Erinnerungen aus zwei Welten: Randglossen zur eigenen Lebensgeschichte [Reprint 2014 ed.] 9783110882094, 9783110031805

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Erinnerungen aus zwei Welten: Randglossen zur eigenen Lebensgeschichte [Reprint 2014 ed.]
 9783110882094, 9783110031805

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Vorwort des Verfassers
INHALTSVERZEICHNIS
I. Kindheit und Jugend
II. Studienjahre
III. Eintritt in die Welt
IV. Wanderungen und Wandlungen 1
V. Wanderungen und Wandlungen 2
VI. Wanderungen und Wandlungen 3
VII. Heimkehr und wieder in China
VIII. Akademische Wirksamkeit Hamburg 1
IX. Akademische Wirksamkeit Hamburg 2
X. Akademische Wirksamkeit Berlin 1
XI. Akademische Wirksamkeit Berlin 2
XII. Ausklang
Nachtrag

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O T T O

F R A N K E

ERINNERUNGEN AUS ZWEI WELTEN RANDGLOSSEN ZUR EIGENEN

W A L T E R

D E

LEBENSGESCHICHTE

G R U Y T E R

&

C O .

vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. BERLIN

1954

Ardiiv Nr. 33 54 54 Gedruckt bei Otto von Holten in Berlin

Vorwort

der

Herausgeber

Die vorliegenden „Erinnerungen aus zwei Welten. Randglossen zur eigenen Lebensgeschichte" befanden sich im Nachlaß des am j. August 1946 verstorbenen Verfassers. Aus technischen Gründen konnten sie erst jetzt gedruckt werden. Die Herausgeber haben das Manuskript im wesentlichen unverändert gelassen, aber einige Kürzungen vorgenommen, insbesondere in den Kapiteln V I I I bis X I . Gekürzt oder gestrichen wurden zumal Abschnitte über Vorgänge, die allgemein bekannt oder an anderer Stelle leicht nachlesbar sind — wie z . B . die Vorgeschichte der Hamburger Universitätsgründung in K a p . V I I I — , und politische Glossen, die heute zu Mißverständnissen Anlaß geben könnten. Die zuweilen vielleicht etwas abrupten Übergänge in den letzten Kapiteln sind diesen Kürzungen zuzuschreiben. Die Herausgeber glaubten jedoch, keine weiteren Änderungen am Manuskript mehr vornehmen zu sollen, dem freilich die letzte Überarbeitung durch den Verfasser selbst noch fehlte. Hamburg, den 2 9 . April

19J3. Olga Franke

Wolfgang Franke

Vorwort

des

Verfassers

Erst auf das Drängen meiner Angehörigen, einiger Freunde und zweier Verleger habe ich mich entschlossen, diese Erinnerungen niederzuschreiben. Wann sie einmal im Druck erscheinen können, ist zweifelhaft. Der Ausdruck „Zwei Welten" ist in dreifachem Sinne zu verstehen: i. räumlich als die westliche und die östliche Welt; 2. zeitlich als die Welt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, dem Beginn der Industrialisierung und Weltpolitik in Deutschland, und die Welt des 20. Jahrhunderts; 3. geistig als die Welt meiner Tätigkeit im praktischen Dienst und die Welt der akademischen Wirksamkeit. Was die zeitliche Trennung angeht, so würde ein anderer vermutlich die Zäsur anders gesetzt haben, etwa in das J a h r 1 9 1 8 wegen der Beseitigung der Monarchie in Deutschland oder 1 9 3 } wegen der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus. Ich habe den angegebenen Zeitpunkt gewählt, weil die einsetzende Industrialisierung mit ihren Folgen im Rahmen meines Lebens und seiner Gestaltung den Schnittpunkt bildet. Für den Inhalt der „Randglossen"

habe ich nicht immer ausreichende

Quellen gehabt, da mir meine Bibliothek hier nicht mehr zugänglich war. Ich bin im wesentlichen auf kurze Tagebuch-Aufzeichnungen meiner Frau und auf mein Gedäditnis angewiesen gewesen. Im übrigen mag man diese „Erinnerungen" für das nehmen, was sie sein wollen: Erinnerungen eines Mannes, der in einem langen Leben viele Verhältnisse kennengelernt hat, Beobachtungen, die er dabei machen konnte, und rein subjektive Erfahrungen, die sich daraus ergaben. Goethe sagte am 27. Januar 1824 zu Eckermann: „Das Leben eines deutschen Gelehrten, was ist es? Was in meinem Fall daran etwa Gutes sein möchte, ist nidit mitzuteilen, und das Mitteilbare ist nicht der Mühe wert. Und wo sind denn die Zuhörer, denen man mit einigem Behagen erzählen möchte?" Wenn das ein Großer sagt, wo kann da Platz f ü r die Kleinen sein? Ballenstedt, den 5. April 1945.

I N H A L T S V E R Z E I C H N I S

Seite

Vorwort der Herausgeber

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Vorwort des Verfassers

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I. Kindheit und Jugend II. Studienjahre

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III. Eintritt in die Welt

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IV. Wanderungen und Wandlungen 1

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V . Wanderungen und Wandlungen 2

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VI. Wanderungen und Wandlungen 3

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VII. Heimkehr und wieder in China

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VIII. Akademische Wirksamkeit Hamburg 1 Kolonialinstitut und Universität

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I X . Akademische Wirksamkeit Hamburg 2 Wissenschaft und Leben

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X . Akademische Wirksamkeit Berlin 1 Universität und Akademie

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X I . Akademische Wirksamkeit Berlin 2 Politik, Wissenschaft, Familie X I I . Ausklang Nachtrag

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I. Kindheit und Jugend Die Zeit meiner Geburt wird durch drei Ereignisse beherrscht, von denen das eine für meinen engsten Lebenskreis, das andere für den weiteren, das dritte für den weitesten von Bedeutung war. Am i . Oktober 1862 war mein Vater als Bürgermeister in das anhaltische Harzstädtchen Gernrode berufen worden. Er hatte sich dort ein großes Gartengrundstück gekauft und ein Haus darauf gebaut; unmittelbar nachdem dies Haus bezogen war, wurde ich dort am Sonntag, dem 27. September 1863 geboren. Wenige Wochen vorher, am 19. August, war der letzte Herzog von Anhalt-Bernburg, Alexander Karl, kinderlos gestorben. Damit fiel das letzte der anhaltischen Teilherzogtümer an die Dessauer Linie der Askanier, und das gesamte Herzogtum Anhalt war nunmehr in einer Hand vereint. Diese Vereinigung brachte umständliche staatswirtschaftlidie Auseinandersetzungen mit sich, in die auch mein Vater hineingezogen wurde und die deshalb für seine weitere amtliche Tätigkeit wichtige Folgen hatten. Nodi länger vorher, am 8. Oktober 1862, war Bismarck preußischer Ministerpräsident geworden und damit für Deutschland ein neues Zeitalter angebrochen. Schon seit der Mitte des Jahrhunderts hatte, den Liberalismus beiseite drängend, der nationale Gedanke emporzuwachsen begonnen. In Deutschland und in Italien schien er am meisten zu erstarken, und Bismarck sollte ihn zum glänzenden Siege führen. Diese Entwicklung bewegte nicht bloß die große deutsche Umwelt, sondern durch meine Eltern audi meine kleine auf das tiefste. Von diesen drei Ereignissen machte mir das erste, obwohl es mich am meisten anging, den geringsten Eindruck; denn als ich zum Bewußtsein erwachte, war das Haus da und somit etwas natürlich Gegebenes. Die Bedeutung der beiden anderen erahnte ich allmählich mit der wachsenden Erkenntnis, namentlich das dritte ergriff midi früh und stark. In dem Hause mit dem großen Garten — es steht heute nodi, wenn auch etwas ausgebaut — wuchs ich auf, zusammen mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester, in einer Umgebung, die nichts Ungewöhnliches hatte, aber mehr an Romantik besaß als wir — leider! — erfuhren. Gernrode hatte eine glänzendere und rühmlichere Vergangenheit als die weitaus meisten Orte von seiner Größe. Noch stand und steht heute die 1859 bis 1865 und 1908 bis 1 9 1 1 sachverständig wiederhergestellte herrliche Stiftskirche mit ihren beiden gewaltigen Rundtürmen. Markgraf Gero, von dem der Ort den Namen trägt, hatte sie einst um 963 als Mittelpunkt des von ihm begonnenen und nach dem Tode

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seines Sohnes 959 f ü r dessen junge Witwe weiter geförderten Jungfrauenklosters und der diesem übergeordneten Abtei errichten lassen und seine Schwiegertochter als Äbtissin eingesetzt. Der U m f a n g dieser Abtei, die gewöhnlich als „ S t i f t " oder auch als „ B u r g " bezeichnet wird, mit dem dazugehörigen Gelände läßt sich auch heute nodi an den freilich vielfach eingestürzten oder bis auf geringe Spuren beseitigten Mauerresten erkennen. Die Stiftskirche, eins der ältesten Bauwerke in reinstem romanischen Stil, w a r bis zu ihrer Wiederherstellung in unverantwortlicher Weise verwahrlost und mißhandelt worden; noch bis A n f a n g der siebziger J a h r e glich die Anhöhe, auf der sie stand, einem großen Müllhaufen. Sie w a r auf der Rüdeseite umgeben von halbzerfallenen Wirtschaftsgebäuden des Stiftes, auf der Vorderseite von einigen nicht viel besseren Wohnhäusern, das Ganze ein Bild trübseliger Verwahrlosung. Wir Jungen pflegten in den Trümmerhaufen „Räuber und Gendarmen" zu spielen oder sie sonst zur Stätte unseres wilden Getriebes zu machen. Allmählich aber wurde auch hier, wohl auf Veranlassung meines Vaters, die bessernde H a n d fühlbar: die baufälligen Häuser wurden abgetragen, der Kirchplatz erhielt durch Grünanlagen ein gepflegtes Ansehen und wurde durch eine aus gleichen Steinblöcken wie die Kirche gefügte Stützmauer nach der Straße abgeschlossen. So stellt sich die inzwischen zur Berühmtheit gelangte Gernroder Kirche heute in durchaus würdiger Umgebung dar. Leider wurde uns von der glanzvollen Geschichte unseres Heimatstädtchens, in dem namentlich unter den sächsischen Kaisern, auch nach Geros Tode 965, hohe Würdenträger des Reiches, Erzbischöfe und Bischöfe, selbst Kaiser und Königinnen schon wegen der Verbindung mit der benachbarten Abteistadt Quedlinburg aus- und eingegangen waren, in der Schule nichts mitgeteilt. Heimatkunde w a r noch kein Schulfach. Auch daß das Schulgebäude selbst, in dem uns Kindern die Elemente menschlichen Wissens nahegebracht wurden, auf altgeschichtlichem Boden stand, ahnten wir nicht, unsere Lehrer vermutlich auch nicht. D e r schlichte, zweigeschossig ausgebaute Langhausbau mit seinem klotzigen Turm w a r ursprünglich eine Kirche. Erst 1 8 4 7 w a r er zu einem Schulhause umgestaltet worden, vorher hatte er, wenn auch mehrfach erneuert, neben der Stiftskirche als Marktkirche f ü r die alte Handelssiedlung Rode (Geronisroth) gedient, die neben Burg und Kloster lag. Vielleicht w a r diese Marktkirche — so wird sie schon früh genannt — auch schon zur Zeit Geros vorhanden; darauf scheint wenigstens eine noch sichtbare sehr alte Unterkirche an der gleichen Stelle zu deuten. Von der alten Kirche steht nur noch der aus Feldsteinen erbaute viereckige Turm, der in seiner Plumpheit ganz den sonstigen mittelalterlichen Kirchtürmen der kleinen Harzorte gleicht. E r trug damals noch drei oder vier Glocken, die regelmäßig zusammen mit denen der Stiftskirche geläutet wurden. D a n k der vortrefflichen Akustik der umgebenden Waldberge entstand so ein besonders schönes Geläut, das wegen seiner weichen Harmonien berühmt w a r und mir heute noch als Stimme der Heimat im Ohre liegt. Jetzt sind die trauten Klänge verstummt: die Glocken sind den Bedürfnissen des ersten Weltkrieges zum O p f e r gefallen, der Schulturm bleibt 8

laudos und tot, wenn von den Türmen der Stiftskirche das übrig gebliebene dünne Gebimmel ertönt. Für uns Kinder hatte der Schulturm seinen besonderen Reiz, weil wir ihn mit stiller Duldung des Küsters, zugleich Schulwärters und Totengräbers, öfters bestiegen und sonntags diesem beim „Glockentreten" helfen durften. Idi muß bekennen, daß sich hiermit das Interesse erschöpfte, das wir den Zeugen frühmittelalterlicher Kunst und Lebensgestaltung entgegenbrachten. M a n konnte nicht erwarten, daß wir ihnen mehr Aufmerksamkeit zuwandten als die Erwachsenen, und diese waren davon völlig unberührt. Die Zeit, w o man nicht bloß die Vorväter in Liedern pries wie die Romantiker, sondern audi ihre Werke mit Ehrfurcht behandelte und schützte, war nodi nicht gekommen. In dem kleinen Harzstädtchen vollends fehlten dafür alle Vorbedingungen. Es lag noch in ungestörter Weltabgeschiedenheit: die Eisenbahn drang erst 1868 über Frose hinaus bis Ballenstedt vor, w o man das neumodische Scheusal nicht haben wollte und zwei Kilometer vor der Stadt, bei dem heutigen OstBahnhof, als Sackbahn enden ließ; erst 1885 wurde sie über Gernrode bis Quedlinburg verlängert. Eine Telegraphenlinie wurde erst unmittelbar vor oder nach dem französischen Kriege gelegt, den Verkehr mit der Außenwelt vermittelte ein mit vier Pferden bespanntes Ungetüm von gelbem Postwagen, der täglich von Quedlinburg über Gernrode, Harzgerode, Wippra nach Sangerhausen am Südrande des Harzes rattelte. Ich habe die achtstündige Fahrt von Gernrode ab zweimal genießen dürfen, einmal 1880 und einmal etwas später. Die alltäglichen städtischen Bedürfnisse der Gernröder befriedigten zwei Botenfrauen, die zweimal in der Woche mit einem Hundefuhrwerk nach dem 7V2 km entfernten Quedlinburg fuhren und dort Besorgungen ausführten. Quedlinburg w a r „die Stadt", w o ich mit Staunen die ersten Gaslaternen erblickte, die so hell waren, daß am Abend noch Leute in den Straßen herumgingen, während wir in Gernrode zur Zeit meiner frühesten Kindheit nodi Rüböllampen ( „ ö l f u n z e l n " ) brannten, bis die Petroleum-Lampen kamen, von denen dann sogar in den Straßen ein Dutzend sich erfolglos bemühte, die Finsternis zu durchbrechen. Aber Quedlinburg w a r preußisch, und das wirkte etwas kühlend auf die nachbarlichen Gefühle. Nicht, daß in Anhalt eine preußenfeindliche Gesinnung geherrscht hätte — im Gegenteil! — , aber man gehörte doch eben einem anderen „ L a n d e " und Staate an und hatte daher in V e r w a l tung und Justiz keinerlei Gemeinsamkeit der Interessen. Die Kleinstaaterei mit ihrer territorialen Gemengelage trieb gerade im Harzgebiet seltsame Blüten. Das j km östlich von Gernrode gelegene Ballenstedt, nicht sehr viel größer als dieses, w a r anhaltische Kreisstadt und Sitz des zuständigen Kreisgeridits, das im Westen unmittelbar anschließende Bad Suderode w a r preußisches D o r f . Wanderte man am Nordrande des Gebirges weiter nach Westen, so gelangte man über das preußische Thale bei Blankenburg in das Braunsdiweigisdie, bei Wernigerode in die Grafschaft Stolberg und bei Goslar (wenigstens vor 1866) nach Hannover. Fuhr man mit der neuen Eisenbahn von Ballenstedt nach Osten, so w a r schon die nächste Station, Ermsleben, preußisch, die folgende, das 9

der Abtei Gernrode einst unterstellt gewesene Frose, anhaltisdi, die nächste, Aschersleben, wieder preußisch, dann kam man aufs neue in anhaltisches Gebiet und so in fröhlichem Wechsel weiter. Überquerte man den Harz von Norden nach Süden, so zeigte sich das gleiche Bild. Die Bahn allein kümmerte sich nicht um das Gemengsei, sie war preußischer Besitz, aber Privateigentum. Mit Ausnahme von Stolberg-Wernigerode war jedes dieser Gebilde souverän, hatte seine eigenen Postwertzeichen, eigene Währung in „Silber-" und „guten Groschen", Gulden und Talern und teilweise sogar eigene Maße und Gewichte. Den größten Vorteil davon hatten die flüchtigen Landstreicher und Langfinger: hatte einer von ihnen den grün-weißen Grenzpfahl passiert, so konnte er dem Polizisten auf der anderen Seite eine Nase drehen. Die Einwohnerschaft der Gero-Stadt, zum größten Teil aus Acker- und Kleinbürgern bestehend, unter denen sich ein paar zugezogene wohlhabende Kaufleute und Handwerksmeister der schönen Umgegend wegen als „Rentiers" niedergelassen hatten, führte ein der Lage entsprechendes Stilleben. Die Männer erörterten am Biertisch die Ertragsaussiditen ihrer Ackerstücke — jedes Haus hatte seine „Hauskabel", d. h. Hauskoppel, die aber meist außerhalb des Ortes lag —, Gärten und Viehställe, die Maßnahmen des neuen Bürgermeisters und die sonstigen Ereignisse des Tages. Die Frauen taten dasselbe auf ihre Art in Kaffeekränzchen auf dem geblümten Sofa und den Plüschstühlen mit gehäkelten Deckdien in der „guten Stube", wo Daguerrotypen mit getrockneten Blumenkränzen die Wände schmückten. Der Fensterspiegel zwischen den zurückgenommenen Gardinen ergänzte mit den Ereignissen der Straße den Gesprächstoff. Mein Vater bemühte sich eifrig und nicht ohne Erfolg, eine etwas weiter greifende Geselligkeit ins Leben zu rufen, indem er zunächst die „Honoratioren", den Apotheker, ein paar Pastoren, einige Kaufleute u. a. zu einem Kerne zusammenfaßte, um den sich dann allmählich ein weiterer Kreis schloß. An bestimmten Wochentagen fanden gemeinsame Ausflüge in die Umgegend statt, und hierbei entwickelte sich meist eine etwas inhaltvollere Unterhaltung, zu der die Zeitereignisse bald reichlichen Stoff liefern sollten. Ich habe an diese Ausflüge manche freundliche Erinnerung behalten. Unter verschiedenen Originaltypen, wie sie jede Kleinstadt besitzt, befand sich auch ein neunzigjähriges Fräulein, das in Weimar, wo ihre Schwester in der Familie von Egloffstein die Kinder betreute, noch mit Goethe und sogar mit Schiller gesprochen hatte. Sie war von erstaunlicher Frische und Lebhaftigkeit und liebte es sehr, von ihren Weimarer Erlebnissen zu erzählen. Ich war allmählich reif genug geworden, um von den Schilderungen der alten Dame, die mir wie ein Überbleibsel märchenhafter Herrlichkeit erschien, einen bleibenden Eindruck zu empfangen. Von den erwähnten Zeitereignissen, die den Gernrodern etwas gewichtigeren Gesprächstoff lieferten, wurde zunächst und am meisten mein Vater betroffen. Wie ich bereits sagte, war im August 1863 der Herzog Alexander Karl von Anhalt-Bernburg ohne Nachkommen gestorben, und die staatsrechtlichen Folgen waren die erwähnten. Die verwitwete Herzogin Friederike, eine Prinzessin 10

von Holstein-Glücksburg, behielt ihren Wohnsitz in dem Schloß von Ballenstedt. Sie war eine Frau von reicheren Herzens- als Geistesgaben und beschränkte sich darauf, ihrer näheren und weiteren Umgebung Wohltaten zu erweisen, soweit sie es vermochte. Die Vereinheitlichung der anhaltischen Fürstentümer brachte es mit sich, daß Klarheit in das Domänialverhältnis zwischen dem herzoglichen Hause und dem Lande gebracht werden mußte. Ursprünglich war ein Drittel des ganzen Landes Grundbesitz des Herzogs. Die Einkünfte dienten zur Bestreitung der Hofhaltungs- und Regierungskosten; erst 1848 war die Staatskasse von der herzoglichen getrennt worden. Bald nach 1863 begannen Verhandlungen über eine reinliche Scheidung zwischen herzoglichem Privateigentum und Staatseigentum. Nodi 1866 erhob das herzogliche Haus Anspruch auf alle seit 1603 gemachten Erwerbungen an Gütern und Forsten als Privateigentum. Dieser Regelung widersprach der Landtag, und nun begannen lange und verwickelte Verhandlungen über eine neue Substanzialteilung auf anderer Grundlage. Mein Vater, der sich durch seine wohlwollende, aber energische und rücksichtslos für Gerechtigkeit eintretende A r t rasch das Vertrauen der Bevölkerung in Stadt und Land erworben hatte, wurde hierbei in den Landtag gewählt und vertrat dort nicht bloß die Interessen des Landes, sondern auch die der ihm anvertrauten Stadt. Erst 1869 kam in Dessau eine Einigung zustande, in der dem herzoglichen Hause eine bestimmte Anzahl von Domänen, Forsten, Einzelgrundstücken, Schlössern und Parkanlagen überwiesen wurde, das übrige dem Staate verblieb. Die Auseinandersetzungen zogen sich dann noch bis 1871 hin. D a ß die Verhandlungen teilweise sehr erregt gewesen sein müssen, konnte ich auch den lebhaften Unterhaltungen entnehmen, die mein Vater zwischen seinen häufigen Fahrten nach Dessau in Gernrode und Ballenstedt mit verschiedenen seiner Wähler und audi mit meiner Mutter führte. Idi bekam dabei mehr zu hören, als ich verstand und als mich ansprechen konnte. Im Laufe der Verhandlungen hatte mein Vater Gelegenheit, auch für die Stadt Gernrode etwas zu erreichen, was von beträchtlichem Nutzen für sie war. Ein Teil der großen Forsten auf dem Höhenrücken des Rambergs — Eichen-, Buchen- und Tannen-Hochwald — war seit Alters im Besitz der Gemeinde gewesen. Im Laufe der Zeit sdieinen sich aber die Eigentumsverhältnisse verwischt zu haben, jedenfalls beanspruchte bei der Teilung der Fiskus diesen Waldteil. Es gelang meinem Vater, den Anspruch der Stadt durchzusetzen und die Regierung zur Zahlung einer A b findungssumme von 40 000 Talern zu bewegen, durch die der wenig begüterten Gemeinde die Möglichkeit gegeben wurde, Verbesserungen an Straßen und Plätzen vorzunehmen. Die Landtagstätigkeit sollte mittelbar später noch weitere Folgen für meinen Vater und damit für uns haben. Aber inzwischen traten Ereignisse ein, die der deutschen Welt allmählich ein anderes Aussehen gaben, und die anschwellenden Wogen draußen pflanzten sich bis in das Stilleben der kleinen Harzorte fort. Mit dem Ministerium Bismarck war die große Frage der Zeit, das Werden des deutschen Staates und Volkes, nach dem die Sehnsucht der letzten fünfzig Jahre hingedrängt hatte, II

in stärkere Bewegung gekommen. Nachdem 1864 die schleswig-holsteinische Frage durch den Krieg gegen Dänemark gelöst, 18 66 die Auseinandersetzung mit Österreich erfolgt w a r , harrte man begierig auf die weitere Gestaltung der Dinge durch Preußen. Von den beiden Kriegen w a r noch nichts in mein Bewußtsein gedrungen, nur erinnere ich mich, daß einer der vielen Hausierer, die Waren aller A r t , von den noch sehr seltenen Apfelsinen bis zur schlesischen Leinwand, den Bunzlauer T ö p f e n und den slowakischen Mausefallen, an den Türen anboten, schöne bunte Taschentücher mit Abbildungen vom Sturm auf die Düppeler Schanzen, dem Ubergang nach Alsen, den Schlachten bei Trautenau und Königgrätz feil hielt, die meine ganze Bewunderung erregten (heute sind solche Taschentücher hoch bezahlte Sammelgegenstände). D a sie guten Absatz fanden, läßt sich annehmen, daß die Gernroder mit den Zeitereignissen rüstig Schritt hielten. Aber bald wurde das alles überschattet durch den Ausbruch des großen deutsch-französischen Krieges 1870, der die unvermeidliche Folge dessen w a r , was Bismarck, dessen Namen längst in aller Munde lebte, in Vorbereitung des deutschen Einigungswerkes erreicht hatte. Und hier zeigt meine Erinnerung hellere Bilder. Es w a r an einem Sonntag im Juli, daß meine Mutter meinem Bruder und mir, als wir vom Spielen auf der Oberförsterei H a f e r f e l d zurückkehrten, mit dem angstvollen R u f e entgegenkam: „Es gibt K r i e g . " Viel Konkretes konnte idi mir dabei noch nicht denken, aber bald merkten wir, was es damit auf sich hatte. Es gab Einquartierung durchziehender Truppen, Aushebung von Mannschaften und Gestellung von Pferden in Ballenstedt. Gewaltig imponierte mir ein Feldartillerie-Regiment, das auf der großen Heerstraße Nordhausen—Quedlinburg heranrückte, um in Quedlinburg verladen zu werden. Das Städtchen geriet allmählich in fieberhafte E r regung. Mein Vater w a r natürlich stark beschäftigt; den größten Teil des Tages weilte er auf dem Rathause, befand sich aber auch viel unterwegs. E r hatte eine fast schwärmerische Verehrung f ü r Bismarck und war, obwohl von Geburt Anhaltiner, preußisch bis auf die Knochen, wie ja das anhaltische Land sich die ganze Krisenzeit hindurch zu Preußen gehalten hatte (was bei seiner erwähnten Streulage allerdings auch selbstverständlich war). Es w a r im Januar 1866 aus dem Deutschen Bunde ausgetreten, hatte ein Bündnis mit Preußen geschlossen und mit ihm an dem Feldzuge gegen Österreich teilgenommen. Das Infanterie-Regiment, das in den anhaltischen Städten lag, w a r preußisch. Die preußische Luft, die in unserem Hause wehte, hat stark zur Formung des politischen Menschen in mir beigetragen: obwohl ich neben der anhaltischen Staatsangehörigkeit später auch die hamburgische erwarb, habe ich mich dodi stets als Preuße gefühlt und der Uberzeugung gelebt, daß es ohne Preußen kein Heil f ü r Deutschland gibt. Als bei Kriegsausbruch der ganze Süden mit in die gemeinsame Front einschwenkte, als dann die ersten Nachrichten von den Siegen bei Weißenburg, Wörth und Spichern eintrafen und unter Moltkes Leitung die deutschen Heere unaufhaltsam in Frankreich gegen Paris vordrängten, da flammte auch in dem

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stillen Städtchen die Begeisterung auf und riß uns Jungen mit. Schon die Schule sorgte dafür. Unsere Lehrer zeichneten die Schlachtpläne an die Wandtafel, schilderten die Heldentaten der Truppen und suchten uns eine Vorstellung davon zu geben, was die Entwicklung, vor allem die gemeinschaftliche Kriegführung aller deutschen Stämme, bedeute und in Zukunft nodi weiter bedeuten könne. Die Nachrichten vom Kriegsschauplatz in Form von „Telegraphischen Depeschen" brachte, wenn ich midi redit erinnere, die Post von Quedlinburg mit, und in Gernrode wurden sie als „Bulletins" am Postgebäude auf dem Marktplatz angeschlagen, wo die Einwohnerschaft sie gierig verschlang. Es war eine völlig spontane Hochstimmung, die alle beherrschte und keiner behördlichen Förderung bedurfte. Wenn am Abend nach dem Eintreffen einer Siegesnachricht große „Illumination" stattfand, hatte auch die bescheidenste Arbeiterfamilie ihre Stearin-Kerzen in die Fenster gestellt. Die das gesamte Volk durchflutende Empfindung, daß es nun endlich eine Nation würde und nach den Jahrzehnten der Ohnmacht wieder am Weltgeschehen teilhaben könne, strömte bis in das entlegenste Dorf und brandete audi durch die stillen Täler des Harzes. Der Krieg selbst vollzog sich nodi innerhalb der Schranken, die von völkerrechtlichen Abmachungen gezogen waren, und daher in ritterlichen Formen. Es fehlten Verhetzung, Rechtsbrüche, Konzentrationslager und Meuchelmord. Dafür gab es humorvolle Volksweisen wie das köstliche „König Wilhelm saß ganz heiter" oder das Lied des „Füsiliers Kutschke" : „Was kraucht denn da im Busch herum?", von denen niemand wußte, woher sie kamen, die aber noch öfter als „Die Wacht am Rhein" und überall im Lande, sogar in den Schulen gesungen wurden. Die Weltkriege haben nichts derartiges hervorgebracht. Eines Nachmittags wurde eine Abteilung von mehreren hundert französischen Kriegsgefangenen, die in Quedlinburg untergebracht waren, nach Gernrode und auf den Stubenberg mit seiner prächtigen Aussicht geführt. Ob dieser Spaziergang zu dem Zwecke veranstaltet war, die Franzosen den Einwohnern zur Ansicht vorzustellen oder aber ihnen selbst eine Abwechselung zu bieten, weiß ich nicht. Jedenfalls ging es bei dem Ausfluge sehr lustig her: die Gefangenen tummelten sich unbehindert an den Hängen des Stubenberges, wir durften ihnen Zigarren, Obst u. ä. reichen und erhielten dafür Uniformknöpfe und andere kleine Andenken. Nirgends fiel ein böses Wort. Das Menschliche war von der Kriegstechnik noch nicht so völlig verschlungen wie jetzt. Höhepunkte in der Begeisterung bildeten natürlich die Kapitulation von Sedan, die Gefangennahme des Kaisers Napoleon, die Kaiserkrönung in Versailles und die Heimkehr der siegreichen Truppen. In Gernrode fand ein feierlicher Empfang auf dem Marktplatz statt, wobei mein Vater eine patriotische Rede hielt. Ich konnte das Ganze mit klopfendem Herzen genießen, nachdem mich der freundliche Polizeiwachtmeister hinter meinen Vater auf die Rednertribüne geschoben hatte. Der Sedan-Tag (2. September) wurde zum nationalen Feiertage erklärt und gleich bei seiner ersten Feier auf dem Schulplatze im Beisein aller Schüler die Friedenseiche gepflanzt, die heute als mächtiger Baum ein

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würdiges Erinnerungszeichen an den Frankfurter Frieden vom ι o . M a i 1871 „und das damit begründete Deutsche Kaiserreich" ist. In dieser Umwelt habe ich die ersten elf Jahre meines Lebens verbracht, in ihr die ersten bleibenden Eindrücke in meinem Wesen empfangen. Diese Jahre verliefen nicht anders als jede normale Kindheit eines gesunden Knaben in einer kleinen Stadt. Meine Mutter erklärte zwar oftmals, daß ich „skrofulös" und von zarter Gesundheit sei; worin aber die Skrofulose bestand, habe ich nicht ergründen können, und die Zartheit meiner Gesundheit ist in meinem langen Leben niemals offenbar geworden. Ich gehörte zu den Kindern, die Phantasie genug haben, um audi allein mit Hingebung spielen zu können. Am liebsten freilich spielte ich zu zweien, aber dazu waren mir nur sehr wenige meiner Altersgenossen passend; wir haben dann aber, wenn die Lage es erlaubte, stunden- und selbst tagelang mit Baukasten und Soldaten gespielt. Bei den Gemeinschaftspielen waren nach 1870 an die Stelle von Räubern und Gendarmen Deutsche und Franzosen getreten. Auf die Dauer liebte ich aber dieses stürmische Gehabe nicht, wie idi denn auch niemals ein Freund der ewigen Balgereien war und wurde, wie sie mangels eines Besseren bei Jungen beliebt sind, die nicht zu spielen verstehen. Idi halte die oft gehörte Ansicht, daß gesunde Jungen sich hauen müssen, für falsch. Der pädagogische Wert dieser Hauerei ist hödist fragwürdig; ich habe nicht beobachtet, daß solche Raufbolde besonders leistungsfähig geworden wären, wohl aber weiß idi von sinnigen, allem Spektakel abholden Kindern — meine eigenen Söhne haben dazu gehört —, die aufrechte und furchtlose Männer geworden sind. Viel geistige Anregung habe ich in meinem elterlichen Hause nicht gehabt. Mein Vater war ein Mann, der auf strenge Zucht und widerspruchslose Ordnung hielt — idi bin ihm für die dadurch erhaltene Erziehung von Herzen dankbar —, wegen seiner Amtsgeschäfte war er aber wenig daheim und hatte nicht Zeit, sich viel um uns Kinder zu kümmern. Für jugendlichen Überschwang hatte er kein Verständnis, Kinder waren ihm kleine Menschen, die genau wie die Alten die ihnen zugemessenen Pflichten zu tun hatten. Meine Mutter war eine vorzügliche Hausfrau, die, wo es ihr gut schien, die Strenge des Vaters zu mildern suchte, oft aber sie auch als Drohmittel benutzte. Im Hause ging es nüchtern und sparsam zu. Unter den Verwandten, die oft zu Besuch kamen, waren mehrere, die mir lieb wurden und denen ich gern mein Herz aufschloß. Die Schule der Stadt setzte sich zusammen aus einer vierklassigen Volkssdiule und einer sogenannten „Frühschule", die diesen Namen trug, weil der Unterricht in ihr bereits um 6 Uhr früh begann für die Arbeiterkinder, die nachher im Hause benötigt wurden. Außerdem schloß sich aber noch eine „Rektorschule" an, die zwar nur aus einer Klasse bestand, in der aber den Unterricht der akademisch gebildete Rektor erteilte, bis zum Jahre 1875 immer ein Theologe, und zwar der zweite Diakonus der Stiftskirche. Hier war auch das Französische Lehrfach, die Knaben konnten sogar in den Anfängen des Lateinischen unterwiesen werden. Sonst war der Unterricht für Knaben und Mädchen gemeinsam. Die Schule war die gerade Fortsetzung der

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um ι j 30 unter dem Einfluß der Reformation errichteten Volksschule, die ihrerseits wieder an die Stelle der verfallenen alten Kloster- oder Stiftschule f ü r adlige Fräulein getreten war. Gelegentliche Ausflüge der Schule sowie die regelmäßigen der „Gesellschaft" mögen die Ursache gewesen sein, daß idi am Wandern in der freien Natur das größte Gefallen fand, und dabei faßte idi zu dem Walde und den Bergen eine immer stärker werdende Liebe. Diese Freude am Wandern und eine leidenschaftliche Liebe zum Walde haben midi nidit mehr losgelassen und bis in das hohe Alter begleitet. Da die Gernroder Schule, abgesehen von der „Rektorklasse", nicht über die Ziele einer vierklassigen Volksschule hinausreichte, jene aber auch eben nur nodi die Quinta-Reife vermittelte, so waren die Eltern, die mit ihren Kindern höher hinaus wollten, genötigt, sie auf auswärtige Schulen zu bringen. Ballenstedt besaß gleichfalls keine gymnasiale Vollanstalt, und so blieb als nächste Zuflucht nur das preußische Quedlinburg. Dorthin war auch mein Bruder bereits 1873 verpflanzt worden, und idi folgte im Herbst 1874 nach. Da die knappen Mittel meines Vaters nicht weiter reichten, wurden wir, wie übrigens noch manche andere, bei einem biederen Schneidermeister in „Halbpension" gegeben, d. h. wir erhielten außer zwei kleinen Zimmern, die wir mit einem dritten Knaben zu teilen hatten, das Mittagessen; für Frühstück und Abendessen mußten wir selbst sorgen. Wir waren weniger als ein Dutzend Jungen aus Gernrode, die auf auswärtigen Schulen höheren Zielen zustreben sollten, allzu stark scheint also das Bildungsbedürfnis unserer Heimatstadt nicht gewesen zu sein. Für gewöhnlich pflegten wir am Wochenende (der von England gekommene Ausdruck existierte allerdings damals noch nicht), d. h. sonnabends nach Schulschluß unsere Ranzen zu schnüren und, da keine Eisenbahn vorhanden war, nach Hause zu wandern, ein etwas einförmiger Weg von 7V2 km. Sonntagabend wurde der Rückmarsch angetreten, Unbilden des Wetters hielten uns nicht ab; nur einmal weiß meine Erinnerung, daß wir wegen eines wütenden Schneesturms alle auf einen Lastschlitten verladen und zurückgefahren wurden. Da wir wiederholt in den Schneewehen steckenblieben, kamen wir erst zu später Stunde im Dunkel halb erfroren in „der Stadt" an. Das Quedlinburger Gymnasium war eine humanistische, von dem bekannten Schulmann August Diehle vortrefflich, aber sehr streng geleitete Anstalt, die ihrer Aufschrift zufolge Doctrinae, Sapientiae, Pietati gewidmet war. Zu unserer sonnabendlichen Heimwanderung z. B. bedurfte es jedesmal ausdrücklicher Genehmigung; bei schlechten Klassenleistungen wurde sie verweigert. Ich wurde im Herbst in die Quinta aufgenommen — ein halbes Jahr früher als ursprünglich geplant war — und Ostern in die Quarta versetzt, so daß ich gleich zu Beginn ein Jahr meiner Schulzeit sparte, ohne daß mein Vater es gewollt und idi es gewußt hatte. Der Unterricht war ausgezeichnet, ich habe im Lateinischen und im Griechischen in Quedlinburg eine gute Grundlage erhalten, die mir nachher sehr zustatten gekommen ist. Vortrefflich war auch der Turnunterricht, eine rühmliche Ausnahme in der damals allgemeinen gröblichen Vernachlässigung der Leibesübungen. Unser Turnlehrer, ein ebenso schöner wie starker und ij

allezeit fröhlicher Mann, den wir hoch verehrten, zeigte uns die Übungen und ließ uns dann volle Freiheit, sie miteinander durchzuarbeiten. Idi halte diese Methode für weit gewinnbringender als jene unangebrachte, ständig reglementierende Schulmeisterei, in der Regel von Lehrern, die selbst nichts können, durch die den jungen Menschen schließlich jedes Turnen verleidet wird. Ich habe sie später zur Genüge kennengelernt und beobachtet, wie kümmerlich die Ergebnisse waren. Wenn ich trotzdem ein guter Turner und Vorturner gewesen bin, so verdanke ich dies in erster Linie dem Unterricht in Quedlinburg. Jeder gesunde Knabe fühlt die Neigung, sich turnerisch zu versuchen, und er wird seine Fähigkeiten rasch entwickeln, wenn man ihm die richtigen Anregungen und Hilfen gibt. Durch die Quedlinburger Methode wurde in jedem von uns der Ehrgeiz geweckt, körperliche Kraft und Gewandtheit zu erwerben und es darin anderen gleich- oder zuvorzutun. Die Folge war, daß wir mit Liebe, zum Teil mit Leidenschaft auch außerhalb der Turnstunden übten und viele auch daheim Turngeräte hielten, wo es irgend anging. Alles das läßt sich erreichen ohne das Brimborium der Sportfexerei. Audi für guten Schwimmunterricht in der Bode war gesorgt. Von Quedlinburgs ruhmvoller Vergangenheit unter den sächsischen Kaisern und der ehemals so berühmten Abtei haben wir freilich auch dort in der Schule nichts erfahren, ebenso nichts von den großen Söhnen der Stadt, von Klopstock und Karl Ritter, dem Geographen, mit dem ich midi später viel beschäftigen sollte. Leider war unser Aufenthalt in der schon damals sehr wohlhabenden und gepflegten Stadt nur von kurzer Dauer. In der amtlichen Wirksamkeit meines Vaters hatte sich inzwischen eine einschneidende Veränderung vorbereitet. Durch seine Tätigkeit im Landtage hatte er das Augenmerk der Regierung auf sich gelenkt, und diese bemühte sich alsbald, ihn in den Staatsdienst hinüberzuziehen. Nach längerem Zögern willigte mein Vater ein, das ihm angebotene Amt eines Direktors der Landesstrafanstalt in Coswig zu übernehmen. Im Sommer 1876 siedelte die Familie nach dorthin über, und mein Vater ist in dieser Stellung, die eine erhebliche materielle Verbesserung war, bis zu seinem Tode 1889 geblieben. Mein Bruder und ich mußten, damit wir den Eltern näher wären, das Gymnasium von Quedlinburg mit dem von Zerbst vertauschen, wo wir im Frühjahr 1876 in die Tertia aufgenommen wurden. Zerbst war damals eine stille, verkehrschwache Stadt von etwa 13 000 Einwohnern, die noch eine von 1430 bis 1434 erbaute, aber gut erhaltene Mauer mit Wehrgängen, Toren und Türmen aufwies. Sie hatte einst bessere Tage gesehen, wovon der geräumige Markt mit seinem imposanten Rathause, die über Verhältnis großen Kirchen und die stattlichen Patrizierhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert Zeugen waren. (Jetzt ist durch den Krieg alles in Schutt und Trümmer verwandelt.) Nicht ganz mit Unrecht hat man Zerbst ein anhaltisches Rothenburg genannt. Bis 1793, dem Erlöschen der fürstlichen Linie Anhalt-Zerbst, war die Stadt Residenz gewesen und besaß noch ein übermäßig großes, aus einem Mittelflügel und zwei Seitenflügeln bestehendes Schloß in barock-hugenottischem Stil, das von 1681 bis 1750 erbaut war und seine französischen Vorbilder verriet. Es lag inmitten eines etwas 16

vernachlässigten Parkes und war die Heimat der Kaiserin Katharina von Rußland, die eine Zerbster Prinzessin gewesen war. (Auch das Schloß ist fast völlig zerstört.) So sehr mir die alte Stadtmauer mit ihren wehrhaften Türmen und die sechs Tore mit ihren zum Teil erhaltenen Befestigungen behagten, so schmerzlich vermißte idi Berge und Wald, denn die Umgebung von Zerbst besaß außer einigen sandigen Kiefernschlägen nichts von beiden. Die Schule, auf die wir kamen, das herzogliche Francisceum (so genannt nach ihrem eigentlichen Gründer, dem Fürsten, späteren Herzog Leopold Friedrich Franz, dem „Vater Franz" von Anhalt-Dessau), war ein humanistisches Gymnasium alten Stils. Es konnte auf eine lange und bewegte Geschichte zurückblicken. Seine Wurzeln reichen bis tief in das 16. oder gar 15. Jahrhundert hinein, und hervorgegangen ist es aus zweimaliger Verbindung von zwei Lehranstalten. Schon vor der Reformation bestanden in Zerbst zwei Schulen: die St. Bartholomaei-Schule unter fürstlichem und die St. Nicolai-Schule unter städtischem Patronat; beide waren infolge der oft gespannten Verhältnisse zwischen Fürst und Stadt scharf von einander getrennt. Die Nicolai-Schule wuchs über ihre Konkurrentin hinaus und wurde, wohl aus räumlichen Gründen, 1532 in das im Jahre vorher aufgehobene Barfüßer-Kloster von St. Johannes verlegt. Im Jahre 1581 begann der Fürst Joachim-Ernst mit dem Rate der Stadt über eine Zusammenlegung der beiden Schulen zu verhandeln, und das Ergebnis war die Gründung eines Illustre Gymnasium Anhaltinum, das am 30. Januar IJ82 feiérlich eröffnet wurde, nachdem die Klosterräume dafür baulich hergerichtet waren. Verbunden mit dem Gymnasium war eine sogenannte „Trivialschule", die aus sieben, später aus zehn Klassen bestand und eine Art Vorschule für die halb akademische Gelehrtenschule war. Sie erhielt den Namen St. JohannisSchule und überflügelte das Gymnasium allmählich so, daß es nicht mehr lebensfähig blieb. Aber auch die St. Johannis-Schule verfiel während des dreißigjährigen Krieges, besonders nachdem 1644 die St. Bartholomaei-Schule neu gegründet war, und das Gymnasium wurde schließlich als tote Hülle 1798 aufgehoben. Die gesamte Unterrichts-Organisation lag im Argen, bis der neue Landesherr, Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, dem nach dem Aussterben von Anhalt-Zerbst im Jahre 1793 bei der Erbteilung zwischen Dessau, Kothen und Bernburg das Zerbster Gebiet zugefallen war, die verfallenen Räume des Klosters neu umbauen ließ und auf den Grundlagen des Gymnasium Illustre und der St. Johannis-Schule eine völlig neue einheitliche Unterrichtsanstalt errichtete, die 1803 eingeweiht wurde und 1836 nach ihm den Namen Francisceum erhielt. In der Stadt freilich hieß sie allgemein „das Kloster". Mit der neuen Anstalt wurde ein „Pädagogium" verbunden, d. h. ein Internat für zunächst sechzehn Schüler, die dort verpflegt und erzogen wurden. Es hat zeitweilig einen rühmlich und weit bekannten Namen gehabt, aber über vierzig scheint die Zahl der Alumnen nie hinausgegangen zu sein. Zu meiner Zeit hatte es seinen Höhepunkt erreicht; viele Familien des Landadels hatten ihre Söhne dort, und zahlreiche bekannte Namen standen bei unserem Eintritt auf den Schülerlisten: Devrient, v.Katte, v.Lützow, v.Raumer, Spielhagen, v. Wuthenau u.a. sind mir in der Er2 Franke, Erinnerungen

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innerung geblieben. Die Alumnen zeichneten sich denn audi damals gegenüber den in der Stadt wohnenden Schülern durch ein starkes Überlegenheitsgefühl aus. Im ganzen hat aber das „Pädagogium" den ursprünglichen Absichten und Erwartungen nicht entsprochen. In den achtziger Jahren klagte man über Mißstände, die Zahl der Zöglinge sank beständig, 1890 waren es nur noch elf, und da infolgedessen die Ausgaben nicht mehr durch die Einnahmen gedeckt wurden, erfolgte am 1. April 1891 seine Aufhebung. Neben dem Gymnasium war vor kurzem eine „Realschule zweiter Ordnung", d. h. eine Anstalt mit Latein, aber ohne Griechisch und mit stärkerer Betonung von Mathematik und Naturwissenschaften eröffnet worden, die mit der Sekunda abschloß und demselben Direktor unterstand. Es war ein mit Widerstreben unternommener schwacher Versuch, dem beginnenden Zuge der Zeit nachzugeben, der verlangte, daß die höhere Schule mehr den „praktischen Bedürfnissen" dienen sollte. Sehr bald wurde man bekanntlich weniger schüchtern: man gründete mehr und mehr neue Anstalten, die sich vom humanistischen Gymnasium scharf absetzten, und wollte dieses schließlich wegen seines „Ballastes toter Sprachen" als eine überlebte Angelegenheit ganz abtun. Das Problem ist auch heute noch nicht ganz gelöst, aber das erste Viertel des 20. Jahrhunderts hindurch gab es in Hamburg große K a u f mannshäuser, die bei der Einstellung von Lehrlingen Abiturienten von humanistischen Gymnasien den Vorzug vor allen anderen Bewerbern gaben. So ganz scheint also der Sinn für das Praktische dort doch nicht abgetötet worden zu sein. Wir Humanisten im „Kloster" von Zerbst sahen auf die Realschüler als „Barbaren" herab. Die Geschichte des Francisceums lebte noch in den reichlich vorhandenen Oberresten aus der alten Zeit. Kreuzgänge, mehrere große Kreuzgewölbe, die hohen gotischen Fenster der Kirche und ein achteckiger Treppenturm (dessen Alter mir aber zweifelhaft ist) waren in den neuen Umbau einbezogen. Ein runder Befestigungsturm der anstoßenden Stadtmauer könnte auch mit dem Kloster in Verbindung gestanden haben. Der Lehrplan war, deutlicher noch als in Quedlinburg, der des alten humanistischen Gymnasiums. Es gab noch den lateinischen Aufsatz, Anfertigung lateinischer Gedichte, die letzten, freilich sehr spärlichen Reste einer lateinischen Klassensprache und besonders hoch gesteckte Ziele in den beiden klassischen Sprachen. Der Unterricht in neueren Sprachen war schwach, Englisch und Hebräisch nach Wahl, die Naturwissenschaften fehlten so gut wie ganz, ebenso die Geschichte seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch auf das uns umgebende deutsche Mittelalter, dessen Reste uns unmittelbar ansprachen, wurde im Unterricht kein Bezug genommen. Die Gleichgültigkeit, mit der man damals an den Zeugen einer blühenden Vergangenheit vorüberging, ist heute schwer verständlich. An der Spitze stand als Direktor Gottlieb Stier, ein ebenso ausgezeichneter Gelehrter wie vorzüglicher Pädagoge, zu dem wir alle, von der Sexta bis zur Prima, in großer Verehrung hinaufsahen. Das Lehrerkollegium war im ganzen mäßig mit wenigen, allerdings hervorragenden Ausnahmen. Das Alumnat war 1876 vollbesetzt, die Höhe der Kosten hätte wohl auch die 18

finanzielle Leistungsfähigkeit meines Vaters überstiegen, und so wurden wir bei einem ehemaligen Drechslermeister in Pension gegeben, wo wir bei vortrefflicher Verpflegung gut untergebracht waren. Wir genossen dort ein Maß von Freiheit, wie es halbwüchsigen jungen Leuten selten zu Teil wird. Ohne Aufsicht oder Kontrolle kamen und gingen wir nach unserem Belieben; wir hatten den Hausschlüssel und blieben abends aus, so lange es uns gefiel. Unsere Arbeiten erledigten wir durchaus selbständig, Hilfe konnten wir im Hause nicht haben. Die Schule behielt sich zwar eine gelegentliche Kontrolle solcher frei wohnenden Schüler vor, aber sie hat sie niemals ausgeübt. Ich kann nicht finden, daß mir diese früh geschenkte Freiheit von Nachteil gewesen wäre. Sie hat in mir ein Gefühl der Selbständigkeit und einen Drang nach Unabhängigkeit erweckt, die mich später beim Eintritt in die Universität die Gefahren haben vermeiden lassen, denen bei einem so schroffen Übergange, vielleicht dem schroffsten, den das Leben bietet, alle jungen Leute ausgesetzt sind und viele erliegen. Sie haben freilich auch bewirkt, daß idi meist ein beliebter Vorgesetzter, aber selten ein bequemer Untergebener war. Törichte Jugendstreiche habe ich schließlich auch nidit mehr begangen als meine Schulkameraden, die unter strengerer Aufsicht waren. Sie haben mich zwar wiederholt, wie andere auch, in den Karzer und einmal nahe an ein vorzeitiges Ende meiner Schullaufbahn gebracht, aber außer einer etwas verwickelten Bemerkung in meinem Abiturientenzeugnis unter der Rubrik „Betragen" haben sie keine erkennbaren Folgen gehabt. Einen dauernden Schaden an meiner Seele glaube ich nicht davongetragen zu haben. Mein Vater wetterte freilich in seinem verletzten Ordnungssinn so zornwütig gegen midi und prophezeite mir so düstere Zukunftsmöglichkeiten, daß ich mich — ich war 17 Jahre alt — mit Selbstmordgedanken trug und meine Mutter nur mit Mühe die Gleichgewichtslage wiederherstellen konnte. Ich habe mir diese Vorgänge eine Lehre sein lassen, die Jugendtorheiten meiner eigenen Söhne, namentlich in einem gewissen Alter, mit Geduld und Verständnis zu betrachten. Ob allerdings das von mir genossene vorzeitige Ubermaß von Freiheit bei jedem Jugendlichen angezeigt ist, scheint mir zweifelhaft. Die Schule vermied dank der Lebensklugheit ihres Direktors den Fehler, den damals viele Schulleitungen begingen, durch übermäßige, auch das häusliche Leben der Schüler reglementierende Strenge verschüchterte oder heimlich sündigende und agitierende Kinder und Jünglinge heranzubilden. Heute ist man in das andere Extrem verfallen. Den Sdiülern der beiden oberen Klassen war es gestattet, in beschränktem Umfange bestimmte Gastwirtschaften am Tage zu besuchen; auch das Rauchen war außerhalb der Stadt erlaubt. Es gab sogar eine Zeit lang zwei „Verbindungen" mit nachgeahmten studentischen Formen. Sie führten aber ein kraftloses Dasein, und der Direktor rechnete damit, daß sie sich an ihrer eigenen Abgeschmacktheit verzehren würden, was auch nach einiger Zeit geschah. Der erfahrene Erzieher besaß dank seinem feinen Verständnis für die jugendlichen Gemüter deren weitgehendes Vertrauen, und gerade dadurch, daß er den jungen Leuten von 15 bis 19 Jahren einige von den Freiheiten ließ, die keinem Lehrlinge vorenthalten werden, nahm er ihnen den Drang nach verbote2*

nen Genüssen. Gens humana mit per vetitum nefas, pflegte er in seinen HorazStunden zu betonen; ein Appell von ihm an die Anständigkeit wirkte immer. In die Schule selbst, d. h. den Unterricht, mich einzufügen, fiel mir zunächst nicht ganz leicht. Die Lehrer der Mittelklassen standen in ihren pädagogischen Leistungen — das fühlte ich schon als Tertianer heraus — denen von Quedlinburg entschieden nadi. Das Lateinische und besonders das Griechische wurde uns durch eine sinnlose Formen- und Akzent-Paukerei'gründlich verleidet. In den oberen Klassen wurde es besser, aber es war an uns zu viel verdorben worden, als daß es leicht gewesen wäre, das Mißtrauen zu überwinden, mit dem wir jetzt an die klassischen Autoren herantraten. Erst durch den Unterricht beim Direktor und bei zwei ausgezeichneten Gelehrten und geduldigen Übermittlern, den Professoren Gerlach und Gast, gelang es, uns an die griechische Schönheit und die lateinische Klarheit heranzubringen. Ich erinnere mich nodi gern der HorazInterpretationen bei Stier, der Einführung in die ciceronianischen Reden und in die griechischen Tragiker bei Gerlach und Gast. Außerordentlich fesselten mich auch die Feinheiten der lateinischen Stilistik, bei deren Erklärung wir die wichtigsten Satzbeispiele auswendig zu lernen hatten, ein vorzügliches Mittel, um in die Idiomatik der fremden Sprache einzudringen, das ich später auch zur Erlernung anderer Sprachen angewendet habe. Es gibt außerdem kein besseres Mittel, sich des logischen Perioden-Aufbaus und des wohlklingenden SatzRhythmus', audi in der Muttersprache, bewußt zu werden als die lateinische Stilistik. Eine besondere Vorliebe des Direktors galt der Metrik. E r hielt darauf, daß wir in den Versmaßen der lateinischen Oden und Epen genau Bescheid wußten und daß wir uns selbst im Bau lateinischer Verse versuchten. Eine Übertragung von Orests großem Monolog im 2. Auftritt des 3. Aufzugs von Goethes „Iphigenie" in lateinische Hexameter war einmal eine Ferienaufgabe. Neben diesem wirklich erzieherischen Unterricht in den klassischen Sprachen sowie in Deutsch und Geschichte verblaßte alles übrige zur Bedeutungslosigkeit. Namentlich Mathematik und Physik (Botanik und Zoologie fielen ganz weg) lagen in den Händen eines Mannes, der sein mangelndes Lehrtalent meist durch gröbliches Poltern ersetzte. Die Klassen-Ergebnisse bei ihm waren kläglich. Im Französischen, in Geographie und anderen Nebenfächern waren uns Lehrer zugeteilt, die wir in der Prima kaum noch ernst nehmen konnten. Wenn man zuweilen gesagt hat, der schlimmste Feind des humanistischen Gymnasiums sei der Philologe, so habe ich in Zerbst dafür manche Bestätigung gefunden. Außerhalb derSdiule bot das Leben in der kleinenStadt für uns vieleAnnehmlichkeiten, nicht zum wenigsten infolge der erwähnten verständnisvollen Anschauungen des Direktors. In Zerbst lag ein Bataillon des Anhaltischen Infanterieregiments; aber sei es, weil das Offizierkorps keine rechte Fühlung mit dem Bürgertum hatte, sei es, weil es an Zahl zu gering war, den gesellschaftlichen und geistigen Mittelpunkt der Stadt bildete „das Kloster", und zwar nicht bloß das Lehrerkollegium und sein Anhang von akademisch Gebildeten, sondern in bestimmtem Maße audi die Schüler der oberen Klassen. Bei den winterlichen Bällen, die von den geselligen Vereinigungen gegeben wurden, waren die Primaner 20

und Sekundaner stets eingeladene, willkommene Tänzer, und wenn wir auch in der Konkurrenz mit den jungen Leutnants hoffnungslos unterlagen, so wurde doch auch zwischen den „Klosterschülern" und den Töchtern der Stadt manches zarte Band geknüpft; in nicht wenigen Fällen sind sogar Verbindungen auf Lebensdauer daraus geworden. In dem Schüler-Gesangverein, der auf Anregung des Direktors entstanden war und in dem auch ernste Musik gepflegt wurde, gab es fröhliche Stunden, und manche hier geschlossene Freundschaft hat die Schule überdauert. Die von dem Verein oder von den Alumnen des Internats veranstalteten Konzerte mit Ball waren sehr beliebte Feste für die Stadt. Am 30. Januar 1882 wurde der dreihundertjährige Gründungstag des Gymnasium illustre durch die Vorlesung einer Sophokleisdien Tragödie mit verteilten Rollen (zu einer Aufführung reichten die Mittel nicht) gefeiert. Ich hatte zwar eine der Hauptrollen zugewiesen erhalten, war aber von dem Ganzen wenig erbaut. Glanzpunkte in den sechs Jahren meiner Zerbster Schulzeit waren Wanderungen, die idi mit einigen Freunden in den Ferien unternahm. Mit vorauseilendem Genuß arbeiteten wir uns eine solche zehn- bis vierzehntägige Tour aus, berechneten die Kosten und traten mit Ränzel (Rucksäcke gab es im Norden nodi nicht) und Stab die Wanderschaft an. So haben wir den Thüringer Wald, das Riesengebirge, besonders die Lande am Mittelrhein durchwandert, Großstädte wie Leipzig, Dresden und Frankfurt habe ich kennengelernt, und staunend in vollen Zügen genossen wir jenes berauschende Gefühl der Losgelöstheit, das der ständige Wechsel des Aufenthaltes gewährt. Ich verkenne nicht die erzieherische Bedeutung, die den heutigen Geländeübungen und dem Lagerleben zukommt, aber innerlich gewinnbringender waren jene Wanderungen naher Freunde. Die Zahl der letzten mußte natürlich klein sein, am besten beschränkte man sie auf zwei oder drei; wir sind einmal zu fünf gewandert und empfanden dies nachher als zu viel, wenngleich es den Vorteil hatte, daß wir, die wir alle Mitglieder des Gesangvereins waren, unterwegs vierstimmige Lieder singen und damit ein dankbares Publikum erfreuen konnten. Jungen, denen ich später von dieser Art des Wanderns erzählte, waren immer begeistert davon. Da die Stadt, von den ehemals berühmten Bierbrauereien und ein paar kleineren Betrieben abgesehen, noch keine Industrie besaß, so floß das Leben still und gleichmäßig dahin. Die Zügel der Politik lagen in sicheren Händen, der Bau des Reiches schien fest gefügt, der kleine, in das große Preußen eingebettete Staat beschränkte sich auf die Bearbeitung seiner lokalen Angelegenheiten, und der brave Kleinbürger konnte in aller Ruhe sein Gespräch führen „von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker auf einander schlagen". In Zerbst zeitigten diese Gespräche eine besondere lokale Blüte. Der Krieg Rußlands gegen die Türkei 1877—78, der zur Unterstützung des vorgeschickten Serbien und zur Förderung der eigenen Balkan-Pläne vom Zaune gebrochen war, erregte, als die Kämpfe um den Schipka-Paß und der türkische Sieg von Plewna bekannt wurden, das Gerechtigkeitsgefühl mehrerer junger Leute, und sie gründeten einen Verein mit dem programmatischen Namen „TurkophiliaRussophobia-Serbomisia", ein Beispiel für die Harmlosigkeit, mit der man da21

mais noch den Weltereignissen zusah. Ehrlicher als bei dieser Groteske hatte man sich noch fünf Jahre früher aufgeregt, als in der Gründerzeit die SchwindelUnternehmungen auch in den kleinen Kanälen des Wirtschaftslebens fühlbar wurden, und der Eisenbahnkönig Strausberg oder die Dachauer Banken-Fee Adele Spitzeder selbst in den stillen Winkeln von sich reden machten. Um 1880 hatten sich zwar in Zerbst die Anfänge einer kampfbegierigen demokratischen Partei gebildet, die drohte, „dem eisernen Kanzler eine eiserne Stirn bieten zu wollen", aber außer bei Reichstagswahlen, wo man sich um die Erhitzung der Gemüter bemühte, blieb alles in seelischem Gleichgewicht. Die Schule wurde natürlich nodi weniger dadurch berührt, und nichts lag unserem Interessenkreise ferner als Politik. In Quedlinburg hatten sich die älteren Schüler noch um den Kulturkampf die Köpfe heiß geredet, und wir jüngeren hatten begierig zugehört, aber damals handelte es sich für uns um einen Freiheitskampf gegen geistige Unterdrückung, den Bismarck und sein Minister Falk gegen „die Pfaffen" führten, ein Gegenstand, bei dem audi sdion ein Quartanergehirn in Unruhe geraten konnte; in Zerbst dagegen wurden wir durch kein politisches Wogenbrausen gestört. Während des letzten Jahres in der Prima, mit der Reifeprüfung vor Augen, fühlte idi, daß idi der Schule entwuchs. Nichts hat meinen Fleiß so angespornt wie die Sehnsudit, hinauszukommen, und sie wuchs, je näher die Prüfung kam. Am 30. März 1882 wurde uns elf Abiturienten nach einer fünftägigen schriftlichen und einer zweitägigen mündlichen Prüfung, die sich bis gegen zehn Uhr abends hinzog und bei der uns nichts erlassen wurde, von der herzoglichen Prüfungskommission das Zeugnis der Reife erteilt, in einem feierlichen Aktus vollzog sich die Entlassung aus der Schule. Keiner von uns — leider bin ich der einzige Überlebende — hat wohl in seinem Dasein eine reinere und tiefere Freude gehabt als nach diesem bedeutungsschweren Lebensabschnitte. Übersprungen war der Graben, der uns von der Freiheit trennte, und glückstrahlend zogen wir der lachenden Zukunft entgegen.

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II. Studienjahre Auf meinem Reifezeugnis war angegeben, daß ich die Schule verließe, „um die Rechte zu studieren". Das war in der Tat der Wunsch meines Vaters, dem es ein Lieblingsgedanke war, daß idi einmal ein gesuchter Rechtsanwalt werden sollte. Worauf dieser Gedanke sich gründete, weiß ich nicht. Jedenfalls konnte ich midi für die Vorstellung ganz und gar nicht erwärmen. Ich hatte allerdings in der Prima auf Befragen erklärt, daß ich Jurist werden wolle, aber das war nur geschehen, weil ich nicht wußte, was ich studieren sollte, und Rechtswissenschaft mir das Gebiet mit weitesten Grenzen und zahlreichsten Möglichkeiten zu sein schien. Auch während der Ferien vor Beginn des Sommer-Semesters konnte ich nicht mit mir ins Reine kommen, machte mir indessen auch keine Sorge, die Freude über die erlangte Freiheit und die Erwartung ihres Genusses überstrahlten auch alles Denken. Planlos also ging ich zur Universität und ebenso planlos hattte ich mir Freiburg im Breisgau für den Beginn meines Studiums erwählt, obwohl ich von keinem einzigen meiner Mitschüler oder sonstigen Bekannten wußte, daß idi ihn dort treffen würde, auch keiner der dortigen Dozenten mich etwa besonders angezogen hätte. Nur die Waldberge des Schwarzwaldes lockten mich, und irgendein unbestimmter Drang trieb mich in die Ferne. So reiste ich im April 1882 frohgemut nach der schönen Schwarzwaldstadt und ahnte nicht, daß der Aufenthalt dort bestimmend für mein ganzes künftiges Leben werden sollte. Freiburg war damals noch ein trauliches, außerhalb des Fremdenstromes gelegenes Städtchen, durch dessen blitzsaubere Straßen das kristallklare Wasser der Dreisam-Bädilein dahin schoß, ohne, wie heute, durch Überdeckung dem lustigen Nachtwandler die Möglichkeit eines ungewollten Bades zu nehmen. Der Wald reichte auf der Günterstaler Seite fast bis in die Straßen der Stadt, auf dem Wodienmarkte erschienen die Sdiwarzwälder Bäuerinnen und Bauern in ihrer malerischen Tracht, und in den Weinstuben und Speisewirtschaften fand man freundliche Gesichter, süddeutsche Behaglichkeit und billige Preise. Die ältere und berühmtere Schwester des Unterlandes, das elegante Heidelberg, pflegte zwar etwas hochmütig auf das schlichtere Dreisam-Kind herabzusehen, und unter den Studenten fanden oft hitzige Erörterungen statt über die Frage, welcher der beiden badischen Perlen landschaftlich der Vorzug gebühre, aber schließlich wurde das, was von Norddeutschland zur Albert-Universität kam, doch mehr von den Reizen ihrer Lage als, wie in Heidelberg, von den Namen der Professoren angezogen. Bei der Immatrikulation legte uns denn auch der Prorektor ans Herz, wir sollten nicht bloße Zugvögel sein, worüber wir lachend

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quittierten. Die Universität zählte kaum 700 Studenten und fand in den ehemaligen Klosterräumen der Jesuitenkirdie in der Bertholdstraße, die damals dem Gottesdienst der Altkatholiken diente, genügend Platz. Idi war zunächst von den Bergen und herrlichen Waldwegen erheblich mehr angetan als von dem Verzeichnis der Vorlesungen. Für alle Fälle ließ ich mich bei der philosophischen Fakultät einschreiben, und da ich auf der Schule eine innere Neigung zur Geschichte und zur deutschen Literatur gehabt hatte, so belegte ich bei von Holst Geschichte des 19. Jahrhunderts, bei dem damals nodi nicht so gefeierten Hermann Paul Einleitung in das Studium der deutschen Philologie, mittelhochdeutsche Grammatik und Geschichte der deutschen Literatur in der Sturm- und Drang-Periode, bei Windelband Logik. Rückblickend muß idi die ohne Beratung getroffene Auswahl heute als ganz verständig bezeichnen. Gedruckte Studienpläne und Beratungstellen gab es noch nicht, der angehende Student stand vor der übervoll besetzten Tafel und mußte wählen, was ihm seiner Verdauung angemessen und seinen Zwecken förderlich schien. Das hatte unzweifelhaft seine Schwierigkeiten und Gefahren. Aber so lange die Studentenschaft von der Schule, dem humanistischen Gymnasium, eine gleichmäßige Vorbildung mitbrachte und die Universitäten nicht in dem Umfange Drillanstalten für das Brotstudium waren wie heute, waren die Schwierigkeiten leichter zu überwinden, und dem jungen Wissenschaftsadepten gereichte es gewiß nicht zum Nachteil, wenn er sich auf abgelegeneren Gebieten einmal umsah und seine Ausbildung nicht von Anbeginn an zur Fadiarbeit einengte. Zur Lehrfreiheit unserer Universitäten gehörte die Hörfreiheit als notwendige Ergänzung. Freilich ebenso klar ist es, daß bei der weiteren Entwicklung der akademischen Verhältnisse, wie die Basis der Universität immer breiter und flacher, die Vorbildung immer bescheidener und vielgestaltiger, der Drang, möglichst schnell zur Abschlußprüfung zu kommen, immer stärker, die Unterrichts-Organisation daher immer fester geregelt wurde, diese Führerlosigkeit nicht mehr zu halten war. So wurde die Verteilung von Studienplänen, die bei den Juristen und Medizinern angefangen hatte, auf die anderen „gängigen" Studiengebiete ausgedehnt, Zwischenprüfungen kamen allmählich hinzu, der Fleiß der Studenten unterlag einer gewissen Kontrolle, und selbst die Freizügigkeit auf den Hochschulen wurde eingeschränkt. Von alle dem war 1882 nodi keine Spur vorhanden, und ob die spätere Reglementierung, die ja zweifellos dem Zuge der Zeit entsprach, bedeutendere Gelehrte, tüchtigere Beamte und charakterfestere Männer heranbildet, muß ich dahingestellt sein lassen. Von den belegten Vorlesungen — Publica für Hörer aller Fakultäten gab es in Freiburg nicht — fesselte midi keine in solchem Grade, daß ich um ihretwillen meine Wanderungen in der näheren und weiteren Umgegend oft aufgegeben hätte. Von Holst, ein Historiker baltischer Herkunft und anscheinend der süddeutschen Demokratie nahestehend, behandelte besonders ausführlich die österreichische Reaktion und das Metternidisdie System vor 1848, und zwar in so leidenschaftlicher Sprache, daß mir gerade diese Teile allein in der Erinnerung geblieben sind. Paul war reichlich trocken, sein Vortrag erschien fast wie eine 24

Fortsetzung des von der Schule her Gewohnten. Recht befriedigen konnte midi nichts. Um so mehr schwärmte ich für die herrliche nähere und weitere Umgebung und blieb auf meinen Wanderungen zuweilen mehrere Tage fort. In besonders lieber Erinnerung ist mir ein Ausflug nach Tübingen, wo mein Bruder Theologie studierte. Die trauliche Neckarstadt mit ihrem fröhlichen Getümmel erregte meine Begeisterung, dabei bildete den Höhepunkt ein Besuch des Lichtensteins bei Pfullingen. Da er gerade auf das Pfingstfest fiel, konnten wir an dem größten Volksfest an und in der Tropfsteinhöhle („Nebelhöhle") teilnehmen, das W. Hauff in seiner Erzählung „Lichtenstein" so liebevoll schildert. Auch Scheffels Ekkehardspuren auf dem Hohen Twiel bei Singen gingen wir mit sehr viel Eifer nach. Nicht lange nach meiner Ankunft in Freiburg sah ich mich durch Zufall in einen kleinen Kreis meist norddeutscher Kommilitonen versetzt, die wie idi durchweg „Zugvögel" waren. Darunter befand sich ein Jurist aus Potsdam, Arthur Engel, ein schöngeistiger, sehr kultivierter Mann, dem idi allmählich näher trat und der später mittelbar noch schicksalbestimmend für mich werden sollte. Er beabsichtigte, im Wintersemester nach Berlin zu gehen, und idi schloß mich dem an, zumal mein Vater wünschte, idi sollte künftig mehr in der Nähe bleiben. Andere Gründe, die Reichshauptstadt aufzusuchen, hatte idi nicht; ich war mir so unklar wie je über meine wissenschaftliche Bestimmung und begann auch trotz allem Schönen, das ich genossen, eine leise Unzufriedenheit mit mir selbst zu empfinden. So kam idi im Herbst nach Berlin und bemühte mich, mit dem mir völlig ungewohnten Gewühl der Großstadt fertig zu werden, so gut idi es vermochte. Berlin war damals nicht annähernd das, was es heute ist, ja es hatte noch nicht einmal die Eierschalen der Kleinstadt abgestreift, seine Einwohnerzahl hatte zwar die erste Million bereits überschritten und das Aufblühen nach dem Kriege war unverkennbar, aber es war bei weitem nicht in dem Maße Karawanserei wie später; die Stadt hatte noch einen, freilich schon stark im Schwinden begriffenen, eigenen bodenständigen Charakter, und das alt eingesessene Berlinertum war nodi nicht in die entlegensten Winkel des Ostens und Nordens abgedrängt; man brauchte nur eine der zahllosen Weißbierstuben oder „Destillen" aufzusuchen oder sonntags die „Landpartien" in „Kremsern" nach den meist noch durdi Felder und Wald getrennten Vororten und weiter zu beobachten, um seiner sehr deutlich inne zu werden. Überdies war es die Zeit Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks, und diese Tatsache bestimmte den Charakter der Stadt äußerlich und innerlich mit. Das militärische Element spielte die erste Rolle, und selbst das hohe Beamtentum der Ministerien trat dem gegenüber zurück. Die zahllosen glänzenden Uniformen unter den Linden und in den anstoßenden Straßen sowie die eleganten Wagen mit ihren herrlichen Pferden und ihren ebenso eleganten Insassen zeigten, wer hier den Ton angab. Die Hoffestlichkeiten im Winter mit dem Ordenssegen im Januar oder die Auffahrten am Schlosse bei besonderen Anlässen, wobei noch kein Autogeknatter störte, brachten die schaulustige Menge immer auf ihre Kosten, und der Einheimische machte mit Stolz den Erklärer für 2*

den Provinzler. In das Volk hinab stieg der Hof auf den sogenannten Subscriptionsbällen im Opernhause, zu denen — in der Theorie — jeder Zutritt hatte, der den Eintrittspreis und die Toiletten seiner Damen bezahlen konnte, und auf denen das Kaiserpaar seinen Rundgang machte. Ein erhebendes Schauspiel war es stets, wenn mittags die Schloß- und Hauptwache (im heutigen Ehrenmal) mit Musik aufzog und die Person des alten Kaisers an dem berühmten Eckfenster des Palais unter den Linden erschien, einige Male begleitet von seinem Enkel, dem nachmaligen Kaiser Wilhelm II. Dann erhob sich ein Sturm der Begeisterung unter der harrenden Menge, man winkte, schrie und sang schließlich „Heil dir im Siegerkranz". Auch hier fühlte man den spontanen Ausbruch des Volksempfindens, es waren weder behördliche Anordnungen noch andere Mittel vonnöten. Überkritisch, skeptisch in seinem Urteil und „schnodderig" in seinen Formulierungen, wie der Berliner war, das Militär stand jenseits der Grenzen dieser Eigenschaften. Die meisten Männer waren gediente Soldaten, und die es nicht waren, fühlten jedenfalls wie solche; das ließ sich am besten erkennen, wenn die Gardetruppen von ihren Übungen auf dem Tempelhofer Felde zurückkamen und durch die Friedrichstraße marschierten. Dann sah man zwar viele Kennermienen in dem ernst schauenden Publikum und hörte wohl auch zuweilen mehr oder weniger „sachverständige" Bemerkungen über die Haltung der Leute, aber der Witz war verstummt, dies war eine Sache für sich. Militärisch war denn auch die Ordnung und vor allem der Ton bei den Behörden. Die mit Recht oft übel vermerkte Grobheit der Berliner Organe, namentlich der Polizei, hatte hier ihre Wurzeln: es war der Kasernenhof ton des Unteroffiziers, der in den Amtstuben wie auf der Straße herrschte und namentlich die Süddeutschen abstieß. Die Berliner Universität stand damals auf einer alle anderen überragenden Höhe. Eine Schar von Berühmtheiten hatte sich hier zusammengefunden, deren Namen weit über ihre Fachgebiete hinausstrahlten und deren Nachruhm auch heute nicht erloschen ist. Die Historiker Mommsen, Droysen und Treitschke, die Philosophen Dilthey und Paulsen, der Germanist Scherer, der Kunsthistoriker Hermann Grimm, um nur einige Größen der philosophischen Fakultät zu nennen — bei den anderen Fakultäten war es nicht anders —, sammelten hunderte von Hörern um sich. Ich stand dem Ganzen immer noch planlos gegenüber und wurde mehr vom Instinkt als von Überlegungen geleitet, als ich bei Dilthey Psychologie belegte, bei Droysen Methodologie und Enzyklopädie der Geschichte (Historik), bei Wattenbach Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter und bei Johannes Schmidt Einleitung in das Studium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Ich merkte sehr rasch, daß in Berlin ganz anders gearbeitet wurde als in Freiburg; die stark besuchten Vorlesungen begannen auch mich so zu fesseln, daß mich die Verlockungen der Großstadt nicht oft von ihrem regelmäßigen Besuche abzulenken vermochten. Namentlich war es das jetzt wieder berühmt gewordene Kolleg Droysens über Historik — er las es zum letzten Male im Wintersemester 1882/83 —» das den stärksten Eindruck auf mich machte. Ich hörte es gleichzeitig, ohne daß wir von einander wußten, mit Friedrich Meinecke, der in seiner kleinen Sammlung „Vom geschichtlichen 26

Sinn und vom Sinn der Gesdiichte" davon spricht. Droysen, damals 74 Jahre alt, sprach mit stark belegter und daher leiser Stimme, aber die Kraft und Schönheit der Sprache sowie die Schärfe der bohrenden Gedanken hielten doch die Hörer ständig in Bann. Wenn Alexander von Müller von einem „männlich entschiedenen, befehlshaberischen, oft diktatorischen Ton dieser Droysenschen Vorlesungen" spricht, so mag das für die gedruckten Texte zutreffen — Droysen pflegte seinen Hörern einen gedruckten Auszug seiner Vorlesung über Historik in die Hände zu geben; heute liegt das gesamte Manuskript in einer von seinem Schwiegersohne Rudolf Hübner in Jena besorgten Ausgabe im Drude vor —, aber auf den mündlichen Vortrag, wie ich ihn gehört habe, bestimmt nicht. Die Vorlesung, die mich weit mehr packte als Wattenbachs lehrreiche, aber ermüdende „Geschichtsquellen", bewirkte schließlich, daß ich am Ende des Semesters beschloß, mich nunmehr ganz der Geschichte zu widmen. Johannes Schmidt hatte mir mit seiner „Einleitung" zwar audi eine neue Welt eröffnet, aber sie verblaßte doch gegenüber dem Glänze der durch Droysen erschlossenen Erkenntnis. Schmerzlich empfand ich es in Berlin, daß man keinen persönlichen Zugang zu den akademischen Lehrern finden konnte. Gewiß wären diese gern bereit gewesen, zu raten und zu helfen, wenn man sie aufgesucht hätte, aber der schon damals sehr große Umfang des Betriebes, in dem der Einzelne keine Geltung finden konnte, brachte es mit sich, daß der Professor und Geheimrat von einer Sphäre der Unnahbarkeit umgeben war, die allerdings tatsächlich nur in der Vorstellung der Studenten bestand. Das System der Seminare aber, das ja schon deshalb seinen großen Wert besaß, weil es die persönliche Fühlung herstellte, war nicht annähernd so entwickelt wie heute. Auf den kleinen Universitäten waren die Verhältnisse natürlich günstiger, dort bildeten wirklich die magistri et scholares die universttas nach innen und nach außen, in Berlin dagegen fand dies höchstens bei den regelmäßigen akademischen Feiern seinen vorgeschriebenen Ausdruck, und der war steif, formell, ohne Wärme. Berlin war Arbeitsuniversität. Das zeigte sich auch darin, daß ein eigentliches studentisches Leben nicht vorhanden war, jedenfalls nicht zur Geltung kam. Die wissenschaftlichen Fachvereine waren bedeutungsvoller als die Verbindungen mit Band und Mütze. Dafür bot aber die werdende Weltstadt reichen Ersatz auf allen Gebieten. Berlin war in den achtziger Jahren eine erstaunlich billige Stadt, vielleicht die billigste unter den Großstädten, und zwar billig sowohl mit Bezug auf Essen und Trinken als auch mit Bezug auf Wissenschaften und Künste. Man konnte nicht bloß die letzten Ergebnisse der gelehrten Forschung in den Vorträgen der ersten Vertreter ihrer Fächer an der Universität umsonst hören, sondern konnte audi die schönsten Erzeugnisse der bildenden Kunst in den Museen für wenige Pfennige, die vorzüglichste Musik in dem Bilseschen Konzerthaus oder den anderen Musiksälen für wenig mehr genießen. Man sagte damals, in keiner Stadt der Welt könne man so viel und so gute Musik für so wenig Geld hören wie in Berlin. Auch die Theater, von den einfacheren, aber gleichfalls vortrefflichen Volks- und Vorstadt-Theatern an bis zu den Königlichen Bühnen waren, an den Preisen von heute gemessen, auch unter Berücksichtigung des gesunkenen 27

Geldwertes sehr wohlfeil und boten doch so Hervorragendes, daß die Begeisterung oft helle Flammen schlug. Wer damals den Lohengrin von Niemann, den Wotan von Betz an der Oper gehört und gesehen hat, den Faust von Sommerstorff und das Gretdien von Teresina Gessner, seiner späteren Gattin, oder den Othello von Barnay am Deutschen Theater, das immer stürmisch bejubelte Sternenpaar Emil Thomas und Ernestine Wegener in den noch unverdorbenen Berliner Lokalpossen am Wallner-Theater, der wird sie nicht leicht vergessen. Diesen Mimen flicht auch die Nachwelt ihre Kränze! Ein beliebter Sport war es bei den Studenten, an der Oper und dem Schauspielhause in den Massenszenen als Statisten mitzuwirken, um die glanzvolle Außenseite auch einmal „von hinten" zu sehen. Da das Angebot meist die Nachfrage überstieg, war es nicht leidit, anzukommen; überdies wurden auch oft Soldaten als Aushilfe kommandiert. Die Politik wurde uns in Berlin um ein gut Stück nähergebracht, indem man Gelegenheit hatte, zuweilen den leitenden Personen in figura zu begegnen, außerdem den Sitzungen des Reichstages (damals noch in der Leipziger Straße) und des Preußischen Abgeordnetenhauses beizuwohnen. An den „großen Tagen", d. h. wenn der Kanzler erwartet wurde, waren freilich Karten schwer zu erlangen. Allzuoft habe idi von der Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht; man betrachtete die hochansehnlichen Versammlungen, die in der Nähe viel von ihrem Nimbus verloren, mehr als Kuriositäten; die Politik blieb für uns immer noch etwas, das uns nichts anging. Ich erinnere midi nur einer Auseinandersetzung des Abgeordneten Virchow in seiner unerträglich süffisanten Art mit dem Regierungstische über Kirchenpolitik, die mich mit Entrüstung erfüllte. Ich habe in Berlin viel in mich aufgenommen und habe es trotz seiner tiefen Schatten, die mir nicht unbekannt blieben, auch lieben gelernt. Durch meinen Freiburger Kommilitonen Arthur Engel kam ich in einen Kreis seiner ehemaligen Potsdamer Mitschüler und machte dabei auch die Bekanntschaft eines zu ihnen gehörigen, aber nicht studierenden Beamten des Auswärtigen Amts, Paul Wassmannsdorf. Er wohnte in Berlin mit seiner Mutter und Schwester zusammen, und da wir uns bald näher traten, führte er midi in seine Familie ein. Idi lernte in der Mutter eine sehr feine, ungemein sympathische Dame kennen, deren sanftes, verständnisvolles mütterliches Wesen auch mir gegenüber midi mit hoher Verehrung erfüllte. Ich habe in dem gastlichen Hause in der Bülowstraße sehr viele angenehme Nachmittage und Abende verlebt, die mir in dem ruhelosen Getriebe immer Stunden der Erholung und Besinnung waren. Das Haus, am südöstlichen Ende der Bülowstraße gelegen, war dort das letzte von Berlin gegen das selbständige Dorf Schöneberg hin; die Straße endete hier im Sande. Am anderen, dem westlichen, Ende mündete sie auf den halbbebauten Nollendorfplatz, der ebenfalls in freies Gelände überging. Der neue Westen war hier im Entstehen, und man wird sich heute keine Vorstellung mehr machen können von der halbfertigen Landschaft, die beinahe an amerikanisdie Stadtbaubilder erinnerte. Unzählige Male bin ich mit Wassmannsdorf die lange Potsdamer Straße hinuntergewandert, ein paar behaglichen Stunden entgegen, in 28

denen er von seiner Tätigkeit im Amt, idi von meinen Zukunftsgedanken erzählte. Mein Entschluß vom Ende des Semesters, Historiker zu werden, wurde, kaum gefaßt, an seiner weiteren Verwirklichung jäh gehindert durch die militärische Dienstpflicht, die mich jetzt, in meinem zwanzigsten Jahre, beanspruchte. Am i . A p r i l 1883 trat ich als Einjährig-Freiwilliger bei dem Garde-Füsilier-Regiment ein, dessen Kaserne in der Chausseestraße unweit vom Wedding war, und der Dienst beanspruchte meine Zeit in solchem Umfange, daß an eine wirkliche Fortsetzung des Studiums nicht zu denken war. Wie ich bei späteren militärischen Übungen anderswo vergleichend habe feststellen können, waren bei diesem Regimente die Anforderungen an die Truppe sehr hoch, und es ist nicht zu leugnen, daß bei den Garderegimentern der Paradedrill, der ja dort seine natürlichen Gründe hatte, mehr Zeit und Kraft verlangte als bei der Linie. Schon das große Schaustück der Parade auf dem Tempelhofer Felde bedingte eine intensivere Detail-Ausbildung. Das glänzendste militärische Ereignis, an dem ich teilnahm, war die große Herbstparade, die dadurch denkwürdig wurde, daß sie die letzte war, die der alte Kaiser Wilhelm — als Sechsundachtzigjähriger! — zu Pferde abnahm. Bei den folgenden saß er im Wagen. Für die beiden Semester der Militärzeit belegte ich, nur um nicht „wegen Unfleißes" gestrichen zu werden, ein paar Vorlesungen, ohne die Absicht und die Möglichkeit, sie zu besuchen. Nur die „Geschichte des Krieges von 1870/71" bei Hans Delbrück, der damals junger Privatdozent war, konnte ich einige Male anhören. Er war nodi nicht der rechthaberische, polternde Universalspezialist, der, wie Eduard Meyer einmal bissig bemerkte, Reichskanzler und Generalstabsdief in einer Person war. Als mein Militärjahr zu Ende ging, war es auch mit der Sicherheit meiner weiteren Studienpläne zu Ende. Der Dienst hatte mich der wissenschaftlichen Sphäre entfremdet, ich fühlte es aber jetzt, wo ich in das fünfte Semester kam, als meine Pflicht, endlich ein festes Ziel ins Auge zu fassen, dessen Erreichung midi von der väterlichen Tasche unabhängig machte. Mein Vater hatte mich bisher in keiner Weise gedrängt, wünschte aber doch zu wissen, wohin mein weiterer Weg führen solle. Nach ruhiger Überlegung nahm ich mir nunmehr die philologische Staatsprüfung als das feste Ziel vor, obwohl ich mich in meinem innersten Empfinden gegen den Gedanken, Lehrer zu werden, entschieden sträubte. In dem lauten Getriebe von Berlin zu bleiben, hatte idi keine Neigung, ich mußte mehr Berührung mit der Natur haben, als dort möglich war, und glaubte auch, auf einer kleineren Universität mehr Ruhe zur Arbeit zu finden. Da mein Vater wünschte, daß ich in Preußen bleiben solle, so wählte ich im Frühjahr 1884 Göttingen als Ort meiner planmäßigen Zielstrebigkeit. Ich ahnte nicht, daß diese sich bald nach einer ganz anderen Richtung wenden sollte. Göttingen war in der Tat das, was ich suchte. Frei von aller Industrie, lebte die Stadt von der Universität, die bei etwa 25 000 Einwohnern an 1200 Studenten zählte, unter denen sich auch immer eine Schar von Amerikanern und Engländern befand. Auf das wissenschaftliche Leben von Amerika hat Göttingen

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zeitweilig einen nicht unbedeutenden Einfluß ausgeübt, und die jungen englischen Aristokraten, die sich dort kurz aufhielten, wurden nodi von den früheren Beziehungen zu Hannover geleitet. Es war eine reine Gelehrtenstadt in reizvoller Umgebung, wenn auch der Hainberg, an dessen Hang sie sich hinaufzog, noch nicht oder noch nicht wieder den waldigen Schmuck trug, der heute bis in die Straßen hineinreicht. Der ganze Ort war akademisch ausgerichtet und organisiert, wirtschaftlich und gesellschaftlich beherrschte die Universität die Stadt vollkommen. „Göttingen hatte keine Universität", wie man zu sagen pflegte, „sondern es war Universität". Da sowohl in den Professorenkreisen wie auch in der Studentenschaft, namentlich bei einer Anzahl von Korporationen, viel Wohlhabenheit herrschte, so war der Lebensstandard entsprechend hoch, man konnte Göttingen nicht zu den billigen Universitäten rechnen. Ich hatte mir in einem hübschen der fast immer in einem Garten gelegenen Häuser an der Stadtgrenze, am Friedländer Weg, eine Wohnung gemietet und merkte erst nachher, daß ich mich mit dieser übrigens sehr glücklichen Wahl abseits der Quartiere der eigentlichen „Studentenbuden" niedergelassen hatte und statt dessen mitten in die ausgesprochenste Professorengegend geraten war. Über mir im Hause wohnte der Hygieniker Flügge, nebenan der Zivilrechtler Regelsberger, daneben der Staatsrechtler Mejer („der jottvolle Meier", wie er von den Studenten genannt wurde), dann weiter der Orientalist Lagarde, um die Ecke am Hainholzweg der Kirchenrechtler Dove, der Geologe von Koenen, weiter hinauf der Sanskritist Kielhorn und viele andere. Getreu meinem Vorsatz, meldete ich midi für das philologische Proseminar bei dem kurz vorher nach Göttingen berufenen Wilamowitz, wo Euripides' „Elektra" behandelt wurde. Um aber die Verbindung mit der Historie nicht ganz abzubrechen, belegte ich bei Kluckhohn Deutsche Geschichte bis zur Reformation. Weiter zog midi infolge von Anregungen, die ich bei Johannes Schmidt empfangen hatte, Fides Kolleg über Entwicklungsgeschichte der indogermanischen Sprachen und Völker an. Fide war bedauerlicherweise durch sein körperliches Leiden stark behindert (er war fast blind und konnte wegen einer Herzschwäche oft nur mit Mühe sprechen) und hatte wenig Zuhörer. Ich habe später in seinem Hause in kleinem Kreise Homer gelesen, wobei er von seiner Hypothese der Umschreibung aus einem dorischen Urtext ausging. Die letzte ist heute aufgegeben, aber sie hat uns zu jener Zeit doch im Banne gehalten. Gleichfalls in Johannes Schmidts Kolleg hatte ich die Wichtigkeit des Sanskrit für indogermanische Sprachvergleichung kennengelernt, und da Kielhorn gerade Sanskrit-Grammatik für Anfänger angezeigt hatte, beschloß ich, auch dies Kolleg zu belegen. Schließlich lag dies ja alles auf meinem Wege zum Staatsexamen. Kielhorn, der 15 Jahre in Puna in der indischen Präsidentschaft Bombay am Deccan-College als Professor des Sanskrit gewirkt hatte, war, wie idi wußte, ein engerer Landsmann von mir aus Bernburg, und dies veranlaßte mich, ihm einen Besuch in seinem Hause zu machen. Dieser Besuch und das Kolleg sollten ungeahnte Folgen für mich haben. Unser erstes Zusammentreffen vollzog sich in sehr drolligen Formen. Ich schickte meine Karte hinein und fand den Pro3c·

fessor und seine Gattin, ebenfalls eine Bernburgerin, im Salon sitzend. Beide machten betroffene und erstaunte Gesichter, als ich eintrat, und fragten mich schließlich, ob ich vielleicht versehentlich meine Karte verwechselt hätte. Nun war das Erstaunen bei mir, und ich verneinte mit entsprechendem Ausdruck: Otto Franke sei wirklich mein Name. Unter allgemeiner Heiterkeit klärte sidi jetzt die Situation in folgender Weise auf. Unter Kielhorns Schülern war ein Namensvetter von mir, Otto Franke (der spätere Sanskrit-Professor in Königsberg), der sich zwei Tage vorher verabschiedet hatte und Tags darauf abreisen wollte; daher das Erstaunen bei Empfang meiner Karte und das noch größere bei dem Anblick meiner Person. Als mein Doppelgänger im Wintersemester nach Göttingen zurückkehrte und ich inzwischen ebenfalls Kielhorns Sdiüler geworden war, gab es natürlich neues Erstaunen und während der Folgezeit eine Unzahl von Verwechslungen und Mißverständnissen. Jahrzehntelang hindurch hat mich diese Doppelheit der Namen bedrängt, indem ich Briefe, Korrekturbogen u. a. erhielt, die für den Königsberger Kollegen bestimmt waren, angeredet wurde unter Voraussetzungen, die nicht zutrafen, und in der Fachliteratur Zitate lesen mußte, die von der entstandenen Verwirrung zeugten. Als ich später promovierte, und zwar in den gleichen Fächern wie der um ein Jahr ältere „andere", waren das Universitäts-Sekretariat und das Dekanats-Bureau fassungslos. Noch über das Grab hinaus hat mich die Verwirrung verfolgt, indem die letzte Ausgabe von Meyers Konversations-Lexikon meine Biographie mit der Angabe schließt, ich sei am 5. Februar 1928 in Königsberg gestorben. Wie einst Marc Twain in ähnlicher Lage erklärte idi der Redaktion gegenüber die Behauptung für „übertrieben" und bestritt ihre Richtigkeit. Aber noch im Jahre 1935 widerfuhr es mir von einer Amtsstelle, daß ich für den angeblich seit sieben Jahren toten Kollegen genommen wurde. Kielhorns Sanskrit-Grammatik warf binnen kurzer Zeit meine ganzen wissenschaftlichen Pläne über den Haufen. Hier ging mir ein neuer Stern auf, der midi in eine neue Richtung wies. Einesteils war es der Gegenstand, der mich bald in hohem Maße fesselte, anderesteils aber, und noch mehr, der hervorragende Lehrer, der ihn mir nahe brachte. Jetzt fand idi, was ich bisher vermißt hatte, die beständige Verbindung im Unterricht von Person zu Person, und zwar in der denkbar angenehmsten Form. Je weiter idi in die indische Formenfülle vordrang, um so stärker lockte midi die ferne, rätselvolle Welt. Am Ende des Semesters stand meine Liebe zum Orient in vollen Flammen und klassische Philologie, Geschichte und alles übrige wurden rettungslos darin verzehrt. Im Wintersemester war ich soweit, daß ich alle Vorlesungen von Kielhorn hören konnte: die Fortsetzung der Grammatik, die Lektüre eines einheimischen grammatischen Werkes, der Laghukaumudï, und eines Dramas von Bhavabhüti, Mälatlmädhava. Das erforderte stetiges und anstrengendes Arbeiten, aber ich war froh, wenn ich Kielhorns Zufriedenheit erlangte. Wir waren ein kleiner Kreis, der sich um ihn scharte und in dem ich der letzte Anfänger war: außer uns zwei Otto Frankes gehörte Bruno Liebig dazu, der spätere Ordinarius von Breslau, der spätere Minister Solf, der seine Laufbahn als Indologe begann und 31

von Pischel in Kiel kam, ein Amerikaner und ein Italiener. Infolge von Promotionen und Weggang schrumpfte unsere Zahl weiter zusammen, und schließlich, im Winter 1885/86, war ich der einzige Fortgeschrittene, der aber den Vorzug hatte, von Kielhorn in das Labyrinth seines ureigenen Gebietes, das grammatische System des Panini und seines großen Kommentars, des Mabäbhâsya von Patañjali, eingeführt zu werden, auf dem wohl Kielhorn die größte europäische Autorität war. Wir lasen die Texte in seinem Hause, und die Stunden, die idi hier verbrachte, gehören zu den glücklichsten meiner Studentenzeit. Ich habe während der vier Semester, die ich unter Kielhorn lernen durfte, zahlreiche Werke der indischen Literatur, vom Rgveda bis zur schönen Literatur Kälidäsas und anderer, kennengelernt und unter der Anweisung meines hochverehrten, bis heute unvergessenen Lehrers, der mir in seiner immer gleichbleibenden Güte audi den Zugang zu seinem gastlichen Hause geöffnet hielt, ihre Eigenheit in mich aufgenommen. Kielhorn hat mir gezeigt, wie man wissenschaftlich arbeiten muß, und diese Erkenntnis ist der schönste und dauerndste Gewinn, den ich aus der Göttinger Zeit davongetragen habe und für den idi immer dankbar geblieben bin. Persönlich hatte Kielhorn wenig vom deutschen Professor. Eine wohltemperierte Art, die ein bestimmtes Maß von Lebhaftigkeit nidit überschritt, eine immer gleichbleibende Freundlichkeit, die keine schlechte Laune kannte, und ein offener Blick, in dem nichts Verstecktes war, nahmen je länger, um so mehr für ihn ein. Große Sicherheit in den ungezwungenen Umgangsformen verrieten den Mann der Welt, sein langer Aufenthalt in England und danach in Indien hatten ihn — was damals leicht begreiflich war — äußerlich anglisiert, er trug sich englisdi und bei Tische ging es durchaus englisch zu. Sein Empfinden aber war deutsch geblieben, und oft habe ich von ihm die Äußerung gehört, daß vieles, was für England gut sein möge, durchaus nicht auch gut für Deutschland sei. Naseweise Bemerkungen oder hochfahrendes Gebaren junger englischer snobs wußten er wie seine Gattin ruhig, aber deutlich abzuweisen. Was sich Kielhorn angeeignet hatte, waren eigentlich nur die angenehmen Seiten des Engländertums, die aufkeimende politische Entfremdung hat er später sehr rasch herausgefühlt und schmerzlich bedauert. Aber über alle Äußerlichkeiten hinaus war er ein Mann von makelloser, vornehmer Gesinnung, Professorendünkel, an dem manche seiner Kollegen litten, war ihm völlig fremd. Eifersucht, Mißgunst, Intriguen kamen an ihn nicht heran, eine vorsichtige Zurückhaltung hatte ihn wohl die Erfahrung gelehrt, aber auf sein Wort konnte man sich unbedingt verlassen. Als Gelehrtem hat man ihm nicht ohne alle Berechtigung eine gewisse Einseitigkeit vorgeworfen. Indische Landeskunde, Fragen der Ethnologie, Kunst, Religion und Philosophie lagen ihm nicht, sein Gebiet war die Sprache; die überspitzten Theorien und Verirrungen der einheimischen Grammatiker, danach aber auch die zahllosen, an Schwierigkeiten überreichen Inschriften beschäftigten ihn weitaus am meisten, sie entsprachen auch am besten seinem klaren, mathematisch geschulten, keine Unklarheit duldenden Verstände, und hier war er eine unübertroffene, ja wohl unerreichte Autorität. Daß er ein vor-

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züglidier Lehrer war, habe idi erwähnt, und wir Schüler haben immer mit großer Verehrung zu seinen Füßen gesessen. Unter den zahlreichen Bekanntschaften, die ich durch Kielhorn machte, war auch die von meinem Nachbarn Lagarde. Da wir denselben Weg zur Universität hatten, machten wir ihn öfter gemeinsam; auch in seinen Vorlesungen hospitierte idi zuweilen. Bei all seiner erstaunlichen Gelehrsamkeit war Lagarde ein galliger Nörgeier, der alles besser wußte und keine Meinung neben der seinigen gelten ließ. Von seinen Vorlesungen ging kaum eine ohne ein paar bissige Bemerkungen hin. E r ist heute wieder stark in Mode, wird aber als politischer Seher erheblich überschätzt. Weiter wies mich Kielhorn auf den Philologen Bechtel hin, damals Privatdozent in Göttingen, später Ordinarius in Halle, der sich besonders als griechischer Epigraphiker einen Namen gemacht hat. Ich habe bei ihm verschiedene sprachwissenschaftliche Kollegs gehört, im besonderen griechische Grammatik, Gotisdi und altitalische Dialekte (Oskisch und Umbrisdi). Bechtel war außerordentlich kenntnisreich, aber übernervös und maßlos verbittert durch vermeintliche oder wirkliche Zurücksetzung in seiner Laufbahn. Ich habe oft die Geduld von Kielhorn und mehr noch die von Frau Bechtel bewundert, die sie mit den ewigen Lamentationen und boshaften Äußerungen über beinahe jeden Ordinarius hatten. Trotz meines fleißigen, oft angestrengten Arbeitens während der Göttinger Semester habe ich doch die Zeit erübrigt, die damals noch volle Ungebundenheit des Studentenlebens zu genießen. Bald nach meiner Ankunft war ich bei einer Korporation aktiv geworden, die sich dann in eine Burschenschaft umwandelte. Ich habe mich in diesem Kreise sehr wohl gefühlt, viel fröhliche, selbst ausgelassene Stunden verlebt und manche dauernde Freundschaft geschlossen. In einer Stadt wie Göttingen war der „Wilde" (d. h. Nicht-inkorporierte) nur ein halber Student, und daß man in der Korporation nicht bloß zum „Bummeln" gezwungen war, haben ich und mancher andere bewiesen, obwohl ich ein Semester lang „Erster" (d. h. Praeside) war. Unzweifelhaft war in dem akademischen Verbindungswesen manches erhalten geblieben, was schon damals anachronistisch war, aber dem Zuge der Zeit würde es dauernden Widerstand nicht haben leisten können und wäre allmählich von selbst verschwunden, wie ja z. B. der üble Trinkzwang um die Jahrhundertwende dem Einfluß des Sportgedankens hatte weichen müssen und wie dann der große Krieg einen völligen Wandel der Anschauungen bewirkt hatte. Durch die spätere radikale Beseitigung des gesamten Verbindungswesens hat man zwar alles Überständige entfernt, aber man hat audi der Jugend das köstlichste Stück Romantik genommen. Im Sommer 1886 glaubte ich mich reif zur Promotion. Kielhorn hatte mir den Text einer Siksä, eines der kleinen phonetischen Werke, die auch der VedaRezitation dienen, zum Studium gegeben, die Ubersetzung und Erklärung bildete den Gegenstand meiner Dissertation. Als ich auf dem Sekretariat meine Anmeldung abgab, zögerte man dort mit der Annahme, „weil ich schon im Jahre vorher in denselben Fächern promoviert hätte". Es war wieder die unselige Verwechslung mit meinem Doppelgänger, der in der Tat ein Jahr vor mir 3 Franke, Erinnerungen

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ebenfalls die Prüfung in Sanskrit und Sprachvergleichung abgelegt hatte. Am 29. Juli wurde ich nach Ablegung der mündlichen Prüfung in den zwei Fächern Sanskrit und Sprachvergleichung zum Dr. phil. promoviert. In der Prüfung hatte ich unter der Eigenart meines Examinators Bechtel zu leiden. Er prüfte zum ersten Male in seinem Leben, war deshalb noch nervöser als sonst und aufgeregter als sein Opfer. Er hatte sich offenbar ein Verzeichnis seiner zu stellenden Fragen ausgearbeitet und ließ dieses nun unerbittlich abrollen. Statt zunächst eine Bekanntschaft mit den allgemeinen Aufgaben der vergleichenden Sprachwissenschaft, ihrer Methode und ihren wichtigsten Gesetzen festzustellen, wie es von Fick her bekannt war und wie ich es auch heute noch erwarten würde, wünschte er unter Vorlegung eines oskischen Textes alle Einzelheiten des Sprachbaus und sämtliche Unterschiede gegen das Umbrische zu wissen. Obwohl ich, nachdem ich die ersten Fragen noch richtig beantwortet hatte, danach völlig versagte, ließ er sich nicht abbringen, Punkt für Punkt mit der Fackel seines Verzeichnisses in das Dunkel meiner Unkenntnis hineinzuleuchten. Kielhorn war über diese Prüfung so ärgerlich, daß er mir nachher sagte, hinfort würde er jedem seiner Schüler abraten, Sprachvergleichung als zweites Prüfungsfach zu wählen. Ich habe mir die Erfahrung zur Warnung dienen lassen: niemals später, wenn ich zu prüfen hatte, habe idi mich im einzelnen vorbereitet, sondern bin so weit wie möglich tastend den Angaben des Kandidaten nachgegangen. Ich kann diese Methode nur empfehlen. Nach der Promotion begann die Frage: „Was nun?", die sich schon während der vergangenen Zeit mehrfach leise hervorgewagt hatte, aber von mir immer mit einem carpe diem abgewiesen war, nachdrücklicher Beachtung zu fordern. Mein Vater hatte niemals auf mein Studium Einfluß zu nehmen versucht, mich auch jetzt nie mit einem Worte gedrängt, aber um so mehr fühlte ich die Verantwortung, die ich auf mich genommen hatte, und das Verlangen, bald ohne Stützen weitergehen zu können. Kielhorn hatte mir einmal in seiner gütigen Art gesagt, idi dürfe das Sanskrit nicht um seinetwillen weiter treiben, sondern müsse meine Zukunft bedenken. Ich hatte ihm geantwortet, ich triebe meine Studien aus Liebe zur Sache und aus Freude an seinem Unterricht. Danach hatte er mir leise angedeutet, idi könne vielleicht eine Zeitlang bei Max Müller in Oxford Assistent werden — was er selbst mehrere Jahre gewesen war — und durch dessen Empfehlung in englische Dienste nach Indien kommen. Indessen sei bei dem gegenwärtigen wenig freundlichen Verhältnis Englands zu uns diese Aussicht äußerst gering. Für jeden Fall riet mir Kielhorn, midi zunächst einmal mit den indischen Prakrit-Dialekten zu beschäftigen und zu diesem Zwecke zu Jacobi nach Kiel zu gehen (er war später in Bonn). So siedelte ich denn im Januar 1887 nach Kiel über und meldete mich bei Jacobi, von dem idi auf das freundlichste aufgenommen wurde. Ich traf hier meinen ehemaligen Studiengenossen Solf wieder, der inzwischen in Halle bei Pischel promoviert hatte und, von Hause aus wohlhabend, in Kiel als angehender Grandseigneur lebte, aber ernsthafte indologische Studien trieb, und außerdem Richard Fick, der später durch seine Tätigkeit am 34

Gesamtkatalog der Bibliotheken bekannt geworden ist. Wir lasen zusammen mit Jacobi Mahârâstrï-Texte in Solfs prunkvoller Wohnung, und idi behielt Zeit genug, midi mit den interessanten Eigenheiten des werdenden Kriegshaiens bekannt zu machen. Während der Anblick des Meeres aufs neue in mir den Drang in die Ferne weckte und meine indisdien Hoffnungen mir dodi nur als nebelhafte Gebilde erschienen, erhielt idi am Ende des Winters plötzlich die Nachricht, die wie ein Blitz in beides hineinschlug und meinem Leben eine ganz neue Wendung gab. Idi hatte meinem Freund Wassmannsdorf in Berlin von meinen Zukunftshoffnungen und Sorgen geschrieben, und er riet mir jetzt in seiner Antwort, dodi den Dolmetscherdienst des Auswärtigen Amts einmal in Betracht zu ziehen. Bei den diplomatischen und konsularischen Vertretungen des Reiches im Auslande würden oft jüngere, mit der Landessprache vertraute Männer gebraucht, die, namentlich im Orient, bei erprobter Geeignetheit im Dienste aufstiegen, ohne daß ihnen nach oben eine Grenze gesetzt sei. Am besten seien die Aussichten in China und Japan, wo die Tätigkeit der Dolmetscher von großer Wichtigkeit sei. Diese Mitteilung elektrisierte mich. Schon in Göttingen war idi wiederholt auf die Nachrichten der chinesischen Pilger Hüan-tsang und I-tsing über Indien und den Buddhismus im 7. Jahrhundert gestoßen, die den Zauber des Geheimnisvollen für mich gehabt hatten. Von der Indologie zur Chinakunde gab es also Brücken, Wege, die vielleicht zu ungeahnten Zielen führten. Ich beschloß sofort, mich beim Auswärtigen Amt zu melden. Der Bescheid, den ich erhielt, war nicht sehr ermutigend. Für den Eintritt in den Dolmetscherdienst wurde wenigstens das Bestehen der ersten juristischen Staatsprüfung verlangt, dagegen wurde auf sonstige, insbesondere sprachliche Vorbildung kein Wert gelegt. Die Ergebnisse meiner bisherigen Studien waren also nicht zu verwerten. Ich ließ mich aber nicht abschrecken. Eine weitere Anfrage ergab, daß „Kenntnisse auf dem Gebiet des öffentlichen und privaten Rechts" notwendig seien, daraus schloß ich, daß die Ablegung der Referendarprüfung vielleicht keine unerläßliche Bedingung sei. Ich besprach die Sache mit Solf, er fand den Gedanken sehr gut, und wie sich später herausstellte, beschloß er alsbald, das gleiche zu unternehmen. Audi Jacobi redete mir zu und empfahl mir, gleich mit dem Studium von Endlichere „Anfangsgründen der chinesischen Grammatik" zu beginnen, ein Unternehmen, das ich sehr bald als hoffnungslos aufgab. Dem autodidaktischen Anfänger reifen im Chinesischen keine Früchte. Er wird einen großen Aufwand an Zeit und Kraft umsonst vertun und nur kümmerliche und schiefe Ergebnisse erzielen, auch wenn er nicht, wie idi, mit dem 1845 erschienenen Lehrbuch eines Dilettanten den Versuch unternimmt. Selbst ein einheimischer Lehrer ohne europäische Sprachkenntnisse hilft im Anfang nur schwer und langsam weiter; allein der Unterricht eines sachkundigen Europäers führt den kürzesten und einfachsten Weg über die Anfangsgründe der sehr schwierigen Sprache hinweg zur Fähigkeit des selbständigen Weiterarbeitens, wo dann der Einheimische an seinem Platze ist. Zu Beginn des Sommersemesters 1887 ging ich wieder nach Berlin und ließ 3·

mich als stud. jur. einschreiben. Mit heißem Bemühen hörte idi die folgenden zwei Semester Staatsrecht, Völkerrecht, Handelsrecht und nahm sogar an strafrechtlichen Übungen teil. Das Ergebnis war eine Sammlung musterhafter Kolleghefte, die angehenden Referendaren später beim „Einpauken" dienlich waren, sowie die Uberzeugung, daß ich zum Juristen untauglich sei. Ich vermochte nicht einzusehen, weldien Nutzen die Hauptmaterie, die ich mir für die Referendarprüfung anzueignen hatte, für meine künftige Tätigkeit haben könnte, und warum ich also mein durch andere Dinge in Anspruch genommenes Gedächtnis damit belasten sollte. Obwohl das Auswärtige Amt offenbar keinen Wert auf sprachliche Vorkenntnisse legte, hatte ich doch bei dem einzigen Vertreter ostasiatischer Sprachen an der Universität, dem Privatdozenten Dr. Grube, sogleich mit dem Studium des Chinesischen begonnen. Grube, ein Petersburger Deutscher, war ein sehr feinsinniger Gelehrter mit einer ausgezeichneten, teils in Rußland, teils bei Georg v. d. Gabelentz in Leipzig erworbenen Schulung. Er machte mich in fesselnder Art rasch mit den Elementen der Sprache bekannt, und bald konnte ich, sein einziger Schüler, ihm bei seiner Erklärung klassischer chinesischer Texte folgen. Die gemeinsame Arbeit brachte uns schnell näher und am Schlüsse des Semesters waren wir gute Freunde. Dies Verhältnis wurde noch fester, als am 27. Oktober 1887 das Seminar für orientalische Sprachen eröffnet wurde, das auch eine Abteilung für Chinesisch enthielt. Ich ließ mich bei dieser einschreiben und nahm dann gemeinsam mit Grube an dem Unterricht in moderner nordchinesischer Umgangssprache teil, der von Karl Arendt, dem langjährigen ersten Dolmetscher der Kaiserlichen Gesandtschaft in Peking, erteilt wurde. Im Gegensatz zu dem streng wissenschaftlichen Grube war Arendt reiner Praktiker, beherrschte aber die gesprochene Sprache mit vollendeter Meisterschaft. Trotzdem fühlte er sich in seiner neuen Stellung sehr unsicher, was sich oft in amüsanten Szenen äußerte und daher den jüngeren Hörern Anlaß zu respektlosen Witzen gab. Bei allen Mängeln, die das neugeschaffene Institut naturgemäß noch haben mußte, läßt sich doch sagen, daß die Ausbildung, wenigstens was das Chinesische angeht, im ganzen zweckmäßig, der Unterricht in Sprache und Länderkunde, zumal er von einem Peking-Chinesen unterstützt wurde, gewinnbringend war. Das Seminar, dessen Gründung etwas ruhmsüchtig auf keinen Geringeren als den Fürsten Bismarck zurückgeführt wird, war in Wirklichkeit infolge der wachsenden deutschen Handelsbeziehungen zu Asien, vornehmlich dem vorderen Orient, und zu A f r i k a nach dem Vorbilde ähnlicher Einrichtungen in anderen Ländern ins Leben gerufen worden. Fürst Bismarcks Mitwirkung beschränkte sich auf eine unmutige Bemerkung, als bei dem Besuch des Schahs von Persien in Berlin niemand aufzutreiben war, der neupersisch verstand. Aber das lag Jahre zurück und war wohl längst vergessen. Indessen war angesichts der Bedürfnisse des Auswärtigen Dienstes wie der Industrie und des Handels die Gründung des Seminars eine Notwendigkeit, wie denn auch die schnelle Ausdehnung seines Arbeitsfeldes auf das gesamte Ausland das beste Zeugnis dafür ist. Das Auswärtige Amt hatte sein Interesse an der Neuschöpfung dadurch be-

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kündet, daß der Staatssekretär Herbert von Bismarck die Eröffnungsansprache hielt und ihr das Motto mitgab: Indocti discant et ament meminisse periti. (Etwas voreilig hatte er freilich das Wort dem Horaz zugeschrieben.) Hörer waren meistens Studenten, die dem Auswärtigen Amt zustrebten, aber auch Kaufleute, Missionare, Offiziere, Beamte u. a. Das Seminar hieß zwar amtlich „Seminar für orientalische Sprachen an der Friedrich-Wilhelm-Universität" und hatte einen Ordinarius zum Direktor, aber die Universität hat dieses unerbetene Anhängsel niemals beachtet: es war keine „wissenschaftliche Anstalt" und gehörte daher nicht in ihren Bereich; ihr Verhalten war das einer ehrbaren Frau, der man einen Bastard in die Wiege gelegt hat. In neuerer Zeit ist das Seminar zu einer „Auslandshochschule", dann zu einem „Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut" und schließlich zu einer ganzen „Auslandswissenschaftlichen Fakultät" geworden. Der Charakter der Arbeitsleistung dürfte sich nicht geändert haben. Auch Solf hatte sich in Berlin eingefunden und war Hörer in der Indischen Abteilung geworden. Er war damals mit der Übersetzung von Kielhorns englisch geschriebener Sanskrit-Grammatik beschäftigt und führte das Werk auch in Berlin zu Ende. Später wurde er vom Auswärtigen Amt dem Generalkonsulat in Kalkutta überwiesen, wo Herr von Heyking sein Chef wurde. Nach einigen recht unerfreulichen Erfahrungen mit diesem sehr schwierigen Vertreter einer bestimmten Richtung im Amt verließ er jedoch den Dienst wieder, weil er sah, daß er auf dem Wege in Indien nicht weiterkommen würde. Er erledigte vielmehr, was in seinem Falle das Richtige war, die ganze juristische Ausbildung, allerdings in sehr gedrängter Form, bis zum Assessor und trat dann wieder in das Auswärtige Amt ein, wo er bekanntlich bis zur höchsten Stelle emporstieg. Solf war von jeher ein Mann von großer Weltgewandtheit, ungezwungener Liebenswürdigkeit und besonderer Geschicklichkeit in der Behandlung von Menschen, weit mehr geeignet zum Diplomaten als zum Professor. Viel Zeit zu Zerstreuungen ließen mir meine Arbeiten nicht. Unter den Studenten der chinesischen Abteilung, zu denen auch meine späteren Kollegen Forke, Florenz und mehrere andere gehörten, war kein engerer Zusammenhalt. Florenz, der etwas später von Leipzig aus der Schule von v. d. Gabelentz kam, ging 1888 nach Japan und wechselte dann ganz zur Japanologie über, mit Forke, dem einzigen, mit dem ich mich später auch im akademischen Leben wiedergefunden habe, hatte ich keine Fühlung genommen. Dagegen verlebte ich mit Grube viele anregende Stunden, wobei sich außer anderen auch F. W. K . Müller zuweilen einfand, der ebenfalls ein Schüler von Grube gewesen und wie dieser am Museum für Völkei künde tätig war. Auch v. d. Gabelentz kam zuweilen von Leipzig herüber und amüsierte uns mit seinen schönen sächsischen Geschichten. Mit seiner gewaltigen Körperlänge, die 2 Meter weit überstieg, erregte er überall Aufsehen, und wenn man mit ihm durch die Straßen ging, konnte man sich der größten Aufmerksamkeit der Berliner erfreuen. Ein unvergeßliches Ereignis war es, als Fürst Bismarck am 6. Februar 1888 im Reichstag bei seiner Abrechnung mit Rußland das stolze Wort gesprochen 37

hatte: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt", und wir ihm auf seinem Nachhauseweg, den er zu Fuß zurücklegte, mit den begeisterten Massen zujubeln konnten. Es war überhaupt ein ereignisreiches Jahr, das seinen Anfang genommen hatte. Am 9. März starb Kaiser Wilhelm; bei der Aufbahrung im Dom und der großartigen Beisetzung am 16. März konnte idi Augenzeuge sein und die schreckensvollen Szenen miterleben, die sich bei dem Zusammenströmen der ungeheuren Menschenmassen abspielten, die geduldig den Zutritt zum Dom abwarteten. Es folgte dann die umdüsterte Regierung der 99 Tage unter Kaiser Friedrich, der am 15. Juni seinem Leiden erlag, und die Thronbesteigung Wilhelms II. An allem nahm die Berliner Bevölkerung den stärksten, oft leidenschaftlichen Anteil. Mit dem Tode des alten Kaisers, das fühlte jeder, auch von uns, zog eine neue Zeit herauf, der man mit Sorge entgegensah. Die Krankheit des in den breiten Schichten sehr populären Kaisers Friedrich lag wie ein Alb auf der Hauptstadt, man konnte es an spontanen Kundgebungen, selbst an den Stammtischen der Bierstuben, beobachten, wie tief die Anteilnahme an dem Geschick des unglücklichen Fürsten ging. Alles das lenkte audi meine Aufmerksamkeit von der bevorstehenden Entscheidung meines eigenen Schicksals mehrfach ab, und ich war froh, die Sonntagnachmittage wieder regelmäßig in dem gastlichen Wassmannsdorfsdien Hause zubringen zu können, wo ich die angenehmste Entspannung und Erholung nach der unruhigen Woche fand. So vergingen der Sommer und der Winter. Das Studium des Chinesischen machte mir viel Freude, aber die Frage nach der Zukunft fing jetzt an, mich ernstlich zu beunruhigen. Ich kam in mein dreizehntes Semester und hatte außer meinem Doktordiplom nichts, was midi zur Anwartschaft auf irgendeine Anstellung berechtigt hätte. Es stand mir frei, die Abschluß- oder Diplomprüfung auf dem Seminar abzulegen, aber dazu mußte ich noch weitere drei Semester aufwenden, und irgendeine Sicherheit erlangte ich damit auch nidit. Meinem Vater wollte ich dieses Opfer nicht mehr zumuten, und schon aus demselben Grunde war ich auch entschlossen, die juristische Laufbahn nicht weiter zu verfolgen, selbst wenn meine vorhin erwähnten Bedenken nicht bestanden hätten. So blieb mir nur die aussichtschwache Möglichkeit, zum Sanskrit zurückzukehren und zu versuchen, im Auslande unterzukommen. In dieser drückenden Lage schien mir plötzlich Hilfe von einer Seite zu kommen, von der ich sie am wenigsten erwarten konnte. Mein Vater kannte von seiner Landtagtätigkeit her einen in Dessau wohnenden Industriellen, der mit dem vortragenden Rat im Auswärtigen Amt, Göring, der wegen seiner Gegnerschaft zu Bismarcks Handelspolitik in den Hintergrund getreten war, aber später unter Caprivi als Freihändler bedeutenden Einfluß erlangte, näher befreundet war. Ein Zufall wollte es, daß Göring im Frühjahr 1888 in Dessau zu Besuch war, wobei ich durch Vermittlung meines Vaters die Gelegenheit erhielt, ihm vorgestellt zu werden. Idi trug ihm meinen Wunsch mit einem nicht eben geschickten Hinweis auf meine wissenschaftlichen Interessen vor. E r hörte mich an und erwiderte nur mit der Bemerkung, daß wissenschaftliche Interessen hier wohl nicht ausschlaggebend sein würden. Um nichts klüger kehrte ich nach Berlin zurück und fragte

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nunmehr in einer neuen Eingabe beim Auswärtigen Amte an, ob nodi Aussicht auf meine Verwendung bestehe. Zu meinem freudigen Erstaunen machte mir Wassmannsdorf bald nachher die Mitteilung, daß mein Antrag genehmigt sei, und in der Tat ging mir unter dem 6. Juli 1888 ein Erlaß des Reichskanzlers zu, der mich als Dolmetscher-Aspiranten der Kaiserlichen Gesandtschaft in Peking überwies und mich ersuchte, „noch im Laufe dieses Monats die Reise nach China anzutreten"; Besoldung, Reisekosten und Ausrüstung waren in großzügiger Weise geregelt. Verpflichten mußte ich mich, „mindestens 10 Jahre lang mich dem Dolmetscherdienste zu widmen und eventuell die mir aus Reichsmitteln gewährten Gelder zu erstatten". Meine Stimmung kann man sich leicht vorstellen. Es war eine ganz große Freude, der sich nur die nach bestandenem Abiturientenexamen zur Seite stellen konnte. Das Freundschaftsbäumlein, das in Freiburg seine Wurzel hatte, trug unerwartete Früchte. Ob etwa die Entscheidung des Auswärtigen Amts durch eine Fürsprache des Herrn Göring herbeigeführt worden ist, habe ich niemals erfahren können, wie ich ihn denn auch niemals wiedergesehen habe und niemals wieder an ihn herangetreten bin. Sollte er sich in der Tat für mich verwandt haben, so wäre dies der einzige Fall in meinem Leben, daß ich mich einer durch Dritte hergestellten „Beziehung" bedient habe. Alle die vielen und guten „Beziehungen", deren ich mich später erfreuen durfte, habe ich ausnahmslos allein durch mich selbst erworben. Aber sei dem, wie ihm wolle, ich fühlte, daß jetzt ein neuer Abschnitt meines Lebens begann, die dunkle Sehnsucht meiner Jugend wurde erfüllt, ich durfte in die große Welt hinaus.

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III. Eintritt in die Welt

Meine Einberufung machte im Seminar beträchtliches Aufsehen. Ich war einerseits der erste aus der neuen Anstalt, der vom Auswärtigen Amt einberufen wurde, andererseits der letzte, der ohne Diplomprüfung und Referendarexamen Zutritt erhielt. Hinfort war beides erste Voraussetzung f ü r die Annahme. Noch in letzter Stunde hatte denn auch der Direktor im Gegensatz zu seiner mir persönlich gegebenen Versicherung meine Einberufung zugunsten eines demSeminar angehörenden, aber gänzlich interesselosen Assessors — des einzigen — zu hintertreiben versucht. Die kurze Zeit, die mir nodi im Juli übrig blieb, wurde reichlich ausgefüllt von den Reisevorbereitungen. Selbst zum Abschiednehmen von meinen mit mir erfreuten Eltern blieben mir nur zwei Tage. Ich selbst wußte von der Technik einer solchen Reise um die halbe Welt natürlich nichts, in Berlin wurde idi zwar überall angestaunt, aber — ein Zeichen, wie rückständig man damals nodi in solchen Dingen außerhalb der Hansestädte war, — ein paar verständige Ratschläge wußte mir niemand zu geben. Professor Arendt, von dem ich natürlich vor allen anderen sachkundige Auskunft erwartet hatte, erwies sich als so erstaunlich unerfahren und wirklichkeitsfremd, daß alles, was er mir riet, nicht nur zwecklose Ausgaben verursachte, sondern draußen auch noch allgemeines Gelächter auf meine Kosten. Eine Reise nach China im Jahre 1888 galt nodi als ein abenteuerliches Unternehmen; die darauf folgenden Jahre haben dann freilich sehr erzieherisch gewirkt. Als ich beim Rektor — es war der Botaniker Schwendener — um meine vorzeitige Exmatrikulation nachsudite, sagte er zu dem neben ihm stehenden Beamten des Sekretariats mit einem Ausdruck und einem Ton, in denen ein Gemisch von sittlicher Entrüstung und staunendem Mitleid unverkennbar war: „Der will nach China". Idi war offenbar für ihn eine havarierte Existenz. In meiner dauernd gehobenen Stimmung berührten mich indessen alle diese wunderlichen Erfahrungen sehr wenig. Ich war froh, daß ich Ende des Monats mit allem fertig war; am 30. Juli verließ idi Berlin, und am 6. August schiffte ich mich in Genua auf dem Bremer Lloyddampfer „Braunschweig" ein. Seit 1884 wurde je eine Linie des Norddeutschen Lloyd nach Ostasien und Australien vom Reich gegen Beförderung der Post subventioniert. Nach dem Vertrage mit dem Reiche war der Lloyd zu monatlich einer Fahrt nach Ostasien verpflichtet. Die Linie ging von Bremen über Genua, Port Said, Aden, Colombo, Singapore (Penang), Hongkong nach Schanghai. Von dort wurden die japanischen 40

Häfen Nagasaki, Kobe, Yokohama angelaufen, dann folgte die Rückkehr nach Schanghai und die Heimreise über Hongkong usw. Später ist dieser Fahrplan geändert und erweitert worden. Der Schiffspark war noch nicht ganz auf der Höhe, die dafür vorgesehen war. Die „Braunschweig" gehörte zu den rückständigen Fahrzeugen, die noch nicht durch Neubauten hatten ersetzt werden können. Sie war 1872/73 in England gebaut, hatte, soweit ich mich erinnere, einen Gehalt von etwas über 2000 Tonnen und lief 13 Seemeilen. Der verwöhnte Reisende von heute würde die Zumutung, auf solchem „Kahn" die Fahrt nach China zu unternehmen, entrüstet abweisen. Es war auch die letzte Reise, die das Schiff machte, und der Lloyd hatte es eingesetzt, weil der August wegen der Hitze und des stickigen Südwest-Monsuns der schlechteste und darum am wenigsten begehrte Monat für die Reise nach Ostasien ist. Die Glut im Roten Meer und im Indischen Ozean war denn auch dermaßen überwältigend, daß man seines Lebens nidit froh wurde. Der Lloyd hatte, wie andere Gesellschaften auch, wegen dieser Verhältnisse als Heizer früher Somali-Neger eingestellt, die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten erhoben aber zornigen Protest wegen der „Lohndrückern" auf subventionierten Schiifen und verlangten sofortigen Ersatz durch deutsche Arbeiter. Wir hatten demgemäß deutsche Heizer, und die Folge waren im Roten Meer bei einer Temperatur von 54 bis 67 Grad im Maschinenraum acht Hitzschläge an einem Tage. Solche traurigen Lehren sind leider öfter nötig, um doktrinäre Besserwisser zu überzeugen. Bald nach unserer Ausfahrt aus Genua merkte ich, daß eine Seefahrt nicht immer ein ungemischtes Vergnügen sei: im Mittelmeer rollte eine kräftige Dünung, und ich wurde elend seekrank. Diesen Zustand sollte ich im Laufe der Reise noch öfters und gründlich kennenlernen, namentlich als uns nach dem Ausgang aus dem Roten Meer der Südwest-Monsun packte und eine Zeitlang durch den Indischen Ozean begleitete. Ich gedachte in meinen Nöten meines von Zerbst her vertrauten Gesinnungsgenossen Horaz und stimmte von Herzen in seine Verwünschung ein: Illi robur et aes triplex Circa pectus erat, qui fragilem truci Commisit pelago ratem Primus .... Auf den zahllosen Seereisen, die ich später habe machen müssen, hat mir die Seekrankheit noch oft die Laune verdorben, und es hat langer Jahre bedurft, bis ich frei davon kam und seefest wurde. Dabei habe ich die überraschende Beobachtung gemacht, daß es nur die Dampfschiffe waren, deren stampfende Bewegungen mir so übel mitspielten, daß aber Segelschiffe selbst kleinster Art auch in der stärksten ozeanischen Dünung mir nichts anhaben konnten. Neben der Seekrankheit peinigte uns (ich war nicht der einzige Leidtragende) von Port Said ab die Hitze, die im Suez-Kanal und im Indischen Ozean durch die Feuchtigkeit sich bis zur Unerträglichkeit steigerte und nicht mehr unter 42 Grad sank. Ein Aufenthalt in den Kabinen war zeitweilig unmöglich und wurde doch oft durch die schwere See erzwungen. So oft es möglich war, suchte man sich seinen nächt-

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lichen Schlafplatz irgendwo an Deck. Mir wurde jetzt begreiflich, daß im August niemand durch die Tropen reist, der es vermeiden kann, und daß wir aus dem Grunde so wenig Passagiere waren. Abgesehen von Hitze und Seekrankheit gab es auch sonst noch Dinge, die in das Leben an Bord der „Braunschweig" zwar Abwechselung, aber keine Annehmlidikeiten brachten. Ein brummiger Kapitän (im Gegensatz zu den sonst als besonders höflich bekannten Lloydkapitänen), ein Schiffsarzt, der durch Hitze und Alkohol tobsüchtig wurde und eingesperrt werden mußte, die Hitzschläge unter den Heizern, ein Maschinenschaden, der uns eine Zeitlang zum Segeln zwang (die „Braunschweig" pflegte auch sonst bei günstigen Windverhältnissen Segel zu setzen), dazu die kleinen Zwischenfälle, die unter einer Gesellschaft von nervös gewordenen, auf engem Raum zusammengedrängten Menschen nichts ungewöhnliches sind — alles das hing im Grunde mit der Kleinheit des Schiffes zusammen und war leicht zu ertragen. Wenn ich später die Schilderungen der auf Segelschiffen in achtmonatlicher Fahrt um Afrika herum nach China gekommenen Landsleute hörte, wurde mir klar, welch ein gewaltiger Unterschied zwischen unserer Reise und einer solchen wenige Jahre vorher bestand. Trotz aller Mißhelligkeiten genoß ich denn auch die Reise, die südländische und tropische Natur mit ihrer Fülle und Farbenpracht sowie den Aufenthalt in den angelaufenen Häfen mit ihren bunten Bildern und ihrer Überfülle des Neuen in vollen Zügen. Auf Ceylon riefen natürlich das Volk der Inder und seine Kultbauten die Erinnerungen an meine Sanskrit-Studien wach, und im Augenblick zog mich die einst so ersehnte indische Welt stärker an als die kommende chinesische. In Singapore und Hongkong trat mir zwar diese in ihren Ausläufern entgegen, aber ich sah zu deutlich, daß dies koloniales Europäertum mit malayischem und chinesischem Hintergrunde war, aber nicht China. Was ich hier bewunderte, und was idi auf der ganzen Reise in steigendem Maße bewundert hatte, das war die Machtfülle und der Reichtum des englischen Weltreiches. Schon unter Kielhorns ungewolltem Einfluß hatte ich mich in eine gewisse Begeisterung für englisches Wesen hineingelebt, und diese Reise, deren sämtliche Stationen von Genua ab englisches Gebiet oder wenigstens von englischem Einfluß beherrscht waren, hatte diese Begeisterung gewaltig verstärkt. Welch ein Volk, das, selbst frei und herrschgewohnt, Völker verschiedenster Rassen mit solcher Ruhe und Sicherheit lenkte, daß diese ihren Zustand als eigene Glückseligkeit empfanden und niemals gegen ihren überragenden Herrn aufbegehrten! Idi glaube, daß damals alle Ubersee-Deutschen, alte wie junge, gleiche oder ähnliche Empfindungen hinsichtlich der Engländer hegten. Ein paar englische Offiziere von Ceylon, die wir an Bord hatten, erregten zwar durch ihr Verhalten öfters mein Mißfallen, aber ich beschwichtigte midi selbst mit dem Gedanken, daß bei uns junge Leute in ähnlicher Stellung auch nicht anders wären. Am 9. September landeten wir in Schanghai, dem ersten Ziel der Reise. Auf dem deutschen Generalkonsulat wurde idi freundlich aufgenommen und gastfrei untergebracht. Die Stadt war damals noch nicht die mächtige Handels- und Industrie-Metropole mit dem Welthafen des Yangtse-Deltas, zu dem sie im

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20. Jahrhundert aufgeblüht ist, und stand als Umschlagplatz hinter Hongkong zurück, immerhin war es mit seinem reichen Hinterland eine Zentrale für Übersee· und Inland-Handel mit einem strömenden Großstadt-Verkehr. Auf mich machte es einen ähnlichen Eindruck wie Singapore und Hongkong: eine europäische, d. h. im wesentlichen englische Handelskolonie auf chinesischem Boden, aber nodi immer nicht China. Es war eine Eingangstür zu der großen ostasiatischen Welt, nicht diese selbst. Ich benutzte den mehrtägigen Aufenthalt, um meine Ausrüstung an passender Kleidung und an Haushaltsgegenständen, die man in Peking nicht haben konnte, unter sachkundigem Rat zu vervollständigen und das Klubleben der Kaufleute zu beobachten. Daß ich von dem hier gesprochenen Chinesisch nichts verstehen konnte, überraschte mich nicht, da ich sdion in Berlin gelernt hatte, daß das gesprochene Chinesisch in zahllose, sehr stark verschiedene Dialekte aufgespalten war. Schon deshalb war ich zufrieden, als ich mich am 14. September auf der „Chunking", einem Dampfer der diinesischen „China Merchants Steam Navigation Co." mit chinesischer Mannschaft, aber englischen Offizieren und Maschinisten, zur Reise nach dem Norden einschiffen konnte. Es läßt sich nicht bestreiten, daß der Reiseweg, wie ich ihn gewählt hatte, vom malayischen Archipel ab ganz allmählich gradweise in die chinesische Welt hineinführt. Das fühlte idi besonders, als wir am 16. September den kleinen Hafen Tsdiifu anliefen, wo damals viele europäische Familien aus Schanghai und Tientsin die heißen Sommermonate zuzubringen pflegten — ein englisch sprechender chinesischer Kaufmann sprach sehr volltönend von dem „Brighton of China" — und stärker nodi in Tientsin, das wir am 18. erreichten und wo meine Seereise ihr Ende fand. Tientsin war als Auslaßhafen für die Exporterzeugnisse des nördlichen China, der Mongolei und der Mandschurei trotz seiner wenig günstigen Lage an dem arg versandeten Pai-ho und seiner Absperrung im Winter durch Eis ein wichtiger Handelsplatz mit einer großen europäischen Kolonie, aber dieses im englischen „Settlement" organisierte Gemeinwesen trat doch inmitten der chinesischen Großstadt weit weniger hervor als die europäisch-amerikanische Stadt in Schanghai. Außerdem hörte idi hier zuerst die wohlvertrauten nordchinesischen Laute überall in den Straßen, und so begann idi bald dessen inne zu werden, daß idi mich dem eigentlichen China näherte. Die Weiterreise von Tientsin konnte man über Land, zu Pferde oder mit einem Maultierkarren bewerkstelligen, was zwei Tage in Anspruch nahm (die Entfernung betrug hier etwa 120 km), oder auf dem Wasserwege, indem man den Pai-ho bis T'ung-tschou, dem alten Reishafen von Peking, hinauffuhr und von da die letzten fünfundzwanzig Kilometer mit Pferd, Esel oder Karren zurücklegte; für diesen Weg brauchte man bei günstigem Winde drei, bei ungünstigem bis zu fünf Tagen, flußabwärts zwei Tage. Heute erreicht man Peking von Tientsin aus in zweistündiger Eisenbahnfahrt. Europäische Reisende, besonders wenn sie viel Gepäck hatten, wählten fast immer den Wasserweg, denn einmal ist es nicht jedermanns Sache, zwei Tage je 6 Stunden im Sattel zu sitzen, und dann gehörte das Übernachten in einer chinesischen Herberge zu den Din43

gen, die man, wenn möglich, vermied. Man mietete sich für die Flußfahrt ein chinesisches Reiseboot, das in der Mitte einen mit Dadi und Türen abgeschlossenen Schlaf- und Wohnraum hatte und bei gutem Winde gesegelt, sonst gerudert oder getreidelt wurde. Wer Erfahrung in solchen Reisen und einen gewandten Diener hatte, ließ sidi diese „Kajüte" durch ein paar Stühle und möglichst viele weiche Unterlagen wohnlich herrichten; die Verpflegung bestimmte sich durch die Fähigkeiten und den guten Willen des Dieners. Ich hatte das Glück gehabt, in Schanghai einen jüngeren Peking-Mann zu finden, der bereits in europäischen Diensten gestanden hatte und jetzt in seine Heimatstadt zurückkehren wollte. Er trat um so lieber in meine Dienste, als ich mit Hilfe meines Seminar-Chinesich imstande war, mich mit ihm in seiner Sprache über das Notwendigste zu verständigen. Er hatte so gut wie möglich für mich gesorgt und bewährte sich auch als Koch. Mein Boot maß 14 m in der Länge und 3 m in der Breite und hatte in der Mitte einen dreigeteilten Aufbau, in dem auch der Diener oder „Boy" und das Gepäck untergebracht waren. Ich habe später noch viele solcher Bootsreisen auf Inland-Gewässern gemacht und mich dabei, als ich daran gewöhnt war, sehr wohl gefühlt. Am 19. September brach ich von Tientsin auf und merkte schon bei der Fahrt im Jinrikscha durch die Stadt zu der Bootstelle oberhalb am Flusse am Verhalten der Bevölkerung, daß hier der Europäer nodi nicht die gewohnte Erscheinung war wie in Schanghai: ich wurde immer wieder von neugierigen Blicken bestaunt, und bei der Einschiffung hatte idi eine dichte Schar von Zuschauern, zumal idi nodi eine geraume Zeit auf das Boot warten mußte. Allein in der andrängenden Menge — meinen Diener hatte ich mit dem Gepäck vorausgeschickt — hielt idi die Lage für bedenklich, blieb aber ruhig und versuchte zum Glück nicht, mit meinen chinesischen Brocken Respekt einzuflößen. Spätere Erfahrung hat mich gelehrt, daß zuweilen ein unglückliches Wort, eine ungeschickte Handlung oder irgendein Zufall im Augenblicke die Stimmung eines chinesischen Volkshaufens entflammen konnte, sofern ein einziger rüder Geselle die Losung ausgab. Wer dann nicht sehr gut chinesisch sprach und mit Chinesen umzugehen verstand, tat besser, zu schweigen und einen würdigen Rückzug zu suchen. Alles verlief indessen friedlich und um V22 Uhr schwammen wir auf dem Flusse, allen weiteren Belästigungen entzogen. Die Fahrt auf dem ganz sich selbst überlassenen Flusse, der in zahlreichen Windungen und Schleifen durch die fruchtbare Alluvialebene meist träge dahinschlich, war keineswegs eintönig und recht behaglich. Der lebhafte Dschunkenverkehr und die Dörfer am Ufer boten abwechslungsreiche Bilder, und das köstliche Herbstwetter Nordchinas mit dem immer strahlenden Himmel und der herben, frischen Luft am Morgen und Abend machte den Aufenthalt an Deck höchst angenehm. Ich hatte Ruhe und Zeit genug, bei mir selbst Einkehr zu halten, und so flogen meine Gedanken zurück zur Heimat und manchem lieben Menschen dort, oder sie richteten sich fragend und hoffnungsvoll auf die Zukunft. Die letzten Verse eines kleinen Gedichts — es war mein letztes —, das idi 44

auf dem Boote zusammenreimte, als idi im Westen der sinkenden Sonne nachsah, sind ein Ausdruck dieser Stimmung: Ich löste enge Bande Und ließ, was teuer mir: Sagt an, ihr fremden Lande, Was bringt ihr mir dafür? Am 22. September waren wir in T'ung-tschou, leider zu spät am Tage, um noch Peking erreichen zu können. Die Tore der Stadt wurden mit Eintritt der Dunkelheit geschlossen, und wer später kam, bat vergeblich um Einlaß. T'ungtschou war eine arg verwahrloste, von Schmutz und Unrat starrende Stadt. Es war der Endpunkt des Kaiser-Kanals, jener einst lebenswichtigen Ernährungsader, die der Reichshauptstadt, dem Hofe, den Garnisonen und einer davon abhängigen Millionenbevölkerung aus den Provinzen am Yangtse und südlich davon den Reis und andere Lebensmittel zuführte. Solange der Kanal diesem Zwecke diente und demgemäß auch in brauchbarem Zustande gehalten wurde, war T'ung-tschou ein wichtiger Verkehrsplatz und sah bessere Tage. Jetzt vollzog sich der Reistransport fast ganz auf Küstendampfern über See, der Kanal verfiel und mit ihm T'ung-tschou. Ich konnte mich denn auch nicht entschließen, in einer der übel aussehenden Herbergen die Nacht zu verbringen, sondern zog es vor, auf das Boot zurückzukehren und dort den Morgen abzuwarten, so wenig anziehend der Aufenthalt inmitten der zahllosen Dschunken mit ihrem Lärm, ihren Gerüchen und ihren unerquicklichen Bildern auch sein mochte. Mit einem jungen französischen Ehepaar, das sich mir angeschlossen hatte und auch nach Peking reiste, verbrachte ich den letzten Abend gemeinsam, und am nächsten Morgen standen der von meinem Boy besorgte Maultierkarren für das Gepäck und je ein Reitesel für uns beide bereit. Um V28 Uhr setzten wir uns in Bewegung, um 1 1 Uhr tauchten die Riesenmauern von Peking vor uns auf und um V212 Uhr am 23. September stand ich am Tor der Deutschen Gesandtschaft. Der Eindruck, den ich beim Anblick der gewaltigen Mauern mit ihren mächtigen Toren, Türmen, Bastionen und Aufbauten erhielt, war ein überwältigender. Die riesige Stadtanlage der mongolischen Weltherrscher des 13. Jahrhunderts war mir ein Symbol asiatischen Machtbewußtseins, und gerade für den Neukommenden hatte diese Schöpfung eines unbegrenzten Herrscherwillens etwas Majestätisches, aber mit Erschrecken Gemischtes. Heute, wo die Mauern der Bahnhöfe wegen durchbrochen sind und die Züge an ihnen entlangbrausen, kann dieser Eindruck kaum noch entstehen. Freilich, wer sich von dem ersten Gefühl staunender Benommenheit erholt hatte und dann die ungepflasterten und ungepflegten, mit fußhohem Staub oder ebenso tiefem Schlamm bedeckten, nach den anliegenden Kloaken riechenden Straßen mit ihrem wimmelnden, lärmenden Verkehr durchwanderte, der mochte zunächst mit bitterer Enttäuschung seinem Dasein als einer Verbannung entgegensehen, bis sein Empfinden sich daran gewöhnte, daß eben alles so sein müsse, auch die Außenseite dieser fremden, rätselvollen Welt. Selbst verwöhnte europäische Damen pflegten zu sagen: „Man kommt nach Peking mit Tränen und verläßt es mit Tränen". Das gesellschaftliche 45

Leben der damaligen Zeit mag freilich den größten Teil zu dem Sdilußbilde beigetragen haben. Der Gesandtschaft war meine Aussendung vom Auswärtigen Amt mitgeteilt worden, und so wurde mein Eintreffen bereits erwartet. Der Gesandte, Herr von Brandt, war erstaunt über die unverlangte Bereicherung seines Personals, die übrigen Herren nicht minder, man sah deshalb diesem ersten Erzeugnis der neuen Berliner Züchtungsanstalt mit mißtrauischer Neugier entgegen. Unter Herrn von Brandt war als Legationssekretär Herr von Ketteier tätig, der auch als Dolmetscher-Eleve begonnen hatte und 1900 in den Boxerwirren sein tragisches Ende fand, Dr. Lenz, der Nachfolger von Herrn Arendt als erster Dolmetscher; zwei ältere Kollegen von mir, Herr von der Goltz, später Gesandter in Bangkok, und ein Herr Lange, der früh verstarb, waren beide nodi in der Ausbildung als Dolmetscher. Kennzeichnend für die damaligen Vorstellungen im Auswärtigen Amt war die Tatsache, daß die Genannten sämtlich, mit Ausnahme von Dr. Lenz, verabschiedete Leutnants waren; Spielschulden waren zumeist die Ursache dieses Berufswechsels, der übrigens hier recht gute Ergebnisse hatte. Die Herren waren zum Teil wegen ihrer vermeintlichen Abseitsstellung voll bissigen Humors. Welche Anschauungen bei ihnen allen herrschten, zeigt die Aufnahme, die ich bei Dr. Lenz fand, einem bärbeißigen, borstigen Herrn, der sich als der alleinige Sachkenner gebärdete. Er riet mir, „all den Unsinn, den idi in Berlin gelernt hätte, namentlich in den Vorlesungen von Grube, schleunigst zu vergessen". Nicht ganz so radikal, aber ähnlich dachten meine beiden Kollegen. Es war mir klar, daß idi alle meine wissenschaftlichen Liebhabereien und Absichten in meines Herzens innerstem Kämmerlein verschließen müßte. Anders war es mit Herrn von Brandt. Er war alterfahren in ostasiatischen Dingen und kannte die Geschichte der abendländisch-chinesischen Beziehungen wie kaum ein zweiter. Aber er wußte auch, daß man, um sich in einer so fremden Welt wie der chinesischen zurechtzufinden, neben der Sprache audi Landeskunde und Geschichte studieren müsse, was er selbst um so eifriger getan hatte, als ihm für das Erlernen der Sprache die Zeit gefehlt hatte. So hatte er für wissenschaftliche Bemühungen der Beamten volles Verständnis und förderte sie, soweit es mit den Anforderungen des Dienstes vereinbar war. Von Brandt war bereits mit der preußischen Expedition des Grafen Eulenburg zum Abschluß von Handelsverträgen 1861 nach Ostasien gekommen, hatte dann zuerst als Preußischer Konsul, später als Generalkonsul des Norddeutschen Bundes die heimischen Interessen vertreten und war 1872 zum Ministerresidenten in Japan ernannt worden; seit 187$ war er Kaiserlicher Gesandter für China. Er hat sich um den Schutz und die Förderung der deutschen Handelsinteressen — politische hatten wir nicht — große Verdienste erworben, stand bei den Chinesen in hohem Ansehen und bildete dank seiner würdevollen Erscheinung mit dem langen weißen Barte, seinen gewinnenden Umgangsformen, seinem klugen und sicheren A u f treten und seiner großen Sachkenntnis den unbestrittenen Mittelpunkt der Pekinger Gesellschaft. Er war viele Jahre Doyen des diplomatischen Korps und vertrat als solcher mit Hingebung und Energie die Gemeinsamkeit der abend46

ländischen Interessen gegenüber dem damals noch allgemein geübten offenen und versteckten Widerstande der Chinesen. Er hat später wegen dieser Politik mandie Anfeindung von seinen Kollegen erfahren, und in der Tat mußte sie auch in dem Augenblick unhaltbar werden, als die nationalen Interessen der europäischen Mächte in Gegensätze gerieten und diese Gegensätze sidi natürlich auch im Fernen Osten auszuwirken begannen. Herr von Brandt hat sich später in seinen „Erinnerungen" beklagt, daß man dieses „Prinzip der gemeinsamen Vertretung gemeinsamer Interessen" nach seinem Ausscheiden 1893 zugunsten der „chacun-pour-soi-Politik" aufgegeben habe. Ich glaube nicht, daß hier der Gang der Dinge richtig gesehen ist. Bei der sich bald danach anbahnenden politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Europa, deren Wurzeln viel tiefer reichen und die schnell zu den großen Katastrophen führte, war das Aufgeben jenes Prinzips unvermeidlich, und weder Herr von Brandt noch irgend jemand hätte es verhindern können. Eins aber ist sicher: die deutschen Interessen sind durch Herrn von Brandts Politik nicht beeinträchtigt worden; von den vier unter seinen Nachfolgern, die idi kennengelernt habe, hat nicht einer das Reich erfolgreicher vertreten als er. Sowohl die Eröffnung der deutschen Postdampferlinie als auch die Gründung der Deutsch-Asiatischen Bank 1889 ist nicht zum wenigsten seinen Anregungen zu verdanken, und die deutschen Kaufleute fanden mit ihren Wünschen und Fragen bei ihm geneigteres Gehör als bei manchem seiner Nachfolger, der diese Dinge als nicht zu seinen Aufgaben gehörig ansah. Der Dienst in der Gesandtschaft, der mir völlig neu war, nahm mich sogleich in sich auf, verlangte aber zunächst noch keine großen Anstrengungen. Der Daseinszweck der Dolmetscher-Aspiranten oder Eleven war in erster Linie ihre Ausbildung in Sprache und Landeskunde. Wie sie sich die notwendigen Kenntnisse aneigneten, blieb ihnen überlassen. Jeder erhielt für sich allein einen chinesischen Literaten als Lehrer, der den ganzen Tag zu seiner Verfügung stand. Nach einem Jahr sollte die erste Prüfung, nach einem weiteren die zweite abgehalten werden. Durch meine Vorbildung hatte idi vor anderen Anfängern viel voraus und konnte sofort mit dem Chinesen sachgemäß weiter arbeiten. Ein anderer Zweig unserer dienstlichen Obliegenheiten war das Abschreiben von gesandtsdiaftlichen Berichten, Erlassen an die Konsulate und sonstigen amtlichen Schriftstücken. Schreibmaschinen gab es noch nicht, ein Telephon audi nicht, und der Telegraph konnte nur in beschränktem Maße benutzt werden. Die beiden Monopolgesellschaften, die „Great Northern" und die „Eastern Extension", hielten die Preise für Telegramme nadi Europa in abnormer Höhe (etwa 7,50 M für das Wort), die chinesischen Linien nach dem Süden waren staatlich, Wahrung des Amtsgeheimnisses schien nicht immer gewährleistet. Wenn nicht besondere Eile erforderlich war, pflegten wir Telegramme, besonders Privatsendungen, mit der russischen Kamelpost nach Kiadita zu schicken, von wo sie über die russischen Linien weiterbefördert wurden. So konnte man immerhin in etwa 18—20 Tagen für einen mäßigen Preis Nachrichten nach Deutschland gelangen lassen. Ein Brief über die europäischen Postanstalten in Schanghai brauchte sechs Wochen, im Winter acht. Wir erbosten uns zwar oft über die Schreibseligkeit, 47

wenn die Fülle allzu groß war, aber idi lernte bald einsehen, daß das Abschreiben ein vortreffliches Bildungsmittel war. Einerseits bekam man auf diese Weise Kenntnis von den laufenden Geschäften und ihrer Behandlung, andererseits erlernte man den schriftlichen Amtsstil, wie er im Dienst erwartet wurde. Selbständige Erledigung einzelner Angelegenheiten blieb neben dem Gesandten dem Legationssekretär und dem ersten Dolmetscher vorbehalten. Den weitaus größten Teil meiner Zeit benutzte ich aber dazu, die chinesische Umgangssprache und die einfachere Schriftsprache nach dem umfangreichen Lehrbuch von Thomas Wade mit dem chinesischen Lehrer zu studieren. Die Sprache praktisch zu üben, war Gelegenheit genug. Des weiteren bemühte ich mich energisch, das Französische und Englische zu bemeistern, denn die Kenntnis beider Sprachen war unerläßlich. In den Häfen galt zwar ausschließlich das Englische als lingua franca, aber in Peking sprach man mehr französisch als englisch. Nicht wenige in der Gesellschaft verstanden aber auch deutsch. Ich habe es in der Kenntnis der beiden Fremdsprachen zu einem guten Durchschnitt gebracht, in Tientsin hatte ich später die Genugtuung, von einer englischen Dame, die ich zu Tisch führte, für einen englischen Seeoffizier gehalten zu werden. Die Gesellschaft in Peking, das kein dem Fremdhandel geöffneter Platz war, bestand aus den Mitgliedern der Gesandtschaften und den Beamten des höheren chinesischen Seezolldienstes, die sich auch aus fast sämtlichen Ländern des Westens rekrutierten; Chinesen und Japaner waren nicht zugelassen. An der Spitze stand der auch heute noch wohlbekannte Irländer Sir Robert Hart als Generalzollinspektor, gewöhnlich nur I. G., d. h. Inspector General genannt. Er war ein in jeder Hinsicht hervorragender Mann, ein glänzender Organisator, der den von ihm geschaffenen musterhaften Dienst ohne Kleinlichkeit, aber mit fester Hand leitete. Über die zahlreiche in allen chinesischen Hafenplätzen verstreute Beamtenschaft führte er eine unbegrenzte diktatorische Herrschaft: er konnte die Beamten einstellen, besolden, befördern, versetzen, entlassen, wie es ihm richtig schien, ohne einem einzigen Menschen dafür Rechenschaft zu schulden. Trotz dieser außerordentlichen Befugnisse hat er niemals Mißbrauch mit seiner Machtstellung getrieben, mochte auch manche seiner Entscheidungen zunächst bei den Außenstehenden Verwunderung erregen. Frei von allen Vorurteilen, ließ Sir Robert bei der Auswahl und Beförderung seiner Beamten jede Nationalität in gleicher Weise gelten, wenngleich auch für ihn die Tatsache bestimmend war, daß England in Ostasien herrschend war und die erste Rolle zu spielen hatte. Persönlich war er von großer Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Uns Jüngeren pflegte er mit überraschender Freundlichkeit, fast möchte man sagen Kameradschaftlichkeit entgegenzukommen. In seinen Dienstbereich aber ließ er sich weder von einem fremden Gesandten noch selbst von der chinesischen Regierung, die ihn angestellt hatte, jemals dreinreden. Der fremde Handel hat sich dabei durchaus wohlbefunden, und ich habe nie von dem Versuch einer fremden Regierung gehört, die Leitung des Seezolldienstes zu ändern, mit alleiniger Ausnahme Frankreichs, dessen intriguanter Vertreter in den neunziger Jahren gegen Sir Robert Hart zugunsten eines Franzosen erfolglos wühlte. 48

Unter diesen Umständen war die Pekinger Gesellschaft so international wie nur je eine andere gewesen ist. Idi habe es oft erlebt, daß bei einem Diner von 20 bis 24 Personen acht bis zehn Nationalitäten vertreten waren. Trotzdem hielt alles in schönster Harmonie zusammen wie eine Familie, solange die von Herrn von Brandt hochgehaltene Politik der Gemeinsamkeit die Geister lenkte. Auf Theater, Konzerte und sonstige Kunstgenüsse mußte man verzichten, dafür entschädigte man sich durch ein sehr reges geselliges Leben: Empfänge, Diners, Bälle, Picknicks, Ausflüge zu Pferde, Whistpartien u. ä. lösten einander ab, oft waren wir in der Woche keinen Abend oder Nachmittag daheim. Als Verkehrsmittel kamen wegen des Zustandes der Straßen nur Maultierkarren und Sänften in Betracht. Beide hatten ihre Nachteile, und viele zogen es vor, zu Fuß zu gehen, was aber im Dunkeln nur mit einer Laterne möglich war, die man sich für gewöhnlich von einem Diener vorantragen ließ. Die Damen hatten goldene Zeit, da ihrer nur wenige waren und sie sich deshalb namentlich auf Bällen starken Ansturms zu erfreuen hatten. Obwohl sie durchweg verheiratet und nicht alle im jugendlichen Alter waren, stand der Flirt in hoher Blüte. Wurde aber einmal ein junges Mädchen hinverschlagen, so brach der Sturm mit elementarer Kraft hervor und an ihre Ausdauer im Tanzen wurden sehr hohe Anforderungen gestellt. „You are killing me with kindness", rief einmal eine junge Amerikanerin auf einem Balle verzweifelt aus. Man begreift das erwähnte Wort von den Abschiedstränen. Es war auch in der Tat sehr reizvoll, in diesem Völkergemisch auf neutralem Parkett sich abzuschleifen und Menschenkenntnis zu lernen. Zu größeren Festlichkeiten wurden oft chinesische Minister eingeladen, die dann mit ihren Dienern erschienen, von denen ein Teil sich in den Vorräumen aufhielt. Da die Damen bei Bällen auf die malerische Entblößung nicht verzichten mochten, so ergab sich ein Bild von unerwünschter Wirkung. Die Chinesen standen starr ob dieses Anblicks, der selbst ein gefestigtes orientalisches Gemüt in Verwirrung bringen mußte. Sie fragten uns wiederholt im Vertrauen, was das für Frauen seien, die sich öffentlich so bloßstellten; es sei doch unmöglich, daß sie die wirklichen Gattinnen der Herren seien, wie man sie glauben machen wolle. Ich habe es schon damals für unklug gehalten, die Anschauungen des Landes so völlig auf Kosten des Ansehens der Frauen zu übersehen. Die materielle Lebensführung war viel leichter und sorgloser als in Europa. Man hatte, auch als junger Beamter, vier bis fünf Diener, die für alles Nötige und Unnötige sorgten, wenigstens ein Reitpferd und im allgemeinen eine vorzügliche Küche. Die Nahrungsmittel waren von einer uns heute kaum vorstellbaren Billigkeit, dabei in großer Mannigfaltigkeit und ausgezeichneter Qualität vorhanden. Im Winter brachten die Mongolen ihre Jagdbeute aus der Steppe zur Stadt, tausende von Antilopen, Hasen, Fasanen und Schneehühnern, alles in steinhart gefrorenem Zustande. Herrliche Fische lieferten die Seen im nördlichen Tsdiili bei Pao-ting fu, Geflügel und Hammel, Gemüse und Früchte die Bauern aus der Umgegend. Für Austern sorgte Sir Robert Hart durch das Seezollamt von Niutschuang am Golf von Liaotung; sie wurden in großen Säcken 4 Franke, Erinnerungen

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geschickt und kamen in gewaltigen Mengen. Französische Weine, insbesondere Champagner, tranken wir, da sie zollfrei eingingen, zu billigeren Preisen als in Deutschland. Eine nicht ganz unbedenkliche Blüte hatte das Gesellschaftsleben in der Gestalt des Spielteufels getrieben. Daß viel Whist zu hohen Sätzen gespielt wurde, mochte noch hingehen, aber Poker grassierte im Winter 1888/89 unter den jüngeren Herren mit Ergebnissen, die in keinem Verhältnis zu dem Einkommen der Spieler standen, so daß oft fatale Schuldverhältnisse entstanden. Ich selbst bin durch diese Spielperiode zum Glück ohne Gewinn und Verlust hindurchgekommen. Herr von Brandt hatte ein sehr gastfreies Haus; was an hervorragenden deutschen Persönlichkeiten nach Peking kam, pflegte bei ihm zu wohnen, und ich habe bei diesen Gelegenheiten manche interessante Bekanntschaft machen dürfen. Jeden Sonntagabend waren die Mitglieder der Gesandtschaft und sonstige Deutsche, die sich gerade in Peking aufhielten, zu Tisch seine Gäste, wobei es dann auf ganz deutsche Art zuging. Aber audi Ausländer haben nicht selten von dieser Gastfreundschaft Gebrauch gemacht. So wohnte der bekannte amerikanische Reisende Rockhill, der mit Herrn von Ketteier befreundet war, in der deutschen Gesandtschaft und trat von hier aus 1888 seine große Tibet-Expedition an. Sehr vornehme Gäste beherbergte Herr von Brandt im FJerbst 1888, und dieser Besuch hätte beinahe zu einem ernsthaften diplomatischen Zwischenfall geführt. Der Graf von Bardi, ein Abkömmling der herzoglichen Parma-Linie aus dem Hause Bourbon, und seine Gemahlin hielten sich mit ihrem Gefolge auf ihrer Weltreise etwa eine Woche in Peking auf. Infolge einer Anregung aus dem Kreise der chinesischen Minister wollte der Gesandte ihnen auch den Himmelstempel zeigen. Diese höchste Kultstätte der Chinesen mit ihrem gewaltigen Himmelsaltar, der machtvolle Ausdruck ihres universalistischen Staatsgedankens, war unzweifelhaft unter allen Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt die sehenswürdigste, aber dem Zutritt der Fremden von jeher verschlossen. Um so freudiger war unser Erstaunen, daß uns von den Chinesen selbst der Besuch nahegelegt wurde, und der Gesandte forderte uns alle zur Teilnahme auf. Als wir uns zur bestimmten Stunde am Tore des Tempelgeländes einfanden, trafen wir auf eine Schar von Beamten, die uns unter verbindlichen Entschuldigungen den Eintritt verweigerten, weil Damen bei uns seien. Wie sich herausstellte, war es das T'ai-tsch'ang sse, das Opferamt, eine kleinere Behörde, das, von vornherein entschlossen, diesen Besuch zu verhindern, sich in geschickter Weise die Anwesenheit der Damen zunutze machte, da ja in der Tat nach dem chinesischen Ritus Frauen von der Teilnahme bei Staatsopferhandlungen ausgeschlossen sind (die chinesische Geschichte kennt freilich Beispiele, wo Frauen solche Opfer sogar selbst vollzogen haben). Herr von Brandt war empört über diese Bloßstellung vor den fremden Gästen und beschloß, für eine solche persönliche Kränkung Genugtuung zu verlangen. Es hat dann langer und scharfer Auseinandersetzungen mit den Ministern des Tsungli-Yamen bedurft, ehe die Angelegenheit beigelegt werden konnte, und zwar erst, nachdem der Gesandte mit einer befristeten ultimativen Forderung auf eine ausreichende schriftliche Entschuldigung allen weiteren Verhandlungen ein Ende gemacht hatte. Die Ent5°

schuldigung wurde geleistet, aber der Besuch war verhindert worden. Nach dem Stande meiner heutigen Kenntnis scheint mir das Verhalten des Gesandten nicht glücklich gewesen zu sein. Er hätte besser getan, die Damen zu bitten, daheim zu bleiben, dann aber auf den Besuch des Tempels unter allen Umständen zu bestehen. Mit seiner Abberufung zu drohen, war ein gewagter Schritt; denn es war mit Sicherheit anzunehmen, daß die heimische Regierung ihn nicht gedeckt haben würde. Der Vorfall ist aber kennzeichnend für das ganze damalige Verhältnis zu den Chinesen. Zum Teil in Erinnerung an die gewaltsame Öffnung des Landes durch die Kriege der Engländer und Franzosen, im besonderen die Niederbrennung der kaiserlichen Sommerresidenz Yuan-ming yuan erst drei Jahrzehnte vorher, zum Teil aber auch aus dem überlieferungsmäßigen Hochmut gegenüber allen fremden Völkern heraus lehnte die Bevölkerung, wenigstens die gesamte gebildete Schicht, jeden Verkehr, womöglich jede Berührung mit dem Europäer ab. Die letzte war nidit ganz zu vermeiden, denn zahlreiche Diener, Sekretäre und Lehrer waren, durch die gute Bezahlung bewogen, in fremden Diensten, aber menschlich standen sie hinter einer Mauer, und mit einem der Schriftkundigen über persönliche Verhältnisse zu sprechen, wäre unerhört gewesen. Begegnete man sich auf der Straße, so hätte man ihn nicht tiefer kränken können, als wenn man ihn durch Anrede oder auch nur durch Begrüßung öffentlich bloßgestellt hätte. Der Fremde war ein gewalttätiger Barbar, der „die Ordnungen (Ii) nicht kannte", man wirkte gegen ihn im geheimen und übersah ihn in der Öffentlichkeit. So wollte es die Überlieferung und danach die öffentliche Meinung. A n einen gesellschaftlichen Verkehr war unter diesen Umständen nicht zu denken, man beschränkte sich auf die amtlichen Zusammentreffen, und nur selten durchbrach ein wärmerer menschlicher Freimut die vorgeschriebene steife Zurückhaltung, wenn beide Seiten guten Willens waren und Vertrauen zueinander gefaßt hatten. Aber bis man Zutritt zu einer chinesischen Familie in einem Privathause erhielt, hat es noch mehrerer Jahrzehnte bedurft. Ganz vereinzelte Ausnahmen gab es, soweit das Beamtentum in Frage kam, bei solchen, die als Gesandte oder in anderer Eigenschaft längere Zeit im Auslande gelebt hatten. Am bekanntesten war damals der „Marquis" Tseng Ki-tse, der einer sehr vornehmen Familie entstammte und von 1878 bis 1886 in London, Petersburg und Paris Gesandter gewesen war. Er wurde nach seiner Rückkehr in Peking Minister im Tsungli-Yamen, und da er etwas englisch sprach, war er für die fremden Vertreter eine geschätzte Vermittlungsbrücke. Er hatte auch den bewundernswerten Mut, mit seiner Frau Festlichkeiten in den Gesandtschaften zu besuchen, und „ L a d y " Tseng empfing sogar fremde Damen und Herren bei sich zum Tee. Aber unzweifelhaft hat dieser tollkühne Bruch mit der „Ordnung" Tseng in seiner amtlichen Stellung geschadet und Mißtrauen gegen ihn verursacht; sein Einfluß sank trotz seiner alten Familienbeziehungen, und der Verkehr mit den Fremden wurde mehr und mehr eingeschränkt, bis er ganz erstarb. Ich habe in Peking den Marquis nur als Gast in der Gesandtschaft gesehen, in seinem Hause 4·

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bin idi nicht mehr gewesen. Dies war der einzige Fall seiner Art, der mir aus der damaligen Zeit bekannt geworden ist. Nach allem, was ich von China gelesen, gelernt und gesehen hatte, war mir dieser Zustand nicht überraschend. Von Anbeginn an wurde es mir täglich klarer, daß ich in China nicht in ein kulturell zurückgebliebenes Land gekommen war, wie die meisten Europäer meinten, sondern daß sich hier ein hoch kultivierter Staat des Altertums ungemischt und in voller Lebenskraft erhalten hatte. Was man anderwärts nur durch Beschreibungen, Ausgrabungen oder sonst erhaltene Bruchstücke mühsam und unvollkommen rekonstruieren konnte, das war hier lebensvolle Gegenwart, man konnte dies alles mit Bewußtsein erkennen und erleben. Der Gedanke erfüllte midi mit solcher Begeisterung, daß idi gern auf alles, was der Europäer haben zu müssen meinte und nun entbehrte, Verzicht leisten wollte. Aber dabei ahnte ich auch, daß diese Welt des Altertums, die in scharfem Gegensatze zu der des Westens stand und von dieser in ihrer Ruhelosigkeit immer stärker bedrängt wurde, sich in nicht ferner Zeit wandeln oder untergehen müßte, zumal die Zeichen des Verfalles und der Zersetzung deutlich zu sehen waren. Diese Gedanken trieben midi zwar immer wieder zu meinen wissenschaftlichen Neigungen, aber ich sah auch, daß an eine Hingabe an diese für absehbare Zeit nicht mehr zu denken war. Ganz konnte idi indessen dem Zuge nicht widerstehen. Eine große englische Buchhandlung sandte zweimal im Jahre einen Vertreter mit einer Auswahl aus ihren neuesten und antiquarischen Beständen von Schanghai nach Peking, und hier kaufte idi an neuen und alten Werken, soweit es meine Mittel erlaubten. Viel Verständnis fand idi damit nicht, und als ich die große Originalausgabe von Legges Chinese Classics erstand und dafür Vorschuß auf mein Gehalt erbitten mußte, glaubte sogar Herr von Brandt mich freundlich warnen zu sollen, midi nicht zu sehr mit Büchern zu belasten. Ich habe es später tief bedauert, daß idi nicht auch von der chinesischen Literatur, die uns zu billigen Preisen angeboten wurde, mehr erworben habe. Aber dafür reichte meine Erfahrung noch nicht aus. Eine große Freude war es mir immer, die an geschichtlichen Erinnerungen so überreiche Umgebung von Peking zu Pferde zu durchstreifen. Meine Geschichtskenntnisse gingen zwar noch nicht so weit, daß ich das Gelände im einzelnen danach hätte absuchen können, immerhin wußte ich genug von den früheren Dynastien, namentlich den tatarisch-mongolischen, um mir das Treiben der fernen Zeit in meiner Phantasie ausmalen zu können. Die von Norden kommenden Kamelkarawanen mit ihren mongolischen Reitern in einer Tracht, die sich seit Jahrhunderten nicht wesentlich geändert hatte, die aus Lehm und Bambus hergestellten Bauernhäuser, die mit drei und mehr Maultieren bespannten Lastkarren und Reisesänften, kurz das gesamte Landschaftsbild unterstützten mich dabei ganz wesentlich. Auch davon abgesehen, war die Gegend sehr reizvoll. Die malerischen Tempel mit ihren schönen Baumgruppen, die wundervollen Grabstätten hoher Würdenträger der Vergangenheit, die ausgedehnten Anlagen der kaiserlichen Lustschlösser, von denen freilich die meisten in Trümmern lagen, 52

dazu am Horizont die herrlichen Linien der Westberge und über dem Ganzen während des größten Teils im Jahre der strahlende Sonnenschein des nordchinesischen Himmels, alles das machte die Ritte in mehrfacher Hinsicht sehr genußreich. Dagegen war das Durchwandern der Straßen in der Stadt wegen ihres schon erwähnten Zustandes kein Vergnügen, sondern der Preis, den man ableisten mußte, wenn man die sehenswerten Plätze und Baulichkeiten in Augenschein nehmen wollte. Ich wurde zu diesen Exkursionen meist durch Herrn Pokotilow von der russischen Gesandtschaft veranlaßt, der ebenfalls wissenschaftliche Interessen hatte und mir bald befreundet wurde. Er entstammte einer vornehmen Petersburger Familie, wurde später die rechte Hand des Finanzministers Witte in Ostasien und einer der Leiter der neuen RussischChinesischen Bank; als solcher spielte er eine Zeitlang eine wichtige politische Rolle. Den besten Spaziergang zu Fuß machte man auf der 13 m hohen und oben (trotz der Verjüngung) fast ebenso breiten Stadtmauer, wo man einen schönen Blick über die Stadt und das bunte Bild der verkehrsreichen Straßen hatte. Die heißen Sommermonate pflegten die Gesandtschaften in den herrlich gelegenen buddhistischen Klöstern der westlichen Berge zu verbringen (erst später wurde stattdessen die Meeresküste vorgezogen), von wo die Verbindung mit der Stadt durch tägliche Boten aufrecht erhalten wurde. Wir hatten in dem großen, unmittelbar am Fuße der hohen und steilen Bergketten gelegenen Kloster Ta-kio sse Räume gemietet und uns dort eingerichtet. Das hier bis zu 2000 m und darüber aufsteigende Gebirge war zwar unbewaldet, bot aber in den tief eingeschnittenen Tälern und Schluchten, die nach der Regenzeit von brausenden Sturzbächen durchflössen wurden, viele schöne Bilder, von der Höhe aber überwältigende Ausblicke über das wilde, verklüftete Bergland, das die Pekinger Ebene umzieht und nach Norden zu nicht absinkt, sondern in das mongolische Hochplateau übergeht. Richthofen bemerkt einmal, daß man an keinem Ort der Erde so unmittelbar von der Meeresküste in das Hochgebirge eintritt wie hier; ich weiß freilich nicht, ob er dabei nicht Norwegen übersehen hat. Ich durchstreifte von Ta-kio sse aus die Berge, soweit es meine Zeit irgend erlaubte, konnte aber auch bei den Kulthandlungen und Gesängen der Mönche lehrreiche Beobachtungen machen. Ein ganz besonderer Genuß war mir ein mehrtägiger Ausflug im Frühjahr 1889 an die Ming-Gräber und zur Großen Mauer bei Pa ta ling auf der Höhe des Nankou-Passes, nördlich von dem wegen seiner sechssprachigen Inschrift aus dem 14. Jahrhundert berühmten Paßtor Kü-yung kuan. Wer das riesige Totental mit den gewaltigen Grabstätten mehrerer Kaiser der Ming-Dynastie aus dem 15. und 16. Jahrhundert mit Besinnung gesehen hat, wird den Eindruck nicht leicht vergessen. Nicht anders ist es mit der Großen Mauer, die sich, über die Bergspitzen hinziehend, im Unendlichen zu verlieren scheint. Die Große Mauer von China, die Niagarafälle in Amerika und die Akropolis von Athen sind für mich das Überwältigendste gewesen, was ich an Naturbildern und Menschenwerken gesehen habe. Sehnsüchtig schaute ich von 53

den Höhen bei Pa ta ling nach Norden über das Bergland hin; wie gern wäre ich der Straße weiter gefolgt! Der Drang in die Ferne wachte wieder auf. Bald nachdem wir im Herbst 1889 in die Stadt zurückgekehrt waren, legte ich meine Prüfung ab und kurz vor Beginn des Winters wurde ich als Dolmetscher an das Konsulat in Tientsin entsandt. Schneller, als ich erwartete, mußte ich Peking wieder verlassen.

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IV. Wanderungen und Wandlungen ι Die Versetzung nach Tientsin bedeutete zwar f ü r mich einen Grad aufwärts im Dienste, aber im Grunde bedauerte ich doch, daß idi nicht länger in dem so lehrreichen Peking bleiben konnte. Der Wechsel war auch in der Tat nicht erfreulich. In dem gerade f ü r die deutsche Ausfuhr wichtigen Handelsplatze gab es zwar eine größere deutsche Gemeinde von Kaufleuten meist jüngeren Alters, aber das wog die Nachteile gegenüber Peking nicht auf. Landschaftlich ist Tientsin der reizloseste unter allen chinesischen Hafenplätzen: in einer baumlosen, stark salz- und salpeterhaltigen Ebene gelegen, die erst in junger Zeit dem Meere entwachsen ist, zieht sich die Stadt, die damals gewiß eine halbe Million Einwohner zählte, grau in grau am Flußufer hin; das „Settlement" hatte zwar ein paar Gärten und grüne Anlagen, aber was in dem unfruchtbaren Boden wuchs, war kümmerlich und unansehnlich. Das Bild, das sich bot, namentlich, wenn man sich auf dem Flusse der Stadt näherte, war trostlos, und an denkwürdigen Bauten oder historischen Erinnerungen war nichts vorhanden. Man machte zwar Ritte in die Umgegend und dehnte sie sogar zuweilen bis zu dem 50 km flußabwärts gelegenen Küstenfort von Taku aus — w o f ü r man zwei Tage nötig hatte — , aber außer der Freude an der Bewegung in reiner Luft f a n d man in der Landschaft nichts, was verlockte, und Taku war noch trostloser als Tientsin. Die Gesellschaft, meist aus Deutschen, darunter mehrere als Instruktoren in der chinesischen Garnison tätige Offiziere, und Engländern bestehend, hielt zwar zusammen, war aber wesentlich anderer Art als die von Peking. Der Alkohol spielte, besonders in dem gemeinschaftlichen Klub, eine bedeutende Rolle. Der deutsche Konsul, Herr von Seckendorff, ebenfalls früherer Dolmetscher, war der Bruder des Hofmarschalls der Kaiserin Friedrich und wurde später Gesandter in Tanger und dann in Stuttgart, wo ich ihn nach langen Jahren wiedersah. Er war erst vor kurzem vom Süden nach Tientsin versetzt worden und froh, in mir einen Assistenten zu bekommen. Er war ein wohlwollender und liebenswürdiger, wenn auch etwas eitler Mann, mit dem ein harmonisches Arbeiten leicht wurde. Tientsin war zu jener Zeit ein Platz von politischem Gewicht, weil es der Sitz des Generalgouverneurs Li Hung-tschang war, den man nach englischem Vorbilde in Deutschland mit dem ganz unchinesischen Titel „Vizekönig" bedacht hat, der aber jedenfalls damals der mächtigste Mann in China war. Herr von Seckendorff hatte es verstanden, sich mit ihm auf freundschaftlichen Fuß zu stellen, und da Herr von Brandt Erfahrung genug besaß, um zu wissen, daß SS

man durch die hohen Provinzialbehörden unmittelbar bei Beschwerden oder Wünschen der in ihrem Amtsbereich wohnenden Kaufleute viel leichter zum Ziele kommen konnte als durch eine nur in den Vorstellungen der fremden Vertreter vorhandene „Zentralregierung" der Hauptstadt, so mußte der Konsul in Tientsin häufig im Auftrage des Gesandten mündlich mit dem Gewaltigen verhandeln. Das Amtsgebäude des Generalgouverneurs in Tientsin war das machtvolle, oft bestimmende Vorzimmer der höchsten Gewalt in Peking und das Konsulat eine Filiale der Gesandtschaft. Diese höchste Gewalt war aber nicht, wie die fremden Vertreter und mit ihnen die unlösbar in ihre Theorien verstrickten Auswärtigen Ämter annahmen, das Tsungli-Yamen oder irgendein Ministerium in Peking, sondern der Kaiser. Es war nun einmal die auf strenger Überlieferung beruhende Konstruktion des chinesischen Weltstaates, daß die Zentralgewalt beim Kaiser lag. Er war umgeben von dem Kollegium seiner Berater, dem Staatsrat, die Ministerien waren nur die ausführenden Fachorgane. Die Provinzen aber wurden regiert von den Gouverneuren, die als Nachfolger der ehemaligen Lehensfürsten unabhängige Satrapen waren. Als solche hatten sie Weisungen nur vom Kaiser zu empfangen, die Ministerien konnten nicht mehr tun als ihnen diese Weisungen übermitteln. Die Gouverneure waren den Ministerien im allgemeinen im Range gleich, oftmals aber an Macht und Einfluß übergeordnet. Das Tsungli-Yamen vollends war nicht einmal ein Ministerium im chinesischen Sinne, sondern ein Kollegium von hohen Beamten, die ihre Hauptämter an anderen Stellen hatten und ihre Tätigkeit im TsungliYamen nur nebenamtlich ausübten. Wenn also die fremden Gesandten immer wieder das Tsungli-Yamen ersuchten, einen Gouverneur oder alle Gouverneure „anzuweisen", dieses oder jenes zu tun, so mußte den Chinesen dies als absurd erscheinen. Das Tsungli-Yamen konnte nur ersucht werden, beim Kaiser einen Befehl in dem gewünschten Sinne zu erwirken; dabei hatte aber diese Behörde, so weit ich midi erinnere, damals noch gar nicht das Recht, sich unmittelbar an den Thron zu wenden, sondern mußte sich eines oder mehrerer Mitglieder des Staatsrates bedienen. Unmittelbar mit einem Gouverneur konnte sich das Tsungli-Yamen nur auf dem Fuße völliger Gleichstellung kollegial in Verbindung setzen. Diese Verhältnisse den heimischen Ämtern begreiflich zu machen, war leider vergebliches Bemühen. Li Hung-tschang pflegte deshalb, wenn ihm ein fremder Vertreter mit dem Tsungli-Yamen drohte, spöttisch zu sagen: „Das Tsungli-Yamen bin ich", und Herr von Brandt tat wohl daran, mit einem so mächtigen Manne unmittelbare Verbindung zu halten, zumal Seckendorf! dabei der geeignete Mittelsmann war. Da dieser die chinesische gesprochene Sprache recht gut beherrschte, so war meine Anwesenheit bei den häufigen Verhandlungen nicht nötig. Ich war nicht betrübt darüber, denn Li, der aus der Provinz Anhui stammte, sprach ein Chinesisch, das die Dolmetscher, ehe sie sich an ihn gewöhnt hatten, zur Verzweiflung treiben konnte, zumal er leicht ungehalten zu werden pflegte, wenn man ihn nicht verstand. Er liebte es, an Europäer Fragen zu richten oder ihnen Dinge zu sagen, die in chinesischem Munde doppelt indiskret waren und die er einem seiner 56

Landsleute nicht zugemutet haben würde. Als ich ihm zum ersten Male vorgestellt wurde, fragte er mich, wie alt ich sei. Als ich ihm antwortete: 26 Jahre, bemerkte er, der genau 40 Jahre älter war, dann sei ich überhaupt noch ein Kind, und wandte sich den Geschäften zu. Trotzdem machte aber dieser letzte der großen Staatsmänner im China des 19. Jahrhunderts mit der mächtigen, den Durchschnitt weit überragenden Gestalt und den klugen, oft listig forschenden Augen hinter der europäischen Brille auf jeden seiner Besucher einen imponierenden Eindruck. Er ließ sich äußerst selten aus seiner überlegenen Zurückhaltung herauslocken, aber wenn einmal die leichten Fältchen um die Augen vor Erregung verschwanden, dann zitterte die Umgebung. Das mündliche Dolmetschen nahm somit nicht viel von meiner Zeit in Anspruch, dafür lagen mir aber die gesamte chinesische Korrespondenz und die Verhandlungen mit chinesischen Kaufleuten ob, wenn Reklamationen ihrer deutschen Geschäftspartner wegen Nichtabnahme bestellter Einfuhrwaren oder Nichtlieferung auszuführender erfolgten. Wenn irgend möglich, versuchte ich, solche Streitigkeiten durch mündliche Besprechungen beizulegen, und nur, wenn dieser Weg erfolglos war, rief ich die Hilfe der einheimischen Lokalbehörden an. Nach den Erfahrungen, die der Chinese mit seinen Amtsstellen seit alten Zeiten gemacht hat, ist er immer bereit, deren Mitwirkung, soviel an ihm liegt, zu vermeiden und auf Schlichtungsversuche einzugehen. Ich kann nicht verschweigen, daß es in der Regel leichter war, den Chinesen zum Nachgeben zu überreden, als den auf sein Recht pochenden Deutschen. Tientsin war für diese Tätigkeit nur eine leichte Vorbereitung. Idi habe sie später in ganz anderem Umfange ausüben müssen. Die größte Freude, die mich der lehmige Pai-ho-Hafen erleben ließ, war meine erste Reise ins Innere, und zwar in eine Gegend, die sowohl durch ihre geschichtliche Rolle während der englisch-französisch-chinesischen Kämpfe und bei den darauf folgenden Palastwirren wie durch den Empfang des ersten englischen Botschafters, Lord Macartney, 1793, und schließlich durch die Verherrlichung seitens der Chinesen meine Aufmerksamkeit erregt hatte: die von den großen Mandschu-Kaisern im 17. und 18. Jahrhundert im Randgebirge der Mongolei geschaffene Sommerresidenz Jehol. (Die Schreibung Dschehol, die man zuweilen im deutschen Schrifttum findet, ist falsch. Der Anlaut wird gesprochen wie das J im französischen jardin.) Ich hatte nicht die Zeit gehabt, mich gründlich auf die Reise vorzubereiten, was ich später sehr bedauerte, aber dann wieder gutmachen konnte. Einen mir bewilligten vierzehntägigen Urlaub benutzte ich für die Reise, die mich weiter hinein in die ersehnten Randgebirge der Pekinger Ebene führen sollte. Die Schwierigkeiten des Unternehmens, über das mir in Tientsin niemand eine Auskunft geben konnte, da niemals jemand in Jehol gewesen war, stellten sich als größer heraus, als ich bei meiner mangelhaften Erfahrung erwartet hatte. Jehol war kaiserliches und daher verbotenes Gebiet, für Fremde also doppelt unzugänglich. Ich machte die Reise zu Pferde, das Gepäck war auf einen Maultierkarren geladen. Begleitet war ich von meinem Boy und einem berittenen mafu (Pferdeknecht). 57

Am 14. Mai 1890 bradi idi von Tientsin auf. Der Weg führte zunädist nach Tung-tschou und von dort, Peking zur Linken lassend, nach Norden über Mi-yün hien nadi Ku pei k'ou, einem wichtigen Paßübergang über die erste höhere Kette, der oftmals die tatarischen Reiter in die fruchtbaren Ebenen hat einbrechen sehen. In vielen Windungen und Verzweigungen sieht man hier die Große Mauer über die Berge sich hinziehen, ein der Natur angepaßtes Festungswerk, und, von dem steinigen Flußbett aus gesehen, ein imponierendes Bild. Nach einem weiteren zweitägigen Ritt durch eine großartige Gebirgslandschaft auf steinigen Pfaden, oft in trockenen Flußbetten mit Geröll und großen Blöcken, über einige reißende Bergwässer und mehrere Paßhöhen kamen wir am 20. Mai gegen Abend nach Jehol, das, von dem letzten steilen Paß gesehen, mit den riesigen Palast- und Parkanlagen, dem in der Sonne glänzenden Jo-ho-Flusse und dem Kranze mächtiger Tempelbauten, die den Ort in weitem Bogen mit den Bergen umziehen, ein unvergleichliches Bild bot. Die Stadt selbst besteht eigentlich nur aus einer großen Straße, die mit ihren imposanten Amtsgebäuden und einem prunkvollen Triumphbogen einen vornehmen Eindruck machte, zumal sie verhältnismäßig sauber gehalten war und so im Gegensatz zu anderen chinesischen Städten audi den Anblick aus der Nähe vertrug, ohne von ihrer Schönheit aus der Ferne zu verlieren. Ich war einen großen Teil des schwierigen Weges, um die Pferde zu schonen, zu Fuß gegangen, audi der Gepäckkarren hatte arge Schwierigkeiten zu überwinden, aber ernstere Mißhelligkeiten waren mir nicht widerfahren. Das änderte sich jetzt, nachdem meine Ankunft in der Stadt bekannt geworden war. Jehol war der Sitz des Tu-t'ung, des Militärgouverneurs von Jehol und der zugehörigen Gebiete, eines sehr hohen Beamten, der ursprünglich im Range höher steht als ein Generalgouverneur. Damit verbunden waren natürlich ein Heer von Beamten, eine große Garnison und eine gewaltige Zahl von Personen, die von beiden abhängig waren. Außerdem aber bewohnten Tausende von Lamapriestern die mehr als ein Dutzend zählenden zum Teil mit unerhörter Pracht ausgestatteten Klöster und führten hier auf Kosten des Staates ihr Schmarotzerleben. Eine so zusammengesetzte Bevölkerung konnte nicht anders als fremdenfeindlich sein, und wie sehr sie es war, sollte ich bald merken. Es war schon schwierig gewesen, eine Herberge zu finden, deren Besitzer den Mut hatte, mich aufzunehmen; als wir uns dann aber einrichteten, belagerte eine rasch anschwellende Masse den Gasthof, drängte in den H o f , kam in die Zimmer, durchbohrte die Papierfenster, um besser sehen zu können, die vordere Reihe wurde von hinten geschoben, man schrie, lachte und begann vereinzelt zu schimpfen. Es war wie eine Schaustellung, bei der ein seltsames Tier gezeigt wurde und man ohne Bezahlung Zutritt hatte, und nichts konnte ich tun, ohne hunderte von Zuschauern zu haben. Ich hielt die Situation weniger für gefährlich als für lästig und vermochte mir durch unerschütterliche Höflichkeit und ein paar freundliche Bemerkungen — nur sehr wenige, denn eine Unterhaltung zu beginnen, ist in solcher Lage riskant — die Näherstehenden vom Halse zu halten. Man wird einen chinesischen Volkshaufen am ehesten verhindern, daß er erregt und damit gefährlich wird, wenn man eine überlegene und höfliche

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Ruhe bewahrt und so zeigt, daß man die „Ordnungen kennt". Verhandeln kann man nur mit einzelnen, nicht mit der Masse. Zu ernstlichen Ausschreitungen kam es denn auch in meinem Gasthof nicht. Zum Glück kam mir am Abend ein heftiger Platzregen zu Hilfe, der dem ganzen Schauspiele ein jähes Ende bereitete, so daß idi mich in Ruhe entkleiden und schlafen legen konnte. Ich hatte gegen Abend meinen Diener mit meinem Paß zum Taotai des Ortes geschickt und gebeten, mir die Möglichkeit zu geben, die Schönheiten der Gegend, vor allem die kaiserlichen Gärten und die Tempel, zu besichtigen; am nächsten Morgen wiederholte ich die Bitte, beide Male erfuhr ich eine unhöfliche Ablehnung, eine Behandlung, die meine Stellung gegenüber der Bevölkerung noch schwieriger machte. Am folgenden Morgen hielt ich es denn audi für geraten, statt zu Pferde im Karren sitzend die Sehenswürdigkeiten aufzusudien. Da an einen Eintritt in die kaiserliche Residenz nicht zu denken war, wollte ich wenigstens versuchen, die Tempel zu sehen, obwohl, soweit mir bekannt, seit Lord Macartney kein Europäer mehr einen davon betreten hatte. An einem der größten, berühmt wegen seiner Riesenstatue des Buddha — sie mag an 20 m messen —, hielt ich an, eine Schar von Lamapriestern, meist Tibeter und Mongolen, umringte mich sofort, befühlte meine Kleider und schrie aufgeregt durcheinander. Da einige in der Masse chinesisch sprachen, fingen wir an zu verhandeln, ich zeigte ihnen durch Hinweis auf buddhistische Schriften und Aufzeichnungen einiger Sätze in Devanagari-Sdirift, daß ich nicht bloß um ihre Religion Bescheid wußte, sondern sogar von ihrem heiligen Ursprungslande und seiner Schrift Kenntnis hatte, und bat, mich ihre Tempelhallen sehen zu lassen. In der Tat siegte schließlich ihr Erstaunen über Mißtrauen und Feindseligkeit, und man ließ mich ein. Da ich ständig von der Schar umdrängt war, konnte idi nur mit Schwierigkeiten die Kultgegenstände — darunter sehr schöne Emailvasen und Räuchergefäße, vom Kaiser gestiftet, — in Augenschein nehmen. Vor dem Betreten der Haupthalle mußte ich mich einer Reinigung vom Dämonischen unterziehen, indem ich mit einem Bündel brennender Weihrauchstangen umräuchert wurde. Zu photographieren wagte ich aus Besorgnis für meinen Apparat nicht. Idi hatte nach diesen Erfahrungen keine Neigung, mir den Eingang zu weiteren Tempeln zu erhandeln. Indessen fuhr idi die ganze Reihe ab und suchte von den Palästen mit den Augen zu erhaschen, was idi erreichen konnte, wobei idi sowohl von der ernsten Schönheit der Gebirgslandschaft wie von der großartigen Konzeption der Anlage einen starken Eindruck empfing. Trotzdem gelüstete midi nicht nach einem längeren Aufenthalt in Jehol, denn die nie unterbrochene Umlagerung durch die immer zudringlicher werdende Volksmenge war auf die Dauer ermüdend und machte audi jedes ruhige Betrachten und Genießen unmöglich. So bradien wir denn schon am nächsten Morgen, dem 22. Mai, in aller Frühe wieder auf, und als wir in der kühlen Frische eines herrlichen Tages aus dem weiten Talkessel hinaufstiegen, war ich froh, die Stadt hinter mir zu haben. Idi habe mich über meinen Aufenthalt in Jehol etwas ausführlicher geäußert, weil einer der zahlreichen späteren Reisenden, der die Stadt etwa 3 5 Jahre nadi 59

mir besucht hat, in seinem Buche seine Verwunderung darüber ausspricht, daß ich dort so stark belästigt worden sei, während man ihn mit großer Z u v o r kommenheit aufgenommen habe. (Ich hatte über meine Reise einen A u f s a t z in einer deutschen Zeitschrift veröffentlicht.) Der Verfasser übersieht, daß Jehol, wie China überhaupt, 1890 etwas wesentlich anderes w a r als 35 Jahre später. Wahrscheinlich ist er mit der Eisenbahn nach Jehol gereist, hat dort in einem halbeuropäischen Hotel gewohnt und sich dann von einem Fremdenführer die Sehenswürdigkeiten zeigen lassen. Hätte er 1890 seine photographischen A u f nahmen madien wollen oder gar Bekehrungsversuche unternommen, so wäre er vermutlich nie mehr in die Lage gekommen, Bücher schreiben zu können. Zur Zeit seines Besuches w a r Jehol ein verwahrloster Trümmerhaufen, 1890 war zwar seine Glanzzeit auch vorbei, aber es w a r noch immer eine in majestätischer Abgeschlossenheit liegende unzerstörte Residenz und Tempelstadt. Der Preis, den ich f ü r diesen Anblick zu zahlen hatte, w a r naturgemäß höher. Ich habe 1896 das ganze Jehol-Gebiet nodi einmal genauer und unter angenehmeren Verhältnissen durchreist, um es dann zum Gegenstande einer größeren Erstlingsarbeit zu machen. Unser Rückweg führte uns zunächst nach Osten bis zu dem lebhaften Handelsplatze Pakou (P'ing-ts'üan), von da südwärts auf teilweise beschwerlichen, aber landschaftlich prächtigen Wegen durch das Gebirge zu einem östlich von dem bekannten Paßtor in der Großen Mauer, Si-fêng k'ou, gelegenen, selten von Fremden berührten Durchgange T'ie-ma kuan („Paß des eisernen Pferdes") und von da nach der Bergwerkstadt K'ai-p'ing. Hier w a r der Endpunkt einer kleinen, etwa 165 km langen Eisenbahn nach Tientsin, der damals einzigen in dem großen China. L i Hung-tschang hatte sie fast gleichzeitig mit der 18 77 auf chinesisches Verlangen zerstörten Bahn von Schanghai nach der Reede von Wusung durch einen chinesischen Vertrauensmann erbauen lassen — ein Kennzeichen der Verhältnisse. U m auf dieser Strecke nach Tientsin zu gelangen, brauchte ich volle acht Stunden, so daß ich erst gegen 4 U h r am 28. M a i im Konsulat eintraf. Im ganzen w a r ich von meinem ersten Unternehmen dieser A r t sehr befriedigt. Der Zauber, den das nördliche Gebirgsland auf mich ausübte, w a r noch stärker geworden. Meine Tätigkeit in Tientsin w a r kurz bemessen. Einige Monate nach meiner Rückkehr erhielt ich vom Gesandten die Weisung, bei dem Generalkonsulat in Schanghai die Stelle des Dolmetschers vertretungsweise zu übernehmen. Die Stelle w a r unbesetzt, ich konnte aber bei der Kürze meiner Dienstzeit nicht erwarten, daß sie mir in absehbarer Zeit übertragen würde. Auf der Reise zur Übernahme meines neuen Postens hatte ich auf dem Pai-ho ein Erlebnis, das wegen seiner Absonderlichkeit und zur Kennzeichnung der Stromverhältnisse aufgezeichnet zu werden verdient. Es w a r nichts Geringeres als ein Zusammenstoß unseres Seedampfers mit einem — Maultierkarren! A m Flusse entlang lief eine Fahrstraße; das U f e r , aufgeschwemmter Lößboden, fiel steil zum Flusse ab. Als unserem D a m p f e r in der engen Fahrrinne ein anderer entgegenkam, hielt der Kapitän kurz entschlossen auf Land zu und riß dabei das zwischen Fahrstraße 60

und Uferrand liegende Landstück ab, so daß das Bugspriet nahe an die Fahrstraße kam. Das Maultier eines dort entlangfahrenden Karrens wurde dadurch von solchem Schrecken erfaßt, daß es in wilder Flucht durch die Felder raste. Der Dampfer saß eine Weile in dem weichen Schlick fest, hatte aber so weit übergeholt, daß man von der Reeling unmittelbar in ein Hirsefeld treten konnte. Nach kurzer Zeit kam er mit eigener Kraft frei. Zum Generalkonsul in Schanghai war vor kurzem Dr. Stübel ernannt, der spätere Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts. Da er aber auf seinem Posten als Gouverneur von Samoa nodi nicht abkömmlich war, führte ein junger Vizekonsul, Herr von Loehr, die Geschäfte. Die beiden großen, sehr prunkvollen, aber wenig zweckmäßigen dreistöckigen Häuser des Generalkonsulats lagen an bevorzugter Stelle an einer Biegung des Huangpu-Stromes, so daß man einen schönen Blick über den nur selten pausierenden Schiffsverkehr hatte. Sie mußten um 1930 nach der kurzen Lebensdauer von weniger als fünf Jahrzehnten wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Das Leben in dem großen Handelsemporium war ganz wie das in einer englischen Kolonie. Das „Settlement" war zwar international, aber die Engländer beherrschten mit erdrückender Majorität die gesamte Verwaltung, einschließlich der Finanzwirtschaft und Polizei; der Grund und Boden war bis auf winzige Bruchteile in englischen Händen. Der ganze Lebenszuschnitt war englisch. Die französische Niederlassung hielt sich zwar scharf getrennt in ihrer Verwaltung, hatte aber nicht entfernt die Bedeutung wie die englische, ich glaube sogar, daß der größere Teil der Franzosen in der letzteren wohnte. Das Territorium beider war damals weit weniger landeinwärts ausgedehnt als später, so daß die ganze Bubbling Well Road und das von ihr durchschnittene noch wenig bebaute Straßennetz außerhalb der Niederlassungen war. Die deutsche Kolonie war zwar im Vergleich zu der der Engländer wenig zahlreich — es mögen 400 bis 500 Personen gewesen sein, während die Engländer wohl die vierfache Zahl aufwiesen —, aber die wirtschaftliche Bedeutung und der Bildungsstand der einzelnen übertraf im Durchschnitt die der Engländer. Es waren teilweise hochangesehene altbekannte Firmen, Abzweigungen von Hamburger und Bremer Häusern, mit zahlreichem Personal, die ausgedehnte Geschäftsverbindungen unterhielten und auch bei den Chinesen einen großen Namen hatten. Nicht wenige besaßen Niederlassungen in Hongkong und in anderen chinesischen Häfen. Kleinere, schwer lebensfähige Geschäfte sowie wurzellose Abenteurer und Glücksritter, wie sie sich in den großen Überseehäfen immer anfinden und den Konsulaten zur Last fallen, gab es im allgemeinen in Schanghai nicht; erst als die neue Zeit begann, brachte sie auch diese Zugabe mit. Von den Japanern merkte man noch nichts. Sie hatten eine Anzahl kleiner Läden zwischen der chinesischen Bevölkerung, waren aber für die Engländer lediglich coloured people, die man nicht sah oder aus dem Wege stieß. Es gab eine japanische „Handelsschule", wo junge Leute, die Uniform trugen, in großer Zahl herangebildet wurden. Man traf wohl den einen oder anderen — ohne Uniform — an Inlandplätzen, aber was sie betrieben, wußte man nidit, begehrte man auch 61

nicht zu wissen. Man konnte die Japaner, wenn sie sich chinesisch trugen, kaum von den Chinesen unterscheiden, solange sie nicht sprachen. Daß aber die J a paner etwa besonders gut chinesisch gesprochen hätten, habe ich niemals bemerkt. Die Deutschen waren somit nach den Engländern das gewichtigste Element in Schanghai. Die Engländer sorgten aber dafür, daß ihre wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Bedeutung eine gewisse, redit tief gezogene Linie nicht überschritt. In dem Munizipalrat, dem Verwaltungskollegium der Stadt, hatten sie ihnen aus Entgegenkommen einen Sitz bewilligt — durch ihre unangreifbare Majorität hatten sie jede Wahl in der Hand —, und dieser Eine war natürlich bei allen Entscheidungen von Bedeutung zu hilflosem Zuschauen verurteilt. In Sachen der Gerichtsbarkeit waren allerdings Willkürakte unmöglich, weil alle Fremden der Gerichtsbarkeit ihrer Konsuln unterstanden, aber die Polizei, aus wenigen Europäern, der Masse nach aus Indern und Chinesen bestehend, hatte englische Leiter und Führer und verfuhr nach englischen Bestimmungen. Klagen von Fremden gegen Chinesen kamen vor das sog. „Gemischte Gericht" (Mixed. Court), das aus einem chinesischen Beamten als Richter und einem Beamten des Konsulats, dem der Kläger unterstand, als Beisitzer bestand. Für polizeiliche Strafsachen gegen Chinesen im „Settlement" — weitaus die Mehrzahl der Fälle — galt die Regel, daß dreimal in der Woche ein Engländer Beisitzer war, zweimal ein Amerikaner und einmal ein Deutscher. Ich habe dieses Amt sechs Jahre lang ausgeübt und dabei viel von chinesischen Rechtsanschauungen und chinesischer Rechtspflege beobachten und lernen können. Das gesellige Leben in Schanghai war sehr rege und sehr luxuriös, wie es dem Reichtum der großen Handelsherren entsprach. Die Kleinen aber suchten nach Kräften, es den Großen gleichzutun. Man aß und trank mehr, als es in dem Klima der Yangtse-Niederung für die Gesundheit ersprießlich war. Die Gesellschaft war einseitiger in ihren Interessen, robuster in ihrem Materialismus als die in Peking, aber bis zu der politischen Trennung ebenso ungestört international. Namentlich zwischen Deutschen, Engländern und Amerikanern bestand enger Verkehr, während die Franzosen mehr unter sich blieben. Nachdem der unvermählte Dr. Stübel 1891 das Generalkonsulat übernommen hatte, war sein Haus ein gesuchter Brennpunkt der Gesellschaft. Mit den Chinesen war ein Verkehr ebenso wenig möglich wie in Peking. Die männliche Welt hatte ihre Treffpunkte außerdem in den Klubs, dem deutschen und dem englischen, viele Deutsche waren Mitglieder von beiden; in dem älteren englischen machte sich die stärkere Ausgeprägtheit des Klublebens in England und die längere Gewöhnung des Engländers daran zu seinem Vorteil geltend. Der deutsche war eine nicht durchweg gelungene Nacháhmung, wie es mir denn überhaupt erstaunlich war, in wie hohem Maße die Deutschen, Männer und Frauen, die oberen Schichten am meisten, sich in ihren Anschauungen, ihrer Lebenshaltung, ihren Umgangsformen, kurz in ihrem gesamten Gebaren den Engländern anzugleichen bestrebten. Ich habe es wiederholt schmerzlich beobachtet, daß hochgebildete deutsche Damen, von den Männern nicht zu reden, die von Hause kamen, eine Zeitlang noch sich und ihr Haus bewußt deutsch hielten, dann aber den Ein62

flüssen der Umwelt doch erlagen und anglisiert wurden. Selbst auf die Sprache hatte dieser Prozeß übergegriffen. Nicht bloß daß die deutschen Kaufleute in China ihre Bücher englisch führten, w a r mir eine peinliche Überraschung, sondern mehr noch w a r ich aufgebracht über die unverantwortliche Art, wie sie ihre Muttersprache mißhandelten. Man sprach in den chinesischen H ä f e n ein abscheuliches Kauderwelsch: deutsch als Grundstock mit zahlreichen englischen Ausdrücken, englischen Konstruktionen und englisch umgemodelten guten deutschen Wörtern. Ich kenne kein zweites Volk, das sich eine solche Verhunzung seiner Sprache hätte zu schulden kommen lassen. Von den Engländern w a r dies nicht unbemerkt geblieben und ihre Achtung v o r den Deutschen dadurch nicht gesteigert. So erklärt es sich, daß mir eine Engländerin in einer Gesellschaft sagen konnte: „Sie sprechen so gut englisch, daß Sie deutsch gar nicht mehr zu sprechen brauchen". Ich w a r wütend und traurig zugleich. Niemals f a n d man in einem deutschen Hause einen chinesischen Angestellten oder Diener, der deutsch sprach, man w a r auch grundsätzlich darauf bedacht, sie nicht das Deutsche lernen zu lassen; einmal sollte' es bequemer sein, englisch zu sprechen, und dann galt es auch als vorteilhaft, die Möglichkeit einer Unterhaltung zu haben, die den Chinesen unverständlich war. Die Engländer hatten andere Vorstellungen von dem, was sie ihrer nationalen Stellung schuldig waren. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Deutschen in den chinesischen H ä f e n bei aller wirtschaftlichen Tüchtigkeit und überlegenen Schulbildung kulturell nichts anderes als ein Anhängsel Englands. Die Folgen bei den Chinesen blieben nicht aus. Englisch w a r ihnen gleichbedeutend mit „europäisch", fremdes Geld w a r in ihrer Sprache „englisches G e l d " , der westliche Kalender w a r der „englische Kalender", das Christentum, wenigstens das protestantische, w a r die „englische Religion" usw. So konnte man noch 1904 erleben, daß ein amerikanischer Missionar in Schanghai in einem öffentlichen Vortrage in chinesischer Sprache über abendländische Kultur und Sprachen seinen Zuhörern folgendes beibrachte: „Unter Deutschlands vereinigten Staaten nimmt Preußen die erste Stelle ein. Preußens ältere Schriftsteller aber kann man an den Fingern herzählen, das Land hat daher in neuerer Zeit auch die englische Sprache und Schrift angenommen". Der Vortrag erschien später in fast allen chinesischen Zeitungen. Seitdem hat sich allerdings ein gründlicher Wandel vollzogen. Das Schicksal hat die Deutschen hart in die Lehre genommen. Die Erkenntnis begann, seitdem auch f ü r Deutschland als Folge der technischen und industriellen Entwicklung von der Mitte der neunziger Jahre ab eine neue Zeit heraufzog, und als bei den Engländern auch in China die Sorge wegen des neuen, unerwartet erstarkenden Rivalen wuchs. Im L a u f e der Jahrhunderte w a r dem Engländer die Vorstellung, daß ihm die Welt von Gott zur Beherrschung überwiesen sei, zum religiösen Empfinden geworden. Diese Überzeugung, das auserwählte Volk zu sein, wird gewöhnlich auf Cromwell und sein Puritanertum im 1 7 . Jahrhundert zurückgeführt, sie ist aber erheblich älter und mag sich schon auf die englischen Siege über Frankreich im i j . Jahrhundert gründen. Die Verschmelzung von Politik

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und Religion hat dann Cromwell, „der typischste aller Engländer", durch seine selbstherrliche Auslegung der calvinistischen Prädestinationslehre herbeigeführt. Auf ihn gehen schließlich die Ideale des englischen Sendungsglaubens zurück, insbesondere das der Beherrschung des politischen Weltgeschehens und der Ausbeutung der Handelsmärkte. Niemand wird das Engländertum richtig verstehen, der nicht von dieser Wurzel seines völkischen Daseins ausgeht. Deutschland w a r jetzt eine Macht, die England behinderte. Auf dem gewaltigen ostasiatischen Wirtschaftsfelde machte sich die neue Rivalität zunächst noch nicht so bemerkbar wie anderswo, ja, die politische Lage im Fernen Osten wurde sogar zu jener Zeit so, daß man sich der deutschen Stellung vorübergehend mit Nutzen bedienen konnte. Infolgedessen begannen die Deutschen in China erst verhältnismäßig spät, die innere Haltung ihrer Nachbarn zu spüren in dem Zusammenschluß der Industriekreise in England zur Bekämpfung der deutschen Unternehmungen, in einer zunehmenden Zurückhaltung englischer Firmen ihren deutschen Geschäftsfreunden gegenüber, in zahllosen Nadelstichen des geschäftlidien und amtlichen Verkehrs, besonders in Schanghai. Als ich 1890 nach Schanghai kam und während der folgenden J a h r e w a r natürlich von alledem noch nichts zu spüren. Ich selbst, der ich als Bewunderer der englischen Machtstellung und als ein Freund englischer Verkehrsformen nach China gekommen w a r , bewegte midi viel in englischer Gesellschaft und hatte auch zu den englischen Amtsstellen die angenehmsten Beziehungen. Aber mißtrauisch w a r ich doch wiederholt geworden, wenn ich den Hochmut von Engländern beobachtete und die Anmaßung, mit der sie oftmals eine bevorrechtigte Stellung beanspruchten. Jetzt ging ich der Frage systematisch nach: ich beobachtete aufmerksam, wie es in der englischen Gesellschaft bei politischen oder handelspolitischen Gesprächen herging, las die englischen Zeitungen daraufhin, insbesondere auch die Form der Nachrichten über Deutschland, wie sie in den Telegrammen des Bureaus Reuter (damals alleinige Stelle der Ubermittelung) gegeben und dann von den Zeitungen verarbeitet wurden, beobachtete sorgfältig, was über englische Charakterzüge sowohl von Amerikanern und Franzosen als audi von Engländern selbst geschrieben war, und beschäftigte mich mit Büchern über englische Kolonialkriege, A u f b a u des Weltreiches, Staats- und Herrschaftsgedanken, Methoden zur Vernichtung der Gegner und ähnliches. Das Ergebnis w a r die Überzeugung, daß, je mehr Deutschlands handels- und maditpolitisdie Stellung wachsen und nach Übersee ausstrahlen würde, um so stärker der Gegensatz werden mußte, ja daß wir in Europa den Frieden nicht behalten könnten, ehe dieser englisch-deutsche Gegensatz nicht ausgetragen sei. Wie dieses geschehen sollte, wußte ich nicht, aber auf den Entwicklungsweg, auf eine Wandlung im politischen Weltbilde der Engländer wagte ich nicht zu hoffen. Die Tätigkeit in Schanghai w a r vielseitig und lehrreich. Die häufigen Streitigkeiten im Warenlieferungsverkehr zwisdien Deutschen und Chinesen, wie ich sie schon in Tientsin kennengelernt hatte, ferner die Verhandlungen im Gemischten Gericht, Grunderwerbsfragen u. a. verlangten viel und nicht immer leidite Arbeit. Audi die Marine beanspruchte zuweilen unsere Dienste. Idi hatte mehr64

fach die Aufgabe, unsere Kriegsschiffe auf ihren Fahrten an der Küste oder auf dem Yangtse als Sprach- und Landeskundiger zu begleiten, und habe sie immer gern übernommen. Die denkwürdigste Reise war die mit dem Kreuzergeschwader unter Admiral Valois nach Nanking im April 1892, wo dem Generalgouverneur ein feierlicher Besuch gemacht werden sollte. Die Fahrt stand unter keinem guten Stern. Ich war mit dem Kanonenboot „Iltis", dem Vorgänger des 1896 am Schantung-Vorgebirge untergegangenen, nach Wusung gefahren, wo wir das Geschwader erwarten sollten. Am Nachmittag hatte dicker Nebel eingesetzt, den folgenden Morgen, am 2. April, kam stürmisches Wetter mit schwerer See auf, erst gegen 3 Uhr kam das Geschwader, in Sicht. Ich war kaum auf das Flaggschiff, den großen Kreuzer „Leipzig", hinübergegangen, als wir in dem seichten Wasser auf Grund saßen, wobei sich dann in dem Sturm die ausgebrachten Ankerketten verwirrten. Erst am nächsten Tage um 5 Uhr früh konnten wir mit der Flut die Weiterreise antreten, aber eine Stunde später saßen wir abermals fest und diesmal bedenklicher als vorher. Die Geschütze wurden nach vorn gebracht, ein englischer Schlepper setzte sich vor, aber alles war nutzlos, man erwog bereits, ob das Schiff bei Ebbe nicht abgestützt werden müßte. Endlich kam die Natur selbst zu Hilfe. Am 4. April, morgens um 6 Uhr, war Hochwasser, der Wind stand gut, und so kamen wir mit eigener Kraft frei. Die weitere Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, und am J . A p r i l um 2 Uhr ankerten wir vor Nanking. Wir konnten das weit ausgedehnte, aber nach den Zerstörungen der Taiping-Zeit nur noch zu einem ganz kleinen Teile besiedelte Stadtgelände und seine Umgebung besichtigen; es war ein melancholischer Anblick, die glänzende Metropole von einst war damals nur eine Ruinenstätte. Am Tage darauf fand ein feierliches, dreieinhalb Stunden währendes Staatsbankett bei dem Generalgouverneur statt, dessen endlose Reihe von Gängen wir nur mit Aufbietung aller Energien bewältigen konnten. Am 8. April sollte der Gegenbesuch des Generalgouverneurs an Bord der „Leipzig" vor sich gehen; das Wetter wurde indessen wieder derart stürmisch, daß der Admiral die Verantwortung nicht tragen mochte, den bejahrten Herrn aus seinem Boote überzunehmen, und deshalb mitteilen ließ, den Besuch nach Wunsch zu unterlassen. Der Generalgouverneur wird gern von dieser Freistellung Gebrauch gemacht haben, denn der Besuch unterblieb. Um 2 Uhr traten wir die Rückfahrt an, aber bei den hierbei vorgenommenen Bewegungen verlor der kleine Kreuzer „Sophie" beide Anker, so daß er zurückbleiben mußte, um sie wieder einzuholen. Am 9. April fanden wir in Wusung die Kanonenboote „Iltis" und „ W o l f " ; idi ging am nächsten Morgen an Bord des „Iltis" und war mittags in Schanghai. Unmittelbar nach dieser stark getrübten, aber doch an heiteren Stunden reichen Yangtsefahrt mußte das Kreuzergeschwader infolge von Caprivis plötzlicher Sinnesänderung an die südamerikanische Küste, wo akut gewordene Konflikte seine Anwesenheit nötig machten. Es scheint fast, als wäre ich für unsere Kriegsschiffe ein Unglücksgast gewesen. Denn als ich bei einem anderen Anlaß mit dem „Iltis" Yangtse-aufwärts fuhr, erlebten wir ein Mißgeschick anderer Art. Ich saß mit dem Kommandanten, dem nachmals bei den Taku-Forts 1900 so bekannt5 Franke, Erinnerungen

gewordenen Kapitän Lans am Abend in seiner Kabine beim Essen, als uns ein Krach eiligst nach oben zwang. Wir hatten in der Finsternis eine Dschunke überrannt und hörten lautes Jammergeschrei. Ich fuhr mit einem der Offiziere hinüber, und wir fanden bei näherem Zusehen, daß die Sache nicht ganz So schlimm war, wie es zuerst schien. Die Verluste wurden später gedeckt. Bei allen diesen Obliegenheiten behielt ich dodi einige Mußestunden, in denen idi, wenn auch mit starken Unterbrechungen, meinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen konnte. Idi arbeitete jetzt die geographischen und historischen Quellen über das Jehol-Gebiet durch, beschäftigte mich mit chinesischem Buddhismus und sichtete den Stoff, den mir meine von Schanghai aus unternommenen Reisen lieferten. Chinesisch zu sprechen, war in Schanghai weit weniger Veranlassung als in Nord-China. Der Dialekt, in Aussprache und Wortschatz völlig verschieden von den nordchinesischen Idiomen, bildete eine sprachliche Enklave in dem Sprachengewirr von Mittel-China und beherrschte daher ein viel zu enges Gebiet, als daß es sich gelohnt hätte, ihn zu erlernen. Mit Beamten und Literaten konnte man sich in dem Peking-Dialekt verständlich machen. Audi die rein kaufmännische Atmosphäre regte zu weiterem Forschen nicht an. Der Durchschnittskaufmann wußte von China nur, was ihm sein Comprador in Pidjin-Englisch erzählte. Was jenseits seines unmittelbaren Geschäftskreises lag, war ihm unbekannt und interessierte ihn nicht. Es gab rühmliche Ausnahmen, aber nur wenige. Als 1896 die sibirische Bahn sich bereits dem Baikalsee näherte, fragte ich einen der führenden Firmenchefs, der mir nahe befreundet und eine jener rühmlichen Ausnahmen war, welches die Ansichten der Kaufmannschaft von Schanghai über die vermutliche Bedeutung der Bahn für den Ostasienhandel seien und ob man eine Verlagerung des Personen- und Warentransportes durch sie erwarte. Ich erhielt von ihm die verblüffende Antwort: „Sie wissen doch selbst, daß den meisten Kaufleuten in Schanghai gar nicht bekannt ist, daß durch Sibirien eine Bahn gebaut wird". Audi hier haben sich indessen seitdem die Dinge wesentlich gewandelt. Zuweilen fand sich sogar auch eine von außen kommende Anregung zu wissenschaftlichem Nachdenken. Der bekannte englische Sinologe Dr. Edkins lebte als Beamter in der statistischen Abteilung des Seezollamtes in Schanghai, und da er mit einer Deutschen verheiratet war und gegenüber dem Generalkonsulat wohnte, verkehrte ich bald sehr oft in seinem Hause. Edkins war früher Missionar gewesen und hielt auch in seiner neuen Stellung noch enge Verbindung mit der Mission. Er war 67 Jahre alt, als ich ihn kennenlernte, und Sir Robert Hart hatte ihm wohl die nicht sehr belangreiche Stellung übertragen, um ihm die Möglichkeit zu weiterer wissenschaftlicher Tätigkeit zu verschaffen. Mit unermüdlichem Fleiß machte er auch von dieser Möglichkeit Gebrauch. Er war von einer umfassenden Belesenheit in der chinesischen Literatur und dank seiner langen Erfahrung wußte er auch von schwierigen Texten den Sinn rasch zu erfassen. Er war auch einer der wenigen Europäer, die den Schanghai-Dialekt beherrschten. Aber wie den meisten seiner englischen Kollegen fehlte ihm die methodische wissenschaftliche Durchbildung, und so hatten seine Arbeiten oft etwas 66

Oberflächliches und Dilettantenhaftes. Er liebte es, Behauptungen aufzustellen, ohne sich mit Beweisen aufzuhalten, oder sie auf Angaben zu stützen, die man nicht nachprüfen konnte. Als ich ihn einmal auf diese methodischen Sdiwädien aufmerksam machte, antwortete er naiv: „Ach, Beweise sind bei solchen Dingen nicht so nötig". Während seine Werke über chinesische Religion, namentlich den Buddhismus, viel wertvolles Material enthalten, hatte er sich zur Zeit unserer Bekanntschaft auf ein Gebiet begeben, auf dem der Dilettantismus von jeher wahre Orgien zu feiern pflegte, auf das der Sprachvergleichung. Er verglich alle ihm erreichbaren Sprachen der Welt, ob tot oder lebendig, mit dem Chinesischen und fand überall verwandtschaftliche Beziehungen; auf seiner Jagd nach Wortwurzeln durdigrub er alle Wörterbücher und hatte eine kindliche Freude, wenn er eine fand, der er ein ähnlich klingendes chinesisches Wort an die Seite stellen konnte. Wann immer ich mit ihm zusammentraf, besonders, wenn idi ihn bei einer schwierigen Textstelle um Rat fragte, trug er mir mit Leidenschaft seine Entdeckungen vor, die ich geduldig hinnehmen mußte. Er ging so weit, daß er den Bau der Sprachen mit den Verfassungen ihrer Länder in Verbindung brachte und die ersten nach der Entwicklung der letzten einstufte. Da aber England natürlich die beste und freieste Verfassung besaß, so marschierte audi das Englische an der Spitze! Edkins pflegte seine Etymologien und Theorien in der in Hongkong erscheinenden „China Review" zu veröffentlichen, und da einige seiner Landsleute Beiträge ähnlicher Art hinzufügten, so überwältigte mich eines Tages der Unmut und ich schrieb einen Aufsatz über „China and Comparative Philology" in der „China Review", in dem ich midi mit dieser Art von Wissenschaft auseinandersetzte. Dr. Eitel, der Herausgeber, der von dem Eifer seiner Mitarbeiter auch wenig erbaut war, dankte mir für die Beleuchtung der Situation. Ich hatte Edkins in dem Aufsatz nach Möglichkeit geschont, er fühlte sich aber doch durch manche Bemerkung getroffen, hat mir aber vornehmerweise die Kritik nicht nachgetragen. Frau Edkins war eine weltgewandte deutsche Dame mit lebhaftem Temperament, die für die Studien ihres Gatten nicht viel Begeisterung aufbrachte. Da sie das Französische und Englische mit gleicher Vollkommenheit beherrschte, habe idi im Umgang mit ihr viel a u f diesem Gebiete gelernt, namentlich verdanke ich ihr die Kenntnis zahlreicher Idiomata des Englischen. Neben Edkins war die Sinologie in Schanghai durch den Deutschen Ernst Faber vertreten, ebenfalls Missionar und einer der Begründer des Allgemeinen evangelisch-protestantischen Missionsvereins von 1886. Er war eine Autorität in chinesischer Botanik, und seine Leistungen in dieser Disziplin sind von größerem und dauernderem Werte als seine Arbeiten über die kanonischen Schriften der Chinesen, die heute überholt sind. Der Umgang mit dem sehr gemessenen und sehr würdevollen Herrn, der nur seiner Arbeit lebte, war mir immer eine Freude, und in die Verehrung, die er überall genoß, stimmte idi von Herzen ein. Der dritte, mit dem mich wissenschaftliche Interessen zuweilen zusammenführten, war Paul Georg von Möllendorff, damals ebenfalls Beamter im Seezolldienst in Schanghai. Er hatte ursprünglich dem deutschen Dolmetscherdienst angehört, war aber dann ausgeschieden und mehrere Jahre in chinesischen 5*

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Diensten in Korea gewesen; dort hatte er als Mittelsmann Rußlands eine politische Rolle gespielt und war bei den Bluttaten der Verschwörung von Söul und der koreanischen Erhebung gegen die Japaner 1884 Zeuge gewesen. Während dieser Zeit hatte er die europäischen Diplomaten in Peking in einige Aufregung versetzt, aber 1885, mit dem Abschluß eines neuen chinesisch-japanischen Vertrages und einer Verständigung Chinas mit Korea, war seine staatsmännische Episode zu Ende. Er war nach China zurückgekehrt und konnte dort seinen interessanten Erinnerungen leben. Von großer stattlicher Gestalt und sehr sicher in seinem Auftreten, gab von Möllendorff sich gern für einen Polyhistor, der auf den entlegensten Wissensgebieten zu Hause war, aber ich habe mehrfach Gelegenheit gehabt zu beobachten, daß seine Kenntnisse mehr Blendwerk waren und seine Angaben sich als. unzuverlässig erwiesen. Die wenigen Arbeiten von ihm sind heute vergessen.. Aber er war ein amüsanter Gesellschafter und verfügte über einen scharfen Witz, mit dem er die Lacher auf seine Seite brachte. Er gab mir einmal den klassischen Rat: „Lernen Sie nie Chinesisch, wenn Sie im Dienst weiterkommen wollen, oder, wenn Sie Ihre Neigung dazu nicht unterdrücken können, tun Sie immer, als ob Sie nichts wüßten, sonst werden Sie rücksichtslos als Dolmetscher festgenagelt." Die Bemerkung mag etwas überspitzt sein, aber sie enthielt leider ein gut Teil Richtiges. Wer viel Chinesisch trieb oder gar wissenschaftlicher Neigungen verdächtigt wurde, war im Amte bald kompromittiert. Die heimischen Bureaukraten, deren Auslandskenntnisse sich nicht über die Schweiz hinaus erstreckten, wollten auch draußen Beamte, wie sie selbst waren: Juristen, keine „Philologen"; die ersten waren die handelnden Personen, die letzten die Dolmetscher, subalterne Geister, die sich schon durch ihre Beschäftigung mit so abwegigen Dingen wie orientalische Sprachen selbst kennzeichneten. Diese Auffassungen standen gerade damals in ihrer vollsten Blüte, die deutsche „Dolmetscher-Karriere" war — unter dieser Bezeichnung — zu internationalem Rufe gelangt. Ein so erfahrener Sachkenner wie Herr von Brandt hat während seiner Amtszeit und mehr noch nachher, z . B . in seinen Erinnerungen, das Falsche in dieser Personalpolitik als verhängnisvoll für den Dienst heftig bekämpft, aber ein Erfolg stellte sich erst ein, als die schlimme Wirkung offenbar wurde. Heute ist die ganze „DolmetscherKarriere" verschwunden, sie ist in der Konsulatslaufbahn aufgegangen, die jungen Anwärter rücken vom Attaché zum Vizekonsul, Konsul und Generalkonsul auf, Kenntnis der Landessprache wird vorausgesetzt. Glücklicherweise hatte ich in dem Generalkonsul Stübel einen Chef, der sich von den Wegen der heimischen Bürokratie ebenso fern hielt wie der Gesandte und mir für meine wissenschaftlichen Interessen jede Freiheit ließ. Neben der Asiatischen Gesellschaft, dem „China Branch of the Royal Asiatic Society", die in Schanghai ihren Sitz hatte und wo man außer viel seichten Vorführungen auch manchen guten Vortrag durchreisender Gelehrter zu hören bekam, gab es auch manchmal wissenschaftliche Kuriositäten, die in der großen Hafenstadt an Land gesetzt wurden. So stellten sich eines Tages ein paar nestorianische Christen aus Armenien bei Dr. Edkins ein, der ihnen aber als mildtätiger 68

Missionar anziehender war denn als Sinologe. Der gelehrte Gastfreund war jedoch sehr angetan von der interessanten Bekanntschaft und versuchte, mit den etwas abenteuerlich aussehenden Pilgern, soweit es deren gebrochenes Englisch zuließ, ein Gesprädi über ihre Glaubensbrüder der T'ang-Zeit anzuknüpfen, stieß aber mit seinem Grabsdieit auf gänzlich unfruchtbaren Boden. Ich modite dem alten Herrn nicht störend in das Gehege seiner Gedanken kommen, aber ich war und bin noch heute überzeugt, daß es sich bei den Nestorianern um reisende Schnorrer handelte. Ernsterer Art war das plötzliche Ersdieinen des buddhistischen Priesters Dharmapäla aus Indien, Ende 1893, des Generalsekretärs der Mahäbodhi-Gesellschaft in Kalkutta, der von dem Religionskongreß in Chicago kam. Er hatte bereits mehrere Kultstätten in Japan besudit und wollte nun auch die Verbindung mit den chinesischen Buddhisten aufnehmen. Der Zweck seines Kommens war, die Chinesen für die Wiederaufrichtung des Buddhismus in Indien zu erwärmen und um ihre Hilfe zu bitten. E r wollte dazu eine größere Feierlichkeit in einem der Klöster veranstalten, Reliquien vorzeigen und eine Adresse verlesen. Dharmapäla — so war sein Kleriker-Name — hatte sich zunächst an Edkins gewandt, dieser machte ihn mit mir bekannt, und auf seine Bitte stimmte ich zu, ihn als Dolmetscher zu beraten und zu begleiten, obwohl idi nach meinen Erfahrungen in buddhistischen Klöstern über die völlige Aussichtslosigkeit des Unternehmens keine Zweifel hegte. Wir hatten das große Kloster Lung-hua sse bei Schanghai für die Feierlichkeit gewählt und begaben uns am 28. Dezember dorthin. Der englische Missionar Timothy Richard, ein guter Kenner des Vulgär-Buddhismus, hatte sich uns angeschlossen. Wie von ihm und mir erwartet, wurde das Ganze ein völliges Fiasko: Dharmapäla verlas seine Adresse auf englisch (er beherrschte dies vollkommen), ich meine chinesische Übersetzung. Irgend einen sichtbaren Eindruck bemerkte ich nicht, das Versprechen, die Ubersetzung drucken zu lassen und in allen Klöstern zu verbreiten, wurde Tags darauf zurückgenommen. Ich habe in einem Aufsatz der T'oung Pao über den Vorgang eingehend berichtet und ihn dort auch historisch beleuchtet. Welche Antwort Dharmapäla in Japan erhalten hat, weiß idi nicht, ich vermute aber, keine andere als in China. Auf seine Bitte wurde ich der Vertreter der Mahäbodhi-Gesellschaft in China, und ich habe in dieser Eigenschaft auch einige Zeit mit ihm in brieflichem Verkehr gestanden, dann schlief der unzeitgemäße Versuch ein. Die Zeit der Wiedererweckung des Buddhismus war noch nicht gekommen. In besonders guter Erinnerung ist mir Schanghai geblieben wegen der verschiedenen Reisen in Mittel-China, die idi in der Zeit von 1891 bis 1893 habe unternehmen können. Es sind vier Reisen, von kleineren Ausflügen abgesehen, die mich durch die verschiedenen Provinzen des unteren und mittleren Stromgebiets des Yangtse geführt haben. Im Frühjahr 1891 besuchte ich gemeinsam mit Dr. Faber und dem damals noch schwedisch-norwegischen Generalkonsul Karl Bock, dem Durchforscher Sumatras und Borneos sowie der Laos-Gebiete am oberen Menam, in einer diinesischen Dschunke den Tsdiusan-Archipel und 69

die dem Buddhismus geheiligte Insel P'u-t'o, 1892 konnte idi die Provinzen Tschekiang und Kiangsi bis an die Grenzen von Kuangtung im Süden und von Hunan im Westen durchqueren, 1893 lernte ich die Gegenden nördlich von Schanghai bis zum Yangtse bei Tschinkiang kennen und im Herbst das südöstliche Tschekiang, wo idi besonders das T'ien-t'ai-Gebirge mit seinen Klöstern durchstreifte. Während es in Schanghai üblich war, seinen Urlaub während der heißen Monate in Japan oder Tschifu (später in Tsingtau) zu verbringen, habe idi den meinigen fast immer zu Reisen im Inneren Chinas verwandt. Solche Reisen waren damals allerdings nodi umständlich und verlangten manche Entsagung, aber sie gaben reichen Ersatz in dem Reiz des Neuen und Unbekannten, im Volksleben der Städte und Dörfer, in der Schönheit und Großartigkeit der Landschaften und in dem berauschenden Gefühl der Unerreichbarkeit, des Losgelöstseins von allen Bindungen. Anders als in Nord-China, wo Reitpferd, Maultier, Esel und Karren die Beförderungsmittel waren, reiste man in Mittel-China auf den großen und kleinen Wasserwegen, den eigentlichen Verkehrsstraßen, mit dem chinesischen Wohnboote, auf dem man sich behaglich einrichten konnte und vor allen Widrigkeiten geschützt war. Idi habe trotz mancher Belästigungen und auch Unfreundlichkeiten in den Städten die Reisen, die idi mit Ausnahme der ersten alle allein unternommen habe, unendlich genossen und namentlich die ländliche Bevölkerung Chinas schätzen und lieben gelernt. Man reist heute gewiß mit der Eisenbahn bequemer und schneller, und der Europäer bekommt heute vom Lande umfangreichere Teile zu sehen, die für uns wegen des erforderlichen Zeitaufwandes unerreichbar waren, aber in die Eigenheiten des Volkes und die Art seiner Lebensführung erhielt man tiefere Einblicke. Während ich in Kiangsi die Residenz des Taoisten-Papstes, des „Himmelsmeisters" Tsdiang in Lung-hu schan sowie die seit dem 13. Jahrhundert berühmte Zentralstätte konfuzianisdier Gelehrsamkeit, die Studienanstalt Pai-lu tung sdiu-yuan, in wundervoller Lage an den Lu-schan-Bergen kennenlernte, zog midi nach dem T'ien-t'ai-Gebirge die Kunde von einem Sanskrit-Manuskript, das in einem der dortigen buddhistischen Klöster aufbewahrt werden sollte. Ich fand in der Tat das Manuskript in einem ganz zerfallenen Kloster, das vor nicht langer Zeit abgebrannt war, eine Katastrophe, bei der audi die meisten der wertvollen Druckplatten zerstört waren. Das Manuskript bestand aus 20 Palmblättern, die offenbar Brudistücke von verschiedenen, aber nicht oder nicht bloß buddhistischen Werken waren (z. B. kamen wiederholt die Namen der Dichter Kali, däsa und Ümäna vor) und sich im ganzen noch in gutem Zustande befanden. Derartige Manuskripte wurden zu der Zeit, als buddhistische Mönche zwischen Indien und China verkehrten, in Massen nach China gebracht, und Edkins sagte mir, daß er nodi in den siebziger Jahren bei Kuriositäten-Händlern in Peking mehrere gesehen habe. Zu meiner Zeit war von dem Reichtum nichts mehr vorhanden, und die Reliquie auf dem T'ien-t'ai dürfte in der Tat der einzige kümmerliche Überrest gewesen sein. Ich schickte Photographien des Manuskriptes an Kielhorn nach Göttingen, der 7°

dann eine Beschreibung und Inhaltsangabe im „Indian Antiquary" veröffentlichte. Einen besonderen Wert hat das Manuskript nicht. Der Winter 1892/93 brachte ein wichtiges Ereignis im deutschen Dienst. Herr von Brandt hatte sich mit einer Amerikanerin verlobt und auf die Anzeige davon erhielt er den Bescheid, daß die Verheiratung deutsdier Diplomaten mit Ausländerinnen nicht zulässig sei, eine Bestimmung, deren Ursprung ich nicht kenne und die, soweit ich weiß, nur unter Caprivi zur Anwendung gekommen ist. Herr von Brandt mußte somit nach dreiunddreißigjähriger Tätigkeit in Ostasien seinen Platz räumen. Im Sommer 1893 kam er auf der Heimreise durch Schanghai und wurde dort durch ein Bankett der deutschen Kolonie geehrt, an dem sich auch die Vertreter der anderen Nationen und selbst der fast ganz englische Munizipalrat beteiligten. Ich zweifle nicht, daß die Heirat nur ein Vorwand war, den aus anderen Gründen mißliebig gewordenen Gesandten von seinem Posten zu entfernen; bösartiger Klatsch scheint hier mit im Spiele gewesen zu sein. Abweichend von meiner sonstigen Gewohnheit benutzte ich im Frühjahr 1894 meinen sechswöchigen Urlaub zu einer Reise nach Japan. Von Nagasaki aus durchquerte ich Kyushu, setzte dann über nach der Hauptinsel Hondo und reiste teils auf dem üblichen Wege, teils auf Seitenpfaden, die sehenswürdigen Stätten und Landschaften nach Möglichkeit besuchend, nordostwärts über Tokyo bis über das Nikko-Gebirge hinaus; von Yokohama fuhr ich im Juni mit dem französischen Postdampfer nach Schanghai zurück. Auch in Japan war damals das Reisen beschwerlicher und langsamer als heute: ich habe den größten Teil der Uberlandreise im Jinrikscha oder zu Fuß machen müssen, habe es aber nicht bereut, auf diese Weise das schöne Land auch in etwas abseitigen Plätzen mit manchen vom Fremdenverkehr noch nicht berührten „heimeligen" Ortschaften kennenzulernen. Schon in Japan war mir die Erregung aufgefallen, die in Gesprächen über China und Korea oft zum Ausdrude kam, und Gerüchte über bevorstehende Ereignisse wurden immer häufiger, je weiter die Zeit fortschritt. Als ich am 7. Juni zurückkam, wurde der Krieg als bevorstehend betrachtet. Schon vom März ab war es zu neuen Bluttaten zwischen Koreanern auf chinesischem Boden gekommen, die mit den Vorgängen von 1884 zusammenhingen. Bald danach schalteten sich die Japaner ein. Gewalttaten gegen den König von Korea und die Chinesen folgten, und am 1. August wurde zwischen Japan und China der Krieg erklärt, nachdem er tatsächlich schon im Juli von den Japanern begonnen war. Ich hatte Japan noch eben im Frieden besuchen können. Bei der Gesandtschaft in Peking war inzwischen der Fortgang des Herrn von Brandt nicht die einzige Veränderung geblieben. Dr. Lenz war als Vizekonsul nach Tschifu versetzt, Herr von der Goltz erster Dolmetscher geworden. Zum Nachfolger von Brandts war Freiherr Sehende zu Schweinsberg ernannt, der im August 1893 die Geschäfte übernommen hatte, an die Stelle von Herrn von Ketteier war Freiherr Speck von Sternberg, der spätere Botschafter in

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Washington und Freund des älteren Roosevelt, als Legationssekretär getreten. Herr von der Goltz hatte 1894 einen sechsmonatlichen Europa-Urlaub erhalten und wollte im Herbst abreisen. Zu seiner Vertretung war ich bestimmt, und bald nach Ausbruch des Krieges erhielt ich die Weisung, mich nach Peking zu begeben. Ich hatte mich in Schanghai gut eingelebt und fühlte mich in den angenehmen Verhältnissen sehr wohl, war aber über die Rüdekehr nach dem mir interessanteren Norden doch erfreut. Ich schiffte mich auf einem englischen Küstendampfer ein, weil unter chinesischer Flagge jetzt nicht gut reisen-war. Als wir uns aber der Reede von Taku näherten, hielt es der Kapitän, für geraten, die Fahrt nicht fortzusetzen. Die Chinesen hatten vor der Flußmündung Minen ausgelegt, und wer ihre Fahrlässigkeit in solchen Dingen kennt, wird die Maßregel begreiflich finden. So lagen wir denn „in the middle of the ocean", wie ein mitreisender Engländer im Galgenhumor bemerkte, und mochten sehen, wie wir weiter nach Tientsin kamen. Nadi einiger Zeit gelang es, eine kleine chinesische Dschunke heranzuwinken, deren Führer sich bereit erklärte, mich zwischen den Minen hindurch in den Fluß zu bringen. Idi kann nicht leugnen, daß mir in dem kleinen Ruderkahn, in dem ich mich und mein Gepäck verstaut hatte, der glühenden Augustsonne schutzlos preisgegeben und jeden Augenblick darauf gefaßt, eine der wahrscheinlich treibenden Minen zu berühren, während der stundenlangen Fahrt etwas beklommen war. Alles ging indessen glücklidi ab, gegen Abend war idi in Tientsin, vier Tage später in Peking.

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V. Wanderungen und Wandlungen 2 In Peking wurde ich mit der Nachricht empfangen, daß nadi einem eben eingetroffenen Erlaß des Auswärtigen Amts während des chinesisch-japanischen Krieges kein Beamter beurlaubt werden könne, also audi Herr von der Goltz auf seinem Posten zu verbleiben habe. So war idi zwar eigentlich überflüssig geworden, aber der Gesandte bestimmte, daß idi für alle Fälle bleiben sollte. Der Krieg berührte uns dann freilich in seinem weiteren Verlaufe zunächst so wenig, daß der Geschäfte eher weniger als mehr wurden, so daß wir die nächsten Monate in beschaulicher Ruhe verleben konnten und die folgenschweren Ereignisse des Winters nur als interessierte Zuschauer zu verfolgen brauchten. Peking war äußerlich nicht verändert, aber die Gesandtschaft und das ganze diplomatische Korps hatten durch umfassenden Personalwechsel während dei vergangenen fünf Jahre ein völlig anderes Gesicht bekommen. In der Gesandtschaft fand idi, abgesehen von den erwähnten Veränderungen, auch zwei neue Dolmetscher-Aspiranten vor, die idi bereits vom Orientalischen Seminar in Berlin kannte. Herr von Sehende, der von Teheran kam, war ein jovialer Herr, unvermählt wie sein Vorgänger, von etwas rauher Junggesellenart, in der Arbeit ruhig und vorsichtig, durch kein Übermaß geistiger Beweglichkeit behindert. Herr von Sternburg schien einer jener Adligen zu sein, die das geringe Alter ihrer Nobilitierung durch erhöhte Vornehmheit und zur Schau getragene Uninteressiertheit auszugleichen suchen. Er war in England geboren und, ehe er in den diplomatischen Dienst übertrat, sächsischer Kavallerie-Offizier gewesen; vielleicht hing damit seine Zurückhaltung zusammen. Er sprach von uns nur jemand an, wenn er über irgend etwas unterrichtet sein wollte. Von den Geschäften hielt er sich fern, durchaus dem Wunsche des Gesandten entsprechend. Da wir den Winter über reidilidi viel freie Zeit hatten, unternahmen wir ständig Ausritte in die für mich jetzt doppelt reizvolle Umgebung, nachdem ich mich mit der Geschichte des Nordens und Pekings im besonderen etwas näher hatte beschäftigen können. Die Niederlagen der von Li Hung-tschang aufgestellten neuen Armee begannen allmählich die chinesische Bevölkerung ängstlich zu machen, und im Winter fürchtete man eine Belagerung der Stadt durch die Japaner. In dieser Sorge wirkte die Anwesenheit der fremden Gesandtschaften beruhigend, weil man in ihnen einen Schutz gegen japanische Gewalttaten zu sehen glaubte. So stieß man jetzt überall auf freundliches Entgegenkommen, im amtlichen Verkehr nicht minder als bei Literaten und 73

Kaufleuten. Antiquitäten-Händler braditen ihre schönsten Stücke in die Gesandsdiaften und boten sie zu wohlfeilen Preisen an, baten wohl auch um zeitweilige Aufbewahrung. „Die Leute des Ostmeeres rebellieren, man weiß nicht, was werden wird", hörte man immer wieder sagen. Es war eine einzigartige Gelegenheit für den Sammler am Platze. Die gewerbsmäßigen A u f käufer, die damals sdion vereinzelt bis Peking kamen, blieben wegen des Krieges fort, die einheimischen Händler senkten ihre Forderungen und brachten audi zurückgehaltene Seltenheiten auf den Markt. Wir kauften bis an die äußerste Grenze unserer Mittel, die schöne Sammlung von Bronzen und Lacksachen, die sich jetzt im Museum für Völkerkunde in Berlin befindet, habe ich damals zusammengebracht. Audi die fremde Gesellschaft blieb nicht unbeeinflußt durch den Krieg. Am aufgeregtesten gebärdete sich der englische Gesandte Sir Nicholas O'Connor, später Botschafter in Petersburg und Konstantinopel. Er bestand darauf, daß die Damen von Peking fortgingen, und tatsächlich mußten alle Engländerinnen und Amerikanerinnen für den Winter nach Tientsin übersiedeln, die Französinnen und die übrigen folgten. Es blieben nur eine Deutsche, die Frau eines Seezollbeamten, die einzige, die überhaupt vorhanden war, und in der russischen Gesandtschaft eine Dame, die den Namen Mme. Sc. hatte und als Erzieherin eines elfjährigen Mädchens galt, das man als Nichte des Gesandten Grafen Cassini bezeichnete. Die Geselligkeit erhielt unter diesen Umständen einen ausgeprägt männlichen Zug, Bälle fielen ganz aus, dafür wurde um so mehr Whist gespielt und in der englischen Gesandtschaft gekegelt. Einmal aber braditen wir dodi die Aufführung eines deutschen Lustspiels bei Herrn von Schenck zustande, wobei Mme. Sc. uns freundlicherweise behilflich war. Unser Stilleben im Winter 1894/95 wurde durch ein ebenso glänzendes wie denkwürdiges Ereignis unterbrochen, eine jener Staatsaktionen, an denen teilzunehmen nur wenigen Abendländern vergönnt ist. Es war der erste feierliche Empfang der fremden Gesandten durch den Kaiser in dem inneren Palaste. Die Audienz-Frage hat die fremden Vertreter während vieler Jahre immer wieder beschäftigt. Sie war zum ersten Male 1873 akut geworden, als die Gesandten eine Audienz verlangten, um dem neuen Kaiser nach seinem Regierungsantritt im Februar jenes Jahres ihre Beglaubigungsschreiben zu überreichen. Die Frage des Zeremoniells und des Ortes der Audienz verursachte damals lange und mühsame Verhandlungen, da die Chinesen zunächst auf den landesüblichen Formen (Knien und Niederwerfen, k'o-t'ou) bestanden, was von den Gesandten natürlich zurückgewiesen wurde, und da auch ein Platz im inneren Palaste nicht zugestanden wurde, so drohte die ganze Angelegenheit zu versacken. Nach chinesischem Einlenken kam aber am 29. Juni die Audienz doch zustande und verlief programmäßig und befriedigend in einer Halle des äußeren Palastes. Die Frage ruhte dann wegen der ungeklärten dynastischen Verhältnisse, bis die Chinesen aus Anlaß der Regierungsübernahme des neuen Kaisers später, im Dezember 1890, von sidi aus darauf zurückkamen. Das Zeremoniell wurde in einigen Einzelheiten den Wünschen der Gesandten ent74

sprechend etwas verändert, die Halle blieb die gleiche wie 1873. Nach umständlichen und für den Doyen Herrn von Brandt oft ärgerlichen Besprechungen innerhalb des diplomatischen Korps fand die Audienz am 5. März 1891 statt und verlief wieder ohne jeden Zwischenfall. Eine freudige Begebenheit in der kaiserlichen Familie, der sechzigste Geburtstag der Kaiserin (Ex)regentin (der unter dem Namen Ts'e-hi in Europa bekannt gewordenen Herrscherin) im Jahre 1894 veranlaßte nunmehr die Chinesen, die Gesandten abermals zur Audienz einzuladen und gleich hinzuzufügen, daß diese im inneren Palast stattfinden sollte. Damit war die Notwendigkeit weiterer Verhandlungen ausgeschaltet und die Audienz ging am 12. November in einer Halle der „verbotenen Stadt" vor sich. Zusammen mit Herrn v. d. Goltz begleitete idi den Gesandten, der ein Glückwunschschreiben des deutschen Kaisers überreichte. Es bestand dies aus budiförmig zusammengelegten Pergamentblättern, auf denen der Text in mehreren Farben kunstvoll ausgeführt war und die durch zwei massive, mit weißem Leder überzogene und mit reicher Goldverzierung sowie dem kaiserlichen Namenszuge geschmückte Deckel zusammengehalten wurden. Das Ganze lag in einem eleganten Holzkasten, auf dem ein großes W mit der Kaiserkrone angebracht war. Es erregte allgemeine Bewunderung und machte in der Tat der deutschen Buchkunst alle Ehre. Es ist nicht leicht, den wundervollen Leistungen der Chinesen auf diesem Gebiete etwas Gleichwertiges an die Seite zu stellen. Die Ansprache des Gesandten wurde ins Chinesische und von einem neben dem Throne knienden Prinzen für den Monarchen ins Mandschurische übersetzt. Die Antwort gelangte auf dem gleichen Wege zurück. Beim Verlassen der Halle bot sich von der großen marmornen Freitreppe aus ein außerordentlich malerisches Bild: zu Füßen der weit nach Süden reichende Platz, am Ende die hohe mit gelb glasierten Ziegeln gedeckte Mauer, von der die lange Reihe der Mittelhallen der Palaststadt eingeschlossen und die durch ein dreiteiliges Tor unterbrochen war; jenseits davon, weit darüber hinausragend, erhob sich der mächtige Bau der T'ai-ho-Halle, des am meisten hervorragenden Gebäudes der Kaiserstadt, in dem die großen kultischen Staatsakte des „Himmelssohnes" stattfanden. Auf dem Platze zog sich in weit ausholendem Bogen die lange Reihe der Palastgarden entlang, davor bewegten sich Scharen von Beamten in ihren langen Tuniken mit ihren buntgestickten Rangabzeichen. Bei aller Geschäftigkeit war keine eilige oder überstürzte Bewegung zu beobachten, alles ging, dem chinesischen Amtscharakter entsprechend, lautlos feierlich, würdevoll zu, das Ganze ein unvergeßlicher Anblick. Die Chinesen sind unerreichte Meister in solcher prunkvollen Entfaltung orientalischer Majestät. Bei einer späteren Audienz waren mehrere deutsche See-Offiziere zugegen, sie standen gebannt in staunender Bewunderung und meinten, daß derartiges daheim nicht zu leisten sei. N u r der in Jahrtausenden vererbte Ordnungssinn der Chinesen macht solche Bilder möglich. Ich habe mich in Peking beim Laternenfest im Winter am 15. Tage des ersten Monats in den Straßen und auf Plätzen in Menschenmassen umherbewegt, die nach vielen Zehntausenden zählten; keine Polizei, kein ordnendes Organ war vorhanden, aber ich habe nicht ein Wort des Streites oder

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Scheltens gehört, nicht einen Versuch des Drängens oder Stoßens bemerkt, alles vollzog sich in ruhiger, gleichmäßiger, fast möchte man sagen: anmutiger Form. Bei solchen Szenen erkennt man, in wie tiefe Schichten die konfuzianische Kultur gedrungen ist. Auf die Audienz (ich habe von ihr eine ausführliche Beschreibung veröffentlicht) erfolgte ein vom Kaiser auf dem Tsungli-Yamen gegebenes Bankett, natürlich ohne seine Anwesenheit. Dem hohen Gastgeber entsprechend, w a r hier in Fülle dargeboten, was die chinesische Küche an köstlichen Lecker bissen und kunstvoller Zubereitung zu geben vermochte, ein Lob, das schwer wiegt, denn die Chinesen sind die verwöhntesten Gourmands der Welt, und der chinesische Koch wird von keinem seiner westlichen Fachgenossen übertroffen. Was man in Europa noch immer über die chinesische Küche erzählt, gehört zu den unausrottbaren Albernheiten, die sich aus dem 1 7 . Jahrhundert vererbt haben. Der russische und der französische Gesandte, denen ich bei Tisch gegenübersaß, meinten, daß man in Paris auch f ü r j o f r s . das Gededc solches Essen nicht haben könne. Die Kriegsereignisse setzten uns vom Herbst ab in zunehmende Spannung. Die jetzt offenbar werdende Wehrlosigkeit des großen China gegenüber dem kleinen J a p a n überraschte auf allen Seiten, die diplomatischen Vertretungen draußen wie die Kabinette daheim. Das Fehlen einer nationalen Geschlossenheit, ja eines nationalen Bewußtseins überhaupt, die völlige Gleichgültigkeit der mittel- und südchinesischen Provinzen hinsichtlich der militärischen Niederlagen im Norden, die man nach altgewohnter Auffassung f ü r eine Angelegenheit des „Hohen Kommissars des Nordmeeres", d. h. L i Hung-tschangs hielt, mit der man also- nichts zu tun hatte, und die offenbare Ratlosigkeit des Hofes zeigten auf das peinlichste, daß China noch ganz in den Vorstellungskreisen des Altertums beharrte und trotz aller aufrüttelnden Ereignisse des 19. Jahrhunderts das Wesen der neuen Zeit noch nicht erkannt hatte. Aber nicht weniger überraschend als China w a r J a p a n . Hier hatte sich in aller Stille ein militärischer Kraftherd gebildet, aus dem plötzlich starke Antriebe hervorschossen. Anknüpfend an sehr alte, aber längst fallengelassene Bestrebungen in Korea, drängte jetzt die neue Inselmacht mit G e w a l t hinüber auf das Festland. In Europa begann man hier Keime von Entwicklungen zu ahnen, die noch nicht zu übersehen waren. Die politischen Führer daheim horchten auf, der Ferne Osten, bisher nur ein Weltteil von zweitklassiger handelspolitischer Bedeutung, begann neue gegensätzliche K r ä f t e in Bewegung zu setzen. Man wurde aufmerksam, und jede der Mächte forschte nach dem Verhältnis der kommenden Entwicklung zu ihren nationalen Interessen. Jetzt w a r Ostasien in das Scheinwerferlicht der abendländischen großen Politik geraten, es wurde „interessant", und mit dem Stilleben ging es zu Ende. Die diplomatische Sphäre in Peking selbst w a r noch ruhig, man beobachtete, wartete und harrte der Weisungen von daheim. In der T a t wußte keiner der Gesandten, welchen Kurs seine Regierung steuern würde, und so hielt sich alles mit Vorsicht zurück. Die allgemeinen Sympathien waren auf der chinesischen Seite, den Friedensstörer mag niemand gern. A m ratlosesten w a r merkwürdiger-

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weise England. Man glaubte dort zunächst, daß Japan in dem tollkühnen Unternehmen bald seine Kräfte aufgebraucht haben würde, und nahm deshalb eine beinahe drohende Haltung gegen den fürwitzigen Friedensbrecher an. Sir Nicholas O'Connor geriet angesichts des Siegeslaufes der Japaner in große Unruhe; er wünschte, daß die Russen oder sonst jemand sich den Eindringlingen entgegenstellen möchten. Da aber bei den Engländern der Wunsch oft Vater des Gedankens ist — wobei sich dieses Erzeugnis oft als Mißgeburt herausstellt —, so kam Sir Nicholas eines Tages, aufgeregt vor Schreck und Freude, zu Herrn von Schenck und erzählte ihm, hunderttausend Russen seien in Wladiwostok angekommen und würden den Japanern bald den Garaus machen. Wir bemühten uns, dem Gutgläubigen die Unmöglichkeit der Meldung darzutun: hunderttausend Mann auf dem Landwege durch Sibirien zu überführen, würde — eine Eisenbahn gab es noch nicht — Monate in Anspruch nehmen, im Winter aber überhaupt unmöglich sein; der Seeweg dagegen würde eine Flotte von mehr als hundert Schiffen erfordern, und es sei kaum anzunehmen, daß der englischen Admiralität ein solcher Vorgang unbemerkt geblieben wäre. Sir Nicholas schien nicht ganz überzeugt, aber er verließ um eine Hoffnung ärmer die Gesandtschaft. Den Winter über wurde zwar zwischen den heimischen Regierungen über die einzunehmende Haltung gegenüber den ostasiatischen Ereignissen verhandelt, aber die Gesandtschaften wurden dadurch nur insoweit in Tätigkeit gesetzt, als sie Hilfsgesuche Chinas übermittelten. Herr von der Goltz erhielt deshalb die Genehmigung, seinen Urlaub im Frühjahr 1895 anzutreten. Er hatte wohl kaum in Schanghai den Dampfer bestiegen, als am 17. April, dem Tage, an dem Marquis Ito und Li Hung-tschang in Shimonoseki den Friedensvertrag unterzeichneten, der Einspruch der drei Mächte Rußland, Frankreich und Deutschland, mitgeteilt wurde. Die Hauptrolle bei den nun einsetzenden Verhandlungen hatte auf deutscher Seite zwar der Gesandte von Gutsdimid in Tokyo zu spielen, aber auch in Peking war mit den Chinesen viel zu besprechen und zu beraten, wobei Berlin immer auf dem laufenden gehalten werden mußte. Die Last dieser recht mühevollen Arbeit lag jetzt auf den Schultern von Herrn von Schenck und mir, so daß wir auch während der Sommermonate nicht an längere Erholung denken konnten. Ich habe mich über den so berühmt gewordenen Einspruch von Shimonoseki, über den von unberufenen Stellen so viele Irrtümer und Mißverständnisse, aber auch so viel törichte und bösartige Kritik gehäuft worden sind, an anderer Stelle ausführlich geäußert; dort habe ich sowohl seine Entstehung und seinen Verlauf dargestellt wie die Bedeutung untersucht, die er für Deutschland gehabt hat, und die Folgen, die ein Abseitsbleiben nach sich gezogen haben würde. Da ich von allen aktiven Teilnehmern, Deutschen, Japanern und Chinesen, der einzige Oberlebende bin, habe ich es für angezeigt gehalten, eine eingehende, auf amtliches Material gestützte Darstellung des weltgeschichtlichen Vorganges zu veröffentlichen. Denn um einen weltgeschichtlichen Vorgang handelte es sich in der Tat, zum wenigsten für uns. Deutschlands Teilnahme an dem Einspruch bedeutete seinen Eintritt in die überseeische Weltpolitik. Zur Entscheidung stand dabei die 77

Frage, ob dieser Eintritt zu den Lebensnotwendigkeiten des Reiches gehörte oder nicht, d. h. ob in Anbetracht des gerade damals sich anbahnenden gewaltigen Aufschwunges der deutschen Industrie und Schiffahrt die Notwendigkeit gegeben sei, daß Deutschland, wohl oder übel, hinaus müßte in die überseeischen Absatzgebiete, wobei die aufnahmefähigen ostasiatischen Länder in erster Linie in Frage kamen, oder ob das Reich angesichts seiner kontinentalen Gefahrenlage sich seine Absatzmärkte auf dem europäischen Kontinent suchen müsse. Nur wer diese Grundfragen entschieden hat, kann über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der deutschen Politik von 1895 urteilen, wobei er nicht vergessen darf, daß die Ungeschicklichkeit des eitlen, überheblichen und verständnislosen Gesandten von Gutschmid zweifellos unnötigen Schaden angerichtet hat. In der Geschichte der abendländisch-chinesischen Beziehungen beginnt nunmehr ein neuer Abschnitt. Hatte man bisher die von Herrn von Brandt so eifrig vertretene Politik der abendländischen Gemeinschafllichkeit trotz mancher Reibungsflächen im ganzen aufrechterhalten können, so war es damit nun endgültig vorbei. Die große internationale Politik griff hinüber nach dem Fernen Osten, und die Gemeinschaftlichkeit löste sich auf in mehrere scharf gegensätzliche Interessengruppen. Die deutsch-russisch-französische Einspruchsgemeinschaft ging nach getaner Arbeit sofort wieder auseinander; insofern erwies sich die Holsteinsche Politik im Auswärtigen Amt als eine Fehlrechnung. Rußland war in Peking durch den Grafen Cassini vertreten, der bis 1891 Generalkonsul in Hamburg gewesen war. Ein allmählich zur Ruhe kommender Lebemann, genoß er mit Behagen ein bequemes Leben und eine gute Küche, die Arbeit war ihm dabei eine lästige Unterbrechung. Diese zu übernehmen, war die Aufgabe des Vertreters des verbündeten Frankreich, des Herrn Gérard, des ehemaligen Vorlesers der Kaiserin Augusta und mutmaßlichen Verfassers des giftigen Pamphlets La Société de Berlin, der in Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen" nodi zu unverdienter Bedeutung gekommen ist. Er war eine ehrgeizige, hinterlistige kleine Kreatur und diente dem großen Russen als dienstbefliessener galopin, der ständig zwischen dem Tsungli-Yamen und der russischen Gesandtschaft unterwegs war. Während dieses ungleiche Paar für gemeinsame Rechnung arbeitete, Deutschland wider Willen seine eigenen Wege allein ging, stand England, das seit dem Ausbruch des Krieges wegen der Schwäche, Unentschlossenheit und Zerfahrenheit seiner Politik eine wenig rühmliche Rolle gespielt hatte, abseits, von den Chinesen mit Nichtachtung behandelt, von Russen und Franzosen beiseite geschoben und eifrig bemüht, an Deutschland Anschluß zu finden, um von dessen gutem Verhältnisse zu China zu profitieren. Sir Nicholas O'Connor war deshalb ein häufiger Gast bei Herrn von Schenck: „Es ist heute kein Vergnügen, ein Engländer zu sein", schrieb eine englische Zeitung in Schanghai. Grell beleuchtet wurden diese Verhältnisse durch die weiteren Ereignisse nach dem Friedensschluß. In dem Vertrage von Shimonoseki war den Chinesen eine Kriegsentschädigung von 200 Millionen Taels auferlegt worden, dazu kam noch als Entschädigung für die Rüdegabe von Liao-tung die Summe von 30 Millionen (zusammen damals etwa eine Milliarde Mark). Die Chinesen sahen sich nicht in

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der Lage, diese Beträge ohne fremde Hilfe aufzubringen. Rußland und Frankreich boten mit verdächtiger Eile ihre Dienste an, regelten aber ihr Verfahren so, daß zunächst im Mai 1895 ein Vertrag zwischen einer französischen Bankgruppe und der russischen Regierung geschlossen wurde, in dem die erste sich verpflichtete, für die chinesische Regierung den Betrag von 400 Millionen Franken zu 4 v.H. Zinsen zur Verfügung zu stellen, dessen Sicherheit durch Verpfändung der chinesischen Seezölle und durch Bürgschaft der russischen Regierung für Kapital und Zinsen gewährleistet würde. Danach erfolgte der Vertragsabschluß eines russisch-französischen Syndikats mit der chinesischen Regierung. Von deutscher wie von englischer Seite war das Tsungli-Yamen nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht worden, welche Gefahren in einem solchen Bürgschaftsverhältnis zu einer Macht wie Rußland für die Souveränität und Unabhängigkeit Chinas lägen, und daß es für China sehr wohl möglich sei, die benötigten Summen von angesehenen Bankinstituten ohne ein solches Dazwischenschieben eines fremden Staates zu erhalten. Es gab lange Besprechungen auf dem Yamen, in deren Verlauf Herr von Schenck auf Weisung des Auswärtigen Amts erklären mußte, China würde durch diese Bürgschaft zu einem Vasallenstaate Rußlands werden. Ich hielt diesen Ausdruck für übertrieben und fürchtete, daß die Chinesen ihn als Kränkung empfinden müßten, und daß er die beabsichtigte Wirkung sicher nicht haben würde. Indessen hatte ich hier „nur ein Amt und keine Meinung". Der Eindruck der Erklärung war der erwartete. Die Minister verbargen nur schlecht den Ausdruck des Unwillens, lächelten dann aber, als wollten sie andeuten, daß wir an dieses Argument wohl selbst nicht glaubten. Sie dankten für die guten Ratschläge und schlössen im Juli 1895 den Vertrag. Der wahre Beweggrund für die Sorge um Chinas Wohl war in Berlin und wohl mehr noch in London der dringende Wunsch der Banken und audi der Regierungen, an diesem einmal recht gewinnbringenden und dann auch politisch verwertbaren Anleihegeschäft beteiligt zu werden. Es war ärgerlich, daß die französische Konkurrenz zuvorgekommen war. Da Deutschland als dritter Teilhaber an dem Einspruch von Shimonoseki nach Ansicht der Chinesen ebenso wie Rußland und Frankreich einen Anspruch auf Belohnung hatte, so erwiderten die Minister auf gelegentliche Bemerkungen des Herrn von Schenck in der Anleihefrage, daß bei der nächsten Anleihe, die im Laufe des nächsten Jahres zu erwarten war, das deutsche Kapital in erster Linie bedacht werden sollte, daß aber von einer etwaigen englischen Beteiligung keine Rede sein könne, weil man mit England keinerlei Verbindungen eingehen wolle. Sir Nicholas O'Connor war im Oktober 1895 zum Botschafter in Petersburg ernannt worden und verließ Peking gleich danach. Der erste Sekretär, Herr Beauclerk, wurde Geschäftsträger. Er kannte den Stand der Dinge und klammerte sich mit nicht zu verbergender Ängstlichkeit an Herrn von Schenck, indem er offen zugab, daß in der auch für England so wichtigen Anleihefrage ohne deutsche Hilfe nichts zu hoffen und eine weitere Verstärkung der russisch-französischen Stellung zu fürchten sei. Ob auch daheim auf die deutsche Regierung in demselben Sinne eingewirkt worden ist, weiß ich nicht, in den deutsch-eng79

lischen Finanzkreisen ist es sicher geschehen, denn als der Termin für die neue Anleihe heranrückte, erklärten die deutschen Banken von vornherein, daß sie nur in Gemeinschaft mit der englischen Finanz eine solche übernehmen würden. Man wird leicht ermessen können, wie außerordentlich schwierig unsere Stellung in Peking dadurch werden mußte. Als im Anfang des Jahres 1896 der Abschluß einer neuen Anleihe nötig wurde, bedurfte es sehr langwieriger und peinlicher Besprechungen mit den chinesischen Ministern, um sie überhaupt zu einer Verhandlung mit den englischen Vertretern in dieser Angelegenheit zu bewegen. Die Verhandlungen über den Anleihevertrag selbst wurden dann von dem ersten Dolmetscher der englischen Gesandtschaft, J . Jordan (später englischer Gesandter), und mir geführt, im weiteren Verlauf kamen noch je ein Angestellter der Deutsch-Asiatischen Bank und der Hongkong & Shanghai Banking Corporation als Vertreter der deutsch-englischen Bankgruppe hinzu. Durch Monate hindurch zogen sich die zermürbenden, oft völlig unfruchtbaren Verhandlungen, weil sich die Abneigung der Chinesen gegen die Teilnahme der Engländer immer wieder hindernd in den Weg stellte. Jordan wurde mit kalter Nichtachtung behandelt, einmal sogar mit einer so brüsken Unhöflichkeit von Seiten eines Ministers, wie idi sie an solcher Stelle noch nicht erlebt hatte. Die Schwierigkeiten wurden vermehrt durch Quertreibereien der konkurrierenden Franzosen und Russen. Das Angebot der deutsch-englischen Banken war zuletzt 16 Millionen Pfund Sterling, zu 5 v.H. verzinslich, ohne staatliche Bürgschaft gegen Verpfändung eines entsprechenden Teiles der Seezölle, rückzahlbar in akkumulativer Annuität in 36 Jahren. Eines Tages erklärten wir auf Verantwortung unserer Bankvertreter kategorisch: dies sei unser letztes Angebot, und niemand sei imstande, ein besseres zu machen. Am nächsten Tage lag ein Angebot einer französischen Gruppe zu 4V2 v.H. vor! Es war keine leichte Aufgabe, diesen neuen Stein des Anstoßes aus dem Wege zu räumen, aber mein Glaube an die Unfehlbarkeit unserer Finanzgewaltigen selbst in Angelegenheiten ihres ureigenen Gebietes ist seitdem ins Wanken geraten. Es traf sich glücklich, daß der deutsche Bankvertreter ein ungewöhnlich gut beschlagener und geschickter Verhandlungspartner war (es war der spätere Teilhaber der Diskonto-Gesellschaft und zuletzt Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank Franz Urbig), denn die Engländer versuchten auf immer neuen Wegen uns bei dem Anleihedienst, sei es durch Zahlung der fälligen Beträge in London oder andere Klauseln, in die zweite Stelle zu drücken, wurden aber durch die Überlegenheit des deutschen Finanzmannes jedesmal zurückgewiesen. So hatten wir während der ganzen Verhandlungen an der englischen Beteiligung wie an einem mitzuschleppenden Bleigewicht zu tragen, bis endlich, am 23. März 1896, der Anleihevertrag abgeschlossen wurde. Die Quittung erhielten wir in der englischen Presse, die bald danach meldete (ich erinnere mich nicht mehr, ob es die North China Daily News oder gar die Londoner Times war), daß England seine Großherzigkeit bewiesen habe, indem es Deutschland die durch die neue chinesische Anleihe erlangten Vorteile mitgenießen lasse. Wären mir nicht die politischen Methoden Englands schon vorher klar ge80

worden, so hätte idi sie in diesem ereignisvollen Winter kennenlernen müssen, wie sie ja schon Sir Thomas More in seiner „Utopia" 1 5 1 6 anschaulich gesdiildert hat: Bluff und Trick. Sie sind Bestandteile englischer Politik, wie ein moderner einsichtiger Engländer selbst zugibt. Die Freundschaft mit zahlreichen sympathischen Engländern hat mich in diesem Urteil nicht irre machen können. Die dienstliche Tätigkeit während des Jahres 1895/96 nahm mich so völlig in Anspruch, daß die wissenschaftliche Beschäftigung ganz zum Stillstand kam. Die wenige freie Zeit verwandte idi auf die geliebten Spazierritte, einen Teil verlangten auch die gesellschaftlichen Pflichten, die nach der Rückkehr der Damen wieder vielseitiger geworden waren. Herr von Schenck wünschte, daß ich alle Mahlzeiten mit ihm einnähme — was für meinen Haushalt redit vorteilhaft war —, und da wir fast immer, wenn wir nicht eingeladen waren, selbst Gäste hatten, so war ständige Gesellschaftstoilette notwendig, was diesen „Dienst" nodi zeitraubender machte. Im Februar 1896 veranstaltete der Gesandte einen großen Ball, und da die junge, bildschöne Gattin eines amerikanischen Legationssekretärs ausdrücklich befohlen hatte, ich solle mit ihr den Einleitungswalzer tanzen und einen prunkvollen Cotillon (von den Engländern und Amerikanern als deutsche Spezialität „a German" genannt) aufbauen und leiten, so wurde ich dadurch noch mehr in den Vordergrund geschoben, als mir ohnehin sdion unbequem war. Der Gesandte hatte aber durch sehr schöne Erzeugnisse der Pekinger Silberschmiedekunst mit Blumen als Spende für die Damen und silberne Reichsadler als Anstecknadeln für die Herren das Fest sehr originell ausgestaltet und erntete viel Beifall und Dank. Im Sommer 1895 hatte ich wenigstens mit einem mir näher befreundeten jungen Schotten ein paar Wochen in unserem schönen Ta-kiao ssë in den Bergen zubringen können. Der Gesandte war ebenfalls von Peking abwesend, und so wurde die Zeit trotz der laufenden Dienstgeschäfte zu einer wahren Erholung. Inzwischen war der Urlaub des Herrn v. d. Goltz zu Ende gegangen. Wohl etwas früher, als beabsichtigt, war er zurückgekommen, und zwar zusammen mit Herrn von Brandt, der im Interesse gewisser Handels- und Industriekreise China einen mehrmonatigen Besuch abstattete. V. d. Goltz war ihm vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt worden und während dieser Zeit von seinen Amtspflichten entbunden. Herr von Schenck hielt mit Eifer darauf, daß dies durchgeführt wurde. Die gleichzeitige Anwesenheit des früheren und des gegenwärtigen Gesandten hatte manches Peinliche, und Herr von Brandt, der nicht ohne Gegner in China war, mag manche Enttäuschung erlebt haben. Wir waren froh, als die Reisegesellschaft Peking verließ. Anfang März hatten wir noch eine lange Unterredung mit Li Hung-tsdiang in Peking. Er war beauftragt, China bei den Krönungsfeierlichkeiten in Moskau zu vertreten, und wollte damit eine Rundreise durch die europäischen Länder verbinden. In seinem Programm für Deutschland — und dies war der Gegenstand unserer Unterredung — stand an erster Stelle ein Besuch bei dem Fürsten Bismarck. Li, der nicht weniger eitel war als die meisten seiner Landsleute, betonte immer wieder, daß man ihn oft den Bismarck von China nenne, und daß er deshalb den dringenden Wunsch 6 Franke, Erinnerungen

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habe, sein großes Seitenstück kennenzulernen. Der Besuch in Friedrichsruh ist denn auch vermittelt worden, und nach den Eintragungen in Li's Tagebuch muß der Eindruck auf ihn ein gewaltiger gewesen sein. Mehrere seiner Begleiter, die ihn seit vielen Jahren kannten, erzählten später, daß sie ihn noch nie so klein und bescheiden gesehen hätten wie in der Gegenwart des großen Staatsmannes. Man erinnert sich auch der unerfreulichen Nachklänge von Li's Europareise in der Presse. Man glaubte in gewissen Handelskreisen in ihm einen Aufkäufer großen Stils sehen zu können und pries ihm überall — in Deutschland leider nicht zum wenigsten — mit würdeloser Zudringlichkeit Waren jeglicher Art „von der Zahnbürste bis zum Kriegsdiiff" an und schalt, als er erklärte, für solche Geschäfte keine Ermächtigung zu haben, hinter ihm her, daß man umsonst kostspielige Diners für ihn veranstaltet habe. Li hat durch die Reise keine bessere Meinung von den Abendländern erhalten. Mit der Abreise des Herrn von Brandt nahte nun auch für mich die Möglichkeit, meine Urlaubspläne verwirklicht zu sehen. Schon im Winter hatte idi einen sechsmonatigen Europa-Urlaub beantragt für die Zeit, wenn die Anleiheverhandlungen abgeschlossen wären und Herr v. d. Goltz auf seinen Posten zurückgekehrt sein würde. Mein Gesuch war bewilligt worden, und nach der Abreise des Herrn von Brandt stand meinem Urlaubsantritt nichts entgegen. Allerdings war dieser Antritt noch an eine Vorbedingung geknüpft, die eine besonders prächtige Amtsstubenblüte darstellte. Während meiner Tätigkeit in Schanghai war der Konsul von Amoy in der südchinesischen Provinz Fukien, der Insel Formosa gegenüber, auf Urlaub gegangen. Für seine Vertretung hatten der Gesandte und Generalkonsul mich vorgeschlagen. Das Auswärtige Amt bestimmte aber statt dessen einen Dolmetscher-Eleven in Peking, Dr. G., eben jenen interessenlosen Assessor vom Orientalischen Seminar in Berlin, von dem idi früher gesprochen habe (siehe oben S. 40). Er hatte eine soldie Abneigung gegen China und besonders gegen das Erlernen der Sprache, daß er beabsichtigte, seinen Absdiied zu nehmen und in den heimischen Justizdienst zurückzukehren. Da er mit eigener Kraft die ihm in Amoy gestellte Aufgabe nicht übernehmen konnte, so wurde ihm Dr. Forke als Dolmetscher beigegeben! Sowohl der Gesandte wie der Generalkonsul waren empört über diese Leistung heimischer Uneinsichtigkeit, und unter den Kaufleuten von Schanghai, wo sie Gegenstand vieler Unterhaltungen war, meinte man, es sei danach wohl angezeigt, unter den Angestellten diejenigen auszuwählen, die durchaus keine Neigung für ihre Tätigkeit aufbringen könnten, und sie zu Teilhabern zu machen, um ihnen ihre Lage zu erleichtern. Die Aditung vor der Zentrale wird durch solche Mißgriffe nicht gesteigert. Wie eine Antwort auf den Vorschlag des Gesandten und des Generalkonsuls nimmt es sich aus, daß ich im Frühjahr 1896 zum planmäßigen Dolmetscher ernannt wurde, aber nicht etwa bei dem Generalkonsulat, wo dieser Posten unbesetzt und idi völlig eingearbeitet war, sondern bei dem Konsulat Amoy, wo ich noch nie gewesen und wo bei der Sprachkenntnis des Konsuls ein Dolmetscher überflüssig war. Das Eigenartigste dabei aber war, daß idi meinen Urlaub erst antreten sollte, nachdem ich meinen neuen Posten übernommen hätte. «2

Ich mußte also zunächst nach Amoy reisen, dort zu Protokoll geben, daß idi meinen Posten übernommen hätte, und konnte danach auf Urlaub gehen. Offenbar war hier einer jener zahllosen „Grundsätze" im Spiel, wie sie sich in den Amtern durch die Jahrzehnte forterben und mit denen nur zu oft vernünftige und zweckmäßige Maßnahmen erstickt oder verdorben werden. Mir erschien das Ganze um so widersinniger, als idi meine Heimreise nicht zur See vom Süden aus, sondern über Land vom Norden durdi die Mongolei und Sibirien unternehmen wollte, so daß idi also vorher von Peking nach Amoy und von dort sogleich wieder nach Peking reisen mußte. Ich hatte den Plan zu dieser großen Landreise im Winter 1894/95 gefaßt, wegen Zeitmangels aber nicht so ausarbeiten können, wie ich gewünscht hätte. Angeregt war er durch meine Beschäftigung mit dem Jehol-Gebiet, das ich nun noch einmal ganz durchqueren wollte, und dann durch die Berichte der JesuitenPatres Gerbillon und Pereira, die im Jahre 1689 im Auftrage des Kaisers K'anghi mit einem großen militärischen Aufgebot von Peking nach dem russischen Grenzorte Niptsdiu (4 km südlich von dem heutigen Nertsdiinsk, an der Mündung der Nertsdia in die Sdiilka) reisten, um dort den wichtigen Grenzvertrag mit den Russen zu schließen. Ihr Weg ließ sich nach ihren Angaben im allgemeinen feststellen, und ihm wollte idi zu folgen versuchen. Von der russischen Grenze, die ich am Argun ein gutes Stück vor seinem Zusammenfluß mit der Sdiilka zum Amur bei der alten Festung Staro Zurudiaitu erreichen wollte, beabsichtigte ich, durch Sibirien heimwärts zu reisen. Der Weg, den Überlandreisende sonst immer benutzen und der audi die russische Postroute war, lag viel weiter westlich und war von der sibirischen Westgrenze aus bedeutend kürzer. Er führte von Peking über Kaigan, Ulan Bator (Urga), Kiachta nach Irkutsk. Der von mir gewählte Weg dagegen ging durch die Randgebiete der östlichen Mongolei gegen die Mandschurei, westlich von den Hing-an-Bergen, und durchschnitt in dem letzten nördlichsten Teile mandschurisches Gebiet. Er war geographisch und geschichtlich weit interessanter als der Postweg, trotzdem aber fast ganz unbekannt. Der russische Astronom Dr. Fritsdie war hier 1873 gereist und hat einen kurzen Bericht hinterlassen; das war zusammen mit der Reisebeschreibung der beiden Jesuiten die ganze europäische Literatur, die über die entlegenen Gebiete vorhanden war. In der Tat war die Route auch nur durch die beiden Reisen überhaupt bekannt geworden, im Jahre 1896 aber wieder vollständig vergessen. Nach der Gründung von Niptschu 1658 zogen russische Handelsmiesionen, die mit dem H o f e des Bogdokhan in Peking Verbindung suchten, von dort aus nach Süden über Zuruchaitu und den oberen Argun — die chinesische Handelsniederlassung Chailar gab es damals noch nicht —, bogen dann aber nach Osten ab, überschritten die Hing-an-Kette und gelangten so in die Mandschurei. Von der Stadt Tsitsikar aus reisten sie durch die mandschurischen Steppen nach Südwesten zur chinesischen Hauptstadt. Die letzte Gesandtschaft, die diesen Weg benutzte, war die von Lorenz Lange 1736. Von da ab ging der gesamte russisch-chinesische Handelsverkehr von dem 1666 gegründeten Selenginsk in Transbaikalien aus über Kiachta—Urga—Kaigan nach Peking. 6*

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Erklärt sich dieser Wechsel leicht durch die geringere Entfernung vom europäischen Rußland — die Entfernung von der sibirischen Südgrenze bis Peking mag auf beiden Routen ungefähr gleich sein —, so ist es schwerer, einen Grund zu finden für das Abbiegen am Argun nach der Mandschurei, anstatt den Weg in gerader Richtung nach Süden fortzusetzen. Ich vermute, daß es das JeholGebiet mit seiner kaiserlichen Residenz und den kaiserlichen Jagdgründen unter den Mandschu-Kaisern im 17. und 18. Jahrhundert war, das die mongolischen Führer veranlaßte, die Russen um dieses „verbotene Land" herumzuleiten. Die chinesische Expedition von 1689 konnte natürlich diese direktere Route einschlagen und die beiden Missionare waren in der Tat die ersten Europäer, die die östliche Mongolei durchreisen konnten. Nach ihnen ist es nur Dr. Fritsche gewesen, der, weniger durch ihre Beschreibung angeregt als in der Absicht, den, wie er schreibt, „bis dahin völlig unbekannten Weg" näher zu erforschen, die in Vergessenheit geratene Route wieder aufnahm. Er hat den Anfang seiner Reise insofern etwas anders gelegt, als er zunächst nach Kaigan ging, von dort sich nach Osten wandte, das Jehol-Gebiet im Nordwesten streifte und bei den kaiserlichen Jagdgründen auf den Weg kam, auf dem ich von der Stadt Jehol aus reiste. Audi im Norden bin ich etwas von seiner Route abgewichen. Fritsche berichtet kurz, daß er „viele Fährlichkeiten zu bestehen hatte". Wenige Jahre bevor ich meine Reise antrat, war der russische Militârattaché in Peking, der Fritsches Route nach Norden folgen wollte, wie man mir erzählte, unterwegs von den Mongolen angehalten worden und hatte umkehren müssen. Ganz gefahrlos schien also das Unternehmen nicht zu sein und, wie sich nachher herausstellte, war es dies audi keineswegs. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, daß audi die Russen, von anderen Europäern zu schweigen, nichts über den Weg wußten, während über die Route Kaigan—Urga mehrere Beschreibungen vorlagen. Die einzige Stelle indessen, die für meine Reise Interesse hatte, war die russische Gesandtschaft, namentlich mein Freund Pokotilow, der inzwischen in die Dienste des Finanzministers Witte getreten war und für die 1895 gegründete halbamtliche russisdichinesische Bank über die großen mandschurischen Eisenbahnpläne der russischen Regierung in Peking verhandelte. Er bat midi, Material über gewisse handelspolitische Fragen für ihn zu sammeln, da ihre in dem mandschurischen AmurGebiete reisenden Offiziere kein Verständnis dafür hätten. Ich ließ mir seine Wünsche in Form eines Fragebogens aufschreiben und sah daraus, daß auch über elementare Wirtschafts- und Handelsfragen der durch die Bahn aufzuschließenden Gebiete nur geringe Kenntnis bestand. Da mir für die Reise durch Sibirien die amtliche russische Unterstützung viel wert war, hielt ich mich oft in der russischen Gesandtschaft auf und war froh, sie mir durch den Fragebogen Pokotilows verpflichten zu können. Dabei pflegte Graf Cassini mit seinem Hunde in meiner Gegenwart deutsch zu sprechen, gleichsam, als ob ihm das Russisch dafür zu gut sei. Mich ärgerte diese Art von Scherzen; da ich aber den Gesandten nicht verstimmen wollte, schwieg idi. Als indessen sein erster Sekretär Pawlow, ein unangenehmer Mensch, dem die Heimtücke aus den Augen spradi, mit dem«4

selben Witz begann, fragte ich ihn unschuldsvoll, ob das linguistische Talent der Russen von den Hunden ererbt sei oder das der Hunde von den Russen. Er sah mich bösartig an und antwortete nicht. Aber die Alberei mit dem Hunde hörte auf. Cassini und Pokotilow haben mich schließlich mit amtlichen und privaten Empfehlungsbriefen für Sibirien und Petersburg wohl ausgerüstet, und während meines Urlaubs habe ich mit Cassini nodi einen sehr angenehmen Abend in Berlin verbracht. Mitte Mai endlich, später als ich gehofft, konnte idi, nachdem ich iti Eile die notwendigsten Vorbereitungen für meine weite Reise getroffen hatte, Peking verlassen, wütend, daß idi die mir jetzt so wertvolle Zeit unnütz vertun mußte. In Schanghai nahm ich das erste beste Fahrzeug, das nach Amoy fuhr: ein kleiner, altersschwacher chinesischer Küstendampfer, auf dem ich der einzige Passagier war. Unglücklicherweise gerieten wir an der Küste von Tschekiang in die Ausläufer eines Taifuns, von dem unser Schiffchen in besinnungraubender Weise umhergeschleudert wurde. Es ächzte und knackte in allen Teilen, und ich verwünschte von ganzem Herzen die Bürokraten von Berlin, die meiner herbeigesehnten Urlaubsreise wahrscheinlich ein Ende auf dem Meeresgrunde bereiten würden. Mehr getrieben als freiwillig fanden wir uns in der Nacht plötzlich in einer geschützten, anscheinend unbewohnten Bucht, wo wir ankern konnten und Beruhigung des Wetters abwarteten. Also neuer Zeitverlust, aber wenigstens Sicherheit! Tags darauf kamen wir glücklich nach Amoy; ich besah das stille Felseninselchen dicht vor der Küste, übernahm meinen Posten und fuhr mit dem nächsten fälligen Dampfer nach Schanghai zurück. Am 9. Juni war idi wieder in Peking, am 1 1 . hatte ich meine Karawane beisammen: sechs lasttragende Maultiere, vier Reitesel, davon einer für mich über das Gebirge, den ich später mit einem Pferde vertauschte, drei Führer und ein Diener. Nach Überschreitung des Gebirges, beim Eintritt in die Steppe, wurde eine neue Karawane zusammengestellt aus vier Ochsenkarren, zwei Reitpferden, vier Fuhrleuten und drei Dienern. Fritsdie hatte für seine Reise Kamele verwendet, ich halte aber Maultiere für das Gebirge, Ochsenkarren für die Steppe für zwedemäßiger. Am 12. Juni, morgens 6 3 /i Uhr, verließ ich Peking durch das östliche Tor der Nordmauer. Zunächst ging es auf bekanntem Wege nach Jehol, wo ich diesmal erheblich weniger Schwierigkeiten hatte als bei meinem ersten Besuche. Die Chinesen schienen sich in der Zwischenzeit etwas mehr an den Anblick von Europäern gewöhnt zu haben. Weiter in genau nördlicher Richtung durch das Gebirge ziehend, erreichten wir am 29. die eine der belgischen Missionstationen, auf denen schon Fritsche Rat und Unterstützung gefunden hatte. Eine zweite liegt wenig südwestlich davon, dicht an den kaiserlichen Jagdgründen, eine dritte etwa 1 1 0 km nördlich. Audi mir wurde von den flämischen Patres nicht bloß die herzlichste Aufnahme zuteil, sondern auch wertvolle Hilfe bei Zusammenstellung der neuen Karawane. Meine Begleiter waren dort im äußersten Grenzgebiet siedelnde Bauern mit ihren Tieren, wetterfeste, sehnige Gestalten, jedem Klima sich anpassend, jeder Arbeit gewachsen, dabei schlau und von rascher Auffassung, Ackerbauern und Händler zugleich, das beste Kolonisten-

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material der Welt. Außerdem schloß sich ein Kaufmann mit seinem Sohn aus Peking an, die mit den Mongolen Geschäfte machen wollten. Sie alle, von denen hinfort mein Wohl und Wehe abhing, haben, wenn auch manchmal zweifelnd und murrend, mich treu bis zur russischen Grenze begleitet. Meine bisherigen Leute gingen nach Peking zurück. Von der einen Missionstation aus konnte ich audi in mehrtägigen Streifereien die Frage des rätselvollen Petsdia-Gebirges klären, von dem Gerbillon oft und ausführlich spricht und das seitdem nicht mehr aufgefunden werden konnte, so daß Fritsche und v. Richthofen es für eine Mythe erklärt hatten. Das Problem hatte midi mit zu der Reise bestimmt, und so war es mir besonders wertvoll, das Plateau mit der Bergkette, deren Name Petscha (chines. Pai-tscha) von den eingewanderten Chinesen allerdings nur selten noch gekannt wird, bei den Mongolen aber durchaus geläufig ist, mit Sicherheit feststellen zu können. Ich habe die Frage in meinem Buche über das Jehol-Gebiet ausführlich behandelt, möchte aber hier nodi hinzufügen, daß es mir erst im Jahre 1943 gelungen ist, Namen und Ort in der Literatur des 14. Jahrhunderts nachzuweisen. Pai-tscha war danach ein von den mongolischen Großen hochgeschätztes und viel besuchtes Jagdrevier; es gehörte zu den höchsten Erhebungen des mongolischen Gras-Plateaus und lag südlich vom oberen Sdiira muren, dem Hauptquellfluß des Liao ho. Der Name ist dann im Wandel der Zeiten allmählich in Vergessenheit geraten, war aber zur Zeit Gerbillons offenbar noch im Gebrauch. Am 14. Juli brach idi von der gastlichen nördlichsten Station auf, zwei der Patres begleiteten mich 35 km bis zum Schira muren, wo wir zusammen die erste Nacht in meinem kleinen Zelte zubrachten. Der Fluß ist die Grenze des Gebietes, wo sich Chinesen ansiedeln durften; jenseits beginnt das der BarinMongolen und zugleich das ts'ao ti, das „Grasland", d. h. die Sand- und Grassteppe, die sich nun bis zu den Randgebirgen Sibiriens nach Norden erstreckt. Am nächsten Morgen kehrten die Patres zurück, und idi begann allein meinen Marsch in die unbekannte Welt hinein. Die Steppe mit ihrer überwältigenden Grenzenlosigkeit und das Nomadenleben in ihr hatten mich bald ganz in ihrem Bann. Wir rasteten gewöhnlich einmal am Tage, abends wurden die Zelte aufgeschlagen, die Tiere freigelassen, die Mongolen brachten regelmäßig einen Hammel, der getötet, zerschnitten, gebraten und gemeinsam verzehrt wurde. Ich hatte von Peking einen Vorrat von Nudeln und etwas Gemüse mitgebracht, Brot machten wir selbst. Oft bekamen wir von den Mongolen audi sehr fette Kuhmilch, saure Milch und Produkte aus saurem Rahm. Es lebte rieh nicht schlecht in der Steppe, der ununterbrochene Aufenthalt in der frischen und reinen Höhenluft, dazu die stundenlangen Ritte machten für die kräftige Nahrung den Magen aufnahmefähig. Ich habe mich während der ganzen Steppenreise körperlich ungemein wohl gefühlt. Die Mongolen waren meist freundlich und unterwürfig; meine chinesischen Begleiter baten midi immer wieder, möglichst autoritativ und streng aufzutreten, da sonst die Steppenreiter alle Scheu verlören und anmaßend würden. Das hat sich auch im ganzen bewährt, mit Ausnahme einiger Fälle, namentlich im Gebiete der viel selbstbewußteren Chaldias-Mongolen im 86

Norden, wo idi wiederholt in sehr kritische Lagen geriet. Es ist den Mongolen ein Leichtes, dem Reisenden den Durchzug unmöglich zu machen, indem sie die Pferde fortnehmen oder, was nodi schlimmer ist, keine Führer für die Wasserstellen geben. Daran war audi das Unternehmen des russisdien Militârattachés gescheitert. Mehrere Male waren morgens beim Erwachen unsere Pferde verschwunden. Mochten sie audi zuweilen von den unerträglichen Moskitoschwärmen vertrieben worden sein — in diesen Fällen fingen die Mongolen sie selbst wieder ein —, das eine Mal war es offenbar, daß sie entführt waren. Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als daß ich drohte, ich würde, wenn die Pferde nicht bis Mittag zurück wären, die sämtlichen Jurten in Brand setzen. Die Drohung war eine unverantwortliche Leichtfertigkeit, denn da an eine Ausführung nicht zu denken war, so würde den Mongolen nur meine Schwäche offenbar und meine Stellung um vieles gefährlicher geworden sein. Ich wurde von einem Alb befreit, als die Pferde gegen Mittag zur Stelle waren. Ein anderes Mal verweigerten mir die Chalchas geradeheraus die Führer und Ersatzpferde (unsere waren lahm, durchgeritten und unbrauchbar geworden). Hier half mir eine List, die auf einer mir unerklärlichen Eingebung beruhte: nach endlosen vergeblichen Verhandlungen zog ich verzweifelt mein Taschenbudi und einen Bleistift zum Schreiben. Einer meiner Chinesen, ein gewandter Bursche, dessen Vater einst mit Dr. Fritsche gereist war, schrie, auf meine vermeintliche Absicht eingehend: „O, ihr Hassenswerten! Nun wird euer Verhalten dem Prinzen Kung gemeldet, und dann, ach, eure armen Köpfe!" Dabei machte er die Bewegung des Halsabsdineidens. (Prinz Kung war damals das mächtigste Mitglied des kaiserlichen Hauses und Minister des Tsungli-Yamen, er hatte sich in Peking besonders gütig nach meinen Reiseplänen erkundigt; es war gut, daß ich den Chinesen davon erzählt hatte.) Der Schrei fuhr wie ein Blitz in die Versammlung. Idi erhielt Führer und Pferde und konnte friedlich meines Weges ziehen. Im Norden, unweit der Niederlassung Chailar, hatte ich noch einen mühevollen Kampf zu bestehen. Die Seen Buir nor und Kulun nor (oder Dalai nor) mit den einmündenden Flüssen Orson gol und Kerulong bezeichnen die Heimat von Dsdiingis Khans Geschlecht; es ist ein den Mongolen heiliges Gebiet, und sie gewähren deshalb keinem Unbekannten den Zutritt. Meiner Absicht, die Seen zu besuchen, setzten sie daher alle erdenklichen Hindernisse entgegen, und es bedurfte langer Verhandlungen und unentwegter Beharrlichkeit, meinen Willen durchzusetzen. Die Gegend ist nicht besonders reizvoll: flache Steppe wechselt mit niedrigen Plateaus, die seichten Flüsse mit schönem klaren Wasser, von Weidengebüsch umsäumt, schleichen durch meist sandige Ufer, einzelne Kieferngehölze auf sandigen Höhen und viele verfaulte Stämme lassen vermuten, daß hier früher einmal Wald vorhanden war und vom Flugsand erstickt worden ist. Der Buir nor ist außerordentlich reich an Wasservögeln, namentlich an Wildenten und Gänsen. Die Tiere sitzen zu Hunderttausenden auf dem Wasser, so daß man von fern meint, Inseln zu sehen. Da die Jesuiten auf dem Hin- und Rückwege den Kerulong-Fluß etwa 15 km westlich von seiner Mündung in den Kulun nor überschritten hatten, Dr. Fritsche aber viel weiter östlich vom Buir nor 87

gereist war, so war idi der erste Europäer, der hierher kam. Nach zahlreichen großen und kleinen Abenteuern und Fährnissen, vor allem beim Überschreiten der hoch angeschwollenen Flüsse, erreichten wir am 20. August Staro Zurudiaitu und damit die russische Grenze. Hier verließen midi meine diinesisdien Gefolgsleute und kehrten auf demselben Wege in ihre Heimat zurück; ich selbst fühlte midi in eine andere Welt versetzt. Die Kosakenansiedlungen von Kleinrussen im Argun-Tale muteten midi an wie westfälische Dörfer; ich wurde sehr freundlich aufgenommen, und Tags darauf ging es mit zwei Kibitken und je drei Pferden in sausender Fahrt durch die sehr fruchtbare wellige Steppe nach Novo Zuruchaitu. Unbequem wurden jetzt die Sprachschwierigkeiten. An der Grenze sprachen die Kosaken alle auch mongolisch, aber damit war es hier vorbei. Ich hatte mit einem jungen Russen aus Blagowjesditschensk, der nach dem Westen reisen wollte, ein Zusammentreffen in Zurudiaitu verabredet, aber infolge meines langen Ausbleibens wegen der Fahrt nadi Amoy hatte er das Warten aufgegeben und war allein weitergereist. So war ich schließlich in arger Verlegenheit und saß ratlos auf der Poststation von Novo Zurudiaitu. Da erschien plötzlich der rettende Engel in Gestalt einer jungen, eleganten russischen Dame, die mich französisch ansprach und mir ihre Hilfe anbot. Es war die Frau eines Ingenieurs, der in der Mandschurei bei den Vermessungsarbeiten für die zu bauende Bahn beschäftigt war und seine Gattin in die Obhut des Ataman gegeben hatte. Idi war in heller Begeisterung, und nach einigem Überlegen beschlossen wir, jedenfalls zusammen bis Nertschinsk savod (Bergwerk) zu fahren und dort nach einem weiteren Ausweg zu suchen. Wir legten die 123 Werst lange Strecke bis zum nächsten Abend zurück; unterwegs mußten wir nodi die zu einem 80 m breiten, reißenden Bergstrom angeschwollene Borsa überwinden. Wir konnten dies nur so bewerkstelligen, daß wir uns in einen Einbaum setzten, ein Kosak ein freischwimmendes Pferd am Schwanz hielt und wir so hinübergezogen wurden. Es war eine aufregende Fahrt: versagte das Pferd oder der Kosak, so waren wir drei verloren. Unsere Kibitken mit ihren Pferden mußten selbständig hinüberschwimmen. In Nertschinsk savod verabschiedete idi mich von meiner liebenswürdigen Begleiterin und nahm an ihrer Stelle einen abenteuerlich aussehenden Chinesen mit, einen Hünen von Gestalt, der, wie ich auf der Fahrt beobachten konnte, über Löwenkräfte verfügte. Er stammte aus der Gegend von Mukden und hatte vor mehreren Jahren gegen aufständige Mohammedaner in Iii gekämpft. Er trug sich russisch und sprach das Russische fließend. Es ist wohl ein seltener Fall, daß das Chinesische als Vermittlungsprache zwischen Deutschen und Russen dient. Idi kaufte dann einen großen Tarantaß, einen sehr festen Wagen aus Kasan, der schon einmal die Fahrt durch Sibirien gemacht hatte und mich jetzt auf demselben Wege zurücktragen sollte. Als Kaufpreis gab ich meine gute Doppelbüchse, die idi nun doch nicht mehr braudien konnte und die hier hochgeschätzt war. Pferde bekamen wir auf den Stationen des russischen Straßentrakts, für gewöhnlich drei, zuweilen vier und fünf, einmal mußte idi adit haben; man kann daraus den Schwierigkeitsgrad der Wege ablesen. 88

Wir fuhren nodi am 23. August ab und gelangten nach Überwindung zahlreicher durch ununterbrochenes Regenwetter verursachter unsagbarer Schwierigkeiten, wobei sich mein Tarantaß glänzend bewährte, am 28. nach Nertsdiinsk gorod und damit auf den sibirischen Haupttrakt. Hier schloß sich mir ein deutscher Monteur an, der in der Gegend von Werchne-Udinsk Maschinen aufstellen sollte. Wir haben auf der Fahrt nach dort Freuden und Leiden — es fehlte an beiden nicht — redlich geteilt; da seine russischen Kenntnisse die meinigen nicht sehr überragten, so hätten wir schwer mit den sprachlichen Hindernissen fertig werden können, wenn uns nicht in Städten und Dörfern die Juden und Polen, die fast immer deutsch verstanden, zu Hilfe gekommen wären. Recht wertvoll wurden mir jetzt auch die Ausweise des Grafen Cassini, die es uns ermöglichten, die für Kronsbeamte auf den Stationen reservierten Zimmer zu benutzen und Krons- (d. h. Post-)Pferde anzufordern. Nachdem ich mich in Nertschinsk gut mit Lebensmitteln versehen und meinen Tarantaß mit Matratzen und Decken gehörig ausgepolstert hatte, fuhren wir am 3 1 . August ab und folgten von nun ab der großen Poststraße über Stretensk, Tschita, Werchne-Udinsk, den herrlichen Baikal-See (mit Dampfer) nach Irkutsk. Die Provinz Transbaikalien ist zu einem bedeutenden Teil von großer landschaftlicher Schönheit und sehr fruchtbar. In Werchne-Udinsk an der Mündung der Uda und am rechten Ufer der Selenga verließ midi mein Begleiter, und ich fuhr die drei folgenden Tage allein bis Irkutsk, wo idi am 13. September anlangte. Die Stadt war damals die reichste und bedeutendste in Sibirien. Sie zeigte bereits in einigen Geschäftsstraßen mit ihren großen Verkaufsmagazinen ein halb europäisches Gesicht, freilich fehlten noch immer das Straßenpflaster und die Beleuchtung. Das deutsche Element war stark vertreten, und sogar eine deutsche Kirche mit einem lutherischen Geistlichen war vorhanden. Vier Tage erholte idi mich hier in der außerordentlich gastfreien Gesellschaft, die allerdings nach russischer Art die Nacht zum Tage machte und den Vormittag im Bett verlebte. Der Luxus war, wie in allen sibirischen Städten, erstaunlich, aber stark im Goldgräberstile. Ich machte dem Generalgouverneur, General Goremykin (nicht der spätere Ministerpräsident, soviel ich weiß), meinen Besuch, um ihm das Empfehlungsschreiben des Grafen Cassini zu übergeben. Der hohe Herr, ein etwas steifleinener Grandseigneur, der durch seinen französisch sprechenden Adjutanten als Dolmetscher mit mir verhandelte, fragte mich mit höflicher Kühle, welche Hilfe ich wünschte. Ich erwiderte mit derselben Temperatur, daß ich alles Nötige hätte und Seine Exzellenz nicht zu bemühen brauchte. Es wäre mir aber eine angenehme Pflicht gewesen, das Schreiben des Herrn Gesandten in Peking zu übermitteln. Der Gouverneur in Tschita war mir weit freundlicher entgegengekommen. Von Irkutsk ab war die Straße in sehr gutem Zustande. Sie führt tagelang durch die Taiga, den undurchdringlichen Urwald, der sich wie eine Wand zu beiden Seiten der Straße hinzieht. Die Gegend galt für die unsicherste von ganz Sibirien. In dem Dickicht verbergen sich Landstreicher, entflohene Gefangene und flüchtiges Gesindel und warten auf Gelegenheit zu Überfällen. Unsichtbar 89

von der Straße aus, erschießen sie die Pferde und Fuhrleute und berauben die Wagen. Man sagte mir in Irkutsk, daß man stets eine geladene Büchse oder einen Revolver zur Hand haben müsse und nachts (man fährt hier immer Tag und Nacht) niemals schlafen dürfe. Schon aus diesem Grunde hatte ich einen etwas Deutsch sprechenden Begleiter in meine Dienste genommen, einen Verschickten, der die Genehmigung erhalten hatte, nach einem der westlichen Gouvernements überzusiedeln. Wir hatten verabredet, daß wir nachts abwechselnd wachen wollten, aber leider erwies sich der Mann bald als solcher Hasenfuß, daß das Wachen in der Hauptsache mir zufiel. Ich weiß nun nicht, ob man in Irkutsk die Schilderungen übertrieben hatte oder ob wir vom Glück besonders begünstigt waren; jedenfalls haben wir die achttägige Fahrt durch die Taiga ohne Gefährdung und ohne auch nur etwas Verdächtiges zu merken, ausführen können. Wir verließen Irkutsk am 17. September und erreichten am 25. Krasnoyarsk am Jenisseï. Damit aber war ich endlich in den Bereich der im Entstehen begriffenen Sibirischen Eisenbahn gelangt. Anfänge davon hatte ich schon vor Erreichung der russischen Grenze beobachten können. Russische Ingenieure waren, wie ich schon erwähnte, bereits in der Mandschurei östlich von Chailar (das heute Bahnstation ist) mit Vermessungen beschäftigt, am nördlichen Ufer der Schilka bei Nertschinsk sah idi zum ersten Male die Bahn-Trace, und danach kamen in größeren oder kleineren Abständen immer wieder Anfänge des Dammes in Sicht, die Schwellen lagen oftmals bereit, aber der Bau konnte nur langsam vorankommen, da die Heranbringung des Materials, besonders der Schienen, viel Mühe und Zeit erforderte. Von Krasnojarsk ab war die Bahn zwar fertig, aber im Oberbau wegen des sumpfigen Bodens noch so unsicher, daß sie noch nicht dem Verkehr übergeben werden konnte. Es fuhren indessen Güter- und Arbeiterzüge bis zu dem 165 Werst entfernten Atschinsk am Tschulym, und einzelnen Personen wurde es gestattet, sie zu benutzen. Ich beschloß sogleich, alles aufzubieten, um die Erlaubnis zu erhalten. Der Gouverneur des Jenisseïskschen Gouvernements, der wohl die Verantwortung für meine Sicherheit nicht übernehmen mochte, hatte die Freundlichkeit, bei der Bauleitung in Tomsk telegraphisch anzufragen, ob ich mitfahren dürfe. Erst am 28. September kam die Genehmigung. Ich verkaufte schleunigst meinen Tarantaß und begab mich gegen Abend an die Stelle, von wo der Zug abgehen sollte. Wir nisteten uns zu sieben (meist Arbeiter) in einer Art Packwagen ein, hatten aber noch bis V26 Uhr morgens zu warten, ehe der Zug sich in Bewegung setzte. In der bitterkalten Nacht froren wir jämmerlich, aber das stolze Bewußtsein, wieder einmal mit einer Eisenbahn zu fahren, wärmte am nächsten Morgen meine Gefühle rasch auf; ich glaubte, schon etwas wie Heimatluft zu spüren. Der Zug fuhr mit einer Geschwindigkeit von fünf bis zwanzig Werst die Stunde und schwankte auf den riesigen Sümpfen, wie wenn man auf einer Sprungfedermatratze geht. Abends V211 Uhr kamen wir in Atschinsk an, blieben aber die Nacht noch in unserem Packwagen, und ich konnte dann um I i Uhr einen schon viel repräsentativeren Zug besteigen, der mich 485 Werst weiter bis Bolotne (etwa die heutige Station Taiga mit der Zweigbahn nach 90

Tomsk) brachte. Der Zug bestand aus schönen, neuen Wagen 3. Klasse mit bequemer Sitzgelegenheit und Toilette, also schon vollendete Zivilisation. Ein großer Vorzug war es auch, daß man kostenlos reiste. Die Strecke bis Bolotne war ebenfalls noch nicht eröffnet, doch war es mit russischer Großzügigkeit jedermann gestattet, die Züge zu benutzen, die natürlich brechend voll waren. Die Geschwindigkeit war wegen des Moorbodens in den endlosen Wäldern auch nur 15 Werst im Durchschnitt, aber man war immerhin bequem aufgehoben. Am 2. Oktober, 1 Uhr morgens, trafen wir in Bolotne ein, und hier gab es fahrplanmäßigen Zugverkehr mit Wagen aller Klassen und Fahrpreisen. Drei Stunden später bereits konnte ich einen Zug über Krewoschtschok nach Tscheljabinsk besteigen, der die 1433 Werst lange Strecke in drei Tagen bis zum j . Oktober bewältigte. In Tscheljabinsk fand ich einen durchgehenden Wagen bis Moskau und konnte mich hier in aller Behaglichkeit ausruhen. Bald hinter Tscheljabinsk überschreitet die Bahn die Grenze von Asien und den Ural bei Slatoust; dann geht es über U f a , Samara und Pensa nach der alten russischen Metropole. Am 8. Oktober um zwei Uhr mittags war ich in Moskau. Zunächst war idi etwas benommen von der asiatisch-europäischen Pracht und Herrlichkeit, die sich hier auftat. Aber während der folgenden Tage genoß idi mit wachsendem Staunen dieses „tartarische Rom", wie es Frau von Staël treffend genannt hat, mit seinen Kirchen und Palästen, seinen Schatzkammern und Schausälen, angefüllt mit Gold und Edelsteinen, mit Kronen und Prachtgewändern, mit kostbaren Schwertern und Geräten aller Art, alles zusammengefaßt in dem Kapitol dieses Rom, dem Kreml, wohl der riesenhaftesten Palaststadt der Welt, gegen die selbst die gewaltige Anlage von Kublai Khan in Peking nicht aufkommt. Das Ganze war von einer solchen märchenhaften Pracht, daß audi eine ausschweifende Phantasie nicht die Wirklichkeit erreicht. Und dem gegenüber der düstere Gegensatz: das Feld von Chodynska außerhalb der Stadt, wo wenige Wochen vorher, bei der Krönung des Zaren Nikolaus II., unter den nach Zehntausenden zählenden Menschenmassen infolge eines Mißverständnisses jene panikartige Erregung entstand, bei der mehr als tausend Menschen zerdrückt und zertreten wurden, ein böses Vorzeichen für den unglücklichen Herrscher. Dann aber wieder der Blick von den Sperlingsbergen bei sinkender Sonne über die Stadt mit ihren mehr als 400 Kirchen, deren Türme und Dächer in allen Farben erstrahlten! Ein Bild von überwältigendem Zauber. Der Gegensatz zwischen dem Jetzt und den letzten Monaten in einsamen Steppen und Wäldern war zu groß, als daß ich mich zunächst nicht hätte wie ein Träumender fühlen sollen. Aber allmählich sorgte die Wirklichkeit für das Erwachen, und ich kam zu der Erkenntnis, daß ich mich nun auch äußerlich den europäischen Kulturformen anpassen müßte. Idi ging daher zu einem französischen Schneider, der mir in kürzester Frist einen repräsentablen Anzug lieferte für die Fälle, wo ich mich in meinen arg mitgenommenen Reisegewändern nicht zeigen konnte. Dann bestieg ich am 13. Oktober den Nachtschnellzug nach Petersburg und traf dort am folgenden Morgen um 10 Uhr ein. Ich wurde hier

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länger aufgehalten, als ich zu bleiben beabsichtigt hatte. Einmal mußte ich dem Botschafter, Fürsten Radolin, einen Vortrag halten über meine Beobachtungen in Sibirien und die politische Lage in Ostasien, und dann hatte idi einer Einladung von Pokotilows Familie zu folgen. Der Abend, d. h. die halbe Nacht in diesem ganz russischen Kreise von ein paar Gardeoffizieren und höheren Beamten mit ihren sehr liebenswürdigen Damen war heiter und angeregt, meine Reise durch „die unbekannten Provinzen von Sibirien" bildete einen Hauptgegenstand erstaunter Scherze. Gesprochen aber wurde nur französisch. Ich hatte den Eindruck, daß schon damals das Deutsche in diesen Kreisen abgelehnt wurde, obwohl bestimmt die meisten der Anwesenden es beherrschten. Graf Cassinis Gönnerin, die Fürstin Orlow, an die er mir ein Einführungsschreiben mitgegeben hatte, war noch auf ihrem Landsitz. Petersburg war, von innen gesehen, eine elegante Weltstadt, aber es war Rußland verwestlicht, Moskau war nur Rußland, soweit es nicht Asien war. Am 2 1 . Oktober endlich konnte ich das Schlußstück meiner Reise beginnen: die 1650 km bis Berlin dünkten mich keine große Sache nach den 3227 Werst von Tscheljabinsk bis Petersburg. Beim Abschied von Rußland konnte ich midi einer leisen Wehmut nicht erwehren; ich hatte das große Land liebgewonnen, viel Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft hatte ich erfahren; ich war wohl oft auf Indolenz und Faulheit gestoßen, aber nie auf bösen Willen. Die Lebensform entspricht der „breiten Natur" des Russen; ich verstehe es durchaus, wie jedes der Landeskinder mit inniger Liebe an dem Mütterchen Rußland, an der russischen Erde hängt. Audi bei späteren Besuchen habe ich immer dasselbe Empfinden gehabt. Von Herzen wünsche ich dem Lande eine Wende des Schicksals. Um 1 2 Uhr fuhr ich von Petersburg ab, am 22. Oktober, abends V28 Uhr, traf ich in Berlin auf dem Bahnhof Friedrichstraße ein, von meinem Bruder herzlich begrüßt.

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VI. Wanderungen und Wandlungen

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Nach meiner Ankunft bedurfte idi einiger Zeit, um midi zurechtzufinden. Berlin war stark verändert während der acht Jahre meiner Abwesenheit. Nidit nur hatten die Straßen durch die zahllosen Neubauten ein anderes Gesicht bekommen, nicht nur hatte die Stadt gewaltig, f ü r midi am meisten sichtbar im Westen, über ihre bisherigen Grenzen hinausgegriffen, so daß ganz neue Wohnungsviertel entstanden waren, die sidi bis an die Vororte heranschoben und diese selbst mit in ihren Raum zogen, mehr als das fiel mir auf, wie die Menschen verändert waren. Das Kleinbürgerlich-Spießige, als ein Ausdrude des bodenständigen Elements, das mir noch in der Erinnerung lebte, war verschwunden, wenigstens nicht mehr so leicht sichtbar, damit allerdings auch das letzte selbst. Aus allen Gauen des Reiches fanden sich die Menschen zu gemeinsamem Schaffen zusammen, aber sie blieben meist Fremdlinge in der Stadt, die sie anscheinend nur als Durdigangsplatz empfanden. Sie waren beständig in Eile, hatten niemals Zeit und zeigten in ihrem Gebaren im einzelnen wie das aufgeregte Gewühl der Straßen im ganzen, welch ungeheurer Lebenswille hier zum Lichte drängte. Berlin war eine Stätte unablässiger härtester Arbeit, es wurde Weltstadt, hatte aber als solche noch keinen eigenen Charakter. Ich konnte an diesem Jagen und Hetzen noch keine redite Freude aufbringen, aber das lag vielleicht an dem Zustande der Wurzellosigkeit, in den ich plötzlich versetzt war. Mein Vater war inzwischen gestorben, meine Mutter hatte den Haushalt aufgelöst und war verzogen, mein Bruder und meine Schwester hatten sich verheiratet und ihre eigenen Familien, meine Freunde waren in alle Winde verstreut, sie hatten ihren Wirkungskreis, die meisten hatte ich längst aus den Augen verloren. Wenn idi aber einmal mit einem von ihnen zusammentraf, gab es in der Regel eine Enttäuschung auf beiden Seiten. War idi es, der sich gewandelt hatte, oder waren es die anderen? Jedenfalls gelang es nidit, den seit Jahren abgerissenen Faden wieder anzuspinnen, es wollte kein rechtes Verständnis mehr aufkommen. Acht Jahre sind an sich keine lange Zeit, aber gerade in dem Lebensalter bedeuten sie f ü r die innere Entwicklung viel. So wurde ich allmählich ein windgetriebenes Blatt zwisdien den Bäumen, ohne H a l t und nirgend hingehörig, heimatlos in der Heimat. Ich mußte an Sir Robert H a r t denken, der mir beim Abschied i s Peking gesagt hatte: „Sie werden im Urlaub dieselben Erfahrungen machen wie wir alle. Wenn Sie einen guten Freund von ehemals treffen, so wird er Sie freudig begrüßen: O, Sie kommen aus China, wie interessant! D a n n wird er sidi eine Weile mit Ihnen 93

unterhalten und danadi sich entschuldigen: Verzeihen Sie, ich bin leider sehr beschäftigt und muß eilen, zurechtzukommen. Wir sehen uns wohl später einmal. Damit sind Sie entlassen und stehen wieder allein." Sir Robert ist Jahrzehnte hindurch nicht mehr auf Urlaub gegangen. Im Auswärtigen Amt hatte ich midi gleich nach meinem Eintreffen gemeldet. Ich fand dort bei den Herren die wohl abgemessene Uninteressiertheit, die man denen entgegenbringt, die man nicht als zugehörig betrachtet, und die den echten Geheimrat auszeichnet. Der Unterstaatssekretär von Mühlberg, dem ich auf Befragen meine Erfahrungen während der Anleiheverhandlungen, insbesondere hinsichtlich der englischen Gemeinsamkeit vortrug, legte mir nahe, ich möchte zu Herrn von Hansemann von der Diskonto-Gesellschaft gehen und ihm dasselbe mitteilen, vielleicht könnte ich doch eine Sinnesänderung bei ihm erzielen. Ich erwiderte, daß idi dies nur tun könne, wenn Herrn von Hansemann mein Besuch amtlich angezeigt würde, da ich mich sonst einem sehr üblen Empfange aussetzen würde. Der Besuch unterblieb daraufhin. Für meine Reise war wenig Interesse, nicht mehr audi für das Material, das ich für die Russen gesammelt und nun nach Petersburg weitergeben durfte. Eine Ausnahme machte nur der Unterstaatssekretär von Rotenhan, der mir später auch behilflich war. Von meinem sechsmonatlichen Urlaub waren fast fünf Monate verstrichen; idi mußte also sofort um eine Verlängerung einkommen. Vermutlich auf Herrn von Rotenhans Veranlassung erhielt ich einen dreimonatlichen Nachurlaub und, damit mir das volle Gehalt verbleiben könnte, den Auftrag, über meine Reise zu berichten. Das Ergebnis dieses Auftrages waren zwei Berichte an den Reichskanzler; davon wurde der eine mit dem Datum des 24. J a nuar 1897 noch in Berlin erstattet und hatte „Die sibirische Eisenbahn, ihren Bau, ihre chinesische Verzweigung und ihre voraussichtliche Bedeutung für die Entwicklung Sibiriens" zum Gegenstande, der andere folgte erst von Peking unter dem 19. Oktober 1897 und handelte „Über die wirtschaftliche Lage und Bedeutung der östlichen Mongolei und westlichen Mandschurei, insbesondere in ihrem Verhältnis zu Rußland". Der erste wurde dem Kaiser vorgelegt und von ihm mit einer lobenden Randbewerkung versehen, was der Reichskanzler für widitig genug erachtete, um es in einem besonderen Erlaß der Gesandschaft in Peking mitzuteilen. Der zweite ist Anfang 1898 in der Beilage zur Münchener „Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht worden. Sonst habe ich mich über die Reise öffentlich nur am 26. Februar 1897 in einem Vortrage im Verein für Erdkunde zu Dresden geäußert, der mich darauf zu seinem korrespondierenden Mitglied ernannte, und in einem Aufsatz in der Pariser Zeitschrift Le tour du monde vom 9. und 23. Oktober 1897. Zu einer wissenschaftlichen Verarbeitung der Ergebnisse, wie idi sie beabsichtigt hatte, bin ich leider nicht gekommen. J e mehr ich im Winter 1896/97 im deutschen Vaterlande herumkam, um so stärker wurde der Eindruck von der inzwischen eingetretenen Veränderung. Daß in der Politik seit dem Abgange des Fürsten Bismarck die feste Zügelführung fehlte, hatte idi schon in China deutlich spüren können, und was man 94

jetzt in den Reichstagsverhandlungen beobachtete, das Gezänk und Geschacher der Parteien innerhalb und außerhalb des Hauses, die giftigen Ausfälle einer bezahlten Presse, die politischen Skandalprozesse mit der „Flucht in die Öffentlichkeit" u. a. erfüllte mich mit Unmut und Schrecken. Und dem gegenüber dieser gewaltige Auftrieb in Industrie und Handel! Ich hatte zwar auch schon in China davon gehört, aber was ich jetzt selbst sah, stürzte mich doch in immer neue Überraschungen. Mehrere industrielle Werke, die ich besuchen durfte, erregten Zweifel in mir, ob diese Entwicklung neu sei oder ob idi sie früher nicht beachtet hätte. Namentlich eine Besichtigung der Schiffswerft „Vulkan" in Stettin und eine lange Unterhaltung mit dem Direktor Zimmermann, den ich in Peking kennengelernt hatte, belehrten mich, daß das erstere der Fall war. Fürst Bismarck soll, als er auf Einladung Ballins den Hamburger Hafen durchfuhr, betroffen ausgerufen haben: Das ist eine neue Welt! Mag die Geschichte verbürgt sein oder nicht, jedenfalls empfand idi wie sehr viele andere, daß wir hier an der Schwelle einer neuen Zeit standen, von der niemand sagen konnte, ob sie uns zu Glück und Macht oder zu Kampf und Unheil führen würde. Das Deutschland von 1870 war 1890 zu Ende gekommen. Das Emporkommen und Erstarken des vierten Standes in den Jahrzehnten vorher machte sich jetzt stürmisch und gewaltsam geltend. Die Arbeiterschaft stellte sich bewußt feindlich gegen Reich und Staat, das Bürgertum aber, so stark es wirtschaftlich geworden war, so schwach und ziellos blieb es politisch. Außenpolitisch aber fehlte nicht bloß die Führung, sondern sogar die Erkenntnis der Lage. Und doch zwang die industrielle Entwicklung auch Deutschland die Notwendigkeit auf, nach „draußen" zu gehen, seine Erzeugnisse abzusetzen, um seine wachsende Bevölkerung zu ernähren, auch für Deutschland begann das Zeitalter des Imperialismus, ergab sidi der Zwang, über die nationalen Grenzen hinauszugreifen. Dabei tauchte aber vor meinen Augen der Schatten Englands auf: ich war dessen gewiß, daß dieses Volk niemals einen solchen Konkurrenten im Uberseeverkehr ohne Kampf dulden würde. Aber auszusprechen wagte ich meine Gedanken kaum, ich wußte, daß ich in Deutschland nicht mehr Glauben finden würde als in China. Ohne eigenes Heim, abgestoßen durch die unerfreuliche Gegenwart und beunruhigt wegen einer möglichen Zukunft, konnte ich meines Urlaubs in Deutschland nicht recht froh werden, und ohne Bedauern sah ich seinem Ende im Frühjahr entgegen. Ich war für den i . M ä r z zu einer achtwöchigen Offiziersübung einberufen; sofort nach deren Beendigung wollte ich die Rückreise nach China antreten, um mich dort in die gewohnten und behaglicheren Verhältnisse wieder einzuspinnen. Vielleicht würde ich es ebenso machen wie Sir Robert Hart. D a trat eine plötzliche Wendung in meinem seelischen Zustande ein, eine Wendung, die mir das größte Glück meines Lebens brachte. Am Ende des Jahres 1896 lernte ich in Berlin ein junges Mädchen kennen, eine höhere Führung in meinem Inneren nahm sich meiner für das weitere an. Am 1. Februar verlobten wir uns und am Ende meiner militärischen Dienstleistung wurde die mir eben erst bekannt Gewordene meine Frau. Nun erschienen mir die Welt und meine eigene 95

Zukunft in einem neuen Lichte. Die liebevolle Aufnahme, die ich in der Familie meiner Frau fand, bewirkte, daß idi wieder Wurzeln im Heimatboden fühlte und gewiß wurde, daß diese Wurzeln auch im Fernen Osten nicht wieder verkümmern würden. Vom Auswärtigen Amt hatte idi die Weisung erhalten, mich nach Ablauf meines Urlaubs wieder nach Peking zur Vertretung des in Urlaub gehenden secrétaire-interprète (so lautete jetzt der „deutsche" Titel des ersten Dolmetschers) v. d. Goltz zu begeben. Wir beschlossen daraufhin, diesmal die Reise über Amerika und Japan zu machen und als unsere Hochzeitsreise einen Aufenthalt in den kanadischen Rockies anzusehen. Bald nach der Hochzeit, am 4. Mai 1897, schifften wir uns auf dem Lloyd-Dampfer „Saale" in Bremerhaven ein und landeten am 14. in N e w York. Nachdem wir diese für midi fürchterlichste aller Städte einige Tage „genossen" hatten, fuhren wir über Boston, Montreal und Toronto zu den Niagara-Fällen. Dort trafen wir zufällig mit Admiral Tirpitz (damals nodi ungeadelt) zusammen, der in Ostasien Kommandant des Kreuzer-Geschwaders gewesen war und jetzt nach Berlin ging, um Admiral Hollmann als Staatssekretär der Reidismarine abzulösen. Er war der rechte Mann für die kommende Zeit, mit offenem Blick für die Bedürfnisse des über die Meere ausgreifenden Handels, für den Schutz der Häfen, der Handelsschiffe und des Kaufmanns, einer von den wenigen Deutschen, die „die See verstanden". Tirpitz wußte, welche Kämpfe ihm mit dem Reichstage bevorstanden, er ging ihnen mit Sorge, aber auch mit Entschlossenheit entgegen. Die Fahrt mit der Canadian Pacific Railway gab uns einige Anschauung von dem wüsten Raubbau, der wie in den Vereinigten Staaten so auch in Kanada mit der Fülle der Natur getrieben wurde: die endlosen Prärien, einst von einer reichen Fauna belebt, lagen jetzt tot und still, die Wälder waren niedergebrannt, der Boden als Ackerland ausgesogen, dann aufgegeben und als Staub verweht. Wo die Lage an den Seen oder Flüssen günstig war, hatte man Städte angelegt, die aussahen, wie von Kinderhänden aus einem Riesenbaukasten hingestellt. Das so aufgestellte, trostlose Winnipeg in Manitoba war damals eine solche Ansammlung von abschreckend häßlichen Häusern mitten in der Prärie. Es zählte 1871 kaum 750 Einwohner, heute ist es eine Großstadt, Bahnknotenpunkt und Zentrum des Weizenhandels. Stundenlang fuhren wir durch brennende Wälder, wo wir wegen des Qualms kein Fenster öffnen konnten. Neuer Ackerboden für neue Weizenfelder mußte für die Getreidespekulanten bereit gemacht werden. Am 25. Mai erreichten wir bei dem Luftkurort Banff die Rocky Mountains. Wir blieben hier und in dem unmittelbar an den Gletschern gelegenen Glacier House mehrere Tage. Beide Plätze liegen in großartiger Hochgebirgslandschaft zwischen Wäldern, Felsen und Eishängen, ein erfrischender Aufenthalt nach dem Lärm der Städte und der Eintönigkeit der Prärien. Am 3 1 . Mai fuhren wir mit dem englischen Postdampfer „Empress of India" von Vancouver hinüber nach Japan, das wir am 14. Juni erreichten. Wir konnten hier nur den Häfen Yokohama, Kobe und Nagasaki einen flüchtigen Besudi widmen, da meine Anwesenheit in Peking verlangt wurde, wir aber in Schanghai nodi mehrere dringende Ankäufe von Möbeln u. a. vornehmen mußten. Nach 96

achttägigem Aufenthalt dort trafen wir am 30. Juni in Tientsin ein und am 2. Juli nach einer fünfstündigen Fahrt auf der von dem früher erwähnten (s. S. 60) K'ai-p'ing über Tientsin inzwischen bis in die Nähe von Peking verlängerten Eisenbahn in Peking. Die Bahn endete zwar drei Kilometer vor dem Südtore der Hauptstadt, da man sie innerhalb der Mauern nicht haben wollte. (Wir kennen die gleiche Abneigung ganzer Städte auch in Deutschland aus der Zeit der ersten Eisenbahnbauten.) Aber ihre Erbauung, die während meiner Abwesenheit schneller erfolgt war, als man vorher angenommen hatte, bedeutete doch einen gewichtigen Sdiritt der abendländischen Zivilisation entgegen. Mit diesem Bahngeleise rückte sie rasch und unaufhaltsam weiter vor. In Peking hatten inzwischen Herr und Frau von Heyking die Stelle des nach Tanger versetzten Gesandten von Schenck eingenommen. Man muß in diesem Falle schon von beiden sprechen, denn im Auswärtigen Amt galt der Satz: „Herr und Frau von Heyking sind ein sehr bedeutender Mensch". Allerdings lag in diesem Dualismus der größere Teil des Bedeutenden bei der weiblichen Hälfte. Frau von Heyking war der Motor, der leitende Geist, ihr Gatte mehr ausführendes Organ und Fahnenträger. Ich wußte von den Erfahrungen, die Solf in Kalkutta gemacht hatte (s. oben S. 37), und war deshalb nicht ohne Sorge ob des neuen Chefs. Man merkte bald, welche tiefgreifende Veränderung mit der traditionellen Junggesellenwirtschaft in der Gesandtschaft vor sich gegangen war, nachdem drei Damen — audi der neue Legationssekretär von Prittwitz war verheiratet — ihren Einzug gehalten hatten. Wir standen jetzt auf heißem Boden, innerhalb und außerhalb, und meine Frau tat mir herzlich leid, daß sie sogleich in diese subtilen Verhältnisse geraten war. Herr von Heyking gehörte zu den damals nicht seltenen Diplomaten, für die sich der Wichtigkeitsgrad einer geschäftlichen Angelegenheit weniger nach der ihr innewohnenden Bedeutung bestimmt als nach der durch sie gebotenen Möglichkeit, die eigene Karriere vorwärts zu treiben. Da er aber um jeden Preis eine große Karriere machen wollte (oder richtiger: sollte), so brannte er ungeduldig auf das Kommen einer solchen gut verwertbaren Angelegenheit und war auch bereit, dem Kommen nachzuhelfen. Dazu kam, daß der Kaiser, den damals noch die unheilvollen Vorstellungen von der „gelben Gefahr" beherrschten, Herrn von Heyking die Mahnung mit auf den Weg gegeben hatte, in China, anders als Herr von Schenck, etwas Ordentliches zu Werke zu bringen. Vor dem Dualismus lagen also große Zukunftsmöglichkeiten. Elisabeth von Heyking, die hochbegabte Verfasserin der „Briefe, die ihn nicht erreichten", ist in Deutschland erheblich bekannter geworden als ihr Gemahl. Sie war eine geborene Gräfin Flemming, und ihr Stammbaum weist mehrere in der Literaturgeschichte berühmte Namen auf, so daß ihre dichterischen Neigungen Erbgut der mütterlichen Linie sein mögen. Ihre Mutter war Maximiliane („Maxe") von Arnim, die Tochter des Dichters Achim von Arnim und der Bettina Brentano, die außer durch manches andere auch durch ihre Freundschaft zu Goethes Mutter und dann, seit 1807, zu diesem selbst bekannt geworden ist. Ein Onkel von Frau von Heyking war Hermann Grimm, ein Sohn des berühm7 Franke, Erinnerungen

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ten Wilhelm Grimm. Er war verheiratet mit der jüngsten Schwester Maximilianes, Gisela von Arnim, und zu meiner Zeit Professor der Kunstgeschichte an der Universität Berlin. Idi hörte bei ihm im Wintersemester 1882/83 ein Kolleg über Darstellungskreise der neueren Kunst, das mir als besonders eintönig und langweilig in der Erinnerung geblieben ist. Elisabeth von Heykings Ruhm als Schriftstellerin und Dichterin hat nicht so lange gewährt wie der ihrer Vorfahren. So schnell, wie er nach dem Erscheinen ihrer „Briefe" aufgeblüht war, ist er wieder verwelkt, indessen hat die Verfasserin bei der älteren weiblichen Generation audi heute nodi manche Verehrer. Ihre sonstigen Romane, Novellen und Gedichte (audi in französischer Sprache), die alle den pointierten Stil der geistvollen Verfasserin zeigen, haben nicht so viele Leser gefunden, wie man hätte erwarten sollen. Vielleicht liegt dies daran, daß die in ihnen, namentlich in dem letzten Werke „Ille mihi", zutage tretende erbitterte Stimmung der Verfasserin über die ihr zuteil gewordenen Enttäuschungen manchem etwas aufdringlich erscheinen mag. Jedenfalls war Frau von Heyking eine Frau von glänzenden Gaben: sprachgewandt, schlagfertig, sehr sicher im Auftreten und reich an eigenen, nicht durchweg glücklichen Ideen, die sich zuweilen auch zu Taktlosigkeiten verstiegen. Leider war diese ganze Gabenfülle von einem unheimlich flammenden Ehrgeiz durchglüht, und so stand sie bei ihrem Wollen „jenseits von Gut und Böse". Die Leidenschaft ließ diesen rastlosen Geist audi nur selten zum Genuß des Augenblickes kommen. Nur einmal habe ich Frau von Heyking als trostbedürftige Frau gesehen und aufzurichten versucht, als sie eine besonders schmerzliche Enttäuschung erfahren hatte. Das Ehepaar hatte mit scharfer Gegnerschaft daheim zu rechnen, deren Ursachen in der Zeit weiter zurücklagen. Über die Chinesen hatten beide die in Berlin und anderswo damals vorgeschriebenen Ansichten: sie galten für schmutzig, feige, zurückgeblieben und widerwärtig, gut genug nur dafür, daß man ihnen ihre Besitztümer abnehmen und auf ihrem Rücken die Karriere fördern konnte. Sich mit chinesischen Kulturfragen abzugeben, war das Zeichen eines subalternen Geistes, im besten Falle eine Gelehrtensdirulle; es war nichts an diesem Volke, das man ernst nehmen mußte. Mir ahnte nichts Gutes bei diesen Beobachtungen, für die ich reichlich Gelegenheit hatte, als wir einige Wochen im Sommer mit Heykings als deren Gäste in dem Kloster Fa-hai sse an den West-Bergen wohnten. Unerwartet rasch ergab sich auch für Herrn von Heyking die Gelegenheit, diese Ansichten in Handlungen umzusetzen und damit den großen Schlag für die Karriere zu vollführen. Am 1.November 1897 wurden in Sdiantung zwei deutsche Missionare von einem Pöbelhaufen ermordet. Dieser Vorfall wurde auch in Berlin als ein Anlaß erkannt, Maßnahmen für größere Sicherheit der Deutschen in jenen Gebieten zu treffen und zugleich damit einen seit langem gehegten Wunsch zu verwirklichen, der in Anbetracht der damaligen politischen Verhältnisse in China berechtigt war: die Erwerbung eines Stützpunktes oder, wie man bescheidentlich sagte, einer Kohlenstation an der chinesischen Küste. Tsingtau an der Kiaotsdiou-Bucht war schon früher dafür in Aussicht ge98

nommen; daß es in Schantung lag, war ein willkommener Begleitumstand. Herr von Schenck hatte sich bereits bemühen müssen, den Chinesen glaubhaft zu machen, daß die Abtretung oder Verpachtung einer solchen Kohlenstation im Interesse ihrer eigenen Sicherheit läge, aber für diese in Berlin ersonnene Gedankenakrobatik fehlte das Verständnis. Wie mir Fürst Radolin in Petersburg sagte, soll der damalige chinesische Gesandte für Deutschland und Rußland, Hü King-tsch'êng den Rat gegeben haben, einfach einen geeigneten Platz zu besetzen. Hier muß ein sprachliches Mißverständnis vorliegen; ich habe Hü Kingtsch'éng gut gekannt und halte es für ausgeschlossen, daß er etwas derartiges gesagt hat. Von Berlin aus aber verfuhr man nach diesem Rezept, und Herr von Heyking glaubte, im Sinne derjenigen Stellen zu handeln, von denen seine Karriere abhing, wenn er die Chinesen mit Peitschenhieben über die Bedenken und Widerstände hinwegtrieb, die sie seinen Behauptungen und Forderungen entgegenstellten. Seine Noten, die wohl nicht seiner eigenen Stilkunst allein entsprangen, waren in einem Tone gehalten, der in jedem anderen Lande seiner Tätigkeit schnell ein Ende gesetzt haben würde. Auch die mündlichen Verhandlungen nahmen zuweilen dementsprechende Formen an. Bei einer von ihnen in der Gesandtschaft redete sich der Gesandte in einen solchen (vielleicht vorgetäuschten) Zorn hinein, daß er unter erregten Reden das Zimmer verließ. Die beiden chinesischen Minister in ihrer unberührten Ruhe und Höflichkeit spielten eine weit imponierendere Rolle. Sie blieben mit mir im Zimmer, ohne ein Wort des Unmuts oder der Aufregung, und meine Aufgabe wurde es nun, zwischen beiden Zimmern hin und her zu verhandeln, bis ein Ausgleich gefunden war. Die Verhandlungen in der Kiaotschou-Angelegenheit, schriftliche wie mündliche, gehören zu den schwersten und unerfreulichsten Aufgaben in meiner amtlichen Tätigkeit. Als wir mit dem Entwürfe eines Vertrages begannen, gaben mir die Minister ihrerseits einen Dolmetscher zur Seite in der Person des Generals Yintschang, der später Gesandter in Berlin wurde. Er sollte bei der sprachlichen Fixierung die chinesischen Interessen überwachen, ein Verfahren, von dem ich nur bedauern kann, daß die Chinesen es nicht häufiger angewendet haben, statt einen fertigen chinesischen Text vorzulegen, der immer unannehmbar war und eine umständliche Korrespondenz verursachte. Idi war deshalb hoch erfreut über diese unerwartete Hilfe, zumal ich Yintschang bereits kannte und als einen aufrechteil und zuverlässigen Mann schätzen gelernt hatte. Ida sah in seiner Zuteilung einen Vertrauensbeweis der Minister für uns beide, denn bei einer früheren mündlichen Verhandlung im Tsungli-Yamen, bei der Yintschang zugegen gewesen war, hatte er Li Hung-tschang, einem der Verhandlungsführer, auf die Frage, warum er sich nicht an der Übersetzung beteilige, kurz und mutig geantwortet: „Ich habe zu den Ubersetzungen des deutschen Dolmetschers nichts zu bemerken". Yintschang war Mandschu; literarisch gebildet im Chinesischen war er nicht, spradi aber gut Deutsch. Da von beiden Seiten wiederholt neue Einzelforderungen gestellt wurden, waren noch manche Auseinandersetzungen nötig, aber wir haben einmütig und in angenehmster Form zusammen gearbeitet, bis der Text end7·

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gültig festgestellt war und am 3. März 1898 von Heyking, Li Hung-tschang und Weng Tung-ho, Mitglied des Kronrats und Lehrer des Kaisers, unterzeichnet werden konnte. Ich atmete auf, als diese Angelegenheit zu Ende war und ich mich unbeschwert der Freude über die acht Tage vorher erfolgte glückliche Geburt unseres ersten Töchterchens überlassen konnte. Deutschland hatte nun seine schöne und zukunftsreiche Kolonie im Fernen Osten, aber es wäre mir lieber gewesen, wenn die Erwerbung sich in anderen Formen vollzogen hätte. Die Methode von Heyking hat uns viel Ansehen bei den gebildeten Chinesen gekostet. Wenn aber später in der ausländischen Presse die Behauptung laut wurde, die Erwerbung von Kiaotschou sei die Ursache des Boxer-Aufstandes gewesen, so ist das eine jener Verdächtigungen, die der Neid auszustreuen pflegt, wenn er eine eigene Schandtat verdecken will oder eine neue plant. Die Erwerbung von Kiaotschou fand im März 1898 statt, im gleichen Monat nahm Rußland Port Arthur, Talien wan und die Halbinsel Liao-tung in Besitz, England legte im Februar 1898 durch ein Abkommen mit China die Hand auf das „Yang-tse-Tal", d. h. auf wenigstens fünf der reichsten chinesischen Provinzen, und besetzte im April den Hafen Weï-hai weï in Schantung, Frankreich sicherte sich im gleichen Monat die an Tongking angrenzenden Provinzen und besetzte Kuang-tschou wan an der Küste von Kuangtung, Japan verfuhr zur gleichen Zeit in der gleichen Art mit der Provinz Fukien. Die Boxer hatten es 1899/1900 wahrlich nicht nötig, sich der vergleichsweise unbedeutenden Vorgänge von vorher zu erinnern, um ihren Zorn zu entflammen, wo die sehr bedeutenden von nachher ihnen vor Augen standen! Die Erwerbung von Kiaotschou hatte eine weitere unmittelbare Folge, die von unserer amtlichen politischen Leitung nicht gewollt und nicht erwartet war. Ende 1897 war Prinz Heinrich von Preußen mit einem Panzerschiff und einem kleinen Kreuzer nach China entsandt worden, um das dort befindliche Kreuzergeschwader zu verstärken. Der etwas lärmvolle Abschied in Kiel wird noch in der Erinnerung der älteren Generation sein; er zeigte wieder die uns draußen nicht neue Tatsache, daß man in der Heimat von den ostasiatischen Verhältnissen noch recht unklare Vorstellungen hatte. Im April 1898 erhielt die Gesandtschaft vom Stabe des Prinzen, dessen Chef der Admiral von Müller, der spätere Chef des Marine-Kabinetts war, die Nachricht, daß Seine Königliche Hoheit nach Peking kommen würde und vom Kaiser empfangen zu werden wünsche. Nach den Erfahrungen, die man bei früheren Audienzen gemacht hatte (s. oben S. 74), war anzunehmen, daß sich bei diesem Verlangen Schwierigkeiten sehr delikater Art ergeben würden, was in diesem Augenblicke besonders unerwünscht gewesen wäre. Das erschreckte Auswärtige Amt lehnte alle Verantwortung ab, wusch seine Hände in Unschuld und fragte telegraphisch bei dem Gesandten an, ob er in der Angelegenheit verhandle, in wessen Auftrage und mit welchem Erfolge. Die Antwort, die auf diese berechtigten Fragen einging, mag das Amt fast ebenso verblüfft haben wie uns die Aufnahme des prinzlichen Wunsches durch die Chinesen. Herr von Heyking hatte in einem jetzt wesentlich veränderten Tone 10c

nur vorsichtig von der Absicht des Prinzen Kenntnis gegeben, die Minister erklärten sidi gleich bereit, sie weiter zu melden, und wenige Tage nadiher wurde uns mitgeteilt, daß die Kaiserin-Regentin, die eigentliche Herrscherin, die sowohl wegen ihres tyrannischen Regiments wie wegen ihrer Fremdenfeindlichkeit berüchtigt w a r , befohlen habe, dem Prinzen eine besonders freundliche Aufnahme zu bereiten, und daß sie wünsche, mit dem E m p f a n g durch den Kaiser audi den durch sie selbst zu verbinden. Alle Fürsten dieser Erde, habe sie erklärt, sollten sich als eine große Familie betrachten und wie Familienglieder miteinander verkehren. Wir alle, die etwas von China zu wissen glaubten, waren sprachlos! Alles, was nunmehr noch zu verhandeln war, erledigte sich rasch und ohne jede Schwierigkeit. Das Programm, das uns vorgelegt wurde, w a r glänzend und das Zeremoniell der Audienzen so, wie wir es nie zu fordern gewagt hätten. Der Prinz sollte neben dem Kaiser auf dem Throne Platz nehmen und sich mit ihm unterhalten, eine Ungeheuerlichkeit in den bisherigen chinesischen Vorstellungen. Wir sahen wieder, daß das chinesische Gemüt Tiefen zeigt, die wir nicht ergründen können. Die Tage vom Mai 1898, die Prinz Heinrich in Peking verbrachte, waren ausgefüllt mit Festlichkeiten aller A r t . Den Höhepunkt bildeten natürlich die beiden E m p f ä n g e bei der Kaiserin und dem Kaiser. Sie fanden beide im Sommerpalast Wan-schou schan statt, dessen Märchenpracht auch wir bei dieser Gelegenheit zum ersten Male zu sehen bekamen. Soweit mir bekannt, hatte ihn bis dahin noch nie ein Europäer betreten. Die Empfänge verliefen, wie vereinbart: der Kaiser bat den Prinzen, sich neben ihn auf den Thron zu setzen, der Prinz stieg hinauf, und die Majestät führte mit ihm eine kurze, aus allgemeinen Redewendungen über Wohlbefinden und Reiseverlauf und guten Wünschen bestehende Unterhaltung, die wieder durch die beiderseitigen Dolmetscher vermittelt wurde. D e r Kaiser w a r sehr befangen, sein Verhalten in allen Einzelheiten angelernt, er machte einen völlig verschüchterten Eindruck. Auch der Prinz w a r nicht ohne einige Befangenheit. Nach dem Empfange konnten wir alle Baulichkeiten und Parkanlagen der weit ausgedehnten Residenz in Muße besichtigen, selbst die Privatgemächer der Kaiserin, die sie ständig bewohnte, mit ihren angefangenen Malarbeiten wurden uns auf ausdrücklichen Befehl der Herrscherin gezeigt. Diese Frau tat alles, was sie tat, ganz und mit Leidenschaft. Der riesige P a r k mit seinen Seen und Wasserläufen, seinen Inseln, seinen Kiosken und Hallen, die mit tausenden der erlesensten Kunstwerke angefüllt waren, seinen lauschigen Plätzen und P f a d e n w a r das entzückendste, das die Phantasie·ersinnen konnte. Hier an den sonnigen Berghängen hatte die N a t u r in anmutigster Weise vorgearbeitet, und die H a n d des Gartenkünstlers w a r ihren Linien mit feinstem Verständnis gefolgt. Die Chinesen sind Meister in dieser Kunst der Anlage, weil sie sich auf das innigste mit der N a t u r verbunden fühlen und auf ihre geheimsten Atemzüge zu lauschen verstehen. Die Festlichkeit in Wan-schou schan wurde f ü r mich die Gelegenheit eines Erlebnisses, das mir wegen seiner geistesgeschichtlichen Bedeutung nicht mehr aus dem Gedächtnis gekommen ist. Als wir die Besuchshalle verließen, gesellte 101

sich der greise Weng T'ung-ho zu mir. E r w a r Lehrer des Kaisers gewesen und eine der würdevollsten und ehrwürdigsten Erscheinungen, die ich kennengelernt habe. E r sagte in tiefer Bewegung zu mir: „ W i r haben heute etwas Unerhörtes erlebt, etwas, f ü r das es keinen Vorgang in der chinesischen Geschichte gibt". Bei diesen Worten fühlte ich zum ersten Male, daß auch in China eine neue Zeit anbrach, aber mit weit stärkeren Wirkungen als in Deutschland, ja, daß hier eine Revolution der Geister bevorstand. Ich nahm mir sogleich vor, diese Entwicklung nunmehr genau zu beobachten. A m Tage nach dem Besuch kamen die Geschenke des kaiserlichen Paares: fast ein Dutzend der chinesischen Maultierkarren, beladen mit den verschiedenartigsten Gegenständen aus Gold, Silber, Perlen, Elfenbein, Nephrit, Edelhölzern und Seide, rückten in die Gesandtschaft ein, man w a r in Verlegenheit, w o man alles aufstellen sollte. In Berlin hatte man sich auf diesen Verlauf des Besuches nicht eingerichtet, die Gegenleistung stand deshalb in einem etwas peinlichen Mißverhältnis. Prinz Heinrich selbst gewann durch seine natürliche, schlichte und immer gleich freundliche A r t rasch die Herzen aller; ich habe mit ihm im Kreise der Seeoffiziere ungezwungene, fröhliche Stunden verlebt. Mit dem Besuche des Prinzen Heinrich endete auch meine Tätigkeit in Peking, nachdem H e r r v. d. Goltz seinen Posten wieder übernommen hatte. Ich wurde angewiesen, nunmehr wieder den Dolmetscher des Generalkonsulats in Schanghai zu vertreten. Der Posten w a r noch immer unbesetzt. Herrn und Frau Heyking wurde bald nach den Festlichkeiten eine grimmige Enttäuschung beschert. A n den Abschluß des Kiaotschou-Vertrages hatten beide verständlicherweise große Hoffnungen geknüpft. Aber statt des erwarteten Botschafterpostens in Europa kam der Rote-Adler-Orden 3. Klasse, der ohnehin längst fällig war, und später die Versetzung nach Mexiko! Für den jetzt weit wichtigeren Posten in Peking wurde H e r r von Ketteier ernannt. H e r r von Heyking w a r selbst der Meinung gewesen, daß nach dem Abschluß der Kiaotschou-Verhandlungen mit ihren turbulenten Szenen sein weiteres Vérbleiben nur eine Belastung der deutschchinesischen Beziehungen sein könne, aber er hatte sich die Lösung dieser Frage anders vorgestellt. Welche K r ä f t e daheim bei diesem Verfahren am Werke waren, mag hier unerörtert bleiben. Mir wurde bald danach in Schanghai der gleiche Orden 4. Klasse verliehen mit dem Bemerken: „Aus Anlaß der Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Heinrich". In dem amtlichen Erlaß der Gesandtschaft wurde hervorgehoben, daß meiner Tätigkeit beim Abschluß des Kiaotsdiou-Vertrages nicht Erwähnung getan sei. Der Orden w a r damit f ü r mich wertlos gemacht. Wenn man bis 1 9 1 4 öfter die Meinung hören konnte, die preußischen Orden seien zu bedeutungslosen „Frühstücksdekorationen" herabgewürdigt, so trifft die Schuld daran die verstockte Ministerialbürokratie. A m 4. Juni schifften wir uns in Tientsin ein und am 7. Juni landeten wir in Schanghai. Hier w a r eben D r . K n a p p e als Generalkonsul auf Dr. Stübel gefolgt. E r w a r mehrere Jahre vorher als Konsul von Samoa verabschiedet worden, weil er nach Fürst Bismarcks Ansicht durch Uberschätzung seiner Stellung Ursache von unerwünschten Auseinandersetzungen geworden w a r und dadurch die P r ä 102

gung des zeitweilig berühmten Begriffs des „morbus consularis" durch den Fürsten verschuldet hatte. Bismarck w a r seit 1890 nicht mehr im Amt, und D r . K n a p p e hatte einflußreiche Freunde, die die Vergangenheit vergessen machten. Er gehörte zu jenen „unentwegten" Juristen, wie ich sie früher erwähnt habe, f ü r die der Mann, der ein Assessorexamen bestanden hat, Universalspezialist ist, alles versteht und zu allem berufen ist. Mir sind diese Herren immer als das deutsche Seitenstück zu dem chinesischen Literaten erschienen, der durch die Staatsprüfungen in den Stand gesetzt ist, alles zu leisten, was ihm aufgetragen wird, mag es die Abfassung eines gelehrten Kommentars zu einer der kanonischen Schriften sein oder eine Frage der Wasserbautechnik oder eine Maßnahme der Finanzverwaltung oder die strategische Leitung eines Krieges. Zum Glück ist im Strome der Entwicklung der Assessorismus ebenso versunken wie das chinesische Literatentum. Schon aus diesem Grunde w a r Dr. K n a p p e kein angenehmer Vorgesetzter. Leider konnte ich audi bald eine gewisse Hinterhältigkeit an ihm beobachten und erhielt Veranlassung, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln, Dinge, die mir eine unbequeme Vorsicht und Zurückhaltung a u f erlegten. Die Tätigkeit, die mich in Schanghai erwartete, w a r die gleiche wie vor vier Jahren, als ich sie beendet hatte. Ich w a r froh, daß idi nun ein gesichertes Heim hatte, und f a n d Zeit genug, mich jetzt etwas mehr meiner Frau und meinen Kindern (im Februar 1899 w a r uns ein Sohn geboren) zu widmen, was mir Ersatz f ü r manches Unerfreuliche im Dienst gab. Regelmäßige Spazierfahrten machten meine Frau wenigstens mit der näheren Umgebung bekannt; größeren Unternehmungen standen leider hier wie in Peking die Mutterpflichten im Wege, mit denen sie es außerordentlich ernst nahm, die sie aber fröhlich erfüllte. Die Geselligkeit w a r natürlich sehr rege — uns fast zu rege — ; wir hatten oft Gäste bei uns und trafen uns oft und gern mit den Offizieren der Kriegschiffe, mit denen mich audi die Obliegenheiten des Dienstes öfters zusammenführten. Ende 1898 w a r auch die Prinzessin Heinrich von Preußen mit Gefolge nach China gekommen, die Königlichen Hoheiten hatten sich zeitweilig in Hongkong und im Süden aufgehalten, waren im Frühjahr 1899 im Generalkonsulat und wohnten im Winter zu 1900 längere Zeit in A m o y . Auch die Prinzessin, die Schwester der unglücklichen Kaiserin von Rußland, w a r von der gleichen gewinnenden Freundlichkeit wie ihr Gemahl. Sie machte kein Hehl daraus, daß sie den „ V o r w ä r t s " las, und w a r es zufrieden, daß die adligen Damen ihrer Umgebung die Vornehmheit auffischten, die die hohen Herrschaften über Bord geworfen hatten. Zu zusammenhängender wissenschaftlicher Beschäftigung reichte die Zeit freilich nicht; ich w a r audi den Musen jetzt zu lange entfremdet, als daß sie mir noch gnädig gelächelt hätten. Ich hatte aber bereits angefangen, nach Material zu suchen über die neuerdings hervortretende Bewegung in Literatenkreisen, die auf eine Änderung in den politischen, sozialen und gemeingeistigen Zuständen hinstrebte. Wëng T'ung-ho's Bemerkung, die mir den ersten Anstoß gegeben hatte, erschien mir jetzt um so wichtiger, als der ehrwürdige Staatsmann wenige 103

Wochen danach durch kaiserliches Edikt aller seiner Ämter und Würden entkleidet worden war. Meine Absichten erhielten einen mächtigen Auftrieb durch die Ereignisse des Sommers 1898, die den konfuzianischen Staat bis auf seine Grundfesten erschütterten. Es war zunächst der Erlaß jener vom 1 1 . Juni bis zum 19. September reichenden Reform-Edikte, die das gesamte Staatswesen aus dem Zustande des Mittelalters ohne Zwischenstufe in die Form eines modernen Nationalstaates überführen wollten, die die Chinesen mit Entsetzen, die Ausländer mit Staunen, alle mit schweren Bedenken über die Ausführung erfüllten. Mit dem 21. September setzte dann auch die Reaktion mit einem furchtbaren Blutgericht ein. Die Kaiserin übernahm die Regierung wieder, der Kaiser wurde auf einer kleinen Insel in den Seen des inneren Palastes interniert, die Führer und Teilnehmer der Reformbewegung, deren Häupter die beiden berühmt gebliebenen Literaten K'ang Yu-weï und Liang K'i-tsch'ao waren, soweit sie nicht hatten fliehen können, ergriffen und hingerichtet. Es war eine lange Reihe von Opfern, die ihren Fürwitz und ihre allerdings erstaunliche politische Urteilslosigkeit mit dem Tode oder der Verbannung büßen mußten, darunter viele der Besten unter der chinesischen Jugend, aber auch alte, erfahrene Staatsmänner und Würdenträger, die irgendwann und irgendwo einmal ihre Sympathien mit manchen durchaus verständigen Gedanken der Reformer gezeigt hatten. Man sah hier, was man so oft in der Geschichte sehen kann, eine Regierung, die fühlte, daß der Boden schwankte, auf dem sie stand, und die durch Verfolgungssucht und blindwütende Grausamkeit gegen jeden vermeintlichen Gegner ihre eigene Angst zu beschwichtigen suchte. Mich bewegten die Vorgänge stark, denn einmal waren unter den Gerichteten mehrere mir bekannte hochgeschätzte Männer, auch Minister des Tsungli-Yamen, und dann traten in dieser Reformbewegung neben aller Ungeschicklichkeit und allem Mangel an Augenmaß so viel kluge Gedanken und so viel reines Wollen an den Tag, daß ich mir nicht denken konnte, daß dieser geistige Entwicklungsprozeß wirklich in dem Blutstrom erstickt sein sollte. Ich machte midi jetzt mit verdoppeltem Eifer an das Studium der Reformschriften und fand bald, daß es im Chinesischen schon eine ganze Literatur gab und daß die Bewegung bis in das Jahr 1888 zurückging. Seltsamerweise war den Europäern bisher nichts von ihr bekannt geworden, was sich zum Teil daraus erklärt, daß sie, aus den Kreisen jüngerer südchinesischer Literaten hervorgegangen, während der ersten Jahre über diese Schichten kaum hinausgedrungen war und daher bei Ausländern schwer Beachtung finden konnte. Die Reformer hielten in den neunziger Jahren auch nur mit Japan Fühlung, aber mit keinem westlichen Lande. Auch nach meiner Verheiratung war meine Wanderlust die gleiche geblieben, und meine Frau teilte sie in vollem Umfange, war aber leider, wie bemerkt, jetzt verhindert, ihr nachzugeben. So mußte ich denn meine sechswöchige Urlaubsreise im Herbst 1899 allein antreten. Ich hatte mir diesmal eine Bereisung Koreas vorgenommen, von dem ich wußte, daß es zum Teil schon seit dem Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts zu dem chinesischen Kulturkreise gehörte und daß es von altersher eine wichtige Rolle in den chinesisch-japanischen 104

Beziehungen gespielt hatte, bis es 1895 ganz unter japanische Botmäßigkeit kam. Ich verließ Schanghai am 8. September mit einem japanischen Dampfer und fuhr über Tschi-fu und Weï-hai weï nach dem Hafen Tschimulpo an der koreanischen Westküste. Das Verhalten einer gewissen redit umfangreichen Klasse von Japanern gab mir hier schon einen Vorgeschmack davon, was die japanische Herrschaft über das Land damals bedeutete. Mit Packpferden reiste idi über die Hauptstadt Söul (japanisch Keijö) nach Nordosten, besuchte in den waldigen Felsenbergen ein paar deutsche Ingenieure, die dort im Auftrage eines Syndikats inmitten einer entzückenden Landschaft nach Gold suchten, und wanderte dann durch die mit buddhistischen Klöstern besetzten, wegen ihrer landschaftlichen Schönheit berühmten „Diamantberge" der Ostküste zu, die ich am 5. Oktober bei dem Hafen Gensan an der Bucht von Port Lazarew erreichte. Das herrlich frische Herbstklima, der meist wolkenlose Himmel und die reizvolle Berglandschaft machten die Reise zu einem unerwarteten Genuß. Die Wälder von Linden, Erlen, Budien u. a. mit dichtem Unterholz setzten midi in helles Entzücken und erinnerten mich an den Harz und Thüringen. Von Gensan kehrte ich mit japanischen Dampfern über Fusan im Süden der Halbinsel und Nagasaki nach Schanghai zurück, wo ich am 12. Oktober eintraf. Der Jahrhundertwechsel brachte audi für mich einen tiefgreifenden Lebenswechsel. Wie während der Jahre von 1890 bis 1894, so saß ich auch jetzt wieder vor der offenen Dolmetscherstelle des Generalkonsulats, ohne daß mir eine Aussicht gemacht wurde, in sie einzurücken. An dem Gehalt hier ließen sich jährlich 1500 M mehr für andere Zwecke einsparen als an dem von Amoy, wenn man dies unbesetzt gelassen hätte! Als im Sommer 1899 Herr von Ketteier, der zu Heykings Nachfolger in Peking ernannt war, uns in Schanghai auf der Durchreise besuchte, sprach idi mit ihm über dieses sonderbare Verhältnis, und er sagte mir zu, sich der Frage annehmen zu wollen. Seine Aufmerksamkeit wurde indessen bald von wichtigeren Dingen in Anspruch genommen, die seine Todesfahrt im Juni 1900 im Gefolge hatten. Im November 1899 hatte Dr. Knappe einen Europa-Urlaub angetreten. Der Vizekonsul Zimmermann (während des Weltkrieges Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt) war mit der Vertretung beauftragt. Am 7. Februar 1900 erhielt ich von Berlin die Weisung, „auf meinen Posten nach Amoy zurückzukehren". Wie ich schon früher erwähnte, beherrschte der dortige Konsul Dr. Merz das Chinesische völlig ausreichend, so daß meine Anwesenheit dort überflüssig war; der Dolmetsdierposten war auch seit vielen Jahren nicht mehr besetzt gewesen; später wurde das ganze Konsulat aufgehoben. Die überraschende Maßnahme der Berliner Personalienkünstler mußte also Gründe haben, die außerhalb des Kreises der dienstlichen Interessen lagen. Ob und inwieweit mein wiederholtes Aufbegehren gegen Herrn Knappes unerträgliche Schulmeistere!, seine Anwesenheit in Berlin zur fraglichen Zeit und seine enge persönliche Freundschaft mit dem damaligen Personalien-Referenten Herrn von Schwarzkoppen in einem ursächlichen Zusammenhange mit dieser Maßregel standen, habe idi bei der Verschwiegenheit der beiden Herren nicht feststellen können. Aber Hypothesen lassen sidi auf solcher catenatio mem105

brorum schon aufstellen. Meine Frau und die Kinder mit nach Amoy zu nehmen, wo nicht einmal eine Wohnung für den Dolmetscher vorhanden war, kam für mich schon mit Rücksicht auf die Kosten nicht in Frage. Ich hatte schon durch die häufigen Beauftragungen mit der Vertretung abwesender Beamter beträchtliche Aufwendungen machen müssen, da bei solchen Beauftragungen keine Umzugskosten, sondern nur Reisekosten vergütet wurden. Umzugskosten wurden nur bei Übernahme eines planmäßigen Postens oder bei der Versetzung von einer planmäßigen Stelle auf eine andere gezahlt. Leider machten aber die Spediteure diese subtile Unterscheidung nicht mit, und so mußten die Kosten für die Überführung des Haushaltes von dem mit der Vertretung Beauftragten selbst getragen werden. Wir verkauften daher unsere Wohnungseinrichtung in Schanghai, die Meinigen reisten mit dem Lloyddampfer „Stuttgart" nach Deutschland, ich selbst beantragte für midi in Berlin einen Europa-Urlaub mit telegraphischer Genehmigung, so daß ich in etwa vier Wochen nachfolgen zu können hoffte. Am 17. März verließen wir Schanghai und reisten zusammen bis Hongkong; dort trennte ich mich von Frau und Kindern und begab midi nach Amoy auf meinen Posten. Ich habe den Leser inmitten der großen damaligen Ereignisse etwas länger mit diesen kleinen Kümmernissen aufgehalten, weil ihre Darstellung nötig war wegen der schwerwiegenden Folgen, die sie für mich gehabt haben. In Dr. Merz, meinem neuen Chef, fand ich einen ruhigen, über seine Jahre ernsten Mann von makelloser Gesinnung. Er selbst war Dolmetscher gewesen und verfügte über eine ausgezeichnete Sach- und Landeskenntnis. Das Peinliche, das die Situation für uns beide anfänglich hatte, war nach der ersten Unterhaltung verschwunden. Wir wußten, daß wir gut miteinander auskommen würden. Nach der stickigen Atmosphäre des Generalkonsulats ließ es sich hier leichter und freier atmen. Dazu kam, daß Frau Merz eine feingebildete, kenntnisreiche und ganz besonders gütige Frau war. Sie hatte sofort ein liebevolles Verständnis für meinen Unmut über die Trennung von meiner Familie und suchte mir durch ihre warme Anteilnahme über meine trüben Stimmungen hinwegzuhelfen. Die drei Kinder, namentlich das zwölfjährige reizende Töchterchen, taten das ihre dazu. Ich habe mich in der Merzschen Familie fast wie in der eigenen gefühlt, und auch das dienstliche Verhältnis gestaltete sich zu dem denkbar angenehmsten; eine Trübung auch nur vorübergehender Art ist niemals eingetreten. Wohnen mußte ich in einem etwas primitiven Hotel, das einem Deutschen, einem früheren Seemanne, gehörte. Auf der Insel Kulangsu, wo die fremde Niederlassung war, grassierten im Sommer 1900 der Typhus und die Beulenpest. Die letzte kümmerte uns wenig, da Europäer erfahrungsgemäß frei davon blieben, aber am Typhus starben von den Gästen des Hotels ein halbes Dutzend, worauf der Rest die Flucht ergriff und idi allein zurückblieb. Da anscheinend das Wasser verseucht war, räumte ich gleichfalls das Feld und fand in einer nodi primitiveren Herberge Unterkunft, bis eine heftige Augenentzündung veranlaßte, daß ich ganz in die Wohnung von Merz übersiedelte. Bald nach meiner Ankunft in Amoy erhielt ich statt der Urlaubsgenehmigung die Arbeiten 106

f ü r die Konsulatsprüfung, die das fehlende Assessorexamen ersetzen sollte. Die Prüfung w a r längst zu einer leeren Form geworden und wurde in der Regel mit dem im Auslande befindlichen Kandidaten abgehalten, indem man ihm zwei Themen zur Bearbeitung übersandte, ein theoretisches in deutscher und ein praktisches in fremder Sprache. Auf die mündliche Prüfung wurde fast immer verzichtet. Ob und wie man die Prüfung bestanden, erfuhr man nicht. Mein theoretisches Thema betraf „die Rechtsverhältnisse am Grundeigentum in C h i n a " , die mir durch meine Erfahrungen in Schanghai geläufig genug waren; ich habe die Arbeit später erweitert und zu einem Buche mit gleichem Titel ausgestaltet. D a meine Stellung in A m o y nicht viel anderes als eine Sinekure w a r , so machte idi mich nach Beendigung dieser Arbeiten sogleich an die Verarbeitung des gesammelten Materials über die Reformbewegung. Ich erhielt so den Grundriß einer Geschichte der Bewegung und eine kritische Übersicht über das Schrifttum der Reformation. Ich habe das ganze später auf dem Internationalen Orientalisten-Kongreß in Hamburg vorgelegt, wonach ein Teil in dem „Bulletin" der Kaiserlich Russischen Akademie der Wissenschaften in Petersburg veröffentlicht wurde. Anderes ist in mehreren Abhandlungen erschienen, die audi in meinen „Ostasiatischen Neubildungen" enthalten sind. Eine höchst aktuelle Bedeutung bekamen aber meine Arbeiten in A m o y durch die allmählich eintreffenden Nachrichten aus dem Norden. Schon die R e f o r m bewegung und ihr Ausgang hatte gezeigt, daß in den Tiefen des chinesischen Volkes sich eine Reaktion gegen die unaufhörlichen Vergewaltigungen durch die fremden Mächte und ihre hilflose Duldung durch die eigene Regierung bildete. Während die Reformatoren die Staatskrisis durch geistige Evolution zu überwinden gedachten, wollten andere Kreise nach altchinesisdier A r t die Bedränger „ins Meer jagen" und die verräterische Regierung dazu. In der letzten waren beide Methoden vertreten: die politisch erfahrensten Mitglieder wußten, daß mit der zweiten nichts Gutes zu gewinnen w a r , drängende D e magogen aber bis in die Kaiserliche Familie hinauf bestanden voll Leidenschaft auf sofortiger Gewaltanwendung. Die Kaiserin schwankte zwischen beiden, ließ sich aber von den heißblütigen Patrioten ihrer Umgebung zu der Einsicht bestimmen, daß bei der immer stärker anschwellenden und immer drohender werdenden, von geheimen Gesellschaften getragenen Bewegung der Thron in höchster G e f a h r sei. Man kannte am H o f e in Peking die chinesische Geschichte zu gut, um nicht zu wissen, daß solche Bewegungen fast immer dem Sturze der Dynastie vorausgingen. So beschloß die Herrscherin, das Wildwasser ganz in das Bett gegen die Fremden zu leiten, indem sie jede amtliche Behinderung seines Laufes aufgab und militärischen Feindseligkeiten zustimmte. Die Folgen waren die bekannten: Die berechtigte N o t w e h r gegen die fremden Bedrückungen nahm die Form eines wilden Aufstandes fanatisierter Massen, der sogenannten Boxer, an, und das unglückliche China glich einem bis zur Tobsucht gereizten Manne, der in blinder Wut um sich schlägt, dabei die Gegner nur leicht verletzt, aber den größten Schaden sich selbst zufügt. Die Nachricht von der E r mordung des deutschen Gesandten am 20. Juni zeigte auch uns im Süden, daß 107

die Dinge ernster waren, als wir zunächst angenommen hatten. Die militärischen Maßnahmen der fremden Mächte deuteten auf mögliche Entwicklungen, deren Tragweite nicht abzusehen war. Auch unser stilles A m o y geriet in Unruhe, d. h. nur die fremde Kolonie, die zum größten Teil aus Engländern und Amerikanern bestand und nur wenige, aber sehr angesehene Deutsche zählte; die ganze chinesische Bevölkerung auf der Insel wie in der Stadt auf dem Festlande schien völlig unbeteiligt. Die große japanische Gemeinde hielt sich abseits. D a man fürchtete, die Bewegung würde sich über das ganze Land ausbreiten, so traten die Konsuln zusammen und berieten über die Lage und etwaige Schutzmaßnahmen. Die Anglo-Amerikaner hatten erfahren, daß ich preußischer Reserveoffizier sei; auf Grund dessen machte man mich zum Verteidigungskommissar mit dem Auftrage, die Verteidigung von Kulangsu zu organisieren. Idi konnte zunächst nichts anderes tun als raten, jede militärische Maßnahme zu unterlassen, da man dadurch nur Zweifel und Unruhe in die Bevölkerung tragen könnte; es würde immer noch Zeit genug d a f ü r sein, wenn irgendein auf feindliche Gesinnung deutendes Symptom sichtbar werden sollte. Es ist niemals sichtbar geworden, und ich habe meinen militärischen Nimbus nicht aufs Spiel zu setzen brauchen. Amüsant w a r das überraschte Staunen, als der Hilfskreuzer „ G e r a " , der als Lazarettschiff dienen sollte, bei uns anlegte und die Offiziere schwer bewaffnet an Land kamen, aber vergeblich nach einem Feinde ausschauten. Wir konnten nur lachend versichern, daß wir uns des vollkommensten Wohlbefindens erfreuten und von einem Feinde keinerlei Kenntnis hätten. Ein fröhlicher Abend beschloß den Vorstoß. Später besuchte uns auch der große Kreuzer „Kaiserin Augusta". Wir wußten nichts besseres zu tun als in der Offiziersmesse auf eigene H a n d einen Feldzug gegen die Weinvorräte des Kreuzers zu unternehmen, der aber schließlich doch mit einer Absetzbewegung von uns endete. Das einzige, was w i r von den auf den Norden beschränkten Boxer-Unruhen bemerkt haben, w a r , daß wir eines Morgens, als wir erwachten, japanische Militärposten in den Straßen erblickten. Die japanische Seemacht hatte es f ü r angezeigt erachtet, Kulangsu zu besetzen. Grund und Zweck dieser Maßregel ist mir nie bekannt geworden, es sei denn, daß J a p a n seine Ansprüche auf die Provinz Fukien dadurch symbolisieren wollte. Es gab einige Reibereien zwischen den Posten und europäischen Bewohnern, danach verschwand das ganze ebenso plötzlich, wie es gekommen. Für mich persönlich hatten diese Ereignisse zur Folge, daß unter diesen U m ständen an eine Bewilligung meines Urlaubs natürlich nicht zu denken war. Erst nachdem die Lage im Norden sich im Winter 1900 zu 1901 geklärt und gefestigt hatte, erhielt Dr. Merz seinen seit langem erbetenen Heimaturlaub f ü r das Frühjahr 1 9 0 1 , und ich wurde mit seiner Vertretung beauftragt. Bevor er mit seiner Familie A m o y verließ, konnte ich noch eine vierzehntägige Reise nach der 250 km von der Fukien-Küste entfernten Insel Formosa unternehmen, die seit 189$ zu J a p a n gehörte. Die Insel w a r noch zum größeren Teile von Wilden bewohnt, malayischen Stämmen, die mit den D a y a k s auf Borneo verwandt sind. Ebenso wie diese waren sie K o p f j ä g e r und kampfgewohnte Krieger. Sie be108

wohnten fast das ganze Innere und die steil in das Meer abfallende Ostküste. Die großen Kampferwälder, der Hauptreichtum von Formosa, konnten deshalb von den Japanern noch nicht in dem Maße ausgenutzt werden, wie sie es wünschten. Die neuen Herren waren bemüht, die Wildengebiete durch einen Militärkordon mit befestigten Stationen und Blockhäusern mehr und mehr einzuengen. Dabei versuchten sie, ähnlich wie vordem die Chinesen, durch Handelsverkehr und Zwischenheiraten einzelne Stämme für die japanische Zivilisation zu gewinnen und an Seßhaftigkeit und Ackerbau zu gewöhnen. Es hatte aber kurz vor meinem Besuch noch blutige Zusammenstöße von japanischen Soldaten und Wilden gegeben, und die Kommandanten der Truppe gestatteten in einigen Wildengebieten nur, daß man von Station zu Station und unter militärischer Bedeckung reiste. Das meiste aber, vor allem die landschaftlich großartige Ostküste, waren überhaupt unzugänglich. Heute scheint die Befriedung, wohl durch Ausrottung der aller Zivilisation widerstrebenden Kopfjäger, so weit fortgeschritten zu sein, daß die ganze Insel ohne Gefahr bereist werden kann. Ich landete damals mit einem kleinen japanischen Dampfer in Hobe (chinesisch Tamsui) an der Nordwest-Ecke der Insel und fuhr von dort mit einer Barkasse den Fluß hinauf nach Twatutia, einem Vorort der Hauptstadt Taihok (chinesisch T'ai-peï fu). Dort wurden mir zwei japanische Soldaten zur Bedeckung, vielleicht audi zu anderen Zwecken, mitgegeben, und wir wanderten durch eine Landschaft von üppiger Fruchtbarkeit nach Südosten in die mit Wald und undurchdringlichem Buschwerk bedeckten Berge der Tokoham-Wilden. Mehrere Tage streiften wir zwischen den Wachstationen umher, immer mit Vorsicht wegen der von den Wilden an den oft kaum erkennbaren Bergpfaden angebrachten Fallen, die aus einer Art primitiver Gewehre bestanden und zunächst dem Wilde galten. Auf den Stationen trafen wir öfters mit Wilden beiderlei Geschlechts zusammen, die dort ihre Jagdbeute oder sehr dauerhafte Zeugstoffe, Schmucksachen u. a. eintauschten. Sie liebten es, Fremden die Schädel zu messen, auch ich mußte mich, nachdem mich die Japaner darauf vorbereitet hatten, dieser Prozedur unterziehen; augenscheinlich erregte mein großer Europäerkopf ihr Wohlgefallen, gern hätten sie ihn besessen, sahen aber ein, daß dies ohne fatale Begleiterscheinungen nicht zu ermöglichen war. Bewaffnet waren die Männer außer mit dem breiten Messer mit Magazingewehren, deren Teile sie von den Chinesen erworben und selbst zusammengesetzt hatten. Die Munition war amerikanischer Herkunft. Nachdem ich noch in Hobe und Tokoham eine Kamphorund Opium-Kocherei besichtigt hatte, fuhr ich am 17. März nadi Amoy zurück. Dr. Merz hatte mir für die Zeit seiner Abwesenheit freundlicherweise seine Wohnung zur Verfügung gestellt, und so hauste ich in dem schön auf der Höhe über dem Meer gelegenen Gebäude allein mit meinen Dienern und zwei großen chinesischen Hunden. Die Amtsgeschäfte hatten sich für mich nicht wesentlich verändert, und inmitten meiner eigenen Arbeiten hatte ich noch auf einsamen Spaziergängen an dem Felsengestade entlang mit der dumpf rollenden Meeresbrandung zur Seite Muße genug, um mir auszumalen, wie schön es wäre, wenn hier die Meinigen um mich sein könnten. Allmählich beschlich mich das Heim109

weh. Im K l u b oder auf dem Tennisplatz, w o man mit dem unvermeidlichen Whisky-Soda die Geister auffrischte, wurden die Ereignisse des Tages erörtert oder, die Entwicklung im Norden beredet. Das Leben auf Kulangsu w a r typisch f ü r das in den „Settlements" der kleinen südchinesischen Hafenplätze. Eine angenehme Unterbrechung erfuhr das einsame Inselleben durch eine Reise, die ich nach der zu meinem Amtsbezirk gehörigen großen Stadt Futschou unternahm, die schön zwischen Strom und Bergen gelegen und ein Mittelpunkt des Teehandels ist. Mit einem jungen deutschen K a u f m a n n fuhr ich mehrere Tage den Min-Fluß hinauf, einen herrlichen Strom von der Breite des Rheines und ähnlich wie dieser auf beiden Seiten von waldigen Bergen begleitet. Die mächtigen Bambusstämme von 25 und mehr Meter Höhe und 50 cm und darüber U m f a n g bildeten mit ihrem undurchdringlichen Dickicht einen Wald von mir völlig neuer Eigenart. Es ist auch tropischer U r w a l d , aber ganz verschieden von den viel bunteren und nasseren Wäldern auf Malakka, wie man sie bei Johore und Penang zu sehen bekommt. Die waldreiche Bergwildnis im inneren Fukien ist teilweise noch wenig erforscht. Ich bedauerte, daß ich nach einigen Tagen die Rückfahrt antreten mußte; aber länger konnte ich mich von meinem Amtssitz nicht entfernen, obwohl midi ein erfahrener Konsulatsekretär vertrat. Endlich, im Juli, konnte ich den ersehnten Europa-Urlaub antreten, nachdem die weitere Vertretung von Dr. Merz geordnet war. Aus der berechneten Wartezeit von vier Wochen w a r eine solche von sechzehn Monaten geworden. Als ich in Hongkong den deutschen Postdampfer bestieg, traf ich eine interessante Reisegesellschaft an: Prinz Tsch'un mit der Sühnemission, die in Berlin das Bedauern des chinesischen Kaisers wegen der Ermordung des Gesandten von Ketteier überbringen sollte, und den Stab einer deutschen ostasiatischen Brigade, die nach Beendigung der Boxer-Unruhen in die Heimat zurückkehrte. Zu meiner Freude befand sich im Gefolge des Prinzen auch mein ehemaliger Kollege bei den Kiaotschou-Verhandlungen, General Yintschang, der als Gesandter in Berlin bleiben sollte. Der Prinz, ein Sohn des „Siebenten Prinzen" (so genannt, weil er der siebente Sohn des im J a h r e 1 8 5 0 verstorbenen Kaisers Tao-kuang war), mithin leiblicher Bruder des damals regierenden Kaisers, w a r ein sympathisch aussehender junger Mann von etwa 25 Jahren, der aus seiner wenig erfreulichen Sendung das Beste zu machen suchte. E r sah seinem Bruder ähnlich, w a r aber viel kräftiger gebaut als dieser. Anfangs etwas verschüchtert, taute er in unserer Gesellschaft bald auf, nahm auch an den Deckspielen teil und entwickelte sich zu einem harmlos fröhlichen Gefährten, der wohl zufrieden war, den Vorschriften eines strengen Zeremoniells einmal entronnen zu sein. Durch Yintschang wurde ich ihm und den Mitgliedern seines Gefolges sogleich bekanntgemacht, und wir haben dann während des vierwöchigen Bordlebens das übliche Nichtstun in aller Unbefangenheit genossen. Beim Abschied schenkte mir der Prinz ein paar sehr kunstvolle Elfenbeinschnitzereien. Bei den Offizieren des Brigadestabs herrschte keine ungetrübte Heimkehrfreude. Das mochte an dem jähen Wandel der Vorstellungen liegen, den sie alle, mehr oder weniger, draußen erfahren hatten. So voll des Lobes sie über die chinesische Bevölkerung waren, 110

so enttäuscht und verdrossen zeigten sie sich über das Verhalten der fremden Truppen. Einer der Herren meinte bitter: „Die einzige anständige Nation da draußen waren die Chinesen". Welch ein Gegensatz zu der Stimmung beim Ausmarsch, f ü r die die berüchtigte Hunnenrede ein Symbol war! Auf dem Gebiete der kultivierten Form waren die Chinesen wieder einmal Sieger geblieben. Die Abendländer aber hatten eine vortreffliche Gelegenheit, den Chinesen zu zeigen, daß auch eine Truppe den hohen Kulturstand ihres Landes darstellen kann, ungenutzt gelassen. Einer der Chinesen sagte mir unterwegs: „Was rühmt ihr eure Soldaten? Sie sind dieselbe rohe Bande wie die unsrigen". In Port Said traf die Nachricht von Berlin ein, daß die Mission bei der Audienz das (angeblich!) chinesische Zeremoniell zu beachten habe, d. h. den dreimaligen Kotou vollziehen müsse. Der Gedanke w a r der allerhöchsten Stelle offenbar von unberufener und sachunkundiger Seite zugeflüstert worden, das Auswärtige A m t w a r nicht dabei beteiligt und äußerst bestürzt, als es davon erfuhr. Die Chinesen gerieten durch die Nachricht in starke Erregung, ließen sich aber wenig davon merken. Südchinesische Mitglieder der Mission erklärten, lieber ihren K o p f dem Henker darzubieten als diese Schmach auf sich zu nehmen. Während der Überfahrt nach Genua wurde beschlossen, die deutsche Grenze nicht zu überschreiten, bevor die Frage des Empfangszeremoniells im Einvernehmen mit Peking entschieden wäre. Ich w a r z w a r von allem unterrichtet, aber zum Glück nicht um meine Meinung gefragt worden; ich hätte den Chinesen ehrlicherweise nichts anderes raten können. Die Mission blieb in Basel, bis die Entscheidung erfolgte, daß der Prinz allein in Audienz empfangen werden sollte, und zwar in europäischen Formen, ein gezwungener Ausweg aus einer unhaltbaren Situation. D e r Kaiser hat dann den Prinzen nach der Audienz noch besonders freundschaftlich behandelt. Die unangenehme Begleiterscheinung w a r aber gewesen, daß die deutsche Politik einige Tage hindurch das Erstaunen und danach das Gelächter der europäischen Welt hervorgerufen hatte. In Genua verabschiedete ich mich von den Chinesen und fuhr an einem strahlenden Augusttage im Nord-Süd-Expreß allein in dem großen Abteil über den Brenner der Heimat entgegen. Ich hatte Grund und Muße, das Leben schön zu finden. A m 26. August 1 9 0 1 w a r ich in Dresden und schloß Frau und Kinder in meine Arme.

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VII. Heimkehr und wieder in China Meine Frau hatte mit den Kindern während unserer Trennung im Heim ihrer Mutter in Dresden gelebt, und so ergab es sich von selbst, daß wir vorläufig dort blieben. Wir genossen die Freude der Wiedervereinigung und führten ein von Sorgen und Kümmernissen freies, glückliches Leben. Um midi den baltischen Verwandten meiner Frau bekanntzumachen, unternahmen wir im September und Oktober eine Reise nach Reval und Petersburg, wo idi mit meiner Frau gemeinsam noch einmal den Reichtum und die Fülle bewundern konnte, die idi von meinem Aufenthalte vor fünf Jahren her in guter Erinnerung hatte. Das russische Leben hatte nichts von seinem Zauber verloren. N a d i Berlin zu gehen, fühlte ich vorerst wenig Neigung, war aber entschlossen, meinem labilen Verhältnis ein Ende zu machen. Ende November endlich meldete ich mich im Auswärtigen Amt. In Herrn von Schwarzkoppen, dem Referenten der Personalabteilung, lernte ich einen vergrämt dreinschauenden Geheimrat kennen, der in ständiger Furcht zu sein schien, zu viel zu sagen, und daher f ü r gewöhnlich gar nichts sagte; wenn er aber einmal etwas äußerte, so geschah dies in einem gedrückten, traurigen Tone. Ich bemühte mich eine längere Weile mit Ausdauer, aber erfolglos, ihm eine Angabe über Bedenken gegen meine Person oder meine dienstlichen Leistungen zu entlocken; als ich dann schließlich die Frage an ihn richtete, was über meine Verwendung nach Beendigung meines Urlaubs bestimmt sei, erwiderte er, daß ich wohl auf meinen Posten als Dolmetscher in A m o y zurückgehen müsse. Die Auskunft genügte mir f ü r die Erkenntnis, daß eine Fortsetzung der Unterhaltung unfruchtbar sei. Idi empfahl mich und reichte nach einiger Zeit des Überlegens am 6. Februar 1902 mein Abschiedsgesuch ein. Vielleicht war man etwas überrascht von diesem Schritte, jedenfalls erhielt idi erst durch Erlaß vom 8. März die Mitteilung, daß mein Gesuch unter Gewährung der gesetzlichen Pension bewilligt sei. Ich kann nicht leugnen, daß es mir nicht leicht wurde, einen Beruf aufzugeben, in dem ich mich bis vor kurzem wohl gefühlt hatte, und damit meine Tätigkeit in einem Lande und unter einem Volke abzubrechen, die mir im Laufe der Jahre vertraut geworden waren. Diese Tätigkeit war nicht durchweg erfolglos gewesen, und ich durfte hoffen, mich in der jetzt für Ostasien anhebenden bedeutungsvollen Zeit audi weiterhin nützlich machen zu können. Ich konnte es jedoch nicht für sinnvoll halten, mich in Auseinandersetzungen mit dem Mißfallen von Vorgesetzten aufzureiben, die ihre Gründe dafür geheim hielten. Für einen solchen Kampf im Dunklen fehlte mir das Talent. Mit meinen neun112

unddreißig Jahren hielt ich mich nodi für jung genug, mein Leben auf anderen Fundamenten neu aufzubauen, und lieber wollte ich in einer bescheideneren Stellung meinen Unterhalt verdienen als eine ungerechte und kränkende Behandlung dulden. Immerhin durfte ich mir nicht verhehlen, daß ich jetzt mit meiner Frau und meinen drei Kindern (in Dresden wurde uns im Juni ein zweiter Sohn geboren) zunächst dem Nichts gegenüberstand, denn die kleine Pension reichte kaum für die Miete der Wohnung in einer großen Stadt, auf die ich angewiesen war. Meine Frau billigte zwar meinen Entschluß aus vollem Herzen, aber die Verantwortung lag auf mir allein. Idi verlor keine Zeit und hielt nach allen Seiten Ausschau nach einer neuen Beschäftigung. Schon im Januar 1902 hatte midi J . J . M. De Groot, damals Professor für Sinologie in Leiden, zu einem Besuche eingeladen, um gewisse Möglichkeiten mit mir zu besprechen, die sich bei dem zu erwartenden Ableben des Ethnologen, Kolonialwissenschaftlers und Sinologen Schlegel in Leiden ergeben würden. De Groot plante, bei der holländischen Regierung dahin zu wirken, daß er die Sdilegelsche Professur erhielte und ich sein Nachfolger würde. Die kleine verschlafene Universitätstadt mit ihrer großen Tradition und ihren reichen Bücherschätzen, ein idealer Platz zum Arbeiten, machte auf midi einen anheimelnden Eindruck, wie auch die prachtvollen Sammlungen von Den Haag und Amsterdam viel Verlockendes hatten. Die Pläne zielten zwar in eine unbestimmte Zukunft (Schlegel starb im Oktober 1902), hatten aber für midi zur Folge, daß meine alte Liebe zur Wissenschaft wieder rege wurde und meine Bestrebungen damit eine bestimmte Richtung erhielten. (De Groot hat später seine Pläne durch seine Übersiedlung nach Berlin selbst vereitelt, einen Ruf nach Leiden habe ich danach trotzdem erhalten (s. unten). Idi schrieb inzwischen an die Kölnische Zeitung, deren Hauptschriftleiter, den charaktervollen, klugen und liebenswürdigen Dr. Posse, ich in Peking kennengelernt hatte, und bot ihr meine Mitarbeit an, ebenso knüpfte idi mündliche Verhandlungen mit der Deutsch-Asiatischen Bank an, der ich von meiner Tätigkeit bei den Anleiheverhandlungen von 1896 (s. oben S. 80) bekannt war. Beide Stellen äußerten sich günstig zu meiner Bewerbung. Eine Tätigkeit bei der Bank habe ich nicht aufgenommen, da eine solche dodi zu weit abseits von meinen Neigungen lag, aber mit der Kölnischen Zeitung bin ich mehrere Jahre in Verbindung geblieben, und zahlreiche Aufsätze politischen, kulturgeschichtlichen und literarischen Inhalts darin stammen aus meiner Feder. Die Beziehungen zu dieser vornehmen Zeitung gehören zu meinen angenehmsten Erinnerungen. Der Herausgeber wie die Schriftleiter und ständigen Mitarbeiter bildeten einen homogenen Kreis, in dem ich midi außerordentlich wohl gefühlt habe. Niemals, wenigstens soweit meine Person in Frage kommt, ist in irgendwelcher Form auf unsere Gesinnung ein Drude ausgeübt worden, niemals hat man in meinen Beiträgen sachlich etwas beanstandet, frei und ungehindert konnte ich meine Ansichten äußern und begründen, ohne daß ein überkluger Zensor sie nadi seinen Begriffen zurechtstutzte. Was Dr. Posse allein zur Bedingung machte, war nationale Gesinnung und anständige Form, und dieser Bedingung konnte ich ohne Einschränkung zu8 Franke, Erinnerungen

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stimmen. Idi habe durch meine Tätigkeit bei der Kölnischen Zeitung viel gelernt und würde wahrscheinlich in ein engeres und dauerndes Verhältnis zu ihr getreten sein, wenn idi nicht von anderen Stellen bald zu anderen Aufgaben berufen worden wäre. So behaglich der Aufenthalt in Dresden war, hielt ich es doch für unerläßlich, mit meiner Familie in Berlin zu wohnen. Einmal war idi für meine Arbeiten unbedingt auf die Königliche Bibliothek (jetzt Staatsbibliothek) angewiesen, und dann lebte ich in Berlin mehr in der Welt, die ich brauchte, als in der schönen Residenzstadt an der Elbe. Dresden war damals eine Stadt, die wie manche Residenz in Deutschland erst durch den Hof ihren Glanz und ihren Charakter erhielt. Mit seinen stilvollen Palästen und Kultbauten, seinen herrlichen Kunstsammlungen, seinen weltberühmten Theatern und seinen musterhaft gehaltenen Straßen, Plätzen und Anlagen war es ein Juwel in der Reihe der deutschen Städte, für deren Schönheit mir jetzt erst die Augen aufgingen, und wie sie kein Land der Welt in soldier Pracht und Fülle besitzt. Nur mit Wehmut kann idi heute Dresden und manche andere deutsche Stadt betrachten. Welcher Reichtum an' Kunst und verfeinerter Kultur ist über Deutschland durch die Kleinstaaterei ausgegossen worden! Was durch sie auf politischem Gebiet an Verlusten verschuldet ist, hat sie auf dem des Geisteslebens wieder ausgeglichen. Ihre Zeit ist dahin, aber es wird Pflicht der Nachkommen sein, das Erbe zu wahren. Der Abschied wurde uns allen schwer, als wir im Herbst nach Berlin übersiedelten und unsere in Friedenau gemietete bescheidene Wohnung bezogen, die wir uns so gut wie möglich einrichteten. Es ging uns bald ebenso wie vielen anderen China-Deutschen: wir hatten regelrechtes Heimweh nach China, nadi dem großzügigen, freien Leben, das die kleinen Alltagssorgen des Haushaltes, die Handwerker-, Lieferanten- und Dienstbotennöte nicht kannte und niemals von dem europäischen Eilteufel geplagt wurde. Meine Beiträge für die Kölnische Zeitung, einige Zeitschriftenaufsätze übet politische Probleme in China und mehrere Vorträge in der Kolonialgesellschaf!:, zu deren einem audi Graf Waldersee aus Hannover gekommen war, fanden überraschend viel Interesse und brachten mir mehr Aufforderungen zu ähnlichen Leistungen, als ich befolgen konnte. Ich sagte mir aber mit Redit, daß dies alles keinen Bestand haben werde und nur ein Übergang sein könne zu einem festen Berufe, von dem ich mir allerdings eine bestimmte Vorstellung noch nicht zu machen vermochte. Während dieser Überlegungen schien sich mir unerwartet ein Ausweg zu bieten. Eines Tages im Herbst 1903 traf ich Yintschang, den neuen chinesischen Gesandten, auf der Straße. Er war erstaunt, mich noch in Berlin „auf Urlaub" zu sehen, und als ich ihm erzählte, was inzwischen geschehen war, rief er lebhaft aus: „O, dann kommen Sie zu uns!" Die Aufforderung war ernster gemeint, als ich dachte; wir kamen bald über die nötigen Vorbedingungen überein, das Auswärtige Amt gab seine Zustimmung, und so wurde ich mit Rang und Titel eines Legationssekretärs der chinesischen Gesandtschaft attachiert. Damit hatte ich jedenfalls bis auf weiteres eine feste Stellung und ein festes Einkommen gewonnen, außerdem war es mir sehr interessant, den Geschäftsbetrieb einmal 114

von der anderen Seite kennenzulernen. Dienst hatte idi nur während der Vormittagstunden, und seine Form war die denkbar angenehmste. Meine lange Bekanntschaft mit Yintschang hatte sich zu einer ehrlichen Freundschaft entwickelt, und so ließ er mir für die Korrespondenz mit dem Auswärtigen Amt völlig freie Hand, nachdem wir den Inhalt zusammen besprochen hatten. Mit den übrigen Mitgliedern der Gesandtschaft war es nicht schwer, sich gut zu stellen. Zu den verschiedenen Begleiterscheinungen meiner neuen Stellung gehörte neben lehrreichen Besichtigungen wie die der Kruppwerke in Essen, des Grusonwerkes in Magdeburg u. a. sowie der Formgebung gewisser repräsentativer Veranstaltungen des Gesandten audi eine solche, die unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten zu betrachten sich lohnte, die Teilnahme an den H o f festlichkeiten. Da idi in den Listen des diplomatischen Korps mit aufgeführt war, erhielt ich nach meiner Vorstellung bei H o f e zu allen Veranstaltungen eine Einladung, zu denen die fremden Vertretungen hinzugezogen wurden, von der großen Cour bis zum Fastnachtsball mit Punsch und Pfannkuchen. Alles vollzog sich hierbei bis in die kleinsten Einzelheiten nach feststehenden Regeln, die Einordnung des hohen Adels, der Diplomaten, Minister, Militärs und hohen Beamten ebenso wie die Anzahl und Tiefe der Verbeugungen und Knickse. Es ist mir indessen sehr wahrscheinlich, daß das Zeremoniell am preußischen Königshofe weit lockerer war als an vielen anderen deutschen Fürstenhöfen, von Spanien und England ganz zu schweigen. Das farbenprächtige Bild, das die goldstrotzenden Uniformen der Herren und strahlenden Toiletten der Damen inmitten der Prachtsäle des Berliner Schlosses mit ihrer blendenden Lichtfülle, vor allem in dem herrlichen Weißen Saale, boten, war die körperlichen Anstrengungen wert, die das Ganze verlangte. Das stundenlange Stehen und langsame Umherwandeln, das nur selten einmal durch eine flüchtige Minute des Sitzens unterbrochen werden konnte, war für würdige alte Herren eine harte Zumutung, und viele von ihnen pflegten sich dieser strapaziösen Pflicht ihres Amtes zu entziehen, wenn eine Möglichkeit dafür gegeben war. Meine Frau konnte leider aus begreiflichen Finanzschwierigkeiten an der Herrlichkeit nicht teilnehmen. Idi mußte dasselbe tun, wozu viele unter den verheirateten jüngeren Diplomaten gezwungen waren: sie unterschlugen ihre Frauen, weil sie die Kosten für die Toiletten und Schmucksachen nicht aufbringen konnten. Ich hatte f ü r meine Uniform bereits 600 bis 800 Mark aufwenden müssen, und mehr zu tun war ich selbst in Anbetracht der kulturgeschichtlichen Studie nicht in der Lage. Als idi während meiner Studentenzeit in Berlin die Auffahrten vor dem Schlosse betrachtete, ahnte ich nicht, daß ich dreiundzwanzig Jahre später selbst einmal unter den Insassen der eleganten Wagen sein würde. Meine gesamte bezahlte Tätigkeit ließ mir trotz ihrer Vielseitigkeit doch nodi reichlich Zeit, um wissensdiaftlidi-sinologische Studien zu treiben. Ich las mehrere chinesische Zeitungen, auf die ich abonniert war, und verfolgte die jetzt auch von der Regierung fortgesetzte Umformung des Staatswesens, die allerdings immer noch im Banne der Tradition stand, ängstlich nach (vermeintlichen) analogen Vorbildern in der Geschichte suchte und beruhigt schien, wenn sie für 8'

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alte Einrichtungen neue Namen gefunden hatte. An das Grundproblem, das Verhältnis der politischen Weltordnung des konfuzianischen Systems zur Neuzeit, wagte man nicht zu rühren, und so beobachtete idi die Entwicklung mit Zweifel und Sorge, aber starkem historischen Interesse. Besonders anziehend war mir deshalb im Frühjahr 1906 das Zusammentreffen mit der Kommission der chinesischen Regierung, die 1905 zum Studium fremder Verfassungen und Staatseinrichtungen in die Westländer entsandt war. Für Deutschland waren der Vizepräsident im Finanzministerium Tai Hung-ts'e, und der Generalgouverneur in Nanking, Tuan Fang, bestimmt, die im März 1906, von Amerika kommend, über London und Paris in Berlin eintrafen. Sie empfingen von der preußischen Verfassung und Verwaltung einen so starken Eindruck, daß sie nach ihrer Rückkehr mit Entschiedenheit dafür eintraten, sie als Muster für die chinesische Staatsreform anzunehmen unter Ablehnung der parlamentarischen Regierungssysteme in England und Frankreich. Ihre Ansichten drangen in Peking auch durch, doch wurde die ganze geplante Reform in ihren Anfängen durch die 1 9 1 1 / 1 2 tobende Revolution zerschlagen. Tuan Fang selbst wurde 1 9 1 1 von den Revolutionären ermordet. Die Gespräche mit ihm waren mir sehr wertvoll für die Anschauung von der chinesischen innerpolitischen Entwicklung. Ich hatte in einem Artikel in der Kölnischen Zeitung vom 25. Februar 1906 auf die Bedeutung der Kommission hingewiesen und davor gewarnt, in ihr wieder, wie es mit Li Hungtschang zehn Jahre früher geschehen war, Handelsreisende zu sehen und ihr Waren aller Art anzupreisen. Tuan Fang war neben seiner staatsmännischen Tätigkeit auch ein bekannter Kunstkenner und Sammler von Antiquitäten, so daß die Unterhaltung mit ihm auch in dieser Hinsicht recht ergiebig war. Bei einem Frühstück im Kaiserhof enthüllte er sich auch als großer Feinschmecker, indem er tadelte, daß die europäische Küche das Fleisch für den Braten zu lange liegen ließe. Als ich ihm erwiderte, daß zu früh gebratenes Fleisch weniger schmackhaft und zäh sei, rief er lebhaft aus: „Dann verstehen eure Köche mit dem frischen Fleisch nicht umzugehen!" Ich habe in der Tat bei meinen Reisen in der Mongolei regelmäßig unmittelbar nach dem Schlachten des Tieres gebratenes Hammelfleisch gegessen und als sehr zart befunden. Indessen muß ich das Urteil in dieser Frage sachverständigeren Leuten überlassen. Aber auch dem chinesischen Altertum wandte ich mich jetzt mit erhöhtem Verständnis zu. Die frühe Geschichte des Jehol-Gebiets, das oft der Schauplatz langer Kämpfe zwischen Chinesen und türkisch-tungusischen Völkern gewesen war, hatte mich auf die Fragen der chinesischen Machtausbreitung durch Innerasien gegen Hunnen und Tataren geführt, und ich begann, midi in die Lektüre der ältesten chinesischen Annalenwerke zu vertiefen. Es fehlte nicht an äußeren Anregungen zu diesem Studium. Ferdinand von Richthofen, der in seiner Freundlichkeit meiner Frau und mir Zutritt zu seinem Hause gewährte und uns den ganzen Zauber seiner Persönlichkeit empfinden ließ, nahm lebhaften Anteil an meinen Arbeiten. Er wünschte sehr, midi an Berlin zu fesseln, und bat mich dringend, im Kultusministerium vorzusprechen und mich um die nach dem Tode von Professor Arendt im Januar 1902 freigewordene Dozentur am Seminar für 116

orientalische Sprachen zu bewerben. Idi hatte wenig Neigung f ü r diese Aussicht, mochte aber dem verehrten Manne nicht zuwider sein. Zum Glück kam mir das Ministerium auf seine A r t zu H i l f e . Als ich mich bei dem Unterstaatssekretär melden ließ, mußte ich nach der dort üblichen Sitte unbeschränkte Zeit im Vorzimmer warten. Nach einer halben Stunde ließ ich dem unnahbaren Herrn sagen, daß leider meine Zeit f ü r weiteres Warten nicht ausreichte, und empfahl mich. Ich hatte Richthofen meinen guten Willen bewiesen und dem Ministerialgewaltigen gezeigt, daß nicht eines jeden Kandidaten Geduld unerschöpflich ist. Die Stelle wurde 1903 meinem ehemaligen Kollegen Forke übertragen. Außer von Richthofen erhielt ich besondere Anregungen von dem Sanskritisten Pischel, dem Lehrer Soifs (s oben S. 34), der von Kiel über H a l l e als Nachfolger von Weber 1902 nach Berlin gekommen war. Idi hatte ihn auf dem Internationalen Orientalistenkongreß in Hamburg im September 1902 kennengelernt und blieb mit ihm in Berlin in ständiger Verbindung. Es war die Zeit, w o die ersten Funde der preußischen Turfan-Expedition das Erstaunen der gelehrten Welt erregten und man außerhalb der engsten sinologischen Kreise von den geschichtlichen Entwicklungen in Zentralasien im allgemeinen und im Turfan-Gebiet im besonderen nichts wußte. Pischel w a r deshalb an meinen Arbeiten gleichfalls lebhaft interessiert. So entstanden meine „Beiträge aus chinesischen Quellen zur Geschichte der Türkvölker und Skythen Zentralasiens". Pischel legte sie sogleich der Akademie der Wissenschaften vor, und im J a n u a r 1904 erschienen sie im Druck in deren Abhandlungen. In kurzer Zeit w a r die A u f l a g e vergriffen. Zu den ersten Turfan-Funden gehörte auch eine große Steintafel mit einer langen buddhistischen Inschrift in chinesischer Sprache aus dem 5. Jahrhundert, die im Museum f ü r Völkerkunde in Berlin aufgestellt w a r . Auf Pischels Wunsch machte ich mich an die Übersetzung und Erklärung des sehr schwierigen Textes. Beides ist 1907 gleichfalls in den Abhandlungen der Akademie veröffentlicht. Ich w a r der Aufgabe damals noch nicht ganz gewachsen, es sind deshalb einige Stellen der Inschrift mißverstanden und später richtiggestellt worden. Ich sehe indessen keinen Anlaß, mich der Übersetzung, die zu meinen sinologischen Erstlingsarbeiten zählt, etwa zu schämen. Wir haben heute ganz andere Hilfsmittel, um solchen verzwickten Mysterien buddhistischer Scholastik beizukommen, als damals. Der Inhalt hat übrigens die Mühe nicht gelohnt. Nachdem ich so auch an die akademische Welt herangeführt w a r , riet mir Pischel auf das dringendste, mich in Berlin zu habilitieren. Idi lehnte das ab, weil ich mich nicht f ü r ein Fach habilitieren wollte, das f ü r die akademischen Traditionshüter nicht vorhanden w a r und voraussichtlich auch f ü r absehbare Zeit als nicht vorhanden gelten würde. Die Wissenschaft in Deutschland hielt damals der Sinologie ihre Tore verschlossen; außer der etwas nebelhaften Professur f ü r „ostasiatische Sprachen" in Leipzig, die nicht einmal ein Ordinariat w a r , und der unbesoldeten in Berlin gab es auf den deutschen Universitäten keinen Lehrstuhl f ü r Chinesisch. Der deutsche Kolonialkongreß von 1905 in Berlin hatte nach einem Vortrage von mir und auf meinen Antrag eine Resolu-

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tion angenommen, dahin lautend, daß „er es für eine dringende Notwendigkeit halte, daß die Errichtung von ordentlichen Professuren für wissenschaftliche Sinologie an deutschen Universitäten seitens der zuständigen Ministerien der Bundesstaaten baldigst in die Wege geleitet würde". Der Resolution war eine nähere Begründung beigefügt. Sie war auch der Reichsregierung übermittelt worden, geschehen aber war nichts darauf. Grube, der zugleich Museumsbeamter war, las zwar noch (s. oben S. 36), hatte sich aber in seiner nidit unberechtigten Verbitterung und wegen seines zunehmenden Ohrenleidens von allem zurückgezogen und war außerdem infolge von sehr üblen Zwischenträgereien gegen mich aufgebracht. Ich hatte mir alle Mühe gegeben, den äußerst sensitiven und empfindlichen Mann von der Grundlosigkeit seiner Verstimmung zu überzeugen, war aber auf leidenschaftliche Abweisung gestoßen. Ich habe den Bruch mit diesem von mir hoch geschätzten Gelehrten immer schmerzlich bedauert. Dieses Verhältnis trug natürlich nicht dazu bei, meine Abneigung gegen eine Habilitation zu verringern. Das Leben, das wir in Berlin führten, war auch ohne dies abwechslungsreich genug und hatte sich wider Erwarten angenehm gestaltet. Wir hatten einen großen Freundeskreis innerhalb und außerhalb, sahen oftmals Gäste, audi aus der China-Zeit, bei uns und standen durch Richthofens und Pischels auch mit Universitätskreisen in Berührung. Große Freude hatten wir an den heranwachsenden Kindern, mit denen regelmäßig sonnabends Ausflüge in die Umgebung unternommen wurden. Die Ferien verbrachten sie meist in Dresden, während meine Frau und ich mit dem Rucksack die deutschen Mittelgebirge, die heute infolge der Hochtouristik ganz ungebührlich vernachlässigt werden, und die Voralpen durchwanderten. Wir wollten zunächst einmal die Schönheiten Deutschlands genießen, ehe wir das Ausland wieder aufsuchten; midi insbesondere verlangte es nach dem deutschen Walde mehr als nach etwas anderem, nachdem idi ihn so lange hatte entbehren müssen. Recht heimisch aber wurden wir doch trotz allem nicht in Berlin. Vielleicht trug einen Teil der Schuld die politische Atmosphäre, die mir mehr und mehr unbehaglich wurde. Ich hatte zu tief in unsere Beziehungen zu England, Frankreich und Rußland, namentlich in Asien, hineingesehen, um nicht mit Sorge ihre Weiterentwicklung zu verfolgen. Daß uns vor allem von England ernste Gefahren drohten, wurde mir immer klarer, und es war mir unbegreiflich, daß man allem Anschein nach in Deutschland davon nichts merkte, jedenfalls trotz sonstigen vielen öffentlidien Redens niemals davon spradi. Aber der ganze europäische Kontinent lag ja nodi unter der englischen Hypnose. Durch unsere gewaltig emporstrebende Wirtschaft waren wir in die imperialistische Strömung der Zeit hineingezogen, besaßen aber weder die Macht noch die Fähigkeit, einen selbständigen Kurs zu steuern. Die Wirtschaft glaubte, sie sei das Primäre und die Politik habe sich nach ihr zu richten, während eine zielklare Politik verlangen muß, daß ihr die Wirtschaft diene. In England ist dies eine Selbstverständlichkeit, weil hier Tradition und politische Disziplin stärker sind als in Deutschland. Ich hatte noch in China beobachten können, wie die 118

englischen Kaufleute, die erregt waren wegen der japanischen Machenschaften, die ihnen in Nord-China und der Mandschurei die Geschäfte verdarben, sofort einschwenkten, als sich das englisch-japanische Bündnis von 1902 vorbereitete. Wer, wie die Deutschen, durch die wirtschaftliche Entwicklung gezwungen war, handelspolitische Beziehungen über See anzuknüpfen, der mußte mit der Gegnerschaft Englands rechnen. Dieser konnte man nur begegnen durch Verzicht oder durch Gegenwehr mit ausreichenden Machtmitteln zur See. Die politische Führung in Deutschland glaubte, beides vermeiden zu können, weil sie das Wesen der englischen Macht nicht verstand; daher die Halbherzigkeit im Auswärtigen Amt und die bedrückende Verständnislosigkeit des spießbürgerlichen Reichstages in der Flottenfrage. Ich bin während jener Jahre den politischen Fragen gegenüber meist nur stiller Beobachter gewesen, weil ich keine Möglichkeit sah, von mir aus auf die Dinge einwirken zu können. Mein Herz gehörte jetzt mehr und mehr der Wissenschaft, und dieser Umstand brachte wieder einen jener plötzlichen Entschlüsse in mir hervor, die ich an bestimmenden Punkten meines Lebens wie eine göttliche Führung empfunden habe. „Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, Ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, Was zu ergreifen ist und was zu fliehn." Eines Tages im Frühjahr 1907 beschloß ich ohne weiteres Nachsinnen, mich zu habilitieren. Als ich Pischel davon Mitteilung machte, war er erstaunt und erfreut zugleich. Er versprach mir, alles zu tun, um mir die nötigen Formalitäten so wenig lästig wie möglich zu machen, und da er zur Zeit Dekan war, konnte er dies ohne Schwierigkeit bewerkstelligen. Ich konnte meine bereits gedruckten „Beiträge" als Habilitationsschrift einreichen, Pischel war Referent, und da er die Arbeit, die er selbst der Akademie vorgelegt hatte, genau kannte, so erfolgte das Votum in kürzester Frist. Noch vor Schluß des Sommer-Semesters fand das Colloquium statt, das sehr kurz war, da niemand in der Fakultät recht Bescheid wußte in meinem Fach. Am 12. Oktober 1907 konnte ich meine öffentliche Vorlesung über „Aufgaben und Methoden der Sinologie" halten; damit hatte ich die venia erlangt und war Privatdozent geworden, mit 44 Jahren wohl der älteste in der Fakultät, wenn nicht in der ganzen Universität. Ich zeigte für das Winter-Semester ein paar Vorlesungen an und hatte audi einige Zuhörer in den chinesischen Übungen. Diese Privatdozentenzeit sollte indessen nur eine sogleich vorübergehende Episode bleiben. Die Politik rief mich zurück. Nach Beendigung der Boxer-Unruhen begannen die fremden Mächte in China ihre Politik umzustellen. Statt der Einschüchterung und Vergewaltigung suchte man jetzt die Zuneigung der Chinesen für die abendländische Kultur zu gewinnen. Die Reformbewegung hatte gezeigt, daß in einem großen Teile der gebildeten Schichten ein starkes Verlangen nach westlicher wissenschaftlicher Schulung bestand. Die Japaner waren die ersten, die erkannten, daß sich hier ein aussichtsreicher Weg eröffnete, durch Befriedigung dieses Verlangens mit 119

Hilfe von geeigneten Schulen Einfluß auf die innere Haltung des Volkes zu gewinnen. Sie gründeten einesteils Schulen in China und zogen anderenteils Scharen von jungen Chinesen zum Studium nach Japan. Die französischen und anglo-amerikanischen Missionare hatten zwar schon Jahre vorher ihre Schulen unterhalten, sie waren aber durch ihre religiösen Ziele natürlich in ihrer Wirksamkeit stark eingeschränkt und konnten deshalb auch trotz besserer Leistungen mit den Japanern nicht Schritt halten. Nach 1900 erkannte man audi in England, Amerika und Frankreich die Wichtigkeit der ganzen Frage. Man sah, wie die Einführung in das Geistesleben eines bestimmten Landes mit Naturnotwendigkeit andere Verbindungen materieller Art nach sich ziehen müsse. Von dem Studium der Sprache, der Literatur, der Lebens- und Weltanschauung eines Volkes bis zur politischen und wirtschaftlichen Hinneigung ist nur ein kleiner Schritt, so klein, daß er immer getan wird. So nahmen sich in den drei Ländern auch die Regierungen dieser Kulturübermittlung an. Sie hielten sich zwar zunächst im Hintergrunde, unterstützten aber die darauf hinzielenden Bestrebungen, sei es durch Verstärkung der Missionsschulen, auf denen die religiöse Propaganda zurückgestellt wurde, sei es durch Entsendung von Lehrern an chinesische Schulen, sei es durch Heranziehung chinesischer Studenten an die heimischen Hochschulen. Nach Deutschland, von dessen siegreichen Kriegen man auch in Ostasien Kunde hatte, waren von den Provinzialgouverneuren eine Anzahl von Militärschülern zur Ausbildung entsandt worden. Die Erfahrungen, die man mit ihnen gemacht hatte, waren nicht gut. Die entsendenden Stellen hatten in Unkenntnis der Lebenshaltungskosten in Deutschland den Fehler begangen, den jungen Leuten zu viel Geld zu bewilligen (sie erhielten 500 Mark in Monat). Das stieg den losgelassenen Feldherrnanwärtern rasch zu Kopfe, sie führten in Berlin ein wildes Leben, da jede Aufsicht fehlte, machten Schulden und belästigten in unverschämter Weise den Gesandten. Der Ausnahmen waren wenige. Idi habe oftmals die Langmut von Yintschang und seinen Nachfolgern bewundert. Die Erfahrungen, die man in anderen Ländern mit den „Studenten" machte, werden nicht viel besser gewesen sein, wenigstens waren die Heimkehrer zum großen Teile eine halbgebildete, aufsässige und anmaßende Gesellschaft, deren Leistungsfähigkeit höchst fragwürdig war. Erst allmählich haben sich mit der größeren Erfahrung der Chinesen die Verhältnisse gebessert. Heute sind die chinesischen Studenten in Deutschland durchweg ausgezeichnetes Material. Diese „Kulturpolitik", wie sie mit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte, fand in Deutschland keinen Boden. Die wenigen deutschen Missionare in China arbeiteten mit ungenügenden Mitteln, das Auswärtige Amt nahm kein Interesse an der Sache, andere Stellen, die sich ihrer hätten annehmen können, hatten entweder keine Neigung dazu oder sahen keine Möglichkeit, etwas Durchgreifendes zu tun; Geldmittel für eine so abseitige Angelegenheit aufzubringen, war, anders als in Amerika oder England, aussichtslos. Ich hatte 1903 in einem längeren Aufsatze in der „Deutschen Rundschau" und 1904 in einem Vortrage in der Deutschen Kolonial-Gesellschaft eindringlich auf die Bedeu120

tung der Unterrichtsfrage für Politik und Wirtschaft hingewiesen und die herrschende Unkenntnis und Gleichgültigkeit beklagt, aber ein Erfolg war mir leider nicht beschieden. Wie die Gesandtschaft in Peking sich dazu stellte, ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, daß im Herbst 1907 ein Bericht des Gesandten Grafen Rex eintraf, in dem gleichfalls die Notwendigkeit erörtert wurde, daß von Deutschland in der Aufnahme der Kulturpolitik ewas Größeres geschehen müsse, und in dem er die Errichtung einer deutschen Unterrichtsanstalt in China dafür in Vorschlag brachte. Da für die Verwirklichung eines solchen Planes das deutsche Schutzgebiet Kiaotschou vor allen anderen Plätzen in Frage kam, so übersandte das Auswärtige Amt den Bericht dem Reichsmarineamt, dem das Schutzgebiet unterstand, zu weiterer Behandlung. So war die Situation, als mich eines Tages im Oktober 1907 der Staatssekretär Admiral von Tirpitz zu sich bat. Er machte mir Mitteilung von dem Bericht des Grafen Rex, erklärte mir, daß er der Anregung Folge geben und in Tsingtau eine höhere Lehranstalt für Chinesen errichten würde, und fragte mich, ob ich ihm dabei helfen wolle. Ich erklärte midi sofort bereit, da ich den Gedanken für einen glücklichen und fruchtbaren hielt. Ich arbeitete zunädist eine größere Denkschrift aus, in der ich meine grundsätzlichen Auffassungen darlegte. Sie knüpften sich an folgende Kernpunkte: 1. Verbindung von höherer Fach-Ausbildung mit elementarer Vorbereitung: die erste, weil die Chinesen besonderen Wert auf diese Art „akademischen" Unterrichts legten, die letzte, weil kein genügend vorbereitetes Schülermaterial vorhanden war und erst herangebildet werden mußte. 2. Ausschluß jeder religiösen Propaganda, weil die Vorgänge bei den englisch-amerikanischen Missionsschulen zeigten, daß dadurch der Entwicklung unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet würden. 3. Gemeinsame Verwaltung mit chinesischen Regierungsorganen. 4. Anerkennung durch die chinesische Regierung und Gleichberechtigung mit chinesischen Staatsanstalten. Eine auf Grund dieser Denkschrift ausgearbeitete Vorlage mit einem vorläufigen Kostenanschläge wurde vom Staatssekretär im Frühjahr dem Reichstage unterbreitet. An seiner Seite hatte ich sie in der Budget-Kommission zu vertreten. Sie wurde im ganzen freundlich aufgenommen, nur die Sozialdemokraten wollten von dem gesamten Unternehmen nichts wissen. „Es handelt sich ja dodi nur um eine Fähnrichspresse", erklärte einer ihrer Wortführer. Ehe man sich festlegte, wollte man indessen erst nodi nähere Einzelheiten des Planes kennenlernen und vor allem wissen, wie sich die chinesische Regierung dazu stellte. Für diese vorbereitenden Arbeiten wurde eine ausreichende Summe bewilligt. Tirpitz ersuchte mich nun, in China mit der Regierung die notwendigen Verhandlungen zu führen und womöglich gleich einen Vertrag zu erreichen, der von einem beglaubigten Vertreter der Regierung und dem Kaiserlichen Gesandten zu unterzeichnen und, wie ich empfahl, durch kaiserliches Edikt zu genehmigen wäre. Ich arbeitete einen Vertragsentwurf aus, der zugleich eine Verfassung der Doppel-Anstalt enthielt und den Unterrichtsbetrieb regelte. Die Unterstufe sollte in sechsjährigem Lehrgange die allgemeine Vorbildung in deutscher Sprache, Geschichte, Bota121

nik, Physik u. a. vermitteln, die Oberstufe bestand aus einer staatswissensdiaftlichen, einer medizinischen, einer technischen und einer forst- und landwirtschaftlichen Abteilung. Der Unterricht in jeder Abteilung dauerte drei bis vier Jahre. Neben dem abendländischen Bildungsgange lief in beiden Stufen ein chinesischer, dessen Regelung den Chinesen überlassen blieb. Der Plan, der nachher keine wesentlichen Veränderungen mehr erfuhr, war ganz den Wünschen der Chinesen angepaßt. Um die Verhandlungen zu vereinfachen, fertigte ich eine chinesische Übersetzung davon an. Damit idi als Verhandlungspartner größere Selbständigkeit und darum mehr Gewicht hätte, ernannte midi Tirpitz zu seinem „Sonder-Kommissar", der ihm unmittelbar unterstellt war und daher auch unmittelbar berichten sollte. Dem Gouverneur von Kiaotsdiou unterstand idi nur, wenn ich midi im Schutzgebiet aufhielt. Am 2 i . April 1908 verließ idi Berlin zusammen mit dem damaligen Kapitän, späteren Admiral Brüninghaus vom Reidismarineamt, der mit anderen Aufgaben betraut war, und dem secrétaire-interprète der Gesandtschaft in Peking, Herrn Krebs, der seinen Urlaub beendet hatte. Wir reisten mit der Eisenbahn über Petersburg, Moskau durch Sibirien und die Mandschurei nach Peking, Brüninghaus nach Tsingtau. Ich konnte so im Fluge noch einmal den Weg überblicken, den ich zwölf Jahre vorher auf etwas mühseligere, aber wirksamere Art gereist war. Wir fuhren in einem russischen Kronszuge mit gutem Schlaf-, Speise- und Turnwagen (um die Glieder beweglich zu halten), so daß man das Ermüdende der fünfundzwanzigtätigen Fahrt leicht überstehen konnte. Da ich mich in Mukden aufgehalten hatte, kam ich erst am 22. Mai in Peking an. Welcher Wandel gegen die Zeit zwanzig Jahre früher! Graf Rex war durch das Auswärtige Amt von meinem Kommen in Kenntnis gesetzt, mit welchen Zutaten oder Anweisungen, weiß idi nicht. Ich hatte erwartet, daß er die rasche Befolgung seiner Anregungen mit Freude und Genugtuung begrüßen würde, statt dessen aber war er höchst aufgebracht, als ich mich bei ihm meldete. Solche uferlosen Pläne, sagte er, aufgeregt im Zimmer umhergehend, habe er nie im Auge gehabt, und wenn man ihm gleich „eine Autorität" (ich verneigte mich dankend!) heraussdiicke, so sei das ein voreiliger Aufwand, der zu nichts Gutem führen würde. Er lehne jede Verantwortung für dieses Unternehmen ab. Ich habe nicht feststellen können, ob Graf Rex Angst vor seinem eigenen Mute bekommen, oder ob das Auswärtige Amt sein Mißfallen ob solcher stürmischen Methoden angedeutet hatte, die geeignet schienen, den harmonischen Lauf der Dinge zu stören, wobei noch erschwerend ins Gewicht fiel, daß das Unternehmen vom Reidismarineamt ausging, das notorisch unbequem war. Ich darf behaupten, daß ich durch die Haltung des Gesandten, dem das ganze Chinesentum ein Buch mit sieben Siegeln war, auf dessen Ergründung er nicht den geringsten Wert legte, nicht einen Augenblick enttäuscht oder bedrückt war. Ich glaubte, in diesem Falle die Chinesen besser zu kennen: nach allem, was ich in den chinesischen Zeitungen gelesen hatte, wußte ich, wie wichtig ihnen die ganze Unterriditsfrage war und wie ratlos sie ihrer Lösung gegenüberstanden; idi war daher überzeugt, daß sie 122

unser Angebot als einen Versuchsweg gern annehmen würden. Idi beruhigte den Aufgeregten, so gut idi vermochte, indem ich betonte, daß die Gesandtschaft sich an den Verhandlungen nicht zu beteiligen brauche und midi im Bedarfsfalle jederzeit desavouieren könne. Ich bäte nur, mich bei der chinesischen Regierung einzuführen, was denn auch wenige Tage später durch den Grafen Rex bereitwillig geschah. Die höchste für uns in Frage kommende Instanz war Tschang Tsdii-tung, Mitglied des Staatsrates und General-Inspektor des gesamten Unterrichtswesens im Reiche, ein bei Chinesen wie Ausländern gleich hoch angesehener, verehrungswürdiger Gelehrter. Er wohnte während der heißen Zeit auf seinem Sommersitz, etwa 12 Kilometer außerhalb Pekings. Der Gesandte fuhr mit mir hinaus und stellte midi ihm vor. Der Erfolg dieser ersten Unterredung übertraf alle meine Erwartungen. Tschang Tschi-tung erklärte sogleich, daß für ihn die Frage eine derartige Bedeutung habe, daß er ihre Erledigung selbst in der Hand zu behalten wünsche, und daß er sich von ihrer zufriedenstellenden Lösung den besten Einfluß für die gesamten deutsch-chinesischen Beziehungen verspreche. Er würde für die Beratung der Einzelheiten mit mir besondere Beamte ernennen, die Verhandlungen könnten dann sofort beginnen. Um den Minister darauf aufmerksam zu machen, daß ich wissenschaftlicher Sinologe sei, überreichte ich ihm eine Photographie der Steintafel von Turfan mit meiner Bearbeitung (s. oben S. 1 1 7 ) . Er war sichtlich überrascht und schenkte mir von da ab sein besonderes Wohlwollen. Ich glaubte, die so erzeugte Stimmung dazu benutzen zu können, einen Wunsch vorzutragen, der mir von dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte der Universität Leipzig ausgesprochen war. Der Direktor, Professor Lamprecht, hatte mich gebeten zu erwirken, daß dem Institut ein Exemplar der großen aus 1636 Bänden bestehenden Enzyklopädie der chinesischen Literatur, des T'u-schu tsi-tsch'eng, von der chinesischen Regierung überwiesen würde. Die Leipziger sowohl wie ich selbst hatten dabei die kleine durch Photolithographie vervielfältigte Ausgabe im Sinne. Tschang Tsdii-tung aber sagte mir sogleich zu, veranlassen zu wollen, daß eins von den wenigen noch vorhandenen Exemplaren der aus 5046 Bänden bestehenden großen, mit prachtvollen Bleitypen gedruckten Ausgabe „für eine deutsche Universität" geschenkweise überwiesen würde. Allerdings sei dafür ein Kaiserliches Edikt erforderlich, er hoffe dies aber zu erwirken. Die Enzyklopädie wurde bald danach der Gesandtschaft ausgeliefert und hat ein seltsames Schicksal gehabt. Da die Königliche Bibliothek in Berlin auch nur die kleine Ausgabe besaß, wollte ich die jetzt gestiftete große ihr zuwenden, Leipzig sollte dann die Berliner kleine bekommen. Als aber die Kisten mit den schönen großen Bänden in Berlin ankamen, meinte der damalige Direktor der Handschriften-Abteilung, man habe erst vor kurzem ein aus so zahlreichen Bänden bestehendes chinesisches Sammelwerk erhalten (es war das buddhistische Tripitaka); so sei es wohl zweckmäßig, dieses doch gewiß ähnliche (!) nach Leipzig zu überweisen! So kam die Prachtsammlung nach Leipzig und ist noch dort. Versuche, es nach Berlin zurückzugewinnen, wurden

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— mit Recht — abgewiesen. Kennzeichnend für deutsche bürokratische Genauigkeit ist es, daß sidi, als die Kisten mit den Büchern in Berlin ankamen, die verschiedenen Amtstellen stritten, wer die Transportkosten bezahlen solle. Wie diese „quereile allemande" schließlich entschieden ist, weiß ich nicht. Der Wert der Sammlung betrug 28 000 Mark. Der Sommer 1908 in Nord-China war einer der heißesten in einer sehr langen Reihe von Jahren, für mich der heißeste, den ich überhaupt in China erlebt habe. Wir hatten wochenlang 48 o und stellenweise darüber bei feuchter Luft. An Arbeiten war zuweilen nicht zu denken, und die Korrespondenz mit den Chinesen sowie die laufende Berichterstattung nach Berlin bedeuteten zeitweilig anstrengende Selbstüberwindung. Die Verhandlungen mit Tschang Tschitungs Deputierten gestalteten sidi keineswegs so reibungslos, wie ich es nach ihrer Einleitung erwartet hatte. Die Fragen der Mitwirkung der chinesischen Amtstellen und des Ortes der Errichtung der Anstalt (die Chinesen wollten sie gern außerhalb des Schutzgebietes haben) fanden die zähesten Widerstände, und mehrmals war die Lage bis zum Zerreißen gespannt. Nun konnte ich midi freilich nie des Gefühls erwehren, daß diese Widerstände bei den Chinesen zum Teil durch die Absicht genährt wurden, bei den ihnen abverlangten Zugeständnissen das Gesicht zu wahren und sie möglichst teuer zu verkaufen, daß daher manche Einwände nicht ganz ernst gemeint waren. Es ist aber in solchen Fällen sehr schwer, den Punkt zu finden, über den man sie nicht hinausdrängen soll. Idi benutzte diese Wochen, soweit die Hitze es zuließ, die Stadt Peking genauer zu besichtigen, und fiel dabei aus einem Erstaunen in das andere. War es mir schon bei der Ankunft überraschend gewesen, den Bahnhof innerhalb der Stadtmauer zu finden, so traute ich meinen Augen nicht, als idi das veränderte Straßenbild sah. Die übelriechenden Schmutzwege von ehedem, in deren Löchern nodi 1895 ein Maultier mit seinem Karren ertrunken war, pflegte man nodi am Ende des 19. Jahrhunderts, wenn im Winter einer der Kaiserlichen Opferzüge zu den großen Kultstätten bevorstand, soweit der Zug sie passierte, mit großen Eisblöcken zu belegen und Erde darauf zu streuen, wodurch sie immerhin bei günstigem Wetter für ein paar Tage das Aussehen gefestigter Straßenwege erhielten (das Bild bei einsetzendem Tauwetter kann man sich vorstellen!). Jetzt aber waren sie in richtige, gut chaussierte, glatte Straßen verwandelt, auf denen europäische Victorias mit zwei Pferden und zahllose Jinrikschas entlang flitzten, oben darüber liefen die Telegraphen-, Telephon- und Lichtleitungen, zahlreiche, leider nur zum Teil geschmackvolle Bauten abendländischen Stils waren entstanden, es gab eine Anzahl entsprechender Hotels und eleganter Restaurants innerhalb und außerhalb der Stadt, einen etwas verunglückten zoologischen Garten, kurzum das alte Peking, die Stadt Kublai Khans hatte begonnen, ein modernes Gewand anzulegen, ohne aber seine erhabenen Schmuckstücke des Altertums, die ehrwürdigen Zeugen semer Geschichte, Palastgründe und Stadtmauern, von sidi zu tun. Man sah bei jedem Schritt, daß der Stein der neuen Zeit, der 1901 in Bewegung ge124

kommen war, mit zunehmender Geschwindigkeit rollte. Wer das frühere China kannte, mochte wohl in Sorge geraten, daß diese Geschwindigkeit zum donnernden Sturz werden und der Stein Felsblöcke und den ganzen Berghang mitreißen könnte. Nodi zur Ausführung eines anderen Auftrages benutzte ich die Pausen zwischen den Verhandlungen. Der Büchermarkt in Peking war trotz der Zerstörungen von 1900 noch immer sehr ergiebig. Idi kaufte daher für die K ö nigliche Bibliothek auf ihren Wunsch eine große Anzahl von Werken in möglichst guten Ausgaben, ohne meine eigene Bücherei zu vergessen. Audi von Japan konnte ich mit Hilfe des bekannten Buddhologen Junjirö Takakusu mehrere wertvolle buddhistische Werke erwerben, so daß sich die Expedition auch in sinologisdier Hinsicht als lohnend erwies. Ganz gelegentlich erfuhr idi audi in ihrem Verlauf, daß der Nachfolger des Gesandten Herrn von Ketteier, Frhr. Mumm von Schwarzenstein, nadi meinem Ausscheiden aus dem Dienst dem Auswärtigen Amt empfohlen hatte, mich zum Wiedereintritt zu veranlassen. Das Amt hatte zugestimmt, aber die Bedingung gestellt, daß ich darum nachsuchen sollte. Herr von Mumm hat daraufhin — klugerweise — jeden weiteren Schritt unterlassen. Im August endlich kamen wir mit unseren Verhandlungen zum Abschluß. Der Vertrag wurde von dem Kaiserlichen Gesandten und dem Tsungli-Yamen unterzeichnet und alsbald von den beiderseitigen Regierungen — in China durch Kaiserliches Edikt — ratifiziert. Graf Rex, und mit ihm wohl das Auswärtige Amt, war längst versöhnt infolge des günstigen Verlaufs „seiner" Schulpolitik. Er behandelte mich jetzt mit großer Herzlichkeit und lud midi bald danach für einige Zeit nach Pei-tai ho ein, dem neuerlichen Sommersitz der fremden Gesandten am Golf von Liao-tung, „damit ich midi von den anstrengenden Verhandlungen erhole". Ich verlebte eine sehr angenehme Wodie in dem hübschen Seebade, wenngleich mir Ta-kiao ssë und die Berge lieber waren. Nunmehr aber machte ich midi auf nach Tsingtau, um dem Gouverneur Truppel auch mündlich — ich hatte die Korrespondenz mit Berlin durch seine Hand gehen lassen — über alles Bericht zu erstatten. Hier aber erlebte ich die zweite, erheblich peinlichere Überraschung. Der Gouverneur sowohl wie seine ihm zunächst stehenden Beamten empfingen midi mit ausgesprochener Feindseligkeit. Der Gouverneur lehnte den ganzen Vertrag wie überhaupt dieses ganze „mit so viel Lärm in die Welt gesetzte" Unternehmen ab. (Ich habe von diesem „Lärm" nur in Tsingtau und in den englischen Zeitungen etwas gemerkt). Durch die Mitwirkung der Chinesen, so meinte er, würde die deutsche Souveränität im Schutzgebiet verletzt, das Verbot religiöser Propaganda sei eine Preisgabe unserer höchsten Kulturinteressen, und im übrigen werde sich außerhalb des Schutzgebietes kein Chinese um die Anstalt kümmern, „das Kind werde sehr bald an Entkräftung eingehen." Der Unmut über dieses aus einer Ehe ohne gouvernementalen Segen hervorgegangene Kind war so groß, daß selbst der Gouverneur von Sdiantung, wie mir dieser bald danach in Tsinanfu mitteilte, dagegen mobil gemacht werden sollte. Zum Glück wußte " i

ich, wer in der Person des Admirals von Tirpitz hinter mir stand. Ich hielt midi f ü r verpflichtet, ihm von den Äußerungen des Gouverneurs von Schantung Kenntnis zu geben, worauf die Folgen nicht ausgeblieben sind. Ein besonders f r o m m e r und eifriger Leiter einer deutschen Mission in Tsingtau schleuderte nach der Wegnahme Kiaotschous durch die Japaner 1914 seinen Bannfluch über das gottlose Gewese in Tsingtau, das seinen Ausdruck in dem religionslosen Verhalten „eines hier durchreisenden Kommissars" gefunden und nun die Strafe Gottes heraufbeschworen habe. Ob diese heilige Einfalt auch unter dem Einfluß der Gegnerschaft des Gouverneurs seinen Zorn ausgoß, weiß ich nicht. Eigentlich hätte er 1914 wissen müssen, daß die düsteren Voraussagen des Gouverneurs inzwischen durch die Wirklichkeit Lügen gestraft waren. Da die neuen Gebäude f ü r die Anstalt, die, wie alle derartigen chinesischen Schulen, Internat sein mußte, erst noch zu schaffen waren, so brachte man die Anstalt vorläufig in einer ehemaligen Kaserne unter. Bei der Eröffnung wurden sogleich 1 1 0 Schüler aufgenommen, die größte Anzahl, die in dem provisorischen Gebäude untergebracht werden konnte. Die Pläne f ü r die neuen Häuser mußten schon während des Baues mit Rücksicht auf den A n drang aus den Provinzen erweitert werden, so daß statt der anfänglich berechneten 3oo 000 Mark an einmaligen und 75 000 Mark an laufenden Ausgaben, 640 000 Mark und 200 000 Mark vom Reichstage gefordert werden mußten. Die neue Vorlage f a n d im Reichstage volles Verständnis, die Forderungen wurden ohne erhebliche Debatte bewilligt. Die Anstalt hat sich glänzend entwickelt und sie würde, wenn sie uns erhalten geblieben wäre, ein wichtiger Stützpunkt deutscher Wissenschaft und Kultur unter einem fremden Volk geworden sein. (Ich habe über die Entstehung der deutsch-chinesischen Hochschule von Tsingtau ausführlich in meinen „Ostasiatischen Neubildungen" [ 1 9 1 1 ] berichtet.) Nachdem ich meine Arbeit in China abgeschlossen hatte, benutzte ich einen mir gewährten sechswöchigen Urlaub dazu, um einige moderne, mit fremder H i l f e eingerichtete Schulen in der Provinz Schantung zu besichtigen und daran eine Reise durch einige mir geschichtlich wichtige Teile von Schansi anzufügen. Baurat Strasser vom Gouvernement schloß sich mir als willkommener Begleiter an. Dabei konnten wir von einigen in der Zwischenzeit neu gebauten Eisenbahnlinien Gebrauch machen, wodurch uns eine erfreuliche Zeitersparnis erwuchs. Wir fuhren von Tsingtau um die Bucht von Kiaotschou über die Stadt gleichen Namens nach Tsi-nan, wo ich dem Gouverneur meinen Besuch machte, um auch mit ihm die Schulpläne zu besprechen, dann nach Überschreitung des H u a n g ho auf sehr sinnvollen Fähren mit Maultierkarren bis zur Stadt Schun-te fu, einer Station der damals vor kurzem beendeten großen Linie Peking—Hankou, und von hier wiederum mit der neuen Bahn über das die Provinz Schansi im Osten abschließende Grenzgebirge nach der auf dem inneren Hochplateau liegenden H a u p t s t a d t T'ai-yuan f u , die in den endlosen Kämpfen des 10. bis 12. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt hat. D a n n wandten wir uns nach N o r d e n dem bis zu einer H ö h e von über 3000 m an126

steigenden berühmten Gebirge Wu-t'ai sdian zu, dem eigentlichen Ziel meiner Reise. Die Berge und Täler beherbergen eine große Zahl lamaïstischer Klöster und Heiligtümer jeglicher Größe mit außerordentlich interessanten Kultbauten, die besonders während der Mongolenzeit im 13. und 14. Jahrhundert entstanden sind. Von dort ging es mit Packtieren fast immer zu Fuß nach Osten durch das schwer zu passierende Gebirgsland, dessen Höhen durch den inneren Zweig der Großen Mauer und dessen vielfache östliche Verzweigungen noch unzugänglicher gemacht werden, zu den Si ling, den mächtigen Grabstätten einiger Kaiser der Mandschu-Dynastie. Von hier aus erreichten wir in kurzer Zeit wieder die Peking-Hankou-Bahn und kehrten auf dieser nach Peking zurück. Inzwischen war es Ende Oktober geworden, und idi mußte mich schleunigst zur Heimkehr rüsten, wenn ich bis zum Weihnachtsfeste daheim sein wollte. Nach kurzem Abschied fuhr idi mit der Peking-Hankou-Bahn nach Süden und erreichte Hankou am Yangtse nach drei Tagen. Hier konnte ich noch in dem benachbarten Wu-tsdi'ang meinem späteren Kollegen Herrn Haenisch einen kurzen Besuch machen und fuhr dann mit dem Dampfer wieder einmal Yangtse-abwärts nach Nanking, von dort mit der Bahn nach Schanghai. China war wirklich im Begriff, ein anderes Land zu werden; ich hatte es 1901 nicht für möglich gehalten, daß diese Umwandlung sich in solchem Tempo volTziehen würde. Am 14. November schiffte ich midi auf dem Lloyd-Dampfer „Kleist" ein; als idi an Bord ging, kam die Nachricht, daß der unglückliche Kaiser Kuang-sü und wenige Stunden danach die Kaiserin-Regentin gestorben seien, zwei in ihrer Gleichzeitigkeit ominöse Todesfälle, deren Zusammenhang vorläufig noch dunkel ist, die aber der letzte Anstoß zu den großen Umwälzungen in China geworden sind. Die Heimreise verlief ohne Zwischenfall. In Colombo auf Ceylon fand idi unerwarteterweise Professor Pisdiel vor, der eben im Begriffe stand, nach Indien abzufahren, wo er sich zu einer Reihe von Vorträgen verpflichtet hatte. Ich wußte von diesem Vorhaben, ahnte aber nicht, daß er bereits unterwegs sei. Er hatte sich auf der Reise ein eitriges Geschwür im Ohr zugezogen und litt heftige Schmerzen. Auf die dringenden Mahnungen, sich in Colombo zunächst auszuheilen, wollte er nicht eingehen; ich hatte das Gefühl, einen schwer kranken Mann vor mir zu haben. In der Tat ist er audi von seiner Indienfahrt nicht mehr zurückgekehrt. Er starb, bald nachdem er das Land seiner Sehnsucht zum erstenmal betreten hatte, in Madras. Am 14. Dezember trafen wir in Genua ein, am 16. war idi in Berlin bei den Meinigen. Der Staatssekretär empfing mich aufs freundlichste und sprach mir seine Genugtuung aus über das Erreichte. Leider mußte ich dem von mir besonders verehrten Manne, dessen politische Auffassungen auch die meinigen waren, eine schwere Enttäuschung bereiten. Er drang in midi, nun ganz in die Dienste des Reichsmarineamts zu treten und die Leitung der neuen Hochschule in

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Tsingtau zu übernehmen. Idi habe midi hierzu nicht entschließen können: der Schritt würde eine abermalige Trennung von meiner Familie, mindestens von meinen Kindern, bedeutet haben; außerdem aber — und dieser Grund wog noch schwerer — wollte ich mich nun endlich der Wissenschaft und der akademischen Tätigkeit widmen, an die ich nun einmal mein Herz verschenkt hatte. Tirpitz hat mir wegen meiner Absage lange gegrollt, war aber, als ich ihn nach dem ersten Weltkriege mit meiner Frau in St. Blasien besuchte, völlig ausgesöhnt.

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Vili. Akademische Wirksamkeit Hamburg ι Kolonialinstitut und Universität Wenige Tage nach meiner Rückkehr traf von Madras die Nachricht vom Tode Pischels ein. Idi war tief erschüttert über diesen Ausgang seiner Reise, der er mit so freudiger Erregung entgegengesehen hatte, und wußte seiner Frau und seinen Söhnen wenig Tröstliches zu sagen. Ich habe in dem pflichttreuen Manne einen warmen, immer hilfsbereiten Freund verloren und bewahre ihm ein dankbares Gedenken. Mich selbst hätte gleich danach beinahe dasselbe Schicksal getroffen. Durch die leichtfertige Operation eines unfähigen Arztes in Dresden, wohin wir nur für die Weihnachtstage gereist waren, hatte idi mir eine Wundrose mit Blutvergiftung zugezogen, die mich am Ende des Jahres 1908 in einen anscheinend hoffnungslosen Zustand brachte. Wie durch ein Wunder überstand ich in der Neujahrsnacht die entscheidende Krisis, gewann aber erst nach einer längeren Rekonvaleszentenzeit die alten Kräfte wieder. Unter diesen Umständen wagte ich nicht, Vorlesungen für das Sommersemester anzukündigen, zumal ich noch nicht übersehen konnte, wie lange meine Tätigkeit im Reichsmarineamt noch in Anspruch genommen würde. Nachdem aber die Leitung der neuen Hochschule in Tsingtau meinen Vorschlägen entsprechend geregelt war, wurde meine Verwendung mit dem 31. März 1909 auf meinen Antrag für abgeschlossen erklärt. Ich war wieder frei für die akademische Tätigkeit, und schneller, als ich erwartet, forderte sie mich zum Einsatz. Im Juni suchte mich ein Rat der Hamburgischen Oberschulbehörde auf und bot mir das eben neu errichtete Ordinariat für Sinologie am dortigen Kolonialinstitut und Allgemeinen Vorlesungswesen an. Ich war völlig überrascht und bat mir zunächst Bedenkzeit aus. An sich lockte mich der Gedanke, nach Hamburg zu gehen, zunächst nicht. Hamburg ist eine Stadt, so hieß es allgemein, in der viel Geld verdient wird, wo man behaglich lebt und gut ißt und trinkt, wo aber für geistige Interessen kein Raum bleibt. Meine Frau war zwar selbst Hamburgerin, trotzdem teilte ich diese Ansicht und nahm daher an, daß die neue Professur in erster Linie sogenannten praktischen Zwecken. dienen sollte, d. h. daß der zu berufende Sinologe ein paar jungen Kaufleuten die Elemente der chinesischen Sprache beibringen und im „Vorlesungswesen" populäre Vorträge halten sollte. Viele meiner Kollegen teilten meine Ansicht. „Was wollen Sie in der Mammonstadt?" schrieb mir einer von ihnen, und ich fragte mich dasselbe. Ich zog es vor, als Privatdozent in Berlin zu bleiben und zu warten, daß die Verhältnisse an 9 Franke, Erinnerungen

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den Universitäten für meine Wissenschaft günstigere würden. Der sinologische Lehrstuhl in Berlin war nach Grabes Tod 1908 verwaist, die Fakultät hatte mich in meiner Abwesenheit als Nachfolger vorgeschlagen, aber das Kultusministerium verfolgte offenbar seine eigenen Pläne. Ich gab der Fakultät von meiner Berufung Kenntnis und ließ das Ministerium wissen, daß ich, wenn mir ein Extraordinariat mit der üblichen Besoldung (in Preußen etwa 6000 M.) verliehen würde, den Ruf ablehnen würde. Das Ministerium, das in diesem Verlangen wohl einen Ausbruch von Größenwahn sah, würdigte mich keiner Antwort. Schon aus Trotz sagte ich hierauf in Hamburg zu. Ursprünglich hatte ich mir ausbedungen, erst mit dem Sommersemester 1910 meine Tätigkeit aufzunehmen, wurde dann aber dringend gebeten, schon am 1. Januar damit zu beginnen. Ein Jahr später, 1 9 1 1 , wurde De Groot von Leiden auf das für ihn neu geschaffene Ordinariat für Sinologie mit einem sehr hohen Gehalt nach Berlin berufen und ein sinologisches Seminar für ihn eingerichtet. Immer von neuem habe ich dem preußischen Kultusministerium innerlich gedankt für seine Haltung, durch die es mir zu einem ganz besonders ereignisvollen, lehrreichen und im Grunde vollauf befriedigenden Lebensabschnitt verholfen hat. Meine Tätigkeit am Kolonialinstitut, am „Vorlesungswesen" und später an der Universität gestaltete sich ganz anders, als ich gefürchtet hatte, die geästige Atmosphäre von Hamburg war völlig verschieden von dem, was man in Deutschland oberflächlicherweise über sie zu reden pflegte, und der Verkehr mit den welterfahrenen und weltmännisch gesinnten Kaufherren, von denen nicht wenige uns in herzlicher Weise ihre Häuser öffneten, war mir nicht bloß eine Quelle reicher Belehrung, sondern audi menschlich oft ein hoher Genuß. Von den chinesischen Häfen her waren mir die kaufmännischen Interessenkreise und ihre Bearbeitung bekannt, aber was ich dort oft an Aufgeschlossenheit und tieferer Kultiviertheit vermißt hatte, das fand ich in Hamburg in weitem Umfange. Wie es sich aber mit den geistigen Interessen verhielt, das zeigte die Entstehungsgeschichte des Kolonialinstituts, des Allgemeinen Vorlesungswesens und der Universität besonders deutlich. Die Hamburger Universitätspläne, die gerade von der Zeit meiner Berufung an während der nächsten zehn Jahre in Hamburg wie auch außerhalb lebhaft erörtert wurden, waren nur eine Wiederaufnahme einer mehr als sechzig Jahre alten Tradition, die aber für lange Zeit in Vergessenheit geraten war. Im Jahre 1891 war ein Hamburger Jurist, Werner von Melle, zum Syndikus des Hamburgischen Senats und zum Präsidialmitglied der Hamburgischen Oberschulbehörde gewählt worden. Dieser Mann war es, der mit einer durch keine Hemmung und Widerstände zu lähmenden Beharrlichkeit der geistigen Trägheit führender Schichten ein Ende machte, seiner großen Vaterstadt eine ihrer würdige wissenschaftliche Organisation bereitete und ihren alten Ruf als geistige Metropole des Nordens wiederherstellte. Die ersten Jahre seiner amtlichen Tätigkeit widmete von Melle der weitgehenden Förderung und Konsolidierung der Wissenschaftlichen Anstalten und des Allgemeinen Vorlesungswesens. Als er 1900 zum Senator gewählt und 1904 zum Präses der Oberschulbehörde, insbesondere 130

audi der Sektion für die Wissenschaftlichen Anstalten berufen wurde, war die Entwicklung so weit fortgeschritten, daß sich als Ziel die Hochschule von selbst einzustellen schien. Am 2i. Januar 1908 wurde in Berlin der Entwurf eines Abkommens vereinbart, nach dem sich das neu zu errichtende Kolonialinstitut „an die Hamburgischen Wissenschaftlichen Anstalten und das Vorlesungswesen anschließen" sollte. Zweck des Instituts sollte sein: die gemeinsame Vorbildung von Beamten und anderen Personen, die in die deutschen Schutzgebiete zu gehen beabsichtigten, und „die Schaffung einer Zentralstelle, in der sich alle wissenschaftlichen und wirtschaftlichen kolonialen Bestrebungen konzentrieren können". Diese Zentralstelle wurde Franz Stuhlmann, einem alten Afrikaner von großem Wissen und reicher Erfahrung anvertraut. Er war ein ausgezeichneter Gelehrter, ein praktischer Organisator und ein vortrefflicher, liebenswerter Mensch. Bei seinen weltumspannenden Kenntnissen und Erfahrungen wie bei seinem Interesse für alles, auch für mein ihm ursprünglich fernliegendes Wissensgebiet, war es stets ein Genuß, sich mit dem äußerst zurückhaltenden und bescheidenen Manne zu unterhalten. Ich bin rasch mit ihm befreundet geworden. Sehr bald, schon im ersten Semester 1908/09 stellte sich heraus, daß für die unmittelbaren Bedürfnisse des Kolonialinstituts außer den sechs bestehenden vor allem noch zwei ständige Professuren, und zwar sogleich, erforderlich waren: für afrikanische Sprachen und für Ostasienkunde. Die letzte wurde klugerweise gleich eingeschränkt auf die Kunde von China, der Wiege der ostasiatischen Kultur. Auf die afrikanische Professur wurde Meinhof vom Orientalischen Seminar berufen, auf die sinologische idi. Beide waren die ersten ihrer Art in Deutschland und haben auf das preußische Kultusministerium stärker gewirkt als alle Werbereden und Kongreßbeschlüsse, zumal in den Fakultäten hinsichtlich dieser Wissensgebiete nodi völliges Dunkel herrschte. Ein Jahr später wurde der Berliner Universität ihr Ordinariat für Sinologie vom Ministerium zugewiesen. Das Gebiet meines Lehrauftrages hatte idi selbst als „Sprache und Kultur Chinas" bezeichnet, um anzudeuten, daß das Fundament philologisch sein solle, daß ich aber auf diesem Fundament höher in die Bereiche der chinesischen Gesamtkultur hinaufbauen wolle. Gleich zu Beginn wurde mir ein gut dotiertes Seminar zur Verfügung gestellt, in dem ich einen deutschen und einen chinesischen Assistenten halten konnte. Auf meinen im Februar gestellten Antrag wurde mir bereits im Juli von der Bürgerschaft ein Betrag von 20 000 M. bewilligt zum Ankauf chinesischer Werke in China. Noch in letzter Stunde vor Ausbruch des Krieges konnte ich die erworbenen Schätze im Seminar bergen. Manche Kostbarkeiten waren darunter, z. B. ein Exemplar der großen Ausgabe des T'u-schu tsi-tsch'ng, von der ich früher gesprochen habe (s. S. 123), mehrere Bände der alten Sammlung Yung-lo ta tien, ein japanisch-chinesisches Tripitaka u. a. Damit war für die Seminarbibliothek ein Grundstock gelegt, mit dem auch meine Nachfolger zufrieden sein konnten. Meine Vorlesungstätigkeit war nicht auf das Kolonialinstitut beschränkt, sondern gehörte auch, wie die 9'

aller anderen berufenen ständigen Professoren, dem Allgemeinen Vorlesungswesen. Letztes Ziel blieb natürlich für Senator von Melle das Zusammenfassen des Ganzen zu einer einheitlichen Anstalt, die nach allem, was wir bisher gesehen haben, in Hamburg nur die Universität sein konnte. Aber bis dieses Ziel erreicht war, hat es noch einer Unsumme von Beratungen und Kämpfen gegen Widerstände und Intriguen bedurft, und auch dann war das Erreichte mit überflüssigen Hemmungen belastet. Die weitere Gründungsgeschichte der Hamburgischen Universität ist ein nicht durchweg erfreuliches Kapitel. Unkenntnis, Starrsinn, Selbstsucht und Unverstand haben hier ihre unheilvolle Rolle gespielt, bis sie von dem unabwendbaren Wandel der Zeit beiseite geschoben oder überrannt wurden. Ich will hier den dornenvollen Weg nicht verfolgen. Herr von Melle hat die Vorgänge im einzelnen dargestellt in seinem Werke „Dreißig Jahre Hamburger Wissenschaft 1 8 9 1 — 1 9 2 1 " (2 Bde. Hamburg 1923/24). Herr von Melle wie auch andere hervorragende Mitglieder des Senats waren der Ansicht, daß, wenn man das von der Bürgerschaft so freudig begrüßte Kolonialinstitut retten wolle, es keinen anderen Weg gäbe als den Ausbau zu einer Universität, zunächst unter Beschränkung auf das Notwendigste, aber unter Hereinnahme des Allgemeinen Vorlesungswesens. Nach eingehenden Besprechungen mit den Professoren arbeitete Senator von Melle auf diesem Gedankenfundament eine umfangreiche Denkschrift f ü r den Senat aus, in der die Errichtung einer Universität vorgeschlagen wurde. Diese sehr inhaltreiche Denkschrift wurde am 17. Februar 1 9 1 1 dem Senat vorgelegt und von ihm gebilligt. Die Bürgerschaft stand im ganzen den Universitätsplänen nicht bloß mißtrauisch, sondern absolut feindselig gegenüber, und wie sich bald zeigte, war der größte Teil der Bevölkerung derselben Gesinnung. Das durfte indessen keinesfalls den Senat veranlassen, die Segel zu streichen: er hatte seine Entscheidung nach sehr gründlichen Überlegungen getroffen, hatte erkannt, daß es, wenn der Vaterstadt das Gewonnene erhalten werden sollte, einen anderen Weg nicht gab, und so mußte die Bürgerschaft gezwungen werden, sich endgültig zu erklären, ob sie diesen Weg gehen wolle oder nicht. Zu diesem Zwecke wurde auf der Grundlage der Denkschrift ein Senatsantrag „betreffend Ausbau des Kolonialinstituts und des Allgemeinen Vorlesungswesens zu einer Universität" ausgearbeitet, der ganz bestimmte Forderungen stellte und gesetzliche Bestimmungen vorsah. So war schließlich der aus der Universitätsdenkschrift von 1 9 1 1 hervorgegangene Senatsantrag ein sehr umfangreiches und bis in alle Einzelheiten durchgearbeitetes Schriftstück geworden. Es trug das Datum des 20. Dezember 1 9 1 2 und ging nunmehr an die Bürgerschaft. Damit war der Fehdehandschuh geworfen, und der Kampf entbrannte alsbald auf der ganzen Linie mit einer für Hamburg unerhörten Heftigkeit. Ich war 1 9 1 2 zum Vorsitzenden des Professorenrates für die nächsten zwei Jahre gewählt worden und wurde mir bald klar darüber, daß ich dem Sturm an exponierter Stelle ausgesetzt sein würde, denn er fuhr rüttelnd bis in die Kreise des Professorenrates und des Professorenkonvents hinein. In einer Flut

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von Zeitungsartikeln und Schreiben an die Schriftleitungen, in Kundgebungen und Versammlungen, Resolutionen und Protesten brachten sich Für und Wider lärmend zu Gehör, bis in die Familien hinein brandete die Flut, und auf den berühmten Hamburger Familientagen erhitzten sich die Gemüter an der brennenden Frage der Zeit: Für oder gegen die Universität? Die Wogen der allgemeinen Aufregung schlugen schließlich bis in unsere Kreise hinein. Mehrere Mitglieder des Professorenrats und des Professorenkonvents, die seit langem ihre großen Institute, wie Sternwarte, Zoologisches Institut u. a. hatten, waren keineswegs erbaut von der Aussicht, Kollegs halten und Seminarübungen einrichten zu sollen, weil sie dadurch und durch die Arbeit, die eine Universität sonst noch mit sich bringt, von ihrer Forschertätigkeit abgezogen würden. Sie zogen das stille Gelehrtenleben, das sie bisher geführt, dem unruhigen Studentengetriebe vor. So stellten sie mit großer Energie die Forderung auf, daß man auf die Einrichtung neuer und Erweiterung der alten Forschungsinstitute hinwirken, körperschaftlich jedoch nicht für die Universität eintreten solle. Die Erörterungen hierüber nahmen immer lebhaftere Formen an, und da ich es kategorisch ablehnte, diesen Anschauungen beizutreten, so sprachen mir die Frondeure ihr Mißtrauen aus. Ich nahm das mit großer Kühle zur Kenntnis, ließ es midi aber nicht im geringsten anfechten, da ich die große Mehrheit meiner Kollegen hinter mir wußte. Für mich selbst hatte der Gedanke eines sinologischen Forschungsinstitutes manches Verlockende, was ich auch Herrn von Melle gegenüber einmal ausgesprochen hatte, aber ich würde es für verantwortungslose Selbstsucht gehalten haben, wenn ich davon meine Stellung zu der ganzen Universitätsfrage hätte abhängig machen wollen. Die Lage war jetzt so, daß es für Hamburg nur zwei Möglichkeiten gab: entweder das, was bisher mit viel Mühe und Kosten in den Wissenschaftlichen Anstalten, dem Vorlesungswesen und dem Kolonialinstitut geschaffen war, aufzugeben (sofern man es nicht vorzog, es einem unrühmlichen Verfall zu überlassen), oder es durch Gründung einer Universität in den großen, lebensvollen Organismus des deutschen Bildungswesens einzufügen. Hamburg stand in der Tat am Scheidewege seiner inneren Entwicklung. Für diese Überzeugung habe ich mich nach genauer Kenntnis der Dinge vom Anfang bis zum Ende eingesetzt, und es war mir eine schmerzliche Überraschung, daß es Gelehrte unter uns gab, denen ihr Einzelinstitut und ihr Ruhebedürfnis wichtiger waren als diese geistige Lebensfrage der großen Stadt. Nach den Umständen zu urteilen, war das Schicksal der Universitätsvorlage zum wenigsten ein sehr unsicheres. Zu allen sonstigen Widrigkeiten war im September 1 9 1 2 der plötzliche Tod des Bürgermeisters Burchard gekommen. Dieser ungewöhnliche Mann, dessen warmes Interesse für mein Arbeitsgebiet mir ebenso unvergeßlich geblieben ist wie seine Freundlichkeit, Herzensgüte und echte Vornehmheit, war unzweifelhaft der geistige und politische Führer von Hamburg gewesen. „Königlicher als alle deutschen Fürsten", sagte einmal ein ausländischer Seeoffizier, bezaubert von der großen, eleganten Erscheinung mit den klugen Augen und dem gütigen Lächeln. Bürgermeister Burchard war

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aber neben Herrn v. Melle der entschiedenste Vertreter des Universitätsgedankens im Senat, und wäre er am Leben geblieben, so wäre bei dem außerordentlichen Einfluß, der ihm zu Gebote stand, in der Folgezeit vielleicht manches anders gekommen, als es der Fall war. Am 8. Oktober 1 9 1 3 begannen die Verhandlungen in der Bürgerschaft und dauerten vier Tage. Neues wurde in den vielen langen Reden kaum noch vorgebracht. Das Ergebnis war niederschmetternd. Man hatte einen Antrag auf Ablehnung der Vorlage gestellt, daran war dann ein weiterer gehängt, dahingehend, daß die Bürgerschaft einen Ausschuß einsetzen möge „zur Prüfung der Frage, in welcher Weise, unter fortgesetzter Ausbildung des Vorlesungswesens, der weitere Ausbau des Hamburgischen Kolonialinstituts als einer selbständigen, der Forschung, der Lehre und der praktischen Ausbildung gewidmeten Anstalt mit tunlicher Beschleunigung und dauernd ermöglicht werden könne". In namentlicher Abstimmung wurde die Senatsvorlage mit 80 gegen 73 Stimmen abgelehnt, der Antrag angenommen. Am 5. November 1 9 1 3 trat der Ausschuß zusammen. Der Senat entsandte als seine Kommissare außer Herrn v. Melle noch vier andere von seinen Mitgliedern, ferner meinen botanischen Kollegen, Professor Hans Winkler und mich. Die Verhandlungen zogen sich durch Monate hin, sämtliche Professoren wurden eingehend gehört, auswärtige Gelehrte zum Vortrag herangezogen, Gutachten eingeholt und jede Einzelheit in der Erörterung geklärt. Die Meinungsäußerungen der Hamburger wie der auswärtigen Gelehrten liefen im ganzen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf dasselbe hinaus: nur die Universität kann alle Hindernisse der Entwicklung beseitigen. Ausnahmen bildeten der Geograph S. Passarge, der Direktor des Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten B. Nocht und der damalige Direktor des Eppendorfer Krankenhauses L. Brauer sowie der Philosoph E. Meumann. Sie traten sämtlich für Forschungsinstitute ein, was sich aus den Beweggründen erklärt, die ich erwähnt habe (s. oben). Der Gutachten von Brauer und Meumann muß noch mit einigen Worten besonders gedacht werden. Beide hatten in der auswärtigen Kollegenschaft durch Rundschreiben Meinungsäußerungen über eine Hamburgische Universität eingesammelt und legten diese nunmehr vor. Sie hatten, ihren Angaben zufolge, fast durchweg die Antworten erhalten, die sie wünschten (wenigstens wurden nur solche vorgelegt), und ich kann davon nur sagen, daß ich betroffen war ob dieser Masse von allgemeinem Gerede, dem auch nicht eine Spur von Orts- und Sachkenntnis anhaftete. Es war der erste Stoß, den ich erhielt in meinen Erfahrungen mit Universitätsprofessoren in Mengen. Ich habe später noch mehr erlebt. Der Ausschuß legte mit gutem Grunde diesem Material gar keinen Wert bei. Die Beratungen des Ausschusses — es fanden mehr als 40 Sitzungen statt — schleppten sich von Monat zu Monat hin und begannen schließlich alle Beteiligten zu ermüden, zumal ein positives Ergebnis noch immer nicht zu erblicken war. Am I i . Juli 1914 vertagte sich der Ausschuß bis zum September; inzwischen brach der Krieg aus und blies das ganze Beratungsgremium auseinander wie ein Sturmwind einen Haufen Spreu.

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Jetzt galt es andere Aufgaben zu lösen als die Unbelehrbaren aus dem dunklen Zimmer zu führen. Meine Teilnahme am Krieg kam wegen meines Alters nidit in Frage, obwohl idi mich körperlich noch durchaus imstande dazu fühlte. Herr v. Melle bat midi aber dringend, auf meinem Platze zu bleiben, und so suchte ich mich einstweilen daheim nützlich zu machen, so gut ich es vermochte. Idi hatte aus ähnlichen Erwägungen kurz vorher einen Ruf an die Universität Leiden in Holland als Nachfolger De Groots ausgeschlagen, obwohl mir der ermüdende Kampf gegen die Widerhaarigkeit unserer Gegner den Entschluß nicht leicht machte. Es schien mir aber eine unabweisliche Pflicht zu sein, meine Hamburger Freunde jetzt nicht im Stich zu lassen und zu der wissenschaftlichen Lebensfrage weiter zu stehen bis zum Ende. Ich wurde in die jetzt zusammentretende „Hamburger Kriegshilfe" gewählt, ein unter dem Vorsitze eines Senators ständig tagendes Gremium, dem es oblag, überall helfend und ratend einzugreifen, wo der Krieg Wunden schlug oder schwierige Lagen schuf. Die Tätigkeit nahm vorläufig den größten Teil meiner Zeit in Anspruch. Erst im März 1917 sah sich der Ausschuß genötigt, seine Beratungen wieder aufzunehmen, weniger aus eigenem Entschluß als infolge der inzwischen eingetretenen Entwicklung. Im Januar 1917 hatte der von Bonn in das Preußische Kultusministerium berufene Professor Becker seine „Denkschrift über die Förderung der Auslandsstudien" ausgearbeitet und sowohl im Abgeordnetenhause als audi im Reichstage hatte sie eine sehr günstige Aufnahme gefunden. In einem Aufsatze in der Kölnischen Zeitung hatte idi mich weiter darüber geäußert, wodurch sie weiteren Kreisen bekannt geworden war. Jetzt sah man allerseits ein, daß nun, wo die preußischen Universitäten sich der Sache annahmen, für Hamburg der letzte Augenblick gekommen sei, sich zu einem Entschluß durchzuringen, wenn es nicht völlig an die Wand gedrückt werden wollte. Im Plenum der Bürgerschaft war deshalb die Frage gestellt, wie es mit den Arbeiten des Hodischulaussdiusses stände, worauf dieser nach dreijähriger Pause wieder zusammentrat. Nach langen, umständlichen Verhandlungen wurde schließlich am 16. Februar 1919 der Entwurf eines „Vorläufigen Gesetzes über die Hamburgische Universität und Volkshochschule" als Antrag dem Plenum der Bürgerschaft zur Beratung und Genehmigung vorgelegt. Das Ergebnis war nach einer Reihe langer und meist geschickter, zum Teil ausgezeichneter Reden die Ablehnung des Antrages mit Stimmengleichheit. Also wiederum eine Niederlage des wissenschaftlichen Geistes, der durch die Schicht des Philistertums hindurch zum Lichte strebte. Aber die Niederlage war nur scheinbar. Was hier geschah, war der unrühmliche Abgang der letzten Vertreter einer versinkenden Zeit. Junges Leben drängte welkes Alter zur Seite. Die Revolution vom November 1918 brachte auch für Hamburg u.a. das allgemeine Wahlrecht für die Bürgerschaft sowie die Wahl der Senatoren durch die Bürgerschaft und auch nur für so lange, wie sie deren Vertrauen genossen. Herr v. Melle wurde wieder zum ersten Bürgermeister gewählt. Am 24. März 1919 trat die neue Bürgerschaft zusammen, am 26. März wurde ein neuer UniI

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versitätsantrag eingebracht, der nahezu wörtlich mit dem wenige Wochen vorher abgelehnten übereinstimmte. Ohne daß noch einmal eine Ausschußberatung zugelassen wurde, wurde er beinahe einstimmig — nur einige wenige waren dagegen — angenommen. Die Hamburgische Universität war gegründet. Am io. Mai 1 9 1 9 wurde sie mit einem öffentlichen Festakt feierlich eröffnet. Dieser lange Kampf um die Hamburgische Universität, der schließlich mit ihrem Siege endete, hat einen außerordentlich bitteren Nachgeschmack hinterlassen. War es mir schon schmerzlich, daß wir dank der Unbelehrbarkeit gewisser Kreise die Universität erst aus der Hand der Revolution entgegennehmen konnten, so hat mich noch weit mehr die krasse Undankbarkeit erbittert, mit der man den Mann behandelt hat, durch den allein jener Sieg ermöglicht worden ist. Im Februar 1921 erfuhr Bürgermeister v. Melle durdi das sozialdemokratische Parteiblatt, daß er Ende März aus dem Senat auszuscheiden habe, seine Tätigkeit im Dienste des Hamburgischen Staates wurde nicht mehr benötigt. Über die Gründe für dieses schmachvolle Verfahren brauche ich mich hier nicht zu äußern, aber mir war die Freude an dem Errungenen für eine lange Zeit vergällt. In dem Bürgersdiaftlichen Ausschuß hatte ich dem Universitätsproblem einmal die Fassung gegeben: Es ist gut für Hamburg, wenn es eine Deutsche Universität bekommt, und es ist gut für Deutschland, wenn es eine Hamburgische Universität bekommt. Hamburgs geistigem Zollanschluß sollte Inner-Deutschlands Anschluß an das Weltmeer entsprechen. Das war auch die leitende Idee Werner v. Melles, und ihr hat er in einem drei Jahrzehnte währenden Ringen durch seine Klugheit, Geschicklichkeit und niemals nachlassende Zähigkeit zum Siege verholfen, seiner Vaterstadt zum Ruhme, ihm selbst zur dauernden Ehre. Sein großes Werk ist zwar sein schönstes Denkmal, aber hoffentlich werden auch Stein und Erz nodi einmal seinen Namen künftigen Geschlechtern überliefern. Bürgermeister v. Melle ist am 18. Februar 1937 gestorben. Er hat seine persönlichen Erinnerungen in dem erwähnten, umfangreichen Werke „Dreißig Jahre Hamburger Wissenschaft 1 8 9 1 — 1 9 2 1 " niedergelegt, das midi oftmals durch das Gedenken an die gemeinsame Tätigkeit bewegt hat. Diese Tätigkeit bildet einen wichtigen Teil meines Lebensinhaltes.

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IX. Akademische

Wirksamkeit

Hamburg 2 Wissenschaft und Leben Das mit meiner Professur verbundene Seminar für Sprache und Kultur Chinas wurde zunächst, wie verschiedene andere Seminare audi, in einem alten und etwas baufälligen Hause in der Dammtorstraße am Gänsemarkt, das jetzt abgerissen ist, untergebracht, bis es 1911 in dem neuen Vorlesungsgebäude sehr schöne Räume in unmittelbarer Nachbarschaft der Seminare für Kultur und Geschichte des Orients (Islamkunde) und für Sprache und Kultur Japans erhielt. Ich mußte natürlich ganz neu aufbauen; da mir aber ausreichende Geldmittel zur Verfügung gestellt waren, so machte mir die Herrichtung viel Freude. Wissenschaftliche Hörer für Übungen waren z w a r vorläufig nicht zu erwarten, und was sich allmählich einstellte, waren meist junge Leute aus anderen Berufen, die, sei es aus Neugierde, sei es aus einem anderen besonderen Beweggrunde, einmal Chinesisch lernen wollten, oder ein paar Damen, die für Lao tsë und chinesische lyrische Gedichte schwärmten, oder Kunstbeflissene, die der damals eben in Mode kommenden chinesischen Kunstgeschichte mit dem Jargon ihrer Kunstbetrachtung zu Leibe gehen und diese mit einigen chinesischen Ausdrücken zu garnieren wünschten; sie alle ergriffen aber entsetzt die Flucht, wenn sie auf die ersten ernsten Schwierigkeiten stießen. Ein wirklicher Adept der Sinologie war eine seltene Ausnahme. Erst 1919, nachdem der Krieg beendet und die Universität errichtet war, konnte auf eine Änderung dieses Zustandes gerechnet werden. Dagegen gab das Allgemeine Vorlesungswesen selbst während des Krieges günstige Gelegenheit, zu einem größeren Kreise zu sprechen. Und zwar waren die Vorträge durchaus nicht etwa auf ein sogenanntes „populäres" Niveau gedrückt: Idi habe meinen Zuhörern nichts geschenkt, und manche meiner Hamburger Vorlesungen habe ich später, nur wenig ergänzt, in Berlin vor Studenten gehalten. Wie aber die Aufnahmewilligkeit an beiden Plätzen war, zeigt die Tatsache, daß ich in Hamburg 2—300 Hörer hatte, später in Berlin aber bei derselben Vorlesung kaum den zehnten Teil. Bei meinem Nachforschen nach der Ursache habe ich allerdings immer feststellen können, daß es in den zwanziger Jahren den Studenten wegen Zeitmangels schlechterdings unmöglich war, Vorlesungen zu hören, die nicht unmittelbar zu ihrem Studienplane gehörten. Es war die Zeit des Werkstudententums. Bei der Anlage der Seminarbibliothek war ich in der glücklichen Lage, frei, d. h. ungehindert durch Tradition, Zweckbestimmungen oder Rüdcsidit auf

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andere Bibliotheken schalten zu können. Die sonst vortreffliche Stadtbibliothek unter ihrem leider zu früh verstorbenen, als Gelehrter wie als Mensch gleich hervorragenden Direktor Munzel, hatte sich bisher um Sinologie nicht kümmern können, sie überließ mir deshalb dieses Gebiet ganz und unterstützte mich sogar durch Leihgaben von Werken, die für meinen Haushalt zu teuer waren und deshalb von ihr angeschafft wurden. Auf der anderen Seite brauchte ich nicht alte Bestände mitzuschleppen, die in der Vergangenheit wahllos und ohne viel Sachkenntnis erworben waren, wie die Gelegenheit es mit sich brachte, und die oft den Platz nicht wert sind, auf dem sie stehen. So konnte idi nach bestimmtem Plane kaufen, was für ein geordnetes sinologisches Studium in erster Linie notwendig war, und Seltenheiten erwerben, wenn sie wertvoll und preiswert waren. Natürlich übte audi hier der Krieg seine unheilvolle Wirkung. An die Stelle des wissenschaftlichen Wirkens trat zu einem großen Teile die Hingabe an die Forderungen der Zeit. Neben der „Hamburgischen Kriegshilfe" hatte ich an vielen Orten, namentlich an der Wasserkante, Vorträge zu halten über politische und kulturgeschichtliche Fragen, die der Krieg aufgeworfen hatte und auf die jetzt weite Kreise eine Antwort suchten. Es waren außer der Haltung der ostasiatischen Mächte im Kriege und unserm Verhältnis zu ihnen vor allem der englische Imperialismus, das Wesen der englischen Macht, die Beweggründe und Ziele der englischen Politik. Englands Gegensatz gegen Deutschland datiert von dem Zeitpunkt der Reichsgründung, doch blieb er latent, bis die große wirtschaftliche Entwicklung in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzte; die englische Politik ist seitdem von dem Gedanken der Schwächung der deutschen Macht beherrscht gewesen: Im Sommer 1914 wurde der prachtvolle Neubau des Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten am Hafen in Hamburg feierlich eröffnet. Dazu waren auch die Offiziere eines im Hafen liegenden englischen Kreuzers eingeladen. Nach der Besichtigung fuhren wir mit einer Dampfbarkasse die Elbe abwärts durch den Hafen. Als wir an den stolzen Gebäuden entlangglitten, stand einer der Offiziere neben mir und, nachdem er seiner Bewunderung des Gesehenen Ausdruck gegeben hatte, fügte er hinzu: „Some day we shall come and blow this place up!" Ich bedachte in dem Augenblick nicht, wie viel Ernst in der Bemerkung lag, die ich damals nur für dumm und geschmacklos hielt. England war damals das Vorbild für die Hamburgische Gesellschaft, dem jeder richtig erzogene Hamburger nach Vermögen zustrebte, die Lebenshaltung war englisch, man trug sich englisch, hatte englische Tischzeiten und schlug in Hamburg die Hosenbeine auf, weil in London die Straßen schmutzig waren. („Alles albionmäßig abgestempelt, die Beinkleider umgekrempelt", dichtete Fontane.) In einer Herrengesellschaft setzte mir der Chef eines großen Unternehmens auseinander, daß den Hamburgern doch die Engländer innerlich näher ständen als die Süddeutschen. Das war freilich alles vor 1914. Der Krieg und die Zeit danach zeigten, daß die kleinen Schwächen die großen guten Eigenschaften des Deutschen nur verdeckt hatten. Auch die Schmach und die Demütigungen, die sich unter einer kraftlosen Regierung seit 1918 über das wehrlose Land ergossen, wurden nirgends mit größerer Erbitterung aufgenom138

men als in Hamburg. Der Transport der U-Boot-Kommandanten, die als Kriegsverbrecher an das Reichsgericht in Leipzig gesandt werden sollten, stieß in H a m burg auf Schwierigkeiten. Nachdem die mit der Festnahme beauftragte Polizei die Offiziere vergeblich gebeten hatte, vorher sich auf Reisen zu begeben, verweigerte sie schließlich den Gehorsam, und die Offiziere blieben, soweit mir bekannt ist, unbehelligt. Die Revolution, der man, wäre die Zeit nicht zu ernst gewesen, ein beträchtliches Maß unbewußter Komik nicht hätte absprechen mögen, machte sich f ü r den einzelnen vor allem durch ein paar törichte Haussuchungen nach Waffen nebst Eß- und Trinkvorräten sowie durch sonstige Diebereien bemerkbar. Sie zeitigte aber auch in den blutrünstigen Reden, die in Versammlungen gehalten wurden, manche wunderbare Blüte. In einer rasch aufgestellten Einwohnerwehr sorgten wir in den Straßen f ü r Ordnung, w o sie gefährdet w a r , bis das Einrücken der Truppe des Generals von Lettow-Vorbeck dem ganzen U n f u g ein Ende machte. In dem Jammer der Zeit suchte man sich aufzurichten an den ermutigenden und mahnenden Worten vertrauenswürdiger Männer, und es w a r ein wohltuendes Zeichen f ü r die Achtung, die wir uns erworben hatten, daß man sich wie im Kriege, so auch nachher, 1920, zuerst an uns Professoren um E r k l ä rungen und Vorträge über „Wesen und Bedeutung des Friedensvertrages" wandte, dann aber auch hervorragende Staatsmänner und Heerführer von auswärts nach Hamburg bat. So sprachen der Staatssekretär Helfferich, der damalige Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, spätere Reichskanzler Cuno, der General von Seeckt, der Admiral Scheer u. a. v o r Riesenversammlungen. D e r Sieger vom Skagerrak wußte am 2 1 . Februar 1 9 2 1 Stürme der Begeisterung zu entfesseln. Nachdem ich die Versammlung zu leiten gehabt hatte, konnte ich noch allein mit dem schlichten und bescheidenen Manne ein paar unvergeßliche Nachtstunden im Ratskeller zusammensitzen und mir von seinen Beobachtungen und Empfindungen während der großen Schlacht erzählen lassen. Wir kamen auf England zu sprechen und maßen die Zukunft an der Vergangenheit. Dabei schien es uns verwunderlich, daß ein ganzes Volk, dem immer politische Einsicht nachgerühmt wird, so mit Blindheit geschlagen sei gegenüber den Erfordernissen einer verwandelten Zeit, daß es früher oder später auch seinen eigenen Bestand werde zum O p f e r bringen müssen. Erstaunlich sei es auch und kein rühmliches Zeugnis f ü r das geistige Leben des Abendlandes, daß die schweren Krisen, die während der letzten J a h r e über die Völker Europas dahingegangen seien, nirgends einen Staatsmann an die Oberfläche gebracht hätten, der sich über die Situation des Augenblicks erhoben, die unauflösliche Verflechtung der Lebensbedingungen der Staaten erkannt und den Mut aufgebracht habe, aus der Verflechtung die Folgerungen zu ziehen. Auch jetzt w a r keine erleuchtete Gestalt zu erblicken, an der die Menschheit ihre Hoffnung hätte anknüpfen können, und mit Sorge sahen wir in die Zukunft. Bis zum Ausbruch des Krieges w a r das Leben in Hamburg so, wie es oft genug geschildert ist. Die große Handelsstadt w a r weniger eine Stadt der großen Vermögen als der großen Einkommen. Dem entsprechend waren auch die Gehälter der Beamten höher als anderswo, und der äußere Lebensstil erhob sich im allΣ

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gemeinen über den der meisten anderen deutschen Städte. In den bescheidenen Bürgerfamilien herrschte eine gewisse sorglose Behäbigkeit, in den oberen Schichten ein solider Luxus. Zwischen der „Gesellschaft" und denen, die nicht dazu gehörten, bestand eine scharfe Trennung, und die Grenze war nicht leicht zu überschreiten, auch für den Inhaber eines hohen Bankkontos nicht. In die „Gesellschaft", in der man von jeder Dame die letzten Glieder ihres Stammbaumes kannte, wurde man entweder hineingeboren, oder man mußte durch Verwandtschaft oder gute „Beziehungen" seine Zugehörigkeit erweisen, audi ein klingender Name oder eine hohe Beamtenstellung konnte den Zugang eröffnen. Als wir Professoren nadi Hamburg kamen, waren wir für die „Gesellschaft" ein Problem, eine unbekannte Menschenart, von der man nicht wußte, wie man sie einstufen sollte. Sie waren keine Lehrer, hatten kein Kontor und waren weder Juristen nodi Hauptpastoren, also Grund genug, sie zunächst abzulehnen und neugierig ihre weitere Entwicklung zu beobachten. Ein sehr großer Teil aber wollte grundsätzlich nichts mit ihnen zu tun haben, weil er die traditionswidrige Universität nicht wollte. Erich Mareks als erster Berufener hatte durch seine glänzenden Vorträge vor einem großen Damenpublikum eine gute Aufnahme erlangt, aber das hatte auch seine Gründe in seinen früheren Beziehungen zu Hamburg und war eine Ausnahme. C. H . Becker, ein wohlhabender und eleganter Mann mit weltmännischen Umgangsformen war eine Überraschung und schuf eine günstige Meinung für die Definition des neuen Wundertiers. Ich selbst, der bald danach kam, fand deswegen schon einen gut vorbereiteten Boden vor. Aber mehr als hierdurch wurde mir durch meine Frau der Zutritt erleichtert. Sie war in Hamburg in der „Gesellschaft" aufgewachsen, wurde sofort von ihren ehemaligen Freundinnen und Mitschülerinnen begrüßt und machte mich damit zum „Eingeführten". Indessen gebietet es die Gerechtigkeit, zuzugeben, daß uns auch sonst, von derartigen besonderen Umständen abgesehen, eine überaus freundliche Aufnahme in einigen Häusern zuteil wurde, nachdem man sich an die Neuerscheinungen gewöhnt und ihre Harmlosigkeit erkannt hatte. Eine eigenartige Einrichtung im geselligen Leben Hamburgs waren die nicht mit Unrecht berühmten und gefürchteten Herren-Diners, gefürchtet, weil sie den Magen einer Belastungsprobe aussetzten, der dieser nicht immer gewachsen war. Ich selbst habe nach dem ersten Winter daran zu tragen gehabt. Aber auf diesen Herren-Diners wurden in angenehmster Form die wichtigsten Geschäfte besprochen. Man traf hier mit Senatoren, Mitgliedern der Bürgerschaft und der verschiedenen Deputationen, Chefs der großen Handelshäuser und den höheren Beamten zusammen und konnte bei einem Glase guten Weines ohne Scheu seine dienstlichen Wünsche und Sorgen zum Ausdruck bringen. Idi habe auf diesem Wege die Bewilligung der Mittel für eine chinesische Bibliothek meines Seminars vorbereitet, ebenso war mir für 1 9 1 6 eine Studienreise nach China zugesichert, die dann durch den Krieg unmöglich gemacht wurde. Aber auch eine reiche Quelle der Belehrung sind mir diese Diners gewesen. In langen Unterredungen mit den Kaufleuten habe idi hier einen Einblick in das große Übersee-Geschäft, in das Netz der ausländischen Verbindungen und in deren Bedeutung auch für 140

die politischen Beziehungen erhalten. Ich sah, wie Handel und Reederei mit der englischen und nord- und südamerikanischen Welt verwurzelt waren, und konnte dann ermessen, welchen Umsturz der Krieg und seine Folgen hier herbeiführen mußten. Das Maß von Umstellung und Anpassung, das danach dem Hamburger Kaufmann zugemutet wurde, hat mich mit Staunen und Bewunderung erfüllt. Welche gigantischen Aufgaben hatte er bereits übernehmen müssen, und welche standen ihm noch bevor! Es gibt kein wirksameres Mittel für den Gelehrten, sich über die Bedeutung seiner Wissenschaft im Gesamtorganismus seines Volkes klar zu werden, als ein Blick in diese Welt. Gewiß, es hat auch in Hamburg nicht an Beispielen gefehlt für jene Engherzigkeit und Beschränktheit, die man nicht selten in kaufmännischen Kreisen allen Dingen gegenüber findet, für die der Händler keinen Platz in seinen geschäftlichen Kalkulationen hat. So sagte mir der Syndikus der Handelskammer Dr. L. einmal: „Sagen Sie uns von China, welche Plätze am günstigsten für unsere Import- und Export-Geschäfte sind, alles andere interessiert uns nicht." Nach seinem Doktortitel zu schließen, hatte Herr L. auch einmal eine Universität besucht; auf Grund hiervon hielt er sich auch für berufen, in einer Broschüre über die Hamburger Pläne die deutschen Universitäten als überholt und abseits aller Praxis zu verurteilen. Ein anderer Ortskundiger machte mich gleich im Anfang auf meinen eigentlichen Daseinszweck aufmerksam, indem er meinte: „Wenn Sie hier Chinesisch lehren wollen, so mag das sein, soweit es praktischen Nutzen für das Sprechen hat, aber Sprachwissenschaft brauchen wir nicht, dafür finden Sie hier keinen Boden." Ich habe mich durch solche Äußerungen nicht entmutigen lassen, denn einmal findet man das Banausentum auch anderswo im deutschen Vaterlande, und dann traf ich in Hamburg auf zu viel Aufgeschlossenheit für Wissenschaften und Künste, als daß derartige flüchtige Eindrücke hätten lange haften können. Der Krieg hatte natürlich auch eine völlige Umstellung des gesellschaftlichen Lebens zur Folge. Mit den üppigen Gastmählern war es vorbei, an ihre Stelle traten gesellige Nachmittage und Abende. Dabei wurden die Grenzen der „Gesellschaft" allmählich weiter gezogen, weil man überall während des Krieges das Bedürfnis empfand, sich über den Gang der Ereignisse und nach dem Kriege über die Not der Zeit auszusprechen. Gemeinsames Leid und gemeinsame Not ließen die Menschen näher an einander rücken. Uns selbst traf der harte Schlag, daß unser ältester Sohn, ein reich begabter, blühender Jüngling von 17V2 Jahren, sechs Monate nach dem Abiturienten-Examen im August 1916 als Kriegsfreiwilliger in den schweren Kämpfen an der Somme fiel. Er war einer der letzten Kriegsfreiwilligen, bevor dem Drängen gerade der Besten unserer frühreifen Jugend zum Opfertode durch Verbot der Meldung — was schon früher hätte geschehen sollen — mit Rücksicht auf die Zukunft ein Ende gemacht wurde. Die Nahrungsmittelknappheit begann seit 1 9 1 7 in Hamburg bedenklich zu steigen und nahm allmählich gefährliche Ausmaße an. Die Unterernährung brachte viel Krankheit mit sich, schlimmer vielleicht noch wurde der seelische Druck. Der Schwarzhandel mit seinen Begleiterscheinungen war nicht abzudämmen; wer die Möglichkeit dazu besaß, suchte auf dem Lande zu hamstern, unsinnige polizei141

lidie Verordnungen, die nur zu deutlich die Unfähigkeit der Bürokratie erkennen ließen, die Lage zu meistern, verschlimmerten die N o t und führten zu Gewaltszenen zwischen Polizeibeamten und Publikum. Im Juni 1920 kam es zu ernstlichen K r a v a l l e n und Plünderungen. Die Gerichte kamen in eine üble Lage: es geschah nicht selten, daß sich in Hamsterfällen der Richter f ü r befangen erklärte. Idi habe damals in Hamburg die Definition gehört: „Hamstern ist berechtigte Notwehr gegen unvernünftige Verordnungen". Daß es anderwärts nicht besser w a r , zeigte ein Gedicht im „Kladderadatsch", als sich in Stendal die Richter des Landgerichts in dem Prozeß wegen ungesetzlichen Erwerbs von Nahrungsmitteln gegen einen gewissen Krause sämtlich f ü r befangen erklärten: Daß deutsch Gericht stets Wahrheit spricht, Das weiß selbst der Banause, Doch gab es wahrern Wahrspruch nicht Als jüngsthin den vom Landgericht Stendal in Sachen Krause. Auch eine ernstere politische Folge begann die N o t zu zeitigen. Der überwunden geglaubte Partikularismus der Einzelstaaten brach wieder hervor, indem manche von ihnen nichts, was eßbar w a r , über ihre Grenzen hinausließen. Namentlich waren es die süddeutschen Staaten, die ihre Türen verschlossen hielten, allen voran Bayern, in dem jeder Norddeutsche als feindlicher Ausländer behandelt wurde. N u r nach Prüfung des Reisepasses durfte man das Land betreten. In Württemberg w a r es nicht viel besser. Wir hatten im Sommer 1 9 1 7 einige Wochen in Wildbad zugebracht. Über die Gegend hatte sich ein solcher Obstsegen ergossen, daß man in Verlegenheit kam, die Früchte zu bergen und zu verwenden. Der uns unbekannte Besitzer eines Privatgartens bot uns von seinen Pflaumen so viel an, wie wir wollten, auch ohne Bezahlung, wenn wir sie selbst pflückten. U m sie ausführen zu dürfen, mußten wir in Stuttgart die Genehmigung nachsuchen. Sie wurde sofort ohne Angabe des Grundes verweigert. Ein Forstmann in Oberbayern sandte — was erlaubt w a r — die Innenteile eines erlegten H i r sches an einen Verwandten jenseits der Grenze unweit H o f . Die Sendung wurde an der Grenze zurückgehalten und verdarb. Viel böses Blut wurde damals verursacht, audi dadurch, daß selbst nach dem Abschluß des Waffenstillstandes 1 9 1 8 die Blockade nicht aufgehoben wurde. Mehr und mehr wurde es auch üblich, daß man sich in befreundeten Häusern zusammenfand, kurze Vorträge anhörte und daran ausführliche, oft recht erregte Erörterungen der brennenden Zeitfragen knüpfte. Das Ende des Kaisertums und damit der Herrschaft aller deutschen Fürstenhäuser w a r ein Ereignis, das auch in Hamburg, obwohl es nicht unmittelbar davon berührt wurde, die Gemüter aufwühlte. Die Tatsache, daß die Dynastien der Bundesstaaten sich in dem Novembersturm wie welke Blätter von den Bäumen lösten, w a r freilich ein Zeichen, daß hier vieles überfällig gewesen war, und in weiten Hamburger Kreisen erwartete man mit Fassung, daß nun die Entwicklung zum deutschen Einheitsstaat führen würde. Aber die zentrale Staatsleitung, ohne schöpferischen Willen, hätte nicht gewußt, wie sie das Problem meistern sollte, auch wenn die 142

lauernden Feinde nicht das Gegenteil gewünscht hätten. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Unfähigkeit hier nicht das kleinere Unglück war, denn ungeschickte Hände hätten bei der eben erwähnten Stimmung in Süddeutschland leicht ein weit größeres herbeiführen können. Um dem zunehmenden innereil politischen Verfall entgegenzuwirken, der sich in einer Verleugnung jeglichen nationalen Ehrgefühls und einer erbärmlichen Liebedienerei dem Auslande und selbst den Feinden gegenüber offenbarte, gründeten wir den „Nationalen Klub von 1 9 1 9 " , dem der größere Teil der führenden Schichten angehörte, allerdings doch exklusiver war, als es mir richtig schien. Aber die Universitätsfrage wirkte hier nicht mehr als trennendes Moment, und selbst die entschiedensten Gegner ließen sich meine und einiger Kollegen Gesellschaft gern gefallen. Der neue Verband trat dann mit dem „Nationalen Klub" in Berlin in engere Verbindung. Wir konnten freilich zunächst nicht viel anderes tun, als in weiteren Kreisen aufklärend, mahnend und ermutigend im nationalen Sinne wirken. Aus den gleichen Erwägungen heraus hatte sich im Frühling 1 9 1 9 der „Bund Deutscher Akademiker" gebildet, der ebenfalls die Verbindung mit ähnlichen auswärtigen Verbänden aufnahm, außerdem Anschluß an die Fichte-Gesellschaft fand. Es war dies ein gleichfalls neu entstandener Verein, der, soweit ich mich erinnere, von Hamburg ausging, aber auf viel breiterer Grundlage ruhte. Er wollte anfänglich eine Massenbewegung sein und zog besonders die Jugend an sich, die zum großen Teil im Kriege an der Front gewesen war, nun aber verwirrt, unsicher, ohne festen Halt, nach neuen Idealen suchte, nachdem ihr die alten zerschlagen waren. Es entstand so in der Fichte-Gesellschaft allmählich ein neues Weltgefühl, das von dem Philosophen, nach dem sie sich benannte, nicht mehr ganz gedeckt wurde. Ein Zug von altertümlicher Schwärmerei einerseits, von stürmischem Vorwärtsdrängen über die im Zeitensturm zerwehte, kraftlose alte Generation hinweg in eine neue Zukunft andererseits machten sich immer lauter geltend. Man führte mittelalterliche Krippenspiele auf, zog singend und spielend durch das Land, zeigte Dorfbewohnern alte Volkstänze und wollte ohne Unterschied von Stand und Bildung allenthalben die Jugend zu Freunden machen. Ich habe mich wiederholt in diese naiv-theatralischen Vorstellungen gemischt, habe aber meistens wegen der vorgetäuschten lärmenden Selbstsicherheit und des Mangels an Ehrfurcht vor dem Alter einen wenig günstigen Eindruck erhalten. So lange die Frontgeneration noch mitwirkte, wurde Maß und Zucht gehalten, je mehr diese aber abtrat, um so heftiger schwoll das Treiben der unerzogenen Jünglinge an. Später hat diese Generation denn auch in der Studentenverwaltung wegen Unfähigkeit und leider auch zuweilen wegen Unehrlichkeit bedenklich versagt. Die Fichte-Gesellschaft war eng verbunden mit dem Deutsch-Nationalen Handlungsgehilfen-Verband und wurde sogar zum größten Teil von ihm finanziert. Als ich in den Vorstand gewählt wurde, war mir dies Verhältnis in seiner ganzen Engigkeit nicht bekannt. Allmählich wurde es aber klar, daß der kaufmännische Verband, der auf gewerkschaftlicher Grundlage organisiert war, der Fichte-Gesellschaft den gleichen Charakter geben wollte. Ich gedachte diese als Massenbewegung für nationale Erziehung zu entwickeln, sah deshalb keine Möglichkeit

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mehr für eine gedeihliche Wirksamkeit und legte mein Amt nieder. Dasselbe tat bald nachher der Präsident, der frühere Staatsminister von Sachsen-Altenburg, Freiherr von Borries. Der Bund Deutscher Akademiker, der mich bei seiner Gründung gebeten hatte, den Vorsitz zu übernehmen, lehnte jeden Versuch der Gewerkschaften, ihn an sich zu ziehen, strikt ab. E r verfolgte keine wirtschaftlichen Ziele, sondern wollte den Sinn für vaterländische Ehre wieder erwecken und stärken, sowie für die Freiheit und Unabhängigkeit wissenschaftlicher Forschung und Lehre eintreten. So veranstalteten wir am 18. Januar 1921 gemeinsam mit dem National verband Deutscher Offiziere und dem studentischen „Hochschulring", der audi die meisten Verbindungen umfaßte, eine Reichsgründungsfeier, die sehr stark besucht war und mit der Wärme ihrer Stimmung die Menge einmal über das Elend der Zeit hinaushob. Idi habe den Bund, der bald eine eigene Zeitschrift, die „Hamburger Akademischen Blätter", herausgab, bis zu meinem Fortgange von Hamburg geleitet; 1934 wurde er aufgelöst. Meine Stellung in dem Bunde verhalf mir zu einer denkwürdigen Bekanntschaft. Am 2 1 . Juni 1919, dem Tage der Sonnenwende, veranstaltete der Bund an der Grabkapelle des Fürsten Bismarck in Friedrichsruh eine Gedächtnisfeier. Unter meinen Zuhörern befand sich, was idi nicht wußte, die Fürstin Herbert Bismarck. Nach Beendigung der Feier ließ sie mich mit ein paar Herren des Vorstandes zu einer Tasse Tee in das Schloß bitten. Ich fand eine ungemein liebenswürdige, dabei geistvolle und weltgewandte Dame, mit der ich in der Unterhaltung sehr rasch eine innere Fühlung gewann. Aus diesem ersten Zusammentreffen entwickelte sich ein freundschaftlicher Verkehr, von dem mir viele Stunden unvergeßlich geblieben sind. Meine Frau und idi, zuweilen auch die Kinder, waren während der folgenden Jahre häufig Gäste in Friedrichsruh, auch die Fürstin suchte uns in unserer Häuslichkeit in Hamburg auf. Die Unterhaltung mit der geistig hochstehenden Frau, die sich zugleich durch ein warmes soziales Empfinden auszeichnete, war immer ein Genuß. Sie war sehr belesen, hatte viel Menschen kennengelernt und machte sich über alles und jedes ihre eigenen Gedanken, die sie sehr scharfsinnig begründete. Abweichende Meinungen hörte sie mit unveränderter Herzlichkeit an und blieb für Gegengründe immer zugänglich. Sie war von Geburt Österreicherin und eine Schwester des Grafen Hoyos, der bei Ausbruch des Krieges als Sonderbotschafter in Berlin war. Vom heiteren Donaustrande in die herbe märkisch-norddeutsche Landschaft versetzt, hatte sie es verstanden, die Atmosphären von beiden in glücklicher Art zu vereinigen; so mag sie ihrem Gatten ein treuer Helfer bis zu seinem frühen Tode (er starb 1904, 55 Jahre alt) gewesen sein. Auch zu ihrem Schwiegervater, dem gewiß nicht immer leicht zu ertragenden Löwen im Käfig, von dem sie viel und immer mit hoher Verehrung erzählte, muß ein inniges Verhältnis bestanden haben. So lange sie in Friedrichsruh lebte — sie siedelte später nach Schönhausen über —, war sie eine pietätvolle Hüterin der Tradition des Hauses und seiner erinnerungsreichen Schätze. Sie war geduldig genug, uns alles zu zeigen und zu erklären. Mir war, zumal wenn wir im Speisezimmer im Familienkreise um den Tisch versammelt waren, als walte der Geist des großen 144

Mannes noch an dieser Stätte, und nur an einem anderen Orte bin idi mit den gleichen Gefühlen weihevoller Ehrfurcht durch die Räume geschritten wie hier: in dem Hause am Frauenplan in Weimar. Es war dies im März 1914, als idi mit meiner Frau meinen dort lebenden einstigen Chef in Peking, Herrn von Brandt, aufsuchte, der uns mit seiner amerikanischen, aber äußerlich ganz zur Deutschen gewordenen Gattin auf das freundlichste aufnahm. Wir versäumten es nicht, bei dieser Gelegenheit auch alle die geweihten Stätten zu besuchen. Im Laufe der Zeit lernten wir auch die übrigen Bismarckschen Familienmitglieder kennen: die beiden Töchter, die Frau von Bredow und die reizende Gödela mit ihrem Gatten, dem Grafen Keyserling, dem Gründer der „Schule der Weisheit" in Darmstadt, der mit viel Temperament und Scharfsinn über die großen Fragen der Zeit philosophierte. Auch der Träger des Titels, der älteste Sohn, Fürst Otto von Bismarck, sowie seine Brüder, die Grafen Gottfried und Albrecht, damals noch auf der Schule, waren zuweilen anwesend. In ihrem sozialen Pflichtgefühl bemühte sich die Fürstin Herbert, der Bevölkerung über die Schwere der Zeit hinwegzuhelfen, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenkte. Zu diesem Zwecke veranstaltete sie Vorträge in Aumühle, zu denen mehrere Hamburger aufgefordert wurden. Auch ich habe einem dankbaren Publikum dort einiges aus dem Leben in China erzählt. Die Friedrichsruher Tage gehören zu meinen angenehmsten Hamburger Erinnerungen. Die Forderungen und Aufgaben dieser bewegten Jahre trugen viel Unruhe in das stille Studierzimmer und stellten hohe Ansprüche an Zeit und Arbeitskraft. Trotzdem sind die Hamburger Jahre für mich auch wissenschaftlich nichts weniger als unfruchtbar gewesen. Gleich im Frühling 1 9 1 2 gab mir der Internationale Orientalisten-Kongreß in Athen Gelegenheit, manche neue Anregung aufzunehmen und manche interessante Bekanntschaft zu machen. Am wertvollsten war mir freilich die damit verbundene Reise durch Griechenland. Durchgehende Eisenbahnverbindung von Südost-Europa mit Griechenland gab es damals noch nicht, man pflegte deshalb die Reise zur See zu machen. Wir schifften uns in Triest ein, besuchten das von unsichtbaren Wolken köstlichen Kräuterduftes umschmeichelte Korfu mit seinem Achilleion und landeten in Patras. Wenn man von dort mit der Bahn am Golf von Korinth entlang über Megara und Eleusis fährt, so erscheint bald danach am Horizont, wie hingehaucht in den zarten Duft, das Profil des Parthenon. Wem es wie mir vergönnt ist, dieses Bild bei sinkender Sonne unter wolkenlosem Himmel mit den blauen Fluten des Golfs von Aegina im Vordergrunde in sich aufzunehmen, der wird sich wie von Geisterhänden berührt fühlen. Der Eindruck, den ich hier empfing, war noch tiefer und weihevoller als der, den ich beim ersten Anblick der Großen Mauer von China gehabt hatte. Und aus der weihevollen Stimmung bin ich während des ganzen Aufenthaltes an den klassischen Stätten der Menschheit kaum herausgekommen, die Akropolis von Athen mit allem, was dazugehört, Marathon und Salámis, Aegina mit seinem schönen Hera-Tempel, Eleusis mit den überreichen Trümmerfeldern, allen voran das heilige Delphi auf steilem Berghang, den man nur auf einem Saumpfade zu Fuß oder mit einem Esel emporsteigen konnte, und all die 10 Franke, Erinnerungen

anderen Städte und Gegenden mît ihren so vertrauten Namen, sie alle sorgen dafür, daß man leiseren Schrittes einhersdireitet auf diesen schweigend redenden Stätten vergangener Größe. Nur das tiefblaue Meer, die ruhigen Linien der Berge, der strahlende Himmel darüber und der Duft der Kräuter unten sind geblieben, wie sie waren. „Und die Sonne Homers, siehe! Sie lächelt audi uns." Die Bevölkerung freilich hilft nicht, den schönen Wahn zu nähren. „Verschwunden ist das Hellenentum", rief einer der Orientalisten zornig aus, „und nur die Heloten sind übrig geblieben." Der Kongreß selbst bot außer einigen interessanten Vorträgen nichts, was ihn über das Durchschnittsniveau solcher Veranstaltungen hinausgehoben hätte. Ich habe mich wegen der erfahrungsmäßig geringen Ergebnisse internationaler Kongresse auch meist von ihnen fern gehalten, das Wertvollste davon allerdings in der persönlichen Fühlungnahme mit ausländischen Kollegen gesehen. Den hervorragendsten unter diesen, Edouard Chavannes von Paris, lernte idi denn auch in Athen kennen und bewahre diesem trotz seiner großen Erfolge überaus bescheidenen Manne von vornehmer Gesinnung ein verehrungsvolles Andenken. Sein Tod war ein harter Verlust f ü r die Sinologie, die er auf eine überragende Höhe gehoben hat. Die Rückreise machte ich über Triest und Wien, um endlich auch einmal die lebensfrohe Donau-Metropole kennenzulernen. Wie stark audi während des Krieges, selbst zu einer Zeit, wo der militärische Himmel schon gefährlich umwölkt erschien, Schaffenskraft und Schaffenswille in Deutschland waren, konnte ich in Stuttgart beobaditen, wo in dem Deutschen Auslandmuseum eine neue Zentralstelle für die Bedürfnisse des Grenz- und Auslanddeutschtums eingerichtet wurde. Im Juli 1 9 1 7 nahm ich als Hamburgischer Vertreter an den Eröffnungsfeierlichkeiten teil und war erstaunt über die Zuversicht, mit der die Württemberger, an ältere Traditionen des Landes anknüpfend, sich der Aufgabe annahmen, die Volksdeutschen des Auslandes wieder in engere geistige Verbindung mit der Heimat zu bringen. Die Feier war schlicht und einfach, bot aber wegen der Anwesenheit zahlreicher hervorragender Personen viel des Interessanten. Wir wurden in einer besonderen Audienz dem Könige durdi Herrn von Neurath, damals nodi sein Privat-Sekretär, später Reichsminister des Auswärtigen, vorgestellt und empfingen den angenehmsten Eindruck von der ungekünstelten Freundlichkeit des zu seiner Zeit wohl beliebtesten unter den deutschen Fürsten. Außer mehreren alten Bekannten traf ich auch Dr. Solf, den Staatssekretär des Reichskolonialamts, den ich 1 9 1 3 bereits in Hamburg wiedergesehen hatte, und meinen einstigen Chef in Tientsin, Herrn von Seckendorff (s. oben S. 5j), der damals preußischer Gesandter in Stuttgart war. Mit seiner liebenswürdigen Gattin zusammen frischten wir manche Erinnerung an vergangene Zeiten auf. Da aus den geschilderten Ursachen die Vorlesungen und Übungen nidit allzu viel Mühe machten, blieb mir selbst während des Krieges noch genügend Zeit f ü r ruhiges Studium. Dabei war mir einmal die gute chinesische Bibliothek (s. oben S. 1 3 1 ) von Nutzen und dann ein ausgezeichneter chinesischer Assistent, Schang 146

Yen-liu, den.wir in China hatten gewinnen können. Er hatte die hödiste Staatsprüfung (tsin-scbi) in Peking bestanden und war die kenntnisreichste und zuverlässigste chinesische Hilfskraft, die mir jemals zur Verfügung gestanden hat. Die literarische Bildung überlieferter Art, wie sie jahrhundertelang die Stärke des Beamten- und Gelehrtentums ausmachte, ist mit steigender Geschwindigkeit dem Untergange zugeeilt, seitdem die Staatsprüfung abgeschafft ist und der Flut der „neuen Wissenschaft" die Schleusen geöffnet sind. Heute wird man sie in den jüngeren Generationen kaum noch antreffen. Diese Entwicklung war unabwendbar und ist auch nicht zu beklagen. Abgesehen davon, daß China endlich den Anschluß an die moderne Wissenschaft des Abendlandes gewinnen mußte, war audi das orthodoxe Wissen in öder, unfruchtbarer Scholastik erstarrt, der beste Teil der geistigen Kräfte des Volkes wurde in nutzlosem Breittreten toten Stoffes vergeudet, ein schöpferischer Wille kam nicht auf, man züchtete Gedächtnisstärke, aber schulte kein Denken. Als ich 1908 in China in der Unterhaltung mit Tschang Tschi-tung, dem großen Gelehrten und Staatsmann (s. oben S. 123), einmal den Gegenstand aufnahm, wagte ich die Äußerung, man solle doch in China die gehobene Literatursprache so behandeln wie wir das Latein auf unseren höheren Schulen; er lehnte das erregt ab, so daß ich erschrocken schwieg und das Thema nicht wieder berührte. Aber das Leben war nicht erstorben unter dieser Kruste. Nach Lösung der Fesseln brach es los und nahm die hereinströmenden Fluten willig, ja mit Freuden auf. Allmählich bildete sich ein neues Gelehrtentum, das wohl Bescheid wußte in den Teilen der literarischen Schatzkammern der Heimat, die zu den verschiedenen gepflegten Wissensgebieten gehörten, und heute gibt es in China Scharen von modern geschulten Forschern, die dank der natürlichen Begabung ihrer Rasse, ihrem Fleiß und ihrer ererbten Freude am Studium überall Ausgezeichnetes leisten und für den abendländischen Sinologen von unschätzbarem Werte sind. Schang Yen-liu konnte natürlich noch nicht zu dieser neuen gelehrten Generation gehören, aber neben seinem großen scholastischen Wissen, das er in der veränderten Umgebung nicht höher bewertete, als es billig war, und das mir oft von bedeutendem Nutzen wurde, besaß er eine außerordentliche Aufnahmefähigkeit und volle Hingabe an wissenschaftliche Probleme, so daß er bei jeder neu auftretenden Frage bald wertvolles Material aufspüren konnté. Er hat mir wiederholt versichert, daß europäische Sinologen von den chinesischen Quellen besseren Gebrauch zu machen verständen als die diinesischen Literaten. Als ich im Seminar die berühmte Nestorianisdie Inschrift von Si-ngan fu von 781 behandelte, war er auf das hödiste interessiert und gestand mir, daß er und seine Studiengenossen von diesen wichtigen Dingen nichts geahnt hätten. Da auch die Druckmöglichkeiten für unsere Arbeiten sehr günstig waren, konnte ich außer einer Anzahl kleinerer Aufsätze auch mehrere größere Werke zum Abschluß bringen. Im Jahre 1 9 1 1 hatte idi, um das zerstreute Material einmal beisammenzuhaben, eine Sammlung der während meiner früheren Tätigkeit veröffentlichten Aufsätze politischen und kulturgeschichtlichen Inhalts, vor allem zahlreiche der in der „Kölnisdien Zeitung" erschienenen, in einem Bande mit 10·

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dem Titel „Ostasiatische Neubildungen" herausgegeben. Damit schloß ich diese Art publizistischer Tätigkeit ab und wandte midi nahezu ausschließlich sinologischen Wissensfragen zu. Dabei habe ich aber die Vorgänge in dem modernen China niemals ganz aus den Augen gelassen, wie ich denn meine Schüler immer gemahnt habe, über dem alten China nicht das neue zu vergessen. Die Einheitlichkeit der Geschichte und kulturellen Entwicklung, wie sie China in lückenloser Folge bis heute bietet, ist einzig in ihrer Art; und ebenso, wie nur der das neue China wirklich zu begreifen vermag, der das alte kennt, so ist audi die Kenntnis des neuen der sicherste Weg zum Verständnis des alten. Eine große Hilfe in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit erwuchs mir dadurch, daß ein junger, unternehmungsfroher Drudeereibesitzer in Glückstadt, Herr Augustin, sich für die Arbeiten der Seminare erwärmte. Er hatte im Winter 1 9 1 1 in dem meinigen chinesische Drucke gesehen und bewundert. Rasch von Entschluß, erklärte er mir, er würde gern den Drude mit chinesischen Typen aufnehmen, wenn ich ihm dabei helfen wollte. Ich stimmte freudig zu, und alsbald wurde er selbst zusammen mit einem seiner Setzer in der Zusammensetzung und Aufsuchung chinesischer Schriftzeichen unterrichtet, was mein damaliger Assistent, Dr. Jäger, mein erster Schüler und späterer Ordinarius in Hamburg und mein langjähriger Freund, mit großem Geschick ausführte. Dann ließen wir 1 9 1 2 mehrere Sätze von Typen aus Schanghai kommen, und nun begann der Druck mit glänzendem Erfolge. Immer mehr orientalische und andere fremde Schriftsysteme zog Herr Augustin an sich und druckte auch die schwierigsten Texte in musterhafter Art. Heute hat die Firma einen Weltruf wegen des Reichtums ihrer Schriften. Fast alle meine größeren Arbeiten sind dort gedruckt. Herr Augustin selbst ist leider durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Im Jahre 1 9 1 3 erschien in den inzwischen mit staatlicher Unterstützung begründeten „Abhandlungen des Hamburgischen Kolonialinstituts" eine Erklärung und Ubersetzung des reich illustrierten chinesischen Kêng-tschi t'u, eines Werkes über Ackerbau und Seidengewinnung aus dem 1 3 . und 18. Jahrhundert. In der Fortsetzung dieser schön ausgestatteten Sammlung, den von der Hamburgischen Universität herausgegebenen „Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde", wurden 1920 die „Studien zur Geschichte des konfuzianischen Dogmas und der chinesischen Staatsreligion" gedruckt. Kurz vor Ausbruch des Krieges, 1914, konnte ich gemeinsam mit Berthold Lauf er, damals Curator am Field Museum of Natural History in Chikago, mit der Veröfientlidiung der von ihm während seiner Reisen in China gesammelten Inschriften beginnen. Die Abreibungen von den großen Steintafeln befanden sich im American Museum of N a tural History von New York und wurden uns von dort zur Verfügung gestellt. Es war zunächst der eine Teil, die lamaistischen Inschriften aus den Klöstern von Peking, Jehol und Si-ngan fu, die wir zusammengestellt hatten; sie bildeten 81 großeTafeln von 40 cm zu j i cm, die Texte waren weiß-schwarz photolithographiert, und das Ganze in zwei Mappen verteilt mit dem Titel „Epigraphische Denkmäler aus China". Es war ein in Berlin hergestelltes und erschienenes Prachtwerk, für das ich eine Unterstützung von der Wissenschaftlichen Stiftung er148

halten hatte. Leider w a r die Auflage klein und daher rasdi vergriffen. Der Krieg hat der Fortsetzung ein Ende bereitet, aber auch ohne dies wäre sie wegen des politischen Stellungswechsels von L a u f e r unmöglich geworden. Laufer w a r gebürtig aus K ö l n und nach Beendigung seines Studiums unter v. d. Gabelentz und Grube, bei denen er Chinesisch gelernt hatte — seine umfassende Kenntnis des Tibetanischen, Mongolischen und mehrerer Sprachen der nordostasiatischen R a n d völker hatte er sich später angeeignet — , nach Amerika gegangen, w o er erst in N e w Y o r k , dann in Chikago am Museum tätig war. Das Leben dort w a r ihm zuwider, obwohl ihm reiche Mittel f ü r seine Arbeiten und f ü r ausgedehnte Reisen in China, Tibet und Zentralasien zur Verfügung standen. Ich machte seine Bekanntschaft zuerst in China, später hat er mich regelmäßig in Hamburg besucht. E r schilderte mir oft, wie unbehaglich er sich fühle in der Gesellschaft der „amerikanischen Emporkömmlinge", denen jedes Verständnis f ü r Wissenschaften und Künste fehle, wenn sie auch aus Eitelkeit und Prahlerei Unsummen d a f ü r aufwendeten. Die Abhängigkeiten, in die man durch diese materiellen Beziehungen gerate, seien f ü r einen Gelehrten mit Selbstachtung unerträglich. „ I m H a f e n von N e w Y o r k " , schrieb er mir einmal, „begrüßt den Ankömmling zwar die Statue der Freiheit, aber wer in dieses L a n d kommt, um die Freiheit zu suchen, der kann lange suchen." E r hatte große Sehnsucht, nach Deutschland zurückzukehren, und eine Zeitlang hegte ich die Hoffnung, ihn nach Hamburg an das Museum f ü r Völkerkunde bringen zu können. Als der Krieg 1 9 1 4 ausbrach, w a r L a u f e r verzweifelt und schrieb mir unglückliche Briefe; er w a r voll Sorgen, hoffte aber auf einen deutschen Sieg. „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht", zitierte er. Nach dem Kriege mußte ich leider die Erfahrung machen, daß er sich in seinem Empfinden gänzlich umgestellt hatte und nicht einmal mehr deutsch korrespondieren wollte. A m 16. September 1 9 2 1 besuchte er midi; dabei f a n d ich ihn in seinem Wesen verändert, er w a r scheu und gedrückt, beim Abschied sagte er mir: „Ich denke, wir bleiben die Alten", Worte, deren Sinn mir erst später klar wurde. Kurze Zeit danach erhielt ich nämlich Kenntnis von einer in der „ N e w Y o r k e r Staatszeitung" vom 28. April 1 9 1 8 veröffentlichten „Prinzipienerklärung" von achtzehn deutschgeborenen Professoren an amerikanischen Hochschulen, mit der sie sich gegen Deutschland auf die Seite der Amerikaner stellten. Die Unterstützung dieser Erklärung wurde den deutschamerikanischen Mitbürgern überall dringend anempfohlen. Ich vermute, daß diese achtzehn Männer nirgends größere Verachtung geerntet haben als bei anständigen Amerikanern. Einer der achtzehn w a r Berthold Laufer. Wie er zu diesem Schritt gekommen ist, weiß ich nicht, man darf wohl annehmen, daß ein starker Druck auf ihn ausgeübt worden ist, bei dem es möglicherweise um seine Stellung ging, und dem zu widerstreben er nicht die K r a f t besaß. Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, daß L a u f e r nunmehr in den Augen aller anständigen Deutschen gerichtet w a r . Ob er nachdem nodi wieder in Deutschland gewesen ist, weiß ich nicht, er hat noch eine große Zahl wissenschaftlich bedeutender Arbeiten veröffentlicht und genoß in Amerika wegen seiner Gelehrsamkeit in gewissen Kreisen großes Ansehen. Im September 1934 beging er

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Selbstmord, indem er sich aus einem der höchsten Stockwerke eines Wolkenkratzers auf die Straße stürzte. Während meiner Hamburger Zeit begannen auch die Verhandlungen mit dem Verlagshause Walter de Gruyter u. Co. in Berlin wegen eines Geschichtswerkes über China. Die erste Anregung ging von dem Verlage aus, der eine kürzere Zusammenfassung der chinesischen Geschichte zu haben wünschte. Idi lehnte dies zunächst ab, weil es derartige „Zusammenfassungen" schon mehr als genug gab und ich midi außerdem mit größeren Plänen trug. Idi hatte erkannt, weldie Bedeutung das konfuzianische System für die Entstehung des chinesischen Reiches gehabt, wie es den Universalstaat mehr und mehr durchtränkt und beherrscht hat, und wie sein Zerfall durdi Erstarrung und Überalterung auch den Untergang des alten Staatsgefüges herbeiführen mußte. Diese Entwicklung wollte ich nach dem vorhandenen riesigen chinesischen Material einmal quellenmäßig darstellen. In den weiteren Verhandlungen hob der Verlag hervor, daß er audi der Übernahme eines solchen größeren Werkes keineswegs abgeneigt sei, daß er aber auch den Gedanken einer vorläufigen kürzeren Darstellung nicht fallen lassen möchte. So kam es denn in der Tat am 3 1 . Dezember 1 9 1 3 zum Abschluß eines Vertrages, in dem die Lieferung eines Manuskripts über Chinesische Gesdiidite f ü r zwei Bändchen der bekannten Sammlung Göschen bis zum 1. April 1 9 1 6 vereinbart wurde. Der Krieg trat dann der Ausführung hindernd in den Weg, und als idi Hamburg verließ, schien sie vergessen. Noch einmal wurde idi gegen meine Absicht auf das Gebiet der neuesten politischen Entwicklung in Ostasien zurückgeführt, als ich im Winter 1920/21 eine öffentliche Vorlesung über „Die Großmächte in Ostasien" gehalten hatte. Aus den Kreisen der Zuhörer wurde idi gebeten, diese Vorträge zu veröffentlichen, und ich willigte nach einigem Überlegen ein. Ich zauderte, weil idi dazu gewisser Akten des Auswärtigen Amts bedurfte und Zweifel hegte, ob mir die Einsicht gestattet werden würde. Diese Zweifel waren um so begreiflicher, als ein Jahr vorher, im Februar 1920, ein mir persönlich bekannter Geheimrat des Auswärtigen Amts mich in Hamburg aufgesucht hatte, um midi zu überreden, wieder in den Dienst einzutreten und einen hohen Posten in China zu übernehmen. Man hatte somit zwar auf die einst Herrn von Mumm mitgeteilte Vorbedingung (s. oben S. 125) verzichtet, aber ich lehnte doch das Anerbieten ab, da ich inzwischen zu eng mit der Wissenschaft verwachsen war, als daß ich nodi einmal die Grundlagen meines Wirkens so völlig hätte ändern mögen. Idi habe meine Beharrlichkeit nicht bereut. Trotz dieser Absage wurde mir aber die Einsichtnahme in die Akten gestattet, „weil idi früher selbst dem Dienst angehört hätte", und so konnte ich mir im Mai 1921 in Berlin alle nötigen Auszüge anfertigen, wobei idi, nicht ohne Rührung, mehrfach auf meine eigene Handsdirift stieß. Im Jahre 1923 erschien das Buch unter dem gleichen Titel, den die Vorlesung gehabt hatte. Daß ich audi sonst in der akademisdien Wirksamkeit die Berührung mit den Geschäften dieser Welt nicht verlor, dafür sorgte sdion die Mühe zuerst um die Erriditung, dann um die Einrichtung der neuen Universität, die früher geschilIJO

dert worden ist. Sie brachte mich auch unerwarteterweise zu auswärtigen akademischen Kollegen in Beziehungen, die höchst unerfreulich waren. Im Oktober 1 9 1 3 fand in Straßburg ein „Hochsdiultag" statt, d.h. eine Versammlung von Universitätsprofessoren, die nicht etwa einen Auftrag hatten, ihre Hochschulen zu vertreten, sondern zusammenkamen ohne eine feste Ordnung, um Reden zu halten über Dinge, die ihnen im Augenblick widitig schienen. Das Unternehmen ging anscheinend von Leipzig aus, wo sich ein Komitee gebildet hatte, das Einladungen versandte und die Leitung in der Hand behielt. Der Hauptpunkt der Verhandlungen — soweit man von solchen reden konnte — war die Errichtung neuer Universitäten, in der Tat audi eigentlich der einzige Gegenstand, alles übrige war belanglos. Zugegen war nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Teilnehmern, die Akteure aber hatten dafür gesorgt, daß sich das Ganze trotzdem mit großem Lärm in Szene setzte. Im Hinblick auf den Verhandlungsgegenstand hatte ich es als Vorsitzender des Professorenrats für richtig gehalten, an der Versammlung teilzunehmen, zumal man auch Hamburg einer besonderen Einladung gewürdigt hatte, obwohl es noch keine Universität war. Ich fand in Straßburg eine ausgesprochen feindliche Gesinnung gegen die geplanten Universitätsgründungen, vor allem die in Köln und Hamburg (audi andere Städte wurden damals noch genannt), aus Beweggründen, die mir audi heute noch nicht klar sind. Zum Vorsitzenden hatte man den Leipziger Zivilrechtler Wach gewählt, der sein Amt auf eine unerhört parteiische und durch seine Schroffheit aufreizende Art führte. Der Clou der Versammlung und, wie mir schien, ihr Hauptzweck war die Verlesung einer Rede, die der Nationalökonom Bücher in Leipzig hatte halten wollen, aber wegen Krankheit nidit selbst halten konnte. Dieses Elaborat verriet eine Verständnislosigkeit für die politische und kulturpolitische Lage in deutschen Großstädten, die selbst die der Hamburgischen Philister noch übertraf, dazu kam ein roher Zynismus, wie er einer so wichtigen Frage durchaus unwürdig war. Die Städte, so sagte er, geben ihrem Ehrgeiz auf mannigfadie Weise Raum, die eine legt sich einen Zirkus zu, die andere eine Universität. Die Leipziger Gralshüter der akademischen Freiheit — auch diese wurde natürlich für gefährdet erklärt — meinten wohl nun, daß sie mit dieser Kraftprobe alle weiteren Universitätspläne zu Boden geschlagen hätten. Der einzige Erfolg, den sie gehabt haben, ist in Wahrheit der gewesen, daß sie diese „Hochschultage" bei allen verständigen Dozenten um den Rest ihres Kredits gebracht haben. Der von Straßburg ist denn auch die letzte dieser überflüssigen Veranstaltungen gewesen. Herr Wach hat sich in Hamburg noch dadurch berühmt gemacht, daß er im August 1 9 1 7 ein Gutachten erstattete, das die Gegner der Universität als gegen, die Freunde als für die Universität sprediend benutzen konnten. Er hat midi später in Hamburg in meinem Seminar besucht, wo er von Liebenswürdigkeit überströmte, die Straßburger Vorgänge aber aus seinem Gedächtnis verbannte. Außer Herrn Wadi haben uns auch sonstige eminente Personen, die einen Einblick in die so viel beredeten Hamburger Anstalten tun wollten, mit ihren Besuchen beehrt. Im Januar 1 9 1 3 kam Solf, damals Staatssekretär des Reichskolonialamts; er war iji

der Alte geblieben, und wir feierten unter so stark veränderten Verhältnissen ein frohes Wiedersehen. Idi bat ihn um seine Unterstützung in unseren Universitätsnöten, und er überließ es mir, einen geeigneten Artikel zu schreiben, der dann unter seinem Namen an die Presse ging. Wohl wenig später, soweit idi mich erinnere, besuchte uns der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, der, ein stummer Betrachter, völlig uninteressiert schien. Dagegen sprach Kaiser Wilhelm, der im September 1 9 1 2 das Kolonialinstitut sehen wollte, jeden von uns mit ein paar Worten freundlich an. Nicht lange vor Ausbruch des Krieges durfte idi audi den König der Belgier in dem Institut umherführen und hatte viel Freude an der ernsten und tiefer gehenden Unterhaltung. Allzu lange habe ich mich der emporblühenden Hamburgischen Universität, mit der ich so eng verwachsen war, nach ihrer Eröffnung nicht mehr erfreuen können. Im September 1921 starb De Groot in Berlin. Als seinen Nachfolger benannte die Fakultät dem Minister gegenüber midi, obwohl ich nahezu sechzig Jahre alt war und mich daher dem in Preußen geltenden Brauche gemäß selbst als außerhalb der Berufungsfähigen stehend erachtete. So war idi überrascht, als ich im Frühjahr 1922 die amtliche Anfrage erhielt. Aber in die Überraschung mischte sich eine stille Wehmut. Ich war glücklich mit den Meinigen im eigenen behaglichen Heim in einer Stadt, die mir gerade in ihrer ausgeprägten charakteristischen Eigenart vertraut und lieb geworden war, und ich hatte des Glaubens gelebt, daß idi hier mein Leben beschließen würde. Aber auf der anderen Seite konnte ich diesen ehrenvollen Ruf nicht ablehnen. Ich erschien mir doch nodi zu jung, um hier schon endgültig vor Anker zu gehen, und fühlte, daß ich es der Berliner Fakultät wie mir selbst schuldig sei, dem größeren Wirkungsund Pflichtenkreise midi nicht zu versagen. Außerdem mag ich nicht leugnen, daß ich eine gewisse Genugtuung empfand, in dieser Weise nach Berlin zurückgeholt zu werden, nachdem man mich dreizehn Jahre früher ohne Gruß und Abschied hatte ziehen lassen. So schlug ich ein und erklärte, zum SommerSemester 1923 meine neue Stelle antreten zu wollen. Bevor wir Hamburg verließen, brach noch ein schweres Unheil über uns herein. Unser zweiter Sohn, der, 21 Jahre alt, in München studierte, fand auf einer Skitour in den bayrischen Alpen im Februar 1923 den Tod; erst im April konnte die Leiche geborgen werden. Durch sein sinniges Wesen und seinen alles Unreine von sich weisenden Charakter allgemein beliebt, hatte er unseren Herzen besonders nahe gestanden. Die Wunden, die uns der Verlust der beiden Söhne geschlagen hat, sind nicht mehr geheilt. Der Abschied wurde uns unter diesen Umständen besonders schwer. Die von der Universität geplanten Festlichkeiten wurden abgesagt, weil sie zu unserem seelischen Zustande nicht paßten. Dafür wurden mir aber vom Rektor und von der Hochsdiulbehörde, an deren Spitze jetzt Senator Petersen stand, in besonderen Schreiben Dank und Anerkennung in einem Maße ausgesprochen, das weit über mein Verdienst hinausging. Anteilnahme an unserem schweren Geschick mag hier mitgewirkt haben. Ein besonders herzlich gehaltenes Absdiiedssdireiben erhielt ich von Bürgermeister von Melle, der mich bat, meiner „alten

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Hamburgischen Arbeitsstätte mein freundliches Interesse zu bewahren", und mir „ganz besonders dankte für das, was idi für die werdende Universität in unermüdlichem, temperamentvollem Eifer gewirkt habe." Uberwältigend war die Güte und Freundlichkeit, die aus den Kreisen der Kollegen und anderer Hamburger Freunde sich über uns ergoß, auch in Friedrichsruh nahmen wir herzlichen Abschied. Aber uns war das Herz schwer, und wir fühlten uns erleichtert, als alles vorüber war. Nachdem wir noch einmal durch alle nun leeren Zimmer unseres Hauses geschritten waren, in denen wir so viele Jahre mit unseren vier Kindern glückliche Stunden verlebt hatten (ein dritter Sohn war uns im Jahre 1 9 1 2 geboren), verließen wir Hamburg am 14. April 1923 und fuhren einer Zukunft entgegen, von der ich, gedrückt durch die Lage unseres Vaterlandes und meine eigene, nichts mehr zu erhoffen wagte. Unser Haus ist durch Bomben zerstört, aber mit Liebe und Dankbarkeit denke ich auch heute noch der schönen Hansestadt, der ich ein blühendes Auferstehen wünsche. Es gibt in Deutschland keine Stadt, der ich mich inniger verbunden fühle als ihr.

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χ. Akademische Wirksamkeit Berlin I Universität und Akademie Als wir 1923 nach Berlin kamen, war die furchtbare Inflation auf ihrem Höhepunkte. Unser Umzug kostete ungezählte Milliarden, die Preise für das wenige, was man kaufen konnte, stiegen täglich, oft stündlich höher ins Ungemessene, die Gehälter in entsprechenden Zahlen wurden mehrmals wöchentlich in zusammengebündelten Papierscheinen ausgezahlt, die niemand nachprüfte, sondern summarisch nach dem Gewicht abschätzte. Gleich nach Empfang suchte man sie so schnell wie möglich in Waren, am liebsten in Nahrungsmittel, umzusetzen, um der nächsten Steigerung zuvorzukommen. Wer einen Dollar oder ein Pfund Sterling oder ein paar Schweizer Franken besaß, war ein Krösus. Er hielt sie fest, so lange er konnte, um wenigstens eine wertbeständige Stütze für den äußersten Notfall zu haben. Im Sommer 1921 hatten Rudolf Tschudi und seine Gattin, mit denen wir während des Krieges in Hamburg innige Freundschaft geschlossen hatten und die im Frühjahr 1919 nach der Schweiz zurückgekehrt waren, zwei unserer unterernährten Kinder zu sich genommen und sie uns im Herbst in einem dank ihrer treuen Pflege erstaunlich aufgebesserten Zustande zurückgeliefert. Im Sommer 1923 konnten meine Frau und ich ebenfalls eine Zeit lang in Basel ihre Gäste sein und uns dort auffrischen: Bei unserer Rückkehr in das ausgeplünderte und verarmte Deutschland fielen uns seine leeren Schaufenster und verwahrlosten Straßen um so schmerzlicher auf. Bei dem großen Wohnungsmangel mußten wir zufrieden sein, daß wir in den kümmerlichen Notbauten ein Unterkommen fanden, die in Wilmersdorf am Hohenzollerndamm für neu berufene Professoren errichtet waren. Die Wohnungen hatten wenigstens den einen Vorteil, daß sie kleine Gärten besaßen, die von den Inhabern mit Sachverstand und Liebe in starker Abstufung gepflegt wurden. Wir wohnten hier mit einem Dutzend Kollegen zusammen, zu denen unter anderen die Philosophen Heinrich Mayer und Eduard Spranger, der Musikhistoriker Abert, der Jurist Partsch und der Meteorologe Heinrich von Ficker gehörten. Das ganze Gehöft hatte den Ehrennamen „Genie-Kaserne'" erhalten. Wir haben alle gute Nachbarschaft gehalten, bis wir allmählich etwas Besseres fanden und das Feld räumten. Im übrigen war es mir aber wohltuend, aus den ungefestigten, nodi immer im Werden begriffenen Zuständen der neuen Hamburgischen Universität in feste, durch eine starke Tradition geregelte und beherrschte Verhältnisse zu

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kommen. Mir ging diese Beherrschung sogar zuweilen zu weit, ich stieß hier auf ein System von Formen, von denen manche nidit mehr in unsere Zeit paßten und muffig rochen. Wir hatten in Hamburg diesen Ballast vergangener Zeiten nicht mit in unser Schiff genommen, und idi erkannte hier, daß wir redit daran getan hatten. Was mir als besonders unzweckmäßig erschien, war die MammutGröße der philosophischen Fakultät, die ungeteilt die sämtlichen Naturwissenschaften und die Nationalökonomie mit umschloß. Bei der Größe der Berliner Universität — wir hatten 1 4 — 1 6 000 Studenten — waren die einzelnen Fächer sehr stark besetzt, und so bildeten schon die Vertreter der Geisteswissenschaften im engsten Sinne ein Kollegium, das dem ganzen Lehrkörper einer kleineren Hochschule nicht nachstand; durch das Verbleiben der Naturwissenschaftler aber ergab sich ein solches Riesengebilde, daß es im einzelnen von dem Dekan nicht mehr zu übersehen war. Als das Ministerium unter Becker die sehr berechtigte Absicht äußerte, eine besondere naturwissenschaftliche Fakultät abzutrennen, erhob sich bei den Hütern der Tradition — und es waren deren viele — ein solcher Lärm der Erregung, daß das Ministerium um des lieben Friedens willen den Plan fallen ließ. 1933 wurde die Teilung bei der Universitäts-Reform vollzogen. Ein anderes, längst überfällig gewordenes Überbleibsel vergangener Zeiten war die Bestimmung, daß für die mündliche Prüfung zur Erlangung des philosophischen Doktorgrades in jedem Falle die Philosophie Pflichtfach sei. Es ist mir immer schwer verständlich gewesen, wie man an dieser Bestimmung, die an ganz andere Voraussetzungen gebunden gewesen und daher von allen anderen Universitäten längst aufgegeben war, unter den völlig veränderten Verhältnissen der Gegenwart festhalten konnte. Sie stammte aus einer Zeit, wo die Philosophie als die Mutter aller Wissenschaften, als der Urgrund alles wissenschaftlichen Forschens die Vorbedingung für jedes Studium, auch der Naturwissenschaften war. Gewiß vermittelt sie audi jetzt wie immer die tiefen Zusammenhänge allen Wissens und gibt diesem schließlich Richtung und Ziel, aber in neuerer Zeit haben sich Philosophie und Einzelwissenschaften so durchdrungen, daß die erste für sich allein selbst zur Einzel- oder Fachwissenschaft geworden ist. Ich muß hier eines Wortes von Friedrich Engels, dem Freunde und Mitarbeiter von Marx, gedenken, mit dem ich mich — ausnahmsweise — einmal einverstanden erklären kann. Er meint: „Der moderne Materialismus (ich weiß nicht, warum nur dieser!) . . . braucht keine über den anderen Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klar zu werden, ist jede besondere Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig." Als Fachwissenschaft wurde denn auch die Philosophie in den Berliner Prüfungen, soweit ich habe feststellen können, immer behandelt. Die Studenten, denen sie eine höchst lästige Zugabe war, suchten sidi mit ihr so gut es eben ging und so billig wie möglich abzufinden, indem sie sich aus der Geschichte der Philosophie oder aus dem System eines hervorragenden Verkünders in Altertum oder Neuzeit ein bestimmtes Teilchen kurz vor der Prüfung mechanisch aneigneten und so dem Schein IJS

genügten. Ich habe diese Art des Examenbetriebes immer als eine Herabwürdigung der Philosophie empfunden und mich bei jeder Gelegenheit gegen die unzeitgemäß gewordene Bestimmung ausgesprochen. Erfolg habe ich damit bei der stark konservativen Fakultät nicht gehabt, von mancher Seite wurde ich deswegen heftig angegriffen. Bei der Reform ist auch diese Bestimmung gefallen. Bei den erwähnten Größenverhältnissen waren persönliche Beziehungen unter den Mitgliedern verschiedener Fakultäten von Amts wegen natürlich ausgeschlossen; wer nicht infolge besonderer Umstände den einen oder anderen der Kollegen kannte, blieb ein Fremdling unter Fremden. Selbst unter den Mitgliedern der Fakultät war es nicht viel anders. Das Sprechzimmer glich mehr dem Wartesaal eines großstädtischen Bahnhofs, es herrschte nidit einmal der „GrußComment". Von den Fakultätsitzungen bekam der Neueintretende einen seltsamen Eindruck. Man erblickte beim Betreten des Saales eine Menge laut und anscheinend erregt durcheinander redender und durcheinander laufender Personen und an einem Tische einen aufrecht stehenden Herrn, der sich vergeblich bemühte, Gehör und Aufmerksamkeit für seine Mitteilungen zu finden. Das Ganze madite auf mich einen Eindruck ähnlich dem, den ich beim ersten Besuch der Berliner Börse empfangen hatte. Der Redner war der Dekan, und seine Mitteilungen betrafen die meist sehr lange Reihe der Promotions-Kandidaten, die eben vorher ihre Prüfung abgelegt hatten. Außer den Examinatoren kümmerte sich aber niemand um die Ergebnisse. Nicht viel besser war es mit der Behandlung der sonstigen Fakultätsgeschäfte: wer nicht unmittelbar an dem Gegenstand beteiligt war, ging seinen eigenen Besprechungen nach. Die „Sitzungen" hatten in der Tat etwas von einer Nachrichten-Börse an sich. Ausnahmen wurden nur durch besonders wichtige Fragen bewirkt. Von Hamburg her war ich an ruhigere Formen gewöhnt, und es wurde mir schwer, midi an diese Art der Geschäftsbehandlung zu gewöhnen. Anderen, die ebenfalls von kleineren Universitäten kamen, ging es ebenso. Im Laufe der Zeit haben wir es dann erreicht, daß zunächst einmal genügend Sitze und Tische beschafft wurden, damit jeder die Möglichkeit erhielte, sich an einen festen Platz zu gewöhnen und in einer bequemeren Körperhaltung auch an den Geschäften teilzunehmen. Das Verfahren hatte schnelleren Erfolg, als wir erwartet hatten, und bald gaben Zucht und Ordnung der Versammlung ein ruhigeres und würdevolleres Ansehen. Im übrigen erzwang aber die Fülle der Geschäfte eine straffere und damit sdinellere Behandlung der einzelnen Fragen; Quisquillen, bei denen an kleineren Universitäten die Fakultäts-Geronten sich die Köpfe heiß reden, gab es hier nicht, dazu fehlte die Zeit und waren die persönlichen Beziehungen — ein Vorteil der großen Zahl — zu kühl. Die eigentliche Arbeit wurde überdies in den Kommissionen geleistet. Audi für das berüchtigte Cliquenwesen war in Berlin kein Raum. Ich habe in den zahlreichen Berufungsverhandlungen, an denen idi teilgenommen habe, niemals bemerkt, daß sich unsachliche Motive geltend gemacht hätten; die gegenseitige Kontrolle war hier viel zu stark, als daß sich eine rein sadiliche Würdigung der zu Berufenden hätte verdunkeln lassen. Die Einrichtung des sinologisdien Seminars, die idi vorfand, war nicht so, ij6

daß idi eine besondere Befriedigung hätte empfinden können. Der Zustand war audi deshalb noch ganz unsicher, weil ein Organisationsplan des Kultusministeriums zur Erörterung stand, der eine Reform des Seminars für Orientalische Sprachen vorsah und dadurch audi die orientalistischen Seminare der Universität stark berührte. Nach einer unter dem 30. April 1923 vom Minister dem Preußischen Landtage übermittelten Denkschrift, die Bezug nahm auf die früher erwähnte Denkschrift Beckers über die Förderung der Auslandsstudien von 1 9 1 7 (s. oben S. 135), aber nun, nach dem unglücklichen Ausgange des Krieges, mit stark veränderten Verhältnissen zu rechnen hatte, sollten nach dem Vorbilde von Hamburg die Universitätseminare zu einer Arbeitsgemeinschaft mit Einschluß des Seminars für Orientalische Sprachen zusammengefaßt werden. Das letzte sollte dann nach Kulturkreisen aufgeteilt und jeder dieser Teile dem entsprechenden Universitätsseminar angeschlossen werden. Dem sinologisdien Seminar würde also die chinesische Abteilung zufallen, für die japanische sollte ein japanisches Ordinariat an der Universität neu geschaffen werden. Die Dozenten des Seminars für Orientalische Sprachen sollten zunächst wissenschaftliche Hilfskräfte, später (nadi dem Ausscheiden der gegenwärtigen Inhaber der Stellungen) planmäßige Assistenten werden. Ihre Tätigkeit würde dieselbe bleiben wie bisher. Das Ganze, so nahm man an, würde nach Loslösung aller nichtorientalischen Fächer zu einem einheitlichen Orient-Institut zusammenwachsen. Die Leitung sollte nicht einem Direktor übertragen werden, sondern dem Kollegium der Leiter der Einzelinstitute verbleiben. Die nicht-orientalischen Wissensgebiete, die ursprünglich nidit zu dem Aufgabenkreise des Seminars für Orientalische Sprachen gehört hatten, sollten, soweit möglich und nötig, den dafür vorhandenen Universitätsinstituten zugewiesen werden, im allgemeinen waren die hier bestehenden Aufgaben bereits von diesen während der letzten Jahre in Angriff genommen worden. Bestimmt abgelehnt wurde der Gedanke einer Zusammenschließung aller auslandkundlidien Gebiete zu einem zentralen Auslandinstitut oder auch zu einer auslandkundlidien Fakultät unter ausdrücklichem Hinweis auf die in Hamburg mit diesem Experiment gemachten sdilimmen Erfahrungen. Wie es keine Kolonialwissenschaft gibt, so gibt es auch keine Auslandwissensdiaft. Hier wurden Studiengebiete verkoppelt, die nidits miteinander zu tun haben; sie werden entweder wieder auseinanderfallen oder die Sammelstätte eines oberflächlichen Dilettantismus bilden. In Berlin mag es möglich sein, daß Studierende der Hochschulen sich an solchem zentralen Auslandinstitut für ihre Wissenschaft etwa nötige Spezialkenntnisse holen, aber als selbständige Anstalt entbehrt diese Zentrale des Fundaments. Als idi nadi Berlin kam, beschäftigte dieser Organisationsplan außer dem Kultusministerium und dem Preußischen Landtag auch das Auswärtige Amt, das wegen der Ausbildung seiner Beamten im Seminar für Orientalische Sprachen an der Sache interessiert war. In einer unter dem 13. März 1 9 1 7 dem Reichstage zugeleiteten Denkschrift hatte der Reichskanzler bereits die Frage einer besseren Vorbildung für die Tätigkeit im Auslande erörtert und war dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Ausbildung der Anwärter des auswär-

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tigen Dienstes „eine breitere Grundlage haben müsse und nicht auf einzelne Länder zugeschnitten bleiben dürfe". Ebenfalls abgelehnt war der Gedanke einer Auslandhodisdiule aus den bereits früher angedeuteten Gründen und wegen der Unmöglichkeit, eine solche zentrale Lehranstalt auf das Reich zu übernehmen; es sei weit zweckmäßiger, das Auslandstudium „auf eine räumlich tunlichst breite Grundlage zu stellen" und die Fürsorge hierfür den Unterrichtsverwaltungen der Einzelstaaten zuzuweisen, die „vermöge der von ihnen bereits unterhaltenen Hochschulen" in erster Linie die Möglichkeiten dazu gewährten. Um dieselbe Zeit, im Winter 1 9 1 7 / 1 8 , war der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, von Kühlmann, nach Hamburg gekommen, um sich mit führenden Kaufleuten und mit einigen Professoren des Kolonialinstituts über eine innere Umorganisation des Amts zu besprechen. Es handelte sich vor allem um die Frage, ob an die Stelle der vertikalen Einteilung, die in der Dreiheit: politische, handelspolitische und Rechts-Abteilung gegeben war, nicht besser eine horizontale oder regionale nach Ländergruppen zu setzen sei. Die Frage wurde allgemein bejaht. Die regionale Einteilung gelangte danach zur Einführung, dabei wurde auch eine ostasiatische Abteilung gebildet, die leidige Dolmetscher-Laufbahn verschwand und ging in dem höheren Konsulatsdienst auf, der auch von dem diplomatischen Dienst nicht mehr so scharf getrennt blieb wie bisher. Die Sprachenfrage wurde in der Weise gelöst, daß bei den Anwärtern die Kenntnis des Englischen und Französischen vorausgesetzt wurde, aber durch eine Prüfung nachzuweisen war. Außerdem mußte eine dritte Sprache nach Wahl erlernt werden, die für den auswärtigen Dienst von Wichtigkeit war. So wurden endlich die schweren Bedenken behoben, die seit langem von zuständigen Beurteilern gegen die bestehenden Zustände immer wieder vorgebracht waren (s. oben S. 68). Diese Umformung des Dienstes veranlaßte das Auswärtige Amt 1923, als die Pläne hinsichtlich des Seminars für Orientalische Sprachen den Preußischen Landtag beschäftigten, mit dem Kultusministerium und den in Betracht kommenden Professoren die Ausbildung der Anwärter namentlich für den Dienst in den Ländern des slawischen, vorderasiatischen und ostasiatischen Kulturkreises im einzelnen zu beraten. Es war angeregt worden, audi in der Budgetkommission des Reichtstages, ebenso wie die Abteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen so auch die Ausbildung der Anwärter mit den Universitätsseminaren zu verbinden, wo diese die verlangten Kenntnisse sowohl der Sprachen wie der Realien zu erwerben hätten. Über das Maß dieser zu erwerbenden Kenntnisse hatten wir Professoren uns vqr allem gutachtlich zu äußern und konnten dabei manche irrige Vorstellung von der Beherrschung asiatischer Sprachen berichtigen. Zu festen Abmachungen haben die Beratungen nicht geführt, weil der ganze Plan des Kultusministeriums noch in demselben Jahre zerschlagen wurde. Nach seiner Übermittlung an den Landtag erhob sich eine wütende Opposition dagegen. Sie ging aus von ein paar Kampfhähnen unter den Dozenten des Seminars, die eine Beeinträchtigung ihrer Stellung argwöhnten und sich hinter einige bekannte Abgeordnete steckten. Dabei waren Sozialdemokraten wie Konserva-

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tive besonders zugänglich, da sie den volksparteilidien Kultusminister und seinen demokratischen Staatssekretär Becker als ihre Gegner betrachteten, von denen nichts Gutes kommen könne. So haben Unverstand und unsachliche Sonderinteressen den vortrefflichen Plan von 1923, der die Zustimmung aller wirklichen Sachkenner gefunden hatte, zum Scheitern gebracht. Das Ministerium zog im Hinblick auf die Stimmung im Abgeordnetenhause die Vorlage zurück. Midi haben die Vorgänge natürlich sogleich an die ähnlichen in Hamburg erinnert, wo ein gesunder Gedanke dieselben Kämpfe mit einem aufgepeitschten Philistertum zu führen hatte wie in Preußen. Aber dort setzte sich eine zielbewußte Staatsführung schließlich durch, in Preußen wich sie leider zurück. Die Zerschlagung der Beckerschen Pläne ist nicht ohne Einfluß auf die Stellung der Sinologie an den deutschen Universitäten geblieben. Die Vertretung dieser gewaltigen Wissensgebiete war von jeher eine ganz unzulängliche, gegenüber der von Semitistik und Indologie geradezu kläglich. Uber die Ursachen will ich mich hier nicht nochmals aussprechen, nachdem ich dies bereits vor vielen Jahren an anderer Stelle getan (vergi, auch oben S. 1 1 7 f.). Die Hauptschuld trifft immer die Fakultäten, bei denen das Verständnis für Ostasien immer noch mangelhaft ist. Wären die Berliner Pläne verwirklicht worden, so hätte dies vermutlich auf andere Universitäten zurückgewirkt, zumal das Auswärtige Amt von einer „räumlich tunlichst breiten Grundlage" solcher Studien gesprochen hatte. Nachdem man in Hamburg vorangegangen war, ist denn auch in Preußen seitdem manches geschehen, um die Sinologie auf mehreren Universitäten außer Berlin, wie Göttingen, Bonn und Frankfurt, heimisch zu machen. Nachdem die Beckersche Reform endgültig aufgegeben war, konnte ich mich der Um- und Neubildung meines eigenen Seminars widmen. Was von De Groot, der die Anlage einer Seminarbibliothek zum Gegenstande eines Akademievortrages gemacht hatte, an chinesischer Literatur beschafft war, bildete eine gute Grundlage: es waren alle notwendigen Wörterbücher, Glossare, Enzyklopädien, Geschichtsannalen, kanonischen Schriften und die bekannten großen Sammelwerke vorhanden, buddhistisches und taoistisches Schrifttum hatte er wohl aus eigenem hinzugetan. Sonst aber blieb noch viel aufzufüllen übrig, dessen Beschaffung ich mir angelegen sein ließ, soweit die nicht allzu großen Mittel dafür reichten. Angesichts der reichen Schätze der Staatsbibliothek glaubte ich auch besonders wählerisch sein zu müssen, um Doppelanschaffungen entlegener Werke zu vermeiden, so verlockend auch die Annehmlichkeit einer umfangreichen Seminarpräsenzbibliothek sein mochte. Es fanden sich aus De Groots Zeit noch ein paar alte Schüler vor, die dicht vor der Promotion standen, den neuen Stamm mußte ich mir selbst heranbilden. Es war dies in Berlin natürlich erheblich leichter als in Hamburg, und ich hatte allmählich ein Dutzend ernsthafter Hörer beisammen, mit denen ich auch schwierigere Texte zu beiderseitigem Nutzen lesen konnte. Anfänger pflegte ich für die ersten beiden Semester an das Seminar für Orientalische Sprachen zu verweisen. Sie erhielten dort eine gute Grundlage in dem gesprochenen modernen Chinesisch mit richtiger Aussprache und leidlichem Wortschatz und konnten sich rasch in Grammatik und Stil der Literatursprache 1

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alter und neuer Zeit einarbeiten. Idi halte diesen Weg des Studiums für natürlicher und zweckmäßiger als den umgekehrten, der mit der Literatursprache des Altertums beginnt. Ich vermag keine Veranlassung zu sehen, das Chinesische anders zu betrachten als jede andere lebende Sprache; niemand wird aber die Erlernung des Englischen und Französischen mit dem Beowulf und den altfranzösischen Epen beginnen. Neben den Seminarübungen pflegte ich eine öffentliche Vorlesung zu halten, meist über ein umfangreiches Thema im Überblick, sei es chinesisdie Geschichte oder Philosophie oder Religion. Anfangs hatte ich diese Vorlesungen so gestaltet, daß sie für Hörer aller Fakultäten geeignet waren. Meine Kollegen rieten mir gleich anfangs davon ab und meinten, das würde idi nidit lange fortführen. Leider haben sie recht behalten. Die Vorlesungen, die ich in Hamburg in den größten Auditorien gehalten hatte, waren hier so spärlich besudit, daß ich sie aufgab. Die Ursache habe ich schon früher erwähnt (s. oben S. 137). Meine Schüler im Seminar haben mir immer wieder versichert, daß es den Studenten zur Zeit völlig unmöglich sei, solche Kollegs zu besuchen, weil jede Stunde durch Pflicht- und Berufsvorlesungen sowie durdi Lohnarbeit besetzt sei. Es war ein großer Schaden für die allgemeine Ausbildung unserer Studenten, daß ihnen diese Einblicke in fremde Wissensgebiete versagt blieben, wie wir sie zu meiner Studienzeit gerade in Berlin mit vielem Nutzen genießen konnten. Freilich ging einem Teil der Studentenschaft auch durch die unfruchtbare Verwaltungsarbeit und die damit verbundene politische und soziale Agitation manche Stunde verloren, die hätte besser verwendet werden können. Bald nach meiner Ankunft in Berlin, noch im Frühjahr 1923, wurde idi in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt. Ich betrachte diese Wahl als den wichtigsten Einschnitt in meiner akademischen Laufbahn. Damit hatte ich das erlangt, worum ich immer besonders bemüht gewesen bin, was ich aber an einer so großen Universität wie Berlin sonst niemals hätte haben können: die enge Verbindung mit Gelehrten anderer Wissensgebiete, und zwar mit den bedeutendsten. Ich habe von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch gemacht, und der Gedankenaustausch, zu dem die Plauderstunden bei einer Tasse Kaffee und einer Zigarre nach den Sitzungen die angenehmste Gelegenheit boten, ist mir von großem Nutzen für meine Arbeiten gewesen und bildet einen der Kernpunkte in meinen Berliner Erinnerungen. Nur mit tiefer Wehmut kann ich heute jener Zeit gedenken, denn nahezu alle, mit denen ich damals eine geistige Gemeinschaft hielt, deckt jetzt der Rasen. So hat die Akademie mir mehr gegeben als die Universität, und es hat midi immer empört, wenn ich von den Angriffen las, die gegen sie von Leuten gerichtet wurden, denen jede Kenntnis von ihrem Wesen und ihren Leistungen abging. Es ist nicht die Schuld der Akademie, wenn ihre Arbeiten, die von jeher die Bewunderung des Auslandes erregt haben, in den heimischen Gelehrtenkreisen nicht immer die Beachtung gefunden haben, die sie verlangen konnten. Wer den öffentlichen Sitzungen der Akademie beiwohnte, in denen von den geleisteten und geplanten Arbeiten Rechenschaft abgelegt wurde, der bekam eine Vorstellung von dem, was die Akademie tat und was sie wert war. Aber leider wurde von dieser Möglichkeit im ganzen wenig Gebrauch ge160

macht, und ihre gekränkten Gegner mieden sie grundsätzlich. Der Reformeifer hat später auch vor der Akademie nidit Halt gemacht, aber trotz emsigen Suchens fand er nichts, was zu reformieren war, und so beschränkte er sich auf die Änderung einiger äußerer Formen, während der innere Organismus blieb, was er war. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die Arbeitsgebiete der Akademie moderner Ergänzungen bedürften, aber obwohl Widerspruch hiergegen niemals zu hören war und die Verfassung solchen Ergänzungen keinerlei Hindernisse in den Weg legt, ist es zu konkreten Vorschlägen niemals gekommen. Es hat auch wahrlich nicht an Vorträgen und anderen Arbeiten gefehlt, in denen Gegenstände allermodernster Art eingehend behandelt wurden. So lange nicht die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die Selbstergänzung des Mitgliederstandes angetastet wurde, sah ich keinen Grund für die Befürchtung eines wissenschaftlidien Absinkens der Akademie. War ich auch in Berlin befreit von den Verhandlungen und Kämpfen, die in Hamburg die Gründung und Einrichtung der Universität mit sich gebracht hatten, so traten bald andere Aufgaben an mich heran, die nicht weniger Zeit und Mühe beanspruchten. Auf die weitaus umfangreidiste davon, die Arbeit im Verband der Deutschen Hochschulen, werde idi noch zurückkommen. Etwa xVî Jahre nach meiner Ankunft wurde mir das Dekanat der philosophischen Fakultät angetragen, ein schon durch die Last des endlosen Kleinkrams erdrückendes Amt. Ich mußte das ehrenvolle Angebot zu meinem Bedauern ablehnen, da ein großer Teil meiner Zeit bereits durch die sonstigen Verpflichtungen belegt war und ich außerdem das dringende Bedürfnis empfand, nunmehr, wo ich in die Sechziger eingetreten war, mich endlich einmal den wissenschaftlichen Plänen zu widmen, die ich seit Jahren mit mir herumtrug. Das Leben in Berlin bringt es mit sich, daß es an jeden, der sich ihm nicht grundsätzlich verschließt, Anforderungen mannigfacher Art stellt, die durch den eigentlichen Beruf nicht bedingt sind, die sich aber in der Regel in dem Maße vermehren, wie man ihnen nachkommt. Was Universität und Akademie, also die beiden Zentren des Berufs, an solchen Sonderleistungen verlangten, war dem gegenüber sehr bescheiden. Vertretungen des Rektors oder der Akademie bei Festlichkeiten, Kongressen, Trauerfällen oder sonstigen Gelegenheiten, Vorträge bei ähnlichen Anlässen oder in den öffentlichen Sitzungen waren die einzigen Ansprüche, die außerhalb des eigentlichen Pflichtenkreises gestellt wurden. Eine besonders ergiebige Vertretung des Rektors ist mir in der Erinnerung geblieben, die ich bei der Einweihung des „Hauses des Deutschtums" in Stuttgart im Mai 1925 zu übernehmen hatte. Es war diese Gründung nur die Erweiterung der im Jahre 1 9 1 7 geschaffenen Stelle (s. oben S. 146), Der neue Sammelpunkt des ausländischen Deutschtums war unzweifelhaft wertvoll; seine Tätigkeit hat sich als sehr wirkungsvoll erwiesen. Unter den Vertretungen der Akademie war mir die denkwürdigste die auf dem fünften internationalen Kongreß für Religionsgeschichte in Lund in Schweden im August 1929. Als Vortragsthema hierfür hatte ich die Frage der Konfuzianisierung des chinesischen Staates zur Han-Zeit gewählt, bedauerte dies aber nach der Anmeldung, da idi auf ernsteres Interesse in dieser Versammlung 11 Franke, Erinnerungen

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dodi nicht rechnen zu dürfen glaubte. Mehr gleichgültig als mißgestimmt begab ich mich in den Saal in der Erwartung, vor leeren Bänken sprechen zu müssen. Als ich die Tür öffnete, fuhr ich einen Augenblick zurück: in den ersten Reihen saßen der Kronprinz und die Kronprinzessin von Schweden mit ihrer Begleitung und mehreren höheren Beamten, der ganze Saal war voll besetzt. Ich wußte, daß der Kronprinz warmes Interesse für ostasiatisdie Dinge hegte, glaubte aber, daß dies nur der Kunstgeschichte, nicht aber der politischen Geschichte des Landes gelte. Ich erholte mich rasch von meiner Verwirrung und freute mich der unverhofften Ehre, die mir hier zuteil geworden war. In einer Unterhaltung bei dem Bankett am Abend hatte idi weiter Gelegenheit, die ernste Anteilnahme des Kronprinzen an sinologischen Problemen zu beobachten. Schweden ist ja in der Tat auch durch die glücklichen Funde seiner Geologen und Archäologen in chinesischer Erde in die vorderste Reihe der sinologisdien Bodenforschung gerückt worden. Mit dem Kongreß verband idi eine äußerst lohnende Reise durch Schweden, indem ich mit einem kleinen Dampfer von Göteborg aus auf dem großen Kanal durch das Seengebiet des südlichen Schweden nach dem herrlich gelegenen Stockholm fuhr. Die fünftägige Fahrt, die durch abwechslungsreiche Landschaften, bald dichten Wald, bald ausgedehnte Seen führt, ist sehr reizvoll und wegen der großartigen Schleusenanlagen — die Schiffe überwinden Höhen von hunderten von Metern — auch besonders interessant. Außerdem bekommt man an den zahlreichen Anlegeplätzen viel bunte Bilder schwedischen Lebens zu sehen. Die Reise war für uns von Anfang bis zu Ende ein Genuß. In Stockholm konnte ich die reichen vorgeschichtlichen Funde von Anderson aus der Mandschurei, Honan und Kansu bewundern, die dort von sachkundiger Hand bearbeitet werden. Ich hatte über diese Funde bereits im September 1926 auf dem Deutschen Orientalistentag in Hamburg gesprochen und war erfreut, nun die Originale kennenzulernen. Bei einem Abstecher nach Uppsala genoß ich die Gastfreundschaft der dortigen Universitäts-Kollegen und erhielt dabei einen Einblick in die Einrichtungen der Universität und in die Schätze der Bibliothek. Die schwedische Reise erschien mir als die Ergänzung einer im Jahre vorher aus Anlaß des Historiker-Kongresses in Oslo im August 1928 mit meiner Frau unternommenen Reise in Norwegen. Wir traten diese schon im Juli an, um nicht nachher in den Herbst zu kommen. Von Oslo aus reisten wir nach Bergen und von dort mit Bahn, Auto und Schiff auf vielfachen Seiten- und Umwegen über Gudvangen, Baiestrand am Sogne-Fjord, Olden, Merok, Alesund, Kristiansund nach Drontheim, von wo wir durch das Gudbrandsdal über Lillehammer mit seinen berühmten Freilicht-Museen nach Oslo und nach dem Kongreß über Kopenhagen nach Deutschland zurückkehrten. Die Länder Skandinaviens haben mir einen stärkeren Eindruck hinterlassen als die des Südens. Gewiß nehmen diese mit ihren berauschenden Farben und Düften auch den Nordländer zunächst gefangen, aber Norwegens erhabene Gebirgslandschaften, die zum Teil unmittelbar aus dem Ozean aufsteigen, seine einsamen, düsteren Täler, an deren Hängen der Bauer auf seinem Einödhof haust, seine gewaltigen Gletscher, an deren Fuße der Waldbaum mit dem Eise kämpft, 162

seine mächtigen Wasserfälle und seine Fjorde mit ihrer hinreißenden Schönheit, dazu auf der anderen Seite das weniger gestrenge Schweden mit seinem Fruchtparadies von Schonen, seinen Seen und Wäldern zwischen Ostsee und Skagerrak und den endlosen Einsamkeiten im Norden sprechen doch eine verständnisvollere Sprache für ein norddeutsches Gemüt und machen ihm die Heimatliebe des Skandinaviers sympathisch. Ich zweifle indessen nicht, daß ein solches Urteil durch Imponderabilien bestimmt ist, die mit der Naturanlage zusammenhängen. Um eine ständige Vertretung des Rektors handelte es sich bei der „Kommission für Gastvorlesungen". Dieses Kollegium, dem ich zuerst als Mitglied, dann mehrere Jahre als Vorsitzender angehört habe, hatte die Aufgabe, auswärtige, vor allem ausländische Gelehrte zu einmaligen Vorträgen an der Universität einzuladen. Die Einladung und Begrüßung erfolgten im Namen des Rektors. Wer die erste Anregung hierzu gegeben hat, weiß ich nicht. Ich habe mich für diese Kommission niemals recht erwärmen können, habe aber wenigstens darauf bestanden, daß nur Personen eingeladen wurden, die sich als besonders deutschfreundlich hervorgetan hatten. Immer ist mir dies freilich nicht gelungen. Es war unter den Gastvorträgen manche bemerkenswerte Leistung, am bemerkenswertesten der Vortrag des englischen Nationalökonomen John Meynard Keynes, der durch sein mannhaftes Verhalten als Sachverständiger beim Zustandekommen des Diktats von Versailles bekannt geworden war, indem er auf die verheerenden wirtschaftlichen Folgen davon hingewiesen und danach sein Amt niedergelegt hatte. Eine nicht immer erfreuliche Arbeit verlangte die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Es war dies eine gleich nach dem Kriege mit Reichsmitteln ins Leben gerufene Stiftung, die der notleidend gewordenen Wissenschaft so weit wie möglich Hilfe leisten sollte. Für eine sachkundige Prüfung der eingehenden Bewerbungen um Unterstützung war ein großer Stab von Gelehrten aller Wissensgebiete gebildet, zu dem natürlich die Universitäten und Akademien das Hauptkontingent zu stellen hatten. Ich war Gutachter für die Arbeiten chinakundlicher Art und habe an dieser Tätigkeit nicht viel Freude gehabt. So befriedigend es war, gute wissenschaftliche Arbeiten zu fördern und ernsthaften jungen Sinologen durch ein Stipendium in den Sattel zu helfen, so unerfreulich war die Zudringlichkeit der Dilettanten und Halbwisser oder der aufgeblasenen „Übersetzer", die sich für verkannte Genies hielten. Die Notgemeinschaft ist die Retterin der deutschen Wissenschaft in einer, sehr kritischen Lage gewesen; ihr Präsident, der frühere preußische Kultusminister Schmidt-Ott, hat sich durch seine unermüdliche Fürsorge ein hohes Verdienst erworben, fast alle deutschen Akademien der Wissenschaften haben ihn zum Zeugnis dessen zu ihrem Ehrenmitgliede gewählt. Die Notgemeinschaft bestand seit 1934 in ihrer damaligen Form nicht mehr, sie lebte aber fort in dem Reichsforschungsrat, dessen Name auch der veränderten Lage besser entsprach.

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XI. Akademische Wirksamkeit Berlin 2 Politik, Wissenschaft, Familie Hätte ich in Berlin nicht mit aller Energie die Flut der außerdienstlichen Ansprüche abgewehrt und nicht hartnäckig darauf bestanden, der Wissenschaft den ihr zukommenden Anteil an meiner Zeit und Kraft zu sichern, so würde ich, wie mancher andere, der Gefahr erlegen sein, in der Flut den Boden der Wissenschaft zu verlieren und ganz in dem politischen, sozialen, literarischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Getriebe der Weltstadt aufzugehen. Es ist kein Zweifel, daß diesem Getriebe viele und starke Versuchungen innewohnen, und wer auch nur ein wenig an Eitelkeit, Ehrgeiz und Geltungssucht leidet, wird leicht auf seine Rechnung kommen: hat er erst dem Werben um seine Mitwirkung die Hand gereicht, so wird es ihm gehen wie dem Fischer bei Goethe, das Berliner Leben wird ihn bald ganz hineinziehen. Freilich, die wissenschaftliche Fruchtbarkeit wird dabei absterben, man hat Beispiele genug beobachten können, wie aus dem Gelehrten ein politischer Führer, ein vielbegehrter Vortragskünstler, ein geistreicher Salonheld wurde, aber die ernste Forschung unbeachtet im Winkel stand. Berlin ist deshalb in der akademischen Welt gefürchtet, weil neben diesen Klippen des Lebens auch die erdrückenden Prüfungs- und Fakultätsgeschäfte der stillen Forschungsarbeit gefährlich werden. Ich habe bereits erwähnt, daß ich mich der Würde des Dekanats versagte, weil ich von meiner Zeit nicht mehr opfern konnte. Es blieb ohnedies noch genug, was an ihr zehrte. An erster Stelle standen hierbei die Anforderungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen. Der Verband war im Anfang des Jahres 1920 gegründet worden und bezweckte, wie es kurz im ersten Paragraphen seiner Satzung hieß, „die Vertretung der gemeinsamen Interessen der Deutschen Hochschulen". Mitglieder waren nicht einzelne Personen, sondern die Universitäten, Technischen, Forstlichen, Landwirtschaftlichen, Tierärztlichen Hochschulen, Bergakademien und zwei Handelshochschulen. Die Gründung war, wenn nicht auf Anregung des Preußischen Kultusministeriums erfolgt, so jedenfalls, wie es in einem Ministerialerlaß vom 2. Juni 1920 hieß, „mit besonderer Sympathie von ihm begrüßt worden". Das Ministerium „erwartete auch von der Zukunft ein immer vertrauensvolleres Zusammenwirken mit ihm im Interesse der deutschen Wissenschaft". Dieses Zusammenwirken hat sich in der Tat auch während der folgenden Jahre fruchtbringend gestaltet und ist trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten niemals ernstlich getrübt worden. Der Hochschulverband war insofern ein Kind 164

seiner Zeit, als sich seit der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts die einzelnen Berufsgruppen zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen und Standesinteressen mehr und mehr zusammenschlössen und deshalb die Wissenschaftler, die ohnehin schon wenig rücksichtsvoll behandelt wurden (vergi. S. ι $8 f.), wenn sie nicht völlig in den Hintergrund abgedrängt werden wollten, sich dem allgemeinen Organisationstreben anschließen mußten. Ich habe früher erwähnt, daß die Akademiker-Bünde solche Organisationsgrundlagen, da sie in die Gewerkschaftsatmosphäre hineinragten, grundsätzlich ablehnten (s. oben S. 144). Nun soll man aber nicht meinen, der Hochschulverband habe in seiner Interessenvertretung gewerkschaftliche Charakterzüge angenommen; tatsächlich sind wirtschaftliche Kampfmethoden irgendwelcher Art für ihn niemals in Frage gekommen, er hat seine Aufgabe vielmehr überwiegend in der Förderung und dem Schutze der idealen Güter der Hochschullehrer gesehen. Gewiß hat er sich auch der wirtschaftlichen Unebenheiten in den Kreisen seiner Mitglieder — und es gab deren nicht wenige — tatkräftig angenommen, und wo es Mißstände gab, auf deren Beseitigung gedrängt, aber allem voran stand die Sorge um die wohlerworbenen Rechte der Hochschulen, um die Freiheit von Forschung und Léhre und um das Ansehen, die Ehre und die Reinheit der deutschen Wissenschaft. Dabei sind auch die Wünsche und Interessen der Studenten, soweit sie berechtigt waren, immer mit dem gleichen Nachdruck, zum Teil gemeinsam mit den damaligen amtlich anerkannten „Studentenschaften" von dem Verbände vertreten worden. Das Verhältnis zu dem Reichsausschuß akademischer Berufstände und dem Bunde höherer Beamten ist zwar anfangs erörtert, aber aus den angedeuteten Gründen zu keinem Zusammenwirken entwickelt worden. Vertreten war die einzelne Hochschule im Verbände durch ihren Rektor und zwei Mitglieder ihres Lehrkörpers, die von der Hochschule auf sechs Jahre gewählt wurden. Von den letzten war einer zugleich der Vertreter des Landes, in dem die betreffenden Hochschulen lagen, und hatte als solcher die nötig werdenden Verhandlungen mit der Landesregierung zu führen. Für die Arbeiten des Verbandes waren ständige Ausschüsse gebildet, die auf den Sitzungen des Vorstandes oder den Mitgliederversammlungen (Hochschultagen) über ihre Tätigkeit Bericht erstatten mußten. Es gab Ausschüsse für Verfassungs- und Verwaltungsfragen, für Schulfragen, für wirtschaftliche Fragen, für Studentenfragen, für Promotionsfragen, für Auslandsfragen und verschiedenes andere. Ich war schon in Hamburg als Berater des Ausschusses für Auslandsfragen tätig gewesen, und als ich nach Berlin übergesiedelt war, wurde ich neben dem Rektor einer der beiden Vertreter der Universität und zugleich Landesvertreter für Preußen, danach aber auch Vorsitzender des Ausschusses. In diesem mußten gerade zu jener Zeit die wichtigsten politischen Fragen behandelt werden, die den Verband überhaupt beschäftigt haben, so daß es stets eine Fülle von Arbeit gab. Diese Dinge verlangten aber oft sofortige Entscheidung bei aufkommenden Zweifeln, und es war mir daher nicht möglich, immer erst die Ausschußmitglieder zusammenzurufen, die auf verschiedenen Hochschulen saßen, ihnen die Fälle auseinanderzusetzen und über das Verfahren zu beraten. Ich bedurfte deshalb

einer größeren Selbständigkeit, als sie die anderen Ausschuß-Vorsitzenden besaßen, und erbat mir die Vollmacht, in allen Fragen allein und sofort zu entscheiden, wie die Lage es erforderte. Diese Vollmacht, die zugleich einen Beweis großen Vertrauens darstellte, gewährte mir der Vorstand. Der Ausschuß wurde aufgelöst und ich zum „Sachbearbeiter für Auslandsfragen" bestimmt. Von 1927 ab, als Seeberg wegen seiner Emeritierung ausscheiden mußte, war ich selbst Mitglied des Vorstandes. Was meine Arbeit im Verbände der deutschen Hochschulen von 1921 bis 1932 ausgemacht hat, war die Leitung der heimischen Reaktion auf den im Versailler Diktat gegründeten Boykott der deutschen Wissenschaftler und der deutschen Wissenschaft. Der Hochschulverband war die gegebene Stelle, die als Repräsentant der deutschen Wissenschaft den Kampf aufnehmen und führen mußte, der Sachbearbeiter für Auslandsfragen hatte ihn technisch zu organisieren. Meine Absicht war, ganz in der Defensive zu bleiben, bis man begann, uns zu bitten, die zerrissene Gemeinschaft wieder aufzunehmen. Das erstrebte Ziel ließ sich mit Sicherheit erreichen, wenn die deutschen Gelehrten einig und fest blieben. Wäre der Hochschulverband nicht gewesen, so hätte vermutlich unsere Professorenschaft, deren politische Einsicht im allgemeinen schwach entwickelt war, den Boykott-Bestrebungen gegenüber eine klägliche Rolle gespielt. Hilfe über diplomatische Stellen war hier weder zu erwarten noch erwünscht. Als der französische Kultusminister de Monzie seinen deutschen Kollegen in Hamburg besuchte, wurde bei dem ihm zu Ehren gegebenen Frühstück audi über die Haltung der Gelehrten beider Länder gesprochen. Ein Legationssekretär der französischen Botschaft, der neben mir saß, sprach sein Bedauern aus über die spröde Kühle des Hochschulverbandes. Ich konnte ihn auf die soeben veröffentlichte rhetorisch sehr schöne Aufforderung einer großen Zahl französischer Gelehrter an ihre polnischen Kollegen zu einer gemeinsamen „Wacht an Rhein und Weichsel" gegen die deutschen „Barbaren" hinweisen und ihn fragen, ob unsere „Sprödigkeit" unter solchen Umständen nicht angezeigt sei. Erregt und verlegen erwiderte er, daß die Regierung davon nichts wisse, sonst würde sie es nicht geduldet haben. Herr de Monzie aber meinte: „Was können wir gegen die Reden dieser Leute tun?" Diese Boykott-Periode, deren Bedeutung ich in Vorträgen und zahlreichen Aufsätzen in Zeitungen und Zeitschriften, besonders in den „Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen" immer wieder erläutern mußte, erforderten viel Zeit und Arbeit, aber der Erfolg ist nicht ausgeblieben. Bis 1931 hatte sich die Lage soweit geändert, daß Berechtigung bestand, nunmehr an der internationalen Zusammenarbeit wieder teilzunehmen. Um die gleiche Zeit traten auch die Akademien der Wissenschaften dem großen Verband der Akademien bei. Ich selbst wurde bald in einen der neu organisierten Verbände der Geisteswissenschaften hineingezogen. Im September 1938 fand in Zürich eine Versammlung des „Internationalen Komitees für historische Wissenschaften" statt. Es war nichts anderes als ein Kongreß der Historiker, die sich neu zu einzelnen Abteilungen zusammengeschlossen und ständige Komitees für die laufenden Geschäfte eingesetzt hatten. In Zürich wurde eine Abteilung für Ostasiatische Geschichte neu ge166

bildet und ein Komitee dafür gewählt, das aus dem hervorragenden französischen Kunsthistoriker René Grousset, dem als Spracherneuerer berühmt gewordenen chinesischen Literarhistoriker H u Schi, der seit 1932 korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften war und von Zürich als chinesischer Botschafter nach Washington ging, und mir bestand. Herr Grousset, der mir durch seine vornehme und verständnisvolle Haltung in seinen Schriften immer aufgefallen war, konnte nicht nach Zürich kommen, so daß ich leider seine persönliche Bekanntschaft nicht gemacht habe. Dagegen verlebte ich mit H u Schi ein paar Tage ständigen Beisammenseins in angenehmstem Meinungsaustausch. Wir sind nicht wieder zusammengekommen, weil ein Jahr später der neue Krieg entbrannte. Zwei Männer sind es vor allem gewesen, die mir während dieser Zeit mit ihrer unschätzbaren H i l f e zur Seite gestanden haben: Karl Kerkhof, der Begründer und Leiter der von ihm zu glänzender Höhe geführten Reichszentrale für wissenschaftliche Berichterstattung, und Georg Karo, der rühmlich bekannte einstige Leiter des deutschen Archäologischen Instituts in Athen, dann Professor in Halle. Der erste mit seiner umfassenden Sachkenntnis und seinen reichen Materialsammlungen, der letzte mit dem Gewicht seines internationalen Ansehens und seiner mitreißenden deutschen Gesinnung haben das Hauptverdienst um die Erstarkung des Selbstgefühls im deutschen Gelehrtentum zu jener Zeit. (Karl Kerkhof, der Achtundsechzigjährige, wurde nach der Besetzung Berlins durch die Russen im Mai 1945 mit vielen anderen aufgegriffen und abtransportiert. Er starb in Mecklenburg infolge eines Schlaganfalles. Sein Grab ist unbekannt. Georg K a r o wurde im November 1938 ein Opfer des Judenpogroms in München. Sein Heim wurde zerstört, er selbst konnte nach Amerika entkommen. In Treue und Dankbarkeit bewahre ich beiden ein herzliches Gedenken.) Mit tiefem Bedauern muß ich hier feststellen, daß unter allen deutschen Hochschulen diejenige, die das wenigste Interesse an den Arbeiten des Hochschulverbandes nahm und deren Gleichgültigkeit sich bisweilen zu kaum verhüllter Feindseligkeit steigerte, die Universität Berlin war. Ich bin mehrmals dem Entschlüsse nahe gewesen, dem Senate zu empfehlen, die Mitgliedschaft aufzugeben, es würde sich dann das beschämende Bild ergeben, daß die größte der deutschen Hochschulen allein keinen Teil haben wollte an den Bewegungen und Bestrebungen in der deutschen akademischen Welt. N u r auf Bitten meiner Freunde habe ich den Schritt unterlassen. Die alleinige Ursache dieser Haltung, wenigstens in der philosophischen Fakultät, war die Verstocktheit einiger ultrakonservativer Größen, die unbesehen alles verdammten, was neu war, und da auch der Hochschulverband eine neue Erscheinung war, so verfiel er der gleichen Verdammung. Diese summarische Verneinung erinnerte mich an das Dictum jenes Parlamentariers: „Ich kenne die Absichten der Regierung nicht, aber idi mißbillige sie." Die Indolenz aber, die von der Fakultät solchem Verhalten einiger weniger gegenüber gezeigt wurde, ist auch nur durch ihre unhandliche Massigkeit zu erklären. Ein Gegenstand ließ allerdings bei seiner Behandlung sofort das gespannte Interesse aller Herren Kollegen, und zwar nicht bloß in Berlin, auflodern, das w a r 167

die Frage der Regelung der Gehälter und Kolleggelder. Mit den ausschweifendsten Wünschen und Vorschlägen wurden wir jetzt im Verbände überflutet, und als wir darauf aufmerksam machten, daß vieles davon sich leider an den harten Ecken der Finanzverwaltungen stieße, wurden allenthalben die Zeidien des Unwillens spürbar. In Berlin sagte man mir rund heraus: was nützt uns dieser Hochschulverband, wenn er nicht einmal die erstrebte Höhe unserer Bezüge durchsetzen kann! Auch diese Erfahrungen haben meine Ehrfurcht vor dem akademisdien Idealismus nicht verstärkt. Trotzdem denke ich aber gern und nicht ohne Befriedigung an meine Tätigkeit im Hochschulverbande zurück. Er hat sich als eine notwendige und segensreiche Einrichtung erwiesen, und ich habe niemals die Zeit bedauert, die idi ihm gewidmet habe. Mit meiner Emeritierung im September 1931 kam meine Tätigkeit zu Ende, auf dem Hochschul tag in Danzig 1932 verabschiedete ich mich. Im Jahre 1934 wurde der Verband aufgelöst. Neben dem Hochschulverband waren es noch einige andere politische Stellen, die meine Mitwirkung in Ansprudi nahmen. So hatte sich nach dem Kriege der Bund der Auslanddeutschen gebildet, d. h. eine Vereinigung der deutschen Reichsangehörigen, die im Auslande, darunter auch in China, durch die Engländer ihres Besitztums beraubt und mit ihren Ersatzansprüchen an die zahlungsunfähige deutsche Regierung verwiesen waren. Viele Beratungen haben wir nidit abgehalten. Es war auch wenig zu beraten, denn die deutsche Regierung war wohl willens zu helfen, soweit ihre Mittel reichten, aber an einen vollen Ersatz des Schadens war natürlich nicht zu denken. Am 24. Juni 1925 war ich mit dem letzten Gouverneur des Schutzgebietes Kiaotschou, Meyer-Waldeck, beim Reichspräsidenten von Hindenburg zum Vortrag über die Notlage vieler Landsleute. Der Reidispräsident, der an dem Tage außerordentlich frisdi und lebhaft war, hörte uns mit Teilnahme an und versprach uns zu tun, was möglich sei, ließ uns aber audi keinen Zweifel über die Grenzen dieser Möglichkeiten. Ich konnte nichts anderes tun als einige besonders aufgeregte Leute, die anscheinend nodi immer in Illusionen befangen waren und weidlich auf die knauserige deutsche Regierung schimpften, darauf hinzuweisen, daß sie ihren Zorn gegen die falsche Stelle riditeten. Auf der Tagung der deutschen Ausland-Handelskammern im September 1924 kam zum Glück die feste Zuversicht zum Ausdruck, das Zerstörte trotz allem bald wieder aufbauen zu können. In China hat sich dies dank der unveränderten freundlichen Gesinnung der Chinesen audi durchaus verwirklicht. Auch mit dem Grenz- und Ausland-Deutschtum, dem das Haus des Deutschtums in Stuttgart (s. oben S. 1 6 1 ) gewidmet war, kam ich in dieser Zeit wiederholt in Berührung. In Marburg bestand seit mehreren Jahren die „Deutsche Burse", ein Internat für junge Ausland-Deutsche, die dort studierten und in einer Atmosphäre deutschen Gesamtempfindens gehalten wurden. Dazu kam 1927 in Köpenick bei Berlin das „Deutsche Heim", das dem gleichen Zwecke diente, aber nidit bloß für Studenten errichtet war. An beiden Instituten habe ich mitgewirkt, an dem ersten durch mehrfache Vorträge, an dem letzten als Mitglied des Vorstandes. 168

Manchen Abend habe ich den Sitzungen der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen gewidmet, die, bald nadi dem Kriege gegründet, von Major von Wegerer musterhaft geleitet wurde und sich zur Aufgabe gesetzt hatte, alle Literatur über die Entstehung des Krieges zu sammeln und durch Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse die dem Versailler Diktat zugrunde gelegte These von Deutschlands Alleinschuld am Kriege (ich habe den Zusatz „allein" immer für überflüssig gehalten und als ein Zeichen von Unsicherheit und Kompromißneigung angesehen) zu widerlegen. Ihr Organ waren die „Berliner Monatshefte", und niemand wird leugnen wollen, daß das hierin veröffentlichte oder angezeigte Material für die künftige Geschichtschreibung von hohem und bleibendem Werte ist. Eine ganze Anzahl bedeutender Forscher aus akademischen, militärischen und staatsmännischen Kreisen — zu den letzten gehörte der fast neunzigjährige Wirkliche Geheime Rat Raschdau, der letzte lebende Mitarbeiter des Fürsten Bismarck, — hatte sich hier zusammengefunden, und die Sitzungen mit ihren Vorträgen und Erörterungen waren höchst anregend. Viel praktischen Wert für unsere politische Lage habe ich den Arbeiten der Zentralstelle allerdings nicht beimessen können. Sehr erfreulich waren die Beziehungen zur chinesischen Gesandtschaft, späteren Botschaft, die ich gleich nach meiner Rückkehr nach Berlin wieder aufgenommen hatte. Manches hatte sich hier seit meiner einstigen Tätigkeit verändert, ich erhielt einen Maßstab für die Wandlungen, die sich in China selbst inzwischen vollzogen hatten. Verschwunden war die chinesische Kleidung, alle Mitglieder sprachen eine der drei bekanntesten Sprachen, Deutsch, Englisch, Französisch; europäisch war die Einrichtung der Gesellschaftsräume und europäisch die Form des Verkehrs. Selbst die Sprache hatte sich von Grund aus modernisiert, und mein Chinesisch war während der verflossenen Jahre antiquiert geworden, was ich bis dahin gar nicht bemerkt hatte. Oftmals erregten meine altmodischen Redewendungen eine liebenswürdige Heiterkeit, so daß ich mich mehr und mehr auf die europäischen Sprachen zurückzog, wozu die europäische Umgebung an sich schon oft nötigte. Geblieben waren aber zum Glück die alten chinesischen Tugenden der Höflichkeit, der Hilfsbereitschaft, der Anhänglichkeit, der Freundestreue. Ich habe sie unter den verschiedenen Missionschefs ohne Ausnahme in reichem Maße genossen. Jeder Wunsch nach sachlicher Auskunft oder literarischer Unterstützung wurde mir im Rahmen des Möglichen erfüllt. Auch ein reger gesellschaftlicher Verkehr intimerer Art hatte sich im Gegensatz zu früher entwickelt. Die gastfreien Räume der Botschaft waren oft der Sammelpunkt der zahllosen Berliner und Berlinerinnen, vom Minister bis zum jungen Kaufmann, die in China gelebt hatten oder an ihm interessiert waren. Als einmal für den Botschafter zum Zeichen der allgemeinen Sympathie ein Subscriptions-HerrenBankett veranstaltet wurde, waren der Teilnehmer so viele, daß sie in dem größten Saale eines der größten Berliner Hotels nur schwer Platz fanden. Die zahlreichen in Berlin und anderen Städten studierenden jungen Chinesen waren — ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten (s. oben S. 120) — mit wenigen Ausnahm men ernste und pflichtbewußte Leute. Wie es sich aus der unsicheren, labilen Lage

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ihres Vaterlandes und dem Ringen um internationale Gleichberechtigung erklärt, waren sie politisch höchst empfindlich, immer besorgt, daß man sie wie in der Vergangenheit für minderwertig ansehen könnte. Ich habe midi oft bemüht, ihnen diese Besorgnis als unbegründet auszureden, aber keineswegs immer Erfolg gehabt. Einzelne bedenkliche Entgleisungen ihrer Überempfindlichkeit habe ich ohne Zaudern scharf gerügt, wenn die jungen Leute meine Meinung einholten, aber ich darf ihnen nachrühmen, daß sie mir unverändert ihr Vertrauen und ihre Freundschaft bewahrt haben. Von allen meinen Kollegen habe ich immer ihren Fleiß und ihre hohe Begabung loben hören. Im Herbst 1925 konnte ich bei dem Botschafter die Bekanntschaft des Herrn Tschitscherin machen, des damaligen Volkskommissars für die auswärtigen Angelegenheiten in der Sowjetunion. Er war als ehemaliges Mitglied des diplomatischen Dienstes zur Zarenzeit durchaus kein proletarischer Typus, sondern zeigte in tadelloser Kleidung und tadellosen Formen seine Herkunft. In der Unterhaltung machte er einen müden, abgekämpften Eindruck; auf meine Frage nach seinen Reiseplänen sagte er, daß er glücklich sein würde, wenn er erst in einem deutschen Badeorte seiner Gesundheit leben könnte. So viel ich weiß, ist er nach Beendigung seiner Kur nicht wieder in den Dienst zurückgekehrt. Bald nachher, im Januar 1926, machten die Russen, und zwar sowohl von Moskau wie von ihrer Botschaft in Berlin aus, den Versuch, mit mir in Verbindung zu kommen. Die Veranlassung dazu hatte ihnen, wie ich später erkannte, mein Buch „Die Großmächte in Ostasien" (s. oben S. i j o ) gegeben, in dem ich midi über die imperialistischen Pläne Englands in Zentralasien geäußert hatte. Es währte indessen nur sehr kurze Zeit, bis die Bolsdiewisten mich als untaugliches Objekt für ihre Zwecke erkannt hatten. Was China anlangt, so hatte sich unsere Stellung dort dank unserer allmählich verbesserten kulturpolitischen Haltung (s. oben S. 1 1 9 ff.) ständig gefestigt und erweitert, und gerade unter dem Präsidenten Tsiangkaischek war sie bis zum Ausbruch des unheilvollen ostasiatischen Machtkampfes zum Verhältnis einer ehrlichen Freundschaft geworden. Es zeigte sich dies unter anderem bei dem Besuche eines chinesischen Ministers in Berlin 1925 oder 1926. Der Reichskanzler Luther gab ihm zu Ehren ein Frühstück, wobei das wiederhergestellte gute Verhältnis mit einer Wärme gefeiert wurde, die mir über das bei solchen Gelegenheiten übliche Maß hinauszugehen schien. Ich durfte bei diesem Frühstück auch die Bekanntschaft von Stresemann machen, der aber, sonst ein sehr gewandter Redner, so wortkarg war, daß sich zu einer Unterhaltung kein Weg fand. Audi in China fand das gute Verhältnis einen erfreulichen und weithin sichtbaren Ausdruck. In Nanking, damals noch Sitz der Zentralregierung, wurde im Mai 1935 unter dem Vorsitz des Verkehrsministers, ebenfalls eines ehemaligen Studenten deutscher Universitäten, ein chinesisch-deutscher Kulturverband gegründet, der sich „die Förderung und Vertiefung der Kulturbeziehungen zwischen China und Deutschland" zur Aufgabe machte. Ich habe die mir angetragene Ehrenmitgliedschaft gern angenommen. Er hat wie vieles andere in den kriegerischen Wirren der folgenden Jahre sein Ende gefunden. Mit den Japanern bin ich nur in mei170

ner Eigenschaft als Mitglied des Vorstandes vom Japan-Institut, das von Professor Ramming, einem ehemaligen Hörer in meinem Seminar, sehr erfolgreich geleitet wurde, in Verbindung gekommen. Naturgemäß konnte diese Verbindung nur eine lockere sein, da bei der politischen Lage in Ostasien ein Verkehr zwischen Chinesen und Japanern in keiner Form bestand. Immerhin habe idi bei größeren Festlichkeiten in den schönen Räumen des japanischen Botschafterpalais die eigenartige Verschmelzung abendländischer und japanischer Kulturformen bewundern können. Der Verband für den Fernen Osten in Berlin, der aus den Kreisen des Handels und der Industrie hervorgegangen war, hatte ursprünglich seine Arbeiten beiden großen Ländern zugewandt, doch überwogen allmählich die chinesischen Interessen mehr und mehr, zumal von der DeutschJapanischen Gesellschaft die Sorge um Japan vollständig übernommen war. Da außerdem die Japaner, wie man sagt, an dem Ausdruck „Ferner Osten" Anstoß nahmen, so wurde der Name in „Deutsch-Chinesischer Verband" umgewandelt. Je mehr ich aber im Alter vorrückte, mit umso größerer Entschiedenheit vertiefte ich mich jetzt in die sinologische Arbeit. An die regelmäßigen Vorträge in der Akademie — ungefähr alle fünfzehn Monate kam die Reihe an den einzelnen — wurde überlieferungsmäßig ein strenger Maßstab gelegt: nur neue, selbständig erarbeitete Forschungsergebnisse waren mitzuteilen. Diese ungeschriebene, aber streng eingehaltene Bestimmung verlangte hingebende Arbeit, für manchen mag sie manchmal unbequem gewesen sein, idi habe sie immer als einen wohltätigen Zwang empfunden, sei es zur Vertiefung in Einzelfragen des augenblicklichen Arbeitsgebietes, sei es zur Umreißung der Gesamtheit dieses Gebietes. Da mir das Studium der politischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung des im Staate organisierten Chinesentums zur wissenschaftlichen Lebensaufgabe geworden war, so behandelten fast alle meine Vorträge Einzelerscheinungen zu dieser Entwicklung. Meine seit langem gehegten Pläne hinsichtlich dieser Lebensaufgabe erhielten nun in Berlin ihre feste Gestaltung. Idi habe früher erwähnt, daß der Verlag Walter De Gruyter und Co. die erste Anregung zu einem Geschichtswerke über China in Form von zwei Göschen-Bändchen während meiner Hamburger Zeit an midi hatte gelangen lassen und daß daraus schließlich ein fester Vertrag hervorgegangen war (s. oben S. 150). Der Krieg hatte die Ausführung als untunlich erscheinen lassen, und je mehr ich die ganze Angelegenheit überdachte, um so unsympathischer wurde sie mir. Meine Obersiedlung nach Berlin führte zu neuen, mündlichen Verhandlungen mit dem Verlage, und schließlich kamen wir überein, den Vertrag von 1 9 1 3 aufzuheben und an seiner Stelle einen anderen zu schließen, in dem die Herstellung eines großen mehrbändigen Werkes mit dem Titel „Geschichte des chinesischen Reiches" vereinbart wurde. Ich übersah im Augenblicke der Verhandlungen nicht, welchen gewaltigen Umfang eine solche Arbeit, wie ich sie mir gedacht hatte, annehmen müßte, daß sie nichts anderes als eine ausführliche Geschichte des chinesischen Universalismus sein könne und daß sie vermutlich meine Kräfte und meine Lebensdauer übersteigen würde. Die freundliche Bereitwilligkeit aber, mit der der Verlag auf alle

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meine Wünsche einging, ließ midi meine Bedenken überwinden und machte midi leichtfertig genug, midi mit zweiundsechzig Jahren zur Abfassung eines solchen Werkes zu verpflichten. Den vertraglich vorgesehenen Rahmen hat die Arbeit selbst gesprengt. Als die in Aussicht genommenen drei Bände fertig vorlagen, war kaum die Hälfte des ganzen Stoffes erfaßt. Nun sind noch ein vierter und fünfter Band hinzugekommen, ein Schlußband fehlt auch jetzt noch; mein Sohn, so hoffe ich, wird ihn schreiben, da mein Lebensfaden nicht mehr hinreicht. Gottes Güte hat mir nodi im hohen Alter gegen mein Erwarten die Kraft gelassen, das Werk bis nahe an die Vollendung heranzuführen. Aber auch dem Verlage schulde ich Dank für die verständnisvolle Nachsicht, mit der er mir die Überschreitung der vertraglichen Grenzen zugestanden, und für die Geduld, mit der er das Fortschreiten der Arbeit abgewartet hat. Niemals hat sich während der zwei Jahrzehnte eine ernste Meinungsverschiedenheit ergeben, niemals unser Verhältnis auch nur eine leise Trübung erfahren. Natürlich hat seit 1925 die Arbeit an dem Werke den weitaus größten Teil meiner Zeit und Kraft in Anspruch genommen. Alle andere wissenschaftliche Tätigkeit mußte zurückgestellt, jeder Lockung, auf andere Straßen abzubiegen, Widerstand geleistet werden, auch meine Vorlesungstätigkeit habe ich nach meiner Emeritierung 1931 nur noch kurze Zeit fortgesetzt, zumal mir die Leitung des Seminars noch ein weiteres Jahr, bis zum Eintreffen meines Nachfolgers Erich Haenisdi, bis dahin Ordinarius in Leipzig, übertragen war und ich im Januar und Februar 1934 mich zwei schweren Darmoperationen (glücklicherweise nicht Krebs) zu unterziehen hatte, wodurch mir mehrere Monate für die Arbeit verloren gingen. Wenige Monate vor Abschluß des Vertrages mit Walter De Gruyter war ich im Begriffe, midi an einem geplanten großen Werke zu beteiligen, das meine Tätigkeit nach einer anderen Richtung hingelenkt haben würde. Die reichen Funde aus den sandbedeckten Trümmern des Turfan-Gebietes in chinesisch Turkestan, die von den Expeditionen Grünwedels und Le Coqs nach Berlin gebracht waren (vergi, oben S. 1 1 7 ) , hatten zwar inzwischen manche Einzeluntersuchung veranlaßt, aber es fehlte ein umfassendes größeres Werk, das die allgemeingesdiichtlichen, d. h. die politischen, kulturhistorischen, archäologischen, religionsgeschichtlichen und sprachwissenschaftlichen Zusammenhänge in den Schicksalen der ostturkistanisdien Gebiete darstellte. Diesem Mangel sollte abgeholfen werden durch die Zusammenarbeit mehrerer Gelehrter, die sich mit den Fragen bereits beschäftigt hatten. Auf dem deutschen Orientalisten-Tage in München im Oktober 1924 wurde die Angelegenheit erörtert, und zwar fanden sich der Althistoriker Eduard Meyer, der Sanskritist Lüders, der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler und ich als Sinologe in der Absicht zusammen, die Arbeit aufzuteilen und die Zahl der Mitarbeiter, soweit nötig, zu ergänzen. Vor allem sollte Le Coq, der nicht anwesend war, gebeten werden, die Grabungsgesdiichte sowie die archäologischen Feststellungen zu übernehmen. Eduard Meyer wollte den hellenistischen Teil der Geschichte Zentralasiens, idi den chinesischen Teil, Lüders die religionsgesdiiditlichen, besonders buddhistischen, und sprachwissenschaftlichen Fragen bearbeiten und Spengler die historische Zusammenschau geben.

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Ein großes Mündiener Verlagshaus war bereit, das Ganze in würdiger Form herauszubringen. Idi verhehlte mir die Schwierigkeiten nicht, die einer Kombination so scharf ausgeprägter und verschiedenartiger wissenschaftlicher Persönlichkeiten im Wege stehen mußten; meine eigenen Pläne waren zwar nodi nicht ganz ausgereift, doch bedeutete diese neue Verpflichtung ein weiteres Hinausschieben, wenn nicht gar ein Aufgeben ihrer Ausführung. Trotzdem war die Aufgabe so verlockend, daß idi mich ihr nicht entziehen modite. Wir beschlossen, die Besprechungen in Berlin fortzusetzen, und am 28. November 1924 verwandten Eduard Meyer, Spengler und idi einen ganzen Abend darauf, eine weitere Klärung des Arbeitsplanes herbeizuführen. Wider Erwarten fiel dann aber das ganze Unternehmen ins Wasser, weil Le Coq, der seinem eigenen Verleger gegenüber bereits gebunden war, die Mitwirkung ablehnen mußte. Damit war dem Werke der Mittelpunkt genommen und eine abschließende Darstellung unmöglich. Idi für meine Person habe das Scheitern des Planes nicht zu bedauern gehabt, denn wäre er ausgeführt worden, so hätte meine „Geschichte des chinesischen Reiches" vermutlich niemals Gestalt angenommen. Sie lag mir aber mehr am Herzen als alle anderen Aufgaben. Lehrreich waren mir jedoch die Verhandlungen mit Spengler, der damals auf der Höhe seines Ruhmes stand. Seine Kulturkreis-Theorie habe ich immer abgelehnt, sie ist auch, was Ostasien anlangt, bereits durch die geschichtliche Entwicklung selbst widerlegt. Eduard Meyer hat ebenfalls seine starken Bedenken dagegen in einer Besprechung vom „Untergang des Abendlandes" in der Deutschen Literatur-Zeitung geltend gemacht. Audi Spenglers Auffassungen von der ältesten chinesischen Geschichte, mit der er sich eingehend beschäftigt hatte, konnte ich nur zum Teil beistimmen, aber das hinderte nicht, daß ich seine scharfsinnigen Beobachtungen und Schlüsse, bei denen man den Mathematiker heraushörte, ehrlich bewunderte. Spengler verfügte über ein erstaunliches Gedächtnis und hatte daher sein umfassendes Wissen in der Diskussion jederzeit bereit. Ihn von der Unrichtigkeit seiner Ansicht oder auch nur von der Richtigkeit einer anderen zu überzeugen, war sehr schwer; ihm war das, was er sich erarbeitet hatte, unumstößlich, den Einwand, daß manches sich in der ursprünglichen Quelle anders ausnähme als in der Übersetzung, ließ er nicht gelten; trotz allem merkte man aber sehr bald, daß man es mit einem bedeutenden Denker und einem außerordentlich kenntnisreichen Manne zu tun hatte. Nach dem Abschluß meines Vertrages über das Geschichtswerk schränkte ich auch meine Vortragstätigkeit mehr und mehr ein. Ganz freilich konnte ich midi ihr nicht entziehen, und mehrfach habe ich sogar ganze Reihen von Vorträgen übernehmen müssen. So war ich in Leipzig, Breslau, Stettin und anderen Städten zu solchen Serien eingeladen und machte dabei immer wieder die Erfahrung, daß es mehr Befriedigung gewährt, einen Gegenstand ausführlicher und in größerer Ruhe zu behandeln als ihn im Laufe einer gedrängten Vortragsstunde summarisch zu erledigen. Man kommt auch in einer Vortragsreihe mit den Zuhörern in eine fühlbar wärmere innere Verbindung. In angenehmer Erinnerung sind mir meine Vorträge über „die religiöse und politische Bedeutung des Konfuzianismus in J

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Vergangenheit und Gegenwart" in den von Theologen eingerichteten apologetischen Zusammenkünften im September 1930, die damals in Helmstedt stattfanden. Seit jener Zeit etwa ist diese Vereinigung, so viel ich weiß, zur LutherAkademie ausgestaltet, die ihren ständigen Sitz in Sondershausen hat. Die dort versammelten, meist jüngeren Theologen, auch ausländische, waren eine sehr aufmerksame Zuhörerschaft, die auch nachher nodi viel zu fragen hatte. Ganz unbefriedigend waren die Vorträge (audi in Reihen) am Rundfunk. Schon daß die lebendige Verbindung mit den Hörern fehlte, war ein Nachteil, der durch das Bewußtsein, vor unzählbaren Menschen im ganzen Reiche zu sprechen, nicht ausgeglichen werden konnte. Außerdem glich auch das eilige Herunterlesen eines Manuskripts in genau fünfundzwanzig Minuten mehr einer mechanischen Handlung als einer Leistung des Geistes. Niemand, der in China mit politischen oder kulturgeschichtlichen Problemen befaßt gewesen ist, hat an der Frage der christlichen Mission vorübergehen können. Ich habe midi während meines Aufenthaltes in China weder mit der katholischen noch mit der protestantischen Missionstätigkeit zu befreunden vermocht, so wie sie damals betrieben wurden. Die katholisdien Missionare waren schwächliche Epigonen ihrer berühmten Vorväter, der Franziskaner und Jesuiten, eines Johann von Montecorvino, eines Ricci Gerbillon, Schall, Verbiest und anderer, sie traten, mit der französischen Schutzmacht im Rücken, herrisch und anmaßend auf und mischten sich mit Vorliebe in Angelegenheiten der chinesischen Landeshoheit, die sie nichts angingen. Erst später haben sie sich wieder ihrer großen Vorbilder erinnert und versucht, durch Pflege der Wissenschaften bei den einheimischen gebildeten Schichten einen Teil der Achtung zurückzugewinnen, deren jene sich erfreuten. Taktlosigkeiten und Beleidigungen der Chinesen haben zwar audi dann nicht gefehlt. Die protestantische Mission, meist anglo-amerikanisdien Gepräges, bestand zum größten Teile leider aus wenig gebildeten Leuten, die ihr verwässertes Christentum auf Gassen und Märkten an den Mann zu bringen suchten. Sie fielen zwar in ihrer Harmlosigkeit den Beamten nicht so stark auf die Nerven wie die Katholiken, waren aber ein Gespött der Literaten und kompromittierten den abendländischen Bildungstand. Wenn die Amerikaner im Nebenberuf amerikanische Zigaretten, Nähmaschinen und andere nützliche Dinge vertrieben und von dem Erlöse sich ein behagliches Heim beschafften, so war diese Ausstellungsreklame für westliche Zivilisation kein Ausgleich des Schadens, den sie sonst anrichteten. Die Mission beider Bekenntnisse litt überdies unter der Art, wie sie von den Vertragsmächten zu politischen Zwecken den Chinesen aufgezwungen war, das Christentum war dadurch in einem Maße bloßgestellt, daß es jahrzehntelanger Mühen bedurft hat, um diesen Makel zu beseitigen. Die deutschen Missionare, von denen übrigens einige auch in den angloamerikanischen Missionen arbeiteten, standen im ganzen auf einem etwas höheren Bildungsniveau, waren aber zu wenig zahlreich und zu schwach an Mitteln, als daß sie hätten eine stärkere Bedeutung erlangen können. Alle Missionen, merkwürdigerweise auch die katholischen, gingen von dem Grundgedanken aus — so wenigstens konnte man ihr Verfahren nur deuten —, daß man den Samen

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des Christentums in den ärmsten Schichten des chinesischen Volkes ausstreuen müsse, da diese unverbildeter und daher aufnahmebereiter seien als die literarisch gebildeten und wohlhabenden. Audi bei den Juden und im römischen Reiche habe das Christentum in den einfachen Gemütern von Handwerkern und Sklaven eher Wurzel gefaßt als bei den Schriftgelehrten und Patriziern. Abgesehen davon, daß diese weit verbreitete Meinung wahrscheinlich unzutreffend ist, das frühe Christentum sich vielmehr zuerst in den gebildeten Kreisen der Städte ausbreitete, paßt auch die Analogie für China ganz und gar nicht. Hier standen die Massen ohne Gesetz oder Zwang völlig unter der Führung des Literatentums, mochte es beamtet oder nicht beamtet sein, es war dies eine stillschweigende, aber selbstverständliche Forderung des konfuzianischen Systems und in unzähligen Generationen verwurzelt. Wer also für eine neue religiöse Lehre die Massen dauernd gewinnen wollte, konnte dies nur, indem er die geistige Führerschicht gewann, also das Christentum bei den Literaten durchsetzte. Diesen Weg waren die großen Missionare des 16., 17. und 18. Jahrhunderts gegangen, sie waren Gelehrte ersten Ranges und erzwangen durch ihre Klugheit und ihr Wissen die Aditung und Bewunderung der heimischen Literaten, nur so konnten sie ihre erstaunlichen Erfolge erzielen. Es hat lange gewährt, bis die Missionen zu dieser Methode zurückfanden, und manche haben es bis heute noch nicht getan. Die erste, die bewußt und grundsätzlich ihre Arbeit nach der anderen Richtung ansetzte, war eine kleine deutsche protestantische Gesellschaft, der 1886 von dem Pfarrer Kind in Weimar im Anschluß an die dortige Kirche gegründete „Allgemeine Evangelisch-Protestantische Missionsverein". E r sandte wissenschaftlich gebildete Theologen oder auch andere Gelehrte aus, die keine Massenbekehrungen vornehmen, sondern dem gebildeten Chinesentum durch Wort und Schrift zeigen sollten, was das Christentum seinem Wesen nach war, welche Bedeutung es in der abendländischen Kultur und Geschichte gehabt habe, und wie es sich zu dem konfuzianischen Lehrbegriff verhalte. Welche Schlüsse daraus zu ziehen und wie diese zu verwirklichen waren, blieb den Chinesen selbst überlassen. Der erste dieser Sendboten war der früher erwähnte Dr. Ernst Faber (s. oben S. 67), der von der rheinischen Missionsgesellschaft kam und durch seine Schriften auf die Chinesen zu wirken suchte. Er hat dann mehrere Nachfolger gehabt, die zwar nicht der gleichen Arbeitsmethode folgten, aber dem Grundsatze treu blieben, sich vor allem an die gebildeten Kreise zu wenden, Bekehrungen jedoch zu unterlassen. Ich hatte in Hamburg Gelegenheit gehabt, in einem Vortrage auf die Tätigkeit des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins als auf die meines Erachtens allein Erfolg verheißende hinzuweisen, und wurde bald danach in den Zentralvorstand gewählt. Nach der Erwerbung von Tsingtau durch die deutsche Regierung 1897 hatte der Verein sein Arbeitsgebiet nach dort verlegt und nach Dr. Fabers bald erfolgtem Tode eine Schule mit Internat für junge Chinesen sowie ein Hospital eröffnet. Die Leitung hatte mehrere Jahre Fabers Nachfolger, der später durch seine Übersetzungen der kanonischen Bücher der Chinesen bekanntgewordene, aber der Mission völlig entfremdete Theologe Richard Wilhelm. Beide Gründungen sind im Laufe der Jahre aufgeblüht, na-

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mentlidi die Schule ist stark erweitert und zu einer bedeutenden unter den von Ausländern geleiteten ihrer Art in China geworden. Ich habe an den Schicksalen des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins, der später seinen Namen in „Deutsche Ostasien-Mission" vereinfacht hat, lebhaften Anteil genommen, audi seitdem ich mich seinen Arbeiten nicht mehr habe widmen können. Ich erwähnte früher, daß idi in der Akademie besonders die Möglichkeiten geschätzt hätte, in engere Verbindung mit Gelehrten anderer Wissensgebiete zu kommen. Eine weitere Möglichkeit hierzu bot mir die zu Schmollers Zeit entstandene Staatswissenschaftliche Gesellschaft. Ihre Mitglieder waren höhere Beamte, Angehörige des Handels und der Finanz, Juristen, Geographen und Philosophen, audi einzelne Offiziere der Wehrmacht. Ich als Orientalist war eine rara avis in dem bunten Kreise. In den allmonatlich stattfindenden Sitzungen wurden Vorträge gehalten, an die sich eine meist recht ausgedehnte Erörterung schloß. Die verschiedensten Fragen aus der Verwaltungspraxis sowohl wie aus der Geschichte und den theoretischen Disziplinen wurden behandelt, und ich habe keinen Abend hier verlebt, der mir nicht lehrreiche Einblicke in eine mir meist ferner liegende Geisteswelt gewährt hätte. Berlin gab in der Tat von allem die Fülle, die idi anderswo vergebens gesucht hatte. Die Gefahr, sich zu verlieren, besteht ja aber für das Alter in geringerem Maß als für Anfänger. Eine große Überraschung war es für midi, der idi 1,933 e i n Siebziger geworden war, daß ich das Jahr darauf nodi einen Ruf an eine andere Hochschule erhielt. Und zwar war es Berkeley, die Staats-Universität von Kalifornien, die midi einlud, wenn ich nicht für die Dauer kommen wollte, wenigstens für zwei bis drei Jahre den dortigen Lehrstuhl für Sinologie zu übernehmen. Die Aufforderung wurde mir durch einen in Deutschland weilenden Professor von Berkeley — ich glaube, er war Staatswissensdiaftler — in amtlicher Form überbracht. Es bedurfte keiner langen Überlegung, den Ruf, der leider ein Jahrzehnt zu spät kam, mit Dank abzulehnen und einen jüngeren Kollegen zu empfehlen, der sogleich akzeptiert wurde und heute noch dort ist. Daß der Luxus des Gesellschaftslebens von ehemals wegen der wirtschaftlichen Einschränkungen hatte weichen müssen, war nicht zu bedauern, aber bei den gesteigerten Haushaltskosten und den gewaltigen Entfernungen in dem neuen Groß-Berlin kam überhaupt keine rechte Geselligkeit mehr auf. Man soll sich keinen Täuschungen darüber hingeben, daß die Unmöglichkeit, ein Dutzend guter Freunde mit einem einfachen Mahle zu bewirten, tiefere und ernstere Folgen für die Lebenshaltung hat als bloß die Herabsetzung des materiellen Genusses. Es fehlte das Gefühl der Sicherheit gefestigter Verhältnisse und damit jener heitere Zug, der im Leben so erleichternd wirkt. Meine Antrittsrede in der Akademie am 28. Juni 1923 hatte ich mit den Worten geschlossen: „Für uns Ältere ist das Leben in dieser Zeit der Not und Schande des Vaterlandes nur noch eine harte Pflicht, bar der Freuden und Hoffnungen. Ein lindernder Trost aber bleibt uns: die Arbeit und das Ringen um neue Erkenntnis aus den Tiefen der Menschheitsgeschichte heraus." Die folgenden Jahre haben meine Worte ge176

rechtfertigt, und den Trost habe ich in der Arbeit und im Schöße der Familie gefunden. Im Sommer 1 9 3 2 konnten wir endlich in eine geräumigere und elegantere Wohnung am Rüdesheimer Platz umziehen. Sie hatte ein großes Arbeitszimmer, in dem ich den größten Teil meiner Bibliothek unterzubringen vermochte, so daß nur einzelne Teile davon über die anderen Zimmer verteilt blieben. Soweit es unter den gegebenen Verhältnissen möglich w a r , sahen wir Gäste bei uns, mit denen uns gleichgerichtete Neigungen verbanden. Sinologische Fachgenossen oder wer sonst an ostasiatischen Dingen interessiert w a r , pflegten nicht an unserer T ü r vorüberzugehen, und so konnte manche alte Bekanntschaft aufgefrischt, manche neue geknüpft werden. Die Chinesen, seien es Mitglieder der Botschaft oder Studierende der Hochschulen, gingen bei uns ein und aus, wie sie auch uns zu ihren Veranstaltungen regelmäßig zuzogen. Bei einem solchen Teempfang im Oktober 1936 hatte ich die Freude, die Bekanntschaft von Ricarda Huch zu machen, der Dichterin und Forscherin, in der idi unter allen Frauen ihrer A r t immer die bedeutendste gesehen habe. Zurückhaltend und ernst bis zur Schwermut, glich sie dem Bilde, das ich mir von ihr gemacht hatte. Nach ihren eigenen Schilderungen von ihrer Studienzeit in Zürich kann ihr aber die Heiterkeit ursprünglich nicht fern gelegen haben. Sie lebte damals in Jena. Auch von der Schar der modern geschulten chinesischen Historiker, die an den Hochsdiulen von Peking lehrten, lernte idi bei solchen Gelegenheiten eine Anzahl kennen. Mit Freude stellte ich fest, wie weit sich europäische Wissenschaftsmethoden bereits in China durchgesetzt haben, und wie sichtbar von diesen Wandlungen auch die Persönlichkeiten selbst ergriffen sind. Generationen von Sinologen jeglichen Sondergebietes wachsen hier empor, die unsere Wissenschaft in wenigen Jahrzehnten stärker f ö r dern werden, als wir es in den letzten hundertundfünfzig Jahren vermocht haben. Peking aber, obwohl es in der Republik seiner Stellung als Reichshauptstadt entkleidet ist, wird f ü r Wissenschaften und Künste wieder das chinesische Athen werden, sobald normale Zeiten f ü r Land und Volk zurückgekehrt sind. Es w a r erfreulich zu sehen, daß sich die chinesische Vertretung auch an den Feiern f ü r den durch seine abenteuerreichen Reisen in Tibet und West-China bekannt gewordenen Forscher Wilhelm Filchner beteiligten. Fildiner, den ich seit vielen Jahren kannte, w a r der bisher letzte Träger des großen deutschen Staatspreises und hatte dadurch die Mittel f ü r neue Expeditionen erhalten. A m 19. Oktober 1938 feierten w i r im „ K a i s e r h o f " die Hochzeit seiner reizenden Tochter, die ihrem Gatten nach Indien folgte, und kurze Zeit danach sahen wir ihn noch einmal als Gast bei uns. Wenige Tage später trat er seine neue Reise an; über sein und des jungen Paares Schicksal ist mir nichts bekannt geworden. Während seines Aufenthaltes in Berlin schien seine Gesundheit wenig befriedigend, im besonderen w a r er in einer ständigen nervösen Spannung, mit der auch anscheinend eine quälerische Rastlosigkeit zusammenhing; es ist freilich schwer zu sagen, was hier Ursache und was Wirkung war. Idi hatte den Eindruck, daß Filchner froh w a r , wieder hinauszukommen, und nidit die Absicht hatte, wiederzukehren. Mit dem 1 . Oktober 1 9 3 1 wurde ich eremitiert, mußte allerdings noch ein J a h r 12 Franke, Erinnerungen

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lang die Leitung des Seminars behalten. Von da an wurde meine Zeit nur noch durch die Akademie und verschiedene Ehrenämter in Anspruch genommen, von denen idi mich aber allmählich loslöste. Allem anderen voran ging jetzt die Arbeit an meinem Geschiditswerk, der ich mich mit ungeteilter Kraft hingab. Im Jahre 1930 war der erste Band erschienen, 1936 folgte der zweite, 1937 der dritte. Der vierte ist seit dem 25. Januar 1945 druckfertig, der fünfte, ein Anmerkungs- und Index-Band, ebenfalls.- Der Druck hat begonnen, daß ich seine Vollendung sehe, wage ich nicht zu hoffen''''). Meine Frau hatte an der Arbeit ihren wohlabgemessenen Anteil, indem sie von meinen mit Bleistift geschriebenen, oft sehr schwer lesbaren Manuskripten die Reinschrift mit der Maschine herstellte, zum Teil auch den Index übernahm. Um aber nicht ganz über den Büchern zu verdorren, legten wir regelmäßig zweimal im Jahre eine Erfrischungspause ein: im Frühling und Herbst fröhnten wir der alten Wanderlust oder besahen deutsche Städte, so daß wir von den zwölf Monaten des Jahres drei auf Reisen waren. Wir durchzogen die Alpen von Bern und dem Genfer See bis nach Wien und nach Steiermark, vom Bodensee und den bayrischen Voralpen bis zum Lago Maggiore, fast alle deutschen Mittelgebirge, am meisten den geliebten Schwarzwald, aber audi den bayrischen und Böhmer-Wald, das Riesengebirge, Harz und Thüringer Wald, Odenwald, Eifel und Vogesen. Audi über die Reichsgrenzen hinaus trieb uns die Reiselust: außer in der Schweiz und in Skandinavien sowie in den Alpenländern Tirol, Kärnten und Steiermark hielten wir uns die Frühlingswodien in Bosnien, Dalmatien und Montenegro auf und statteten den Schlachtfeldern von Verdun einen Besuch ab. Dazwischen genossen wir die Schönheitsfülle der deutschen Städte. Kein Land der Welt wies einen solchen Reichtum an blühenden Gemeinwesen auf, in denen landschaftliche Schönheit, wundervolle Straßenbilder des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, herrliche Kunstwerke, alles musterhaft gehalten von einer guten Verwaltung, zu einem harmonischen Ganzen vereinigt waren. Das alles ist jetzt durch menschlichen Wahnwitz in Schutt und Trümmer verwandelt. Kommenden Geschlechtern werden sie Beispiele dafür sein, bis zu welchen Perversitäten die menschliche Natur gebracht werden kann. Für meine Familie kam allmählich das große Auseinandergehen. Unsere Tochter, die in Peking geboren war, in Hamburg das Reifezeugnis erlangt und dann in Göttingen und Freiburg klassische Philologie und Germanistik studiert hatte, kam mit uns nach Berlin, bestand dort 1925 die Staatsprüfung und wurde 1928 zum Dr. phil promoviert. Gleich danach ging sie nach Hamburg und blieb dort im höheren Schuldienst. Der jüngste und einzige uns gebliebene Sohn bestand in Berlin 1930 die Reifeprüfung und beschloß sofort ohne Zaudern, aber ohne jede Einwirkung von meiner Seite und mir sogar zur großen Überraschung, sich der Sinologie zu widmen. Eine seltsame Einwirkung der Umwelt, denn die biologische Erklärung wird hier versagen. Bis heute hat es für ihn niemals einen Augenblick des Zweifeins gegeben, sondern er ist von Anbeginn an seinen gera* Bd. IV ist 1948, Bd. V 1952 im Druck erschienen (Anm. des Herausgebers). 178

den Weg ohne Abirrung gegangen, was für ihn natürlich eine gewaltige Zeitersparnis bedeutete im Vergleich zu den Umwegen seines Vaters. Nachdem er 1935 mit einer sinologischen Arbeit über „Die staatspolitischen Reformversuche K'ang Y u weis und seiner Schule" promoviert hatte, blieb er noch bis zum Frühjahr 1937 in Berlin und ging dann nach Peking zum weiteren Studium. Dort ist er noch heute. Seine Neigung hat ihn ebenso zur Geschichte hingezogen wie mich, und so mag er die Fackel, die jetzt meinen Händen entsinkt, aufnehmen und weitertragen. Als die Kinder aus dem Hause waren, begann es einsam um uns zu werden. Meine Mutter war hochbetagt 1917, mein Bruder 1932 gestorben und Ende 1944 starb audi meine einzige Schwester. Auch der Haushalt in Dresden war längst aufgelöst, nachdem meine Schwiegermutter ebenfalls 1 9 1 7 gestorben war. So lebten meine Frau und ich allein mit einer alten Schweizerin, die wir von meiner Schwiegermutter übernommen hatten und die um meine Frau von der Geburt an besorgt gewesen war. Sie ist auch bei uns geblieben bis zum Ausbruch des neuen Krieges. Viel Gutes und Freundliches ist mir noch in diesen Jahren stiller Arbeit zuteil geworden. Anlaß dazu wurden besonders mein siebzigster Geburtstag 1933 und mein goldenes Doktor-Jubiläum 1936. Idi habe midi niemals um Anerkennung oder Auszeichnung, geschweige denn um Orden oder Ehrenzeichen bemüht, weil idi der Meinung bin, daß solche Dinge, wBnn sie nicht spontan, ohne jedes eigene Zutun gewährt werden, keinen Wert besitzen. Um so größer war meine Überraschung, als an meinem Geburtstage, den ich audi diesmal wie immer in aller Stille fern von Berlin verleben wollte, eine wahre Flut von Briefen, Telegrammen, Adressen und Geschenken von Behörden und Einzelpersonen von nah und fern über mich kam, so daß ich bestürzt und beschämt ob solcher Fülle dastand. Eine Freude besonderer Art war es mir, daß mir der Reichspräsident von Hindenburg die Goethe-Medaille nebst einem Schreiben mit eigenhändiger Unterschrift zukommen ließ. Mich bedrückten die vielen Ausdrücke ehrender Anerkennung, da idi sie nicht für verdient halten konnte. Idi bin mir niemals im Zweifel darüber gewesen, daß alles, was ich geleistet habe, von hundert anderen ebenso gut, vielleicht besser geleistet worden wäre, wenn sie dazu die gleiche Gelegenheit und Veranlassung gehabt hätten. Freilich setzen sich wohl alle unsere Taten nur zu einem Teile aus dem Wirken unserer Fähigkeiten zusammen, zu dem anderen aber aus dem Eintreten einer bestimmten Gruppe von Umständen; nur das Verhältnis beider zueinander ist verschieden. Aber wie weit handelt der Mensch aus sich selbst, und wie weit ist er Werkzeug einer höheren Fügung? Und wenn idi heute als Dreiundachtzigjähriger auf mein gesamtes Lebenswerk zurückschaue, so muß ich als ehrlicher Kritiker dasselbe Eingeständnis machen, das Wilamowitz in seiner Antrittsrede in der Akademie mit den Worten ausdrückte: „Ich weiß am besten, daß ich viel weniger Mangelhaftes hätte produzieren können, wenn ich midi hätte spezialisieren oder doch konzentrieren wollen. Aber ich glaube, ich würde das nicht gekonnt haben, gesetzt, ich hätte es gewollt. Ich wollte es nicht, denn ich empfand meine Wissenschaft immer als dieselbe Einheit, der zustatten käme, was gerade unter meinen Händen war." Dasselbe gilt auch 12"

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von meiner Tätigkeit im staatlichen oder sonstigen öffentlichen Interesse, f ü r die idi meiner sinologischen Arbeit manche Stunde entzogen habe. Z u beiden hat mich ein inneres Pflichtgefühl getrieben, wann immer mir eine Notwendigkeit d a f ü r vorzuliegen schien, und beiden habe ich gedient, so gut ich es vermochte. Zu meinem goldenen Doktor-Jubiläum wiederholte sich der Andrang der Glückwünsche, dem ich abermals durch Abwesenheit von Berlin auswich. Meine liebe A l m a Mater von Göttingen gedachte meiner durch ehrenvolle Erneuerung des Doktor-Diploms. Der Z u f a l l wollte es, daß an dem gleichen Tage auf der chinesischen Botschaft ein Bankett stattfand zu Ehren einer Anzahl neu mit Orden Dekorierter, zu denen ich auch gehörte. Es waren unter anderen Generalfeldmarschall vonSeeckt, Generalfeldmarschall von Blomberg, damals noch Chef der Heeresleitung, Reichsverkehrsminister Dorpmüller, Reichswirtschaftsminister Schacht, so daß mein Jubiläum mehr bekannt wurde, als meinen Wünschen entsprach. Als ich 1943 meinen achtzigsten Geburtstag feiern konnte, befanden wir uns an meinem Geburtsort Gernrode. Auch hierher hatten die freundlichen Überbringer von schriftlichen und mündlichen Glückwünschen den Weg gefunden, und die Zahl der Schreiben (Telegramme waren wegen des Krieges nicht mehr zulässig) schien mir nodi gesteigert. Im Namen der deutschen Sinologen kam Ernst Boerschmann, um mir Glück zu wünschen, und Otto Eissfeldt, der Hallenser Theologe, überbrachte mir das Diplom eines Ehrenmitgliedes der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Die Akademie und die Berliner Fakultät sandten kunstvolle Adressen. Zu besonderer Ehre und Freude gereichte es mir in der Z w i schenzeit, daß mich 1 9 3 5 die Gesellschaft (jetzt Akademie) der Wissenschaften in Göttingen zum auswärtigen Mitgliede wählte. Damit hat sich ein neues B a n d mit der Stätte geknüpft, die mir einst so viel f ü r meine wissenschaftliche L a u f b a h n gegeben hat.

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XII. Ausklang Meine urrprüngliche Absicht w a r , wegen meiner Arbeiten den Abend meines Lebens bis zum Ende in Berlin zu verbringen, im Frühling und Herbst aber auf Reisen zu gehen. Das Schicksal hat es anders gefügt. Im Jahre 1 9 3 3 hatte f ü r Deutschland ein neues Zeitalter begonnen; welche Bedeutung es f ü r die Welt erhalten würde, w a r nicht zu berechnen, daß aber grundstürzende Ereignisse eintreten würden, nachdem im September 1939 der Krieg ausgebrochen war, das vorauszusehen bedurfte es keiner Prophetengabe. Ich wußte, daß ich daran keinen Teil mehr haben konnte und nur stiller Zuschauer sein würde. Als ich deshalb mit der Arbeit an dem vierten und fünften Bande meiner Geschichte soweit f ortgeschritten war, daß nur ein kleiner Rest übrig w a r , der audi anderwärts vollendet werden konnte, beschlossen wir bald nach Beginn der barbarischen Zerstörung der Städte durch Luftbombardierung, Berlin zu verlassen, zumal unsere Zimmer kaum nodi bewohnbar waren. Dieser Weggang, zunächst nur als zeitweiliges Ausweichen gedacht, sollte bei dem Verlauf des Krieges ein endgültiger werden. Bei dem damaligen katastrophalen Wohnungsmangel w a r es ein Glück, daß wir bei einer Tochter meines Bruders in Ballenstedt, der 5 km von Gernrode entfernten, am H a n g der waldigen Harzberge gelegenen kleinen Kreisstadt, ein Unterkommen fanden. Hier, umbrandet von dem furchtbaren Geschehen der Zeit, das Dröhnen der Bombenflugzeuge Tag und Nacht über uns, das Elend der aus den verwüsteten Städten fliehenden Bevölkerung vor Augen, schreibe idi diese Blätter. Düster und glücklos liegt die Zukunft vor den europäischen Völkern. So endet mein Leben an der gleichen Stelle, w o es einst begonnen hat, aber auch hier ist eine andere Welt emporgestiegen, und in dem kleinen Gernrode stehen wohl nodi viele der alten Häuser aus der Zeit meiner Kindheit um die alle überdauernde Stiftskirche herum, aber dem Geschlecht von heute ist die Welt meiner Geburt nicht mehr verständlich. Mein Leben hat die Frist überdauert, die der biblische Psalmist dem Menschen als N o r m gesetzt hat, und an Mühe und Arbeit hat es ihm nicht gefehlt. Es ist reich gewesen an Liebe und Freundlichkeit, aber auch an Leid und Trübsal, und vieles enthält es, das zu bereuen ist und Sühne heischt. Aber ich vertraue auf die unendlidie Güte dessen, der sich der Welt als die Liebe geoffenbart und der mich so wunderbar im Leben geführt hat. In seine Hände lege idi in Demut mein Selbst, und seiner Barmherzigkeit will ich harren.

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Nachtrag A m j . A p r i l 1945 habe ich die vorstehenden Aufzeichnungen beendet, dreizehn Tage später wurde Ballenstedt nach kurzem K a m p f von Amerikanern besetzt. Hoffnungslos waren auch f ü r den nicht fachmännischen Augenzeugen die letzten K ä m p f e am Nordrande des Harzes. Wer die wenigen Panzerfahrzeuge der Deutschen, das völlige Fehlen von Artillerie und Flugzeugen, die teilweise bis zum äußersten erschöpften, stumpf und gleichgültig dreinschauenden, teilweise von einem unheimlichen Galgenhumor beherrschten Truppen beobachtete, der mußte erkennen, daß hier kein ernsthafter Widerstand mehr zu erwarten war. Die Luftangriffe der Amerikaner, die hereinbrechenden Riesenpanzer und die wohlgenährten Mannschaften brachten den verhängnisvollen Gegensatz zu schmerzlicher Anschauung. Vom 8. April ab bauten A n gehörige des „Volkssturmes" aus großen, in aller Eile gefällten Baumstämmen und Geröllmassen an den Straßenzügen Barrikaden, an den Straßenrändern wurden mannstiefe Grabenlöcher angelegt, von denen aus die vorbeirollenden Panzerwagen und sonstigen Fahrzeuge mit sog. Panzerfäusten bekämpft werden sollten. Das Ganze machte auf mich den Eindruck; des Knabenhaft-spielerischen, hinter dem keine ernste Absicht mehr stand. Einer der Ballenstedter Zuschauer machte denn audi die bittere Bemerkung, man solle an die Barrikaden wenigstens Plakate mit der Aufschrift „Durchfahrt verboten" heften. Die Barrikaden wurden wenige Tage nachher abgeräumt, kein Fahrzeug hatte sich daran gestoßen. Alles wies darauf hin, daß eine Absicht zum Widerstande nicht mehr vorhanden war. Deutsche Panzer waren am Waldrande postiert, entlang der großen nach Gernrode führenden Kreisstraße, andere in den herrlichen Anlagen des Schloßgartens mit Wirkungen f ü r die wundervollen Baumgruppen, die man sich unschwer vorstellen kann. Zum Feuern sind die Panzergeschütze wohl nur vereinzelt gekommen, da die Amerikaner nicht, wie erwartet, von Gernrode oder über die Harzberge, sondern aus dem Selketal über Pansfelde und Meisdorf kamen. E t w a am 10. A p r i l erschien an den Anschlagsäulen eine von den örtlichen Z i v i l - und Militärdienststellen unterzeichnete Bekanntmachung, in der zum Widerstande gegen den Feind aufgefordert und die Versicherung gegeben wurde, daß „noch nichts verloren" sei. Es waren dieselben Phrasen, mit denen man das deutsche Volk seit J a h ren gefüttert hatte. A n diesem Orte und zu dieser Zeit wirkte der Anschlag wie ein frivoler Witz. A m 18. vormittags setzte eine heftige Beschießung der Stadt durch Tiefflieger ein und rief unter der Bevölkerung viel Schrecken hervor, verursachte aber keine großen Verluste an Menschenleben. Nach Dun182

kelwerden begann die Beschießung mit Artillerie und setzte sich mit Pausen während des größten Teiles der Nacht fort. Starkes Feuer richtete sich auch gegen den Schloßgarten, und da dieser nur 400 bis 600 m von unserem Hause entfernt war, das gerade in der Schußlinie lag, so konnten wir das Einschlagen der Granaten in unheimlicher Nähe beobachten. Gegen Morgen verstummte die Beschießung, die Übergabe der Stadt war nach anfänglichem Zaudern erfolgt, unmittelbar danach begann die Besetzung. Die Stadt und Umgebung boten einen traurigen Anblick. Der Schloßgarten war mit zerschossenen, ausgebrannten und zum Teil noch schwelenden Panzerwagen und Autos, fortgeworfenen Handfeuerwaffen, Uniformstücken und sonstigem Gerät angefüllt, die Häuser in den Straßen zeigten große, klaffende Lücken und zahllose Einschläge von Sprengstücken, die Leitungsdrähte von Telegraph, Telephon und Licht lagen zerrissen und verwirrt am Boden, amerikanische Panzer blockierten die Wege oder rasten dröhnend durch die Straßen, Massen von Eisenteilen und Trümmerstücken waren in chaotischem Durcheinander überallhin verstreut. Im Walde sah es nicht anders aus. Auch hier standen zerstörte Panzer wie erstarrte Riesentiere umher, umgestürzte und zerfetzte Bäume klagten stumm als Zeugen der mißhandelten Natur, dazwischen lagen verlassene Lagerplätze der amerikanischen und deutschen Truppen. Lastwagen, vollgepackt mit deutschen Gefangenen, fuhren durch die Stätten der Zerstörung und machten das Bild noch trauriger und schmerzvoller. Es läßt sich nicht behaupten, daß die amerikanischen Soldaten sich mehr Willkürlichkeiten, Obergriffe und Belästigungen der Einwohner hätten zuschulden kommen lassen, als sie bei feindlichen Besetzungen üblich sind. Ballenstedt war wegen der Luftangriffe in allen Teilen des Reiches seit langem mit Flüchtlingen überfüllt. Der Rückkehr der einzelnen in die Heimat wurden von den Amerikanern aus nicht erkennbaren Gründen Schwierigkeiten gemacht, doch konnten nicht wenige die Abreise ermöglichen. Die Eisenbahn war allerdings dafür nicht mehr benutzbar, sie hatte schon vor der Besetzung den Betrieb eingestellt. Ebenso waren Post und Telegraph, bald danach auch der Rundfunk stillgelegt worden, so daß wir von der Außenwelt völlig abgeschnitten waren. Die Heimkehrenden mußten also zu Fuß oder mit dem Fahrrad ihre oft recht weite Reise bewerkstelligen, später konnten zuweilen einzelne Fuhrwerke oder Lastautos zur Verfügung gestellt werden. Fast täglidi kamen audi durch Ballenstedt solche Wanderer, einzeln oder in Gruppen, meist zu Fuß, selten auf Pferdewagen, oft nach wochenlangem Umherirren, immer erschöpft, abgerissen, bald voll verbissener Entschlossenheit, bald in stiller Verzweiflung. In unserem Heim erhielten sie Hilfe, soweit es irgend möglich war. Eine verhängnisvolle Maßregel der Amerikaner war es, daß sie sofort nach ihrem Eintreffen die meist in der Landwirtschaft zwangsverpflichteten ausländischen Arbeiter freisetzten. Diese losgelassenen Freibeuter, in der Mehrzahl Polen, organisierten sich sogleich zu förmlichen Räuberbanden, brachen auf dem Lande und in der Stadt ein, rissen an sich, was sie ergattern 183

konnten, und schreckten auch vor Bluttaten nicht zurück. Meist waren es halbwüchsige Burschen und Mädchen, die mit der ihnen unverhofft geschenkten Freiheit nichts anzufangen wußten. Die Amerikaner wurden sich zum Glück bald klar, was sie mit ihren voreiligen Maßnahmen angerichtet hatten, und schoben das lästige Gesindel in die von den Russen besetzten Gebiete ab, soweit es nicht die Wiederaufnahme der Arbeit vorzog. Das Härteste an dem derweiligen Zustande war die Absperrung von der Außenwelt. Man wußte nichts von den nächsten Angehörigen, wenn sie an einem anderen Orte lebten oder sich auf der Flucht vor den heranrückenden Russen befanden, weil ja jede Verbindungsmöglichkeit fehlte. Das einzige und selten verfügbare Nachrichtenmittel bot sich wohl, wenn ein Auto in eine in Betracht kommende Gegend fuhr. Dann ließ sich der Fahrer möglicherweise herbei, einen Brief mitzunehmen. Wir waren glücklich genug, auf diesem Wege einige Male Verbindung mit unserer Tochter in Hamburg herstellen zu können. Was indessen aus den zur Wehrmacht gehörigen oder mit ihr irgendwie in Beziehung stehenden Familienmitgliedern geworden war, blieb ganz dunkel. Von den Kriegsgefangenen waren bisher nur wenige, meist ältere und kranke, entlassen, die meisten sollten angeblich zu Aufbauarbeiten in andere Länder abtransportiert werden; danach stand diesen Unglücklichen noch eine jahrelange Trennung von den Ihrigen bevor. Man war Zeuge von unbeschreiblichem Elend. Auch meine Frau und ich trugen schwer an der Unmöglichkeit, irgendetwas über das Schicksal unserer Verwandten oder unserer zahlreichen Berliner Freunde zu erfahren. Da auch keine Gehälter, Pensionen und Renten mehr gezahlt wurden, so kann man sich leicht vorstellen, wie verzweifelt für viele die Lage zu werden begann. Wie die Post, so waren audi sämtliche Unterrichtsanstalten geschlossen. Inzwischen verwilderte die schon während der Kriegsjahre stark verwahrloste Jugend weiter und wurde zu einer Plage für die Eltern und einer Gefahr für die Öffentlichkeit. Die Besetzung Ballenstedts durch die Russen erfolgte am z. Juli, nachdem die Amerikaner tags zuvor abgezogen waren. Damit begann eine Periode roher Gewalttaten, banditenhafter Plünderungs-Einbrüche, Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen und einer Flut von unsinnigen Verordnungen. Was die Rote Armee hierher entsandte, waren zum Teil verlottert aussehende Gesellen, Steppenreiter aus Innerasien, daneben auch gesittetere Gestalten germanischen Typs, das Ganze untermischt mit entlaufenen Polen, halbwüchsigen Jungen, die sich wie herrenlose Hunde den marschierenden Abteilungen angeschlossen hatten, und sogar einzelne Frauen. Nachdem in das Getümmel ein Anflug von Ordnung gekommen war, begann die Beschlagnahme und Durchsuchung von Wohnungen etwas systematischere Formen anzunehmen. Was die Amerikaner gelassen hatten — es war nicht viel —, wurde jetzt „requiriert". Namentlich waren es Wertsachen, ferner Kleidung und Möbel, die begehrt waren und abtransportiert wurden. Dann ging es an die Vieh- und Futterbestände. Viele hundert Stück Rindvieh 184

— ich habe selbst einmal 250 Stück in einer Herde gezählt — , große Schafherden und immer neue Mengen von Pferden f ü r die ungezählten Panjewagen wurden allein rings um Ballenstedt weggenommen, ebenso das diesmal besonders reichliche frische Heu der Wiesen, das Grünfutter und stellenweise vorjähriges Getreide. Allmählich entfaltete die sowjetische Militärverwaltung ihre Tätigkeit. Verordnungen unverständlicher A r t wurden in unablässiger Folge erlassen, um drei Tage später wieder zurückgezogen und nach fünf Tagen abermals erneuert zu werden. Der Postrverkehr wurde in sehr beschränktem U m f a n g e und nur innerhalb des Ortes und einer engen Zone wieder aufgenommen, aber durch die russischen Vorschriften immer wieder behindert. Das Telephon, selbst innerhalb des Ortes, durfte nicht benutzt werden, obwohl die Leitungen längst wiederhergestellt waren. Eine Benutzung der wiederhergestellten Bahnlinien w a r , vom Lokalverkehr im engsten Rahmen abgesehen, nur gegen Passierschein möglich, ein Verkehr mit den nicht von Russen besetzten Gebieten auf das strengste untersagt. Die Schulen wurden auf kurze Zeit geöffnet, dann wieder geschlossen. Gottesdienst wurde an mehreren Sonntagen verboten, weil angeblich die Zeit f ü r Erntearbeiten benötigt wurde. Das hinderte indessen nicht, daß die neugebildete Kommunistische Partei und Sozialdemokratische Partei ihre Versammlungen abhielten. Die Kommunisten begannen unter den russischen Fittichen sich bald wieder zu regen. Sie veröffentlichten ein langes Manifest, das man als Deutscher weniger mit Erstaunen als mit Ekel las. Es w a r ein Gemisch von verbrauchtem Phrasentum, primitiver Unwissenheit und schamloser Selbstentwürdigung. Dazu paßte es, daß bei den Tanzveranstaltungen, die jeden Sonntagabend f ü r die russischen Offiziere stattfanden, die Tänzerinnen von der Weiblichkeit von Ballenstedt gestellt wurden. Diese hatte schon vorher mit den Amerikanern so intim charmiert, daß die Kommandantur hatte eingreifen müssen, nun warf sie sich mit derselben Leidenschaft den Neuankömmlingen an den Hals. Es gehört zu den schmerzvollsten E r fahrungen in dieser Zeit, die bekannten nationalen Laster unseres Volkes, Neid, Selbstsucht, Mißgunst, Zanksucht, mit ungeschwächter K r a f t hervorbrechen zu sehen und jener bitteren Charakterisierung der Deutschen gedenken zu müssen: „politisch unbegabt, national charakterlos". So sehe ich, so weit mein Blick reicht, keinen hellen Streifen der Hoffnung in dem dunklen Gewölk des Völkersturmes, wohl aber glaube ich in düsterem Lichte jenen Trostspruch der Verzweiflung zu erkennen: Una salus, victis nullum sperare salutem. Vielleicht wird es einem späteren Geschlechte einmal vergönnt sein, einen neuen deutschen Frühling zu erleben, heute vermag ich nicht mehr den Glauben an unser Volk aufzubringen. Dankbar bin ich, daß mich nur noch eine ganz kurze Strecke von der dunklen Pforte trennt, und der einzige Wunsch, der meine Frau und mich bewegt, ist der, daß wir diese Strecke gemeinsam zum Ende durchschreiten können. 9. Oktober 1945 185

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VIII, 3 5 8 S e i t e n . 1 9 5 2 . D M 6 8 , - , Q a n z l e i n e n D M 7 2 , -

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