vgl. auch Bekennende Kirche; Reichsbruderrat Bruderschaft 136f., 157F. Brüggemann, Gerd, Redakteur 218 ff. Brunner, Peter, Theologe 167f., 227, 229 f., 232, 235 Buddhismus 276, 297 Bünde in Westfalen 60 Buenos Aires 256 Bürgerinitiativen 400 Bulgarien 144 Bultmann, Rudolf, Theologe 108,246, 285, 288 Bundesrepublik Deutschland 124,130f., 200, 222, 225, 256 - vgl. auch Bonn Bundestag 123, 316 Burckhardt-Haus 23 Buße 95, 172 Calaminus, Herbert, Studentenpfarrer 17 Calvin, Jean, Reformator 101 f., 121,154, 169 China 277f„ 341 Christenverfolgungen 352 Christlich-Demokratische Union (CDU) 123

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Index

Christliche Volksmacht 295 Christlicher Verein Junger Männer (CVJM) 239 Christologie 107f., 167, 375 Christ und Welt 237, 246 Chustschow, Nikita, Parteisekretär 144 Church of England 183 Coburg 406 Confessio Augustana (CA) vgl. Augsburgische Konfession Consensus vgl. Konsensus Dänemark 232 Dalbke 18 Dalhoff, Erich, Oberkonsistorialrat 6 Darmstadt 95 Darmstädter Wort (1947) 73 Decius, römischer Kaiser 352 Degeneration 346 ff. Dehn, Günther, Theologe 16 Delekat, Friedrich, Theologe 227 Demokratie 87ff„ 118,122f„ 154,327, 395 Denkschriften 280 Denominationen 372 Der Remter 115 Der Ruf 24 Der Spiegel 120ff., 218 ff., 260 Der Weg 24 Determinismus 359 Deutsche Christen 4,8,66,69, 88,239ff., 286, 288 f., 296 - vgl. auch Kirchenkampf; Nationalkirchliche Einung Deutsche Demokratische Republik (DDR) 125, 129, 317ff. Deutsche Evangelische Kirche 11,29,64, 66, 68 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 405 Deutscher Evangelischer Kirchenbund 239 f. Deutsches Pfarrerblatt 121 Diakonie 157f„ 214,220,245,281 f., 372, 384 f., 393, 397 - vgl. auch Innere Mission Diakonisches Werk 342 Diaspora 56, 161, 258, 287, 379f. Dibelius, Otto, Bischof 129 Die Botschaft 24 Die Mitarbeit 254 Diem, Hermann, Theologe 73

Dienststrafverfahren 38 Diedorf 57 Diktatur 77, 79 Diokletian, römischer Kaiser 352 Dipper, Theodor, Dekan 330 Dissidenten 27 Disziplinarrecht 7f., 11 Dombois, Hans, Jurist 177 f. Dorner, Isaak August, Theologe 107 Dotationsbeträge 32, 46 - vgl. auch Finanzen; Staatszuschüsse Dreiklassenwahlrecht 79 Dreß, Walter, Theologe 107ff. Dritte Welt 369 ff. Drittes Reich 1 ff., 6 17,30,49,56,121, 171, 192, 199, 285 f. - vgl. auch Kirchenkampf; Nationalsozialismus Düsseldorf 2,4,19,24,43,48,219,246, 257 - Predigerseminar 41 Duisburg 337 Ebioniten 375 Edinburgh 135, 139 Ehe 173, 182, 192ff„ 202, 208 Ehrenberg, Hans, Pfarrer 288 Ehrlich, Ernst Ludwig, Dr. phil. 297 Einheitsgesangbuch 110 Einigungswerk, Kirchliches 29, 243 Eisenach 58 f., 93, 239, 243, 311 Eiserner Vorhang 92, 94 EKD vgl. Kirche, evangelische Ekklesiologie 330 ff., 391 Elberfeld 18, 41 Elbingerode 313, 317 Eiert, Werner, Theologe 108, 227 Empfängnisverhütung 128,175,178 ff., 187, 198 - vgl. auch Geburtenregelung Engel 82, 356 England 59, 183, 233 Entkonfessionalisierung 369, 389 Entnazifizierung 8, 29, 31, 37, 58 Entwicklungshilfe 282,342,353,370,384, 386 Enzykliken 210, 279 - vgl. auch Katholizismus; Kirche, römisch-katholische; Papst; Rom Erasmus von Rotterdam 287 Erlangen 107, 285, 287 Eschatologie 351

Index Erweckungsbewegung 382 Essen 94, 312 Ethik, politische 118, 208 Euler, Karl, Oberkonsistorialrat 2, 6 Europa 95,133 f., 140f„ 187,209f„ 216, 255,264,269 ff., 280,282,341,363, 367f., 378 f., 380 Evangelisation 328 Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 99, 103 Evangelische Allianz 233 Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung 317 Evangelische Gesellschaft 25 Evangelischer Arbeitskreis für Sexualethik 205 Evangelischer Bund 237 Evangelium und Gesetz 212, 330 - vgl. auch Gesetz und Evangelium Evanston 138, 293, 307ff. Exegese 168 Fagley, Richard M., Theologe 188 Faith and Order vgl. Ökumene Fakultäten, theologische 15f., 32,39f., 162, 210, 328, 376 Familie 187, 199, 202, 211, 256f., 339 Feiertage 30, 61 Fernsehen 258, 323 ff., 400 - vgl. auch Massenmedien Fichte, Johann Gottlieb, Philosoph 121 Film 24, 323 - vgl. auch Massenmedien Finanzen, kirchliche 3,6,20,29,43 ff., 47, 218 ff. - vgl. auch Dotationsbeträge,' Staatszuschüsse Flüchtlinge 12, 29, 48, 97, 118 - vgl. auch Osthilfe; Vertriebene Formula Concordiae vgl. Konkordienformel Fragebogenaktion 31 Frankfurt am Main 317, 321 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 226 Frankreich 37, 50, 86, 300 Frauenarbeit 21, 25, 127, 205, 245, 337 Frauenwahlrecht 35 Freiburg/Breisgau 237 Freiheit 77f., 83 ff., 89,92,156,176,212, 255,264,268,273 f., 282 f., 345 f., 387, 406 Freikirchen 27, 300

411

Freimaurer 240 Freiwilligkeitsgemeinde 379 Frieden 61,91 ff., 96,117,119,123,180 ff., 212,264,268,272,279,282f., 300ff„ 339 ff., 370 f., 406 Fries, Heinrich, Theologe 363 Frings, Joseph, Erzbischof 130 Fürsten 78 Futurologie 366f., 371 Gebet 116, 137, 247 Gebote (Gottes) 32, 78,102,117ff„ 173 ff., 195,197,209,211 f., 217,260,296,304, 310, 317, 333, 368, 390 Geburtenregelung 127f„ 178,184,187ff„ 341 ff. - vgl. auch Abtreibung; Epfängnisverhütung; Schwangerschaftsunterbrechung Geheime Staatspolizei 30 Gemeinschaftsschule 27 - vgl. auch Schule Genf 59, 188, 372 - vgl. auch Ökumenischer Rat der Kirchen Gerechtigkeit 126,171,212,264,268,273, 278f., 282f. Gericht 85, 87, 350, 354, 358 - vgl. auch Gottesgericht; Jüngstes Gericht Gesangbuch 104, 238, 247 Geschichtswissenschaft 356, 375, 383 Gesellschaft 87,133,177,180f„ 198, 202 f., 205,207f„ 211,254 ff., 275, 326ff., 368f., 378, 389ff. Gesenius, Heinrich, Mediziner 178 f., 187, 205 Gesetz 83, 91, 173, 194, 217, 336, 354 - vgl. auch Gebot Gesetz und Evangelium 91,101,107f., 234, 402 - vgl. auch Evangelium und Gesetz Gewerkschaft 130, 339 Giesen, Wilhelm, Pfarrer 178 Glaser, Karl-Werner, Konsistorialrat 6 Glaube und Heimat 24 Glaubensbekenntnis 153,167ff., 229, 330 f., 349 - vgl. auch Apostolikum; Athanasianum; Bekenntnis; Nicänum Gliedkirchen 103 ff., 111,113,125,136, 146, 163, 244, 251, 406 - vgl. auch Kirche, evangelische; Landeskirchen

412 Gnadenmittel 166 f., 233 Gnadenwahl 290 Godesberger Erklärung 289 - vgl. auch Deutsche Christen; Nationalkirchliche Einung Goeters, Wilhelm, Theologe 16 Goethe, Johann Wolfgang, Dichter 368 Göttingen 16 Götzendienst 86 Gollwitzer, Helmut, Theologe 227 Goltzen, Herbert, Pfarrer 103, 106, 110 Gottesdienst 104,109 ff., 137,145,147, 169, 233, 237, 247, 266, 334, 373, 376 Gottesgericht 286 f., 353 Gotteslästerung 181 ff. Gottlosigkeit 81, 87 Griechenland 82, 144 Griffin, Bernhard, Kardinal 183 Griffin-Report 183 Groeger, Guido N., Theologe 178,187, 205 Grundgesetz 313 f. Grundordnung der E K D 58,243 f., 248, 250 - vgl. auch Eisenach Grundrechte 117f. - vgl. auch Menschenrechte Gustav-Adolf-Verein 22f., 51 Häresie 70, 153, 156, 228, 234, 291 - vgl. auch Deutsche Christen; Irrlehre Halfmann, Wilhelm Bischof 121 f., 124 Halle an der Saale 109 Hamburg 42, 120, 223, 246, 261 Hannover 18, 42 Harenberg, Werner, Redakteur 120, 218 Harney, Rudolf, Pfarrer 2 ff. Heer, Friedrich, Kulturhistoriker 363 Heidelberg 388 Heidelberger Katechismus 70, 102 - vgl. auch Bekenntnis; Katechismus; Luthertum; Reformierte Heiden, Heidentum 81, 86,140f., 172, 191, 275 f., 291, 194, 355, 380 Heidenchristen 290 Heidenmission 293 ff. Heidtmann, Günter, Pfarrer 317 Heilige Allianz 80 Heilsgeschichte 359 Heimat 115ff„ 126 Heimatvertriebene 118 - vgl. auch Flüchtlinge

Index Heimkehrer 40, 97 Heinemann, Gustav, Rechtsanwalt 95 Held, Heinrich, Superintendent 2 ff. Hemer 42 Hermannsburg 42 Herzog-Wolfgang-Haus 57 Hessen 45, 52f., 238 Hessen-Nassau 236 Herkenrath, Helmut, Pfarrer 24 Heß, Dr., Akademiedirektor 57 Heydenreich, Renate Maria, Theologin 284 Hilfsprediger 12f„ 15, 18, 20, 40f., 49 Hilfswerk, Evangelisches 22, 41, 51, 59 - vgl. auch Diakonie Hinduismus 276, 297 Hitler, Adolf, Reichskanzler und Parteiführer 76, 240, 286, 396 Hochschulen, Kirchliche 15f., 30,39f., 50, 162 Hoekendijk, Johannes Christiaan, Theologe 366 Hofprediger 127 Hohe Grete 18, 25, 38 Holland 59 Homosexualität 183 ff. Horst, Friedrich, Theologe 16 Howe, Günther, Mathematiker 320 Humanismus 368 f., 375 Hunsrück 24 Ideologie 80,87,96,274,277,281,345, 361, 369 f., 386, 405 Imperialismus 259 Indien 138, 147, 179, 199 Indikation 174ff„ 179, 185, 199, 201 Indonesien 273 ff., 278 f., 282 Industriealisierung 254 ff., 269,273,341 f., 370 Industriegemeinden 41 Industriegesellschaft 203, 205, 222, 275 ff. Inflation 279 Innere Mission 22, 25, 50 ff. - vgl. auch Diakonie Interkommunion 230 ff., 235, 373, 384 - vgl. auch Abendmahlsgemeinschaft; Kirchengemeinschaft; Union Internierte 94 f. Irrlehre 4, 66f., 69, 165, 237, 240, 244, 288 - vgl. auch Deutsche Christen; Häresie Insemination 182 f. Islam 297 Israel 126, 284 ff., 294, 346, 351 - vgl. auch Judentum

Index Japan 179, 190, 199 Jerusalem 90, 297 Johannesburg 256 Judenchristen 284, 290, 292 Judenmission 293 ff. Judentum 127, 284 ff. - vgl. auch Israel Judenverfolgung 393 - vgl. auch Anitsemitismus; Arierparagraph Jülich 21 Jüngstes Gericht 159, 167, 172, 222 - vgl. auch Gericht; Gottesgericht Jugend 5, 23, 51, 203, 245, 264, 292, 384 Junge Kirchen 139ff„ 145 Jungk, Robert, Schriftsteller 366 jus talionis 172 Kaiserswerth 6, 22, 52 Kandidaten 12, 18, 40 - vgl. auch Ausbildungs- und Prüfungswesen Kant, Imanuel, Philosoph 86 Kanzelgemeinschaft 229, 237 - vgl. auch Kirchengemeinschaft Kapitalismus 345 Karrenberg, Friedrich, Unternehmer 178, 207 Kaschmir 269 Kassebeer, Friedrich, Redakteur 120 ff. Katecheten 55 Katechismus 70, 102, 110, 140, 160 ff. Katholizismus 163,197,234,287,330, 335, 378 - vgl. auch Kirche, römisch-katholische; Papst; Rom Kenosischristologie 107 Kiel 121, 124 Kindergärten 30, 43, 220, 225 Kindergeld 202 Kingsley, Charles, Pfarrer 83 Kirche, altkatholische 231 f. Kirche, anglikanische 83,105,147,183, 188, 204, 231 f., 250, 373 Kirche, evangelische - Deutsche Evangelische Kirche (DEK) 11, 29, 64, 66, 68 - Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 17,22,24,28 ff., 43,51, 55,58 f., 62, 66, 71 ff., 93, 101, 103, 105ff„ 112, 128, 187,207,214,227,230,235 ff., 237ff., 240ff., 243ff., 290ff„ 310ff.

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- Grundordnung 58 f., 243 f., 248, 250 - Rat 11,14,29,31,46, 73,94,238,251, 312ff„ 405f. - Synoden 91,94,123,245,290 ff., 311 ff., 317, 321, 327, 406 - Kirchenkanzlei 19, 29, 64 - Kammer für Erziehung und Unterweisung 53 - Bruderrat 73, 243, 296 - vgl. auch Bekennende Kirche Kirche(n), lutherisch(e) 68f„ 71, 79,100f„ 107, 147, 235 - vgl. auch Konfession; Luthertum; Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Kirchen, orthodoxe 101,143f„ 147f„ 155, 166, 228, 231 ff., 372f„ 384 Kirche, protestantisch-bischöfliche 231 Kirche, reformierte 18,67, 71,107,230, 235 - vgl. auch Konfession; Reformierte Kirche, römisch-katholische 26,47,54,68, 70,92,101,129 ff., 133f„ 136,138f„ 144,148 ff., 161,166,176,187,192ff., 203 f., 210,224,228,232ff„ 238,248, 253,262,277,279,281,285,297,327, 373 f., 384 f. - vgl. auch Katholizismus; Papst; Rom Kirche in der Zeit 91, 99, 160, 171, 178 Kirchenausschüsse 243 Kirchenaustritt 255, 376 Kirchenbesuch 258 Kirchenbund 228, 230, 245, 250 - vgl. auch Konföderation; Union Kirchenfeindschaft 376 Kirchenfunk 325 Kirchengebet 238 Kirchengemeinschaft 59,106,108f., 111, 137,146 ff., 161,163 ff., 227ff., 238, 249 f., 381, 384 f. - vgl. auch Abendmahlsgemeinschaft; Union; Bekenntnis Kirchenkampf 9,15f., 29,35,65,131, 163 f., 207, 241 ff., 288, 335 - vgl. auch Bekennende Kirche; Deutsche Christen; Nationalsozialismus Kirchenlied 110 Kirchenmusik 25 Kirchenordnung 3 ff., 9,12,34,58,61, 100, 104, 231, 234, 247, 330ff. Kirchenrecht 229, 332 Kirchenregiment 238f., 331, 399ff. Kirchenspaltung 136,166 f., 216,228,230, 367, 384

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Index

Kirchensteuer 46 ff., 218ff„ 221 f., 224 ff., 260 - vgl. auch Finanzen Kirchentag(e) 94,127,207,239,241,284, 312, 373 Kirchenwahlen 241 Kirchenzucht 113, 244, 247 Kirche und Staat 317, 380, 397 - vgl. auch Gesellschaft; Staat Kirchgeld 218, 224 f. Kirchliche Hochschulen 15f., 30,39f., 50, 162 Klassenkampf 80 Klerus 335 Kleve 9, 21 Koblenz 24, 30, 43, 60 Koch, Karl, Präses 29 Koch, Walter, Konsitorialpräsident, 6, 9 Köln 42 Königsberg 17 Königsherrschaft Christi 355 Königswinter 91 Körner, Theodor, Dichter 122 Körperschaft des öffentlichen Rechts 323, 403 Kollekten 4, 21 ff., 46, 50ff. Kolonialismus 140, 274 Kolonisation 380 Kommunion 231 ff., 251 - vgl. auch Abendmahlsgemeinschaft; Interkommunion; Kirchengemeinschaft; Union Kommunismus 80,97,144,200,255,273, 275, 278, 345, 371, 405 Konfession(en) 54,71 ff., 99,101,104,113, 133 f., 137,140,147f., 153,158,182, 209,238,245 f., 252,257,281 f., 363, 372, 374, 376 ff., 384, 394 - vgl. auch Bekenntnis; Luthertum; Reformierte; Union Konfessionskirchen 230f., 240, 250f. Kofessionsschule 27 - vgl. auch Schule Konfirmation 111, 247, 262, 334, 376 Konföderation 230, 235 - vgl. auch Kirchenbund; Union Kongo 346 Kongregationalismus 229, 231, 233, 336 Konkordie 170 - vgl. auch Leuenberg Konkordienformel 68,72,108,166,170, 238, 249

Konsensus 69 ff-, 152,162ff„ 235,245, 249, 252, 385, 399 Konsensusunion 107, 161, 163, 170, 238 - vgl. auch Union Konservatismus 78ff., 122, 261, 369 Konstantin, römischer Kaiser 299, 352 Konstantinopel 165 Konsumvereine 79 Konzentrationslager 20 Konzil, Konzile 138,149,214,225,279f„ 281, 297f„ 330, 374 - vgl. auch Vatikanische Konzile Krämer, Erwin, Studentenpfarrer 17 Krankenhauspfarrer 257 Kreyssig, Lothar, Jurist 290 Krieg2ff., 20,44, 77, 85,93,96f„ 115f„ 123,175,212,215,264,269,272 ff., 299 ff., 339 ff., 370 - vgl. auch Weltkriege Kriegsdienstverweigerung 131, 215, 299ff. Kriegsgefangenschaft 12,14,18 ff., 37,94, 97 Krummacher, Friedrich Wilhelm, Bischof 121 Kunst, Hermann, Bischof 320 Kunze, Wilhelm, Pastor 25 Kupferhammer 18, 41 Länder, deutsche 16,32,34,45,49,52, 54, 60 - vgl. auch Hessen; Nordrhein-Westfalen; Rheinland-Pfalz Läufer, Georg, Superintendent 30 Laien 262, 266, 335, 373, 382, 400 Lambethkonferenz 204 Lambeth Report 187 Landesbruderräte 289 - vgl. auch Bekennende Kirche; Kirchenkampf Landesherren 238 f. Landeskirchen 39,47,52,58,170,236, 238 ff., 248, 262, 400, 402 - vgl. auch Bayern; Gliedkirchen; Hamburg; Hannover; Hessen; Lippe; Nassau; Pfalz; Preußen; Rheinland; Westfalen; Württemberg Landwirtschaft 343 ff. Lastenausgleich 42, 44, 61, 97, 113, 224 Lausanne 135 Legalisierung 15 Lehramt, kirchliches 92,97,129,151 f., 210, 249, 398 - vgl. auch Papst; Rom

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Lehrgespräch 152, 252 Lehrergewerkschaft 53 f., 56 Lehrpläne vgl. Schule Lehrunterschiede 112f„ 136ff., 140,145, 164 f., 228,233,236,248,251,372 ff., 385 - vgl. auch Kirchenspaltung; Konsensus Lehrverpflichtung 72 Leninismus 405 - vgl. auch Kommunismus; Marxismus Lennep 6, 49 Liberalismus 80, 375, 382 Life and Work vgl. Ökumenische Bewegung Lilje, Hanns, Bischof 120, 246 Linksparteien 79 Linz, Friedrich, Pfarrer 2 ff., 24 Lippe 18, 52, 64, 230 Liturgie 25, 148, 234 Lobbyismus 327 Lohr, Walter, Konsistorialrat 6 London 348 Lübeck 64 Lüpsen, Focko, Redakteur 304, 307 Lund 227, 231 Luther, Martin, Reformator 77,101 f., 110, 112,116f„ 129,159,163,169,214,239, 247, 286f., 323, 395 Lutheraner 65f., 68,120f., 229,237f., 257, 294 Lutherrat 64, 67, 243 Luthertum 67,69,101 f., 104,108 ff., 160, 183ff., 228, 231 f., 240ff„ 384 - vgl. auch Bekenntnis; Konfession; Vereinigte Ev.-Luth. Kirche; Weltbund

Meijering, E. 310 Meisenheim 26, 50, 56 Melanchthon, Philipp, Reformator 164 Mennoniten 299 Menschenrechte 87,116,308 f., 371,387, 405 Mensing, Carl, Rechtsanwalt Messias 286, 291, 294 Metaphysik 209, 367, 382 Methodisten 231, 250 Meyer, Hans, Pastor 19 Militärregierung 26f„ 29ff., 48, 57, 60, 74 - vgl. auch Alliierter Kontrollrat; Besatzungszonen Militärseelsorge 245 Militarismus 96 Mission 23,134f„ 139ff., 158,220,223, 239, 245, 280, 282, 353, 372, 379 f. Missionsrat, Internationaler 139 f. Missouri-Synode 100 Mittelalter 133, 261, 287 Mitteleuropa 189, 277 Mitzenheim, Moritz, Bischof 120 Mochalski, Herbert, Pfarrer 73 Modernismus 382 Moers 57 Monotheismus 375 Moral 260, 263, 367ff., 376 Moraltheologie 198 Moskau 61, 123 Mülheim/Ruhr 115, 171, 284 München 246 München-Gladbach 22 Münster 261 Mybes, Fritz, Pfarrer 337

Männerarbeit 21, 23, 245 Mahrenholz, Ernst Gottfried, Jurist 363 Mainz 39 Mandat 171f„ 211, 331, 335f., 394, 400ff. Mansfield Report 187 Marsh, John, Theologe 227 Martyrium 93, 365 Marx, Karl, Philosoph 82 f., 375 Marxismus 80ff., 87f., 368f., 375, 389, 405 Massenmedien 258, 323 ff. - vgl. auch Fernsehen; Film; Presse; Rundfunk Massenvernichtung 318, 393 - vgl. auch Atomwaffen Materialismus 81 f. Maurer, Hartmut, Jurist 401

Nachfolge 117, 212, 216, 300 Nahe(gebiet) 24, 56 Nassau 52, 238 Nation 74, 76, 121, 373 Nationalismus 84, 119, 240, 382 Nationalkirchler 7, 31, 37, 289 - vgl. auch Deutsche Christen Nationalsozialismus 3, 8,15,37, 76, 79, 88, 92, 96, 207, 239ff„ 243, 266, 286 - vgl. auch Drittes Reich; Kirchenkampf Natur 87,173,194,198,209,275,338f„ 391 Naturreligionen 275 Naturwissenschaft 175,190,262,339,356, 383 Naturwissenschaftliche Rundschau 347

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Index

Nes Ammim 284 Neu Delhi 138,141,143,145 ff„ 252,309, 381 Neuwied 24 N e w York 282, 270, 346 Nicänum 70, 105, 108, 165 Niederlande 294, 310 Niemöller, Martin, Kirchenpräsident 73, 121 Nietzsche, Friedrich, Philosoph 82 Nigeria 346 Nihilismus 81, 96, 359, 361 Nordamerika 154, 216, 277 Norddeutscher Rundfunk 325 Nordrheinprovinz vgl. Preußen Nordrhein-Westfalen 43, 52ff„ 60f. Notgemeinschaft christlicher Deutscher 292 N o t h , Martin, Theologe 16 Notstandsordnung, kirchliche 3 Notwehr 176 f. Nürnberg 246 Oberhausen 224 Oberrhein 56 Obrigkeit 79,107,117,120ff„ 127,129, 171 f., 303, 324, 333, 396 Oder-Neiße-Linie 14, 124, 128 Öffentlichkeit 74,130,207,307,369,378, 399f., 409 Ökumene, Ökumenische Bewegung 59, 103,135ff„ 157f„ 170,217,227f„ 230, 232,235,248,250 f., 272,279 f., 293, 300 ff., 320, 370 ff., 380, 383 - vgl. auch Weltkirchenkonferenzen Ökumenischer Rat der Kirchen 135f., 138 ff., 188,228,230,235,252,304 ff., 314, 372, 384 Österreich 124 Offenbarung 88,209,213,288 f., 353 ff., 359, 367, 374 f., 405 Ordination 1, 44, 64ff„ 334, 401, 403, 405 - vgl. auch Amt Ordnung 77f., 83,209,211 ff., 214,251, 274 f., 330 ff., 385, 401 Orthodoxie 105, 162, 169, 247, 285 - vgl. auch Kirchen, orthodoxe Ostasien 269, 280 f. Ostblock 87f., 90, 93, 95, 120, 266, 378f. - vgl. auch Kommunismus; Marxismus Ostgebiete 16, 39, 125f., 131 - vgl. auch Oder-Neiße-Linie

Osthilfe 14, 22, 29, 37, 46, 51 f. Ostpfarrer 14, 29, 36, 46 Ostpreußen 124, 126 Ost-West-Konflikt 84, 94, 216, 312ff. Ottweiler 10 Oxford 301 ff. Pakenham, Francis, Lord 60 Papst, Papsttum 131,149,151 ff., 271 f., 330 - vgl. auch Katholizismus; Kirche, römisch-katholische; Rom Parteien, politische 27, 32, 54, 80, 339, 388 Parusie 360 Patenamt 104 Paulus, Apostel 77,102,156,197,237, 291, 354, 387 Pazifismus 88,240,303,307f., 310,312, 319, 321 Pfalz 52 f., 236, 238 Pfarrstellenbesetzung 4, 12, 30, 401 Pfingstkirchen 149 Pharisäismus 356 Philosophie 367, 375, 382 Pietismus 238, 246 f., 286, 382 Plato, Philosoph 82, 349, 367 Pluralismus 130, 180 Politik32, 80, 82,116f„ 120ff., 207,212, 339, 375 f., 388 ff., 400, 404 - vgl. auch Parteien Pommern 124, 126 Pornographie 368 Prädestination 287 Praetorius, Will, Pfarrer 24 Predigerseminare 18, 41 Predigt 1,44, 74f., 166f., 203,319,334, 391 - vgl. auch Amt Presbyter 10, 34 ff., 336 Presbyterianer 250 Presse 24,121,139,198,237,245f„ 260, 323, 368, 400, 402 - vgl. auch Masssenmedien Preußen 20,23,26 f., 30,32,34,43,45,60, 79, 160, 222, 238 - Ev. Kirche der A P U 10f„ 22f„ 28,51, 5S. ff., 125, 160, 230, 232, 261, 297 - I \ OberkirJienrat Berlin 3, 6 - Bckanunissynode Halle (1937) 227 - Bekenntnissynode Breslau (1943) 207 - vgl. auch Rheinland; Westfalen Primat 151, 153 - vgl. auch Papst

Index Privatbeichte 247 Proletariat 79 Provinzialkirchen 100, 111 - vgl. auch Preußen, Ev. Kirche der A P U ; Rheinland; Westfalen Prostitution 185 Puidoux-Konferenz 310 Quäker 299 Quenstedt, Hans-Joachim, Konsistorialrat

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Rassenfrage, Rassismus 1 9 1 , 2 1 6 , 2 7 7 , 281 f., 288, 370ff., 381, 386 - vgl. auch Südafrika Rat der Ev.-Luth. Kirche Deutschlands 64, 67, 243 Rationalismus 375, 382 Recht 7 7 , 7 9 , 8 6 , 1 1 5 , 1 7 6 , 2 1 2 , 2 4 8 , 3 0 6 , 335, 340, 367, 385 - vgl. auch Kirchenordnung Rechtfertigung(slehre) 80,101 f., 163,165, 247, 375, 390 - vgl. auch Luther; Paulus; Reformation Reformation 6 4 , 6 8 , 9 1 , 1 0 1 f., 105,110, 1 1 2 , 1 3 3 f „ 1 5 4 , 1 5 6 , 1 6 5 f., 213f„ 234, 237ff„ 241 ff., 2 4 9 , 2 6 1 , 3 3 0 f f . , 335, 367, 374, 383 Reformierte 1 8 , 3 5 , 6 5 f . , 6 8 , 1 0 0 , 1 0 2 , 1 0 4 , 108 ff., 160,231 f., 237,241 f., 294,310, 384 - vgl. auch Bekenntnis; Konfession; Weltbund Reich Gottes 30, 85, 8 7 , 9 1 , 3 5 2 f., 358, 374, 389 f. Reichsacht 129 Reichsbruderrat 73, 95, 296 - vgl. auch Bekennende Kirche; Bruderrat der E K D Reichskirche 3, 239 f., 242, 289 - vgl. auch Kirche, evangelische; Kirchenkampf Reichsregierung 241 Religionsfreiheit 133, 279, 369, 371 Religionsgeschichte 191 Religionsgespräche 70 Religionskriege 133 Religionsunterricht 26 ff., 53f., 255,262, 323, 369, 399 - vgl. auch Schule Remilitarisierung 95 f. Rengstorf, Karl Heinrich, Theologe 296

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Restauration 103, 106f., 162 Revolution 77, 79, 8 6 , 1 2 1 , 2 2 5 , 300,353,375 Rheinland, Rheinprovinz 2 6 , 1 2 5 , 1 2 9 , 161, 219f., 226 - Ev. Kirche 1-63, 103, 170, 231, 262 - Konsistorium 2ff., 44, 47 - Bekenntnissynode 2ff., 15, 25 - Landessynode 223 - Kreissynoden 9 f., 25, 36, 61 f. - Presbyterien 6ff„ 34ff„ 44, 47, 61 f. - Provinzialjugendpfarrer 23 - Katechetisches Amt 24 - Schulkammer 25, 26 - Theologiestudentenamt 39 - Finanzabteilung 3, 6 - Predigerseminar 18, 41 Rheinland-Pfalz 52 f., 57, 61 Richter, Willi, Gewerkschaftler 130 Rößler, Helmut, Konsistorialrat 2 ff. Rom 9 1 , 1 3 8 , 1 4 9 , 1 5 1 , 1 5 9 , 1 6 3 , 2 7 2 , 2 8 5 , 343, 372 f. - vgl. auch Katholizismus; Kirche, römisch-katholische; Papst Rothenburg ob der Tauber 256 Rüstung 115, 306, 370 Ruhr 224 Rumänien 144 Rundfunk 24, 323 ff., 400, 402 - vgl. auch Massenmedien Rußland 37, 84, 144, 277f., 378 - vgl. auch Kirchen, orthodoxe; Kommunismus; Sowjetunion Saarbrücken 10, 30 Saargebiet 10, 24, 3 0 f „ 43, 49, 52, 60 Sachsen 64, 288 Sachsse, Karl, Kirchenrat 30 Sakrament 1 0 4 , 1 0 9 , 1 3 7 , 1 4 8 , 1 5 0 , 1 6 5 ff., 1 9 3 , 2 4 4 , 2 4 7 , 2 5 9 , 3 2 5 , 3 3 0 f . , 391,399, 405 - vgl. auch Abendmahl; Taufe Sankt Johann 10 Scharf, Kurt, Bischof 121, 237 Schaumburg-Lippe 64 Schiller, Friedrich, Dichter 354 Schlesien 124, 126 Schlier, Heinrich, Theologe 16 Schlingensiepen, Hermann, Theologe 16 Schlingensiepen, Johannes, Pfarrer 2 ff. Schmalkaldische Artikel 161, 163, 166 Schmidt, Ferdinand, Kirchenmusikdirektor 25

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Index

Schmidt, Kurt Dietrich, Theologe 288 Schottland 59, 230, 232 Schütz, Werner, Rechtsanwalt 6 Schuld 73 ff., 80, 84,93,95 f., 117,172 f., 207, 290 ff., 295, 298 Schule 5, 18, 25ff., 32, 52, 56, 327f„ 369 - vgl. auch Religionsunterricht Schumann, Friedrich Karl, Theologe 42 Schwangerschaftsunterbrechung 175 ff. - vgl. auch Abtreibung; Geburtenregelung Schwarzer Markt 44 Schweden 183 f. Schweitzer, Albert, Theologe 282, 346 Schweiz 183, 346 - Hilfswerk 41, 59 Seelsorge 110, 172, 220, 317 Sekretariat für die Einheit der Christen 144, 149 - vgl. auch Papst; Rom Sekten 133, 142, 228, 349, 355, 372 Selbstmord 84, 175 Sexualität 187ff., 202 f. Sinning, Waldemar, Konsistorialrat 6 Sittlichkeit 173, 180, 183 ff., 198 f. Sklaverei 273 Sonntagsarbeit 258 Sonntagsblatt 180, 187, 246 Sonntagsbote 24 Sonntagsgruß 24 Soteriologie 167 Sowjetunion 96, 189, 341 - vgl. auch Kommunismus; Rußland Sozialethik 207ff„ 245, 265 Sozialismus vgl. Kommunismus; OstWest-Konflikt Sozialpolitik 202,208,245,279,347,371, 373 Soziologie 339, 375, 383 Spengler, Oswald, Schriftsteller 367 Spiesburg 57 Spiritualismus 82, 91, 149 Staatsbehörden 27, 29, 32, 45, 47, 54 - vgl. auch Länder Staatskirche 69,127,133,160,251,255, 261, 378 f. Staatsrecht 118, 368 - vgl. auch Recht Staatsvertrag (1931) 32, 34, 60 Staatszuschüsse 32, 45, 218, 221, 225 - vgl. auch Dotationsbeträge Stählin, Wilhelm, Bischof 227 Statistisches Bundesamt 188

status confessionis 215 Stauffer, Ethelbert, Theologe 16 Sterblichkeitsrate 188 Sterilisation 178ff., 187, 199 - vgl. auch Empfängnisverhütung; Geburtenkontrolle Steuerhoheit 369 - vgl. auch Finanzen; Kirchensteuer Stockholm 135, 371 Stoltenhoff, Ernst, Generalsuperintendent 2 ff. Strafgesetzbuch 171 ff., 199 Strafrechtsreform 171 ff. Studenten 15ff„ 21, 38, 42, 51 f., 245, 361 - vgl. auch Ausbildung Studentenpfarrer 17, 42 Studiengemeinschaft, Evangelische 320 Sturm, Marcel, Feldbischof 60 Stuttgart 246 - Schuldbekenntnis 73, 93, 95 Südafrika 275, 277, 282 - vgl. auch Afrika; Rassenfrage Südamerika 190, 386 - vgl. auch Amerika Südostasien 189 Südrheinprovinz vgl. Preußen Sünde 76, 192, 299, 305 f. Sumatra 270 Sydney 256 Syllogismus practicus 167 Synode(n) 58 f., 100,161,208,210,214, 234f„ 238,241,272,321, 334,336,373, 399 Synoden der E K D vgl. Kirche, evangelische - Berlin-Weißensee (1950) 91, 94, 290, 311 - Coburg (1973) 406 - Elbingerode (1952) 313, 317 - Frankfurt am Main (1965) 317, 321 Tannenhof 26 Taufe 104,110,131,158,166,240,244, 247, 287, 331 ff., 376 - vgl. auch Sakrament Technik 269 f., 338, 370 Teilhard, Chardin de Pierre, Theologe 269 Terror 77 tertius usus legis 108 Theismus 367 Thiel, Wulf, Propst 107, 111 Thielicke, Helmut, Theologe 120f., 123, 183 f.

Index Thomas von Aquin, Kirchenlehrer 68 Tiling, Magdalene von, Theologin 205 Toleranz 133, 160, 181, 255, 299, 369 Tradition 152,156,169,209,217,245f., 249, 255, 266, 325, 358, 367 Trauung 247, 260, 334, 376 - vgl. auch Ehe Treysa 22, 28 f., 51, 58, 243 Trient 154 f. Trier 9, 30 Tunesien 346 Tyrannei 396 Ubiquität 108 Ulbricht, Walter, Staatsratsvorsitzender 120 Ulrich, Hans, Konsistorialrat 6 Una Sancta 110 U N E S C O 276 Unfehlbarkeit 152 - vgl. auch Papst Union 64,66 ff., 69ff„ 99f„ 104,106,112, 121,141 f., 160,228,230,237f., 241 f., 249 ff. - vgl. auch Bekenntnis; Kirchengemeinschaft; Konsensusunion Universität 15f., 32, 39f., 42,162, 261, 376 - vgl. auch Studenten U N O 271, 276, 308, 341, 343, 371 Unsterblichkeit der Seele 82, 349 Unterweisung, kirchliche 21, 206, 319 - vgl. auch Religionsunterricht Unzucht 184 f. Uppsala 381 USA 59, 231, 346 - vgl. auch Amerika Vaterland 76, 79, 120 ff. Vatikanische Konzile 138,149,152,154, 372, 384 - vgl. auch Konzil Velbert 1, 34 Verbalinspiration 263 Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Deutschlands (VELKD) 29,104,106 f., 227,229,237, 250 - vgl. auch Kirchen, lutherische; Luthertum Vermißte 37 Vernichtungswaffen 341 - vgl. auch Atomwaffen Versailler Vertrag 76

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Versöhnung 75, 212, 307, 318, 379 Vertriebene 94f., 115, 126 - vgl. auch Flüchtlinge Verwaltungsunion 160f., 238 - vgl. auch Union Verzichtpolitiker 125 Vietnam 269, 282, 346 Vikare 15, 18, 20, 40 Vikarinnen 20 Visser't H o o f t , Willem A., Theologe 309 Vocation 26, 53 Völkerrecht 116, 302, 340 Völklingen 10 Vogel, Heinrich, Theologe 288 Volk 73 ff., 78, 83,90 ff., 96 f., 120,124, 175, 192, 211, 240 Volkskirche 162,256,260,288,299f„ 310, 369, 376, 378 ff. Volksmission 21, 24, 247 Wächteramt 74, 326 Währungsreform 3 9 , 4 2 , 4 4 f „ 47f„ 50f.,61 Weber, Hans Emil, Theologe 16 Wehr, Otto, Kirchenrat 30 Wehrpflicht 300 Weimarer Republik 79 Weißensee vgl. Berlin-Weißensee Weisser, Gerhard, Politologe 207 Weizsäcker, Carl Friedrich von, Physiker 272 Weltanschauung 79f., 84ff., 133,255,324, 361, 375 ff., 405 Weltbund, Lutherischer 106, 227, 231, 250 Weltbund, Presbyterialer 106 Weltbund, Reformierter 250 Weltkirchenkonferenzen 252, 293 f., 381 - vgl. auch Amsterdam; Evanston; Lausanne; Neu-Dehli; Ökumene; Ökumenischer Rat der Kirchen; Oxford; Stockholm; Uppsala Weltkriege 95,135,207,243,290,293, 300, 304, 372, 380, 382, 388 - vgl. auch Krieg Weltmissionskonferenzen 135, 139 Weltrat der Kirchen vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen Wenderoth, Dr., Rechtsanwalt 6 Wesel 21 Westdeutscher Rundfunk 325 Westen 89f„ 95f„ 120f„ 133,255,312ff„ 378 - vgl. auch Demokratie

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Index

Westfalen, Ev. Kirche 5, 7 ff, 18,20,23, 28 f., 34 f., 4 2 , 4 6 , 4 8 , 5 2 , 5 7 f „ 61,64 f., 100, 103 f., 110, 161, 261 Westmächte 89 Wettrüsten 320 Wetzlar 30, 45, 53 Wied 57 Wiederaufbau 2 ff., 23 ff., 30, 42, 126 Wiederaufrüstung 94f., 215, 312ff. Widerstandsbewegung 396 Wilson, Jain, Militärpfarrer 60 Wirtschaftsfragen 43 f., 208, 345 f., 370, 386 Wolf, Ernst, Theologe 16, 73 Wolfenden-Report 183 Wollermann, Hans, Oberkonsistorialrat 6

Worms 129, 214 Württemberg 11, 30, 36, 64, 330 Wuppertal 15f„ 30, 40, 42, 50 Wurm, Theophil, Bischof 29, 243 Zeichen der Zeit 107 Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 388, 401 Zimmermann, Wolf-Dieter, Pfarrer 96 Zivilisation 254ff., 271, 342, 371 Zonengrenzen 94 Zürich 59 Zukunftsplanung 337 Zweikampf 180 Zwei-Reiche-Lehre 211, 310, 402