Ergotherapie in der Onkologie (German Edition) [1. Aufl. 2023] 3662642298, 9783662642290

Dieses Praxisbuch liefert Ergotherapeuten die ideale Grundlage für die Arbeit in der Onkologie. Wie kann ich als Ergothe

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Ergotherapie in der Onkologie (German Edition) [1. Aufl. 2023]
 3662642298, 9783662642290

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Grundlagen der Onkologie
1: Historisches zu Medizin, Onkologie und Ergotherapie
1.1 Einleitung
1.2 In der Antike wird der Begriff „Krebs“ geprägt
1.3 Die Säftelehre
1.4 Die Anfänge der heutigen Medizin
1.5 Das 20. Jahrhundert
1.6 Die Entwicklung der modernen Krebsmedizin
1.6.1 Spezialisierung und Subspezialisierung
1.6.2 Klinische Forschung
1.6.3 Chirurgie
1.6.4 Radiotherapie
1.6.5 Medikamentöse Tumortherapien
1.6.6 Interprofessionelle Zusammenarbeit
1.7 Ergotherapie und Onkologie
Literatur
Zitierte Literatur
2: Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie
2.1 Einleitung und wichtigste Definitionen
2.1.1 Definitionen
2.1.2 Kriterien für Malignität
2.2 Grundlagen der Zellbiologie
2.2.1 Zellteilung und Apoptose
2.2.2 Signalübermittlung
2.3 Tumorgenetik
2.3.1 Grundlagen
2.3.2 Mutationen
2.3.3 Mutationen von Onkogenen und Suppressorgenen
2.3.4 Genetische Instabilität
2.3.5 Entwicklung maligner Tumoren als Mehrschrittprozess
2.4 Ursachen maligner Entartung
2.4.1 Familiäre (vererbte) Krebskrankheiten
2.4.2 Erworbene Mutationen
2.5 Lokales Tumorwachstum und Metastasierung
2.5.1 Regulation des Tumorwachstums
2.5.2 Neubildung von Blutgefäßen im Tumor
2.5.3 Infiltration und Invasion
2.5.4 Metastasierung
2.6 Immunologische Aspekte
2.6.1 Grundlagen
2.6.2 Immunsystem und maligne Tumoren
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
3: Klinische Manifestationen maligner Tumoren
3.1 Symptome aufgrund des lokalen Tumorwachstums
3.2 Paraneoplastische Symptome
Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
4: Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren
4.1 Einleitung
4.2 Einteilung nach Gewebetyp
4.2.1 Karzinome
4.2.2 Sarkome
4.2.3 Leukämien
4.2.4 Lymphome
4.2.5 Tumoren des zentralen Nervensystems
4.2.6 Andere Tumoren
4.3 Einteilung nach dem Malignitätsgrad (Grading)
4.4 Einteilung nach dem Tumorstadium (Staging)
4.4.1 TNM-System
4.4.2 Stadiengruppierung
4.4.3 Ann-Arbor-Stadieneinteilung für maligne Lymphome
4.4.4 FIGO-Stadieneinteilung der gynäkologischen Tumoren
4.5 R-Klassifikation (Residualtumorklassifikation)
4.6 Klassifikation nach immunhistochemischen oder molekulargenetischen Eigenschaften
4.7 Kombination verschiedener Einteilungssysteme
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
5: Epidemiologie und Risikofaktoren
5.1 Einleitung
5.2 Einige epidemiologische Begriffe
5.2.1 Inzidenz und Inzidenzrate
5.2.2 Mortalität und Mortalitätsrate
5.3 Risikofaktoren
5.3.1 Begriffsbestimmung
5.3.2 Unterschiedliche Typen von Risikofaktoren
5.4 Unbeeinflussbare Risikofaktoren
5.4.1 Alter
5.4.2 Geschlecht
5.4.3 Genetische Risikofaktoren und familiäre Krebserkrankungen
5.5 Vermeidbare Risikofaktoren
5.5.1 Rauchen
5.5.2 Alkoholkonsum
5.5.3 Ernährung
5.5.4 Übergewicht und Mangel an körperlicher Bewegung
5.5.5 Strahlen
5.5.6 Belastungen bei der Arbeit
5.5.7 Belastung durch Umweltschadstoffe
5.5.8 Infektionen
5.5.9 Medikamente
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
6: Prävention und Früherkennung maligner Tumoren
6.1 Was ist Prävention?
6.2 Primäre Prävention
6.2.1 Grundlagen
6.2.2 Vermeidung von Risikofaktoren
6.2.3 Chirurgische Prävention
6.2.4 Chemoprävention
6.2.5 Impfungen
6.3 Sekundäre Prävention (Früherkennung)
6.3.1 Definitionen und Ziele
6.3.2 Besondere Aspekte von Screeningprogrammen
6.3.2.1 Überdiagnose und Überbehandlung
6.3.2.2 Pseudonutzen
6.3.2.3 Falsch positive und falsch negative Befunde
6.3.2.4 Risiken der Untersuchung
6.3.3 Nutzen und Schaden
6.3.4 Untersuchungen zur Früherkennung bestimmter Tumoren
6.3.4.1 Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs
6.3.4.2 Früherkennung von Brustkrebs
6.3.4.3 Früherkennung von Darmkrebs
6.3.4.4 Früherkennung von Hautkrebs
6.3.4.5 Früherkennung von Prostatakrebs
Literatur
Zitierte Literatur
Informationen zu Früherkennung und Prävention (auch Broschüren und Merkblätter)
Informationen zum offiziellen Mammografiescreening
Informationen zu Radon und Radonbelastung
7: Diagnostische Verfahren in der Onkologie
7.1 Einleitung
7.2 Anamnese und körperliche Untersuchung
7.3 Bildgebende Verfahren
7.3.1 Röntgenuntersuchungen
7.3.2 Sonografie (Ultraschalluntersuchung)
7.3.3 Magnetresonanztomografie
7.3.4 Nuklearmedizinische Diagnostik
7.4 Endoskopie
7.5 Zytologische und histologische Untersuchungen
7.5.1 Biopsie
7.6 Untersuchungen an Blut und Serum
7.6.1 Hämatologische Untersuchungen
7.6.2 Biochemische Untersuchungen
7.7 Molekularbiologische Untersuchungen
7.7.1 Immunhistochemie: Nachweis von Tumorproteinen/-antigenen
7.7.2 Genanalysen: Direkter Nachweis von Genveränderungen
Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
Teil II: Onkologische Therapien
8: Prinzipien der Tumorbehandlung
8.1 Einleitung
8.2 Indikationen zur Tumortherapie
8.3 Behandlungsmöglichkeiten
8.4 Therapieziele
8.4.1 Kurative Behandlung
8.4.2 Palliative Behandlung
8.4.3 Symptomatische und supportive Behandlung
8.5 Beurteilung des Behandlungserfolgs
8.5.1 Chirurgie
8.5.2 Radiotherapie und medikamentöse Tumortherapien
8.5.3 Zeitpunkt und Methode der Beurteilung
8.6 Beurteilung unerwünschter Wirkungen von Chemo- und Radiotherapie
8.7 Nachsorge und Rehabilitation
8.8 Survivorship
8.9 Behandlungsteam und Versorgungsnetzwerk
Literatur
Zitierte Literatur
Internetadressen
9: Tumorchirurgie
9.1 Einleitung
9.2 Chirurgie zur Diagnostik und Stadieneinteilung
9.3 Chirurgie mit kurativer Absicht
9.3.1 Radikale und konservative Eingriffe
9.3.2 Minimalinvasive Eingriffe
9.3.3 Chirurgie bei Lokalrezidiv oder Metastasen
9.3.4 Chirurgie im Rahmen multimodaler Konzepte
9.4 Chirurgie mit palliativer Absicht
9.5 Rekonstruktive Chirurgie
9.6 Präventive Tumorchirurgie
9.7 Supportive Eingriffe
9.8 Spezielle Punkte für die ergotherapeutische Arbeit
Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
10: Strahlentherapie
10.1 Was ist Strahlentherapie?
10.2 Strahlenphysik und Strahlenbiologie
10.2.1 Maßeinheiten und Begriffe
10.2.2 Strahlenwirkung am Tumor und den Normalgeweben
10.3 Radioonkologische Therapieverfahren
10.3.1 Teletherapie (externe Strahlentherapie)
10.3.2 Intrakavitäre und interstitielle Brachytherapie
10.3.3 Therapie mit offenen Radionukliden
10.4 Ziele und Indikationen der Strahlentherapie
10.4.1 Kurative Strahlentherapie
10.4.2 Adjuvante/neoadjuvante Strahlentherapie
10.4.3 Palliative Strahlentherapie
10.4.4 Strahlentherapie in multimodalen Konzepten
10.5 Ablauf einer Strahlentherapie
10.5.1 Vorstellung beim Strahlentherapeuten
10.5.2 Planung und Vorbereitung der Bestrahlung
10.5.3 Durchführung und Dauer der Bestrahlung
10.6 Unerwünschte Wirkungen
10.6.1 Akute Strahlenreaktion
10.6.2 Spätfolgen
10.7 Spezielle Punkte für die ergotherapeutische Arbeit
10.7.1 Sicherheit des Therapeuten
10.7.2 Behandlungsindikationen
Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
Internetadressen
11: Medikamentöse Tumortherapie
11.1 Einleitung
11.1.1 Vorurteile und Tatsachen
11.1.2 Übersicht und Einteilung
11.2 „Klassische Zytostatika“
11.2.1 Wirkungsmechanismen
11.2.2 Toxizität der klassischen Zytostatika
11.3 „Zielgerichtete Therapien“
11.3.1 Monoklonale Antikörper
11.3.2 Hemmstoffe von Enzymen im Zellinnern („small molecules“)
11.3.3 Toxizität der zielgerichteten Therapien
11.4 Immuntherapien
11.4.1 Immuncheckpointhemmer
11.4.2 CAR-T-Zell-Therapie
11.5 Hormontherapie
11.5.1 Hormone und Tumorwachstum
11.5.2 Methoden der Hormontherapie
11.6 Wirksamkeit medikamentöser Therapien bei verschiedenen Tumoren
11.7 Resistenzentwicklung
11.8 Toxizität
11.9 Anwendungsformen
11.10 Spezielle Punkte für Ergotherapeuten
11.10.1 Sicherheit des Therapeuten
11.10.2 Ergotherapeutische Behandlungsindikationen
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren zu Sicherheit und Schutzmassnahmen
Deutschland
Schweiz
Österreich
Internetadressen
12: Blutstammzelltransplantation
12.1 Was ist eine Stammzelle?
12.2 Bedeutung in der Onkologie und Hämatologie
12.3 Indikationen und Methoden
12.4 Allogene Blut
12.4.1 Auswahl des Blutstammzellspenders
12.4.2 Gewinnung von Blutstammzellen
12.4.3 Ablauf der allogenen Blutstammzelltransplantation
12.4.4 Komplikationen
12.4.5 Allogene Blutstammzell
12.4.6 Ergebnisse und Prognose
12.5 Autologe Blut
12.5.1 Ablauf
12.5.2 Komplikationen und Probleme
12.6 Besonderheiten der stationären Betreuung
12.7 Spezielle Punkte für die ergo
Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren
Internetadressen
13: Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs
13.1 Einleitung
13.2 Definitionen
13.3 Verhältnis von KAM und Schulmedizin
13.4 Methoden der KAM
13.4.1 Übersicht und Charakteristika
13.4.2 Diagnostische Methoden
13.4.3 Heilpflanzen
13.4.4 Diäten
13.4.5 Vitamine und Spurenelemente
13.4.6 Aromatherapie
13.4.7 Akupunktur
13.4.8 Akupressur
13.4.9 Hyperthermie
13.4.10 Therapien im Rahmen von Gesamtkonzepten
13.5 Nutzen von KAM
13.5.1 Selbstwirksamkeit
13.5.2 Placeboeffekt
13.5.3 Tumorrückbildung und Lebensverlängerung
13.5.4 Lebensqualität
13.5.5 Beispiel einer Nutzenbewer
13.6 Risiken von KAM
13.6.1 Versäumnisse durch die Anwendung von Alternativmedizin
13.6.2 Nebenwirkungen und Interaktionen
13.6.3 Kosten-, Zeit- und Energieaufwand
13.7 Häufigkeit der Inanspruchnahme von Methoden der KAM
13.8 Beweggründe von Patienten für die Anwendung von KAM
13.9 Ergotherapeuten und KAM
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Bücher
Zeitschriftenartikel
Internetadressen
Broschüren für Klienten und Angehörige
Teil III: Rehabilitation – eine multiprofessionelle Aufgabe
14: Rehabilitation in der Onkologie – Einleitung
14.1 Definition und Eigenschaften
14.2 Krankheitsbilder
14.3 Voraussetzungen
14.4 Ziele
14.5 Ablauf und Organisation
14.6 Ambulante und stationäre Rehabilitation
14.7 Angebot und Team
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
Deutschland
Österreich
Broschüren für Klienten und Angehörige
Deutschland
Schweiz
15: Ernährung und Ernährungstherapie
15.1 Einleitung
15.2 Ernährung und Krebs
15.3 Nährstoffe
15.4 Krankheits- und therapiebedingte Ernährungsstörungen
15.4.1 Definitionen
15.4.2 Ursachen der Mangelernährung
15.4.3 Folgen der Mangelernährung
15.4.4 Primäres Tumor-Anorexie-Kachexie-Syndrom
15.5 Diagnose des Ernährungszustands
15.6 Ernährungstherapie
15.6.1 Ziele der Ernährungstherapie
15.6.2 Stufen der Ernährungs
15.6.3 Nahrungsanreicherungen
15.6.4 Trinknahrung
15.6.5 Enterale Sondenernährung
15.6.6 Parenterale Ernährung
15.6.7 Ernährung in speziellen Situationen
15.7 Schwerpunkte der Ernährungsberatung in der Rehabilitation
15.8 Schnittpunkte zwischen Ernährungsberatung und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Quellen
Internetadressen
Broschüren für Klienten und Angehörige
16: Kunsttherapie
16.1 Definition
16.2 Anwendungsbereiche
16.3 Kunsttherapie in der Onkologie
16.3.1 Ziele und Wirkung
16.3.2 Therapeutisches Angebot
16.3.3 Material
16.3.4 Ablauf
16.4 Schnittpunkte zwischen Kunsttherapie und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
17: Logopädie
17.1 Definition
17.2 Logopädie in der Onkologie
17.3 Logopädische Störungsbilder
17.3.1 Aphasie
17.3.2 Dysarthrie
17.3.3 Dysphagie
17.3.4 Dysphonie
17.3.5 Fazialisparese
17.3.6 Laryngektomie
17.4 Diagnostik
17.4.1 Bei Sprach- und/oder Sprechstörung
17.4.2 Bei Verdacht auf Schluckstörung
17.5 Behandlung
17.5.1 Stimmrehabilitation nach Laryngektomie
17.5.2 Behandlung bei Fazialisparese
17.5.3 Behandlung bei Schluckstörungen
17.6 Schnittpunkte zwischen Logopädie und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
18: Lymphtherapie
18.1 Definition
18.2 Das lymphatische System
18.2.1 Bedeutung in der Onkologie
18.2.2 Lymphgefäße
18.2.3 Lymphknoten
18.3 Lymphödem
18.3.1 Ursachen
18.3.2 Lokalisation und Häufigkeit
18.3.3 Symptome und Stadieneinteilung
18.3.4 Weiterführende Beschwerden
18.3.5 Diagnostik
18.3.6 Behandlung
18.3.7 Verhaltenshinweise bei Lymphödem
18.4 Schnittpunkte zwischen Lymphtherapie und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
Deutschland
Schweiz
Internetadressen
19: Pflege
19.1 Definition
19.2 Pflege in der Onkologie
19.3 Pflege in der onkologischen Rehabilitation
19.3.1 Diagnostik und Dokumentation
19.3.2 Beratung und Schulung
19.3.3 Pflegerische Interventionen – Beispiele
19.4 Schnittpunkte zwischen Pflege und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
Deutschland
Österreich
Schweiz
20: Physiotherapie
20.1 Definition
20.2 Physiotherapie in der Onkologie
20.2.1 Ziele
20.2.2 Diagnostik und Dokumentation
20.2.3 Beratung und Schulung
20.2.4 Behandlung
20.3 Schnittpunkte zwischen Physio- und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
21: Psychoonkologie
21.1 Was ist Psychoonkologie?
21.2 Bedeutung in der Onkologie
21.3 Häufigkeit von psychischen Belastungen in Verbindung mit der Diagnose Krebs
21.4 Mögliche Symptome
21.5 Diagnostik
21.6 Behandlungsmaßnahmen
21.6.1 Allgemeine Maßnahmen
21.6.2 Spezifische Maßnahmen
21.7 Schnittpunkte zwischen Physioonkologie und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
22: Sozialberatung
22.1 Definition
22.2 Themen der Sozialberatung in der Onkologie
22.2.1 Wirtschaftliche Situation
22.2.2 Umschulung/Wiedereingliederung
22.2.3 Renten und Versicherungen
22.2.4 Häusliche Versorgung
22.3 Sozialberatung im multiprofessionellen Team
22.4 Schnittpunkte zwischen Sozialberatung und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
Deutschland
Schweiz
Österreich
23: Bewegungs- und Sporttherapie
23.1 Definitionen
23.2 Bewegung und Sport in der Onkologie: Übersicht
23.3 Training in der Rehabilitation
23.3.1 Vor und während der Tumortherapie
23.3.2 Nach Abschluss der Tumortherapie
23.3.2.1 Indikation
23.3.2.2 Ziele
23.3.2.3 Befundung
23.3.2.4 Training
23.3.2.5 Organisation
23.3.2.6 Finanzierung
23.4 Training im Alltag
23.5 Bewegung und Sport in der Prävention
23.6 Schnittpunkte zwischen Bewegungs- und Sporttherapie und Ergotherapie
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
Deutschland
Schweiz
Österreich
Internetadresse
Teil IV: Ergotherapie in der Onkologie – Grundlagen
24: Kommunikation
24.1 Definition
24.2 Notwendigkeit
24.3 Aspekte der Kommunikation
24.3.1 Verbale Kommunikation
24.3.1.1 Gesprächstechniken
24.3.1.2 Besondere Herausforde
24.3.2 Paraverbale Kommunikation
24.3.3 Nonverbale Kommunikation
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Internetadressen
25: Psychohygiene für den Therapeuten
25.1 Definition und Terminologie
25.2 Notwendigkeit
25.3 Schutzfaktoren
25.4 Burn-out-Prophylaxe
25.4.1 Persönliche Maßnahmen
25.4.2 Maßnahmen des Arbeitgebers
Literatur
Zitierte Literatur
Internetadressen
26: Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess
26.1 Einleitung
26.2 Ansätze im ergotherapeuti
26.3 Der ergotherapeutische Prozess
26.3.1 Übersicht
26.3.2 Evaluation
26.3.3 Intervention
26.3.4 Outcome
26.3.5 Assessments
Literatur
Zitierte Literatur
Teil V: Ergotherapie in der Onkologie – Häufige klinische Situationen
27: Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie
27.1 Definition und Terminologie
27.2 Prävalenz
27.3 Ursachen und Risikofaktoren
27.4 Symptome
27.5 Verlauf
27.6 Folgestörungen
27.7 Diagnostik
27.7.1 Fragen zur Anamnese
27.7.2 Befunde
27.8 Prävention
27.9 Behandlung – Überblick
27.9.1 Medikamentöse Behandlung
27.9.2 Nichtmedikamentöse Behandlungen
27.10 Die ergotherapeutische Behandlung
27.10.1 Ziele
27.10.2 Sensomotorik- und Vibrationstraining
27.10.3 Sensibilitätstraining
27.10.4 Bewegungsübungen
27.10.5 Eigenübungen zu Hause
27.10.6 Hilfsmittelversorgung
27.10.7 Weitere Behand
27.10.8 Verschlechterung der Symptomatik
27.10.9 Gruppenaufbau für ein Sensibilitätstraining
27.11 Was sollte ein Klient mit CIPN im Alltag beachten?
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
28: Störung von Gleichgewicht und Koordination
28.1 Definitionen
28.2 Physiologie
28.2.1 Gleichgewichtssinn
28.2.2 Koordination
28.3 Ursachen
28.4 Symptome und Folgestörungen
28.5 Diagnostik
28.6 Die ergotherapeutische Behandlung
28.6.1 Übersicht
28.6.2 Gleichgewichts- und Koordinationstraining
28.6.3 Kraft- und Ausdauertraining
28.6.4 Kognitiv-therapeutische Übungen
28.6.5 Sturzprävention
28.6.5.1 Bedeutung
28.6.5.2 Sturzangst
28.6.5.3 Behebung von Risikofaktoren
28.6.5.4 Überprüfung präventiver Maßnahmen
Literatur
Zitierte Literatur
Internetadressen
29: Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion
29.1 Definition und Terminologie
29.2 Prävalenz
29.3 Ursachen und Risikofaktoren
29.4 Symptome und Folgestörungen
29.5 Diagnostik
29.6 Ergotherapeutische Behandlung – Übersicht
29.7 Kognitives Training
29.7.1 Behandlungsgrundsätze
29.7.2 Kontraindikationen
29.7.3 Verschlechterung der Symptomatik
29.7.4 Gestaltung des kognitiven Trainings
29.7.4.1 Inhalte und Umsetzung
29.7.4.2 Trainingsdauer
29.7.5 Spezifische Trainings
29.7.5.1 Aufmerksamkeitstraining
29.7.5.2 Gedächtnistraining und Kompensationsstrategien
29.7.5.3 Training von Exekutivfunktionen
29.7.6 Kognitives Training in der Gruppe
29.7.7 Behandlungssituationen: Beispiele
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüre für Klienten und Angehörige
30: Narben
30.1 Definition und Eigenschaften
30.2 Narben in der Onkologie
30.3 Wundheilung
30.3.1 Wundheilungsphasen
30.3.2 Die Wundheilung beeinträchtigende Faktoren
30.4 Narbentypen
30.4.1 Narbe bei unauffälligem Heilungsverlauf
30.4.2 Besondere Narbentypen
30.5 Symptome und Folgestörungen
30.6 Diagnostik
30.7 Behandlung – Überblick
30.7.1 Behandlung nach Narbentyp
30.7.2 Prophylaktische Behandlung während der Wundheilung
30.8 Behandlung in der Ergotherapie
30.8.1 Narbenmassage
30.8.2 Cremes, Salben und Öle
30.8.3 Silikonpräparate
30.8.4 Desensibilisierung
30.8.5 Dehn- und Bewegungsübungen
30.8.6 Wärme
30.8.7 Taping
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
31: Amputation
31.1 Definition und Terminologie
31.2 Indikationen
31.3 Symptome
31.4 Folgestörungen
31.5 Diagnostik
31.6 Die ergotherapeutische Behandlung
31.6.1 Narbenbehandlung
31.6.2 Unterstützung bei Verlust und Trauer
31.6.3 Stumpfpflege
31.6.4 Prothesenversorgung
31.6.5 Phantomschmerzen und Phantomempfindungen
31.6.5.1 Was sind Phantomempfindungen und Phantomschmerzen?
31.6.5.2 Therapieansätze
Literatur
Zitierte Literatur
Internetadressen
32: Arthralgie und Myalgie
32.1 Definition und Terminologie
32.2 Bedeutung und Prävalenz
32.3 Ursache der AIA
32.4 Symptome und Verlauf
32.4.1 Arthralgie
32.4.2 Myalgie
32.5 Folgestörungen
32.6 Diagnostik
32.6.1 Arthralgie
32.6.2 Myalgie
32.7 Behandlung – Übersicht
32.7.1 Allgemeine Maßnahmen
32.7.2 Medikamentöse Behandlung
32.7.3 Körperliche Aktivität, Bewegungs- und Krafttraining
32.7.4 Sonstige Maßnahmen
32.8 Die ergotherapeutische Behandlung
32.8.1 Alltag des Klienten
32.8.2 Gelenkschutz
32.8.3 Hilfsmittel und Bewegungsübungen
32.8.4 Manualtherapeutische und thermische Anwendungen
32.8.5 Umgang mit Schmerz
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
33: Fatigue
33.1 Definition und Terminologie
33.2 Prävalenz
33.3 Ursache und Risikofaktoren
33.4 Symptome und Verlauf
33.5 Folgestörungen
33.6 Diagnostik
33.6.1 Screening und weiterführende Untersuchungen
33.6.2 Abgrenzung zwischen Fatigue und Depression
33.6.3 Diagnose von behandelbaren Faktoren
33.7 Behandlung – Übersicht
33.7.1 Bewegung und Sport
33.7.2 Kognitive Verhaltenstherapie
33.7.3 Entspannungstechniken
33.7.4 Medikamentöse Therapien
33.8 Die ergotherapeutische Behandlung
33.8.1 Edukation
33.8.2 Befunderhebung
33.8.3 Fatigue-Tagebuch
33.8.4 Management von Aktivität und Ruhe
33.8.5 Adaption von Betätigung
33.8.6 Unterstützende Maßnahmen
33.8.7 Unterstützung beim Umgang mit dem Umfeld
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
34: Schmerz
34.1 Definition
34.2 Bedeutung in der Onkologie und Prävalenz
34.3 Pathophysiologie des Schmerzes
34.3.1 Aktivierung der Schmerzrezeptoren
34.3.2 Schmerzleitung und Schmerzwahrnehmung
34.3.3 Schmerzmodulation, Endorphine und Opiatrezeptoren
34.4 Schmerzursachen bei Tumorpatienten
34.5 Nozizeptiver und neuropathischer Schmerz
34.5.1 Nozizeptiver Schmerz
34.5.2 Neuropathischer Schmerz
34.6 Akuter und chronischer Schmerz
34.6.1 Akute Tumorschmerzen
34.6.2 Chronische Tumorschmerzen
34.7 Erfassung und Dokumentation
34.7.1 Lokalisation
34.7.2 Intensität
34.7.3 Auslösende oder verschlimmernde Faktoren
34.7.4 Alltagsbewältigung
34.7.5 Dokumentation
34.8 Information und Edukation
34.9 Prinzipien der Schmerzbehandlung
34.9.1 Individuelle Bestimmung des Behandlungsziels
34.9.2 Möglichkeiten der Schmerzbehandlung
34.9.3 Prinzipien der medikamentösen Schmerzbehandlung
34.10 Nichtopioide
34.11 Opioide
34.11.1 Definitionen
34.11.2 Häufig eingesetzte Opioide
34.11.3 Verabreichungsformen
34.11.4 Opioide bei Durchbruchschmerzen
34.11.5 Unerwünschte Wirkungen und ihre Behandlung
34.11.6 Überdosierung
34.11.7 Der „opioidresistente“ Schmerz
34.11.8 Mythen und Ängste in Zusammenhang mit Opioiden
34.12 Adjuvante Medikamente (Koanalgetika)
34.13 Lokal wirkende Medikamente
34.14 Ergänzende Methoden der Schmerzbehandlung
34.14.1 Physikalische Methoden
34.14.2 Psychologische Methoden
34.14.3 Psychosoziale Unterstützung
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
Internetadressen
35: Psychosoziale Folgen
35.1 Definition
35.2 Psychosoziale Folgen in der Onkologie
35.3 Ursachen
35.3.1 Körperliche Beeinträchtigung
35.3.2 Psychische Beeinträchtigung
35.3.3 Soziale Beeinträchtigung
35.3.4 Beeinträchtigung der Sexualität
35.3.5 Beispiele aus der Praxis
35.4 Diagnostik
35.5 Interventionen
35.5.1 Psychosoziale Beratung
35.5.2 Beratung bei Störungen der Sexualität
35.6 Bemerkungen zur ergotherapeutischen Behandlungsstrategie
Literatur
Zitierte Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
Internetadressen
36: Fallbeispiele
36.1 Fallbeispiel 1
36.1.1 Evaluation
36.1.2 Interventionen
36.1.3 Outcome
36.2 Fallbeispiel 2
36.2.1 Evaluation
36.2.2 Interventionen
36.2.3 Outcome
Literatur
Zitierte Literatur
Teil VI: Spezielle Bereiche der Ergotherapie in der Onkologie
37: Ergotherapie in der pädiatrischen Onkologie
37.1 Einleitung
37.2 Interviews zur pädiatrischen Onkologie
37.2.1 Vorstellung der Klinik
37.2.2 Vorstellung der Abteilung Ergotherapie
37.2.3 Das Interview mit dem pädiatrischen Onkologen
37.2.4 Das Interview mit den Ergotherapeuten
37.3 Fazit der Autorin
38: Ergotherapie in der Palliative Care
38.1 Definition und Terminologie
38.2 Merkmale von Palliative Care
38.3 Organisation
38.4 Ergotherapie in der Palliative Care
38.4.1 Besonderheiten
38.4.2 Teamarbeit
38.4.3 Diagnostik
38.4.4 Symptome und Behandlungsansätze
38.4.4.1 Symptome und Problemfelder
38.4.4.2 Interventionen
38.4.5 Sterbebegleitung und Trauer
38.4.5.1 Sterbebegleitung
38.4.5.2 Trauerbegleitung von Angehörigen
38.4.5.3 Umgang mit Trauer im Team
38.4.5.4 Psychohygiene
Literatur
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Broschüren für Klienten und Angehörige
Teil VII: Häufige Tumoren – Symptome, Diagnostik, Therapie
39: Mamma- und Ovarialkarzinom
39.1 Mammakarzinom (Brustkrebs)
39.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
39.1.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors
39.1.3 Diagnostik
39.1.4 Histologie und Biomarker
39.1.5 Metastasierung
39.1.6 Therapie
39.1.6.1 Übersicht
39.1.6.2 Chirurgie
Prophylaktisch
Kurativ
Brust
Axilläre Lymphknoten
39.1.6.3 Strahlentherapie
Adjuvant
Palliativ
39.1.6.4 Medikamentöse Behandlung
Indikation
Neoadjuvant
Adjuvant
Palliativ
Medikamente
Übersicht
Hormontherapie
Gegen HER2 wirksame Medikamente
Chemotherapie
39.1.7 Prognose
39.1.8 Nachsorge
39.2 Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs)
39.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
39.2.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors
39.2.3 Diagnostik
39.2.4 Histologie und Metastasierung
39.2.5 Therapie
39.2.5.1 Übersicht
39.2.5.2 Chirurgie
39.2.5.3 Radiotherapie
39.2.5.4 Chemotherapie
39.2.6 Prognose
39.2.7 Nachsorge
40: Bronchialkarzinome (Lungenkrebs)
40.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
40.2 Symptome
40.3 Diagnostik
40.3.1 Bei Verdacht auf Bronchialkarzinom
40.3.2 Bei pathologisch gesicherter Diagnose
40.4 Histologie, Stadieneinteilung und Metastasierung
40.4.1 Histologie
40.4.2 Metastasierung
40.4.3 Stadieneinteilung
40.5 Therapie kleinzelliger Karzinome
40.5.1 Übersicht
40.5.2 Chirurgie
40.5.3 Strahlentherapie
40.5.4 Medikamentöse Therapie
40.6 Therapie nichtkleinzelliger Karzinome
40.6.1 Übersicht
40.6.2 Chirurgie
40.6.3 Strahlentherapie
40.6.4 Medikamentöse Therapie
40.7 Prognose
40.8 Nachsorge
41: Tumoren des Verdauungstrakts
41.1 Ösophaguskarzinom (Speiseröhrenkrebs)
41.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
41.1.2 Symptome
41.1.3 Diagnostik
41.1.4 Histologie und Metastasierung
41.1.5 Therapie
41.1.5.1 Übersicht
41.1.5.2 Chirurgie
41.1.5.3 Strahlentherapie
41.1.5.4 Medikamentöse Tumortherapie
41.1.6 Prognose
41.1.7 Nachsorge
41.2 Magenkarzinom
41.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
41.2.1.1 Risikofaktoren
41.2.2 Symptome
41.2.3 Diagnostik
41.2.4 Histologie und Metastasierung
41.2.5 Therapie
41.2.5.1 Übersicht
41.2.5.2 Chirurgie
41.2.5.3 Strahlentherapie
41.2.5.4 Medikamentöse Tumortherapie
41.2.6 Prognose
41.2.7 Nachsorge
41.3 Pankreaskarzinom (Krebs der Bauchspeicheldrüse)
41.3.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
41.3.2 Symptome
41.3.3 Diagnostik
41.3.4 Histologie und Metastasierung
41.3.5 Therapie
41.3.5.1 Übersicht
41.3.5.2 Chirurgie
41.3.5.3 Strahlentherapie
41.3.5.4 Chemotherapie
41.3.6 Prognose
41.3.7 Nachsorge
41.4 Kolorektale Karzinome (Krebs von Dickdarm und Mastdarm)
41.4.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
41.4.2 Symptome
41.4.3 Diagnostik
41.4.4 Histologie und Metastasierung
41.4.5 Therapie
41.4.5.1 Übersicht
41.4.5.2 Chirurgie
41.4.5.3 Strahlentherapie
41.4.5.4 Chemotherapie
Palliativ
41.4.6 Prognose
41.4.7 Nachsorge
42: Urologische Tumoren
42.1 Prostatakarzinom
42.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
42.1.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors
42.1.3 Diagnostik
42.1.4 Histologie und Metastasierung
42.1.5 Therapie
42.1.5.1 Übersicht
42.1.5.2 Chirurgie
42.1.5.3 Strahlentherapie
42.1.5.4 Medikamentöse Behandlung
42.1.5.5 Aktives Beobachten
42.1.6 Prognose
42.1.7 Nachsorge
42.2 Harnblasenkarzinom
42.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
42.2.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors
42.2.3 Diagnostik
42.2.4 Histologie und Metastasierung
42.2.5 Therapie
42.2.5.1 Chirurgie
42.2.5.2 Radiotherapie
42.2.5.3 Chemotherapie
42.2.6 Prognose
42.2.7 Nachsorge
42.3 Nierenzellkarzinom (Hypernephrom)
42.3.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
42.3.2 Symptome
42.3.2.1 Symptome des unbehandelten Primärtumors
42.3.2.2 Symptome durch Metastasen
42.3.3 Diagnostik
42.3.4 Histologie und Metastasierung
42.3.5 Therapie
42.3.5.1 Übersicht
42.3.5.2 Chirurgie
42.3.5.3 Radiotherapie
42.3.5.4 Medikamentöse Therapie
42.3.6 Prognose
42.3.7 Nachsorge
43: Lymphatische Tumoren (Lymphome und Myelom)
43.1 Übersicht
43.2 Hodgkin-Lymphom
43.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
43.2.2 Symptome
43.2.3 Diagnostik
43.2.3.1 Bei Verdacht auf Hodgkin-Lymphom
43.2.3.2 Nach gesicherter Diagnose
43.2.4 Histologie
43.2.5 Ausbreitungsmuster, Stadien und Risikogruppen
43.2.6 Therapie
43.2.6.1 Übersicht
43.2.6.2 Frühes Stadium
43.2.6.3 Intermediäres Stadium
43.2.6.4 Fortgeschrittenes Stadium
43.2.6.5 Rezidiv
43.2.6.6 Neuere Medikamente
43.2.7 Prognose
43.2.8 Nachsorge
43.3 Follikuläres Lymphom
43.3.1 Überblick
43.3.2 Epidemiologie und Risikofaktoren
43.3.3 Symptome
43.3.4 Diagnostik
43.3.4.1 Bei Verdacht auf follikuläres Lymphom
43.3.4.2 Bei gesicherter Diagnose
43.3.5 Histologie und klinische Eigenschaften
43.3.6 Therapie
43.3.6.1 Ersttherapie
43.3.6.2 Therapie bei Rezidiv (Rückfall)
43.3.7 Prognose
43.3.8 Nachsorge
43.4 Diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom (DLCBL)
43.4.1 Überblick
43.4.2 Epidemiologie und Risikofaktoren
43.4.3 Symptome
43.4.4 Diagnostik
43.4.4.1 Bei Verdacht auf Lymphom
43.4.4.2 Bei gesicherter Diagnose
43.4.5 Histologie und klinische Eigenschaften
43.4.6 Therapie
43.4.6.1 Überblick
43.4.6.2 Ersttherapie
43.4.6.3 Bei Rezidiv
43.4.7 Prognose
43.4.8 Nachsorge
43.5 Multiples Myelom
43.5.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
43.5.2 Symptome
43.5.3 Diagnostik
43.5.3.1 Bei Verdacht auf Multiples Myelom
43.5.3.2 Bei gesicherter Diagnose
43.5.4 Histologie und klinische Eigenschaften
43.5.5 Therapie
43.5.5.1 Übersicht
43.5.5.2 Ersttherapie
Behandlung mit Hochdosischemotherapie und Stammzellersatz
Behandlung ohne Hochdosischemotherapie und Stammzellersatz
43.5.5.3 Rezidiv
43.5.6 Prognose
43.5.7 Nachsorge
44: Häufige Krebserkrankungen im Kindesalter
44.1 Akute lymphatische Leukämie (ALL)
44.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
44.1.2 Symptome
44.1.3 Diagnostik
44.1.4 Klinische Eigenschaften
44.1.5 Therapie
44.1.5.1 Chemotherapie
44.1.5.2 Strahlentherapie
44.1.5.3 Hämatopoetische Stammzelltransplantation
44.1.6 Prognose
44.1.7 Nachsorge
44.2 Medulloblastom
44.2.1 Epidemiologie
44.2.2 Symptome
44.2.3 Diagnostik
44.2.4 Histologie und Metastasierung
44.2.5 Therapie
44.2.5.1 Chirurgie
44.2.5.2 Strahlentherapie
44.2.5.3 Chemotherapie
44.2.6 Prognose
44.2.7 Nachsorge
Verzeichnis der Medikamente
Stichwortverzeichnis

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Sabrina Heizmann Thomas Kroner  Hrsg.

Ergotherapie in der Onkologie

Ergotherapie in der Onkologie

Sabrina Heizmann  •  Thomas Kroner Hrsg.

Ergotherapie in der Onkologie

Hrsg. Sabrina Heizmann Hofstetten, Deutschland

Thomas Kroner Winterthur, Schweiz

ISBN 978-3-662-64229-0    ISBN 978-3-662-64230-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-­nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Eva-Maria Kania Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Warum dieses Buch? Ergotherapeuten begegnen heute in ihrer Arbeit immer häufiger Klienten mit einer onkologischen Behandlungsindikation – Klienten, die nach einer Krebsbehandlung etwa an chronischer Müdigkeit, Polyneuropathie, Gelenkschmerzen oder anderen Therapiefolgen leiden. Viele Ergotherapeuten fühlen sich im Umgang mit diesen Klienten unbehaglich und unsicher, da Onkologie in der Aus- und Weiterbildung bisher nur spärlich thematisiert wird. Diese Lücke will das vorliegende Buch schließen. Das Buch ist in sieben Teile gegliedert: • Teil I vermittelt Grundlagen der Onkologie: Was ist eigentlich Krebs? Wie entsteht er? Wie manifestiert er sich? • Teil II beschreibt die verschiedenen onkologischen Behandlungen von Chirurgie und Radiotherapie über medikamentöse Tumortherapien bis zu den Methoden der Komplementär- oder Alternativmedizin. Wie wirken sie? Was sind ihre Nebenwirkungen? • Ergotherapeuten arbeiten in einem multiprofessionellen Team. Ihre Klienten profitieren dabei von der Zusammenarbeit von Psychologen, Lymphtherapeuten, Ernährungsberatern, Logopäden, Kunsttherapeuten, Sozialarbeitern u. a. m. Teil III beschreibt Möglichkeiten und Aufgaben dieser anderen Teammitglieder und weist hin auf Schnittstellen mit der Ergotherapie. • Teil IV beschreibt einige prinzipielle Aspekte der Arbeit mit onkologischen Klienten wie Kommunikation mit Klienten und Angehörigen, Psychohygiene des Ergotherapeuten und – in Kap. 26 – wichtige Schritte im Prozess der betätigungsorientierten Ergotherapie. Sie sollten jeder ergotherapeutischen Intervention vorangehen  – entsprechende Behandlungselemente sind im anschließenden Teil V im Detail angeführt. • Teil V stellt den Hauptteil des Buchs dar: In neun Kapitel werden die wichtigsten onkologischen Indikationen und mögliche ergotherapeutische Interventionen ausführlich beschrieben. Dazu gehören unter anderem die chemotherapieinduzierte Polyneuropathie, kognitive Dysfunktionen (das „Chemobrain“), Arthralgien, Probleme mit Narben, Schmerzen und psychosoziale Folgen. • Teil VI beschreibt Möglichkeiten der Ergotherapie in zwei besonderen Settings: der pädiatrischen Onkologie und der Palliative Care. • In Teil VII werden systematisch und knapp 16 häufige Tumoren beschrieben: Symptome, Therapie und Verlauf. V

Vorwort

VI

Das Buch kann somit in unterschiedlichen Settings eingesetzt werden: • Suchen Sie kurzfristig Informationen, die Ihnen helfen, die Behandlung eines Klienten zu planen? –– Ergotherapeutisch relevante Nebenwirkungen der Tumortherapie des Klienten sind am Ende des entsprechenden Kapitels von Teil II aufgeführt. –– Ergotherapeutische Interventionen zur Erlangung der Betätigungsziele werden in den Kapiteln von Teil V beschrieben. –– Angaben zur Tumorkrankheit des Klienten finden Sie im entsprechenden Kapitel von Teil VI. • Suchen Sie vertiefende Informationen zu verschiedenen Aspekten der Onkologie, zur Ergotherapie in der Onkologie oder zur onkologischen Rehabilitation? Sie werden Sie in diesem Buch finden! Unsere Vorschläge und Empfehlungen beruhen nach Möglichkeit auf Evidenz, das heißt auf dem Nachweis ihrer Wirksamkeit nach anerkannten wissenschaftlichen Methoden. Wie in anderen Gebieten der Medizin besteht allerdings auch in der Ergotherapie für viele gebräuchliche Behandlungen keine oder nur eine schwache Evidenz für ihre Wirksamkeit. Zahlreiche Fragen zur optimalen Therapie warten auf Antworten durch methodisch gute ergotherapeutische Forschung. Wir möchten deshalb alle Ergotherapeuten dazu aufrufen, zusammen mit akademischen Ausbildungsstätten klinische Forschungsprojekte zu erarbeiten und daran teilzunehmen. Eine Bemerkung zur Genderfrage: Wir haben uns entschieden, durchgehend das sog. generische Maskulinum zu verwenden. Wir schreiben also durchgehend Ergotherapeuten und Klienten, obwohl es sich dabei oft um Klientinnen und meist um Ergotherapeutinnen handelt. Viele Menschen haben an diesem Buch mitgearbeitet  – wir sind ihnen allen zu Dank verpflichtet. In erster Linie danken wir den Autorinnen und Autoren für ihren großen Einsatz. Sie haben ihr Wissen und ihre Erfahrung in ihre Texte eingebracht und sind (fast immer) mit großer Geduld auf unsere Wünsche eingegangen. Ein ganz besonderer Dank geht an Lina Herrmann: Sie hat das Buch von der ersten Projektidee an mitgestaltet und ist uns immer mit klugem Rat zur Seite gestanden  – vielen Dank, Lina! Melanie Ahlers, Melissa Frierson und Agnes Frohna haben mehrere Kapitel kritisch durchgelesen  – wir verdanken ihnen zahlreiche Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten. Auf Seiten des Springer Verlags haben sich Ulrike Hartmann, Dr. Esther Dür und Ellen Blasig um unser Buch verdient gemacht. Wir danken ihnen für ihre Unterstützung. Nicht zuletzt danken wir unseren Ehepartnern (auch ein generisches Maskulinum) und Kindern für ihr Verständnis: Vielen Dank an Patrik, Hannes, Moritz, Lilith und Iva – wir freuen uns darauf, wieder mehr Zeit mit euch zu verbringen! Hofstetten, Deutschland Winterthur, Schweiz Herbst 2023

Sabrina Heizmann Thomas Kroner

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Grundlagen der Onkologie

1 Historisches  zu Medizin, Onkologie und Ergotherapie����������������   3 Thomas Kroner und Lina Herrmann 2 Maligne  Tumoren – Biologie und Pathologie��������������������������������  13 Dirk Jäger, Thomas Kroner und Sabrina Heizmann 3 Klinische Manifestationen maligner Tumoren������������������������������  35 Thomas Kroner 4 Einteilung  und Klassifikation maligner Tumoren������������������������  39 Katharina Buser 5 Epidemiologie und Risikofaktoren ������������������������������������������������  47 Katharina Buser 6 Prävention  und Früherkennung maligner Tumoren��������������������  59 Thomas Kroner 7 Diagnostische  Verfahren in der Onkologie������������������������������������  69 Andrea Gaisser, Thomas Kroner, Wiebke Caspari, Franziska Opitz und Victoria Grigg Teil II

Onkologische Therapien

8 Prinzipien der Tumorbehandlung��������������������������������������������������  81 Thomas Kroner und Urs Strebel 9 Tumorchirurgie��������������������������������������������������������������������������������  93 Thomas Kroner und Sabrina Heizmann 10 Strahlentherapie������������������������������������������������������������������������������  97 Steffen Barczyk und Sabrina Heizmann 11 Medikamentöse Tumortherapie������������������������������������������������������ 109 Thomas Kroner, Andreas Müller und Sabrina Heizmann 12 Blutstammzelltransplantation�������������������������������������������������������� 131 Thomas Kroner, Urs Schanz und Sabrina Heizmann

VII

VIII

13 Komplementär und Alternativmedizin bei Krebs����������������������� 139 Thomas Kroner Teil III Rehabilitation – eine multiprofessionelle Aufgabe 14 Rehabilitation  in der Onkologie – Einleitung�������������������������������� 159 Thomas Kroner 15 Ernährung und Ernährungstherapie �������������������������������������������� 169 Reinhard Imoberdorf, Peter E. Ballmer und Maya Rühlin 16 Kunsttherapie���������������������������������������������������������������������������������� 181 Sabrina Heizmann, Thomas Kroner, Lina Herrmann und A. Cornelia Weigle 17 Logopädie����������������������������������������������������������������������������������������� 189 Patricia Winkler und Regina Lehmann 18 Lymphtherapie �������������������������������������������������������������������������������� 197 Andrea Grob, Thomas Kroner und Sabrina Heizmann 19 Pflege ������������������������������������������������������������������������������������������������ 217 Sabrina Heizmann 20 Physiotherapie���������������������������������������������������������������������������������� 223 Andrea Grob und Sabrina Heizmann 21 Psychoonkologie ������������������������������������������������������������������������������ 229 Ulrike Heckl 22 Sozialberatung���������������������������������������������������������������������������������� 237 Sabrina Heizmann und Sandra Walter 23 Bewegungs- und Sporttherapie������������������������������������������������������ 241 Jean-Marc Lüthi und Thomas Kroner Teil IV Ergotherapie in der Onkologie – Grundlagen 24 Kommunikation ������������������������������������������������������������������������������ 253 Sabrina Heizmann 25 Psychohygiene für den Therapeuten���������������������������������������������� 259 Sabrina Heizmann 26 Bemerkungen  zum ergotherapeutischen Prozess�������������������������� 263 Sabrina Heizmann Teil V Ergotherapie in der Onkologie – Häufige klinische Situationen 27 Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie���������������������������������� 279 Sabrina Heizmann, Thomas Kroner und Lina Herrmann 28 Störung  von Gleichgewicht und Koordination������������������������������ 299 Sabrina Heizmann und Lina Herrmann

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

IX

29 Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion���������������������������������������� 311 Fanny Görmar 30 Narben���������������������������������������������������������������������������������������������� 331 Sabrina Heizmann und Thomas Kroner 31 Amputation�������������������������������������������������������������������������������������� 347 Sabrina Heizmann 32 Arthralgie und Myalgie ������������������������������������������������������������������ 359 Sabrina Heizmann 33 Fatigue���������������������������������������������������������������������������������������������� 369 Sabrina Heizmann und Thomas Kroner 34 Schmerz�������������������������������������������������������������������������������������������� 379 Thomas Kroner und Sabrina Heizmann 35 Psychosoziale Folgen������������������������������������������������������������������������ 401 Sabrina Heizmann 36 Fallbeispiele�������������������������������������������������������������������������������������� 407 Sabrina Heizmann und Lina Herrmann Teil VI Spezielle Bereiche der Ergotherapie in der Onkologie 37 Ergotherapie  in der pädiatrischen Onkologie ������������������������������ 415 Sabrina Heizmann 38 Ergotherapie  in der Palliative Care������������������������������������������������ 427 Sabrina Heizmann und Thomas Kroner Teil VII Häufige Tumoren – Symptome, Diagnostik, Therapie 39 Mamma- und Ovarialkarzinom������������������������������������������������������ 437 Thomas Kroner 40 Bronchialkarzinome (Lungenkrebs)���������������������������������������������� 443 Miklos Pless 41 Tumoren des Verdauungstrakts������������������������������������������������������ 449 Thomas Kroner 42 Urologische Tumoren ���������������������������������������������������������������������� 457 Thomas Kroner 43 Lymphatische  Tumoren (Lymphome und Myelom) �������������������� 465 Thomas Kroner 44 Häufige  Krebserkrankungen im Kindesalter�������������������������������� 477 Sabine Kroiss Verzeichnis der Medikamente���������������������������������������������������������������� 481 Stichwortverzeichnis�������������������������������������������������������������������������������� 483

Teil I Grundlagen der Onkologie

1

Historisches zu Medizin, Onkologie und Ergotherapie Thomas Kroner und Lina Herrmann

1.1 Einleitung Im Folgenden wird die Geschichte der Onkologie, d.  h. der Lehre von den bösartigen Erkrankungen, skizziert. Die Onkologie ist Teil der Medizin und hat sich innerhalb dieser entwickelt. Es wird deshalb zuerst allgemein auf die Geschichte der Medizin eingegangen. Wie bei jedem historischen Text stehen die Autoren dabei vor einer Fülle von Fakten und Personen, aus denen sie einige wenige auszuwählen haben. Diese Auswahl ist immer subjektiv, und immer haftet ihr auch etwas Zufälliges an. Geschichte kann immer so und auch ganz anders erzählt werden.

1.2 In der Antike wird der Begriff „Krebs“ geprägt Die ältesten uns bekannten Aufzeichnungen einer onkologischen Erkrankung stammen aus dem alten Ägypten um 2625 v. Chr. In auf Papyrus verfassten Schriften beschreibt der Universalgelehrte und Arzt Imothep die 48 Gebrechen und ihre Therapien. Brustkrebs beschreibt er als aus der Brust hervorquellende Massen. Eine Therapie gebe es nicht. T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected] L. Herrmann Oberwolfach, Deutschland

Vom griechischen Arzt Hippokrates (460–377 v. Chr.) wird ein Tumor erstmals als Karzinom respektive Krebs bezeichnet: „Karzinom“ wird vom griechischen Wort Karkinos (Krebs) abgeleitet. Grund für diese Bezeichnung war die Wachstumsform der Erkrankung auf der Haut, die mit den Zangen eines Krebses verglichen wurde. Parallelen wurden auch zwischen dem Einwachsen des Tumors in das Gewebe und den Bewegungen einer Strandkrabbe im Sand gezogen. Als Krebs wird heute im Volksmund jede Form von bösartiger Geschwulsterkrankung bezeichnet. Man spricht also etwa von Blutkrebs, von Knochenkrebs oder von Brustkrebs. Karzinom bedeutet dagegen in der medizinischen Terminologie heute nur eine definierte Gruppe von bösartigen Tumoren, nämlich ausschließlich die aus epithelialem Gewebe (Deck- und Drüsengewebe) entstandenen bösartigen Tumoren, z. B. das Mammakarzinom. Für Hippokrates und seine Schüler standen die Beobachtung und Beschreibung der Patienten und ihrer Krankheiten im Vordergrund. Die Prognose war wichtig: Denn stelle man eine richtige Prognose, „so wird man zu Recht sehr bewundert werden … und man wird, wenn man vorher erkennt und voraussagt, wer sterbe und wer am Leben bleiben wird, von der Verantwortung frei“ (Fischer-Homberger 1975). Allerdings fiel den griechischen Ärzten die Unterscheidung von gutund bösartigen Tumoren schwer. Letztendlich

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_1

3

4

gab erst der Tod des Patienten Gewissheit darüber, ob eine Geschwulst gut- oder bösartig war. Als Behandlungen wurden Spülungen und operative Eingriffe vorgenommen, mit mäßigem Erfolg.

1.3 Die Säftelehre In der Antike galt die Meinung, das Universum bestehe aus vier Elementen: Luft, Wasser, Erde und Feuer. In Analogie dazu nahm man an, Grundlage für das Funktionieren des Körpers seien vier Säfte. Bis weit in die Neuzeit war diese „Säftelehre“ („Humoralpathologie“) theoretische Grundlage für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit: Sind die vier Körpersäfte im Gleichgewicht, ist der Mensch gesund. Ein Ungleichgewicht führt zu Krankheit. Als die vier Körpersäfte galten das Blut, der Schleim (griechisch: Phlegma), die gelbe Galle (Cholos) und die schwarze Galle (Melan-Cholos). Ein Zuviel an schwarzer Galle galt als Ursache für Krebs, Depression (Melan-cholie) und andere Erkrankungen. Die Behandlung zielte auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts der Körpersäfte, dies sollte in erster Linie durch Aderlässe, Abführmittel und Diät erreicht werden.

T. Kroner und L. Herrmann

(1642–1726) die naturwissenschaftlichen Grundlagen für die „wissenschaftliche“ Medizin, wie wir sie heute verstehen. Für Descartes galten dieselben Prinzipien der Mechanik für die unbelebte Welt wie für Pflanzen und Tiere (Abb. 1.1). Der Mensch war für ihn eine Maschine – ein kranker Mensch etwas wie eine defekte Uhr. Zur selben Zeit entdeckte der Engländer William Harvey (1578–1657) den Blutkreislauf. Seine Entdeckung beruhte auf jahrelangen Untersuchungen an Tieren und an menschlichen Leichen. Zur Berechnung des vom Herzen ausgeworfenen Blutvolumens benutzte er bereits einfache statistische Methoden. Damit begründete er die moderne Physiologie. Die Medizin des 18. Jahrhunderts war geprägt von der Medizin der großen französischen  – vor allem der Pariser  – Spitäler. Es war zu Beginn noch eine hippokratische Medizin, basierend auf der Beobachtung der zahlreichen Patienten. Lang-

1.4 Die Anfänge der heutigen Medizin Die moderne Menschheit geht davon aus, dass die Wissenschaft in einem kontinuierlichen Prozess immer neue Erkenntnisse gewinnt und somit immer weiter fortschreitet. Im Mittelalter und in der Renaissance dagegen galt die vergangene antike Welt als Höhepunkt der Zivilisation und damit auch der Medizin. Die antike Wissenschaft wurde deswegen weder angezweifelt noch weiterentwickelt. Weiterhin galt – wie in der Antike  – die Erde als Mittelpunkt des Universums und die Säftelehre als Grundlage der Medizin. Der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596–1650) legte zusammen mit Isaac Newton

Abb. 1.1  René Descartes: Schmerzleitung und Schmerzempfindung als mechanischer Vorgang. Ein Feuer löst lokal Schmerz aus, der über die Nervenbahnen, wie über einen Glockenstrang, in die Zirbeldrüse geleitet wird und dort „die Glocke läuten lässt“, d.  h. die Schmerzempfindung auslöst. (Die Zirbeldrüse, lat. Glandula pinealis, war nach Ansicht der damaligen Medizin Sitz des Bewusstseins und der Seele). Aus: „Traité de l’homme“. Paris, 1664. Wellcome Collection. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

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sam wurde allerdings die Säftelehre ersetzt durch die Zuordnung der Krankheitsursache zu einzelnen Organen. Die Untersuchung des Patienten hatte bisher vorwiegend aus der Inspektion (der Betrachtung) und der Palpation (dem Betasten) bestanden. Sie wurde nun erweitert durch die neu entwickelten Techniken der Auskultation (Abhorchen) mit dem Stethoskop und der Perkussion (Abklopfen). Die am Kranken festgestellten Befunde wurden nach seinem Tod durch routinemäßig durchgeführte Autopsien überprüft. Die französische Spitalmedizin brachte Krankheitslehre und Diagnostik auf eine neue Ebene. Während Diagnosen und Krankheitsbilder früher lediglich das vorherrschende Symptom beschrieben („Fallsucht“, „Bleichsucht“, „Wassersucht“), wurden Krankheiten jetzt zunehmend dem betroffenen Organ zugeordnet. So beschrieb Laënnec, der Erfinder des Stethoskops (1816), als erster die Leberzirrhose als eine Ursache der „Gelbsucht“. Im 19. Jahrhundert wurde die Medizin vorwiegend an deutschen und österreichischen Universitäten weiterentwickelt. Wilhelm von Humboldt definierte mit seiner Universitätsreform neben der Lehre neu die Forschung als gleichwertige Aufgabe der Universität. Damit etablierte sich an den medizinischen Fakultäten die wissenschaftliche Forschung in einem modernen Sinn. Die Forschung verlagerte sich vom Krankenbett zunehmend ins Labor: Neben dem Stethoskop, das den klinisch tätigen Arzt charakterisierte, gehörte nun auch das Mikroskop zum Werkzeug und Symbol des medizinischen Forschers. Robert Remak und Rudolf Virchow beschrieben zwischen 1840 und 1850 die Zellteilung, die sie unter dem Mikroskop erforscht hatten, und begründeten damit die moderne Zelltheorie. In seinem Labor entdeckte Robert Koch 1882 ein Bakterium als Ursache der Tuberkulose (Abb. 1.2). Edward Jenner hatte 1796 erstmals einen Menschen gegen Pocken geimpft, Louis Pasteur 1885 die Impfung gegen Tollwut eingeführt. Emil Behring gelang nun 1890 im Serum von Patienten, die eine Diphtherieinfektion überlebt hatten, der Nachweis von „Antitoxinen“ gegen das Diphtheriegift. In der Folge setzte er solche „Antiseren“ zur Behandlung von Diphtherie ein.

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Abb. 1.2  Robert Koch in seinem Laboratorium. Aus: The evolution of modern medicine: a series of lectures delivered at Yale University, in April, 1913 by Sir William Osler. Wellcome Collection. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

Paul Ehrlich erforschte die Grundlagen der von Behring entwickelten Antiseren und begründete damit die Theorie der humoralen Immunologie. Er prägte 1891 den Begriff „Antikörper“. Er entwickelte 1909 Salvarsan, das erste chemische Heilmittel gegen eine Infektionskrankheit, die Syphilis. Diese Behandlung bezeichnete er als „Chemotherapie“  – heute wird darunter in der Regel die medikamentöse Behandlung von Tumorkrankheiten verstanden. Auch die Naturwissenschaften erlebten einen großen Aufschwung: Der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte 1895  in Würzburg die nach ihm benannten Strahlen. Sie erwiesen sich für die medizinische Diagnostik und Therapie von unschätzbarem Wert. 1831 stellte der Chemiker Justus Liebig in Gießen erstmals Chloroform her, das dann 1847 durch den schottischen Arzt James Young

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Abb. 1.3  Die Wirkung von Chloroform auf Sir J. Y. Simpson und seine Freunde. Das Glas liegt zerbrochen am Boden. Um 1840. Wellcome Collection, London. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

­impson neben dem bereits gebräuchlichen S Äther als Narkosemittel eingeführt wurde (Abb. 1.3).

1.5 Das 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert entwickelten sich die Naturwissenschaften und die auf ihr begründete Medizin wie nie zuvor. Viele deutsche Forscher waren unter dem auch für die Wissenschaften verheerenden Einfluss des Nationalsozialismus ab 1933 nach England und den Vereinigten Staaten emigriert. Dort nahmen die Wissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg einen ungeahnten Aufschwung. So wurde  – um nur wenige Beispiele zu nennen  – Penicillin nach seiner Entdeckung 1929 als erstes Antibiotikum ab 1942 industriell hergestellt. Die Aufklärung der Struktur der Erbsubstanz DNA legte 1953 den Grundstein für das neue Fachgebiet Molekulargenetik. Die moleku-

lare Struktur der für die humorale Immunität verantwortlichen Antikörper und ihre Herkunft aus spezialisierten Lymphozyten wurden zwischen 1959 und 1961 geklärt. Etwa gleichzeitig legte die Beschreibung von B- und T-Lymphozyten die theoretischen Grundlagen für das Verständnis der zellulären Immunität. Das Gebiet der Immunologie erlebte dadurch einen großen Aufschwung – dieser führte schließlich zur Entwicklung der „Immuncheckpointhemmer“, d.  h. von Medikamenten, die die körpereigene Immunabwehr von bösartigen Tumoren stimulieren.

1.6 Die Entwicklung der modernen Krebsmedizin Neben den oben beschriebenen Entwicklungen der Naturwissenschaften spielten weitere Faktoren eine Rolle in der Entwicklung der Krebsforschung und der Krebsmedizin.

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1.6.1 Spezialisierung und Subspezialisierung 1900 wird in Berlin das „Comité für Krebssammelforschung“ gegründet, die Vorläuferin der Deutschen Krebsgesellschaft. Es ist der Anfang der organisierten Krebsforschung in Deutschland. Krebs wird bereits als „Entartung“ normaler Körperzellen aufgefasst. Als mögliche Ursache werden v.  a. Parasiten diskutiert. 1903 erscheint die erste Zeitschrift für Krebsforschung, weltweit das älteste Fachorgan für Onkologie. Sie erscheint heute unter dem Namen Journal of Cancer Research and Clinical Oncology im Springer Verlag, dem Herausgeber dieses Buchs. Am Anfang der Spezialisierung der klinischen Medizin steht die Entwicklung der Radiotherapie seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie widmete sich als erstes Fachgebiet ausschließlich der Behandlung und der Erforschung von Tumorkrankheiten. Mit der Entwicklung der medikamentösen Tumortherapie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die medizinische Onkologie zu einem Spezialgebiet innerhalb der Inneren Medizin. Und innerhalb der Chirurgie spezialisierte sich die onkologische Chirurgie auf die Entwicklung neuer Methoden zur operativen Behandlung von bösartigen Tumoren. Für die Behandlung der Patienten liegt der größte Gewinn dieser Spezialisierung nicht in den Erfolgen der einzelnen Disziplinen, sondern in ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit. So werden heute an allen Krebszentren Patienten mit einer neu diagnostizierten Tumorkrankheit an einem Tumorboard (auch Tumorkonferenz genannt) interdisziplinär diskutiert. An diesen Tumorboards wird von Radiotherapeuten, medizinischen Onkologen und onkologischen Chirurgen gemeinsam die für den jeweiligen Patienten geeignete Behandlung festgelegt.

1.6.2 Klinische Forschung Neben der biologischen Forschung im Labor machte auch die klinische Forschung, d.  h. die Erforschung von Krankheitsverläufen, in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte. Wichtig

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war dabei vor allem die Entwicklung von randomisierten kontrollierten klinischen Studien (RCT, englisch: randomized controlled trial). Bei diesen Studien werden meist zwei Behandlungen miteinander verglichen. Die Zuordnung der Patienten zu einer Behandlung erfolgt dabei nach dem Zufallsprinzip (engl. random). Die erste randomisierte klinische Studie wurde 1947 in Großbritannien bei Patienten mit Tuberkulose durchgeführt. Sie erlaubte den Nachweis der Wirksamkeit von Streptomycin, des ersten bei dieser Krankheit wirksamen Medikaments. cc RCTs gelten heute als „Goldstandard“ für den Nachweis der Wirksamkeit neuer Therapien. Sie bilden die Grundlage der evidenzbasierten Medizin Daneben bleiben aber weiterhin die Beobachtung einzelner Krankheitsverläufe und ihre Dokumentation wichtig, so beispielsweise für das frühe Erkennen von unerwünschten Wirkungen neuentwickelter Therapien (Healy und Mangin 2019).

1.6.3 Chirurgie Chirurgische Eingriffe zur Behandlung bösartiger Tumoren wurden vereinzelt bereits in der Antike, dann auch im 16.–18. Jahrhundert beschrieben. Ohne Anästhesie (abgesehen von der Sedierung durch Alkohol und Opium) waren diese Operationen schmerzhaft und wegen der großen Gefahr von Wundinfektionen gefährlich. Sie wurden deshalb nur selten durchgeführt. Erst die Einführung der Äthernarkose (1842) und die Entwicklung von antiseptischen und aseptischen Operationsmethoden (1865/1886) erlaubten größere Eingriffe (Abb. 1.4). Am Beispiel der operativen Behandlung des Mammakarzinoms lässt sich die Entwicklung der onkologischen Chirurgie aufzeigen (Bröer und Eckart 1996). Es wird versucht, durch weniger radikale Eingriffe postoperative Komplikationen und unerwünschte Spätfolgen zu vermeiden, ohne dabei das Rückfallrisiko zu erhöhen: Der amerikanische Chirurg William

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Abb. 1.4  Operation unter aseptischen Bedingungen. Auf dem Schemel links steht der Apparat, der das desinfizierende Karbol versprüht. Das Operationsgebiet, die Hände des Operateurs und des assistierenden Chirurgen sind im Bereich des Sprays, ebenso die Hände des instru-

mentierenden Assistenten, wenn er dem Operateur ein Instrument reicht. Alle Tücher sind mit Karbol getränkt. Aus: Antiseptic surgery: its principles, practice, history and results/by W. Watson Cheyne (1882). Wellcome Collection. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

Halsted (1852–1922) publizierte 1894 seine Erfahrungen mit fünfzig Operationen nach seiner „complete method“ (Abb. 1.5). Neben der Brust entfernte er „en bloc“, d. h. in einem Stück, auch den kleinen und großen Brustmuskel (M. pectoralis minor und major) sowie in der Axilla und der ­Supraklavikularregion die Lymphknoten und das Fettgewebe. Der große Hautdefekt wurde mit Transplantat gedeckt. Diese sehr eingreifende Operation wurde als „radikale Mastektomie“ oder „Halsted-Operation“ bekannt und blieb bis etwa 1970 die operative Standardbehandlung des Mammakarzinoms. Sie verbesserte die Überlebensrate deutlich und reduzierte das Risiko von Lokalrezidiven, führte aber zu Funktionseinschränkungen und oft auch zu Lymphödemen des Armes. Auch kosmetisch war der Eingriff belastend.

Eine Serie von randomisierten klinischen Studien zeigte ab 1960, dass für kleinere Mammakarzinome mit einem weniger radikalen Eingriff gleich gute Resultate wie mit der Halsted-­ Operation erreicht werden können – mit deutlich geringeren funktionellen und kosmetischen Einbußen. Heute ist die Standardoperation für kleinere Mammakarzinome die brusterhaltende lokale Exzision, gefolgt von lokaler Radiotherapie. Von Halsted wurde die Axilla noch in allen Fällen sorgfältig „ausgeräumt“, d. h., alle Lymphknoten und das Fettgewebe wurden exzidiert – mit entsprechenden postoperativen Folgen. Heute werden in der Axilla nur die Lymphknoten entfernt, und auch dies nur bei gesichertem Befall. Auch dies führte zu einer deutlichen Verminderung der postoperativen Morbidität.

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Abb. 1.5 Mastektomie nach Halsted. Die zeitgenössische Darstellung zeigt das große, „en bloc“ resezierte Operationspräparat. Aus: W.S. Halsted: Surgical papers (1897). Wellcome Collection. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

1.6.4 Radiotherapie Die 1895 von W.C. Röntgen entdeckten und nach ihm benannten Strahlen wurden zu Beginn nur für die Bildgebung („Röntgenbild“) eingesetzt. Schon bald wurde jedoch auch ihre Wirkung auf bösartige Tumoren entdeckt, und 1907 wurden erste Erfolge einer Strahlenbehandlung bei Brustkrebs publiziert. Mit den ersten, relativ leistungsschwachen Bestrahlungsgeräten konnten tieferliegende Tumoren nur bestrahlt werden, wenn relativ hohe Strahlendosen eingesetzt wurden. Dies führte zu erheblichen Strahlenschäden an der Haut („Verbrennungen“) und an anderen Organen. Seit etwa 1950 kommen moderne Bestrahlungsgeräte (Linearbeschleuniger) zum Einsatz. Mit diesen können hohe Dosen gezielt auch an tiefliegenden inneren Organen appliziert werden, ohne dass darüberliegende Gewebe übermäßig belastet werden. Neuere bildgebende Verfahren (Computertomografie seit 1971, MRI ab etwa 1985) ermöglichen heute eine genaue dreidimensionale anatomische Definition des zu bestrahlenden VolumensunddamiteinepräzisereBestrahlungsplanung. In Kombination mit den modernen Geräten führt dies zu besseren Behandlungsresultaten mit weniger Nebenwirkungen.

1.6.5 Medikamentöse Tumortherapien Chirurgische und radiotherapeutische Methoden („Stahl und Strahl“) sind gegen bösartige Tumoren wirksam, allerdings lediglich lokal, d. h. dort, wo der Chirurg schneidet bzw. der Radiotherapeut bestrahlt. Im Gegensatz dazu stehen die sog. Systemtherapien, die im ganzen Körper ihre Wirksamkeit entfalten. Die älteste derartige Behandlungsmethode ist die sog. „Hormontherapie“ oder „Endokrine Therapie“. Endokrine Therapien 1889 hielt der Freiburger Chirurg Schinzinger auf einem Kongress einen Vortrag über „Carcinoma mammae“. Darin sprach er von seiner Erfahrung, dass „die Prognose umso schlimmer sich gestaltet, je jünger die von Brustkrebs befallenen Individuen sind.“ Er stellte deshalb die Frage, „ob es nicht gestattet sei, die Damen rascher alt zu machen dadurch, dass man mit der Entfernung der Ovarien die Brustdrüse rascher in Atrophie überführt und dem Krebsknoten die Möglichkeit gibt, sich in dem schrumpfenden Drüsengewebe abzukapseln.“ Schinzinger selbst hat allerdings seinen Vorschlag nie ausgeführt. Der schottische Chirurg G.T. Beatson entfernte,

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allerdings aufgrund einer anderen Überlegung, 1895 bei einer 33-jährigen Patientin beide Eierstöcke und beobachtete in der Folge eine eindrückliche Rückbildung des lokal weit fortgeschrittenen Mammakarzinoms. 1905 wurde in London bereits über 99 Patientinnen unter 50 Jahren mit fortgeschrittenem Brustkrebs berichtet. Etwa 30 % dieser Frauen hatten auf den Eingriff der Ovarektomie vorübergehend deutlich angesprochen. Die Erwartungen auf eine Heilung hatten sich allerdings nicht erfüllt. Der Eingriff geriet deshalb vorübergehend in Vergessenheit. Ab 1940 wurde er allerdings wieder als Standardverfahren zur Behandlung des metastasierten Mammakarzinoms eingesetzt (Maass 1996). 1971 wurde in England das Medikament Tamoxifen (Nolvadex) entwickelt, ein sog. Antiöstrogen. Es blockiert die Wirkung von Östrogen. So konnte der chirurgische Eingriff durch eine einfache, nebenwirkungsarme medikamentöse Therapie ersetzt werden. Der Grundstein für die noch heute wichtige endokrine Therapie des Mammakarzinoms war gelegt. Chemotherapie und andere medikamentöse Tumortherapien Während des Ersten Weltkrieges fanden Militärärzte bei Soldaten, die den Einsatz von Senfgas (einem chemischen Kampfstoff) überlebt hatten, einen vorübergehenden, oft dramatischen Abfall der Blutleukozyten. Diese Beobachtungen führten zur Erforschung von senfgasähnlichen Substanzen für die Behandlung von Leukämien und damit zur Entwicklung des ersten Zytostatikums: 1941 wurden die ersten Leukämiepatienten mit dem Senfgasabkömmling Mustargen, einem noch heute gelegentlich eingesetzten Zytostatikum, behandelt. In der Folge wurden zahlreiche chemisch ähnliche Wirkstoffe entwickelt. In den 1950er-Jahren forschten amerikanische Mediziner nach neuen Mitteln zur Behandlung des Diabetes. Dabei untersuchten sie Wirkstoffe eines Immergrüns (Vinca rosacea), dem in der Volksmedizin eine heilende Wirkung bei Zuckerkranken zugesprochen wurde. Einige Extrakte des Immergrüns zeigten im Tierexperiment eine

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starke Knochenmarkhemmung als Hinweis auf die zytostatischen Eigenschaften der Vinca-­ Substanzen. Aus diesen Forschungen gingen schließlich die Zytostatika Vinblastin (z. B. Velbe) und Vincristin (z. B. Oncovin) hervor, die noch heute in Gebrauch sind. Das erste Beispiel eines nicht zufällig entdeckten, sondern quasi konstruierten Zytostatikums ist Methotrexat: Da bekannt war, dass Folsäure für die Vermehrung von Tumorzellen nötig ist, suchten Forscher gezielt nach einem Hemmstoff dieses Vitamins. Durch geringe Veränderungen am Molekül gelang es, einen Folsäureantagonisten zu entwickeln, das Methotrexat. Dieses erwies sich bei kindlichen Leukämien und später auch bei anderen Tumoren als hochwirksames Zytostatikum. Diese Beispiele aus der Geschichte der Chemotherapie zeigen zwei Wege der Medikamentenforschung: Einerseits wurden natürliche Substanzen wie Extrakte aus einheimischen und tropischen Pflanzen, Produkte von Bodenpilzen und Meereslebewesen etc. geprüft, in der Hoffnung, mehr oder weniger zufällig eine zytostatisch wirksame Substanz zu finden. So werden die Zytostatika Topotecan (z. B. Hycamtin) und Irinotecan (z. B. Campto) aus Blättern eines in China heimischen Baumes (Camptotheca acuminata) gewonnen. Andererseits wird heute schwerpunktmäßig versucht, synthetische Substanzen zu konstruieren, die gezielt auf spezifische Eigenschaften der Tumorzelle einwirken. So eröffnen molekularbiologische Erkenntnisse etwa die Möglichkeit, Signalwege durch neue Medikamente zu blockieren oder die Immunantwort gegen Tumorzellen zu stimulieren. Beispiele für solche modernen Arzneimittelentwicklungen sind: • monoklonale Antikörper, z. B. Herceptin, das den Rezeptor für ein Wachstumshormon blockiert (Abschn. 11.3.2), • Hemmstoffe der Signalübermittlung, z.  B. Glivec (Abschn. 11.3.1), • die neuen immunologisch wirkenden Medikamente („Checkpointhemmer“, Abschn. 11.4), z. B. Keytruda.

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1.6.6 Interprofessionelle Zusammenarbeit Spezialisierung auf onkologische Fragestellungen fand in den letzten Jahrzehnten nicht nur in ärztlichen Disziplinen statt. Auch in anderen Gesundheitsberufen besteht zunehmend die Tendenz, sich auf die Behandlung bestimmter Krankheiten zu spezialisieren. In vielen Fachgebieten bedeutet dies auch oder hauptsächlich eine Spezialisierung in Richtung Onkologie. Die interprofessionelle Zusammenarbeit all cc  dieser Berufsgruppen ist eine unerlässliche Voraussetzung für die optimale Behandlung von Krebskranken! • In der Krankenpflege hat sich die onkologische Pflege als eigenes Fachgebiet etabliert. In den USA wurde bereits 1975 eine entsprechende Fachgesellschaft gegründet, die Oncology Nursing Society (ONS). Sie zählt heute über 35.000 Mitglieder! In Deutschland sind die onkologisch tätigen Pflegenden in der KOK organisiert (Konferenz Onkologischer Kranken- und Kinderkrankenpflege), in der Schweiz in der OPS (Onkologiepflege Schweiz), in Österreich in der AHOP (Arbeitsgemeinschaft hämatologischer und onkologischer Pflegepersonen). Auf europäischer Ebene besteht die EONS (European Oncology Nursing Society) als Dachverband. Die Fachverbände kümmern sich für die Weiter- und Fortbildung ihrer Mitglieder und versuchen, die Pflegequalität in ihrem Fachgebiet weiterzuentwickeln. Auch innerhalb der Onkologiepflege findet bereits eine Subspezialisierung statt: Spezialisierte „Breast Cancer Nurses“ widmen sich ausschließlich der Pflege von Frauen mit Brustkrebs. • In der klinischen Psychologie hat sich die Psychoonkologie zu einem wichtigen Teilgebiet entwickelt. Psychoonkologinnen unterstützen Krebspatienten und ihre Angehörigen bei der Bewältigung der veränderten Lebenssituation. Neben ihren eigenen Weiter-

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bildungen organisieren sie auch Weiterbildungen für Angehörige anderer Gesundheitsberufe. So werden etwa für onkologisch tätige Ärzte und Pflegende Kurse angeboten, in denen auf Fragen der Kommunikation mit Krebskranken speziell eingegangen wird. • Auch die Ergotherapie widmet sich zunehmend der Behandlung onkologischer Patienten. Dieser Entwicklung ist der folgende Abschnitt gewidmet.

1.7 Ergotherapie und Onkologie Bis vor Kurzem waren onkologische Patienten im Alltag der Ergotherapeuten selten. Entsprechend hatte die Onkologie nur wenig Gewicht in ihrer Ausbildung. In anderen Fachbereichen wie z.  B. der Neurologie oder der Pädiatrie war die Ergotherapie deutlich stärker beteiligt; die Ausbildung konzentrierte sich deshalb in erster Linie auf diese Gebiete. Durch die Veränderung vom Arbeits- und Beschäftigungstherapeuten hin zum Ergotherapeuten, der den Schwerpunkt auf die Selbstständigkeit des Patienten und seine Lebensqualität legt, erhielt die Onkologie vermehrte Aufmerksamkeit vonseiten der Ergotherapeuten. Auch aus einem anderen Grund wird die Onkologie zunehmend zu einem interessanten Fachbereich für die Ergotherapie: Immer häufiger werden Patienten von ihrer Krebskrankheit geheilt oder leben über Jahre mit ihrer Erkrankung. Dann gilt es für diese Patienten, wieder aktiv am Leben teilzunehmen und dieses nach Möglichkeit selbstständig zu organisieren. Hier kann der Ergotherapeut die für den Patienten im Alltag relevanten Tätigkeiten analysieren und wertvolle Unterstützung zum Wiedererlangen der Selbstständigkeit und zur Verbesserung der Lebensqualität anbieten. Begonnen hat die onkologische Arbeit der Ergotherapeuten mit der Behandlung von Nachwirkungen von Tumorbehandlungen. So wurden früher z.  B. mit Brustkrebspatientinnen Makramee-Ampeln geflochten, was durch die Armhebung den Lymphabfluss förderte. Viele handwerkliche Techniken und auch kreativ-­ kunsttherapeutische Ansätze wurden und werden

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besonders im psychisch-funktionellen Bereich gerne eingesetzt. Durch den alltagsorientierten Fokus in der Ergotherapie haben sich die Einsatzmöglichkeiten beim onkologischen Klienten erweitert. Neben dem Erarbeiten von Problemlösestrategien zur Verbesserung der Alltagsbewältigung während und nach den onkologischen Behandlungsmaßnahmen werden auch ergotherapeutische Maßnahmen z. B. aus dem neurophysiologischen und neuropsychologischen Bereich eingesetzt. So berichten Klienten zunehmend nach einer Chemotherapie von kognitiven Einschränkungen, dem sog. „Chemobrain“. Auch die durch Chemotherapie verursachte Polyneuropathie ist eine Indikation zur ergotherapeutischen Behandlung. Sensibilitätsschulung und Feinmotoriktraining gehören deshalb in vielen Rehabilitationskliniken seit Jahren zum Therapieangebot. Ebenso gewinnt die Ergotherapie immer mehr Bedeutung in der interdisziplinären Behandlung von Fatigue sowie in der Palliative Care. Im Gegensatz zu den Rehabilitationskliniken scheinen in der Praxis onkologische Klienten noch eher eine Ausnahme. Dabei kann ein Ergo-

therapeut gerade im häuslichen Umfeld dem Klienten helfen, sich nach der Therapie wieder seinem Alltag zuzuwenden und in das Berufsund Alltagsleben zurückzukehren. Er leistet dadurch einen wichtigen Beitrag zur Genesung.

Literatur Zitierte Literatur Bröer R, Eckart WU (1996) Die Behandlung des Brustkrebses – Aspekte der Therapiegeschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. In: Kaufmann M et  al (Hrsg) Ein Jahrhundert endokrine Therapie des Mammakarzinoms. Springer, Berlin Fischer-Homberger E (1975) Geschichte der Medizin. Springer, Berlin/Heidelberg/New York Halsted WS (1897) The results of operations for the cure of cancer of the breast performed at the Johns Hopkins Hospital from June, 1889 to January, 1894. Ann Surg 20:497–555 Healy D, Mangin D (2019) Clinical judgements, not algorithms, are key to patient safety. Br Med J 367:l5777 Maass H (1996) Entwicklung der endokrinen Therapie des Mammakarzinoms in den vergangenen 100 Jahren. In: Kaufmann M et  al (Hrsg) Ein Jahrhundert endokrine Therapie des Mammakarzinoms. Springer, Berlin

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Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie Dirk Jäger, Thomas Kroner und Sabrina Heizmann

2.1 Einleitung und wichtigste Definitionen

einem Gewebe gestört ist. Neoplasien können gut- oder bösartig sein (s. unten).

2.1.1 Definitionen

Dignität  Die Gut- oder Bösartigkeit wird als „Dignität“ bezeichnet. Der Begriff beschreibt das biologische Verhalten eines Tumors. Es gibt gutartige (benigne) und bösartige (maligne) Tumoren.

Tumor  Unter einem Tumor versteht man zunächst jede Schwellung eines Gewebes, ohne die Ursache hierfür zu beschreiben. Auch Schwellungen im Rahmen von entzündlichen Gewebeveränderungen (z.  B. bei einem Abszess) oder eines Blutergusses werden als Tumoren bezeichnet. Neoplasie  Im engeren Sinne wird unter „Tumor“ eine echte Gewebeneubildung, fachsprachlich Neoplasie, verstanden. Einer Neoplasie liegt also immer ein vermehrtes Zellwachstum zugrunde. Das bedeutet, dass die Wachstumskontrolle in Adaptation des Kapitels „Entstehung und Biologie bösartiger Tumoren“ von D. Jäger in „Onkologische Krankenpflege“, 6. Auflage, Springer 2017, mit freundl. Genehmigung des Autors.

• Gutartige (benigne) Tumoren sind lokal begrenzt. Sie können durch stetes Größenwachstum benachbarte Strukturen verdrängen und dadurch schädigen. Sie dringen aber nicht in umgebende Gewebe ein und haben nicht die Fähigkeit, Metastasen zu bilden. Gutartige Tumoren können u.  U. maligne entarten und in Krebs übergehen. So kann beispielsweise ein gutartiger Polyp des Dickdarms (Adenom) in ein Kolonkarzinom übergehen (Abschn. 2.3.5). • Prämaligne Tumoren (Präkanzerosen) zeigen unter dem Mikroskop atypische ­Veränderungen. Es besteht ein höheres Risiko des Übergangs in Malignität als für normales

D. Jäger Nationales Centrum für Tumorerkrankungen, Heidelberg, Deutschland e-mail: [email protected] T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected] S. Heizmann Hofstetten, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_2

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Gewebe. Dickdarmpolypen können prämaligne Veränderungen aufweisen (Abschn. 2.3.5). • Semimaligne Tumoren (lat. semi = halb) sind insofern bösartig, als sie umliegendes Gewebe zerstören und in dieses hineinwachsen (Infiltration). Sie setzen aber keine Metastasen. • Bösartige (maligne) Tumoren zeichnen sich durch die im Folgenden aufgeführten Merkmale aus.

2.1.2 Kriterien für Malignität Unkontrollierte Zellproliferation (lat. proles = Nachwuchs, ferre = tragen). Maligne Zellen vermehren sich unkontrolliert. In normalem Gewebe wird die Zellteilung und damit das Gewebewachstum streng kontrolliert. In bösartigen Tumoren ist diese Wachstumsregulation gestört oder aufgehoben. Invasives und infiltratives Wachstum Diese Eigenschaft beschreibt das Eindringen von Tumorzellverbänden in andere Organstrukturen, ohne anatomische Grenzen zu beachten. Maligne Tumoren dringen häufig in benachbarte Gewebe ein (Invasion) und zerstören deren Struktur (Destruktion). Häufig ist eine Tumorzellinfiltration von Blut- und Lymphgefäßen mit dem Risiko der Metastasierung zu beobachten. Fähigkeit, Tochtergeschwülste (Metastasen) in anderen Organen zu bilden Der Begriff Metastasierung beschreibt den Prozess der Tumorzellabsiedlung in entfernten Organen (Organmetastasen, Fernmetastasen) oder in Lymphknoten (Lymphknotenmetastasen). Grundsätzlich kann dies über ein Ausschwemmen von Tumorzellverbänden über den Blutweg (hämatogene Metastasierung) oder über den Lymphweg (lymphogene Metastasierung) erfolgen. Diese Absiedlungen können dann zu manifesten Metastasen heranwachsen, sofern die Tumorzellverbände Anschluss an die örtliche Blutversorgung finden. Die Fähigkeit der Metastasierung ist spezifisch für maligne Tumoren.

Gestörte Zelldifferenzierung Normale Zellen können sich nicht nur teilen, sondern auch nach Bedarf differenzieren. Die Differenzierung beschreibt den Ausreifungs- und Spezialisierungsprozess einer Zelle. Beispiel

Eine Stammzelle des Knochenmarks hat das Potenzial, sich zu verschiedenen, unterschiedlich spezialisierten Zellen zu entwickeln: Sie kann entweder zu einem Erythrozyten oder beispielsweise zu einem Lymphozyten ausreifen bzw. differenzieren. Bei der Differenzierung zum Erythrozyten bildet sie Hämoglobin und gewinnt dadurch die Fähigkeit, Sauerstoff zu transportieren. Sie verliert dabei aber das Potenzial, sich in einen Lymphozyten zu differenzieren und Antikörper zu bilden. ◄ Tumorzellen zeigen häufig die umgekehrte Entwicklung der Dedifferenzierung oder Entdifferenzierung, die dazu führt, dass die ursprünglich zugedachte Zellfunktion nicht mehr wahrgenommen werden kann. Beispiel

Die normalen Zellen der Bronchialschleimhaut sind spezialisiert auf den Abtransport von kleinsten Fremdkörpern aus den Bronchien. Sie tragen dazu zahlreiche Flimmerhärchen. Die Zellen eines Bronchialkarzinoms sind entdifferenzierte Zellen der Bronchialschleimhaut. Als Zeichen der Entdifferenzierung fehlen ihnen die Flimmerhärchen. ◄

2.2 Grundlagen der Zellbiologie 2.2.1 Zellteilung und Apoptose Zellzyklus Viele Zellen des menschlichen Körpers haben die Fähigkeit, sich zu teilen und so zur Erneuerung des entsprechenden Zelltyps oder Gewebes beizutragen. Der Ablauf der Zellteilung folgt einem strikt regulierten Programm, dem sog. Zellzyklus (s. folgende Übersicht und Abb. 2.1).

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

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Abb. 2.1  Zellzyklus: Phasen und Kontrollpunkte. (Zu G0, G1, G2 siehe Text; M Mitose, S Synthesephase)

Zellzyklus

• Ruhephase  – G0-Phase (G  für engl. „gap“: Lücke, Pause). In dieser Phase üben die Zellen die für sie typischen Funktionen aus: Eine Pankreasinselzelle produziert Insulin, eine Nervenzelle leitet Signale etc. Die meisten Zellen des erwachsenen Körpers befinden sich in dieser Ruhephase. Ihre Dauer variiert von Zellart zu Zellart. Zellen, die sich selten teilen, z. B. Leberzellen, können über Jahre in der Ruhephase verbleiben. Zellen mit häufiger Zellteilung, z. B. Zellen des Darmepithels, befinden sich dagegen nur etwa 12 h in dieser G0-­ Phase. • Durch bestimmte Wachstumssignale, die die Zelle von außen erreichen (s. unten), kann die Zelle zur Teilung angeregt werden. Sie tritt in die G1-Phase ein. Während dieser Phase wird die Zelle etwas größer und speichert Energie für die bevorstehende Teilung.

• In der folgenden kurzen S-Phase (S für Synthese) wird im Zellkern die Erbsubstanz der Zelle, die DNS (Desoxyribonukleinsäure; bzw. DNA für engl. „acid“: Säure) verdoppelt. • Es folgt ein zweiter Gap, die G2-Phase, während der die Zelle erneut Energie speichert. • In der folgenden M-Phase (Mitose) erfolgt die eigentliche Zellteilung mit der Trennung und Aufteilung der verdoppelten Chromosomen, der anschließenden Trennung des Zytoplasmas und der Bildung von zwei Tochterzellen.

Steuerung und Kontrolle des Zellzyklus Der Zellzyklus wird durch ein kompliziertes Zusammenspiel von inneren und äußeren (intra- und extrazellulären) Signalen gesteuert. Einige der äußeren Signalwege werden in Abschn.  2.2.2 näher beschrieben. Für die Entwicklung bösartiger Tumoren sind intrazelluläre Signale besonders wichtig,

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dabei spielen zyklusbeschleunigende wie -bremsende Stoffe eine Rolle. Es liegt auf der Hand, dass eine Überproduktion von zellzyklusstimulierenden Signalen zur Entstehung oder Weiterentwicklung bösartiger Tumoren beitragen kann. Das Gleiche gilt für das Fehlen von hemmenden Faktoren (dazu im Detail Abschn. 2.3.3). Apoptose (programmierter Zelltod) Auch der Tod der Zelle wird normalerweise von einem genetisch festgelegten Programm ­kontrolliert und gesteuert. Dieser programmierte Zelltod wird Apoptose genannt, nach dem griechischen Wort für das Abfallen (griech.: ptosis) der Blütenblätter beim Verwelken – einem Beispiel aus der Pflanzenwelt für den programmierten Zelltod. cc Wie die Zellteilung ist auch der Zelltod ein normaler biologischer Vorgang. Beide Vorgänge werden durch Signale von innerhalb und außerhalb der Zelle gesteuert und unterliegen einer genauen Kontrolle. Defekte dieser Kontrollmechanismen spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung bösartiger Tumoren. Die Apoptose ist zu unterscheiden von der Nekrose – einer Art von traumatisch bedingtem Zelltod und Zelluntergang als Folge einer akuten Zellschädigung von außen, etwa durch einen Infarkt. Im Gegensatz zur Nekrose wird bei der Apoptose aktiv ein Programm in Gang gesetzt, das zum Tod der betreffenden Zelle führt. Mikroskopisch lässt sich unterschieden, ob eine Zelle durch Apoptose oder durch Nekrose untergegangen ist. Wenn in dem sehr störanfälligen Zellzyklus irreparable Fehler auftreten, wird  – wie oben beschrieben – das Apoptoseprogramm gestartet. Dieses „Selbstmordprogramm“ schützt den Organismus davor, dass fehlerhafte Zellen am Leben bleiben und ihre fehlerhafte DNA an Tochterzellen weitergeben. Die Apoptose führt auch zur physiologischen Abschilferung und damit zur Erneuerung von Haut und Schleimhäuten. Daneben können viele schädigende Einflüsse zur Apoptose führen, z. B. chronischer Sauerstoffmangel oder Viren. cc Auch Zytostatika lösen den Zelltod über die Apoptose aus.

Auch bei verschiedenen Krankheitsbildern ist das Apoptoseprogramm beteiligt: Chronischer Sauerstoff- oder Nährstoffmangel führt über eine Steigerung der Apoptose zur Hypotrophie von Organen, bei Morbus Alzheimer führen apoptotische Prozesse zum Untergang von Hirnzellen. Umgekehrt haben Tumorzellen häufig ein verändertes Zellzyklusprogramm, das die Apoptose hemmt oder verhindert und ihnen damit einen Wachstumsvorteil verschafft.

2.2.2 Signalübermittlung Viele  – wenn nicht die meisten  – Funktionen einer Zelle werden von „außen“ gesteuert: Jede Zelle erhält ständig Signale aus dem extrazellulären Raum. Diese bestimmen, ob die Zelle sich beispielsweise teilt oder differenziert. Auch die Apoptose wird durch extrazelluläre Signale „aktiv“ ausgelöst, sie tritt aber auch ein, wenn die Zelle keine Wachstumssignale mehr erhält. Die Synthese bestimmter Eiweiße in der Zelle wird ebenfalls durch solche Signale gesteuert. Der Eintritt einer Zelle in den Zellzyklus und damit  die  Zellteilung und -vermehrung wird durch spezielle Botenstoffe reguliert. Diese wirken z.  T. von außen auf die Zelle ein, andere werden in der Zelle gebildet. Von außen auf die Zelle einwirkende Botenstoffe (Hormone, Wachstumsfaktoren u. a.) binden an Rezeptoren auf der Zelloberfläche (membranständige Rezeptoren) oder im Zellinneren. Diese Bindung ist hoch spezifisch, d.  h. jeder Rezeptor („Schloss“) braucht seinen passenden Botenstoff („Schlüssel“ oder „Ligand“), um den Signalweg zu aktivieren. cc Auf jeder Zelle finden sich mehrere 100.000 solcher Rezeptoren! Der Signalweg gleicht einer Kettenreaktion, bei der ein biologischer Prozess  – in der Regel eine Enzymreaktion – den nächsten auslöst. Ziel ist eine spezifische Antwort der Zelle, beispielsweise die Aktivierung von Genen, die die Zellteilung oder die Apoptose einleiten.

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

Von jedem Rezeptor können verschiedene Signalwege ausgehen. Die Weiterleitung des von einem Rezeptor aufgenommenen Signals erfolgt durch Aktivierung anderer Signalmoleküle, die wiederum weitere Signalmoleküle aktivieren. Die vielen verschiedenen Signalübermittlungswege sind untereinander stark vernetzt, dadurch können unterschiedliche Signale Teile ihrer Signalwege gemeinsam nutzen („Crosstalk“). Hintergrundinformation Bislang sind mehr als 5000 verschiedene Eiweiße bekannt, die an der Signalübermittlung in der Zelle beteiligt sind; dies als Hinweis auf die außerordentliche Komplexität dieses Systems. Diese Komplexität ist aber nicht, wie man annehmen könnte, mit einer großen Störanfälligkeit verbunden. Im Gegenteil: Das System der Signalübermittlung ist für die Zelle bzw. den Organismus so wichtig, dass es – um einen Ausdruck aus der Technik zu gebrauchen – mehrfach redundant angelegt ist (Redundanz von lat. redundare = im Überfluss vorhanden sein). Der Begriff bezeichnet das Vorhandensein von gleichen oder vergleichbaren Komponenten in einem System, wenn diese im Normalfall – bei störungsfreiem Betrieb – nicht benötigt werden. Vor allem sicherheitstechnisch wichtige Komponenten werden oft redundant angelegt, z.  B.  Bremssysteme in Fahrzeugen. Das bedeutet, dass bei Ausfall eines Signalwegs meistens ein anderer Weg zur Verfügung steht, auf dem das Signal sein Ziel erreichen kann.

cc Viele für Tumoren besonders wichtige Signalwege sind in den letzten Jahren identifiziert worden; sie können teilweise durch Medikamente gezielt blockiert werden und stellen daher Ansatzpunkte für neue medikamentöse Tumortherapien dar (sog. gezielte Therapien, engl. „targeted therapies“). Mehr zu diesen sog. gezielten Therapien findet sich in Abschn. 11.3. Beispiel

Bei etwa 30 % aller Mammakarzinome findet sich auf der Zelloberfläche eine Vermehrung von her2-Rezeptoren (epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor 2, engl. „human epidermal growth factor receptor 2“). Diese Mammakarzinome werden daher als her2-­positiv bezeichnet. Sie wachsen schnell und metastasieren früh. Ein gegen den her2-­ Rezeptor ge-

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richteter Antikörper (Trastuzumab) hat sich als sehr wirksames Medikament erwiesen und gehört heute zum Standard in der Behandlung des her2-positiven Mammakarzinoms. ◄ Hintergrundinformation An dieser Stelle sind zwei Bemerkungen zur gelegentlich recht verwirrenden Terminologie angebracht: • Ein Gen und das durch dieses Gen programmierte (fachsprachlich: kodierte) Eiweiß (Abschn.  2.3.1) werden oft gleich bezeichnet: her2 ist die Bezeichnung für einen Rezeptor des epidermalen Wachstumsfaktors. Gleichzeitig ist es auch die Bezeichnung für das Gen, das diesen Rezeptor (ein Eiweiß) kodiert. Zur Unterscheidung werden nach einer internationalen Regelung das Gen mit Großbuchstaben (z. B. HER2) und das Genprodukt (das Eiweiß) mit Kleinbuchstaben (z.  B. her2) bezeichnet. Diese Regelung wird allerdings oft nicht konsequent angewandt. Gelegentlich wird ausdrücklich geschrieben, was gemeint ist. Man schreibt dann her2-Rezeptor oder HER2-Gen. Oft ist aber nur aus dem Zusammenhang zu verstehen, ob das Gen oder das Genprodukt gemeint ist. • Ein und dasselbe Gen (oder sein Produkt) können verschieden Bezeichnungen tragen: her2, her2/neu, erbB2 und erbB2/neu bezeichnen alle dasselbe Gen (bzw. denselben Rezeptor)! Die Vielfalt der Bezeichnungen ist historisch bedingt: Einige Gene wurden ursprünglich nach dem Tumor benannt, in dem sie erstmals nachgewiesen wurden: das Gen erb2 in einer Vogel-Erythroblastose (einer Leukämie), das Gen neu in einem Ratten-­Neuroblastom. Erst später wurde festgestellt, dass diese Gene dasselbe Produkt, nämlich den Rezeptor für den menschlichen epithelialen Wachstumsfaktor her („human epithelial growth factor receptor“) kodieren.

2.3 Tumorgenetik 2.3.1 Grundlagen DNA/DNS (Desoxyribonukleinsäure) Anstelle der Abkürzung DNS ist heute auch im deutschen Sprachgebiet die englische Bezeichnung DNA (mit A für „acid“, Säure) gebräuchlich. Die DNA ist ein fadenförmiges Molekül. Zwei  DNA-Stränge sind über „Sprossen“ wie eine Leiter miteinander verbunden (doppelsträngiges DNA-Molekül). Die „Sprossen“ bestehen aus 4  verschiedenen sog. Basen, Bausteinen der Nukleinsäuren (Abb. 2.2).

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Abb. 2.2  Doppelstrang (Doppelhelix) der Desoxyribonukleinsäure (DNA) während der Zellteilung. Die Basen auf den Einzelsträngen können sich nur nach dem Schema Guanin/Cytosin und Adenin/Thymin paaren. Bei der Zellteilung trennt sich der Originaldoppelstrang der DNA reißverschlussartig in seine beiden Teilstränge, beide wer-

In der DNA vorkommende Basen

• • • •

Adenin (Abkürzung A) Guanin (Abkürzung G) Cytosin (Abkürzung C) Thymin (Abkürzung T)

den dann durch Anlagerung von Nukleotiden (Bausteinen der DNA) wieder zu originalgetreuen Doppelsträngen ergänzt. Dabei paaren sich die Basen wie folgt: Guanin mit Cytosin, Adenin mit Thymin. Auf demselben Prinzip beruht die Bildung der Boten-RNA bei ihrer Kopierung an der DNA (Transkription). (Spornitz 2010)

Die Abfolge dieser Basen bestimmt die genetische Information. Ähnlich werden in einem Text Informationen durch die Abfolge von Buchstaben vermittelt.

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

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Chromosomen Bei den Chromosomen handelt es sich um die „Verpackung“ der DNA. Ein einzelnes Chromosom enthält jeweils einen langen, kontinuierlichen DNA-Doppelstrang. Da ein solcher DNA-Faden mehrere Zentimeter lang sein kann, ein Zellkern aber nur wenige Tausendstel Millimeter Durchmesser hat, muss die DNA zusätzlich „gepackt“ werden. Dies geschieht mithilfe bestimmter Eiweiße, beispielsweise der sog. Histonen. Der DNA-Doppelstrang windet sich um die Histone, diese dienen als Stützapparat für die DNA. Nur während der Kernteilung

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(Mitose) sind Chromosomen zu einer kompakten Form kondensiert und im Mikroskop sichtbar. In einer normalen menschlichen Körperzelle liegt jedes Chromosom in zwei Kopien vor, verteilt auf einen Satz von 23 Chromosomenpaaren, insgesamt also 46 Chromosomen (Abb. 2.3). Genom Als Genom oder auch Erbgut eines Lebewesens wird die Gesamtheit der vererbbaren Informationen einer Zelle bezeichnet, die als DNA vorliegt.

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Abb. 2.3 Chromosomensatz bei chronischer myeloischer Leukämie. Die 46  Chromosomen einer Zelle sind als Gebilde mit einem quer angelegten Bandenmuster erkennbar. Sie sind der Größe nach sortiert (Chromosomenpaar 1 am größten). Auch die Geschlechtschromosomen sind erkennbar: Die Kombination XX weist darauf hin, dass die Zelle von einem weiblichen Individuum stammt. Die zwei mit Pfeilen markierten Chromosomen sind ab-

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norm: Ein Chromosom 9 ist zu lang. Ein ebenfalls markiertes Chromosom  22 ist zu kurz: Dieses Philadelphia-­ Chromosom besteht aus einem Stückchen des Chromosoms 9 sowie aus einem Stück des Chromosoms 22. Das Philadelphia-Chromosom ist die charakteristische chromosomale Abnormität der chronischen myeloischen Leukämie. Wessex Reg. Genetics Centre. Wellcome Collection. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

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Gen Nach der klassischen Definition entspricht ein Gen dem Abschnitt auf einem DNA-Molekül, der die Information für die Bildung eines bestimmten Proteins (Eiweißmoleküls) enthält. Das menschliche Genom enthält etwa 20.000 Gene. Davon sind mehr als 5000 in den komplexen Ablauf von Zellzyklusregulation und Zellwachstum involviert, viele übernehmen dabei eine Art Überwachungsfunktion. Eiweiße (Proteine) Eiweiße (Proteine) sind wichtige Bausteine des Organismus und nehmen im menschlichen Kör-

per vielfältige Funktionen wahr (einige Beispiele in Tab. 2.1). Eiweiße sind sehr große Moleküle. Ihre Bausteine sind 20  verschiedene Aminosäuren, die zu Ketten verbunden werden. Diese Ketten können aus mehreren tausend Aminosäuren bestehen. Eiweißsynthese (Abb. 2.4) Die Information zur Bildung eines Körpereiweißes ist in einem Gen durch die Abfolge der Basen niedergeschrieben. Dabei definieren jeweils 3 aufeinanderfolgende Basen eine Aminosäure des zu bildenden Eiweißes. (Man sagt:

Tab. 2.1  Proteine im menschlichen Körper. (Beispiele) Protein Hämoglobin Kollagen Insulin Immunglobuline

Vorkommen Erythrozyten Haut/Bindegewebe/Knochen Blut Blut und Schleimhäute

Abb. 2.4  Schematische Darstellung der Eiweißsynthese in der Zelle: Im Zellkern wird von einem Gen eine Kopie in Form eines Boten-RNA (mRNA)-Stranges hergestellt (Transkription). Die mRNA wandert ins Zytoplasma zu einem

Funktion Sauerstofftransport Stütz- und Haltefunktion Hormon Abwehr (Antikörper)

Ribosom. Dort bindet eine Transport-RNA (t-RNA) mit der kodierten Aminosäure an das entsprechende Codon auf der m-RNA (Translation). Diese Aminosäure wird im Ribosom in die wachsende Eiweißkette eingebaut. (Spornitz 2010)

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Diese 3  Basen kodieren eine bestimmte Aminosäure.) Welche Aminosäuren durch welche Basenabfolgen kodiert werden, ist im sog. genetischen Code festgeschrieben. Dieser Code ist für praktisch alle Lebewesen  – vom Bakterium bis zum Menschen – mit wenigen Ausnahmen identisch! Die Abfolge der Basen in einem Gen legt also den Aufbau und damit die Funktion eines bestimmten Eiweißes fest. Man sagt deshalb: Ein Gen kodiert ein Eiweiß. Gendefekte (Mutationen) werden sich deshalb auf die Zusammensetzung und damit die Funktion von Eiweißen auswirken. Die Veränderung eines einzigen Eiweißes kann mit einer erheblichen Störung der Zellfunktion einhergehen. Ein Gen enthält also die Information zur Bildung eines Eiweißes. Aufgrund dieser Information wird in einem komplizierten Prozess die Eiweißsynthese in Gang gesetzt. Wichtige Teilschritte in diesem Prozess sind: • Transkription: Ablesen der Gensequenz (DNA) und Bildung einer Boten-RNA („messenger RNA“, mRNA). • Transport der mRNA aus dem Zellkern ins Zytoplasma. • Translation: In den Ribosomen wird die Basensequenz der mRNA in eine Aminosäuresequenz übersetzt und diese Aminosäuren zu einem Eiweiß synthetisiert. Genregulation Jede Körperzelle verfügt über das ganze Genom, d.  h. die gesamte Erbinformation des Organismus ist in jedem Zellkern vorhanden. In den verschiedenen Zellen sind aber unterschiedliche

Enhancer

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Gene aktiv. Nur Gene, die für die Funktion der jeweiligen Zelle eine Rolle spielen, sind angeschaltet. Beispiel

Die Inselzellen des Pankreas produzieren Insulin (ein Eiweiß), d.  h., das entsprechende Gen ist aktiv. Dagegen sind die Gene, die die Eiweiße des Hämoglobins kodieren, in den Inselzellen nicht aktiviert, wohl aber in den Vorläuferzellen der Erythrozyten im Knochenmark. ◄ Die Steuerung der Genaktivierung im Zellkern wird als Genregulation bezeichnet. Sie ist ein hochkomplizierter Prozess, der durch sog. Transkriptionsfaktoren gesteuert wird. Dies sind Eiweiße (oft auch Komplexe mehrerer Eiweiße), die – unter dem Einfluss von Wachstumsfaktoren und Hormonen  – in der Zelle gebildet werden. Transkriptionsfaktoren binden sich an spezifische DNA-Sequenzen in der Kontrollregion des von ihnen regulierten Gens (sog. „Enhancer“). Sie wirken als „Schalter“, die die Transkription des Gens an- oder abschalten. An eine andere Stelle der Kontrollregion, den sog. „Promoter“, binden die Enzyme, die die DNA ablesen und Boten-RNA synthetisieren (RNA-Polymerasen). Den Aufbau eines Gens zeigt schematisch Abb. 2.5. Wie erwähnt, umfasst das menschliche Genom ca.  20.000 eiweißkodierende Gene. Sie m ­ achen jedoch nur 1–2 % des Genoms, d. h. der gesamten DNA, aus. Der größte übrige Teil des Genoms, die sog. nicht kodierende DNA, scheint

Promoter Kontrollregion

Abb. 2.5  Aufbau eines Gens

Eiweißkodierender Teils des Gens

Kontrollregion

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zwar ebenfalls zu RNA-Molekülen transkribiert sind in den Keimzellen (Ei- bzw. Samenzellen) zu werden, deren Funktion ist allerdings noch und allen Körperzellen nachweisbar. Diese Muweitgehend unbekannt. Viele dieser RNA-­ tationen sind sehr selten. Sie sind verantwortlich Sequenzen (nicht kodierende RNA) sind aber für die familiären Krebserkrankungen wohl ebenfalls an der Genregulation beteiligt. (Abschn. 2.4.1). Epigenetische Regulation Zusätzlich kann der Aktivierungszustand eines Gens durch einen für alle Gene gleichartigen Mechanismus beeinflusst werden. Dabei wird durch ein Enzym ein kleines Molekül (eine sog. Methylgruppe, chemisch: -CH3) an bestimmte Stellen der DNA angelagert, typischerweise in der Promoter-Region eines Gens (s. oben). Durch die Methylierung des Promoters wird dieser (und dadurch das Gen) inaktiviert. Der Methylierungszustand eines Gens wird bei der Zellteilung auf die Tochterzellen übertragen, er ist aber reversibel (durch enzymatische „Demethylierung“) und verändert die Basenfolge des Gens nicht. Er wird als epigenetischer Steuermechanismus bezeichnet (griech. epi = dazu, daneben). Epigenetische Mechanismen spielen auch bei der Entwicklung maligner Tumoren eine Rolle.

2.3.2 Mutationen cc Definition  Eine bleibende Veränderung des Erbguts, der DNA, wird Mutation genannt. cc Durch eine Mutation kann die Funktion eines Gens erheblich gestört werden oder komplett verloren gehen. Typischerweise sind in Tumoren häufig Gene mutiert, die eine wichtige Rolle bei der Steuerung von Zellteilung und Apoptose, bei der DNA-­ Reparatur oder der Zelldifferenzierung spielen. Nach den betroffenen Zellen sind zwei Arten von Mutationen zu unterschieden: Keimbahnmutationen  Diese Mutationen werden von einem oder beiden Elternteilen ererbt. Die Keimbahn- oder auch ererbten Mutationen

Somatische Mutationen  Die meisten Mutationen entstehen im Lauf des Lebens in einer einzelnen Körperzelle. Solche Mutationen werden somatische Mutationen genannt. Sie sind nicht in allen Körperzellen nachweisbar, sondern nur in den betroffenen Zellen und in den aus ihnen durch Zellteilung entstandenen Tochterzellen. Nach ihrer Bedeutung für die Tumorentwicklung werden unterschieden: Passenger-Mutationen  Von den vielen Mutationen einer Krebszelle haben nicht alle die gleiche Bedeutung. Die meisten sind sog. „Passenger“ (engl. für Passagiere). Sie spielen für das Überleben und das rasche Wachstum der Tumorzellen keine entscheidende Rolle. Driver-Mutationen  (Driver, engl. für Fahrer, Treiber). Sie verleihen dem Tumorklon einen Wachstumsvorteil gegenüber normalen Zellen und ermöglichen Infiltration und Metastasierung. Diese Mutationen sind das Ziel von neuen tumorwirksamen Medikamenten. Nach dem Mechanismus der DNA-­Schädigung werden unterschieden: Punktmutation  „Kleine“ Mutationen, die nur eine einzige Basenpaarung betreffen, werden Punktmutationen genannt. So kann z. B. in einem einzigen Codon die Base Thymin durch die Base Adenin ersetzt sein. Dieser Austausch einer einzigen Base in einem Gen kann dazu führen, dass ein Eiweiß mit einer veränderten Aminosäureabfolge entsteht, wodurch auch seine Funktion verändert wird. Man kann sich das analog der Buchstabenfolge in einem Wort vorstellen, wo ein „Buchstabendreher“ (der Austausch eines Buchstabens) analog einer Mutation einen komplett anderen Sinn ergibt: Hautfarbe – Hausfarbe.

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

Deletion  Den Verlust von kleineren oder größeren Genabschnitten nennt man Deletion (lat.: Verlust). Translokation  Bei einer Translokation (Ortswechsel) sind größere Genabschnitte aus einem DNA-Strang herausgelöst und an anderer Stelle (z.  B. in einem anderen Chromosom) wieder in den DNA-Strang integriert worden. Für verschiedene Tumoren sind typische Translokationen bekannt, beispielsweise das sog. Philadelphia-­Chromosom (Abb.  2.3) bei der chronisch myeloischen Leukämie (CML). Amplifikation  In der normalen Körperzelle ist jedes Gen doppelt vorhanden, einmal vom Vater und einmal von der Mutter ererbt. Sind mehr als zwei Kopien eines Gens im Erbgut vorhanden, wird dies als Amplifikation (lat. amplificare = erweitern, vermehren) bezeichnet. Von amplifizierten Genen können bis zu 100 Kopien vorhanden sein. Dies kann dazu führen, dass die Zelle zu viel von dem entsprechenden Genprodukt (d.  h. dem von diesem Gen kodierten Eiweiß) produziert  – man spricht von Überexpression.

Beispiel

Das Gen für den Rezeptor des epithelialen Wachstumsfaktors ERB2 ist bei etwa einem Drittel aller Mammakarzinome amplifiziert. Dadurch wird der entsprechende Rezeptor in den Tumorzellen vermehrt gebildet, was diesen zu einem Wachstumsvorteil verhilft. ◄ Reparaturmechanismen Mutationen sind sehr häufig. Jeden Tag kommt es bei jedem Menschen zu einer Vielzahl von Mutationen, ohne dass daraus Krebs entsteht. Die Zellen besitzen ausgeklügelte Programme, die es ihnen erlauben, Mutationen zu erkennen und zu reparieren.

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Deletionen oder Translokationen können nicht repariert werden. Wenn nicht reparable Mutationen entstehen, wird dies im Zellzyklus erkannt und die Apoptose der Zelle eingeleitet. Dies verhindert, dass sich die veränderte Zelle teilen und so die Mutation weitergeben kann. Wenn dieser Kontrollmechanismus versagt und die Apoptose nicht aktiviert wird, werden veränderte Zellen häufig von speziellen Abwehrzellen des Immunsystems erkannt, und die betreffende Zelle wird vernichtet (Abschn.  2.6). Der Körper hat also mindestens 3 Verteidigungslinien etabliert, die es ihm erlauben, mutierte Zellen entweder zu reparieren oder zu vernichten: • Reparatur, • Apoptose, • Immunabwehr. Nur wenn alle 3  Verteidigungslinien versagen, kann sich ein Tumor entwickeln.

2.3.3 Mutationen von Onkogenen und Suppressorgenen Zellwachstum, Zellteilung und Zelltod sind für das Überleben des Organismus überaus wichtige Funktionen und deshalb strikt reguliert und kontrolliert. Zahlreiche Gene steuern diese komplexen Kontroll- und Regulationsprogramme, die teilweise bereits in Abschn. 2.2.1 und 2.2.2 dargestellt wurden. Dabei nehmen 2  Gruppen von Genen – bzw. die von ihnen kodierten Eiweiße – wichtige Rollen ein: Onkogene  Onkogene führen die Zellen durch den Zellzyklus, sie stimulieren die Zellteilung. Tumorsuppressorgene  (lat. supprimere = unterdrücken) Diese Gene wirken hemmend auf den Zellzyklus. Ihre Aktivierung führt zu Wachstumsstopp und kann den Zelltod (Apoptose) einleiten.

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Terminologie In der wissenschaftlichen Literatur werden die „normalen“ (nicht mutierten) Onkogene oft als Proto-Onkogene bezeichnet. Die Bezeichnung Onkogen wird dann für das mutierte (oder auch das amplifizierte) Gen reserviert. In diesem Buch wird der Begriff Onkogen für das normale und das mutierte Gen verwendet. Wie schon in Abschn.  2.2.2 vermerkt, gilt auch hier (leider), dass mit dem Begriff „Onkogen“ bzw. „Tumorsuppressorgen“ sowohl das Gen als auch sein Produkt bezeichnet werden kann.

cc Onkogene und Tumorsuppressorgene sind in jeder normalen Zelle während des Zellzyklus aktiviert. Mutationen in diesen Genen spielen bei der Krebsentstehung eine wichtige Rolle. Onkogene stimulieren die Zellteilung. Entsprechend finden sich in Tumorzellen Mutationen, die zu einer Überfunktion des Gens oder des Genproduktes führen. Man spricht von Gain-of-Function-Mutationen (engl. gain: Gewinn). Tumorsuppressorgene hemmen die Zellteilung und damit die Entwicklung von Krebs. Entsprechend finden sich in Tumorzellen Mutationen, die zu einem Funktionsverlust dieser

Gene führen, sog. Loss-of-Function-Mutationen (engl. loss: Verlust). Mutationen von Onkogenen, Tumorsuppressorgenen und DNA-Reparaturgenen bilden die ersten Schritte bei der Entwicklung einer normalen Zelle zu einer Krebszelle. In der Regel häufen sich im weiteren Verlauf Mutationen in der Zelle an (genetische Instabilität Abschn. 2.3.4). Neben Mutationen können Gene auch durch epigenetische Veränderungen (Abschn.  2.3.2) dauerhaft inaktiviert werden. Dies kann zur Tumorentstehung beitragen, wenn die epigenetische Deaktivierung beispielsweise Tumorsuppressorgene betrifft. Neue tumorwirksame Medikamente (z. B. das bei gewissen Leukämien eingesetzte Decitabine) wirken demethylierend, d. h., sie beheben den epigenetischen Defekt der Hypermethylierung. Tab.  2.2 zeigt eine Auswahl von häufigen in Tumorzellen nachweisbaren Mutationen. Nicht in jedem Tumor sind die gleichen Mutationen zu finden, allerdings sind gewisse Mutationen für bestimmte Tumorarten typisch.

Tab. 2.2  Genmutationen in malignen Tumoren. (Auswahl) Gen Onkogene (Gain-of-Function-Mutationen) Gene für Wachstumsfaktoren oder HER2 Rezeptoren

Gene für Proteine der Signalübermittlung im Zytoplasma Gene für Zykline

K-RAS

Zyklin D, Zyklin E Suppressorgene (Loss-of-Function-Mutationen) APC

Funktion - Andere Bezeichnungen: ERBB2 oder neu - Kodiert den Rezeptor für einen epithelialen Wachstumsfaktor - Überexprimiert v. a. bei gewissen Mammakarzinomen - Beteiligt u. a. bei Lungen-, Ovar- und Dickdarmkarzinomen - Führen die Zelle durch den Zellzyklus - Bei vielen Tumoren durch Mutation aktiviert

- Kodiert ein Eiweiß, das die Proliferation der Dickdarmschleimhaut reguliert - Bei Dickdarm- und Magenkrebs beteiligt DNA-Reparaturgene (Loss-of-Function-Mutationen) BRCA-1, - Kodieren Eiweiße, die u.  a. DNA-Schäden reparieren BRCA-2 - Beim familiären Mammakarzinom (breast cancer) oft mutiert und inaktiviert; Mutationen auch bei anderen Tumoren

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

2.3.4 Genetische Instabilität Genetische Instabilität ist eine wesentliche Eigenschaft der Krebszelle, die nicht nur für die Entstehung, sondern auch für das Fortschreiten des neoplastischen Wachstums verantwortlich ist. cc Definition  Genetische Instabilität bezeichnet die Anfälligkeit von Tumorzellen, weitere Mutationen zu erwerben. Aufgrund der genetischen Instabilität bestehen solide Tumoren nicht aus genetisch identischen Zellen. Abb. 2.6 zeigt schematisch, wie im

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Verlauf von 3 Mutationen ein Tumor mit unterschiedlichen (heterogenen) Zellpopulationen entsteht. cc Die genetische Instabilität bewirkt, dass die Zellen eines Tumors unterschiedlich (heterogen) sind. Dies hat große Bedeutung für die Therapie: Entsprechend ihrer genetischen Verschiedenheit reagieren Tumorzellen unterschiedlich auf eine Behandlung. Ein Teil spricht auf die Behandlung an und stirbt ab, andere Zellen dagegen sind resistent, und diese können sich weiter teilen. Sie bestimmen dann das weitere Verhalten des Tumors. Alle medikamentösen Therapien (Chemotherapie, Hormone, Hemmstoffe der Signalübermittlung u. a.) wie auch die Radiotherapie können zu einer Selektion resistenter Tumorzellen führen.

2.3.5 Entwicklung maligner Tumoren als Mehrschrittprozess Maligne Tumoren entstehen in einem Mehrschrittprozess, wobei jeder Schritt hin zur malignen Zelle einer weiteren Veränderung des Erbgutes (Mutation) entspricht. Dabei durchlaufen Zellen verschiedene prämaligne Stadien und erwerben dabei weitere Mutationen, bis schließlich eine Zelle mit allen malignen Eigenschaften entsteht. Bei vielen Tumorerkrankungen sind die zu ihrer Entstehung führenden Mutationen bekannt.

Abb. 2.6  Im Verlauf seiner Entwicklung finden in den Zellen eines Tumors mehrere Mutationen statt. Ein Tumor besteht deshalb aus genetisch unterschiedlichen Zellen mit kumulierenden Genveränderungen

Zeitdauer von den ersten Mutationen bis zum klinisch manifesten Tumor Wie bereits erwähnt, ist die Tumorentstehung ein Mehrschrittprozess, bei dem mehrere „kritische“, also entscheidende Mutationen auftreten müssen, bevor eine Zelle maligne wird. Verschiedene Beobachtungen sprechen dafür, dass es in der Regel viele Jahre bis Jahrzehnte dauert, bis aus der ­ersten Mutation in einer Zelle ein manifester maligner Tumor entsteht.

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Hintergrundinformation Beim Gebärmutterhalskrebs dauert es in der Regel Jahrzehnte, bis nach der auslösenden Infektion mit humanen Papillomaviren (Abschn.  5.5.8) über prämaligne Vorstufen ein Karzinom entsteht. Allerdings führt längst nicht jede HPV-Infektion zu einem Karzinom: Die Mehrzahl der HPV-Infekte heilt spontan ab, bevor die Mutationskaskade in Gang kommt.

Bei sehr aggressiven Erkrankungen wie etwa den akuten Leukämien kann der Zeitraum zwischen dem Auftreten der kritischen Mutationen in einer Zelle und dem Ausbruch der Erkrankung aber auch wesentlich kürzer sein und im Bereich von einigen Monaten liegen.

2.4 Ursachen maligner Entartung Wie gesehen, spielen Mutationen eine zentrale Rolle bei der Entstehung maligner Tumoren. Abb.  2.7 zeigt in einer schematischen Übersicht nochmals zusammenfassend, wie Mutationen zu Krebs führen können. Wie aber kommt es zu solchen Mutationen? Die Ursachen sind vielfältig: Sie können angeboren sein oder im Lauf des Lebens erworben werden; sie entstehen spontan als Fehler bei der Zellteilung oder durch innere und äußere Einflüsse. Im Folgenden werden mögliche Ursachen nur kurz angesprochen. Detaillierter werden sie in Kap. 5 diskutiert.

Abb. 2.7  Mutationen und die Entstehung maligner Tumoren

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

2.4.1 Familiäre (vererbte) Krebskrankheiten Schon lange ist bekannt, dass in einigen Familien Krebserkrankungen gehäuft auftreten. Heute sind auch einige der dafür verantwortlichen Keimzellmutationen (Abschn.  2.3.1) bekannt. Die Entstehung von Krebs verläuft in einem Mehrschrittprozess (Abschn.  2.3.5) und verlangt mehrere Mutationen in verschiedenen Genen einer Zelle. Bei familiären Krebserkrankungen wird lediglich die erste dieser Mutationen vererbt. Es wird also streng genommen nicht die Krebserkrankung vererbt, sondern die Veranlagung dazu. Familiäre Krebserkrankungen, speziell der familiäre Brustkrebs, werden in Abschn.  5.4.3 näher beschrieben.

2.4.2 Erworbene Mutationen „Umweltfaktoren“ Zahlreiche Faktoren in unserer Umwelt – wobei Umwelt hier im weitesten Sinn als unsere ­gesamte Umgebung verstanden wird  – können das Erbgut schädigen, d. h. Mutationen auslösen. Zu diesen Faktoren zählen beispielsweise: • chemische Substanzen (Tabakrauch, Alkohol, Medikamente, Asbest), • ionisierende Strahlen (Radon, Röntgenstrahlen), • Krankheitserreger (Viren, Bakterien, Parasiten). Bei einigen dieser Faktoren ist recht gut bekannt, wie sie eine gesunde Zelle in eine Krebszelle umwandeln können: Röntgenstrahlen verursachen beispielsweise Brüche des DNA-Doppelstrangs, Chemikalien können direkt mit der DNA reagieren und sie dauerhaft verändern. Beides führt zu Mutationen. Komplizierter ist es bei Infektionen: Verschiedene Mechanismen sind wirksam.

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Beispiel

Humane Papillomaviren (HPV), die durch Geschlechtsverkehr übertragen werden, können zu einer chronischen HPV-Infektion der Gebärmutterhalszellen führen. Dabei wird DNA des Virus in die DNA von Gebärmutterhalszellen eingebaut. Diese virale DNA kodiert für Eiweiße, die die Funktion der Tumorsuppressorgene p53 und Rb im Zellkern hemmen. p53 und Rb sind für die Kontrolle des Zellzyklus von großer Bedeutung. Die Expression der viralen Gene kann somit zur Umwandlung der infizierten Zellen in Karzinomzellen führen. ◄ Für einige weitere Infekte ist ebenfalls ein Zusammenhang mit der Entstehung von bestimmten Karzinomen gesichert, z.  B. für die chronische Infektion der Magenschleimhaut mit dem Bakterium Helicobacter pylori oder für die Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus (Abschn. 5.5.8). Auch bestimmte Ernährungsgewohnheiten sind mit erhöhtem oder erniedrigtem Krebsrisiko verbunden (Abschn. 5.5.3). Es ist auch hier bislang größtenteils unbekannt, auf welchen molekularen Mechanismen dies beruht. „Innere Faktoren“ Neben den genannten „Umweltfaktoren“ spielen auch körpereigene Faktoren bei der Tumorentstehung eine Rolle. Körpereigene Hormone (Östrogene) sind beispielsweise mitbeteiligt an Entstehung und Wachstum von Brustkrebs. Hormone verursachen allerdings keine Mutationen. Sie stimulieren jedoch die Zellteilung in hormonabhängigen Geweben (wie z.  B. der Brustdrüse) und können so zusammen mit anderen Faktoren (z. B. mutierten Rezeptoren von Wachstumsfaktoren) zur Krebsentstehung beitragen.

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2.5 Lokales Tumorwachstum und Metastasierung Das Größenwachstum eines Tumors wird im Wesentlichen durch 2 Faktoren bestimmt: • einerseits durch die Zunahme der Zellzahl im Tumor durch Zellteilung, • anderseits durch den gleichzeitigen Zelluntergang im Tumor aufgrund von Apoptose oder Nekrose. Zellteilungsrate Teilen sich die Zellen häufig, so wächst der Tumor schneller und verursacht früher Symptome als ein Tumor mit einer niedrigen Zellteilungsrate. Als Maß für die Zellteilung gilt der sog. Proliferationsindex. Er besagt, welcher Anteil der Tumorzellen sich in Zellteilung befindet. Hintergrundinformation Schnell wachsende Tumoren haben einen hohen Proliferationsindex. Bei einigen sehr schnell wachsenden Tumoren wie etwa dem kleinzelligen Bronchialkarzinom oder den akuten Leukämien kann dieser Proliferationsindex 100 % betragen, d. h., alle Zellen befinden sich in Zellteilung. Auf der anderen Seite gibt es Tumoren, die ausgesprochen langsam wachsen und eine Proliferationsrate von wenigen Prozent (1–5  %) aufweisen, wie beispielsweise gut differenzierte Prostatakarzinome. Diese Tumoren wachsen langsam und nehmen über viele Jahre kaum messbar an Größe zu.

Zelluntergang Die Proliferationsrate bestimmt das Tumorwachstum aber nicht allein. Generell benötigen sich vermehrende Zellen eine genügende Energie- und Sauerstoffversorgung. Eine ausreichende Gefäßversorgung ist demnach für wachsende Tumoren wichtig. Bei schnell proliferierenden Tumoren hinkt die Blutgefäßversorgung diesem schnellen Wachstum häufig hinterher, deshalb sterben die schlecht versorgten Areale dieser Tumoren ab.

Auch eine gut funktionierende Immunabwehr führt zum Untergang von Tumorzellen (Abschn. 2.6). cc Aus dem Verhältnis von Zellteilung und Zelluntergang resultiert schließlich die Tumorverdopplungszeit, d. h. die Zeit, die ein maligner Tumor braucht, um sein Volumen zu verdoppeln. Diese Zeit liegt zwischen 2 und 600 Tagen!

2.5.1 Regulation des Tumorwachstums Das Tumorwachstum wird – wie das Wachstum normaler Zellen  – durch verschiedene Wachstumsfaktoren reguliert, die über Rezeptoren auf oder in den Tumorzellen die Zellteilung fördern (Abschn. 2.2.2.). Viele Tumoren bilden selbst Wachstumsfaktoren, die „ihre“ Zellen zum Wachstum und zur Zellteilung anregen (z. B. EGF) oder die zur Einsprossung von Gefäßen in den Tumor führen (z. B. VEGF). Ferner ist die Zahl der Wachstumsfaktorrezeptoren pro Zelle in vielen Tumoren deutlich erhöht, wodurch die betreffende Zelle einen Wachstumsvorteil gewinnt. Infolge einer Mutation können Wachstumsfaktorrezeptoren auch dauerhaft aktiviert sein – die rezeptorabhängige Signalkette ist dann ständig aktiv, auch ohne Bindung eines Wachstumsfaktors an den Rezeptor. Onkologische Therapien machen sich diese Abhängigkeit der Tumorzellen von Wachstumsfaktoren zunutze. Antikörper, die z. B. den EGF-Rezeptor blockieren, werden zur Behandlung verschiedener Tumorerkrankungen eingesetzt, ebenso kleine Moleküle, die Signalwege in den Zellen blockieren, z.  B.  Tyrosinkinasehemmer. Die Behandlung mit diesen Medikamenten wird „targeted therapies“ (engl. target: Ziel)  – deutsch „gezielte Therapien“ – bezeichnet (Abschn. 11.3).

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

2.5.2 Neubildung von Blutgefäßen im Tumor Zellen können nicht überleben, wenn sie weiter als 0,2  mm von einem Gefäß entfernt sind. Tumoren mit einem Volumen von >2–3 mm3 (entsprechend etwa einer kleinen Erbse) sind deshalb für die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen darauf angewiesen, Anschluss an ein Blutgefäß zu finden und eigene Blutgefäße zu bilden – sonst führt Sauerstoffmangel zum Untergang der Tumorzellen. Die Bildung neuer Blutgefäße im Tumor, die sog. Tumorangiogenese (Abb. 2.8), ist deshalb ein kritischer wachstumsbestimmender Faktor maligner Tumoren. Tumorzellen können den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF) bilden, der wiederum an seinen Rezeptor auf den Endothelzellen benachbarter Gefäße (Endothelzellen bilden die innere Schicht von Gefäßen) bindet. Die Angiogenese ist für die Entwicklung maligner Tumoren in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Einmal führt sie den Tumorzellen die für ihren Stoffwechsel nötigen Substanzen zu, sodass sie überleben und sich vermehren können. Gleichzeitig bietet sie Tumorzellen durch den Zugang zum Gefäßsystem die Möglichkeit, sich im ganzen Körper zu verbreiten und Fernmetastasen zu bilden.

Abb. 2.8  Angiogenese und Tumorwachstum. In Schritt 1 besteht der Tumor erst aus einer kleinen Zellansammlung. Ohne eigene Gefäßversorgung kann der Tumor nicht wachsen. In Schritt 2 produziert der Tumor Wachstumsfaktoren, die das Gefäßwachstum stimulieren, z.  B. den

29

2.5.3 Infiltration und Invasion Der Prozess der Infiltration und Invasion eines Tumors in das umgebende Gewebe erfolgt in mehreren Schritten: • Ablösung einzelner Tumorzellen aus dem Tumorzellverbund (Lösen der Zell-Zell-­ Kontakte), • Umbau bzw. Auflösung der Gewebematrix, d.  h. des Gewebeanteils (v.  a. Fasern) zwischen den Zellen, • Bindung von Tumorzellen an die Gewebematrix des umgebenden Normalgewebes, • Wanderung der Tumorzellen in das umliegende Gewebe.

2.5.4 Metastasierung Im Gegensatz zum kontinuierlichen Tumorwachstum in die Umgebung (Infiltration und Invasion) bezeichnet der Begriff Metastasierung die Bildung von Tochtergeschwülsten in entfernten Organen. cc Fernmetastasen sind für das Schicksal der meisten Patienten entscheidend: Nur bei etwa 10 % aller Tumorpatienten ist der Primärtumor

vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF). Neue Gefäße beginnen, in den Tumor einzusprossen. In Schritt 3 ist der Tumor mit Gefäßen durchsetzt und kann nun weiterwachsen. (Karp et al. 2005)

D. Jäger et al.

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die direkte Todesursache. 90 % der Patienten sterben an den Folgen der Fernmetastasierung. Aus bislang unbekannten Gründen metastasieren einige Tumoren schon sehr früh: Beim Melanom bilden bereits kleine Primärtumoren sehr oft Fernmetastasen, während beim Basalzellkarzinom der Haut (Basaliom) auch in lokal fortgeschrittenen Stadien nur sehr selten Fernmetastasen auftreten. Bei vielen bösartigen Tumoren ist eine Metastasierung bereits eingetreten, bevor der Primärtumor entdeckt und behandelt wird. Diese Metastasen sind zum Zeitpunkt der Diagnose des Primärtumors oft noch so klein (sog. Mikrometastasen), dass sie mit keiner der verfügbaren diagnostischen Methoden nachgewiesen werden können. Bei einigen Tumoren, z. B. dem Mammakarzinom, wird deshalb nach der lokalen Be-

handlung eine systemische adjuvante Therapie (Abschn.  8.4.1) eingeleitet, falls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Vorliegen solcher Mikrometastasen anzunehmen ist. Die Metastasierung erfolgt hauptsächlich auf zwei Wegen: über die Lymphgefäße (lymphatische oder lymphogene Metastasierung), über die Blutgefäße (hämatogene Metastasierung). Die lymphatische Metastasierung führt in erster Linie zu Ablegern in Lymphknoten. Lymphknotenmetastasen haben v. a. prognostische Bedeutung: Sie zeigen an, dass die Tumorzellen die Fähigkeit zur Metastasierung erworben haben und dass möglicherweise bereits hämatogene Fernmetastasen vorliegen. Die Metastasierung erfolgt in mehreren Schritten (Abb.  2.9). Damit eine Tumorzelle

Abb. 2.9  Vorgänge bei der hämatogenen Metastasierung. (Nach Cotran et al. 1993)

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

diese durchlaufen kann, muss sie – durch Mutationen  – die dazu nötigen Eigenschaften erworben haben. • Einbrechen der Tumorzellen in Blut- oder Lymphgefäße. Das Einbrechen in die Gefäße ist ein aktiver Prozess und läuft nach ähnlichen Mechanismen ab wie die Infiltration und Invasion. • Tumorzellverbände werden über den Blutund/oder Lymphweg in andere Organe bzw. Lymphknoten transportiert (hämatogene bzw. lymphogene Metastasierung). • Die Tumorzellverbände bleiben in der Gefäßendstrombahn hängen. Dabei spielen wiederum die oben erwähnten Adhäsionsmoleküle eine wichtige Rolle. Sie erklären die Bevorzugung bestimmter Organe für die Absiedlung. • In der neuen Umgebung beginnen diese Tumorzellverbände zu wachsen und durch die Gefäßwand in die Umgebung zu infiltrieren. Für das Wachstum der Metastase ist es nötig, dass das umgebende Gewebe zur Gefäßneubildung aktiviert wird. Gelingt das nicht, geht sie entweder unter oder bleibt  – als Mikrometastase – in einem sog. „Ruhezustand“. Tumorzellen können über Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte, im Körper in einem Ruhezustand verharren und erst nach einem langen Zeitraum wieder aktiv werden und sich vermehren. Dadurch ist erklärbar, dass ein Rückfall viele Jahre nach zunächst erfolgreicher Behandlung auftreten kann. Häufig ist dies beim Mammakarzinom zu beobachten, bei dem selbst mehr als 20  Jahre nach Erstbehandlung Tumorrezidive beobachtet werden. Wodurch diese „Aktivierung“ der Mikrometastasen erfolgt, ist allerdings größtenteils unbekannt. Die hämatogene Absiedlung von Tumorzellverbänden in bestimmten Gefäßgebieten ist nicht allein durch die unterschiedliche Durchblutung der Organe zu erklären: Nieren, Herzmuskel, Skelettmuskulatur und Darmwand sind sehr gut durchblutete Organe, Metastasen treten dort aber nur ausnahmsweise auf. Umgekehrt erhält das Skelett einen relativ geringen Anteil der Blutzufuhr, Knochenmetastasen sind aber sehr häu-

31 Tab. 2.3  Typische hämatogene Metastasierungsmuster Primärtumor Prostata Melanom Dickdarm Mamma

Zielorgan für Metastasen Skelett Leber, Hirn Leber Skelett, Leber, Lunge, Hirn

fig. Es wird angenommen, dass unterschiedliche Adhäsionsmoleküle für die Ausbildung dieser „Metastasierungsmuster“ von Bedeutung sind (Tab. 2.3). Tumorzellen behalten auch nach der Metastasierung die Eigenschaften des Primärtumors: Histologisch sieht die Lebermetastase eines Mammakarzinoms prinzipiell gleich aus wie der Primärtumor in der Brust. Der Pathologe kann deshalb in der Regel von der Untersuchung einer Metastase auf den Sitz des Primärtumors schließen. Für die medikamentöse Behandlung hat das wichtige Konsequenzen: Sie richtet sich nach dem Primärtumor. Bei einer Patientin mit metastasierendem Mammakarzinom werden Lebermetastasen mit einer mammakarzinomspezifischen Therapie behandelt. Beim primären Leberzellkarzinom oder bei Lebermetastasen eines Dickdarmkarzinoms werden jeweils andere Therapien eingesetzt.

2.6 Immunologische Aspekte 2.6.1 Grundlagen Das Immunsystem ist ein Abwehrsystem des Körpers. Es schützt ihn vor Viren, Bakterien, Pilzen und anderen krankmachenden Mikroorganismen. Es besteht aus verschiedenen Zellen, v.  a. Monozyten, Makrophagen und Lymphozyten. Im Gegensatz zu anderen Organen haben diese Zellen keinen festen Kontakt untereinander, sondern zirkulieren zwischen Blutbahn, Lymphsystem und anderen Geweben. Die Hauptaufgabe des Immunsystems besteht darin, zwischen „selbst“ (Zellen und Eiweiße des eigenen Körpers) und „nicht selbst“ bzw. „fremd“ (Bakterien, Viren etc.) zu unterscheiden und als „fremd“ erkanntes zu zerstören. Rezeptoren auf

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den Immunzellen erkennen fremde Eiweißmoleküle (Antigene) an einer Zelloberfläche, binden sich an diese und lösen dadurch die Zerstörung der „fremden“ Zelle aus. Viren, Bakterien und  – in einem gewissen Ausmaß  – auch Tumorzellen besitzen an ihrer Oberfläche solche Fremdeiweiße (sog. Tumorantigene), die das Immunsystem zur Abwehr anregen. Abb.  11.3 zeigt dies schematisch. Man unterscheidet zwischen der zellvermittelten und der humoralen Immunabwehr. Bei beiden Formen spielen Lymphozyten eine wichtige Rolle, wobei B-Lymphozyten (B = „bone marrow“, d.  h. Reifungsort: Knochenmark) und T-Lymphozyten (T=Thymus, d.  h. Reifungsort: Thymus) unterschieden werden. B- und T-­ Lymphozyten besitzen Oberflächenrezeptoren, mit denen sie bestimmte Antigene erkennen können. Die verschiedenen Zellen des Immunsystems steuern sich gegenseitig über zwei Mechanismen: • Sie scheiden kleinste Mengen von Zytokinen (Botenstoffen) aus. Da Zytokine die Kommunikation zwischen Lymphozyten und anderen weißen Blutkörperchen (Leukozyten) ermöglichen, werden sie auch Interleukine genannt. Krebssymptome wie cc Typische Gewichtsverlust oder Nachtschweiß werden durch Zytokine verursacht (Näheres Abschn. 3.2.) • Bei direktem Kontakt zwischen Zellen des Immunsystems kommt es zur Bindung zwischen bestimmten Eiweißen auf ihren Zell­ oberflächen. Durch diese Bindung können sich die Zellen gegenseitig beeinflussen, d. h. stimulieren oder hemmen.

D. Jäger et al.

identifizierte Molekül (das sog. Antigen) und produzieren in der Folge Antikörper dagegen. Antikörper sind Eiweiße, die mit einem Antigen reagieren und es binden. Die Bindung zwischen Antigen und Antikörper (Antigen-­ Antikörper-­Komplex) löst in der Regel weitere Schritte der Immunabwehr gegen ein Fremdeiweiß oder eine Fremdzelle aus, sodass es zur Zerstörung (Lyse) der Zielzelle kommen kann. Daneben werden auch sog. Gedächtniszellen gebildet, die bei einem späteren Kontakt mit dem gleichen Antigen zu einer viel schnelleren Immunantwort führen. Die humorale Abwehr ist v.  a. wichtig bei der Abwehr von Bakterien und Viren. Bei der Abwehr von Tumorzellen spielt sie wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle, hier steht die zellvermittelte Immunität im Vordergrund. Zellvermittelte Immunität Die zellvermittelte Immunität beruht v. a. auf den T-Lymphozyten (T-Zellen). Sie sind verantwortlich für die Zerstörung von körperfremdem Gewebe sowie von mit Viren infizierten Körperzellen. Auch die immunologische Abwehr von Tumorzellen erfolgt hauptsächlich über das System der T-Zellen. Es sind verschiedene T-Lymphozyten bekannt. Zu den wichtigsten gehören die zytotoxischen T-Lymphozyten: Die Erkennung eines Antigens führt zu ihrer Bindung an die Zielzelle und über zwei verschiedene Mechanismen zu deren Untergang: entweder durch „giftige“ Eiweiße (Perforine), die von zytotoxischen T-­Lymphozyten ausgeschieden werden und die Zellmembran der Zielzelle auflösen, oder durch Auslösung der Apoptose.

2.6.2 Immunsystem und maligne Tumoren

Humorale Abwehr Bei der humoralen Abwehr erkennen die B-­ Die meisten der mutierten Zellen, die jeden Tag im Lymphozyten mit ihren Rezeptoren das als fremd Körper entstehen, gehen zugrunde, bevor sich aus

2  Maligne Tumoren – Biologie und Pathologie

ihnen ein Tumor entwickeln kann. Daran sind zwei Kontrollmechanismen beteiligt: Sie gehen aufgrund der Kontrollen im Zellzyklus durch Apoptose zugrunde (Abschn.  2.2.1) oder sie werden vom Immunsystem erkannt und abgetötet. Bei Patienten mit einer Schwächung des Immunsystems (z.  B. durch HIV-Infektion oder immunsupprimierende Behandlung nach Organtransplantation) kommt es deshalb gehäuft zu malignen Tumoren. Weshalb aber kann das Immunsystem die Entwicklung maligner Tumoren nicht immer verhindern? entwickeln verschiedene cc Tumorzellen Mechanismen, die es ihnen erlauben, sich der Immunabwehr zu entziehen. Dazu gehört beispielsweise, dass die Tumorzellen auf ihrer Oberfläche Moleküle bilden, welche die Immunabwehr hemmen (Abb.  11.3). Diese Hemmung kann heute durch Medikamente, die sog. Checkpointhemmer, überwunden werden. Das heißt, die durch den Tumor gebildete Bremse des Immunsystems wird durch diese Medikamente gelöst (Abschn. 11.4.1). cc Neue Therapiestrategien nutzen somit das Immunsystem als Waffe gegen Tumorer­ krankungen.

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Literatur Zitierte Literatur Cotran RS, Kumar V, Robbins SL (1993) Grundlagen der allgemeinen Pathologie. Gustav Fischer, Stuttgart/ Jena/New York Karp G et  al (Hrsg) (2005) Molekulare Zellbiologie. Springer, Berlin/Heidelberg/New York Spornitz UM (2010) Anatomie und Physiologie, 6. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New York

Weiterführende Literatur Alberts B et  al (2017) Molekularbiologie der Zelle, 6. Aufl. Wiley-VCH, Weinheim

Internetadressen Krebsinformationsdienst: Grundlagen der Krebsentstehung. https://www.krebsinformationsdienst.de/ tumorarten/krebs-tumor-metastasen-definition.php. Zugriff 22.06.2023 Max-Planck-­Gesellschaft: http://www.max-­wissen.de/Fachwissen/bereich/Biologie.htm (weiterführende Texte und Videos zu biologischen Themen wie Apoptose, Steuerung des Zellzyklus, Epigenetik u. a. m.)

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Klinische Manifestationen maligner Tumoren Thomas Kroner

Maligne (lat.: bösartige) Tumoren verursachen je nach Ursprung und Lokalisation unterschiedliche Symptome. Im Vordergrund stehen in den meisten Fällen Probleme, die durch das lokale Wachstum des Primärtumors oder seiner Metastasen bedingt sind.

3.1 Symptome aufgrund des lokalen Tumorwachstums Bösartige Tumoren schädigen  – an ihrem Ursprungsort oder als Metastasen  – Gewebe und Organe durch zwei unterschiedliche Mechanismen: durch Infiltration, d.  h. durch Einwachsen in das umgebende Gewebe, oder durch Raumforderung, d. h. durch Druck auf umgebende Organe. Dies führt, abhängig von der Lokalisation des Tumors, zu unterschiedlichen lokalen Symptomen. Dazu gehören etwa: • Atemnot, Schluckstörungen oder Darmverschluss bei Kompression und Verlegung von Hohlorganen (Luftröhre, Speiseröhre, Darm), • Ödeme, Thrombosen und Embolien bei Kompression von Blutgefäßen, • Schmerzen bei Infiltration von Nervenwurzeln, • Blutungen bei Einwachsen in Gefäße etc. T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected]

Bei vielen Tumorerkrankungen wird die Diagnose erst aufgrund von metastasenbedingten Beschwerden oder Komplikationen gestellt. Knochenmetastasen können Schmerzen verursachen und zu spontanen Frakturen führen (pathologische Frakturen). Metastasen in inneren Organen können die Organfunktion beeinträchtigen und werden dadurch klinisch symptomatisch.

3.2 Paraneoplastische Symptome Neben diesen im weitesten Sinn mechanisch bedingten Symptomen treten bei sehr vielen Tumorpatienten Symptome auf, die nicht durch das lokale Tumorwachstum zu erklären sind und als paraneoplastische Symptome bezeichnet werden (paraneoplastisch: von griech.: para: bei, neben, Neoplasie: Neubildung). Häufige paraneoplastische Symptome sind z. B.: • Fieber (ohne Infekt), • Anämie (ohne Blutung), • Appetit- und Gewichtsverlust (ohne mechanische Behinderung im Magen-Darm-Trakt), • Juckreiz. Fieber, Nachtschweiß und Gewichtsabnahme werden  – falls paraneoplastisch bedingt  – auch als B-Symptome bezeichnet.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_3

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T. Kroner

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Paraneoplastische Symptome, etwa Appetitund Gewichtsverlust, können für die Patienten im Vordergrund stehen. Andererseits kann sich ein paraneoplastisches Symptom auch nur mit einer diskreten, asymptomatischen Veränderung eines Laborwertes manifestieren, z. B. mit einer leichten Erhöhung der Leukozyten (Leukozytose) oder des Kalziumwertes im Blut (Hyperkalzämie). (Tab. 3.1). Paraneoplastische Symptome werden v. a. bei fortgeschrittener Tumorerkrankung sehr häufig gefunden. Sie können jedoch auch bereits in einem sehr frühen Stadium auftreten und dann als erstes Symptom des Tumors zu seiner Diagnose führen. Die beste Maßnahme gegen paraneoplastische Syndrome ist die effektive Behandlung der zugrunde liegenden Tumorerkrankung. Ursachen Paraneoplastische Symptome werden durch Hormone, durch Zytokine oder durch Antikörper, d. h. durch immunologische Reaktionen ausgelöst: Durch Hormone ausgelöste Paraneoplasien  Die Zellen verschiedener maligner Tumo-

ren können Hormone oder hormonähnliche Substanzen bilden (Tab. 3.1) und in die Blutgefäße abgeben. Häufig handelt es sich dabei um Tumoren von Geweben, die normalerweise keine Hormone sezernieren, z. B. Bronchialkarzinome. Zytokinbedingte Paraneoplasien  Durch Zytokine (Abschn.  2.6.1) ausgelöste paraneoplastische Symptome wie Fieber oder Appetitund Gewichtsverlust sind ausgesprochen häufig und beherrschen gelegentlich das klinische Bild einer Tumorerkrankung. Die Zytokine werden sowohl von den Tumorzellen selbst wie auch von den umgebenden Entzündungszellen produziert. Antikörpervermittelte Paraneoplasien  Maligne Tumoren können die Bildung von Autoantikörpern, d.  h. von Antikörpern gegen köpereigene Strukturen auslösen. Solche Paraneoplasien manifestieren sich besonders häufig am Nervensystem: Autoantikörper gegen Nerven bzw. Nervenscheidenbestandteile führen zu anfangs reversiblen, später irreversiblen Schädigungen der betroffenen Nervenstrukturen mit entsprechenden Symptomen (Tab. 3.2).

Tab. 3.1  Durch Hormone verursachte paraneoplastische Syndrome. (Auswahl) Syndrom Cushing-­ Syndrom Hyperkalzämie Gynäkomastie

Hormon ACTH Parathormonähnliche Substanzen HCG

Symptome Schwäche, Striae, Hyperglykämie, Hypertonie Durst, Schwäche, Übelkeit, Verwirrung, Niereninsuffizienz Gynäkomastie

Tumoren SCLC Mammakarzinom, Myelom, NSCLC u. a. Hodentumoren, SCLC, NSCLC

ACTH  =  adrenokortikotropes Hormon, SCLC  =  „small cell lung cancer“ (kleinzelliges Bronchialkarzinom), HCG = humanes Choriongonadotropin (normalerweise in der Plazenta gebildet) Tab. 3.2  Durch Antikörper verursachte neurologische paraneoplastische Syndrome. (Auswahl) Syndrom Hirnstammenzephalitis Subakute zerebelläre Degeneration Subakute sensorische Neuropathie

Antigen Hu, Ma Yo, Tr Hu

Symptome Schwindel, Doppelbilder, Nystagmus Ataxie, motorische Sprachstörungen Sensibilitätsstörungen

SCLC = „small cell lung cancer“ (kleinzelliges Bronchialkarzinom)

Tumoren SCLC u. a. SCLC, Ovar u. a. SCLC, Mamma, Ovar

3  Klinische Manifestationen maligner Tumoren

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Beispiel

Literatur

Bei etwa 20  % aller Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom lassen sich Antikörper gegen das Antigen Hu nachweisen. Dieses wird auf der Oberfläche der Krebszellen exprimiert und löst offenbar die Bildung von Antikörpern aus. Verschiedene Typen von normalen Nervenzellen tragen ebenfalls das Hu-­Antigen und werden durch die Antikörper angegriffen und zerstört. Die betroffenen Patienten haben oft nur einen kleinen Tumor (möglicherweise aufgrund einer erfolgreichen immunologischen Abwehr). Gelegentlich ist aber die neurologische Symptomatik für das Überleben dieser Patienten entscheidend, und sie sterben an den Folgen der neurologischen Störung, bevor der Primärtumor metastasiert oder lokale Symptome verursacht. ◄

Weiterführende Literatur De Simoni D, Höftberger R (2018) Paraneoplastische neurologische Syndrome. Internist 59:151 Henzen C (2016) Paraneoplastische endokrine Syndrome. Rev Med Suisse 12:230

Internetadressen Paraneoplastische neurologische Syndrome: https://www. springermedizin.de/paraneoplastische-syndrome/internistische-diagnostik/paraneoplastische-neurologische-syndrome/15358860. Zugriff 21.06.2023

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Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren Katharina Buser

4.1 Einleitung Praktisch jedes Gewebe, Organ oder Organsystem kann Ausgangsort für einen malignen Tumor sein. Beim Menschen werden mehr als 100 Krebsarten unterschieden. Bei jeder dieser Erkrankungen richten sich Behandlung und Prognose nach der Histologie (Gewebetyp und Malignitätsgrad) sowie nach der anatomischen Ausbreitung. Diese Eigenschaften eines Tumors sind wichtige Bestandteile jeder Tumordiagnose und ermöglichen die Einteilung (Klassifikation) maligner Tumoren. Dieses Kapitel zeigt die Prinzipien auf, nach denen diese Einteilung erfolgt. cc Die Einteilung eines Tumors nach Gewebetyp und Malignitätsgrad (histologische Klassifikation und Grading) sowie die Stadieneinteilung (Staging) sind erste Voraussetzung für die Planung einer geeigneten Behandlung und für die Abschätzung der Prognose. Beispiel

Beim lokalisierten nichtkleinzelligen Karzinom der Bronchien wird als Erstbehandlung die Operation angestrebt. Das kleinzellige Bronchialkarzinom hingegen wird bereits in lokalisierten Stadien in der Regel mit Chemo-

therapie behandelt, da es sehr früh zur Metastasierung neigt. ◄ Zur Klassifikation der malignen Tumoren werden Einteilungen der WHO (World Health Organisation) und der UICC (International Union against Cancer; früher „Union Internationale contre le Cancer“) angewendet. Die einheitliche Klassifikation erlaubt die internationale Vergleichbarkeit von Studienergebnissen.

4.2 Einteilung nach Gewebetyp Die Einteilung nach dem Gewebetyp (histologische Klassifikation oder Typing) nimmt der Pathologe anhand von Gewebeproben vor. Sie beruht auf bestimmten, im Mikroskop erkennbaren Eigenschaften des Tumorgewebes. Nach dem Ausgangsgewebe werden die im Folgenden erläuterten Tumortypen unterschieden.

4.2.1 Karzinome cc Definition  Tumore, die aus epithelialen Geweben hervorgehen, werden Karzinome genannt.

K. Buser (*) Bremgarten, Schweiz e-mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_4

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K. Buser

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Epithelzellen bilden die Deckschicht von Haut und Schleimhäuten (Magen-Darm-Trakt, Luftwege, ableitende Harnwege, Genitaltrakt ­ usw.) und bilden Drüsen (Brustdrüsen, Bauchspeicheldrüse, Prostata usw.). Karzinome machen mit etwa 85 %1 den Großteil aller bösartigen Tumoren beim Menschen aus. Dazu gehören so häufige Tumoren wie das Mammakarzinom, das Lungen-, Kolon- oder Pankreaskarzinom. Mikroskopisch lässt sich feststellen, ob sich ein Karzinom aus Drüsengewebe oder aus einer mit Plattenepithel bedeckten Schleimhaut entwickelt hat:

4.2.3 Leukämien

• Adenokarzinome haben ihren Ursprung in drüsigen Schleimhäuten (z.  B. der Darmschleimhaut) oder in Drüsen (z. B. der Bauchspeicheldrüse). • Plattenepithelkarzinome entstehen in der Haut oder in mit Plattenepithel bedeckten Schleimhäuten z.  B. der Luftwege (Bronchuskarzinom), der Speiseröhre oder der Vagina.

cc Definition  Krebserkrankungen des lymphatischen Gewebes umfassen in erster Linie die malignen Lymphome und das Myelom.

4.2.2 Sarkome cc Definition  Bösartige Tumoren des Bindeund Stützgewebes nennt man Sarkome. Zu den Sarkomen gehören alle Tumoren des Binde- und Stützgewebes (mesenchymale Gewebe) wie Knorpel-, Knochen-, Muskel- und Fettgewebe. Sie sind relativ selten, ihr Anteil an den bösartigen Tumoren beträgt nur etwa 1 %. Entsprechend dem Ausgangsgewebe werden beispielsweise unterschieden: • Liposarkom (aus Fettgewebe), • Osteosarkom (aus Knochen).

Alle Angaben zur Häufigkeit nach: Krebs in Deutschland 2017/2018 (2021). 1 

cc Definition  Zu den bösartigen Erkrankungen des blutbildenden Systems (Knochenmark) zählen Leukämien und myelodysplastische Syndrome. Sie machen in Deutschland 2–3 % aller bösartigen Erkrankungen aus. Die im Kindesalter relativ häufige akute lymphatische Leukämie wird in Abschn. 44.1 näher beschrieben.

4.2.4 Lymphome

In Deutschland sind 4–5  % aller Tumorerkrankungen Lymphome. Sie werden in Kap. 43 beschrieben.

4.2.5 Tumoren des zentralen Nervensystems Unterschieden werden Hirntumoren, Rückenmarktumoren und seltene Tumoren peripherer Nerven. Am häufigsten sind bei Erwachsenen Gliome, bösartige Tumoren der Gliazellen. Die Gliazellen bilden ein Stützgerüst für die Nervenzellen und sind wichtig für den Stofftransport und Flüssigkeitsaustausch im Gehirn. Tumoren des zentralen Nervensystems sind bei Kindern relativ häufig (Abschn.  44.2). In der Krebsstatistik machen Tumoren des zentralen Nervensystems ca. 1,5 % aller malignen Tumoren aus.

4.2.6 Andere Tumoren Das Melanom hat seinen Ursprung in den Melaninpigment bildenden Zellen der Haut, der Schleimhäute oder der Aderhaut des Auges. 4–5 % aller malignen Tumore sind Melanome.

4  Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren

Als Keimzelltumoren (germinale Tumoren) werden Tumoren bezeichnet, die von den Keimzellen der Hoden oder  – seltener  – der Ovarien ausgehen. Keimzelltumoren des Hodens sind die häufigsten bösartigen Tumoren bei jungen Männern zwischen 20 und 45 Jahren. Ihr Anteil an allen Krebserkrankungen liegt bei 1,5  %. Es ist zu beachten, dass es sich beim häufigen Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs) nicht um einen Keimzelltumor, sondern um ein vom Epithel ausgehendes Karzinom handelt. Maligne Keimzelltumoren des Ovars sind sehr selten.

4.3 Einteilung nach dem Malignitätsgrad (Grading) Tumoren der gleichen histologischen Klassifikation können sich im Malignitätsgrad, d.  h. dem Grad der Bösartigkeit, stark unterscheiden: • Niedriger Malignitätsgrad: Tumoren mit niedrigem Malignitätsgrad zeigen ein langsameres Wachstum und eine geringere Neigung zur Metastasierung, d. h. eine bessere Prognose. • Hoher Malignitätsgrad: Tumoren mit hohem Malignitätsgrad zeigen ein rascheres Wachstum und hohe Aggressivität, d. h. eine schlechtere Prognose. Das maligne Gewebe kann in unterschiedlichem Ausmaß noch dem Gewebe gleichen, aus dem es hervorgegangen ist. Von Tumoren mit völlig unreifen, undifferenzierten Zellen bis zu solchen, die in Aussehen und Funktion der Ursprungszelle sehr ähnlich, d.  h. gut differenziert sind, finden sich alle Übergänge. Vereinfachend gilt, dass ein Tumor umso differenzierter (und damit weniger maligne) ist, je mehr feingewebliche Ähnlichkeit er mit seinem Ursprungsgewebe zeigt. So weist beispielsweise ein gut differenziertes Mammakarzinom noch brustdrüsenähnliche Strukturen auf, und in den Krebszellen lassen sich häufig – wie in normalen Brustdrüsenzellen  – die typischen Hormonrezeptoren nachweisen.

41 Tab. 4.1  Grading der WHO Skala 4-stufige Skala G1 = Grad I G2 = Grad II G3 = Grad III G4 = Grad IV 2-stufige Skala L H

Kennzeichen Gut differenziert Mäßig differenziert Schlecht differenziert Undifferenziert Low grade (G1/G2) High grade (G3/G4)

Grading  Die Einteilung nach dem Malignitätsgrad wird als Grading bezeichnet. Die WHO sieht dafür eine Unterteilung in 4 Stufen (G1–G4) oder in 2 Stufen (low grade = niedriggradig, high grade = höher-/hochgradig) vor (Tab. 4.1). Für einige Tumorarten sind andere, spezifische Grading-Systeme in Gebrauch, so z.  B. der Gleason-­Score für das Prostata-Ca (Abschn.  42.1). Das Grading erfolgt anhand von Merkmalen der einzelnen Krebszellen (Zytologie) wie auch des Gewebeaufbaus (Histologie).

4.4 Einteilung nach dem Tumorstadium (Staging) Ein wichtiges Einteilungsprinzip maligner Tumoren ist die Klassifikation nach dem Tumorstadium. Die Bestimmung des Tumorstadiums, das sog. Staging, erfolgt auf der Basis der anatomischen Tumorausbreitung. Das Staging, d. h. die Stadieneinteilung, ist für die Therapiewahl und für die Prognose von entscheidender Bedeutung. Die Stadieneinteilung wurde für jede einzelne Tumorart von Organisationen wie der UICC (International Union against Cancer) oder anderen internationalen Fachgesellschaften festgelegt und standardisiert. Sie wird regelmäßig an neue Erkenntnisse angepasst. Dank der Standardisierung des Stagings können Behandlungsresultate international verglichen werden.

K. Buser

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4.4.1 TNM-System Für die meisten Tumorarten erfolgt die Stadieneinteilung heute nach dem TNM-System der UICC. Es beruht auf der Beschreibung der Größe und Ausdehnung des Primärtumors (T für Tumor) und eines möglichen Befalls der Lymphknoten (N für engl. node: Knoten) oder entfernter Organe/Gewebe (M für Metastasen). Es geht davon aus, dass der Tumor vorerst lokalisiert ist, später jedoch in die Umgebung einwachsen oder Metastasen bilden kann. Das TNM-System ist deshalb auf Leukämien und Lymphome nicht anwendbar, da diese Krankheiten von Beginn an generalisiert („systemisch“) sind. Die Stadieneinteilung erfolgt hier nach gesonderten Klassifikationen. Seit dem 01.01.2017 gilt die 8. Auflage von TNM (TNM-8).

„TNM“

Das TNM-System ist eine Kurzschrift zur Beschreibung der Ausdehnung einer Tumorerkrankung. Es berücksichtigt • die anatomische Ausdehnung des Primärtumors (T), • das Fehlen oder Vorhandensein von regionären Lymphknotenmetastasen (N) und • das Fehlen oder Vorhandensein von Fernmetastasen (M).

Durch Hinzufügen von Ziffern zu diesen 3  Komponenten (TNM) wird das Stadium der Krebserkrankung definiert. Zur Kennzeichnung von bestimmten Situationen werden zusätzliche Zeichen benutzt, die vor oder nach den Buchstaben der TNM-Klassifikation stehen können.

Zusatzbezeichnungen bei TNM-­ Klassifikationen

• c: klinisches Stadium • p: pathologisches Stadium • m: Vorliegen von mehreren Primärtumoren • sn: Bestimmung des N-Stadiums nach der Sentinel-Methode • i: Untersuchung der Lymphknoten mit immunhistologischen Techniken • y: Stadieneinteilung nach Durchführung einer nichtoperativen Therapie (Radiotherapie oder medikamentöse Tumortherapie) • r: Stadieneinteilung bei Rezidiv • L0/1: Invasion in Lymphgefäße oder Tumorzellemboli in Lymphgefäße (keine/vorhanden) • V0/1/2: Invasion in Venen (keine/mikroskopisch/makroskopisch)

Man unterscheidet je nach Zeitpunkt, zu dem die Stadieneinteilung vorgenommen wird, zwischen einem klinischen (meist präoperativen) Staging und einem pathologischen (meist postoperativen) Staging. Beruht die Stadieneinteilung bei einem Patienten auf einem klinischen Staging, wird die Bezeichnung „c“ („clinical“) vorangestellt (cTNM-Stadien). Sie beruht auf Befunden vor Einleitung der Therapie (klinische Untersuchung, bildgebende Verfahren, Endoskopie, Biopsie). Beruht die Beurteilung auf einer pathologischen Klassifikation, d.  h. der mikroskopischen Untersuchung des bei der Operation entfernten Gewebes, wird die Bezeichnung „p“ beigefügt (pTNM-Stadien). Das pathologische Staging berücksichtigt die zusätzlichen Befunde, die bei einer Operation erhoben werden.

4  Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren

43

Tab. 4.2  Klinische Einteilung des Mammakarzinoms, vereinfacht. (Nach Wittekind und Meyer 2020) T TX T0 Tis T1 - T1mi - T1a - T1b - T1c T2 T3 T4 - T4a - T4b - T4c - T4d N NX N0 N1 N2a N2b N3a N3b N3c M M0 M1

Primärtumor Primärtumor kann nicht beurteilt werden Kein Anhalt für Primärtumor Carcinoma in situ Tumor maximal 2 cm im größten Durchmesser Mikroinvasion 0,1 cm oder weniger im größten Durchmesser größer 0,1 cm bis maximal 0,5 cm im größten Durchmesser größer 0,5 cm bis maximal 1 cm im größten Durchmesser größer 1 cm bis maximal 2 cm im größten Durchmesser Tumor größer als 2 cm bis maximal 5 cm im größten Durchmesser Tumor größer als 5 cm im größten Durchmesser Tumor jeder Größe mit direkter Ausdehnung auf Brustwand oder Haut, soweit unter T4a–T4d beschrieben Ausdehnung auf Brustwand (Rippen, Interkostalmuskulatur, vorderer Serratusmuskel) Ödem (einschließlich „peau d’orange“) oder Ulzeration der Brusthaut oder Satellitenknötchen der Haut der gleichen Brust Kriterien 4a und 4b Entzündliches (inflammatorisches) Karzinom Regionäre Lymphknoten Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden Keine regionären Lymphknotenmetastasen Metastase(n) in beweglichen gleichseitigen axillären Lymphknoten der Level I und II Metastase(n) in gleichseitigen axillären Lymphknoten, untereinander oder an andere Strukturen fixiert Metastase(n) in klinisch erkennbaren ipsilateralen Lymphknoten entlang der A. mammaria interna in Abwesenheit klinisch erkennbarer axillärer Lymphknotenmetastasen Metastase(n) in gleichseitigen infraklavikulären Lymphknoten Metastase(n) in gleichseitigen Lymphknoten entlang der A. mammaria interna in Anwesenheit axillärer Lymphknotenmetastasen Metastase(n) in gleichseitigen supraklavikulären Lymphknoten Fernmetastasen Keine Fernmetastasen Fernmetastasen vorhanden

Es ist präziser als das klinische und liefert zuverlässigere Daten für die Abschätzung der Prognose und für die Notwendigkeit einer zusätzlichen Therapie. Tab.  4.2 zeigt als Beispiel die klinische (präoperative) TNM-Stadieneinteilung des Mammakarzinoms. Beispiel

Lymphknotenentfernung (Abschn. 39.1) ergibt die Stadieneinteilung desselben Mammakarzinoms: pT1c N0(sn)(0/2)(i-) M0. Das postoperative Stadium zeigt, dass in diesem Fall der Primärtumor histologisch kleiner war als radiologisch vermutet. Es zeigt zudem, dass 2  Sentinel-Lymphknoten (sn) entfernt wurden, die weder nach der konventionellen histologischen Untersuchung (0/2) noch nach immunhistochemischer Spezialfärbung (i-) tumorbefallen waren. ◄

Ein durch Biopsie gesichertes Mammakarzinom mit einer durch Bildgebung bestimmten Ausdehnung von 2,5  cm, bei dem klinisch und radiologisch keine Lymphknoten- cc Die pTNM-Klassifikation gibt Hinweise auf die Prognose und bestimmt die oder Fernmetastasen nachgewiesen wurden, Behandlungsform (Operation, Radiotherapie, erhält das Tumorstadium cT2 N0  M0. Nach Chemotherapie etc.). der Operation mit Tumorektomie und Sentinel-­

K. Buser

44 Tab. 4.3  Einteilung von Tumoren nach Stadium Stadium Stadium 0 Stadium I Stadium II Stadium III Stadium IV

Erklärung Präinvasives Karzinom (Carcinoma in situ) Frühe lokale Invasion, keine Metastasen Begrenzte lokale Tumorausbreitung mit minimalem regionalem Lymphknotenbefall Ausgedehnter lokaler Tumorbefall mit extensivem regionalem Lymphknotenbefall Normalerweise inoperable extensive Ausbreitung des Tumors und starker Befall der Lymphknoten; oder jeder Befund mit Fernmetastasen ohne Berücksichtigung der lokalen Tumorausbreitung

4.4.2 Stadiengruppierung Verschiedene TNM-Kategorien werden in sog. Stadiengruppierungen zusammengefasst, die Tumorausbreitungen mit ähnlicher Prognose bezeichnen. Diese Stadien werden nach Empfehlungen der UICC oder AJCC (American Joint Committee on Cancer) mit römischen Ziffern bezeichnet, üblicherweise von 0–IV. Die Bedeutung dieser Stadien für die meisten soliden Tumoren zeigt Tab. 4.3.

4.4.3 Ann-Arbor-Stadieneinteilung für maligne Lymphome

Tab. 4.4 R-Klassifikation Stadium Erklärung RX Vorhandensein oder Fehlen von Resttumor kann nicht beurteilt werden R0 Weder makroskopisch noch mikroskopisch ist Resttumor nachweisbar R1 Mikroskopisch ist Resttumor nachweisbar (z. B. an den Resektionsrändern) R2 Makroskopisch ist Resttumor nachweisbar

4.5 R-Klassifikation (Residualtumorklassifikation) Die R-Klassifikation (Tab.  4.4) ist  – neben der Erfassung der TNM-Kategorien  – essenzieller Bestandteil der Tumorklassifikation zur Beschreibung des Tumorstatus nach operativer Therapie (Kap. 6). cc Das Fehlen oder Vorhandensein von Resttumor nach einer Behandlung wird durch die R-Klassifikation angegeben. Für die Prognose ist entscheidend, ob der Tumor komplett im Gesunden entfernt wurde oder ob Resttumor zurückblieb. Die Bezeichnung R0 entspricht einer vollständigen und potenziell kurativen Tumorentfernung.

Für die malignen Lymphome gilt die Ann-­Arbor-­ Stadieneinteilung. Sie wird in Abschn. 43.2 näher 4.6 Klassifikation nach immunhistochemischen oder beschrieben.

4.4.4 FIGO-Stadieneinteilung der gynäkologischen Tumoren Für die gynäkologischen Tumoren wird nach wie vor die Stadieneinteilung der FIGO (International Federation of Gynecology and Obstetrics) angewandt. Sie ist allerdings mittlerweile weitgehend mit der TNM-Klassifikation in Übereinstimmung gebracht worden.

molekulargenetischen Eigenschaften

Neben der konventionellen histologischen Untersuchung von angefärbten Gewebeschnitten stehen dem Pathologen weitere, moderne Methoden wie die Immunhistochemie oder molekulargenetische Untersuchungen zur Verfügung. Damit können Tumoren oft besser klassifiziert und gezielter behandelt werden.

45

4  Einteilung und Klassifikation maligner Tumoren

Literatur

Beispiele

Beim Mammakarzinom gehören neben der Histologie auch die immunhistochemische Bestimmung der Östrogen- und Progesteronrezeptoren, die Bestimmung des Proliferationsmarkers Ki-67sowie der Her-2-Expression zum Standard und stellen wichtige Zusatzinformationen für die Therapiewahl dar. Beim Adenokarzinom der Lunge wird routinemäßig auf das Vorliegen einer EGFR-­ Mutation getestet, da bei deren Nachweis EGFR-­Inhibitoren (Abschn.  11.3) zur Behandlung eingesetzt werden können. ◄

4.7 Kombination verschiedener Einteilungssysteme Bei der Beschreibung von Tumorerkrankungen werden häufig verschiedene Klassifikationssysteme kombiniert, etwa Stadieneinteilung, Histologie und Differenzierungsgrad. Hinzu kommen möglicherweise Angaben über das Vorhandensein von Hormonrezeptoren oder anderen prognostisch wichtigen Faktoren (Abb. 4.1).

Diagnose:

invasives duktales

Mammakarzinom

Zitierte Literatur Krebs in Deutschland 2017/2018. 13. Ausgabe (2021). Robert Koch-Institut (Hrsg) und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. (Hrsg). Berlin. www.krebsdaten.de. Zugriff 21.06.2023 Wittekind C, Meyer HJ (Hrsg) (2020) TNM-­Klassifikation maligner Tumoren, 8. Aufl., korrigierter Nachdruck. Wiley-VCH, Weinheim

Weiterführende Literatur Amin MB et al (Hrsg) (2018) AJCC cancer staging manual, 8. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New York

Internetadressen DIMDI, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information: http://www.dimdi.de (ICD-Klassifikationen). Zugriff 22.06.2023 Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg: Befunde verstehen – Arztbriefe, TNM-System: https://www.krebsinformationsdienst. de/untersuchung/krebs-befunde-verstehen.php#inhalt18. Zugriff 22.06.2023

pT2a N1 M0 G2

Hormonrezeptoren positiv

Her2 negativ

Ki-67 negativ

Histologie:

Gewbeursprung zusätzliche morphologische Beschreibung Stadium:

(Tumorausbreitung) Malignitätsgrad Weitere prognostische Faktoren

Abb. 4.1  Beispiel für eine Kombination verschiedener Einteilungssysteme: Klassifikation eines Mammakarzinoms

5

Epidemiologie und Risikofaktoren Katharina Buser

5.1 Einleitung Patienten und Angehörige stellen häufig Fragen nach den Ursachen bösartiger Tumoren. Die Beantwortung dieser Fragen setzt Kenntnisse der Risikofaktoren voraus, d. h. von Faktoren, die die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Krebsarten beeinflussen. Für ihr Verständnis müssen einige Begriffe der Epidemiologie eingeführt werden. Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Verbreitung sowie den Ursachen und Folgen von Krankheiten in Bevölkerungen oder Bevölkerungsgruppen. In der Onkologie befasst sich die Epidemiologie mit der Erfassung von:

5.2 Einige epidemiologische Begriffe 5.2.1 Inzidenz und Inzidenzrate cc Definition  Unter Inzidenz versteht man die Anzahl der Neuerkrankungen in einer definierten Bevölkerung während eines bestimmten Zeitraums (meist 1  Jahr). Sie ist ein Maß für die Häufigkeit der Erkrankung. Die Inzidenzrate bezeichnet die Inzidenz bezogen auf 100.000 Einwohner.

Beispiel

• Krebshäufigkeit, • Krebssterblichkeit, • Risikofaktoren.

K. Buser (*) Bremgarten, Schweiz e-mail: [email protected]

Die Inzidenz des Mammakarzinoms lag 2018  in Deutschland bei 69.900 Frauen und 720 Männern. Das bedeutet: In diesem Jahr erkrankten 69.900 Frauen und 720 Männer neu an Brustkrebs. Die Inzidenzrate betrug bei den Frauen 166, bei den Männern 1,7. Das heißt, von 100.000 Frauen erkrankten 166 neu an Brustkrebs, von 100.000 Männern 1,7.1 ◄

Alle Daten für Inzidenz und Mortalität nach: Krebs in Deutschland für 2017/2018 1 

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_5

47

K. Buser

48

5.2.2 Mortalität und Mortalitätsrate cc Definition  Die Mortalität bezeichnet die Anzahl von Todesfällen an einer Erkrankung in einer definierten Bevölkerung während eines bestimmten Zeitraumes (meist 1 Jahr). Die Mortalitätsrate bezeichnet die Mortalität bezogen auf 100.000 Einwohner. Beispiel

2018 starben in Deutschland 18.591 Frauen und 195 Männer an Brustkrebs. Diese Zahl bezeichnet die Mortalität an Brustkrebs. Die Mortalitätsrate lag bei den Frauen bei 44,3 und bei den Männern bei 0,5, das bedeutet,

a

dass 2018 von 100.000 Frauen 44,3 und von 100.000 Männern 0,5 an Brustkrebs starben. ◄ In der Rangliste der Todesursachen stehen Krebserkrankungen in den westlichen Industrieländern an zweiter Stelle nach Herz- und Kreislauferkrankungen. In Deutschland waren 2020 rund ein Viertel aller Todesfälle auf Krebs zurückzuführen. Zeitliche Trends Veränderungen von Mortalitätsraten geben oft wichtige Hinweise auf Risikofaktoren oder die Wirksamkeit von Vorsorge- und Behandlungsmaßnahmen. Abb.  5.1 zeigt Veränderungen der Sterblichkeit der wichtigsten Tumorarten in Europa von

b

Männer

Frauen

60

20

50

Todesfälle pro 100.000 Ein wohner

Brus t 40

15 Lunge Lunge

30 10

Kolorektum

20 Kolorektum

Pank reas Uterus

5 Prostata Pank reas Magen Leuk ämie

10

Mage n Leukämie n 0

0 1970

1980

1990

2000 Jahr

2010

2020

Abb. 5.1  Die häufigsten Krebstodesursachen in Europa 1970 bis 2014 sowie die für 2015 prognostizierte Sterblichkeit bei (a) Männern und (b) Frauen. Bei Frauen neh-

1970

1980

1990

2000 Jahr

2010

2020

men die Todesfälle an Lungenkrebs weiter zu, während die Mortalität an Brustkrebs abnimmt. (Nach Malvezzi et al. 2015)

49

5  Epidemiologie und Risikofaktoren

1970–2014 sowie die prognostizierte Sterblichkeit für 2019: • Während die Sterblichkeit an Lungenkrebs bei Männern dank veränderter Rauchgewohnheiten seit etwa 1985 abnimmt, steigt sie bei Frauen entsprechend ihrem vermehrten Zigarettenkonsum weiter an. • Die Sterblichkeit an Brustkrebs bei Frauen nimmt weiterhin deutlich ab. Dabei spielen sowohl Früherkennung durch Screeningprogramme als auch neuere Therapieformen (adjuvante Systemtherapie) eine Rolle. • Aufgrund sinkender Inzidenz, wahrscheinlich wegen veränderter Essgewohnheiten, ist die Mortalität an Magenkrebs in Europa sowohl bei Frauen als auch bei Männern schon seit Längerem deutlich rückläufig. Überlebensraten Als Maß für den Behandlungserfolg bei einer bestimmten Erkrankung können absolute und relative Überlebensraten berechnet werden. Bei Krebserkrankungen werden meist 5-Jahres- oder 10-Jahres-Überlebensraten berechnet. cc Definitionen  Die absolute Überlebensrate stellt den Anteil der Patienten dar, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nach ihrer Diagnose noch leben. Die relative Überlebensrate berücksichtigt, dass nicht alle Sterbefälle auf die Krebserkrankung zurückzuführen sind: Sie entspricht dem Verhältnis (Quotienten) von absoluter Überlebensrate von Krebspatienten zur Überlebensrate einer Gruppe von Menschen gleichen Alters und gleichen Geschlechts aus der Gesamt-

bevölkerung. Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, die auf die Krebsdiagnose folgenden 5 oder 10 Jahre zu überleben, bezogen auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von gleichaltrigen, nicht an Krebs erkrankten Personen. Beispiel

• Ein absolutes 5-Jahres-Überleben von 80  % bedeutet, dass 80 von 100 an einer bestimmten Krebsart erkrankte Personen die ersten 5 Jahre nach ihrer Diagnose überlebt haben. • Liegt das absolute 5-Jahres-Überleben einer gleichaltrigen nicht krebskranken Bevölkerung z. B. bei 90 % (10 % versterben in den 5 Jahren an anderen Krankheiten), so beträgt das relative 5-Jahres-Überleben an der untersuchten Krebskrankheit 89 % (80/90). ◄ Das relative Überleben ist immer höher als das entsprechende absolute Überleben. Beispielhaft zeigt Tab.  5.1 relative Überlebensraten für das Mammakarzinom in verschiedenen Stadien. cc Die 5-Jahres-Überlebensrate darf nicht mit einer Heilungsrate gleichgesetzt werden. Der früher oft gebrauchte Begriff der „5-­Jahres-Heilung“ wurde daher verlassen: Viele Tumorerkrankungen, z. B. das Mammakarzinom, können auch viele Jahre nach Diagnose und Erstbehandlung rezidivieren und damit zum Tod führen. Bei diesen Krankheiten sind absolute und relative Überlebensraten nach 10 Jahren deutlich geringer als nach 5 Jahren. Anders ist die Situation bei Tumoren, bei denen Spätrezidive selten auf-

Tab. 5.1  Relative Überlebensraten für Brustkrebs. (Nach Daten des Tumorregisters München für Diagnosenjahrgänge 1998–2020, https://www.tumorregister-muenchen.de Zugriff 22.06.2023)

Nach 5 Jahren Nach 10 Jahren Nach 15 Jahren

Stadium I - Kleiner Primärtumor - Keine Lymphknoten - Keine Fernmetastasen 100 % 99 % 95 %

Stadium IV Fernmetastasen

28 % 14 % 9 %

K. Buser

50

treten, z. B. beim Dickdarmkarzinom: Hier sinkt die relative Überlebensrate zwischen 5 und 10 Jahren nur gering, da die Patienten ein der Normalbevölkerung vergleichbares Überleben haben.

5.3 Risikofaktoren 5.3.1 Begriffsbestimmung Durch die Untersuchung von Bevölkerungsgruppen, bei denen bestimmte Krankheiten besonders häufig auftreten, können Risikofaktoren für die Entstehung der Krankheit erkannt und präventive Maßnahmen entwickelt werden. cc Definition  Faktoren, die die Entstehung einer bestimmten Erkrankung beeinflussen, bezeichnet man als Risikofaktoren. Sie können das Erkrankungsrisiko erhöhen oder verringern, also in beide Richtungen beeinflussen. Die Identifizierung der Risikofaktoren erfolgt mit statistischen Methoden: Es wird das Risiko berechnet, dass die Exposition gegenüber einem oder mehreren Einflussfaktoren zur untersuchten Erkrankung führt. Dieses Risiko kann absolut oder relativ angegeben werden. Als absolutes Risiko wird die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, während eines bestimmten Zeitraums an einer bestimmten Krankheit zu erkranken oder zu sterben. Das relative Risiko bezeichnet das Verhältnis des absoluten Krankheitsrisikos einer exponierten Bevölkerung zum absoluten Risiko einer nicht exponierten Bevölkerung. Ein relatives Risiko größer als 1 bedeutet eine Erhöhung des Risikos und entspricht einem „Risikofaktor“. Ein relatives Risiko kleiner als 1 bedeutet eine Verminderung des Risikos und entspricht einem „Schutzfaktor“. Beispiel

Das absolute Risiko für einen 35-jährigen Mann, in den nächsten 10 Jahren an Krebs zu erkranken, beträgt 1,2  %. D.  h., von 1000 35-jährigen Männern erkranken 12 innerhalb

der nächsten 10 Jahre an Krebs. Das absolute Krebserkrankungsrisiko für einen 65-jährigen Mann ist mit 20 % deutlich höher. Das relative Risiko für einen 65-jährigen Mann im Vergleich zu einem 35-jährigen Mann beträgt 16,7 (20 %/1,2 %), ist also um den Faktor 16,7 höher. Das höhere Alter wird deshalb als „Risikofaktor“ bezeichnet. Umgekehrt beträgt das relative Risiko für einen 35-jährigen im Vergleich zu einem 65-­jährigen Mann 0,06 (1,2  %/20  %). Das jüngere Alter kann also als „Schutzfaktor“ gegen Krebs betrachtet werden. ◄ Für alle Risikofaktoren gilt, dass primär lediglich ein statistischer Zusammenhang zwischen ihnen und dem häufigeren oder selteneren Auftreten der entsprechenden Krebskrankheit gesichert ist, aber nicht notwendigerweise auch eine ursächliche Beziehung.

5.3.2 Unterschiedliche Typen von Risikofaktoren Risikofaktoren können Einflüsse von außen (z. B. ultraviolette oder radioaktive Strahlung) oder persönliche Verhaltensweisen, sog. Lebensstilfaktoren (z.  B.  Rauchgewohnheiten, Alkoholgenuss, Ernährung oder Übergewicht), sein. Auch Alter und Geschlecht sind wichtige Risikofaktoren, ebenso genetisch bedingte Veranlagungen. Oft sind Risikofaktoren nicht eindeutig einer dieser Gruppen zuzuordnen: Übermäßige Sonnenexposition  – ein Risikofaktor für die Entstehung von bösartigen Tumoren der Haut – kann beispielsweise sowohl als Umweltfaktor wie als verhaltensbedingt betrachtet werden. Auch in bestimmten Berufsgruppen kann das Krebsrisiko erhöht sein. Vereinfachend können Risikofaktoren eingeteilt werden in: • unbeeinflussbare Risiken, z. B. Alter oder Geschlecht, vererbte Anlagen u. a., und • beeinflussbare (und teils vermeidbare) Risiken, z. B. Ernährungsgewohnheiten, Genussmittelkonsum, Risiken in Beruf und Freizeit, ionisierende und ultraviolette Strahlen u. a.

51

5  Epidemiologie und Risikofaktoren

Einzelne Risikofaktoren werden im Folgenden im Detail diskutiert. Bereits hier sei jedoch festgehalten: • Für die meisten Krebserkrankungen sind mehrere Risikofaktoren bekannt. Die Bedeutung (das „Gewicht“) der einzelnen Faktoren ist sehr unterschiedlich (Tab. 5.2). • Einige Faktoren (z. B. Alter, Rauchen) beeinflussen das Risiko für viele verschiedene Krebserkrankungen. • Andere Faktoren (z.  B.  Erbanlagen, Virusinfektionen) beeinflussen das Risiko nur für bestimmte Krebserkrankungen. • Bei vielen Risikofaktoren sind Dauer und Intensität der Exposition von Bedeutung (so bei Zigarettenrauchen, ultravioletten Strahlen etc.). Seit über das Thema Krebs nachgedacht wird, wird auch immer wieder die Frage gestellt, ob psychische Faktoren an der Krebsentstehung ursächlich beteiligt sein können. So wurde etwa beTab. 5.2 Risikofaktoren für die Erkrankung an einem kolorektalen Karzinom (Auswahl). Für verschiedene Faktoren wird das relative Risiko dargestellt, an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken. So ist beispielsweise für eine ältere Person das Erkrankungsrisiko 10- bis 20-mal höher als für eine jüngere Person, und das Risiko ist für einen Menschen, der regelmäßig 3 oder mehr Gläser Alkohol trinkt, 1,3-mal höher als für einen Abstinenten. Beim kolorektalen Karzinom sind unbeeinflussbare Faktoren gewichtiger als beeinflussbare. (Nach Daten aus McLaughlin und Gallinger 2005; American Cancer Society 2020) Faktoren, die das Risiko erhöhen (Auswahl) Unbeeinflussbar Höheres Alter 2 oder mehr Verwandte 1. Grades mit kolorektalem Karzinom Beeinflussbar Übergewicht (BMI ≥ 30) Erhöhter Alkoholkonsum (> 3 Gläser/ Tag) Faktoren, die das Risiko vermindern (Auswahl) Körperliche Aktivität

Relatives Risiko 10–20 4

1,3 1,3

0,7

hauptet, Eigenschaften wie Ängstlichkeit, Autoritätsgläubigkeit, Religiosität, gehemmte Sexualität oder Kontaktarmut charakterisierten eine „Krebspersönlichkeit“, d.  h. Menschen mit einem erhöhten Risiko, an Krebs zu erkranken. cc Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht bestehen keine Hinweise auf die Existenz einer sog. Krebspersönlichkeit. In zahlreichen Untersuchungen gelang es nie, direkte Zusammenhänge zwischen psychischen Faktoren und dem Entstehen einer Krebskrankheit aufzuzeigen (Abschn. 21.6.2). Einige mit dem Lebensstil verbundene Risikofaktoren, z.  B.  Rauchen oder Alkoholgenuss, können allerdings als psychosoziale Risikofaktoren im weiteren Sinne betrachtet werden.

5.4 Unbeeinflussbare Risikofaktoren 5.4.1 Alter Höheres Alter stellt den wichtigsten Risikofaktor für eine Krebserkrankung dar. Obwohl Krebs in jedem Alter auftreten kann, haben ältere Menschen das größte Risiko, an einem bösartigen Tumor zu erkranken (Tab. 5.3). Grund dafür ist, dass sich die Wirkungen schädlicher äußerer Einflüsse wie auch risikofördernde Lebensstilfaktoren über die Lebensjahre „aufsummieren“, während zugleich zelluläre Reparaturmechanismen störungsanfälliger werden. Tab. 5.3  Erkrankungsrisiko an Krebs in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht. (Nach Krebs in Deutschland 2017/2018 2021) Männer im Alter von 35 Jahren 75 Jahren Frauen im Alter von 35 Jahren 75 Jahren

in den nächsten 10 Jahren 1 % 1 von 82 26 % 1 von 4 in den nächsten 10 Jahren 2 % 1 von 45 16 % 1 von 6

K. Buser

52

5.4.2 Geschlecht Häufigkeit und Mortalität verschiedener Organtumoren sind bei Mann und Frau unterschiedlich. In Europa steht beim Mann bei den Neuerkrankungen (aber nicht bei der Mortalität!) Prostata­krebs, bei der Frau Brustkrebs an erster Stelle. Lungen-, Dickdarm-, Blasen- und Magenkrebs sind bei Männern häufiger als bei Frauen. Die Unterschiede beruhen  – abgesehen von den Tumoren der Geschlechtsorgane  – weniger auf dem Geschlecht an sich als vielmehr auf unterschiedlicher Exposition gegenüber Risikofaktoren wie z. B. Alkohol- oder Zigarettenkonsum.

5.4.3 Genetische Risikofaktoren und familiäre Krebserkrankungen Vererbte Mutationen, sog. Keimbahnmutationen, sind in den Keimzellen (Ei- bzw. Samenzellen) und allen Körperzellen nachweisbar. Betreffen sie Gene, die die Zellteilung kontrollieren, ist in den betroffenen Familien das Risiko für bestimmte Krebserkrankungen erhöht. 5–10 % aller Tumorerkrankungen sind erblich bedingt. Dazu gehören der familiäre Brust- und Eierstockkrebs sowie verschiedene Formen von familiärem Dickdarmkrebs.

Typische Merkmale von familiären Krebserkrankungen

• Der Tumor tritt oft in einem ungewöhnlich frühen Alter auf (z.  B.  Mammakarzinom bei einer 20-jährigen Frau). • Der Tumor tritt oft doppelseitig auf (z. B. beidseitiges Ovarialkarzinom). • Es treten oft beim selben Patienten verschiedene Primärtumoren auf (z. B. Dickdarm- und Magenkarzinom). • Seltene Tumorarten an ungewöhnlichen Lokalisationen. • In der Verwandtschaft finden sich Angehörige mit der gleichen oder anderen Krebserkrankungen.

Methoden der Gentechnologie erlauben die Diagnose von bekannten, mit einem erhöhten Krebsrisiko verbundenen Mutationen. Dies ermöglicht es, bei Angehörigen von Risikofamilien festzustellen, ob sie die Mutation – und damit das erhöhte Risiko für die Entwicklung der entsprechenden Tumorkrankheit – geerbt haben. Familiärer Brust- und Eierstockkrebs Für die Entstehung dieser häufigsten erblich bedingten Tumorkrankheit sind Mutationen in den sog. Brustkrebsgenen BRCA1 und BRCA2 („breast cancer“) verantwortlich. Etwa eine von 500 Personen trägt eine Mutation im BRCA1-­ Gen, etwa eine von 700 Personen eine Mutation im BRCA2-Gen. Das Risiko für Frauen mit einer BRCA1-­ Mutation, an Brustkrebs zu erkranken, beträgt bis zum Alter von 70 Jahren etwa 85 %. Gleichzeitig ist das Risiko für das Auftreten von Ovarialkarzinomen deutlich erhöht. Bei Trägerinnen von Mutationen von BRCA1/2 wird deshalb eine präventive Mastektomie, evtl. auch Ovarektomie diskutiert (Abschn. 39.1).

5.5 Vermeidbare Risikofaktoren Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass sich weltweit ca.  40  % aller Krebsfälle bei Männern und ca. 10 % bei Frauen durch Vorbeugung bzw. Vermeidung von Risiken verhindern ließen. Diese Risiken sind das lohnende Ziel präventiver Maßnahmen (Kap. 6).

5.5.1 Rauchen Das Inhalieren von Tabakrauch ist mit Abstand der bedeutendste Krebsrisikofaktor. Tabakrauch ist ein komplexes Gemisch chemischer Substanzen und enthält stark wirksame Karzinogene. cc 35  % aller Krebstodesfälle bei den Männern und 13  % bei den Frauen zwischen 35 und 69 Jahren sind auf Tabakkonsum zurückzuführen und somit prinzipiell vermeidbar.

53

5  Epidemiologie und Risikofaktoren Männer

Rauchen Luftröhre, Bronchien und Lunge

30 448

Darm Blase Nieren und Nierenbecken

9 112 3 087 3 001 2 900

Lippe, Rachen und Mundhöhle Magen Bauchspeicheldrüse

2 589 2 469

Myeloishe Leukämie

651 0

5 000

10 000

15 000

20 000

25 000

30 000

35 000

Neuerkrankungen/Jahr Frauen

Rauchen Luftröhre, Bronchien und Lunge

15 410

Darm Bauchspeicheldrüse Nieren und Neirenbecken

4 150 1 350 1 100

Myeloische Leukämie

380 0

5 000

10 000

15 000

20 000

25 000

30 000

35 000

Neuerkrankungen/Jahr

Abb. 5.2  Jährliche Neuerkrankungen (Auswahl), die auf Rauchen zurückzuführen sind (geschätzte Zahlen für Deutschland 2018). (Nach Mons et al. 2018, mit freundl. Genehmigung)

Tabak verursacht auch tödliche Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Die WHO schätzt, dass ein Sechstel aller Todesfälle auf Tabakrauchen zurückzuführen ist. Der Zusammenhang zwischen Rauchen und verschiedenen Krebserkrankungen ist gesichert (Abb. 5.2). cc Bei einem Raucher ist das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, 40- bis 60-mal höher als bei einem Nichtraucher. Dabei besteht eine direkte Korrelation zwischen Anzahl und Teergehalt der gerauchten Zigaretten, der Zahl der „Raucherjahre“ und dem Krebsrisiko. Während Neuerkrankungen und Sterblichkeit an Lungenkrebs bei Männern seit den späten 1980er-Jahren abnehmen, nehmen sie bei den Frauen, entsprechend ihrem vermehrten Zigarettenkonsum, zu (Abb. 5.1). Das Passivrauchen bedroht die Lebenserwartung von Nichtrauchern. In Deutschland verursacht Passivrauchen jährlich ca. 260 Todesfälle durch Lungenkrebs.

5.5.2 Alkoholkonsum Übermäßiger Alkoholgenuss erhöht dosisabhängig das Risiko für die Erkrankung an verschiedenen Krebsarten (Abb. 5.3). Dies ist in der Bevölkerung vielfach nicht hinreichend bekannt. cc Etwa 6  % aller Krebstodesfälle sind auf Alkoholkonsum zurückzuführen und somit prinzipiell vermeidbar. Alkohol verstärkt zudem die karzinogene Wirkung des Tabakrauchs, d. h., starke Raucher mit hohem Alkoholkonsum haben ein besonders hohes Krebsrisiko.

5.5.3 Ernährung Der Stellenwert der Ernährung als Risikofaktor variiert je nach Krebsart. So besteht wahrscheinlich kein Zusammenhang zwischen Ernährung und Tumoren des blutbildenden Systems. Hingegen spielen Ernährung und Nährstoffe bei der

K. Buser

54 Männer Alkohol

Lippe, Rachen und Mundhöhle

3 191 2 601

Darm Leber

890 0

5 000

10 000

15 000

20 000

25 000

30 000

35 000

Neuerkrankungen/Jahr Frauen

Alkohol Brust Darm Lippe, Rachen und Mundhöhle

870 302 194 0

5 000

10 000

15 000

20 000

25 000

30 000

35 000

Neuerkrankungen/Jahr

Abb. 5.3  Jährliche Neuerkrankungen (Auswahl), die auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind (geschätzte Zahlen für Deutschland 2018). (Nach Mons et al. 2018, mit freundl. Genehmigung)

Entstehung einiger der häufigen Krebsarten wie Brust- oder Dickdarmkrebs sehr wohl eine Rolle. cc Die Art der Ernährung kann das Krebsrisiko sowohl erhöhen als auch reduzieren. Der Zusammenhang zwischen Ernährungsweise und Krebsinzidenz wurde von Experten in einem Bericht zusammengefasst (World Cancer Research Fund 2018). Dieser Bericht kommt u. a. zu folgenden Feststellungen: Täglicher Obst- und Gemüseverzehr hat wahrscheinlich eine vorbeugende Wirkung gegen eine große Anzahl von Tumoren insbesondere der Verdauungs- und Atmungsorgane. • Der Konsum von Fleisch hat wahrscheinlich eine krebsfördernde Wirkung. Dabei muss zwischen rotem Fleisch (Schaf, Rind, Schwein), weißem Fleisch (Fisch und Geflügel) und verarbeiteten Fleischprodukten (Wurst, Schinken, Pökelware) unterschieden werden. Verarbeitetes Fleisch und rotes Fleisch erhöhen das Risiko für Dickdarmkrebs, möglicherweise auch für andere Krebsarten. Weißes Fleisch erhöht das Krebsrisiko nicht.

• Ballaststoffe, wie sie z.  B. in Vollkornprodukten, Obst und Gemüse vorkommen, und Milchprodukte haben eine schützende Wirkung gegen Dickdarmkrebs.

5.5.4 Übergewicht und Mangel an körperlicher Bewegung Übergewicht erhöht das Risiko für eine Reihe von Tumorerkrankungen wie Brustkrebs in der Menopause, Dickdarm-, Pankreas-, Gallenblasen-, Endometrium- und Nierenzellkarzinom. Einen schützenden Effekt hat dagegen körperliche Aktivität  – insbesondere im Hinblick auf Dickdarmkrebs, aber auch auf postmenopausalen Brustkrebs und Endometriumkarzinom. cc Der Anteil der Risikofaktoren Übergewicht und mangelnde körperliche Aktivität an der Gesamtkrebssterblichkeit wird mit 5  % angegeben. Der risikosenkende Effekt von körperlicher Aktivität bei Kolon- und Mammakarzinom gilt als sicher, als wahrscheinlich beim Endometriumkarzinom.

5  Epidemiologie und Risikofaktoren

5.5.5 Strahlen Täglich sind wir Strahlungen unterschiedlichster Art ausgesetzt. Bei zwei Strahlenarten – den ionisierenden und den ultravioletten Strahlen  – ist eine krebsauslösende Wirkung nachgewiesen. Von anderen elektromagnetischen Strahlen (Radiowellen, Mikrowellen, elektrische und magnetische Felder in der Umgebung von Radiostationen und Funktelefonen) ist eine krebsauslösende Wirkung nicht belegt. Ionisierende Strahlen Energiereiche Strahlung, die in der Lage ist, Elektronen von Atomen loszulösen oder Atome und Moleküle in geladene Teilchen aufzuspalten, nennt man ionisierende Strahlung. cc Die krebsauslösende Wirkung ionisierender Strahlen gilt als bewiesen. Etwa 5  % aller Krebstodesfälle werden durch ionisierende Strahlen verursacht. Mehr als 80 % der auf uns einwirkenden ionisierenden Strahlen stammen aus unserer natürlichen Umgebung (kosmische Strahlung, Erdstrahlung, natürliche Strahlung von Nahrung und Wasser). Weitaus wichtigste Quelle der natürlichen Strahlung ist Radon. (siehe unten) Etwa 15  % der Strahlenbelastung stammen aus medizinischen Quellen (diagnostische und therapeutische Radiologie). Nach Strahlentherapie maligner Tumoren zeigt sich ein erhöhtes Risiko für Zweittumoren im bestrahlten Gebiet (z.  B. vermehrtes Auftreten von Blasenkrebs nach Bestrahlung von Zervixkarzinomen). Die Belastung durch berufliche Expositionen und durch Kernkraftwerke ist in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen ( 5 Jahre verabreicht wird. Östrogene in der Menopause erhöhen zudem das Risiko für Endometriumkrebs. Die Antikonzeption mit Ovulationshemmern (Östrogen-Gestagen-Kombinationen) scheint mit einem geringgradig erhöhten Brustkrebsrisiko verbunden zu sein, gleichzeitig wird aber das Risiko für Gebärmutter- und Eierstockkrebs reduziert.

Literatur Zitierte Literatur American Cancer Society (2020) Colorectal cancer facts & figures 2020–2022 DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) (2021) DGUV-Statistiken für die 2021. https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/4588. Zugriff 22.06.2023 IARC Monographs Vol 124 group (2019) Carcinogenicity of night shift work. Lancet 20:1058 Krebs in Deutschland für 2017/2018 (2021) 13. Ausgabe. Robert Koch-Institut (Hrsg) und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. (Hrsg). Berlin. www.krebsdaten.de. Zugriff 22.06.2023

57 Malvezzi M et al (2015) European cancer mortality predictions for the year 2015. Ann Oncol 26:779 McLaughlin J, Gallinger S (2005) Cancer epidemiology. In: Tannock IF et al (Hrsg) The basic science of oncology. McGraw-Hill, New York Mons U et  al (2018) Krebs durch Rauchen und hohen Alkoholkonsum. Deutsch. Aerzteblatt 115:571 Rushton L et al (2010) Occupation and cancer in Britain. Br J Cancer 102:1428 World Cancer Research Fund (2018) Diet, nutrition, physical activity and cancer: a global perspective. A summary of the third expert report. https://www.wcrf.org/ diet-activity-and-cancer/. Zugriff 23.06.2023

Weiterführende Literatur American Cancer Society (2023) Cancer facts & figures 2023. https://www.cancer.org/content/dam/cancer-org/ research/cancer-facts-and-statistics/annual-cancer-facts-and-figures/2023/2023-cancer-facts-and-figures.pdf. Zugriff 22.06.2023 Behrens G et al (2018) Krebs durch Übergewicht, geringe körperliche Aktivität und ungesunde Ernährung. Dt. Aerzteblatt 115:578 Rahner N, Steinke V (2008) Erbliche Krebserkrankungen. Dtsch Aerzteblt 105: 706

Internetadressen Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister: www. gekid.de (Daten zu Krebsepidemiologie in Deutschland) Krebsinformationsdienst: https://www.krebsinformationsdienst.de/vorbeugung/risiken/index.php (Risiken für Krebs erkennen und vermeiden). Zugriff 22.06.2023

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Prävention und Früherkennung maligner Tumoren Thomas Kroner

6.1 Was ist Prävention?

6.2 Primäre Prävention

Im Allgemeinen versteht man unter Prävention die Vorbeugung vor Krankheiten: Die Entstehung einer Erkrankung soll durch geeignete Maßnahmen verhindert werden. Tatsächlich kann Prävention in der Onkologie aber auf drei Ebenen ansetzen:

6.2.1 Grundlagen

cc Definition Prävention • Primäre Prävention zielt darauf ab, die Tumorentstehung zu verhindern, indem Risikofaktoren beseitigt oder reduziert und schützende Faktoren gestärkt werden. • Sekundäre Prävention hat zum Ziel, z.  B. durch Früherkennung die Heilungschancen zu verbessern. • Tertiäre Prävention betrifft die Nachsorge nach Behandlung eines Tumors. Sie zielt auf die Vermeidung oder Früherkennung eines Rückfalls, von Zweittumoren und Behandlungsfolgen.

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected]

Die Möglichkeit einer primären Prävention von Krebserkrankungen basiert darauf, dass sie überwiegend nicht durch ererbte Genveränderungen bedingt sind. Für die Entstehung der Mehrzahl von Krebserkrankungen spielen vermeidbare Risikofaktoren eine wesentliche Rolle. Sie wurden in Kap. 5 ausführlich beschrieben. cc In Westeuropa sind etwa 40  % aller Krebserkrankungen potenziell vermeidbar. Die primäre Prävention ist das wirksamste Mittel zur Senkung der Krebssterblichkeit. Die wichtigsten vermeidbaren Risikofaktoren und die entsprechenden Präventionsmaßnahmen: • • • • •

Zigaretten: Rauchstopp Alkohol: Senkung des Alkoholkonsums Übergewicht: Gewichtskontrolle Infektionen: Impfungen, Antibiotika Ionisierende Strahlen (v.  a. Radon): bauliche Maßnahmen

cc Den größten gesicherten Nutzen zeigt die Reduktion des Zigarettenkonsums. Im Gegensatz zu weit verbreiteten Ansichten sind in Westeuropa Luftverschmutzung, Kernkraftwerke und Lebensmittelzusätze keine relevanten

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_6

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Risikofaktoren für die Entstehung maligner Tumoren.

6.2.2 Vermeidung von Risikofaktoren Zigarettenkonsum Zum Risiko des Rauchens liegen umfangreiche epidemiologische Daten vor (Abschn. 5.5.1). cc Durch Vermeidung allein des Risikofaktors Rauchen könnten ca.  30  % der jährlichen Krebstodesfälle vermieden werden. Je früher im Leben mit dem Rauchen begonnen wurde, umso höher ist das resultierende Krebsrisiko. Eine Risikoverminderung tritt jedoch nach Aufgabe des Rauchens auch im höheren Alter auf: Etwa 10  (leichte Raucher) bis 20 Jahre (starke Raucher) nach Aufgeben des Rauchens liegt das Krebsrisiko wieder etwa in der Größenordnung von Nichtrauchern. Auch bei Rauchern mit neu diagnostiziertem Lungenkrebs führt die Aufgabe des Zigarettenkonsums zu einer deutlichen Abnahme der Sterblichkeit: Beispiel

Bei 65-jährigen Rauchern mit neu diagnostiziertem nichtkleinzelligem Lungenkarzinom in frühen Stadien liegt die Wahrscheinlichkeit, 5 Jahre zu überleben, bei 33 % – falls sie weiter rauchen. Falls sie das Rauchen aufgeben, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf 70 %. Nach Rauchstopp zeigen Patienten mit Lungenkrebs ein besseres Ansprechen auf Chemotherapie und weniger Komplikationen unter Bestrahlung (Andreas et al. 2013). ◄ cc Ergotherapeuten sollen ihre rauchenden Klienten zum Rauchstopp motivieren und unterstützen, z.  B. durch Vermittlung von Kontakten zu Beratungsstellen. Dies gilt für Raucher jeden Alters und auch für Raucher mit neu entdecktem Lungenkarzinom.

Ernährung Die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krebsentstehung sind größtenteils unbekannt. Ernährungsbezogene präventive Empfehlungen werden deshalb derzeit sehr allgemein formuliert. Der World Cancer Research Fund (WCRF 2021) gibt zurzeit folgende Empfehlungen zur Ernährung: • Essen Sie reichlich Vollkornprodukte, Gemüse, Obst und Bohnen • Begrenzen Sie den Konsum von „Fastfood“ und anderen verarbeiteten Lebensmitteln, die reich an Fett, Stärke oder Zucker sind • Begrenzen Sie den Verzehr von rotem und verarbeitetem Fleisch • Begrenzen Sie den Konsum von zuckerhaltigen Getränken • Verwenden Sie zur Krebsprävention keine Nahrungsergänzungsmittel Alkoholkonsum Alkoholkonsum erhöht das Risiko für bösartige Tumoren (Abschn.  5.5.2). Nach Alkoholeinschränkung oder -verzicht geht das Risiko für diese Krebserkrankungen innerhalb einiger Jahre zurück. Die gleiche Menge konsumierten Alkohols führt bei Frauen zu einem höheren Krebsrisiko als bei Männern. Die Empfehlungen geben daher für Frauen und Männer unterschiedliche Mengen an. Es wird empfohlen, dass Frauen täglich nicht mehr als ein, Männer nicht mehr als zwei alkoholische Getränke (Gläser Wein, Bier) zu sich nehmen sollten. Übergewicht und Mangel an regelmäßiger körperlicher Bewegung Übergewicht und Mangel an körperlicher Bewegung sind zunehmend wichtige Risikofaktoren für die Entwicklung einer Krebserkrankung. cc Nach dem Verzicht auf das Rauchen ist die lebenslange Beibehaltung eines Körpergewichts im Normalbereich und körperliche Aktivität eine der wirksamsten Maßnahmen zur Prävention von Krebserkrankungen. Dabei bedeutet körperliche Aktivität nicht unbedingt sportliche Betätigung. Durch Bewegung

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im Alltag (wie Spazierengehen, Laufen, Fahrradfahren) oder am Arbeitsplatz bei sitzender Tätigkeit (Treppensteigen statt Liftfahren!) kann das Präventionspotenzial genutzt werden. Ergotherapeuten können gemeinsam mit dem Klienten ein Betätigungsziel definieren, wie z. B. „Ich möchte jeden Tag in der Mittagspause eine halbe Stunde spazieren gehen“, und passend dazu Strategien erarbeiten, beispielsweise: Was hindert den Klienten an der Umsetzung? Was motiviert ihn, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren? Welche Spazierstrecken gibt es im Umfeld? Der World Cancer Research Fund (WCRF 2021) gibt folgende Empfehlungen: • Halten Sie ein gesundes Körpergewicht ein und vermeiden Sie eine Gewichtszunahme im Erwachsenenalter • Seien Sie körperlich aktiv - gehen Sie mehr und sitzen Sie weniger Berufliche Faktoren Durch präventive Arbeitsschutzmaßnahmen sind Krebstodesfälle, die Schadstoffbelastungen am Arbeitsplatz zugeschrieben werden, zu einem erheblichen Teil vermeidbar. Beispiele dafür sind das weitgehende Verbot der Herstellung, Verarbeitung oder Verwendung von Asbest und asbesthaltigen Produkten.

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die bereits im Kindesalter einzusetzen hat. Die Nutzung von Solarien sollte vermieden werden. Ionisierende Strahlen Die krebsauslösende Wirkung ionisierender Strahlen gilt als bewiesen (Abschn. 5.5.5). Etwa 80 % der Strahlenbelastung stammt aus unserer natürlichen Umgebung, davon entfällt die Hälfte auf Radon. Etwa 15 % der Belastung kommt aus medizinischen Quellen (diagnostische und therapeutische Radiologie). Radon  Radon, ein natürlich vorkommendes radioaktives Edelgas, findet sich in Gesteinen und Böden überall auf der Welt, die regionale Belastung ist allerdings sehr unterschiedlich (Abschn. 5.5.5). Es dringt v. a. bei schlecht isolierten Kellern in die Gebäude ein und wird mit der Atemluft aufgenommen. cc Radon ist nach dem Rauchen der wichtigste Risikofaktor für Lungenkrebs. Durch eine geeignete Bauweise kann die Radonbelastung im Gebäude erheblich reduziert werden. An Standorten mit erhöhter Radonbelastung müssen bauliche Maßnahmen getroffen werden, die das Eindringen des Gases ins Gebäude verhindern.

Infektionen Durch Infektionserreger werden in Europa 5  % aller Krebserkrankungen (mit)verursacht (Abschn.  5.5.8). Einige dieser Erkrankungen, z. B. Gebärmutterhalskrebs, sind durch Impfungen potenziell vermeidbar (Abschn. 6.2.5).

Anwendungen in der Medizin Nach Strahlentherapien maligner Tumoren besteht ein erhöhtes Risiko für Zweittumoren im bestrahlten Gebiet (Abschn. 5.5.5). Hier ergeben sich präventive Möglichkeiten lediglich in der exakten Planung der Bestrahlung mit bestmöglicher Schonung des umliegenden Gewebes.

UV-Strahlen Sonnenbrände und möglicherweise wiederholt aufgetretene starke UV-bedingte Rötungen der Haut im frühen Kindesalter erhöhen das Risiko für Hautkrebserkrankungen (Abschn. 5.5.5). Ihre Vermeidung durch Kleidung oder Sonnenschutz stellt eine wirksame Präventionsmaßnahme dar,

In der diagnostischen Radiologie wird mit wesentlich geringeren Strahlendosen gearbeitet als in der Radiotherapie. Ein sehr geringgradig erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines bösartigen Tumors besteht bei der wiederholten Durchführung von Computertomografien. Die Indikation dazu ist entsprechend sorgfältig zu stellen.

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6.2.3 Chirurgische Prävention Die chirurgische Entfernung bestimmter Organe zur Vorbeugung von Krebserkrankungen ist in Betracht zu ziehen, falls bei einem Menschen das Risiko für bestimmte Tumoren stark erhöht ist. Dies betrifft vor allem Frauen mit erblich bedingter Mutation der Gene BRCA-1 oder BRCA-2 (Abschn. 5.4.3). Sie haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Brust- und Eierstockkrebs zu erkranken. Durch die chirurgische Entfernung der Ovarien (Ovarektomie) und der Brüste (Mastektomie) kann dieses Risiko reduziert werden.

6.2.4 Chemoprävention cc Definition  Unter Chemoprävention versteht man die Verabreichung von Medikamenten oder anderen Substanzen mit dem Ziel, die Entwicklung eines malignen Tumors zu verhüten. Medikamente Antiöstrogene und Aromatasehemmer sind hormonal aktive Substanzen (Abschn.  11.5.2), die erfolgreich zur Behandlung des Mammakarzinoms eingesetzt werden. Sie wurden deshalb auch in der Prävention von Brustkrebs untersucht. In mehreren Studien mit dem Antiöstrogenen Tamoxifen und mit verschiedenen Aromatasehemmern konnte eine präventive Wirkung nachgewiesen und das Risiko für eine Brustkrebs­ erkrankung gesenkt werden. Die genannten Medikamente zeigen allerdings unerwünschte Wirkungen (u.  a. Thromboembolien, Endometriumkarzinome, Osteoporose). Der präventive Einsatz dieser Substanzen bleibt deshalb auf Frauen mit deutlich erhöhtem Risiko beschränkt. Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine und Spurenelemente Viele Menschen sind der Meinung, sie benötigten auch bei ausgewogener Ernährung zusätzliche Vitamine, Mineralstoffe oder andere Nahrungsergänzungen wie Fett- oder Aminosäuren. Diese Substanzen gehören deshalb zu den meist verkauften Gesundheitsprodukten. Da Nahrungs-

ergänzungsmittel keine Arzneimittel sind, dürfen die Hersteller nicht mit der Vorbeugung oder Behandlung von Krankheiten werben. Deshalb werden die Produkte oft mit allgemeinen Aussagen wie „unterstützt die Abwehrkräfte“ beworben. Es konnte bislang allerdings kein Nachweis erbracht werden, dass solche Zusätze das Auftreten von Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern könnten (Fortmann 2013). Zur Krebsprävention werden insbesondere die sog. Antioxidanzien propagiert, dazu gehören die Vitamine A, C und E, Selen und Beta-Carotin. Auch diese Substanzen zeigen jedoch weder in der primären noch in der sekundären Prävention die gewünschte Wirkung. Im Gegenteil: In einer großen Studie wurde gezeigt, dass die Einnahme von Vitamin A, E und Beta-Carotin (allein oder in Kombination) die Sterblichkeit signifikant erhöht (Bjelakovic et al. 2012). cc Von der Zugabe von Vitaminen oder Spurenelementen zu einer normalen Kost ist deshalb  – außer bei nachgewiesenen Mangelzuständen – abzuraten.

6.2.5 Impfungen Infektionen gehören weltweit zu den wichtigen Krebsrisikofaktoren. Gegen zwei t­umorauslösende Viren konnten bereits Impfstoffe entwickelt ­werden. Impfung gegen Hepatitis-B-Virus Mit der Impfung gegen das Hepatitis-B-Virus (Abschn.  5.5.8) steht ein wirksames Mittel zur primären Prävention von Leberkrebs zur Verfügung. Die Impfung wird in Deutschland, der Schweiz und Österreich empfohlen. Impfung gegen humane Papillomaviren (HPV) Eine anhaltende (persistierende) Infektion mit bestimmten HPV-Typen ist Voraussetzung für die Entwicklung von Gebärmutterhalskrebs (Zervixkarzinom) und von anderen, selteneren Karzinomen im Anogenitalbereich (Vulva- und Scheidenkarzinom, Analkarzinom, Peniskarzinom; Abschn. 5.5.8).

6  Prävention und Früherkennung maligner Tumoren

Mit Cervarix und Gardasil stehen zwei HPV-Impfstoffe zur Verfügung. Beide schützen gegen Infektionen mit den wichtigsten potenziell krebsauslösenden HPV-Typen. Bei kompletter Durchimpfung sollten sich rund 70 % der Zervixkarzinome verhindern lassen. Beide Impfstoffe schützen mit großer Sicherheit vor Neuinfekten mit den Impfviren, sind aber nicht wirksam gegen bereits bestehende Infekte. Die Impfung sollte deshalb vor der Aufnahme eines aktiven Sexuallebens durchgeführt werden, d. h. zwischen dem 12. und 17.  Lebensjahr oder auch früher. Die HPV-Impfung wird in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich offiziell für Mädchen und Jungen empfohlen. Da die verfügbaren Impfstoffe nicht gegen alle Typen von tumorauslösenden HPV wirksam sind, kann auch bei Geimpften nicht auf Vorsorgeuntersuchungen („Pap-Test“) verzichtet werden. Die Untersuchungen können aber evtl. in größeren Abständen erfolgen.

6.3 Sekundäre Prävention (Früherkennung) 6.3.1 Definitionen und Ziele cc Als sekundäre Prävention gelten Maßnahmen zur Tumorfrüherkennung, individuell oder als organisierte Reihenuntersuchungen (Screening).

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Charakteristische Aspekte des Screenings im Rahmen von Reihenuntersuchungen sind: • Eine sehr große Zahl von Personen wird zur Untersuchung eingeladen. • Die meisten dieser Personen werden niemals in ihrem Leben die betreffende Krankheit entwickeln. • Die Untersuchung identifiziert diejenigen Personen, bei denen die betreffende Krankheit bereits vorliegt, allerdings noch in einer sehr frühen, asymptomatischen Phase. • Diese sehr wenigen können dann einer wirksamen Behandlung zugeführt werden. cc Ziel der Früherkennung ist es, in der untersuchten Bevölkerung die Sterblichkeit an der gesuchten Krebsart zu senken. Die Senkung der Sterblichkeit ist das wichtigste Maß für die Wirksamkeit eines Screenings.

6.3.2 Besondere Aspekte von Screeningprogrammen Bei der Beurteilung von Maßnahmen zur Früherkennung verdienen einige Punkte besondere Beachtung.

Der Begriff Screening (von engl. screen: Sieb) bezeichnet eigentlich Maßnahmen im Rahmen von organisierten Reihenuntersuchungen. Im deutschen Sprachgebrauch werden „Screening“ und „Früherkennung“ allerdings oft gleichbedeutend verwendet und bezeichnen sowohl individuell wie im Rahmen von organisierten Untersuchungen durchgeführte Maßnahmen. Auf keinen Fall handelt es sich aber bei „Früherkennung“ um Untersuchungen, die „früh“ im Sinne von „bei ersten Krankheitszeichen“ (Blut im Stuhl, tastbarer Knoten in der Brust) durchgeführt werden:

6.3.2.1 Überdiagnose und Überbehandlung Bei Screeninguntersuchungen werden auch Tumoren diagnostiziert, die zu Lebzeiten der Betroffenen weder Symptome verursacht noch die Lebensdauer verkürzt hätten. Bisher Gesunde werden so durch die Untersuchung zu Krebspatienten; ohne Screening wäre der Krebs nie in Erscheinung getreten. Dies wird als Überdiagnose bezeichnet. Die Behandlung dieser Tumoren ist unnötig – was im Einzelfall zum Zeitpunkt der Diagnose aber nicht festzustellen ist – und eingreifend (Operation, Bestrahlung, evtl. medikamentöse Therapie). Sie wird als Übertherapie bezeichnet.

cc Die Früherkennung im Sinne von sekundärer Prävention zielt auf Personen mit asymptomatischer präklinischer Erkrankung.

cc Überdiagnose und Übertherapie sind beim durch Screening entdeckten Prostata- und Mammakarzinom häufig und schwerwiegend:

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Durch die Untersuchungen werden mehr Menschen überdiagnostiziert und übertherapiert, als Todesfälle an der entsprechenden Krebsart vermieden werden (Tab. 6.1) Die von Übertherapie betroffenen Männer (PSA-Screening) oder Frauen (Mammografiescreening) sind in ihrer Lebensqualität über mehrere Monate oder Jahre beeinträchtigt, sind aber naturgemäß davon überzeugt, dass ihr Krebs durch das Screening rechtzeitig erfasst, behandelt und darum geheilt wurde.

finden, ist jedoch kein entscheidendes Kriterium zur Beurteilung des Nutzens eines Screeningprogramms: Durch das Screening werden selektiv langsamer wachsende Tumoren „herausgefischt“, die mit größerer Wahrscheinlichkeit in einem früheren Stadium gefunden werden und auch eine bessere Prognose haben. Schnell wachsende Tumoren dagegen werden aufgrund von Symptomen häufig zwischen zwei Screenings diagnostiziert („Intervall­ karzinome“). Dass Tumoren durch eine Screeningmaßnahme in einem früheren Stadium erkannt werden, ist kein Beweis für den Nutzen des Programms.

6.3.2.2 Pseudonutzen Diagnose in einem früheren Stadium Häufig wird als vermeintlicher Beweis für den Erfolg eines Screeningprogramms die Tatsache angeführt, dass die durch den Test identifizierten Krebsfälle in einem früheren Stadium entdeckt werden als die außerhalb des Programms diagnostizierten Krebsfälle. Das Stadium, in dem sich die Krebsfälle be-

Längere Überlebenszeit Bei durch Screening entdeckten Tumoren scheint die Überlebenszeit aufgrund der vorverlegten Diagnose immer verlängert, auch wenn der Patient gar nicht länger lebt als bei Diagnose aufgrund von Symptomen. Diese scheinbare Überlebensverlängerung wird als „Vorlaufzeit-Bias“ bezeichnet (Abb. 6.1). Längere Überlebenszeiten

Abb. 6.1  Vorlaufzeit-Bias. Drei Männer mit Prostata­ krebs, mit und ohne Screening Oben: Der Mann nimmt nicht am Screeningprogramm teil. Im Alter von 66 Jahren wird ein Prostatakrebs diagnostiziert, an dem er im Alter von 70 Jahren stirbt. Die Überlebenszeit, d. h. die Zeit von der Diagnose bis zum Tod, beträgt 4 Jahre Mitte: Der Mann nimmt am Screeningprogramm teil. Der Prostatakrebs wird deshalb früher diagnostiziert, schon bevor der Patient Symptome hat. Die entsprechend früher eingeleitete Behandlung führt jedoch nicht zu einer

Lebensverlängerung, das Screening war ineffektiv. Auch er stirbt im Alter von 70 Jahren am Krebs. Die Überlebenszeit, d. h. die Zeit von der Diagnose bis zum Tod, beträgt 7 Jahre. Die längere Überlebenszeit entspricht einem Vorlaufzeit-Bias und nicht einem Gewinn an Lebensjahren Unten: Auch dieser Mann nimmt am Screeningprogramm teil, sein Prostatakrebs wird ebenfalls noch im asymptomatischen Stadium diagnostiziert. Die dadurch früher eingeleitete Behandlung führt zu einem Gewinn an Lebensjahren. Die längere Überlebenszeit entspricht einem echten Gewinn an Überlebenszeit

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der durch Screening gefundenen Tumorpatienten sind somit kein taugliches Maß zum Nachweis der Effektivität eines Screeningprogramms.

6.3.2.3 Falsch positive und falsch negative Befunde Falsch positive Befunde Ein falsch positives Testresultat besagt, dass der Screeningtest zwar positiv war, d.  h. eine mögliche Tumorerkrankung signalisiert und weitergehende Untersuchungen erforderlich gemacht hat, diese Folgeuntersuchungen aber ein negatives Ergebnis erbrachten, d.  h. keine Tumorerkrankung gefunden werden konnte. Der Screeningtest war also fälschlicherweise positiv. cc Falsch positive Ergebnisse verursachen zusätzliche Untersuchungen, die unangenehm, kostspielig und u.  U. auch schädlich sein können. Psychologische Auswirkungen wie Angst und Verunsicherung sind weitere Folgen. Falsch negative Befunde Werden erkrankte Personen fälschlicherweise als gesund eingestuft, spricht man analog zur oben dargestellten Situation von einem falsch negativen Testresultat. cc Falsch negative Ergebnisse vermitteln ein ungerechtfertigtes Sicherheitsgefühl und führen zur Verzögerung der Krebsdiagnose.

6.3.2.4 Risiken der Untersuchung Die meisten zum Screening eingesetzten Tests sowie die u. U. nötigen Folgeuntersuchungen sind nicht ganz risikofrei. Bei der Koloskopie z.  B. können Blutungen und Perforationen auftreten, die, wenn auch extrem selten, sogar tödlich verlaufen können. Bei der Mammografie wird wiederholt eine – wenn auch geringe – Strahlendosis verabreicht. Das damit verbundene Risiko ist allerdings als sehr niedrig einzuschätzen.

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6.3.3 Nutzen und Schaden Das Verhältnis von erwartetem Nutzen und möglichem Schaden eines Screenings ist sorgfältig zu evaluieren. Als möglicher Nutzen von Screeningverfahren werden beispielsweise gewonnene Lebensjahre oder auch die Erhöhung des Anteils konservativer (z. B. organerhaltender) Therapien aufgeführt. Im Gegensatz dazu stehen die durch Screeningverfahren entstandenen Schäden wie z. B. Überbehandlung, Komplikationen von diagnostischen Eingriffen, falsch positive oder falsch negative Ergebnisse, Ängste und andere psychologische Effekte.

6.3.4 Untersuchungen zur Früherkennung bestimmter Tumoren 6.3.4.1 Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs Die zytologische Abstrichuntersuchung nach Papanicolaou („Pap-Test“) wurde bereits in den 1930er-Jahren entwickelt. Der Nutzen scheint durch den massiven Rückgang von Auftreten und Sterblichkeit seit Einführung des Tests belegt. Bis zu 90  % der Neuerkrankungen und damit auch der Todesfälle an Gebärmutterhalskrebs können bei regelmäßiger Teilnahme (alle 1–3 Jahre) der Frauen im Altersbereich zwischen 25 und 65 Jahren vermieden werden. Seit einiger Zeit steht auch ein Test zum Nachweis von HPV (humane Papillomaviren, Abschn. 5.5.8) zur Verfügung. 6.3.4.2 Früherkennung von Brustkrebs Brustkrebs ist  – neben Lungenkrebs  – die häufigste krebsbedingte Todesursache bei Frauen und deshalb ein wichtiges Ziel präventivmedizinischer Maßnahmen. Für die Früherkennung steht die Mammografie zur Verfügung.

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Mammografie Die Wirksamkeit von organisierten Screeningprogrammen auf der Grundlage der Mammografie (Röntgenuntersuchung der Brust) wurde in einer Reihe von Studien untersucht. Die Studien für Frauen im Altersbereich zwischen 50 und 70  Jahren zeigten eine leichte Reduktion der Brustkrebssterblichkeit (Tab.  6.1). Für jüngere Frauen konnte der Nachweis einer niedrigeren Sterblichkeit bisher nicht sicher erbracht werden. Eine Senkung der Gesamtsterblichkeit konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Neben dem Nutzen  – dank Screening verhütete Todesfälle durch Mammakarzinom – kann die Mammografie wie jedes Screening auch Schaden verursachen (Wörmann und Lüftner 2021). Als wichtigster Punkt wird dabei vermehrt das Problem der „Überdiagnose“ erkannt (Abschn. 6.3.2). Sie beruht auf der Diagnose von Karzinomen, die ohne Screening während des Lebens der betroffenen Frau unentdeckt und ohne Konsequenzen geblieben wären: Bei 18 % der in Deutschland durch Screening entdeckten Mammakarzinome handelt es sich um In-­situ-­ Karzinome, d. h. Krebsvorstufen (Kooperationsgemeinschaft Mammographie 2019). Es gibt derzeit keine Möglichkeit zu erkennen, ob sich aus einem In-situ-Karzinom ein invasives Karzinom entwickeln wird – es wird deshalb immer wie ein invasives Karzinom behandelt. Dies führt zu

„Übertherapie“, d.  h. zu unnötigen Brustoperationen, Bestrahlungen und evtl. adjuvanten Hormon- oder Chemotherapien. Andere Risiken des Screenings wie falsch positive Befunde sind weniger einschneidend, allerdings psychologisch belastend und mit weiteren Abklärungen, z. B. Biopsien, verbunden. Nutzen und Risiken werden in verschiedenen Publikationen und Empfehlungen unterschiedlich gewichtet. cc Jede Frau muss aufgrund ihrer persönlichen Bewertung von möglichem Nutzen und Schaden entscheiden, ob sie die Einladung zum Mammografiescreening annehmen oder ablehnen will. Voraussetzung ist eine offene Information über Nutzen, Schaden und Risiken der Methode. Palpation der Brust Das regelmäßige Abtasten der Brust und der Axilla durch den Arzt oder als Selbstuntersuchung wird von vielen Organisationen als Methode der Früh­ erkennung propagiert. Die Methode ist kostengünstig und ungefährlich, zudem erlaubt sie, einen Brustkrebs in einem früheren – wenn auch nicht in einem wirklich frühen – Stadium zu diagnostizieren. Es konnte allerdings nie nachgewiesen werden, dass die Sterblichkeit an Brustkrebs durch die regelmäßige Palpation gesenkt werden kann.

Tab. 6.1  „Nutzen“ und „Schaden“ von Brustkrebsfrüherkennung durch Mammografiescreening. (Nach Harding-­ Zentrum für Risikokompetenz, Oktober 2019; www.hardingcenter.de/de/faktenboxen) Zugriff 23.06.2023

„Nutzen“ Wie viele Frauen starben an Brustkrebs? Wie viele Frauen verstarben insgesamt an Krebs? „Schaden“ Wie viele Frauen erhielten fälschlicherweise ein positives Ergebnis und hatten unnötige Untersuchungen oder eine Gewebeentnahme? Bei wie vielen Frauen mit nicht fortschreitendem Brustkrebs wurde die Brustdrüse unnötigerweise teilweise oder vollständig entfernt?

1000 Frauen ohne Mammografiescreening

1000 Frauen mit Mammografiescreening

5 22

4 22



100



5

Zahlen für Frauen ab 50 Jahren, die etwa 11 Jahre am Screening teilgenommen oder nicht teilgenommen haben

6  Prävention und Früherkennung maligner Tumoren

6.3.4.3 Früherkennung von Darmkrebs Für die Früherkennung von Darmkrebs stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Die wichtigsten werden hier kurz besprochen: Okkultbluttest im Stuhl Eine Senkung der Darmkrebssterblichkeit kann mit einem Screeningtest auf verborgenes Blut im Stuhl erreicht werden. Bei jährlicher Wiederholung der Untersuchung wird die Sterblichkeit an kolorektalen Karzinomen reduziert. Eine Weiterentwicklung des Tests weist den Blutfarbstoff nicht mehr durch eine chemische Methode, sondern immunologisch nach. Dieser „immunologische fäkale Okkultbluttest“ (abgekürzt iFOBT)  – auch als „fäkaler immunchemischer Test“ (FIT) bezeichnet  – gehört in Deutschland zum offiziellen Früherkennungsprogramm. Koloskopie (Darmspiegelung) Kolorektale Karzinome entstehen über einen Zeitraum von Jahren bis Jahrzehnten aus prämalignen Vorstufen, den sog. Adenomen (Polypen; Abschn.  2.3.5). Durch die endoskopische Erfassung und gleichzeitige Entfernung dieser Adenome kann die Umwandlung in Karzinome in der Regel verhütet und dadurch die Sterblichkeit reduziert werden. Es besteht ein geringes, von der Erfahrung des Untersuchers abhängiges Risiko für Komplikationen (Blutungen, Perforation).

6.3.4.4 Früherkennung von Hautkrebs Hautkrebs bietet sich wegen der leichten Zugänglichkeit der Haut für Früherkennung geradezu an. Trotzdem konnte bis heute in keiner Studie ein mortalitätssenkender Effekt organisierter Screeningprogramme nachgewiesen werden. Wegen des geringen medizinischen und finanziellen Aufwands und aufgrund der Resultate eines Modellversuchs sind allerdings in Deutschland regelmäßige Hautkontrollen Bestandteil des Krebsfrüherkennungsprogramms. 6.3.4.5 Früherkennung von Prostatakrebs Ähnlich wie beim Mammakarzinom wird auch beim Prostatakarzinom die Früherkennung kon-

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trovers diskutiert. Mit dem prostataspezifischen Antigen (PSA; Abschn. 7.6.2) steht ein Tumormarker zur Verfügung, der einfach im Blut bestimmt werden kann und bei Vorliegen eines Prostatakarzinoms ansteigt. Obwohl es auf den ersten Blick den Anschein hat, als würde sich dieser Marker gut für die Früherkennung eignen, ist der Test aus mehreren Gründen problematisch: • Führt man bei Männern, die in höherem Alter an irgendeiner Todesursache (d.  h. nicht an Prostatakrebs) verstorben sind, eine Autopsie durch, so findet man in etwa 50–70  % der Fälle in der Prostata Karzinomherde, die offensichtlich zu Lebzeiten nicht zu einer klinisch manifesten Krebserkrankung geführt haben, infolgedessen nicht diagnostiziert wurden, dem Betroffenen glücklicherweise niemals bekannt wurden und für die offensichtlich auch kein Behandlungsbedarf bestand. Bei Einsatz des PSA-Tests werden auch solche Tumoren zusammen mit den potenziell klinisch relevanten Tumoren identifiziert. Zurzeit gibt es noch keine sichere Möglichkeit, festzustellen, ob maligne Prostatazellen zu einer klinisch manifesten Erkrankung führen werden oder zeitlebens inaktiv bleiben. • Der PSA-Test führt daher bei einer erheblichen Zahl von Männern zu einer Überdiagnostik und Übertherapie (Abschn. 6.3.2). Er stempelt sie dann unnötigerweise zu Krebspatienten mit allen körperlichen und psychischen Folgen. Die in diesen Fällen an sich unnötige Therapie ist eingreifend (radikale Prostatektomie und/oder Radiotherapie) und zieht häufig schwere Nebenwirkungen nach sich (Urininkontinenz, Impotenz). • Auch bei „Frühentdeckung“ aufgrund des PSA-Tests kann das Karzinom lokal bereits fortgeschritten und durch eine Behandlung (Operation und/oder Bestrahlung) nicht mehr heilbar sein. Bis heute konnte erst eine einzige Studie nachweisen, dass das organisierte PSA-Screening die Sterblichkeit an Prostatakrebs reduzieren kann,

T. Kroner

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allerdings mit erheblichem Aufwand (Schröder WCRF (2021) World Cancer Research Fund und American Institute for Cancer Research. Der Dritte Expertenet al. 2014). bericht: Ernährung, körperliche Aktivität und Krebs. Ein organisiertes PSA-Screening ist in keinem https://www.wcrf.org/wp-content/uploads/2021/02/ europäischen Land eingeführt. Die PSA-­ TER-German-translation.pdf. Zugriff 23.06.2023 Bestimmung wird allerdings häufig als individu- Wörmann B, Lüftner D (2021) Vor- und Nachteile des Mammographie-Screenings. Onkologe 27:1191 elle Früherkennung durchgeführt, sie ist in diesem Fall in Deutschland keine Pflichtleistung der Informationen zu Früherkennung Krankenkassen.

und Prävention (auch Broschüren und Merkblätter)

cc Es ist wichtig, dass Männer eine informierte Entscheidung treffen können, ob sie eine PSA-­ Deutschland: Krebsinformationsdienst: www.krebsBestimmung wünschen, bevor die informationsdienst.de/vorbeugung/index.php Bestimmung durchgeführt wird. Österreich: Österreichische Krebshilfe: https://www.

Literatur Zitierte Literatur Andreas S, Rittmeyer A, Hinterthaner M, Huber R (2013) Tabakentwöhnung bei Lungenkrebs. Dtsch Arztebl 110:719 Bjelakovic G et  al (2012) Antioxidant supplements for prevention of mortality in healthy participants and patients with various diseases. Cochrane Database Syst Rev 3:CD007176 Fortmann SP (2013) Vitamin and mineral supplements in the primary prevention of cardiovascular disease and cancer. Ann Intern Med 159:824 Kooperationsgemeinschaft Mammographie (2019) Jahresbericht Evaluation 2017. Deutsches Mammographie-­Screening-­Programm Schröder FH et al (2014) Screening and prostate cancer mortality: results of the European randomised study of screening for prostate cancer (ERSPC) at 13 years of follow-up. Lancet 384:2027

krebshilfe.net/information/krebsfrueherkennung/empfehlungen-fuer-maenner-frauen. Zugriff 23.06.2023 Schweiz: Krebsliga Schweiz: https://www.krebsliga.ch/ ueber-krebs/praevention. Zugriff 23.06.2023

Informationen zum offiziellen Mammografiescreening Deutschland: www.mammo-­programm.de Österreich: http://frueh-­erkennen.at. Zugriff 23.06.2023 Schweiz: https://www.krebsliga.ch/krebs-­vorbeugen/ krebs-­f rueh-­e rkennen-­u nd-­vorbeugen/brustkrebs/ mammografie-­screening/

Informationen zu Radon und Radonbelastung Deutschland: www.radon-­info.de Österreich: www.radon.gv.at Schweiz: www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-­leben/ umwelt-­u nd-­g esundheit/strahlung-­r adioaktivitaet-­ schall/radon.html

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Diagnostische Verfahren in der Onkologie Andrea Gaisser, Thomas Kroner, Wiebke Caspari, Franziska Opitz, und Victoria Grigg

7.1 Einleitung Diagnostik wird in der Onkologie in unterschiedlichen Situationen und mit entsprechend unterschiedlichen Zielen betrieben: • Krebsfrüherkennung und Screening (Abschn. 6.3) • Bei Krebsverdacht: Nachweis oder Ausschluss eines Tumors • Bei bestätigtem Verdacht: Beschreibung von Art und Ausbreitung (Stadienklassifikation, Staging) • Während und unmittelbar nach einer Behandlung: Überprüfung des Therapieerfolgs und Erfassung von unerwünschten Wirkungen • In der Nachsorge: Feststellung von Rezidiven Egal in welcher Situation, das Durchlaufen diagnostischer Prozesse ist für die Betroffenen oft psychisch belastend und geprägt von Ängsten vor A. Gaisser (*) Krebsinformationsdienst, Heidelberg, Deutschland e-mail: [email protected] T. Kroner Winterthur, Schweiz W. Caspari Brilon, Deutschland F. Opitz Marbach am Neckar, Deutschland V. Grigg Oberhausen, Deutschland

dem, was sich ergeben mag und was es für die Zukunft bedeutet.

7.2 Anamnese und körperliche Untersuchung Bei Verdacht auf das Vorliegen einer Tumorerkrankung sind Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung durch den Arzt die ersten diagnostischen Schritte. Speziell in der Onkologie sind folgende Fragen wichtig für die Anamnese: • Allgemeinbefinden und Art und Dauer von Symptomen • Vorerkrankungen und Therapien, die das Krebsrisiko erhöhen können • Krebs in der Familie • Lebensstilfaktoren wie Tabak- und Alkoholkonsum (Kap. 5)

7.3 Bildgebende Verfahren Bildgebende Verfahren stellen eine wesentliche Säule der Tumordiagnostik und der Stadieneinteilung (Staging) dar. Die Wahl des Verfahrens richtet sich nach Fragestellung, Zielorgan und der Aussagekraft in der jeweiligen Situation. Informationen aus verschiedenen bildgebenden Verfahren wie Röntgen, Sonografie und MRT können sich ergänzen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_7

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7.3.1 Röntgenuntersuchungen Bei Röntgenuntersuchungen werden Röntgenstrahlen, d.  h. energiereiche elektromagnetische Strahlen, zur Bildgebung eingesetzt. Die Strahlen durchdringen den Körper und belichten beim Verlassen des Körpers einen Röntgenfilm (wie in der alten analogen Fotokamera) oder einen elektronischen Detektor (wie in einer Digitalkamera). Die Röntgenstrahlen werden von unterschiedlichen Geweben in unterschiedlichem Ausmaß absorbiert: Knochen z.  B. absorbiert die Strahlung vollständig, der Film bleibt weiß. Luft lässt die Strahlung fast vollständig durch, die Lunge stellt sich deshalb im Röntgenbild schwarz dar. Röntgenuntersuchungen ermöglichen die Beurteilung einer großen Zahl von Organen bzw. Veränderungen. Das Problem, dass sich beim klassischen Röntgenbild im Strahlenfeld hintereinanderliegende Strukturen unvermeidlich überlagern, wurde durch die Entwicklung der Röntgencomputertomografie (CT, CAT) gelöst: Sie liefert Schichtbilder von horizontalen Körperquerschnitten und erlaubt so eine überlagerungsfreie Darstellung von einzelnen Organen/Strukturen z.  B. im Thorax oder im Bauchraum (Abb.  7.3a). Durch Gabe von Kontrastmitteln in Körperhohlräume oder in das Gefäßsystem gelingt auch die Darstellung der Gefäßversorgung von Tumoren. Bei der Mammografie handelt es sich um eine klassische Röntgenuntersuchung der Brustdrüse. Sie wird mit speziellen Röntgenapparaten durchgeführt, die eine relativ „weiche“, d. h. energiearme Röntgenstrahlung einsetzen. Bei der Aufnahme wird die Brust zwischen zwei strahlendurchlässigen Plexi­ glasscheiben möglichst flach zusammenge­ drückt. Die Mammografie lässt auch kleine Veränderungen in der Brustdrüse erkennen, allerdings sind falsch-positive und falsch-negative Resultate möglich (Abschn. 6.3.2.3). Eine Unterscheidung zwischen gut- und bösartigen Tumoren ist aufgrund der Mammografie allein meist nicht möglich. Viele Befunde müssen durch eine Biopsie (Abschn. 7.5.1) weiter abgeklärt werden.

A. Gaisser et al.

7.3.2 Sonografie (Ultraschalluntersuchung) Die Sonografie ist in der Tumordiagnostik bei vielen Fragestellungen aussagekräftig und nicht belastend, da keine energiereiche Strahlung im Spiel ist. Die Methode basiert darauf, dass hochfrequente Schallwellen im Körper von verschiedenen Geweben unterschiedlich stark absorbiert oder reflektiert werden. So ist Knochen weitgehend undurchlässig für die Schallwellen, Wasser wird ohne Verlust durchquert. Diese unterschiedliche Reflexion lässt sich in Bilder umsetzen. Durch Einbringen des Schallkopfs in Körperhöhlen werden von außen nicht beurteilbare Organe untersucht, z. B. die Prostata vom Enddarm aus oder Uterus und Ovarien von der Vagina aus (Endosonografie).

7.3.3 Magnetresonanztomografie • Synonym: Kernspintomografie • Abkürzungen: MRT, MR, MRI (von engl. „magnetic resonance imaging“). Wie die Röntgencomputertomografie (CT) liefert diese Methode Schichtbilder von Körperebenen. Das dem Verfahren zugrunde liegende Prinzip ist jedoch ein völlig anderes: Die MRT arbeitet mit einem starken Magnetfeld, das die positiv geladenen Wasserstoffatomkerne (Protonen) im Körper in eine Richtung orientiert. Durch zusätzliche Einstrahlung von Radiowellen nehmen die Protonen Energie auf und werden etwas von ihrer Ausrichtungsachse abgelenkt. Nach Abschalten der Radiowellen fallen die Protonen in ihre Ausgangsposition zurück. Dabei geben sie die aufgenommene Energie in Form schwacher Radiowellen wieder ab, die von einer Antenne aufgefangen und in ein Bild umgesetzt werden. In der MRT werden wasserhaltige Gewebe und Organe wie die Leber, Bindegewebe oder Muskulatur hell dargestellt, wasserarme Bereiche wie Knochen oder die Lunge erscheinen dunkel. Anders als bei Röntgenuntersuchungen lassen sich mit der MRT Weichgewebe anhand ihres unterschiedlichen Wassergehalts besonders gut voneinander abgrenzen.

7  Diagnostische Verfahren in der Onkologie

a

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b

Abb. 7.1  a,b Magnetresonanztomografie des Gehirns mit Darstellung eines Glioblastoms (Pfeil). (a) Aufnahme nach Kontrastmittelgabe und ohne Darstellung des Ödems. (b) Aufnahme mit Darstellung des umgebenden

Ödems (Verschattung um den Tumor herum) und des Liquors. (Abb. von Dr. M. Bahner, ehem. Deutsches Krebsforschungszentrum, mit freundl. Genehmigung)

Besonders aussagekräftig ist die MRT demnach in Körperregionen, in denen viele Weichgewebsstrukturen vorhanden sind. Im Gehirn etwa lassen sich Tumoren und Metastasen deutlich besser darstellen als mit der CT (Abb. 7.1). Auch hier lässt sich durch Kontrastmittel (meist Gadolinium) die Aussagekraft steigern. Eine Strahlenbelastung besteht bei der MRT nicht.

Szintigrafie Das bereits am längsten in der Tumordiagnostik eingesetzte nuklearmedizinische Verfahren ist die Skelettszintigrafie (Knochenscan): Radioaktives Technetium (99 mTc) gekoppelt an eine Phosphatverbindung reichert sich nach intravenöser Verabreichung in Ab- und Umbaubezirken von Knochen an und gibt von dort Strahlung ab. Knochenmetastasen eines Tumors können so lokalisiert werden, bevor sie im Röntgenbild sichtbar sind (Abb. 7.2).

7.3.4 Nuklearmedizinische Diagnostik Die nuklearmedizinischen Untersuchungsverfahren basieren auf der Strahlung von intravenös oder peroral verabreichten Radiopharmaka, d. h. radioaktiven Substanzen, die sich in bestimmten Organen oder krankhaft veränderten Geweben anreichern. Ein über dem Körper positionierter Scanner fängt die von diesen Anreicherungen abgegebene Strahlung auf. Ihre Impulse werden in elektronische Signale und diese in Bildpunkte umgesetzt. Die Anreicherungsbezirke nennt man „heiße Herde“ („hot spots“). Die Intensität der Strahlung lässt sich auch farblich abgestuft darstellen.

Positronenemissionstomografie (PET) und PET/CT Mit der PET lassen sich gezielt Stoffwechselvorgänge in Geweben erfassen. Je nach Fragestellung benutzt man eine Substanz, von der man weiß, dass sie im zu untersuchenden Organ oder Gewebe an bestimmten Stoffwechselreaktionen beteiligt ist, und „markiert“ sie mit einer radioaktiven Substanz, die in diesem Fall Positronen aussendet. Die von den Positronen ausgehende Strahlung wird durch Messgeräte registriert und in Bilder umgesetzt. (Abb. 7.3b). Die PET liefert vor allem Informationen über die Stoffwechselaktivität und damit die ­„Vitalität“

A. Gaisser et al.

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a

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Abb. 7.2 Knochenszintigramm mit 99mTc-MDP.  Darstellung von multiplen Metastasen (dunkle Areale) in Wirbelsäule und Rippen bei Prostatakarzinom. (Abb. von Prof. Dr. L.  Strauss, ehem. Deutsches Krebsforschungszentrum, mit freundl. Genehmigung)

eines Gewebes. Bei einer Chemotherapie beispielsweise erlauben Informationen zur Stoffwechselaktivität im Tumorgewebe schon frühzeitig Aussagen darüber, ob die Tumorzellen auf die Behandlung ansprechen. Nimmt die Stoffwechselaktivität ab, weist dies auf ein Ansprechen des Tumors auf die Behandlung hin, bevor dies im Röntgenbild oder CT nachweisbar ist. Es ist schwierig, im PET Bezirke mit erhöhter Stoffwechselaktivität korrekt einer anatomischen Struktur oder einem Organ zuzuordnen. Dieses Problem löst die Kopplung von PET und Computertomografie, die PET/CT. Dabei werden die Informationen aus beiden Verfahren miteinander verbunden, indem der Computer die Bilder „fusioniert“ und überlagernd darstellt. In der PET erkennbare stoffwechselaktive Bezirke lassen sich den zu-

c

Abb. 7.3  a–c CT-Bild eines Patienten mit einem Tumor der linken Lunge (a) und zugehöriges PET-Bild (b). c Fusion von PET und CT. Im fusionierten Bild (c) sieht man sehr gut, dass der zentrale Tumoranteil die höchste Stoffwechselaktivität hat. (Abb. von Prof. Dr. L. Strauss, ehem. Deutsches Krebsforschungszentrum, mit freundl. Genehmigung)

gehörigen durch die CT dargestellten anatomischen Strukturen bzw. Organen zuordnen (Abb. 7.3c).

7  Diagnostische Verfahren in der Onkologie

7.4 Endoskopie Mit einer Optik ausgestattete lichtleitende Glasfasern in flexiblen Röhren (=  Fiber-Endoskope) ermöglichen es, fast alle Körperhohlräume einzusehen und zu beurteilen. Allgemein bekannt ist diese Methode etwa als Magen- (Gastroskopie), Darm- (Koloskopie) oder Blasen- bzw. Harnleiterspiegelung (Zystoskopie, Ureteroskopie) sowie als Bronchoskopie zur Beurteilung der tieferen Atemwege. Zur Beurteilung z. B. des Mediastinums, von Pleura und Lungenoberfläche sowie der Oberflächen im Bauchraum muss chirurgisch ein Zugang für das Endoskop geschaffen werden (Mediastinoskopie, Thorakoskopie, Laparoskopie). Im Rahmen endoskopischer Untersuchungen lassen sich Gewebeproben zur histologischen Untersuchung entnehmen (Biopsie). Das Endo­ skop trägt eine entsprechende Vorrichtung, die von außen gesteuert wird. Durch das Endoskop sind auch kleinere oder größere therapeutische Eingriffe möglich, etwa die Entfernung von kleinen Tumoren oder die Einführung von Stents, um Passagen offenzuhalten.

7.5 Zytologische und histologische Untersuchungen Unterscheidung, ob einem cc Die Verdachtsbefund eine gutartige oder eine bösartige Erkrankung zugrunde liegt, kann mit letzter Sicherheit nur durch Entnahme und mikroskopische Untersuchung von Zellen (Zytologie) oder zusammenhängendem Gewebe (Histologie) getroffen werden. cc Definition  Zytologie ist die Lehre von den Zellen (von griech. cytos = Zelle, logos = Lehre). Histologie ist die Lehre von den biologischen Geweben (von griech. histos = Gewebe, logos = Lehre).

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Verschiedene Anfärbe- bzw. Markierungsmethoden am Untersuchungsmaterial  – Zellen oder Gewebe – machen unterschiedliche Strukturen besser sichtbar. Die weitere Aufarbeitung des Materials mit immunhistochemischen, molekularbiologischen und molekulargenetischen Methoden (Abschn.  7.7) erlaubt eine genauere Charakterisierung der Tumorzellen und ihrer biologischen Eigenschaften. Im Rahmen der Primärdiagnostik dienen zytologische und histologische Untersuchungen v. a. • der Bestimmung des Tumortyps (Klassifikation) (Kap. 4), • der Bestimmung des Malignitätsgrades der Tumorzellen (Grading) (Kap. 4).

7.5.1 Biopsie cc Definition  Biopsie ist die Zell- oder Gewebeentnahme zu diagnostischen Zwecken (von griech. bio = lebend, opsis = das Betrachten). Abhängig vom zu untersuchenden Organ, von der Gewebeart, von der Größe des verdächtigen Bezirks und davon, ob man Wert auf zusammenhängendes Gewebe legt oder ob einzelne Zellen für die Begutachtung genügen, können die Proben auf unterschiedliche Weise entnommen werden, beispielsweise als Feinnadelbiopsie, als Zangenbiopsie oder als Exzisionsbiopsie. Risiken der Biopsie Die Entnahme einer Gewebeprobe ist ein relativ kleiner Eingriff und für den Patienten wenig belastend, abgesehen von der manchmal erforderlichen Narkose. Eine Frage, die Patienten häufig Sorgen bereitet, betrifft die mögliche Verschleppung von Tumorzellen durch die Biopsie. Ein gewisses Risiko besteht bei einer Nadelbiopsie aus einem Tumor oder malignen Ergüssen tatsächlich: Zellen des Punktats können im Stichkanal hängen-

A. Gaisser et al.

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bleiben und auch in die Blutbahn gelangen, wenn ein Blutgefäß verletzt wird. Allerdings gibt es keine schlüssigen Hinweise darauf, dass diese verschleppten Tumorzellen in anderen Körperregionen zu Metastasen führen und die ­ Prognose verschlechtern. Auch sind die heute verwendeten Nadeln so glatt und scharf, dass eine Zellverschleppung unwahrscheinlich ist. Bestätigt die zytologische oder histologische Untersuchung des entnommenen Materials das Vorliegen eines bösartigen Tumors, so wird nach Möglichkeit bei der Operation der Stich- oder Schnittkanal mit ausgeschnitten.

7.6 Untersuchungen an Blut und Serum In der onkologischen Diagnostik kommen zahlreiche Laboruntersuchungen an Blut oder Serum zum Einsatz. cc Einen allgemeinen „Krebstest“ an Blut oder anderen Körperflüssigkeiten, der mit Sicherheit das Vorliegen einer Krebserkrankung anzeigen würde, gibt es nicht.

7.6.1 Hämatologische Untersuchungen Ziel der hämatologischen Diagnostik ist die Erfassung von Veränderungen in Zahl und Zusammensetzung der Blutzellen: der Erythrozyten, Leukozyten (Granulozyten und Lymphozyten) und Thrombozyten. Basisuntersuchungen sind die Zellzählung, die Hämoglobinbestimmung und die Anfertigung eines Differenzialblutbildes. cc Die Tumortherapie, insbesondere die zytostatische Chemotherapie, ist eine häufige Ursache von Blutbildveränderungen, insbes­ ondere einer Abnahme der Granulozyten, weshalb regelmäßige Kontrollen durchgeführt werden.

7.6.2 Biochemische Untersuchungen cc Definition  Tumormarker sind körpereigene Substanzen, die bei bestimmten Krebserkrankungen im Blut, aber auch in anderen Körperflüssigkeiten und Geweben vermehrt vorkommen können, aber nicht müssen. Sie stammen entweder von den Tumorzellen selbst oder werden als Reaktion des Organismus auf die Erkrankung gebildet. Die erhöhte Konzentration solcher Tumormarker kann auf einen Tumor oder das Rezidiv eines Tumors hindeuten. Allerdings wird keiner dieser konventionellen Tumormarker ausschließlich von Tumorzellen gebildet – alle kommen auch im normalen Gewebe vor, der Unterschied ist nur quantitativ. Deshalb sind diese Tumormarker auch wenig spezifisch, d.  h., sie unterscheiden schlecht zwischen Krebs und „Nicht-Krebs“: Erhöhungen finden sich auch bei nichtmalignen Erkrankungen, zudem ist auch bei einer Tumorerkrankung der entsprechende Marker nicht immer erhöht. Für die Früherkennung und Primärdiagnostik sind diese Marker daher nicht oder nur eingeschränkt geeignet. In der Therapie- und Verlaufskontrolle wie auch in der Nachsorge von einigen Krebserkrankungen haben einige aber weiterhin ihren Platz (Tab. 7.1). cc Wichtig für die Beurteilung eines Tumormarkerwerts in der Verlaufskontrolle ist die Möglichkeit des Vergleichs mit einem vor Beginn der Behandlung bestimmten (erhöhten) Ausgangswert. Der Verlauf der Werte unter und nach einer Behandlung kann Hinweise auf deren Wirksamkeit und zum Verlauf geben: • Ein Rückgang der Werte in den Normbereich, z. B. nach Operation eines Tumors, spricht für vollständige Entfernung des Tumorgewebes, während weiterhin erhöhte Werte auf im Körper verbliebenes Tumorgewebe hindeuten.

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7  Diagnostische Verfahren in der Onkologie

• Ein Markerabfall unter medikamentöser Tumortherapie ist u. U. ein früher Hinweis auf die Wirksamkeit dieser Behandlung. • Nach anfänglichem Rückgang erneut ansteigende Werte weisen auf ein Rezidiv hin. Ansteigende Markerwerte können einen Rückfall früher anzeigen als klinische und bildgebende Untersuchungen. Durch die entsprechend frühere Einleitung einer erneuten Therapie kann der Verlauf der Erkrankung u.  U. günstig beeinflusst werden. Dies trifft besonders für ansteigende Werte des karzinoembryonalen Antigens (CEA) bei kolorektalen Karzinomen zu: Wird dadurch eine isolierte Lebermetastasierung frühzeitig entdeckt, besteht eventuell nochmals eine kurative Chance für die Patienten (Abb. 7.4). Für einige Krebserkrankungen existieren nützliche Marker, die routinemäßig bestimmt werden (Tab. 7.1).

7.7 Molekularbiologische Untersuchungen Dieser Begriff bezeichnet alle Untersuchungsmethoden, mit denen Tumorzellen auf der Ebene ihrer Bausteine (Eiweiße) oder der Erbsubstanz (DNA) bzw. einzelner Gene charakterisiert werden. Solche Untersuchungen geben wichtige Hinweise auf die Prognose der Erkrankung und die Wirksamkeit von Therapien. Die zielgerichteten („targeted“) Therapien (Abschn. 11.3) basieren auf solchen Untersuchungen. Molekularbiologische Methoden sind in der Onkologie besonders wichtig für die Bestimmung der sog. Biomarker. cc Definition  Biomarker sind messbare biologische Merkmale. Es kann sich dabei um Zellen, Gene, Genprodukte oder Moleküle wie Enzyme oder Hormone handeln. Auch die oben beschriebenen Tumormarker (Abschn. 7.6.2) können als Biomarker verstanden werden. Sie werden im Serum mit konventionellen Methoden der Laboranalytik bestimmt. Dieser Abschnitt behandelt Biomarker, die mit molekularbiologischen Methoden in oder auf den Tumorzellen nachgewiesen werden. Es lassen sich bestimmte Arten von Biomarkern unterscheiden (Tab. 7.2).

Abb. 7.4  Verlauf des CEA-Titers bei einem Patienten mit metastasierendem Kolonkarzinom unter Chemotherapie. Der Patient hatte eine deutliche Tumorrückbildung. Der CEA-Wert stieg wieder an, bevor der Rückfall symptomatisch wurde

7.7.1 Immunhistochemie: Nachweis von Tumorproteinen/antigenen Zum Nachweis von tumorspezifischen Proteinen (Eiweißen) in Biopsiematerial wird meist die

Tab. 7.1  Tumormarker. (Auswahl) Marker CEA CA 15–3 CA 125 CA 19–9 PSA (prostataspezifisches Antigen)

Wichtigste Tumoren mit häufiger Erhöhung des Wertes Dickdarmkarzinom Mammakarzinom Ovarialkarzinom Pankreaskarzinom Prostatakarzinom

Beispiel für nichtmaligne Erkrankung mit möglicher Erhöhung des Wertes Alkoholische Leberzirrhose Gutartige Brustdrüsenerkrankungen Aszites jeder Ursache Pankreatitis Benigne Prostatahyperplasie (Adenom)

A. Gaisser et al.

76 Tab. 7.2  Beispiele für Biomarker Biomarker Östrogenrezeptor (ER) her2-Rezeptor (überexprimiert) K-RAS-Onkogen nicht mutiert

Wichtigste Indikation zur Bestimmung Mammakarzinom Mammakarzinom Kolorektale Karzinome

Aussage Ansprechen auf ER-Inhibitoren (Tamoxifen) Ansprechen auf HER2-Antikörer (z. B. Trastuzumab, Lapatinib) Ansprechen auf EGFR-Antikörper (z. B. Cetuximab, Panitumumab)

Zellen der her2-Rezeptor stark vermehrt nachgewiesen wird (Überexpression) lassen sich mit dem Medikament Trastuzumab (Herceptin), einem Antikörper gegen den her2- Rezeptor, die verstärkten Wachstumssignale blockieren (Abschn.  11.3.1). Die IHC-­ Untersuchung auf her2-Rezeptoren gehört deshalb zur Routinediagnostik bei Brustkrebs, und alle Patientinnen mit her2-­Überexpression erhalten ergänzend zu den üblichen Therapien auch Trastuzumab. ◄

Abb. 7.5  Immunhistochemischer Nachweis von Östrogenrezeptoren in Brustkrebsgewebe: Die Tumorzellen zeigen eine starke Ausbildung von Östrogenrezeptoren im Zellkern (braune Anfärbung). Es ist zu erwarten, dass dieser Tumor auf eine Hormontherapie ansprechen wird. GenomeMe Lab Inc. Wellcome Collection. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

Immunhistochemie (IHC) eingesetzt. Damit lassen sich Oberflächenmerkmale auf Tumorzellen nachweisen: Mit einem Farbstoff gekoppelte spezifische Antikörper suchen und finden nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip ihr Ziel und binden daran. Der Grad der Anfärbung des Präparats zeigt an, ob und in welcher Menge das gesuchte Merkmal vorhanden ist (Abb. 7.5). Teilweise sind die mit der IHC nachgewiesenen Merkmale Ansatzpunkte für gezielte Therapien, z.  B.  Rezeptoren für Wachstumssignale (zielgerichtete Therapie; Abschn. 11.3). Beispiel

Bei Brustkrebs kann mittels IHC der sog. her2-Rezeptor (humaner-epidermalerWachstumsfaktor-Rezeptor 2) auf den Zellen bestimmt werden. Bei Tumoren, auf deren

7.7.2 Genanalysen: Direkter Nachweis von Genveränderungen Wie in Abschn. 2.3.2 ausgeführt, sind genetische Veränderungen, sog. Mutationen, wesentlich an der Entstehung und dem Wachstum maligner Tumoren beteiligt. Dabei ist zur Erinnerung festzuhalten, dass – abgesehen von den seltenen familiären Tumoren  – diese Mutationen nur in den Tumorzellen, nicht aber in den normalen Körperzellen vorkommen. Der Nachweis dieser genetischen Veränderungen spielt in der Onkologie zunehmend eine entscheidende Rolle. Es stehen dazu verschiedene moderne Methoden zur Verfügung: Polymerasekettenreaktion (PCR) und DNA-Sequenzierung  Die PCR ist eine Methode zur Vervielfältigung von kurzen DNA-­ Abschnitten. Mithilfe des Enzyms ­DNA-­Polymerase lassen sich im Reagenzglas (in vitro) beliebig viele Kopien von einzelnen DNA-­ Abschnitten erzeugen. Als Untersuchungsmaterial werden Blut, ggf. andere Körperflüssigkeiten oder Gewebeproben verwendet.

7  Diagnostische Verfahren in der Onkologie

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Einzelne Mutationen, die für bestimmte Tu- Flüssigbiopsie (Liquid Biopsy)  Im Blut zirkumoren typisch sind, lassen sich mit der PCR ganz liert zellfreie DNA („cell free DNA“ [cfDNA]), gezielt nachweisen: Man sorgt dafür, dass die die aus abgestorbenen Körperzellen stammt. Bei DNA-Polymerase den betreffenden DNA-­Tumorerkrankungen kommen zusätzlich intakte Abschnitt nur dann vervielfältigt, wenn die ge- Tumorzellen („circulating tumor cells“ [CTC]) und daraus stammende DNA hinzu. Die oben ersuchte Mutation darauf vorhanden ist. wähnte Methode der NGS erlaubt es, cfDNA molekularbiologisch zu analysieren. Im GegenBeispiel satz zur Untersuchung an Gewebeproben sind Für die Entscheidung, ob eine zielgerichtete Blutproben relativ einfach zu gewinnen. Es könTherapie (Abschn.  11.3) bei einem Patienten nen deshalb engmaschige Verlaufskontrollen infrage kommt, wird mit diesen Methoden bei durchgeführt werden, ohne den Patienten durch Lungenkrebs eine EGFR-Mutation gesucht. ◄ wiederholte Biopsien zu belasten. Durch solche Untersuchungen kann z. B. eine neu aufgetretene Zur Analyse größerer DNA-Abschnitte auf be- Mutation festgestellt werden, die auf eine Resiskannte oder auch noch unbekannte Genver- tenz gegen ein eingesetztes Medikament hinänderungen (Sequenzierung) erfolgt zunächst weist. Dann kann ein Wechsel auf eine andere, ebenfalls eine stückweise Vermehrung durch wieder wirksame Therapie erfolgen. DNA-Polymerase. Anschließend wird an den entstandenen Kopien mit verschiedenen Techniken die Abfolge ihrer Bausteine bestimmt. Next Generation Sequencing (NGS)  Eine Weiterentwicklung der „einfachen“ Sequenzierung ist das sog. Next Generation Sequencing (NGS). Es erlaubt die parallele Analyse einer großen Zahl von DNA-Abschnitten bis hin zu ganzen Genomen in relativ kurzer Zeit. Um die Masse der dabei gewonnenen Daten „lesbar“ und interpretierbar zu machen, sind enorme Rechnerleistungen erforderlich. Durch Vergleich mit einer Referenz-DNA lassen sich Abweichungen feststellen. In der Praxis werden bei onkologischen Patienten meist nur die DNA-Abschnitte untersucht, auf denen die für den entsprechenden Tumor typischen Mutationen liegen. Als Untersuchungsmaterial können sowohl Gewebeproben wie Körperflüssigkeiten eingesetzt werden.

Literatur Weiterführende Literatur Mertz K et  al (2015) Die Zukunft hat schon begonnen: Next Generation Sequencing in der Pathologie. Swiss Medical Forum 5:1218 Mertz K et al (2018) Liquid Biopsy – auf der Jagd nach Mutationen im Blut. Swiss Medical Forum 18:29–30

Internetadressen Krebsinformationsdienst: www.krebsinformationsdienst. de/themen/untersuchung/index.php (Informationen zu verschiedenen diagnostischen Verfahren und Links zu weiterführenden Informationsangeboten)

Teil II Onkologische Therapien

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Prinzipien der Tumorbehandlung Thomas Kroner und Urs Strebel

8.1 Einleitung Dieses Kapitel beschreibt wichtige allgemeine Fragen der Tumorbehandlung: Wann ist eine Therapie überhaupt indiziert? Welche Behandlungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung? Welche Ziele kann eine Therapie anstreben? Was versteht man unter einer adjuvanten Therapie? Wie wird der Erfolg einer Behandlung beurteilt? Besonderes Gewicht wird dabei auf die Beschreibung der verschiedenen Therapieziele gelegt: Eine Behandlung, die die Heilung der Krankheit zum Ziel hat, unterscheidet sich wesentlich von einer rein auf Linderung der Beschwerden ausgerichteten Behandlung.

8.2 Indikationen zur Tumortherapie Die Diagnose eines bösartigen Tumors stellt an sich noch keinen hinreichenden Grund für eine Therapie dar. Für die Einleitung einer Behandlung müssen Vor- und Nachteile einer Therapie gegeneinander abgewogen werden. Je größer die Chance auf eine definitive Heilung ist,

desto eher wird man zur Behandlung raten und desto eher wird der Patient auch stärkere Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Im Einzelnen wird die Indikation für eine Tumorbehandlung durch folgende Kriterien beeinflusst: • Wie verläuft (wahrscheinlich) die Tumorerkrankung des Patienten unbehandelt? • Welche Erfolgsaussichten hat die Tumortherapie? • Welches sind die Nebenwirkungen und möglichen Komplikationen der vorgesehenen Therapie? • Wie ist der Allgemeinzustand des Patienten? Liegen Begleiterkrankungen vor? • Welche Vorstellungen und Wünsche hat der Patient in Bezug auf die Behandlung: Wie gewichtet er die Überlebensdauer und wie die Lebensqualität? Wie definiert er Lebensqualität? Diese Punkte sind mit dem Patienten zu besprechen. Die Behandlung kann und darf nur mit Zustimmung des informierten Patienten erfolgen, als gemeinsame Entscheidung von Patient und Arzt.

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected] U. Strebel Stäfa/ZH, Schweiz © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_8

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T. Kroner und U. Strebel

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8.3 Behandlungsmöglichkeiten Für die Behandlung bösartiger Tumoren stehen grundsätzlich 3  verschiedene Therapiearten (Therapiemodalitäten) zur Verfügung: • Chirurgie (Kap. 9), • Strahlentherapie (Kap. 10), • medikamentöse Therapie (Kap. 11). Die medikamentöse Behandlung wird wegen ihrer Wirkung im ganzen Organismus auch Systemtherapie genannt. Welche Therapiemodalität im Einzelfall eingesetzt wird, hängt in erster Linie von der Art des Tumors, seiner Lokalisation und Ausbreitung (Tumorstadium) ab. Daneben sind aber auch der Allgemeinzustand des Patienten sowie allfällige Begleiterkrankungen zu berücksichtigen. In vielen Situationen ist  – auf der Grundlage großer Therapiestudien  – eine Standardtherapie definiert. Oft müssen aber verschiedene Möglichkeiten in einem Gespräch zwischen Internisten, Chirurgen und Strahlentherapeuten diskutiert werden (interdisziplinäre Tumorfallbesprechungen, Abschn. 8.9). cc Definition  Die einzelnen Therapiemodalitäten können allein oder kombiniert eingesetzt werden, wobei eine Kombination gleichzeitig oder zeitlich gestaffelt (sequentiell) erfolgen kann. Beim Einsatz verschiedener Therapiearten spricht man von multimodaler Therapie.

8.4 Therapieziele Das primäre Ziel jeder Behandlung ist die Heilung der Krankheit. Man spricht von einer kurativen Therapie oder – genauer – von einer Therapie in kurativer Absicht. cc Definition  Unter Heilung versteht man die dauerhafte Tumorfreiheit des Patienten während seiner weiteren Lebenszeit. Ob ein Patient geheilt ist, kann nur rückblickend festgestellt werden.

Voraussetzung für eine Heilung ist bei einer chirurgischen Behandlung die vollständige Entfernung des Tumors (R0-Resektion; Abschn. 8.5.1) bzw. – bei medikamentöser oder radioonkologischer Behandlung  – seine vollständige Rückbildung (komplette Remission). Von einer Heilung kann erst gesprochen werden, wenn langfristig kein Rückfall (Rezidiv) auftritt. Daher wird zwischen den Begriffen „Tumorfreiheit“ und „Heilung“ unterschieden: Unmittelbar nach einer Behandlung ist nur die Aussage möglich, ob ein Patient aktuell tumorfrei ist oder nicht. Erst wenn während einer längeren Beobachtungszeit kein Rezidiv aufgetreten ist, kann er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch als geheilt betrachtet werden. Die Dauer dieser Beobachtungszeit ist von Tumor zu Tumor unterschiedlich. Beispiel

Beim Kolonkarzinom (Dickdarmkrebs) treten mehr als 90 % aller Rezidive innerhalb von 5 Jahren nach der Operation auf. Ein Patient, der in dieser Zeit keinen Rückfall erlitten hat, kann deshalb mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 90 % als geheilt betrachtet werden. Beim Mammakarzinom dagegen treten nur etwa 50 % der Rezidive in den ersten 5 Jahren nach der Erstbehandlung auf. Eine Frau, die in dieser Zeit keinen Rückfall erlitten hat, kann nur mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 50 % als geheilt betrachtet werden. ◄ Von einer Heilung kann deshalb immer nur rückblickend und nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit gesprochen werden. In der Onkologie ist eine Heilung leider oft nicht möglich, wohl aber eine Rückbildung des Tumors durch den Einsatz verschiedener Therapiemodalitäten. Der Therapieerfolg ist dabei jedoch zeitlich begrenzt. Ziel einer solchen Behandlung ist es, durch die (vorübergehende) Rückbildung des Tumors eine (vorübergehende) Linderung der Beschwerden zu erreichen. In die-

8  Prinzipien der Tumorbehandlung

sem Fall spricht man von einer Therapie in palliativer Absicht. Die Überlebenszeit wird durch eine palliative Behandlung nicht zwangsläufig verlängert. In vielen Fällen – und besonders nach intensiver Vorbehandlung – ist jedoch eine Beeinflussung des Tumors nicht oder nicht mehr möglich. Die Behandlung beschränkt sich dann auf die Behebung oder Linderung der Krankheitssymptome wie Schmerzen oder Atemnot. Es wird dann von einer symptomatischen Therapie gesprochen. Begleitend zur antitumoralen Behandlung kommen sowohl bei kurativer wie auch bei palliativer Zielsetzung supportive Therapien zur Anwendung, um Nebenwirkungen der Tumortherapie wie Übelkeit und Erbrechen und allgemeine Krankheitsfolgen wie etwa Anämie zu lindern. Entsprechend dem Therapieziel werden also folgende Behandlungsformen unterschieden: • • • •

kurative Behandlung, palliative Behandlung, symptomatische Behandlung und supportive Behandlung.

Spezielle Formen der kurativen Behandlung sind die • adjuvante Behandlung und die • neoadjuvante Behandlung. Die Kenntnis dieser unterschiedlichen Therapieansätze ist für das Verständnis der onkologischen Behandlungen äußerst wichtig. Es wird deshalb im Folgenden näher darauf eingegangen.

8.4.1 Kurative Behandlung cc Definition  „Curatio“ (lat.) bedeutet Heilung. Das Ziel der kurativen Behandlung ist die Heilung der Tumorerkrankung. Einige Krebserkrankungen lassen sich fast immer heilen; häufiger wird jedoch nur ein Teil der Patienten dauerhaft geheilt. Man spricht daher besser nicht von kurativer Behandlung, sondern von einer Behandlung in kurativer Absicht oder mit kurativer Zielsetzung.

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Die Therapiemodalität für die kurative Behandlung wird – wie oben erwähnt – von der Art des Tumors (Ursprungsort, Histologie) und seiner Ausdehnung (Stadium) bestimmt. cc Da das Behandlungsziel die definitive Heilung der Krankheit ist, werden bei einer Behandlung in kurativer Absicht stärkere unerwünschte Wirkungen in Kauf genommen. Dieser Grundsatz gilt v.  a. für die akuten Nebenwirkungen einer Therapie, die nach einigen Wochen oder Monaten abklingen. Bei hochdosierten Chemo- und Radiotherapien in kurativer Absicht müssen die Patienten gelegentlich für die Dauer der Therapie stationär aufgenommen werden, um schwere akute Nebenwirkungen (z.  B.  Knochenmarkaplasie bei der Chemotherapie akuter Leukämien, Mukositis bei der Radiotherapie von Kehlkopfkarzinomen) besser kontrollieren und behandeln zu können. Langfristige Nebenwirkungen dagegen möchte man den potenziell geheilten Patienten nach Möglichkeit ersparen; allerdings sind solche Schäden nicht immer vermeidbar. So ist z. B. eine Polyneuropathie oder eine Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit durch Chemotherapie und/oder Bestrahlung oft nicht zu verhindern. Ähnliches gilt für die Chirurgie: Auch hier wird versucht, bei Eingriffen mit kurativer Zielsetzung bleibende Beeinträchtigungen zu vermeiden. Oft müssen jedoch Defekte der körperlichen Integrität, z. B. ein künstlicher Darmausgang oder eine Brustamputation, als Preis für eine Heilung in Kauf genommen werden.Dauer der kurativen Therapie  Eine Operation ist in der Regel ein einmaliger Eingriff. Eine Radiotherapie dauert meist 4–6  Wochen. Eine kurative Chemotherapie dauert in der Regel 3–6 Monate, evtl. auch länger. Adjuvante Behandlung Definition Eine adjuvante Behandlung (von lat. adjuvare = helfen) wird zusätzlich zu einer kurativen Therapie durchgeführt. Ihr Ziel ist es, das ­Rückfallrisiko zu vermindern. In der Regel ver-

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steht man darunter eine postoperative Systemund/oder Radiotherapie. Am Beispiel des Mammakarzinoms, bei dem adjuvante Therapien sehr häufig eingesetzt werden, soll dieses Behandlungsprinzip näher erläutert werden. Folgende Erkenntnisse liegen der adjuvanten Systemtherapie zugrunde: • Auch nach radikaler Operation des Primärtumors und möglicher lokaler axillärer Lymphknotenmetastasen können Lokalrezidive und Fernmetastasen auftreten – oft erst viele Jahre nach dem chirurgischen Eingriff. Dieses Schicksal kann auch Frauen mit tumorfreien Lymphknoten treffen (allerdings in einem deutlich geringeren Prozentsatz). Es muss deshalb angenommen werden, dass Rezidive nicht deshalb auftreten, weil zu wenig radikal operiert wurde, sondern weil sich schon lange vor der Operation einzelne Tumorzellen vom Primärtumor loslösen und über die Lymphoder Blutbahnen in andere Organe gelangen können, wo sie sich als Mikrometastasen festsetzen und für lange Zeit ruhig verhalten. Aus verschiedenen, nur teilweise bekannten Gründen können diese Mikrometastasen zu einem späteren Zeitpunkt zu wachsen beginnen und das Schicksal der Patientinnen bestimmen. • Eine Chemo-, Hormon- oder Radiotherapie ist umso wirksamer, je kleiner das zu behandelnde Tumorvolumen ist. Während Mikrometastasen beim Mammakarzinom mit adjuvanten Therapien in kurativer Absicht behandelt werden können, ist dies bei symptomatischen, nachweisbaren Metastasen nicht mehr möglich. • Das statistische Rückfallrisiko einer Patientin kann anhand von Risikofaktoren abgeschätzt werden. Dazu gehören u.  a. die Größe des Primärtumors, der Befall der axillären Lymphknoten und biologische Eigenschaften des Tumors wie z.  B. der Gehalt an Hormonrezeptoren und der Differenzierungsgrad.

Beispiel

Eine 60-jährige Frau mit einem Mammakarzinom von 1 cm Durchmesser ohne Befall axillärer Lymphknoten und mit deutlichem Gehalt an Hormonrezeptoren und guter Differenzierung hat  – ohne adjuvante Therapie  – nach der Operation ein Risiko von etwa 15 %, innerhalb der nächsten 10 Jahre einen Rückfall zu erleiden. Das bedeutet, dass von 100 Frauen mit dem gleichen Tumor 15 einen Rückfall erleiden und 85 tumorfrei bleiben werden. Ein wesentlich höheres Rückfallrisiko von 70 % hat dagegen eine gleichaltrige Frau mit zwar gleichgroßem Primärtumor, aber mehreren Risikofaktoren wie Befall von mehreren axillären Lymphknoten, Fehlen von Hormonrezeptoren und schlechter Differenzierung. ◄ Diese Beobachtungen haben dazu geführt, Frauen mit erhöhtem Rückfallrisiko nach der Operation eine adjuvante medikamentöse Therapie zu empfehlen  – je nach Situation eine Hormon-, eine Chemotherapie oder beides. Eine adjuvante Radiotherapie wird nach brusterhaltender Operation meist, nach Mastektomie in bestimmten Fällen angeschlossen. Die adjuvante Therapie ist mit Problemen behaftet: • Das Rückfallrisiko lässt sich nur statistisch, d. h. für eine Gruppe von Patientinnen mit bestimmten Risikofaktoren, angeben (oben). Im Einzelfall ist unklar, ob eine Patientin durch die Operation evtl. bereits geheilt ist oder ob und wann sie einen Rückfall erleiden wird. Wäre klar, dass eine Patientin durch die Operation bereits geheilt ist, wäre eine adjuvante Therapie überflüssig. • In der adjuvanten Situation ist definitionsgemäß kein Tumor nachweisbar. Im Einzelfall ist daher nicht klar, ob die möglicherweise vorhandenen Mikrometastasen auf die gewählte adjuvante Therapie (Radio-, Chemo-

8  Prinzipien der Tumorbehandlung

oder Hormontherapie) ansprechen. Auch nach adjuvanter Therapie treten Rückfälle auf, d. h. dass nur ein Teil der Patientinnen durch die adjuvante Behandlung geheilt wird. Alles in allem profitieren statistisch zwischen 5 und 30  % aller Patientinnen mit Mammakarzinom von einer adjuvanten Systemtherapie im Sinne einer Heilung oder Verlängerung der Überlebenszeit. Computerprogramme, denen die Daten aus großen Studien und aus retrospektiven Analysen zugrunde liegen, erlauben unter Berücksichtigung der individuellen Merkmale und Risikofaktoren eine Abschätzung, ob und in welchem Ausmaß eine Patientin von einer adjuvanten Behandlung profitieren kann und welche Therapie am besten geeignet ist. Zudem unterstützen Genanalysen (Abschn.  7.7) zunehmend eine gezieltere Behandlung. Adjuvante Systemtherapien werden neben dem Mammakarzinom auch bei vielen anderen bösartigen Tumoren eingesetzt. Neoadjuvante Behandlung Definition Unter neoadjuvanter Behandlung (von griech. neos = neu) versteht man eine Systemtherapie, die vor der lokalen, meist chirurgischen Behandlung eines malignen Tumors durchgeführt wird. Ihr Ziel ist die Verkleinerung des Primärtumors (und damit die Verbesserung der Operabilität) und gleichzeitig die Vernichtung etwaiger Mikrometastasen. Im Gegensatz zur adjuvanten Therapie lässt sich bei neoadjuvanter Therapie die Wirkung auf den Tumor bereits während der Behandlung – anhand der Verkleinerung des Tumors  – und nach der Operation histologisch am Operationspräparat beurteilen. Zudem ist ein kleiner gewordener Tumor schonender zu entfernen: Dies ist v.  a. wichtig bei Tumoren, die primär nicht oder nur unter Inkaufnahme großer körperlicher Defekte (z. B. Amputationen) entfernt werden können. So erlaubt es beispielsweise eine neoadjuvante Therapie oft, bei großen Mammakarzinomen statt

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einer Mastektomie eine brusterhaltende Operation durchzuführen oder bei einem Rektumkarzinom kontinenzerhaltend (ohne Anlage eines dauerhaften Stomas) zu operieren. Neoadjuvante Systemtherapien werden neben dem Mamma- und Rektumkarzinom auch bei anderen lokal fortgeschrittenen Tumoren durchgeführt.

8.4.2 Palliative Behandlung cc Definition  Pallium (lat.) bedeutet Mantel. Unter palliativer Behandlung versteht man in der Medizin allgemein die Linderung von Beschwerden. Der Begriff „palliativ“ beschreibt zwei unterschiedliche Konzepte: • In der Onkologie bezeichnet palliative Tumortherapie eine auf den Tumor gerichtete Therapie mit dem Ziel, durch eine Verringerung der Tumormasse die tumorbedingten Symptome zu lindern. Sie kommt zum Einsatz in Krankheitsstadien, in denen eine Heilung nicht möglich ist. • Palliative Care (Palliativmedizin) dagegen ist die Behandlung von Patienten mit einer nicht heilbaren progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung. Sie wird nicht nur von Tumorpatienten in Anspruch genommen, sondern auch von Patienten mit beispielsweise fortgeschrittenen Nerven-, Lungen- oder Herzleiden. Ihr Hauptziel ist die bestmögliche Erhaltung der Lebensqualität der Patienten. Neben der Behandlung von körperlichen Symptomen wie Schmerz oder Dyspnoe legt sie besonderen Wert auf die psychosoziale und spirituelle Unterstützung. Palliative Versorgung und Pflege werden in Kap. 38 ausführlich behandelt. Eine ausschließlich auf die Symptome gerichtete Behandlung  – z.  B. die Schmerzbehandlung mit Analgetika  – wird als symptomatische Therapie bezeichnet (Abschn. 8.4.3.).

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cc Palliative Tumortherapie und Palliative Care schließen sich keineswegs aus: Eine palliative Tumortherapie ist nur sinnvoll als Bestandteil einer umfassenden onkologisch-­ palliativ­ medizinischen Betreuung. Wie oben erwähnt, kommt es häufig vor, dass eine Tumorerkrankung von Anfang an als unheilbar angesehen werden muss. Eine palliative Situation kann auch bei einem an sich heilbaren ­Tumor vorliegen, wenn wegen des Alters des Patienten oder einer gleichzeitig vorhandenen Zweitkrankheit nicht mit der für die Heilung nötigen Intensität behandelt werden kann. Auch bei Rückfällen nach einer ursprünglich mit kurativer Absicht durchgeführten Behandlung ist oft nur noch eine Behandlung in palliativer Absicht möglich. cc Eine palliative onkologische Behandlung kann durch jede Therapiemodalität (Chirurgie, Strahlentherapie, medikamentöse Tumor­ therapie) durchgeführt werden. • Bei einem Dickdarmkrebs wird beispielsweise ein Darmverschluss operativ in palliativer Absicht durch Hemikolektomie mit Entfernung des Primärtumors behoben, auch wenn bereits inoperable Lebermetastasen vorliegen. • Die Radiotherapie einer Skelettmetastase kann Schmerz und Frakturgefährdung beheben. • Mit Chemotherapie können z.  B.  Schmerzen bei Lebermetastasen eines Mammakarzinoms vorübergehend günstig beeinflusst werden. Die palliative onkologische Behandlung zielt also nicht auf die Heilung der Krankheit, sondern soll durch Reduktion der Tumormasse die krankheitsbedingten Symptome günstig beeinflussen. Wie bei der kurativen Behandlung kann auch hier nicht in allen Fällen das angestrebte Therapieziel erreicht werden. Man spricht daher besser nicht von palliativer Behandlung, sondern von einer Behandlung mit palliativer Absicht. Die Überlebenszeit wird

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selbst durch eine wirksame palliative Therapie nicht unbedingt verlängert. Ziel der palliativen onkologischen Therapie ist der Erhalt bzw. die Verbesserung der durch das Tumorleiden eingeschränkten Lebensqualität. Es wird deshalb großer Wert darauf gelegt, die Lebensqualität durch die Therapie selbst nicht zusätzlich zu beeinträchtigen. Vor allem akute Nebenwirkungen der Behandlung werden nach Möglichkeit vermieden. Hospitalisationen sollten für palliative Chemooder Radiotherapien nur in Ausnahmefällen nötig sein. cc Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Lebensqualität durch den Patienten und nicht durch die behandelnden Ärzte, die Pflegenden oder die Angehörigen bestimmt wird: Der Patient allein weiß, wie sehr er sich durch den Tumor beeinträchtigt fühlt und welche Nebenwirkungen einer Therapie er auf sich nehmen will. Bereits die Symptome der Krankheit werden individuell und sehr unterschiedlich gewertet. So kann z.  B. eine Patientin mit symptomatischen Skelettmetastasen sich in ihrer Lebensqualität wenig beeinträchtigt fühlen, solange ihre Beschwerden durch einfache Analgetika zu beherrschen sind. Eine palliative Tumortherapie ist in diesem Moment möglicherweise nicht nötig. Ein anderer Patient mit einer asymptomatischen Lebermetastase dagegen ist allein durch das Wissen um diese Metastase in seiner Lebensqualität so stark beeinträchtigt, dass eine palliative Tumortherapie indiziert sein mag. Auch die Nebenwirkungen der Tumortherapie werden individuell unterschiedlich empfunden: So wird etwa therapiebedingter Haarausfall von einigen Patienten als Bagatelle wahrgenommen, während er für andere eine schwere Stigmatisierung darstellt. Dauer einer Therapie mit palliativer Absicht  Die Operation ist in der Regel ein einmaliger Eingriff. Die Bestrahlung einer einzelnen Lokalisation dauert  – je nach Lokalisation und Technik – wenige Tage bis Wochen. Die Wir-

8  Prinzipien der Tumorbehandlung

kung sollte mehrere Monate anhalten. Eine palliative medikamentöse Tumortherapie wird – bei Ansprechen des Tumors – in der Regel ca. 2 Monate über das Verschwinden der Symptome hinaus durchgeführt; die Therapiedauer liegt dann oft zwischen 4 und 6 Monaten. Bei guter Verträglichkeit wird die Therapie unter Umständen auch bis zum erneuten Tumorwachstum weitergeführt.

8.4.3 Symptomatische und supportive Behandlung Symptomatische Behandlung Definition Unter symptomatischer Behandlung versteht man eine Therapie, die einzig auf die Linderung von Symptomen ausgerichtet ist. Die symptomatische Behandlung erfolgt meist medikamentös, z.  B. mit Mitteln gegen Schmerzen, Husten, Fieber usw. Die Gabe von Erythrozytenkonzentraten im Fall einer tumorbedingten Anämie ist ebenfalls ein Beispiel für eine symptomatische Therapie. Sehr viele Tumorbeschwerden lassen sich aber mit einer palliativen, auf den Tumor gerichteten Therapie (v.  a. Bestrahlung oder Systembehandlung) anhaltender und wirkungsvoller beeinflussen als mit einer symptomatischen Therapie, z. B. durch die gezielte Bestrahlung einer schmerzhaften Knochenmetastase. Trotz der Nebenwirkungen ist eine palliative Behandlung deshalb oft einer rein symptomatischen vorzuziehen. Supportive Behandlung Definition Als supportive Behandlungen werden Maßnahmen bezeichnet, die gegen Nebenwirkungen oder Komplikationen von Tumorbehandlungen wirksam sind.

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Beispiele für supportive Behandlungen sind: • antiemetische Medikamente gegen therapiebedingte Übelkeit und Erbrechen, • Blutprodukte bei therapiebedingter Anämie oder Thrombopenie. Supportive und symptomatische Behandlung lassen sich nicht immer scharf voneinander abgrenzen. Die beiden Begriffe werden deshalb gelegentlich gleichbedeutend gebraucht. So wird beispielsweise die Schmerztherapie gelegentlich als supportive Therapie bezeichnet.

8.5 Beurteilung des Behandlungserfolgs 8.5.1 Chirurgie Das Resultat eines in kurativer Absicht vorgenommenen chirurgischen Eingriffs ist meist gut zu beurteilen: Bei der Operation wird der Chirurg makroskopisch das Gewebe prüfen und Biopsien aus der Umgebung des Tumors zur mikroskopischen Untersuchung durch den Pathologen entnehmen. Gelingt es, den Tumor vollständig so zu entfernen, dass alle Resektionsränder bei der histologischen Untersuchung mikroskopisch tumorfrei sind, wird von einer Resektion im Gesunden oder R0 (R Null)-Resektion gesprochen. Falls auch die Biopsien aus der Umgebung des Tumors, insbesondere die regionären Lymphknoten, mikroskopisch tumorfrei („negativ“) sind, ist bei vielen Tumorarten die Voraussetzung für eine definitive Heilung gegeben. Das Operationsresultat wie folgt dokumentiert:

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• R0: Weder makroskopisch noch mikroskopisch ist ein Resttumor nachweisbar. • R1: Mikroskopisch ist ein Resttumor nachweisbar. • R2: Makroskopisch ist ein Resttumor nachweisbar. • RX: Vorhandensein oder Fehlen eines Resttumors ist nicht beurteilbar.

8.5.2 Radiotherapie und medikamentöse Tumortherapien Der Erfolg einer Radio- oder medikamentösen Tumortherapie wird oft nach den sog. RECIST-­ Kriterien (Response Evaluation Criteria In Solid Tumors) beurteilt. Diese wurden ursprünglich für klinische Studien an soliden Tumoren entwickelt, sie werden heute aber auch in der klinischen Routine angewandt. Komplette Remission (CR)  Tritt nach einer Bestrahlung oder einer medikamentösen ­Tumortherapie eine vollständige Rückbildung aller Tumorherde auf, wird von einer kompletten Remission oder Vollremission gesprochen (lat. remittere = zurückschicken). Das Erreichen einer kompletten Remission ist Voraussetzung für eine eventuelle Heilung und entsprechend erstes Ziel jeder kurativen Behandlung. Umgekehrt ist eine komplette Remission leider noch keine Garantie für eine Heilung, da auch in diesem Fall Rezidive auftreten können. Partielle Remission (PR)  Unter einer Teilremission oder partiellen Remission versteht man eine objektivierbare, messbare, aber unvollständige Rückbildung des oder der Tumorherde um mehr als 50  % des ursprünglichen Tumorvolumens. Damit von einer Teilremission gesprochen werden kann, muss die Rückbildung des Tumors mindestens 4 Wochen anhalten.

T. Kroner und U. Strebel

Eine partielle Remission führt oft zu einer deutlichen Reduktion der tumorbedingten Symptome und entspricht damit dem Ziel der mit palliativer Absicht durchgeführten Tumortherapie. Stabilisierung der Erkrankung (engl. „no change“; NC, oder „stable disease“; SD)  Von einer Stabilisierung wird gesprochen, wenn durch die Behandlung bei einem zuvor rasch wachsenden Tumor das Tumorwachstum gestoppt, aber keine Remission erreicht werden kann. Als Stabilisierungen werden auch Teilremissionen bezeichnet, bei denen sich der Tumor um weniger als 50  % des Ursprungsvolumens verkleinert. Progredienz (engl. „progressive disease“; PD)  Unter Progredienz (von lat. progredi = fortschreiten) versteht man das durch die Tumortherapie unbehinderte Tumorwachstum. Sie wird auch als Progression (eingedeutscht: Progress) bezeichnet. Von Progredienz spricht man auch, wenn der Tumor nach einer vorübergehenden Remission erneut größer wird. Pseudoprogression (PSPD) unter Immuntherapien  Unter den neuen Immuntherapien (Checkpointhemmer) wird zu Beginn der Therapie gelegentlich eine sog. Pseudoprogression beobachtet. Dabei handelt es sich um eine Größenzunahme des Tumors, die jedoch nicht einer Zunahme der Tumorzellen entspricht, sondern der Einwanderung von Immunzellen in den Tumor. Einige Wochen später kann es zu einer langdauernden partiellen oder vollständigen Remission kommen.

8.5.3 Zeitpunkt und Methode der Beurteilung Bei der chirurgischen Tumorentfernung ist eine erste Beurteilung des Erfolgs bereits bei Ab-

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8  Prinzipien der Tumorbehandlung

schluss der Operation bzw. nach der histologischen Untersuchung des Operationspräparats möglich. Bei Radiotherapie oder medikamentöser Behandlung tritt der Behandlungserfolg meist erst einige Wochen nach Therapiebeginn ein. Für die Beurteilung des Therapieresultats sind oft erneute Untersuchungen nötig. In erster Linie werden dazu neben der Klinik bildgebende Methoden (Röntgenuntersuchungen, Ultraschall, evtl. Computertomografie, PET etc.) eingesetzt.

8.6 Beurteilung unerwünschter Wirkungen von Chemo- und Radiotherapie Wie der Behandlungserfolg werden auch die unerwünschten Wirkungen einer Therapie dokumentiert und beurteilt. Dazu eignet sich beispielsweise das Klassifikationssystem CTCAE (Common Terminology Criteria for Adverse Events v.5.0). Nach der früheren Bezeichnung „Common Toxicity Criteria“ wird es häufig auch noch als CTC bezeichnet. Die CTCAE stellen einen Katalog dar, in dem ungefähr 300 unerwünschte Wirkungen aufgeführt sind. Dazu zählen Symptome wie Erbrechen, Haarausfall, Fatigue oder periphere Poly­neuropathie, aber auch pathologische Laborbefunde wie etwa Hämoglobinabfall. Jeder dieser unerwünschten Wirkungen können 5  Schweregrade zugewiesen werden, wobei Grad 5 offensichtlich nicht bei allen unerwünschten Wirkungen möglich ist (Tab. 8.1). Tab. 8.1  Schweregrade der unerwünschten Wirkungen nach CTCAE Grad 1 2 3 4 5

Kennzeichen Mild Mäßig Schwer Lebensbedrohlich oder invalidisierend Tod als Folge der unerwünschten Wirkung

8.7 Nachsorge und Rehabilitation Unter Nachsorge oder Verlaufskontrolle wird die Betreuung des Patienten nach Abschluss der Behandlung verstanden. Die Nachsorge hat 3 Hauptziele: • psychologische Begleitung und Unterstützung des Patienten, • Diagnose eines Rezidivs, sofern die Frühbehandlung einen Nutzen bringt (s. unten), • Feststellung von Therapienebenwirkungen und -spätfolgen. Spätestens bei Abschluss, idealerweise schon während der Behandlung, beginnt auch die wichtige Rehabilitation des Patienten. Ihr Ziel ist die Behandlung von durch den Tumor oder seine Behandlung verursachten Einschränkungen körperlicher, psychischer oder sozialer Art. Sie ist Thema von Kap. 14.

8.8 Survivorship Als „Cancer Survivors“ (survivor: engl. für Überlebender) werden in den USA und vermehrt auch im deutschen Sprachraum Menschen bezeichnet, die mit einer Krebserkrankung leben oder davon geheilt sind. Die Definition ist unscharf: Einige Organisationen bezeichnen jeden Krebspatienten ab seiner Diagnose als „Survivor“, andere nur solche, die eine in kurativer Absicht durchgeführte Behandlung abgeschlossen haben (Arndt 2019). In Europa ist allerdings der Begriff als solcher nicht unumstritten (Surbone et  al. 2013). Hinter der Einführung von „Cancer Survivor­ship“ stehen zwei Motive: Zum einen möchten viele, v. a. amerikanische, Krebspatienten nicht als „Patienten“ („(Er)leidende“) betrachtet und bezeichnet werden, sondern – mit einem etwas heroischen Unterton – als „Überlebende“. Zudem weisen die Orga-

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nisationen der „Survivors“ zu Recht darauf hin, dass die Nachsorge von Langzeitüberlebenden vermehrt auf ihre speziellen Probleme zu fokussieren ist (Göbel 2021). Es werden deshalb individuelle Nachsorgeprogramme entwickelt, die – angepasst an Diagnose und Therapie des betreffenden „Survivors“ – gezielt auf psychosoziale Probleme, mögliche Langzeitschäden der Therapie und Fragen der Gesundheitsförderung eingehen.

T. Kroner und U. Strebel

Die Patienten selbst nehmen an der Tumorkonferenz nicht teil. Da die wenigsten Teilnehmer die diskutierten Patienten persönlich kennen, ist es eine zentrale Aufgabe des für den Patienten zuständigen Arztes, ihn an der Konferenz zu vertreten, anschließend über das vorgeschlagene Vorgehen zu orientieren und gemeinsam mit ihm das definitive Vorgehen festzulegen.

8.9 Behandlungsteam und Versorgungsnetzwerk

cc Eine eindeutige Zuordnung der Verantwortlichkeiten und eine kontinuierliche Information aller Beteiligten, auch der Patienten, sind von großer Bedeutung.

Zur optimalen Behandlung und Rehabilitation gehört sowohl die gute interdisziplinäre Zusammenarbeit aller beteiligten Ärzte der verschiedenen Fachrichtungen als auch das reibungslose Funktionieren eines multiprofessionellen Teams aus Ärzten, Pflegenden und Angehörigen anderer Berufsgruppen, sowohl in der stationären wie in der ambulanten Betreuung und ganz besonders auch während der Rehabilitation.

Multiprofessionelles Behandlungsteam Die Spezialisierung der Medizin äußert sich auch in der Zunahme der an der Betreuung von Krebs­ patienten beteiligten Berufsgruppen: Neben Pflegenden und Ärzten gehören dazu vermehrt auch Psychoonkologen, Diätassistentinnen, Ergotherapeuten, Sozialarbeiter, Seelsorger und andere mehr. Alle diese Personen bilden das Behandlungs- oder Betreuungsteam.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit An der Betreuung eines krebskranken Patienten sind in der Regel Ärzte verschiedener Fachrichtungen beteiligt. Die optimale Behandlung wird immer öfter erst nach interdisziplinärer Besprechung der beteiligten Spezialisten festgelegt. Diese Besprechungen sind an den meisten Krankenhäusern institutionalisiert und finden in regelmäßigen Abständen als interdisziplinäre Tumorfallbesprechungen („Tumorkonferenzen“ oder „Tumorboards“) statt. Teilnehmer an diesen Besprechungen sind in der Regel:

cc Voraussetzungen für das Funktionieren sind auch hier eine eindeutige Zuordnung der Verantwortlichkeiten und ein intensiver Informationsaustausch im Team.

• Vertreter der therapeutischen Disziplinen (medizinische Onkologie, Radioonkologie, Chirurgie, Gynäkologie u. a. m.), • Vertreter der diagnostischen Disziplinen (Radiologie, Pathologie), • evtl. Hausärzte, Pflegende und weitere Spezialisten (Breast Cancer Nurse etc.).

Alle müssen im Interesse des Patienten am gleichen Strang ziehen. Dazu ist es wichtig, das Ziel der Behandlung für jeden Patienten mit dem Team zu besprechen. Balint-Gruppen oder andere Formen der Supervision sind für das – psychisch oft stark belastete – Team wertvoll. Versorgungsnetzwerk des Patienten Neben dem Behandlungsteam wird ein wichtiger Pfeiler in der Betreuung des Patienten oft vergessen: Angehörige, Freunde und Nachbarn spielen eine zentrale Rolle bei der Betreuung. cc Vor allem die Angehörigen sind großen psychischen, aber auch zeitlichen und gelegentlich körperlichen Belastungen ausgesetzt.

8  Prinzipien der Tumorbehandlung

Es ist eine wichtige Aufgabe des Behandlungsteams, die Belastbarkeit und Tragfähigkeit dieses Versorgungsnetzes immer wieder zu überprüfen und soweit möglich zu stärken.

Literatur Zitierte Literatur Arndt V (2019) „Cancer survivorship“ in Deutschland – Epidemiologie und Definitionen. Forum 34:158 Göbel R (2021) Survivorship aus Sicht der Betroffenen. Onkologe 27:771–776. https://doi.org/10.1007/s00761021-00996-7. Zugriff 26.06.2023 Schärli M et  al (2017) Interprofessionelle Zusammenarbeit Pflegefachpersonen und Ärzteschaft. Pflege 30:53–63

91 Surbone A et  al (2013) Cancer patients and survivors: changing words or changing culture? Ann Onc 24:2468

Internetadressen CTCAE (Common Terminology Criteria for Adverse Events v5.0): https://ctep.cancer.gov/protocolDevelopment/electronic_applications/docs/CTCAE_v5_ Quick_Reference_8.5x11.pdf Informationen zu „Survivorship“ aus offizieller US-­ amerikanischer Quelle: https://www.cdc.gov/cancer/ survivors/ RECIST-Kriterien zur Beurteilung des Therapieerfolgs bei soliden Tumoren v.1.1 und iRECIST: https://recist. eortc.org/

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Tumorchirurgie Thomas Kroner und Sabrina Heizmann

9.1 Einleitung Die chirurgische Behandlung ist die älteste und war während Jahrhunderten auch die einzige Möglichkeit zur Behandlung bösartiger Erkrankungen. Heute stellt sie mit der Radiotherapie und der medikamentösen Tumortherapie einen der drei therapeutischen Pfeiler der modernen Onkologie dar. Neben der Beherrschung der operativen Techniken ist es heute für den Chirurgen ebenso wichtig, die Möglichkeiten und Grenzen seines Fachs wie auch die der Radiotherapie und der medizinischen Onkologie zu kennen. So ist er im interdisziplinären Behandlungsteam eine zentrale Figur und daran beteiligt, für jeden Patienten die optimale Therapie festzulegen. In Kap. 8 wurden wichtige allgemeine Grundlagen der onkologischen Therapie beschrieben. Diese gelten auch für die Tumorchirurgie. In diesem Kapitel wird auf einige für die Tumorchirurgie spezielle Eigenschaften eingegangen. In der Onkologie werden chirurgische Eingriffe in folgenden Situationen eingesetzt:

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected] S. Heizmann Hofstetten, Deutschland

• • • • •

zur Diagnose und Stadieneinteilung, mit kurativer Absicht, mit palliativer Absicht, als Prophylaxe, zur Rekonstruktion.

9.2 Chirurgie zur Diagnostik und Stadieneinteilung Bevor die Therapie eines bösartigen Tumors eingeleitet werden kann, muss seine Natur aufgrund einer Gewebsprobe histologisch eindeutig bestimmt sein (Kap. 4). Häufig ist es Aufgabe des Chirurgen, diese Probe (Biopsie) zu entnehmen und dem Pathologen zur Untersuchung zuzustellen (Abschn. 7.5.1). Für die Bestimmung des optimalen therapeutischen Vorgehens ist neben der histologischen Diagnose auch die Kenntnis der Ausbreitung des Tumors, d.  h. seine Stadieneinteilung, nötig. Diese Stadieneinteilung kann heute oft aufgrund bildgebender Methoden wie Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) vorgenommen werden. Bei einigen Tumoren sind jedoch weitere Untersuchungen zur genauen Stadieneinteilung nötig. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Therapieplanung von der präzisen Stadieneinteilung abhängt. Deshalb wird z. B. bei einem Magen- oder Eierstockkrebs vor der Operation häufig eine diagnostische Laparoskopie (Bauchspiegelung) vorgenommen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_9

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T. Kroner und S. Heizmann

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9.3 Chirurgie mit kurativer Absicht Das Ziel eines chirurgischen Eingriffs ist meistens die definitive, d.  h. endgültige Heilung des Patienten. Man spricht dann von einem Eingriff in kurativer Absicht. Dies ist der Fall in frühen Stadien, d. h. bei einem lokal begrenzten Tumorwachstum. Hier ist bei den meisten soliden Tumoren wie etwa einem Brust- oder Dickdarmkrebs der chirurgische Eingriff der wichtigste Schritt zur Heilung. Damit der Eingriff als kurativ gelten kann, muss das Tumorgewebe vollständig entfernt werden. Um dies sicherzustellen, untersucht der Pathologe am Operationspräparat, ob die Ränder tumorfrei sind. Ist dies nicht der Fall, wird der Operateur – falls möglich – nachschneiden (nachresezieren). Wurde beim Staging festgestellt, dass bereits Lymphknoten in der Umgebung tumorbefallen sind, müssen auch diese chirurgisch entfernt (reseziert) werden.

9.3.1 Radikale und konservative Eingriffe Während früher ein krebsbefallenes Organ immer vollständig reseziert wurde, können heute in vielen Fällen organerhaltende, sog. konservative Eingriffe vorgenommen werden. Beispiele

Bei Brustkrebs wurde früher immer die ganze Brust chirurgisch entfernt (Mastektomie), während heute in vielen Fällen eine brusterhaltende Operation möglich ist (Abschn. 39.1). Beim Rektumkarzinom (Mastdarmkrebs) musste früher immer ein künstlicher Darmausgang angelegt werden – heute ist es in vielen Fällen möglich, den Schließmuskel zu erhalten und damit kontinenzerhaltend zu operieren (Abschn. 41.4.5). ◄

9.3.2 Minimalinvasive Eingriffe Bis vor wenigen Jahren wurden in der Bauchhöhle gelegene bösartige Tumoren, z.  B.  Dickdarmkrebs, immer durch Eröffnung der Bauchhöhle (Laparotomie) operiert. Man bezeichnet dies als „offene Chirurgie“. Heute werden Eingriffe oft minimalinvasiv, d.  h. mit „Schlüssellochchirurgie“ durchgeführt. Dabei führt der Chirurg über einen maximal 2 cm langen Hautschnitt ein Laparoskop, eine starre Metallröhre mit einem Durchmesser von ca.  1  cm, in die Bauchhöhle ein. Das Laparoskop besitzt an seinem Ende eine Lichtquelle und eine Kamera. Dies ermöglicht es, über ein angeschlossenes Videosystem auf einem Bildschirm den Bauchraum einzusehen. Über weitere kleine Hautschnitte können chirurgische Spezialinstrumente in den Bauchraum eingeführt und damit sog. laparoskopische Operationen vorgenommen werden. Analog kann im Thoraxraum durch ein Thorakoskop operiert werden. Minimalinvasive Eingriffe werden heute bei vielen Tumoren durchgeführt, mit gleichen Langzeitergebnissen wie bei offenen Eingriffen. Sie führen zu kleineren Narben, weniger Wundheilungsstörungen und erlauben eine frühere Mobilisation des Patienten. Sie sind allerdings mit einer längeren Operationsdauer verbunden.

9.3.3 Chirurgie bei Lokalrezidiv oder Metastasen Als Lokalrezidiv bezeichnet man ein Wiederauftreten des Tumors im Bereich des exzidierten Tumors. Falls in der Zwischenzeit keine anderen Metastasen aufgetreten sind, ist es in den meisten Fällen sinnvoll, das Rezidiv  – sofern technisch möglich – nochmals chirurgisch anzugehen und großzügig zu exstirpieren. Fernmetastasen gelten bei den meisten soliden Tumoren als Hinweis darauf, dass die Krankheit fortgeschritten ist und durch lokale Maßnahmen

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9 Tumorchirurgie

wie eine Operation oder eine Bestrahlung nicht mehr geheilt werden kann. Dies ist möglicherweise bei einzeln auftretenden hämatogenen Metastasen anders, hier ist eventuell durch eine ­chirurgische Resektion doch noch eine definitive Heilung zu erreichen. Aus diesem Grund kann etwa bei isolierten Lebermetastasen eines Dickdarmkarzinoms die Indikation zur chirurgischen Resektion gestellt werden.

9.3.4 Chirurgie im Rahmen multimodaler Konzepte Sehr häufig werden in kurativer Absicht durchgeführte chirurgische Eingriffe im Rahmen eines multimodalen Konzepts geplant, d.  h. mit einer Radio- und/oder einer Chemotherapie kombiniert. Diese multimodalen Behandlungen werden anlässlich von sog. Tumorkonferenzen (interdisziplinäre Fallbesprechungen, Tumorboards) diskutiert und geplant. Beispiele

Bei einem lokal weit fortgeschrittenen Brustkrebs z.  B. wäre als alleinige chirurgische Maßnahme eine Radikaloperation, d.  h. eine Mastektomie, nötig. Wird aber vor der Operation eine Chemotherapie durchgeführt, wird dadurch evtl. der Tumor verkleinert und so eine brusterhaltende Operation möglich (neoadjuvante Chemotherapie, Abschn. 8.4.1). Bei der brusterhaltenden Operation eines Mammakarzinoms wird in der Regel nach dem Eingriff eine Bestrahlung der Brust durchgeführt (adjuvante Radiotherapie, Abschn. 8.4.1). ◄

9.4 Chirurgie mit palliativer Absicht Auch bei Patienten, für die eine definitive Heilung nicht mehr möglich ist, kann ein operativer Eingriff sinnvoll sein. Dies ist besonders dann der Fall, wenn durch einen relativ einfachen Ein-

griff starke, unter Umständen lebensbedrohliche Beschwerden behoben werden können. Es geht dabei nicht in erster Linie um Lebensverlängerung, sondern um eine Verbesserung der Lebensqualität. Beispiele

Bei einer pathologischen Fraktur (d.  h. einer Fraktur am Ort einer Knochenmetastase) können durch die operative Behandlung der Fraktur Mobilität und Schmerzfreiheit erreicht werden. Bei Darmverschluss aufgrund von Kompression durch Tumorgewebe kann durch eine Bypass-Operation der verschlossene Darmteil umgangen werden. ◄

9.5 Rekonstruktive Chirurgie Größere kurative Operationen führen öfters zu funktionellen oder kosmetischen Defekten. In diesen Fällen helfen rekonstruktive Eingriffe die gestörten Funktionen wiederherzustellen bzw. das kosmetische Ergebnis zu verbessern. Beispiele

• Rekonstruktion der Brust nach Mastektomie (mit Eigengewebe oder mit Implantat) • Narbenkorrektur bei schmerzhaften oder funktionell störenden Narben ◄

9.6 Präventive Tumorchirurgie In seltenen Fällen kann ein Organ prophylaktisch entfernt werden, wenn ein hohes Risiko besteht, dass sich dort ein maligner Tumor entwickelt. Dies ist bei einigen familiären, genetisch bedingten Erkrankungen der Fall. Beispiele

• Mastektomie und Ovarektomie bei Trägerinnen einer Mutation in einem BRCA-Gen (Abschn.  5.4.3). Es versteht sich von selbst,

T. Kroner und S. Heizmann

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dass die Patientinnen über die Folgen dieser psychisch belastenden Eingriffe informiert werden. Wichtiges Thema für diese meist jungen Frauen ist dabei die Familienplanung. Sie ist vor der Ovarektomie abzuschließen. • Dickdarmresektion bei familiärer Polyposis. ◄

9.7 Supportive Eingriffe Bei Tumorpatienten werden häufig auch „kleinere“ chirurgische Eingriffe vorgenommen, die die Verabreichung von Medikamenten erleichtern können. Beispiele

• Implantation eines Port-Systems. Es handelt sich dabei um einen unter der Haut liegenden Zugang zu einer Vene. Es wird eingesetzt bei länger dauernden intravenösen Chemotherapien, v. a. bei Patienten mit sog. „schlechten Venen“ (Abschn. 11.9) (Abb. 11.6). • Implantation eines Kathetersystems zur epiduralen Langzeit-Schmerzbehandlung. ◄

9.8 Spezielle Punkte für die ergotherapeutische Arbeit Bewegungseinschränkung Nach Brustoperationen mit Entfernung von axillären Lymphknoten kann es zu Bewegungseinschränkungen im Schultergelenk kommen. Dies hat Auswirkungen auf das Alltags- und Berufsleben der Klienten. Daraus resultieren Betätigungsziele, die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Physiotherapeuten erfordern. Gemeinsam mit dem Klienten wird an einer zufriedenstellenden Erweiterung des Bewegungsausmaßes und der Ausführung von verschiedenen Betätigungen gearbeitet.

Konzentrationsstörungen nach Narkosen Obwohl kognitive Einbußen nach Narkose als reversibel gelten, können sie den Klienten trotzdem ängstigen. Wichtig ist eine Beratung über mögliche, reversible Beeinträchtigungen. Ein weiterer Schritt wäre die Analyse, in welchen Alltagssituationen der Klient sich im Besonderen eingeschränkt fühlt, und darauf aufbauend die Formulierung des Betätigungsziels. Bei starken Ängsten aufgrund der kognitiven Beeinträchtigung sollte ein Psychoonkologe in die Behandlung involviert werden (Kap. 29). Narbenbildung Jeder operative Eingriff führt zu einer Narbe. Ob diese als einschränkend (Bewegungseinschränkung, Schmerz, Sensibilitätsstörungen) empfunden wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wichtig ist es, den Klienten in der richtigen Narbenpflege zu unterweisen (Kap. 30). Störungen des Körperbildes, Angst und Depression Manche Frauen haben z.  B. nach einer Mastektomie das Gefühl, ein Teil ihrer Weiblichkeit gehe verloren. Dies kann zu einem veränderten Körpergefühl, Ängsten (Werde ich mich wieder als Frau fühlen und leben können?) und Depressionen führen. Gemeinsam mit dem Psychoonkologen und ggf. Kunsttherapeuten kann die Klientin unterstützt werden (Kap. 31).

Literatur Weiterführende Literatur Gnant M, Schlag PM (2008) Chirurgische Onkologie. Springer, Wien New York

Internetadressen Krebsinformationsdienst: Operationen bei Krebs: www. krebsinformationsdienst.de/behandlung/operation.php

Strahlentherapie

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Steffen Barczyk und Sabrina Heizmann

10.1 Was ist Strahlentherapie? Die Strahlentherapie, auch als Radiotherapie bezeichnet, ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung onkologischer Patienten. Sie kommt als alleinige Strahlentherapie oder in Kombination mit einer operativen oder medikamentösen Tumortherapie zum Einsatz. Das Ziel der Behandlung kann die Heilung des Patienten oder auch nur die Linderung von Beschwerden sein. Dabei werden durch energiereiche Strahlung Gewebszellen geschädigt. In gesunden Körperzellen wirken Reparaturmechanismen, die im Tumorgewebe nur eingeschränkt greifen. Wird die Strahlentherapie nun in mehreren Sitzungen angewendet – d. h. als fraktionierte Strahlentherapie –, führt das zum Absterben von Tumorzellen, während gesundes Gewebe deutlich weniger geschädigt, meist nur vorübergehend gereizt wird.

10.2 Strahlenphysik und Strahlenbiologie 10.2.1 Maßeinheiten und Begriffe • Die wichtigste Dosiseinheit in der Strahlentherapie ist das Gray (früher rad). In dieser Einheit werden alle Strahlendosen am Patienten angegeben. • Gesamt- und Einzeldosis: Die Dosis definiert die Intensität der Strahlentherapie für einen bestimmten Punkt des Zielvolumens. Die Gesamtdosis wird dabei meistens in mehreren Einzeldosen verabreicht. • Zielvolumen: Das Zielvolumen beschreibt das Volumen, das bestrahlt werden muss, um das Behandlungsziel zu erreichen. Es umfasst die tastbare oder durch Bildgebung dargestellte Ausdehnung des Tumors sowie seine nicht nachweisbare, aber anzunehmende mikroskopische Ausdehnung.

10.2.2 Strahlenwirkung am Tumor und den Normalgeweben

S. Barczyk (*) Zentrum für Strahlentherapie und Radioonkologie, Bocholt, Deutschland e-mail: [email protected] S. Heizmann Hofstetten, Deutschland

Tumorzellen erholen sich in der Regel schlechter von Strahlenschäden als Normalgewebe. Durch wiederholte Verabreichung kleiner Dosen kann das Verhältnis von Tumor- zu Normalgewebsschädigung stärker in Richtung Tumorschädigung verschoben werden. Dieser Effekt wird

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_10

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S. Barczyk und S. Heizmann

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a­ usgenutzt, indem die gesamte Dosis in mehreren Einzeldosen fraktioniert appliziert wird. Die Strahlenempfindlichkeit verschiedener Tumoren ist sehr unterschiedlich: Einige Tumor­ entitäten lassen sich mit verhältnismäßig geringen Dosen dauerhaft heilen, und ihre Behandlung ist mit nur wenigen radiogenen Nebenwirkungen verbunden. Dem gegenüber stehen strahlenresistente Tumoren, die auch mit hohen Gesamtdosen und entsprechend starken Nebenwirkungen nicht geheilt werden können.

a

b

10.3 Radioonkologische Therapieverfahren Eine Strahlenanwendung kann mit verschiedenen Methoden erfolgen: • Bei der Teletherapie (externe, perkutane Bestrahlung) erfolgt die Bestrahlung einer Tumorregion von außen, wobei die Strahlung durch einen Linearbeschleuniger ca.  80– 120 cm entfernt vom Patienten erzeugt wird. Diese Technik ist weit verbreitet und wird bei den allermeisten Patienten angewendet. (Abb. 10.1a) (Abschn. 10.3.1). • Brachytherapie (griech. brachys: kurz) bedeutet Kurzdistanztherapie und umfasst die vorübergehende oder permanente Applikation von Radionukliden direkt an Organen oder Geweben. Die Brachytherapie wird beispielsweise bei der Behandlung von Gebärmutterkrebs angewandt (Abb. 10.1b) (Abschn. 10.3.2). • Bei der Radionuklidtherapie werden radioaktive Medikamente dem Patienten direkt oral oder intravenös appliziert und führen zu einer Anreicherung im Zielorgan. So kann beispielsweise ein Schilddrüsenkrebs mit einer Trinklösung von radioaktivem Jod nuklearmedizinisch behandelt werden (Abschn. 10.3.3).

Abb. 10.1  a,b Grundformen der Bestrahlung. (a) Teletherapie, (b) Brachytherapie

10.3.1 Teletherapie (externe Strahlentherapie) Bei der Teletherapie erfolgt die Bestrahlung von außen über eine Strahlenquelle, die sich in einem definierten Abstand von der Haut befindet. Für die externe Strahlentherapie werden überwiegend Strahlen im Megavoltbereich verwendet (Hochvolt- oder Hartstrahltherapie). Diese „harten Strahlen“ haben den Vorteil, dass sie relativ tief in das Gewebe eindringen. Das Dosismaximum liegt dabei dicht unter der Haut, und die Wirkung des Strahlenbündels

10 Strahlentherapie

fällt zur Tiefe hin ab. Durch die Tumorbestrahlung aus verschiedenen Einstrahlwinkeln wird eine erwünschte Dosisüberlagerung im tieferliegenden Gewebe erreicht, während oberflächliche Regionen wie die Haut geschont werden. Die konventionelle Fraktionierung (Aufteilung) der geplanten Strahlendosis besteht in der Applikation von 5  Einzeldosen pro Woche, wobei durchschnittlich 8–10 Gy pro Woche erreicht werden. Behandlungsgeräte In der klinischen Routine werden heute hauptsächlich Linearbeschleuniger eingesetzt. In diesen Geräten kommen Beschleunigungsspannungen von mehreren Millionen Volt zum Einsatz. Die Strahlung wird dabei für jede Behandlung gezielt ein- und ausgeschaltet. Spezielle Bestrahlungstechniken Stereotaktische Bestrahlung Bei der stereotaktischen Strahlentherapie werden sehr hohe Einzeldosen in kleinen Zielvolumen appliziert. Dadurch lässt sich der Behandlungszeitraum deutlich verkürzen, bestenfalls mit einer einzelnen Bestrahlungssitzung abschließen. Die Behandlung kann häufig völlig nebenwirkungsfrei appliziert werden. Intraoperative Strahlentherapie (IORT)  Durch den Einbau von Linearbeschleunigern in Operationsräume und die Miniaturisierung der Bestrahlungsgeräte ist es möglich, eine Bestrahlung direkt während oder nach einer chirurgischen Tumorresektion unmittelbar am eröffneten Operationsfeld durchzuführen.

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Bei der Oberflächenhyperthermie wird die Haut mit Infrarot-A-Wärmelampen während 45–60 Minuten auf maximal 43° erwärmt. Die Temperatur wird dabei mit einer Infrarotkamera kontrolliert, eine Überhitzung des Gewebes ist so nicht möglich. Unmittelbar danach wird die Radiotherapie angeschlossen. Indikationen sind vorallem Rezidive von oberflächlichen Tumoren an einer vorbehandelten Stelle, z.B. inoperable Lokalrezidive von Brustkrebs oder oberflächliche Lymphknotenmetastasen von Kopf-Halstumoren in zuvor bestrahltem Gebiet. Bei der Tiefenhyperthermie wird die lokale Temperaturerhöhung durch Radiowellen erreicht. Diese werden über Antennen appliziert, die Eindringtiefe wird durch die Wahl der Radiofrequenz bestimmt. So lassen sich gezielt tieferliegende Tumoren erwärmen. Die Hyperthermie kann kombiniert mit Strahlentherapie als lokale Therapie für kleinere Tumore z.B. bei der Behandlung von Prostatakarzinomen oder als regionale Tiefenhyperthermie bei ausgedehnteren, aber noch lokal begrenzten Tumoren eingesetzt werden. In der onkologischen Routine ist die Tiefenhyperthermie nicht etabliert. Die sogenannte „Ganzkörper-Hyperthermie“ wird nur im Rahmen von alternativen oder komplementären Behandlungskonzepten angeboten (Abschn. 13.4.9).

10.3.2 Intrakavitäre und interstitielle Brachytherapie cc Definition  Intrakavitäre und interstitielle Brachytherapie sind Formen der Kurzdistanztherapie, bei der eine radioaktive Strahlenquelle direkt in oder an das Zielvolumen gebracht wird.

Ganzkörperbestrahlung  Die spezielle Form der Ganzkörperbestrahlung (TBI: Total Body Irradiation) wird bei der Vorbereitung von Knochenmarkstransplantationen angewendet.

Sinn und Vorteil dieser Therapien ist es, die Strahlung direkt an den Tumor zu bringen und so die angrenzenden normalen Gewebe zu schonen.

Hyperthermie  Hyperthermie bezeichnet die künstliche Überwärmung von Tumorgewebe auf 41–44  °C.  Dies bewirkt eine erhöhte Empfindlichkeit des Tumorgewebes gegenüber einer gleichzeitigen Strahlen- oder Chemotherapie.

Intrakavitäre Brachytherapie Bei der intrakavitären Brachytherapie (von lat. cavum = Hohlraum) werden die Strahlenquellen über Hohlsonden oder Tuben in Körperhöhlen (z.  B. die Gebärmutter) eingebracht.

S. Barczyk und S. Heizmann

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Dies wird beispielsweise bei der Behandlung von gynäkologischen Tumorerkrankungen genutzt. Die Methode wird heute meist im Nachladeverfahren (engl. Afterloading) eingesetzt. Dabei wird zuerst ein leerer röhrenförmiger Applikator in das Zielorgan eingeschoben. Dieser wird in einem zweiten Schritt ferngesteuert mit der Strahlenquelle bestückt. Nach der vorausberechneten Zeit wird die Quelle wieder ferngesteuert aus dem Applikator herausgezogen und in einem Tresor versorgt. Je nach Lokalisation ist für das E ­ inführen des Applikators eine Kurznarkose erforderlich. Abb.  10.2 zeigt einen Applikator zur Therapie gynäkologischer Karzinome. Das Prinzip des Verfahrens ist in Abb. 10.1b dargestellt.

Abb. 10.2  In den Uterus eingelegter Fletcher-­Applikator. In diesen Applikator wird in einer zweiten Phase die radio­ aktive Quelle eingefahren. (Abb. 10.1b) Abb. 10.3 Interstitielle Brachytherapie bei Prostatakarzinom. Eine Ultraschallsonde liegt im Rektum und ermöglicht dem Arzt die visuelle Kontrolle. Die Seeds werden durch eine Nadel gezielt in die Prostata eingeführt und dort deponiert. Das Template hilft bei der Führung der Nadeln. (Mit freundl. Genehmigung der Firma Eckert & Ziegler AG)

Interstitielle Brachytherapie Bei der interstitiellen Brachytherapie (Interstitium = Zwischenzellraum) werden die Strahlenquellen mittels schmaler Nadeln dauerhaft oder kurzzeitig in den Tumor implantiert. Beim Prostatakrebs werden unter Ultraschallkontrolle winzige, reiskorngroße Behälter, sog. Seeds, dauerhaft in das Tumorgewebe eingesetzt. Sie enthalten die radio­aktiven Quellen, die nach wenigen Wochen keine messbare Strahlung mehr abgeben (Abb. 10.3).

10.3.3 Therapie mit offenen Radionukliden Radionuklide (früher auch als Radioisotope bezeichnet) sind instabile Elemente, deren Atome bei ihrem Zerfall Strahlung abgeben. Verschiedene Radionuklide reichern sich spezifisch in bestimmten Organen an, so beispielsweise radioaktives Jod in der Schilddrüse. Ihre Strahlung kann zur Behandlung von bösartigen Tumoren in diesen Organen genutzt werden. Je nach Anwendungsbereich stehen Radionuklide zur oralen Einnahme wie auch zur intravenösen Applikation zur Verfügung. Um den Strahlenschutz zu gewährleisten, befinden sich die Patienten während der Therapie auf isolierten Stationen, bis die Strahlung abgeklungen ist. Während dieser Zeit gelten für den Umgang mit den Patienten besondere Vorschriften, die Personal und Besucher vor einer Strahlenbelastung schützen sollen. Template Leitgitter für die Nadeln

Mandrin Zur Ablage der Seeds

Nadel Harnblase Prostata

Rektum

Implantationskanal für die Seeds

Seeds

Heilen Prostatakrebs durch radioaktive Strahlung

Transrektale Ultraschallsonde Visualisierung der Prostata

10 Strahlentherapie

Mögliche Anwendungen der Radionuklidtherapie: • differenzierte Schilddrüsenkarzinome: Radio-­ Jod-­Lösung oral (Jod 131), • Knochenmetastasen mit Schmerzen: Strontium, Rhenium oder Radium 223, • Radio-Immuntherapien, z.  B. bei B-Zell-­ Lymphomen: Ibritumomab (Zevalin), ein mit Yttrium 90 beladener Antikörper (Abschn. 11.3.1)

10.4 Ziele und Indikationen der Strahlentherapie In diesem Abschnitt wird eine kurze Übersicht über die Ziele und wichtigsten Indikationen der Strahlentherapie gegeben.

10.4.1 Kurative Strahlentherapie cc Eine Reihe von Tumorerkrankungen ist auch ohne Operation durch eine Strahlentherapie zu einem hohen Prozentsatz heilbar. Es handelt sich um Tumoren mit lokaler Wachstumstendenz und einer geringen Neigung zur Fernmetastasierung. Im Einzelfall ist die Vorhersage einer Heilung unsicher. Hier gelten vielmehr statistische Wahrscheinlichkeiten, die vom Stadium und Reifegrad eines Tumors sowie von oft unbekannten Patientenfaktoren abhängen. Tumoren, die in frühen, lokalisierten Stadien mit alleiniger Strahlenbehandlung mit kurativer Absicht behandelt werden, sind z. B. bestimmte Arten von Hautkrebs, Bronchialkarzinome oder Prostatakrebs. Selbstverständlich sind einige dieser Tumoren auch chirurgisch mit gleicher ­Effektivität angehbar. Die Vorteile der Strahlentherapie liegen in einer möglichen Organerhaltung (Prostata) oder in der kosmetischen Schonung von Bezirken wie Augenlidern oder Nase (Hautkrebs).

101

10.4.2 Adjuvante/neoadjuvante Strahlentherapie Durch die zusätzliche Bestrahlung vor (neoadjuvante Strahlentherapie) oder nach (adjuvante Strahlentherapie) einer radikalen Operation kann – durch Vernichtung mikroskopischer Tumorreste oder Reduktion des Tumorvolumens – die Häufigkeit von Lokalrezidiven gesenkt und vielfach die Heilungsrate verbessert werden. Diese adjuvanten oder neoadjuvanten Bestrahlungen werden oft im Rahmen von multimodalen Behandlungskonzepten durchgeführt (s. unten).

10.4.3 Palliative Strahlentherapie Bei nicht heilbaren Tumorerkrankungen können palliative Bestrahlungen wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen. Die Behandlungszeiten sind gegenüber einer kurativen Behandlung kürzer und die Gesamtstrahlendosen geringer. Dementsprechend sind palliative Bestrahlungen auch mit deutlich weniger Nebenwirkungen verbunden. Typische Indikationen zur palliativen Strahlentherapie sind beispielsweise therapieresistente Schmerzen, frakturgefährdete Knochenmetastasen, Schluckstörungen bei Ösophaguskarzinom oder Tumorblutungen.

10.4.4 Strahlentherapie in multimodalen Konzepten Vor allem bei kurativer Behandlungsabsicht wird die Strahlentherapie immer häufiger nicht als alleinige Behandlung, sondern im Rahmen von multimodalen Behandlungskonzepten eingesetzt. Dabei kann die Bestrahlung mit einem operativen Eingriff und/oder mit Chemotherapien kombiniert werden. Die Reihenfolge der verschiedenen Modalitäten variiert: • Strahlen- und/oder Chemotherapie können sowohl vor als nach einem operativen Eingriff

102

eingesetzt werden (prä- oder postoperative Radio-/Chemotherapie). • Die Strahlentherapie kann gleichzeitig mit der Chemotherapie (simultane Radiochemotherapie) oder anschließend ablaufen (sequenzielle Radiochemotherapie).

10.5 Ablauf einer Strahlentherapie 10.5.1 Vorstellung beim Strahlentherapeuten Die Indikation zur Strahlentherapie wird entweder im Rahmen einer interdisziplinären Tumorbesprechung oder bei einer ersten Vorstellung des Patienten beim Strahlentherapeuten gestellt. Neben einer Untersuchung und Überprüfung der Bestrahlungsindikation steht das Gespräch im Vordergrund, in dem der Arzt den Patienten über Ablauf, mögliche Nebenwirkungen und das Therapieziel der Strahlentherapie informiert. Therapieangst Wenn ein Patient zur Strahlentherapie überwiesen wird, befindet er sich oft in einem Zwiespalt zwischen Angst vor einer ihm unbekannten Therapie und der Einsicht in deren Notwendigkeit. Seine Angst richtet sich auf die ionisierende Strahlung, dieses geräuschlose Phänomen, das in weiten Kreisen der Bevölkerung mit Vorurteilen verbunden ist. Die Ängste eines Patienten sind in der Regel umso geringer, je besser er über den Bestrahlungsvorgang informiert wird. Hilfreich können dabei Broschüren mit Skizzen und Hinweisen zum Verhalten während der Therapie und zu möglichen Nebenwirkungen sein (Literatur). Häufige Ängste sind: • Die Angst vor übermäßigen Hautreaktionen, wie sie in der Ära der konventionellen

S. Barczyk und S. Heizmann

Röntgenbestrahlung tatsächlich vorgekommen sind, ist bei modernen Bestrahlungsgeräten kaum noch begründet. Ausnahmen sind hochdosierte Bestrahlungen mit Elektronen (seltene Indikation) oder Bestrahlung an Körperstellen, die vermehrten mechanischen Belastungen ausgesetzt sind (Axilla, Leistengegend usw.). • Ein Haarverlust am Kopf tritt nur ein, wenn der Schädel bestrahlt wird oder gleichzeitig zur Bestrahlung Zytostatika gegeben werden, aber nicht bei Bestrahlung anderer Körperteile. • Die Patienten strahlen nicht, wenn sie eine perkutane Strahlentherapie erhalten haben und aus dem Bestrahlungsraum kommen.

10.5.2 Planung und Vorbereitung der Bestrahlung Die Bestrahlungsplanung umfasst medizinische und physikalisch-technische Aspekte. Die Bestrahlung tief liegender Tumoren über mehrere Felder wird heute routinemäßig mittels computergestützter Bestrahlungsplanung durch einen Medizinphysiker berechnet. Dazu gehört die Bestimmung der Strahleneintrittspforten und der Strahlenrichtung im Körper („Lokalisation“). Sie wird in der Regel an einem speziellen Durchleuchtungsgerät, dem Simulator, oder an einem speziellen CT-Gerät, dem Planungs-CT, durchgeführt. Dabei wird auch die Position des Patienten festgelegt: Diese muss durch eine präzise Lagerung des Patienten über die ganze Dauer der Bestrahlung reproduziert werden. Hautmarkierungen (meist mit einem Stift, gelegentlich auch als kleine tätowierte Punktmarkierung) dienen dazu, eine identische Lagerung des Patienten zu ermöglichen. Unter Umständen werden zusätzlich Gesichtsmasken zur Fixierung der Kopf-Hals-­Region verwendet.

10 Strahlentherapie

Insbesondere bei der Bestrahlung von Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren sind weitere vorbereitende Maßnahmen erforderlich, z.  B. die Anlage einer Magensonde (PEG), um die Ernährung über den gesamten Therapiezeitraum zu gewährleisten. Bei der Bestrahlung der Mundhöhle und Kieferregion ist zusätzlich eine Zahnsanierung erforderlich, um möglichen Zahnentzündungen und einer strahlenbedingten Kiefernekrose ­vorzubeugen.

10.5.3 Durchführung und Dauer der Bestrahlung Die Bestrahlung erfolgt in einem abgeschirmten Raum an den entsprechenden Bestrahlungsgeräten. Die Patienten sind auf einem verstellbaren Tisch gelagert und werden mithilfe von im Raum installierten Lasern und auf der Haut aufgebrachten Markierungen exakt gelagert. Der Strahlerkopf des Gerätes wird in einem vorher festgelegten Abstand (80–120 cm) in verschiedenen Winkeln auf die zu bestrahlende Region gerichtet. Während der Bestrahlung verspürt der Patient in der Regel keine körperlichen Wirkungen. • Die Bestrahlungen werden täglich über mehrere Bestrahlungsfelder durchgeführt. • Die Bestrahlungszeit pro Feld liegt größtenteils zwischen 30 s und 5 min, je nach Gerätetyp, Strahlenart und Dosis. • Bei kurativer Zielsetzung erstreckt sich die Bestrahlung über einen Zeitraum von 3–8 Wochen, bei Palliativbestrahlungen über 1 Tag bis ca. 4 Wochen.

103

lichkeit einer akuten Reaktion oder Spätkomplikation. Lokale Probleme entstehen in der Regel durch die Einwirkung der Strahlen auf das den Tumor umgebende gesunde Gewebe. Gelegentlich werden solche Probleme auch vom Zerfall des Tumors selbst ausgelöst. Man unterscheidet akute, subakute und chronische Reaktionen.

Risikofaktoren für das Auftreten von Strahlenreaktionen

Therapiebedingte Faktoren • Hohe Einzeldosen und/oder hohe Gesamtdosis • Große Bestrahlungsfelder und -volumina • Zustand nach ausgedehnten operativen Eingriffen • Gleichzeitige Chemotherapie Patientenbezogene Faktoren • Begleitkrankheiten (z.  B.  Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus) • Schlechter Allgemeinzustand • Erhöhter Alkoholkonsum während der Bestrahlung

10.6.1 Akute Strahlenreaktion

10.6 Unerwünschte Wirkungen

Die akute Strahlenreaktion tritt während der mehrwöchigen Bestrahlungszeit oder bis zu 90 Tage nach Beendigung der Strahlentherapie in den bestrahlten Gebieten auf. Sie wird durch eine Entzündung verursacht. Hauptsächlich betroffen sind dabei Haut, Schleimhäute und das Knochenmark. Subakute Reaktionen sind an Lunge und Zentralnervensystem möglich (Tab. 10.1).

Unerwünschte Wirkungen der Strahlentherapie, sog. Strahlenreaktionen, sind von mehreren Faktoren abhängig (s. unten). Je mehr Risikofaktoren zusammenkommen, desto höher ist die Wahrschein-

Allgemeinsymptome Allgemeinsymptome, d. h. Bestrahlungseffekte, die außerhalb eines bestrahlten Gebiets auftreten, stehen klinisch gegenüber den lokalen

S. Barczyk und S. Heizmann

104 Tab. 10.1 Häufige akute und subakute Strahlenreaktionen. (Auswahl) Region Haut

Schleimhaut

Zentrales Nervensystem Lunge

Knochenmark

Art der Reaktion Hautrötung (Erythem), Pigmentstörung, trockene Hautschuppung, feuchte Hautablösung (Epitheliolyse), Nekrose, Ulzeration Mukositis in Mund und Rachen, Soorbefall, Ösophagitis, Enteritis, Vaginitis, Zystitis Somnolenzsyndrom Pneumonitis (Fieber 38–39 °C, trockener Husten) Periphere Leuko- und Thrombopenie

Dauer [Wochen] 3–8

1–10

2–3 2–3

sowie diverse alternativmedizinische Präparate) ist nicht belegt. Eine moderate körperliche Belastung, geregelte Mahlzeiten und Schlafhygiene sind dagegen hilfreich. Die genannten Symptome verschwinden in der Regel wenige Tage bis Wochen nach Beendigung der Strahlenbehandlung. Psychische Veränderungen (z.  B.  Depressionen) sind nicht zu den Allgemeinsymptomen bei Strahlentherapie zu zählen. Meist ist eine Disposition für solche Veränderungen vorgegeben, und akute Belastungssituationen bei Diagnosestellung und Therapie können als Auslöser wirken.

0,5–2

Problemen deutlich im Hintergrund. Sie werden in der Regel nur bei großen Bestrahlungsvolumina und der Mitbestrahlung viszeraler Organe beobachtet. Von klinischer Bedeutung sind vor allem 3 Symptomkomplexe: • Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen (selten bei Bestrahlung außerhalb des Gastrointestinaltrakts), • Verminderung des Appetits (häufig), • Müdigkeit/Fatigue (häufig). cc Die Wirkung der zahlreichen angebotenen Medikamente zur Verringerung dieses sog. „Strahlenkaters“ (z.  B.  Vitamin-B-Komplex

10.6.2 Spätfolgen Auch mit modernen Techniken lässt sich nicht vermeiden, dass normale in der Umgebung des Tumors liegende Gewebe zu einem gewissen Grad mitbestrahlt werden. Naturgemäß können dort auch Spätfolgen auftreten. Diese sind definiert als Nebenwirkungen, die später als 90 Tage (bis zu Jahren) nach Strahlentherapie auftreten. Im Gegensatz zu den akuten Nebenwirkungen bilden sie sich nicht zurück, sondern können allenfalls in ihrer Symptomatik gelindert werden. Bei sachgemäßer Durchführung der Therapie und Beachtung der Dosisgrenzwerte lassen sich Spätfolgen und Komplikationen auf ein Minimum reduzieren. Tab. 10.2 zeigt eine Auswahl von Spätfolgen und Komplikationen an verschiedenen Körperregionen.

10 Strahlentherapie

105

Tab. 10.2  Mögliche Spätfolgen der Radiotherapie. (Auswahl) Komplikation Zentrales und peripheres Nervensystem Schäden peripherer Nerven (Neuropathie, Plexusschaden, Parese) Leukenzephalopathie (Schädigung von Hirngewebe) Kopf-Hals-Bereich Chronische Mundtrockenheit Narbenfibrosen Perichondritis des Larynx (Kehlkopfentzündung) Knochennekrosen Zahnkaries und -nekrose Katarakt (Augenlinsentrübung) Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) Thoraxorgane Regionale Lungenfibrose Ösophagusstriktur Myokardiopathie Rippennekrosen Abdomen Alle Darmabschnitte: Striktur, Ulzeration, Blutung Beckenbereich Chronische Proktitis (Entzündung des Enddarms) Chronische Zystitis

Stenose der Urethra Chronische Enteropathie (Darmentzündung) Rektovaginal- und Vesikovaginalfistel Haut und Extremitäten Haut  Teleangiektasien, Atrophie  Ulzeration Stütz- und Bindegewebe  Sekundäres Lymphödem  Gelenkkontraktur Alle bestrahlten Regionen Zweittumoren

Maßnahmen Schmerzen: Analgetika; Parese: Physio- und Ergotherapie (Kap. 27) Keine Therapie bekannt

Vermehrte Mundhygiene, viel Flüssigkeit, langsames Essen; künstlicher Speichel Physio- und Ergotherapie (Kap. 30) Evtl. Tracheostoma nötig, gelegentlich Notfallsituation Je nach Lokalisation operative Sanierung Zahnärztliche Sanierung (Prophylaxe: Mundhygiene, Fluorgelschiene) Operation Hormonsubstitution Symptomatisch; Therapie von Bronchialinfektionen, Atemgymnastik Bougierung Behandlung der Herzinsuffizienz Symptomatische Therapie Evtl. operatives Vorgehen

Entzündungshemmende Medikamente, Diät, evtl. Kolostomie Spasmolytika, Blasenspülungen mit entzündungshemmenden Medikamenten; Bekämpfung einer Begleitinfektion; evtl. Zystektomie Bougierung Entzündungshemmende Medikamente, hochkalorische Ernährung; evtl. Antidiarrhoikum Chirurgische Behandlung

Allgemeine Hautpflege Bepanthen-Salbe, Peru-Balsam, evtl. Exzision und plastische Deckung Kap. 18 Evtl. chirurgische Korrektur Manifestation meist erst nach Jahren/Jahrzehnten

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10.7 Spezielle Punkte für die ergotherapeutische Arbeit 10.7.1 Sicherheit des Therapeuten Wurde ein Klient bestrahlt, stellt sich dem Therapeuten die Frage, ob er Sicherheitsmaßnahmen treffen muss. „Strahlt“ der Klient noch? Teletherapie (externe Strahlentherapie) Bei dieser häufigsten Art der Strahlentherapie (Abschn.  10.3.1) geht die Strahlung von einem externen Bestrahlungsgerät aus. Sie wirkt nur auf den Körper des Klienten, solange das Gerät eingeschaltet ist. Vom Klienten geht nie Strahlung aus. cc Der Kontakt zu anderen Menschen ist nach der Bestrahlungssitzung völlig ungefährlich. Brachytherapie Bei dieser Therapieform (Abschn.  10.3.2) werden radioaktive, d.  h. Strahlung freisetzende Substanzen direkt in den Tumor eingebracht. • Bei der intrakavitären Brachytherapie (z.  B. bei Gebärmutterkrebs) wird die Strahlenquelle nach jeder Sitzung aus dem Körper entfernt und in einen abgeschirmten Behälter zurückgeführt. Es besteht deshalb nach der Sitzung kein Risiko für Menschen in der Umgebung. • Bei der interstitiellen Brachytherapie (z.  B. bei Prostatakrebs) werden die radioaktiven Substanzen während eines ambulanten Eingriffs in winzigen, reiskorngroßen Behältern, den sog. Seeds, dauerhaft in den Tumor eingesetzt. Die Strahlung hat eine Reichweite von nur wenigen Millimetern und klingt innerhalb einiger Wochen ab. In den ersten Tagen sollte der Patient allerdings sehr engen körperlichen Kontakt mit Schwangeren oder Kindern vermeiden. Eine Isolation ist aber nicht nötig. Besuche, Begrüßung mit Handschlag oder Umarmungen sowie der Aufenthalt im selben Zimmer sind auch unmittelbar nach der Behandlung ohne Risiko möglich. Der be­ handelnde Radioonkologe informiert seinen

S. Barczyk und S. Heizmann

Patienten detailliert über die zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen. Therapie mit offenen Radionukliden Bei diesen Therapien (Abschn.  10.3.3) werden radioaktive Substanzen peroral oder intravenös verabreicht. Sie reichern sich im Zielgewebe an. Bei ihrem Zerfall wird auch Strahlung frei, die über den Körper des Patienten hinausgeht. Die Patienten werden deshalb für einige Tage stationär in einer nuklearmedizinischen Abteilung aufgenommen. Sie werden entlassen, sobald die nach außen abgegebene Strahlung einen gesetzlich bestimmten Grenzwert unterschreitet. Auch nach der Entlassung geben die Patienten eventuell noch ein wenig Strahlung an die Umgebung ab. Der behandelnde Nuklearmediziner wird mit dem Patienten deshalb die zu treffenden Maßnahmen besprechen, so sollte in den ersten Tagen nach der Entlassung enger Kontakt zu Schwangeren, Stillenden oder Kindern vermieden werden.

10.7.2 Behandlungsindikationen Fatigue  Verschiedene Ursachen wie die intensiven Therapien gepaart mit der psychischen Belastung durch Diagnose und Behandlung können eine Fatigue verursachen. Es gilt, schon früh diese Fatigue zu diagnostizieren und Strategien im Umgang damit zu erlernen (Kap. 33) Ängste/Depression  Die Diagnose und das Gefühl, fremdbestimmt und den Therapien „ausgeliefert“ zu sein, belasten die Patienten psychisch. Ergotherapeuten können mit verschiedenen Angeboten und in enger Zusammenarbeit mit der Psychoonkologie depressiven Episoden und Ängsten entgegenwirken (Kap. 21). Fibrosen  Durch die Bestrahlung können sich im Bestrahlungsfeld Fibrosen entwickeln. (Kap. 30). Lymphödem  Neben klassischer Lymphdrainage und Kompressionstherapie kann der Ergotherapeut Tipps für den Umgang im Alltag mit Lymphödem geben bzw. den Klienten schulen (Kap. 18).

10 Strahlentherapie

Neuropathie  Nervenbahnen, die im Bereich des Bestrahlungsfeldes liegen, können durch die Strahlentherapie geschädigt werden. Liegt das Bestrahlungsfeld beispielsweise in der Nähe des Plexus brachialis, kann dies Irritationen oder Lähmungen der Armnerven hervorrufen (Kap. 27).

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Broschüren für Klienten und Angehörige Eine ausgezeichnete, sehr informative Broschüre: Deutsche Krebshilfe. Die blauen Ratgeber: Strahlentherapie. https://www.krebshilfe.de/infomaterial/Blaue_Ratgeber/Strahlentherapie_BlaueRatgeber_DeutscheKrebshilfe.pdf

Internetadressen

Literatur Weiterführende Literatur Barczyk S, Krause M, Rhomberg W (2023) Strahlentherapie. In: Jahn P et  al (Hrsg) Onkologische Krankenpflege, 7. Aufl. Springer, Berlin Sauer R (2010) Strahlentherapie und Onkologie, 5. Aufl. Urban und Fischer, München

Eine ausgezeichnete, sehr informative Webseite: Krebsinformationsdienst: Strahlentherapie und Nuklearmedizin. https://www.krebsinformationsdienst.de/behandlung/strahlentherapie-nuklearmedizin/index.php (auch Hinweise auf weitere Informationsquellen im Netz)

Medikamentöse Tumortherapie

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Thomas Kroner, Andreas Müller und Sabrina Heizmann

11.1 Einleitung Tumorwirksame Medikamente wie Zytostatika, Hormone oder Hemmstoffe der Signalübermittlung haben in der Behandlung onkologischer Erkrankungen einen hohen Stellenwert. Ergotherapeuten sind in ihrer Arbeit immer öfter mit komplexen Tumortherapien und ihren unerwünschten Wirkungen konfrontiert. Dieses Kapitel vermittelt ihnen das nötige Fachwissen, damit sie ihre Klienten optimal beraten und behandeln können.

nötiges Leiden. Alle Bemühungen seien letztlich vergebens und die Patienten trotz der „Quälerei“ zum Tode verurteilt. Wie weit trifft dies zu? Es stimmt zwar, dass fortgeschrittene maligne Tumoren nur in einigen Fällen durch medikamentöse Tumortherapien geheilt werden können. Richtig ist auch, dass tumorwirksame Medikamente nicht nur Krebszellen, sondern auch gesunde Zellen beeinflussen und somit zu mehr oder weniger ausgeprägten unerwünschten, teils toxischen Wirkungen führen. Dem stehen aber wichtige positive Tatsachen gegenüber.

11.1.1 Vorurteile und Tatsachen Mit der medikamentösen Therapie bösartiger Tumoren verbinden viele Laien, aber auch Fachpersonen noch immer negative Vorstellungen: Übelkeit und Erbrechen, Haarausfall, Schwächung des Immunsystems, kurz: Verlust an Lebensqualität. Chemotherapie  – so eine gelegentlich geäußerte Meinung  – verlängere unT. Kroner (*) Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected]

Tatsachen zur medikamentösen Tumortherapie

• Einige maligne Tumoren sind heute auch in fortgeschrittenen Stadien mit Medikamenten heilbar (kurative Therapie). • Die Heilungsaussichten gewisser maligner Tumoren können durch eine zusätzliche medikamentöse  Tumortherapie vor oder nach Operation verbessert werden (neoadjuvante oder adjuvante Therapie).

A. Müller Tumorzentrum, Kantonsspital Winterthur, Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected] S. Heizmann Hofstetten, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_11

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• Bei vielen fortgeschrittenen unheilbaren Tumoren kann durch medikamentöse Therapien eine vorübergehende Tumorrückbildung (partielle Remission) oder zumindest Stabilisierung erreicht werden (palliative Therapie). Auch wenn es schließlich zu erneutem Tumorwachstum kommt, profitieren viele Patienten aufgrund der Reduktion tumorbedingter Symptome oder der Verzögerung des Auftretens von Beschwerden trotz der Nebenwirkungen der Therapie davon – gerade in Bezug auf ihre Lebensqualität –, und dies oft über viele Jahre. • Viele Nebenwirkungen dieser Therapien sind heute kontrollierbar. Unstillbares Erbrechen beispielsweise sollte nur noch in Ausnahmefällen auftreten. • Die meisten Therapien werden heute ambulant durchgeführt. Eine Krankenhausaufnahme ausschließlich zum Zweck der Chemotherapie ist nur für komplexere, mehrtägige Therapien erforderlich.

11.1.2 Übersicht und Einteilung Über viele Jahre standen für die medikamentöse Tumorbehandlung lediglich zwei Gruppen von Medikamenten zur Verfügung: • Zytostatika und • Hormone und hormonell bzw. antihormonell wirkende Substanzen. Unterdessen hat das Wissen um molekularbiologische und immunologische Vorgänge stark zugenommen. Daraus ergaben sich neue Ansatzpunkte für die Therapie. Als wichtigste neue Behandlungen sind zusätzlich etabliert: • Antikörper, • Hemmstoffe der intrazellulären Signalübermittlung (meist Kinasehemmer) • Immuntherapien, die sog. Checkpointhemmer. Leider fehlen bislang allgemein akzeptierte Definitionen, Bezeichnungen und Einteilungen für die verschiedenen medikamentösen Tumortherapien. Tab.  11.1 zeigt eine mögliche Einteilung, nach der wir uns im Folgenden richten.

Tab. 11.1  Einteilung der tumorwirksamen Medikamente Klassische Zytostatika

Monoklonale Antikörper*

Hemmstoffe von Enzymen im Zellinnern („small molecules“) Immuntherapien

Hormontherapien (hormonell und antihormonell wirksame Substanzen) * ohne Checkpointhemmer

Wirkung Beeinflussen direkt Vorgänge im Zellkern (z. B. über Veränderung der DNA) Blockieren Eiweiße auf der Oberfläche der Tumorzellen, z. B. Rezeptoren für Wachstumsfaktoren Blockieren für das Zellwachstum wichtige Enzyme im Innern der Tumorzellen Stimulieren das körpereigene Immunsystem

Blockieren hormonelle Wachstumssignale

Beispiel Cyclophosphamid (z. B. Endoxan), Vincristin (z. B. Oncovin) Trastuzumab (z. B. Herceptin)

Siehe Abschn. 11.2

Erlotinib (z. B. Tarceva) Sunitinib (z. B. Sutent)

Abschn. 11.3.2

Checkpointhemmer: Nivolumab (z. B. Opdivo) CAR-T-Zell-Therapie: Tisagenlecleucel (Kymriah) Tamoxifen (z. B. Nolvadex), Bicalutamid (z. B. Casodex)

Abschn. 11.4.1

Abschn. 11.3.1

Abschn. 11.4.2 Abschn. 11.5

11  Medikamentöse Tumortherapie

11.2 „Klassische Zytostatika“ Zytostatikum Der Begriff Zytostatikum (Mehrzahl: Zytostatika; griech. zytos: Zelle; stasis: Stillstand) ist bis heute nicht allgemeingültig definiert. Mit guten Gründen können alle tumorwirksamen Substanzen als Zytostatika bezeichnet werden: So bezeichnen einzelne deutschsprachige Autoren generell „krebshemmende Substanzen“ als Zytostatika. Häufiger werden allerdings nur diejenigen Substanzen als Zytostatika bezeichnet, die ihre Wirkung primär direkt im Zellkern  – meist an der DNA  – entfalten. Zur Abgrenzung gegenüber den „gezielten Therapien“ werden sie dann präzisierend als „klassische“ oder  – mit gleicher Bedeutung – als „konventionelle“ Zytostatika bezeichnet. Als „klassische“ oder „konventionelle“ cc  Zytostatika werden tumorwirksame Medikamente bezeichnet, die direkt im Zellkern wirken und dadurch das Tumorwachstum hemmen. Chemotherapie Der Begriff Chemotherapie wurde bereits 1908 eingeführt, ursprünglich für die Behandlung von Infektionskrankheiten mit chemischen Substanzen. Er wird heute v. a. für die Behandlung von Tumorerkrankungen mit klassischen Zytostatika gebraucht. Von einigen Autoren wird er allerdings auch auf die neueren tumorwirksamen Medikamente wie Antikörper oder Hemmstoffe der Signalübermittlung angewandt. Der Begriff „Chemotherapie“ vermittelt allerdings ein etwas falsches Bild: Zu den Zytostatika gehören neben synthetisch hergestellten chemischen Substanzen auch zahlreiche Abkömmlinge natürlicher, vor allem pflanzlicher Produkte. Einige Beispiele von Pflanzen, aus denen wichtige onkologische Heilmittel hergestellt werden: • Rinde und Nadeln der pazifischen Eibe (Abb. 11.1): Paclitaxel (z. B. Taxol) • Extrakte aus einem Immergrün: Vincristin (z. B. Oncovin) u. a.

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• Stoffwechselprodukte von Pilzen: Anthrazykline (z. B. Doxorubicin/Adriblastin) u. a. Die aus Pilzen hergestellten Zytostatika werden – wie die ebenfalls aus Pilzen hergestellten antibakteriellen Wirkstoffe–- auch als Antibiotika bezeichnet. Sie haben im Vergleich zu ihrer zyto­ statischen nur eine geringe antibakterielle Wirkung.

11.2.1 Wirkungsmechanismen Klassische Zytostatika wirken auf verschiedene Weise direkt auf die Zellteilung ein. Der Wirkungsmechanismus vieler klassischer Zytostatika ist nicht im Detail geklärt. Die meisten wirken wohl gleichzeitig über verschiedene Mechanismen. Durch ihre Wirkung lösen sie aber alle schließlich den programmierten Zelltod (Apoptose) aus (Abschn. 2.2.1). Einige Mechanismen werden im Folgenden näher beschrieben. Veränderung der DNA-Struktur  Einige Zytostatika verändern direkt die Struktur der DNA, indem sie sich an bestimmte Stellen des DNA-­ Strangs anlagern. Dazu gehören die alkylierenden Substanzen (Bsp.: Cyclophosphamid) und die Platin-Abkömmlinge (Bsp. Carboplatin). Andere hemmen Enzyme, die den DNA-­ Doppelstrang bei der Zellteilung aufwinden (Bsp.: Adriblastin, Vepesid). Hemmung der DNA-Synthese  Die sog. Antimetaboliten hemmen Enzyme, die für die DNAund RNA-Synthese notwendig sind. Ihre Wirkung beruht darauf, dass sie den Enzymen einen „falschen Baustein“ anbieten: So stellt z. B. das Zytostatikum 5-Fluorouracil einen solchen falschen Baustein (anstelle des normalen Bausteins Uracil) dar. Hemmung des Spindelapparats  Durch Schädigung des Spindelapparats wird der „Vollzug“ der Zellteilung verhindert und dadurch die Apo­ ptose eingeleitet. Zu diesen Medikamenten gehören etwa pflanzliche Zytostatika wie die Taxane (z. B. Taxotere oder Taxol) (Abb. 11.1).

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Abb. 11.1   Rinde und Nadeln von Eiben, Taxus brevifolia und Taxus baccata, enthalten die Grundsubstanz für die sog. Taxane Paclitaxel (z. B. Taxol) und Docetaxel (z. B. Taxotere)

11  Medikamentöse Tumortherapie

11.2.2 Toxizität der klassischen Zytostatika Klassische Zytostatika hemmen – wie erwähnt – das Tumorwachstum in erster Linie durch direkte Einwirkung auf die DNA oder die Zellteilung. Unerwünschte Wirkungen der klassischen Zytostatika manifestieren sich deshalb v. a. an gesunden Geweben mit hoher Zellerneuerungsrate. Dazu gehören: • Hemmung der Blutbildung im Knochenmark (Myelotoxizität), • Entzündung von Schleimhäuten des Verdauungstrakts von Mund bis After (Mukositis), • Schädigung der Haarfollikel (Haarausfall), • Schädigung der Keimzellen der Hoden (Verlust der Spermabildung).

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Andere unerwünschte Wirkungen dieser Zytostatika können nicht direkt auf die Hemmung der Zellteilung zurückgeführt werden, z. B. Übelkeit und Erbrechen. Tab.  11.2 zeigt die wichtigsten Toxizitäten klassischer Zytostatika. Allgemeines zur Toxizität tumorwirksamer Medikamente findet sich in Abschn. 11.8. cc Die unerwünschten Wirkungen unterscheiden sich von Zytostatikum zu Zytostatikum. Jedes Zytostatikum hat ein eigenes, spezifisches Nebenwirkungsprofil. So treten beispielsweise Haarausfall oder Neuropathie nicht nach allen Zytostatikatherapien auf  – sie sind typisch für bestimmte Zytostatika und jeweils abhängig von Dosierung und individuellen Faktoren.

Tab. 11.2  Wichtige toxische Wirkungen von „klassischen“ Zytostatika. (Auswahl) Organ Knochenmark Magen-Darm-­ Trakt Nerven

Haarwurzeln Haut und Schleimhäute Keimdrüsen

Herz Diverse

Symptome Anämie, Neutropenie, Thrombopenie Stomatitis Diarrhö Übelkeit/Erbrechen Kleinhirnstörung (Schwindel/Ataxie) (Kap. 28) Innenohrschädigung: Gleichgewichtsstörung (Kap. 28), Tinnitus, Hochtonschwerhörigkeit Polyneuropathien (Kap. 27) Alopezie (Haarausfall) Entzündungen Nagelveränderungen Hand-Fuß-Syndrom Hemmung der Keimzellen (Sterilität) Hemmung der Hormonproduktion (vorzeitiges Klimakterium) Myokardschäden Grippeartige Symptome, Ödeme Fieber

Dauer bis zum Auftreten Tage bis Wochen Tage bis Wochen Tage bis Wochen Stunden bis Tage Tage bis Wochen

Häufigkeit +++ + + +++ (+)

Reversibel Ja Ja Ja Ja Teilweise

Tage bis Wochen

+

Teilweise

Tage bis Monate Wochen Tage bis Wochen Wochen bis Monate Tage bis Wochen Tage bis Monate Monate bis Jahre

++ +++ + ++ + +++ ++

Teilweise Ja Ja Ja Ja Teilweise Nein

Monate Tage bis Wochen Stunden bis Tage

+ + +

Nein Ja Ja

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11.3 „Zielgerichtete Therapien“

11.3.1 Monoklonale Antikörper

In den letzten Jahren fanden zahlreiche Medikamente, die auf neuen Wirkprinzipien beruhen, den Weg in die Klinik. Diese Medikamente wirken „gezielt“ gegen definierte Strukturen (Rezeptoren oder Signalmoleküle) auf oder in den Tumorzellen. Sie werden deshalb als zielgerichtete Therapien oder gezielte Therapien (engl. targeted therapies [target: Ziel]) bezeichnet, gelegentlich auch als Präzisionsmedizin. Diese Bezeichnungen verführen zur Annahme, dass diese „Zielgerichtetheit“ ein ganz neues Prinzip in der medikamentösen Tumortherapie darstellt. Auf dem gleichen Prinzip beruhen aber auch Hormontherapien. Patienten und auch Therapeuten sollten sich daher durch diese Bezeichnungen nicht dazu verleiten lassen, andere Therapien abwertend zu betrachten. Andere Bezeichnungen für den Einsatz dieser Medikamente sind personalisierte Medizin oder individualisierte Medizin. Auch diese Begriffe sind unglücklich bzw. schönfärberisch gewählt – eine Person oder ein Individuum ist schließlich mehr als die Summe der molekularbiologischen Eigenschaften ihres Tumors. Von einer „personalisierten Medizin“ darf eigentlich nur dann gesprochen werden, wenn die ganze Person des Patienten einbezogen wird. Die Wirkung der meisten zielgerichteten Therapien beruht darauf, dass die Tumorzelle aufgrund einer Mutation das Zielmolekül vermehrt produziert. Entsprechend sind diese Medikamente nur dann wirksam, wenn in den Tumorzellen die entsprechende Mutation vorliegt. Diese Mutationen werden bei einigen Tumoren routinemäßig im Labor gesucht und nachgewiesen (Abschn. 7.7). Die folgenden Gruppen von Medikamenten werden üblicherweise als zielgerichtete Therapien bezeichnet:

Wie in Abschn.  2.6 ausgeführt, erkennen B-­ Lymphozyten körperfremde Moleküle (sog. Antigene) und stellen in der Folge Antikörper dagegen her. Antikörper sind Proteine (Eiweiße), die mit einem Antigen reagieren und es binden. Die Bindung zwischen Antigen und Antikörper löst in der Regel weitere Schritte der Immunabwehr aus, sodass es zur Zerstörung der Zielzelle kommen kann.

• Monoklonale Antikörper: Sie binden an der Oberfläche der Tumorzellen an definierte Eiweißmoleküle. • Hemmstoffe von Enzymen: Sie wirken innerhalb der Tumorzelle an definierten Enzymen.

cc Definition  Monoklonale Antikörper (engl. monoclonal antibody; mab) sind in Zellkulturen biotechnologisch hergestellte Immunglobuline, die nur mit einem einzigen, definierten Antigen reagieren. Antikörper sind große Eiweißmoleküle. Sie werden intravenös verabreicht, da sie bei peroraler Gabe im Magen-Darm-Trakt abgebaut werden. cc Ihr Substanzname endet immer auf -mab. Tumorzellen tragen auf ihrer Oberfläche charakteristische Proteine (Eiweiße), die als Antigene wirken. Diese Antigene sind allerdings meist nicht tumorspezifisch, d. h. sie finden sich nicht ausschließlich auf Tumorzellen, sondern auch auf normalen Zellen. Gegen 3 Gruppen von Antigenen wurden therapeutisch wirksame Antikörper entwickelt: • Antikörper gegen CD-Antigene, • Antikörper gegen Wachstumsfaktoren oder ihre Rezeptoren, • Antikörper gegen Immuncheckpunkte (Abschn. 11.4.1). Antikörper gegen CD-Antigene Bei den CD-Antigenen handelt es sich um Eiweiße auf der Oberfläche von Blut- und Knochenmarkzellen sowie von Zellen des lymphatischen Systems. Ihre Funktion ist z. T. unbekannt. Aus historischen Gründen werden sie als CD („cluster of differentiation“)-Antigene bezeichnet und in der Reihenfolge ihrer Entdeckung nummeriert.

115

11  Medikamentöse Tumortherapie

Durch die Bindung eines therapeutisch eingesetzten Antikörpers an ein CD-Antigen wird die Zelle so markiert, dass sie vom Immunsystem als fremd erkannt und attackiert werden kann. Beispiele

• Der gegen CD20 gerichtete Antikörper Rituximab (Mabthera) zur Behandlung von ­bösartigen Erkrankungen der B-Lymphozyten (maligne Lymphome). • Der gegen CD38 gerichtete Antikörper Daratumumab (Darzelex, abgekürzt Dara) zur Behandlung des Multiplen Myeloms. ◄ Antikörper gegen Wachstumsfaktoren oder ihre Rezeptoren Viele normale Zellen besitzen auf ihrer Oberfläche Rezeptoren für Wachstumsfaktoren, z.  B. die HER1- und HER2-Rezeptoren (Abschn. 2.2.2). Die Bindung des Wachstumsfaktors an den Rezeptor löst im Zellinneren Signale für die Zellteilung aus. cc Mutationen führen dazu, dass Tumorzellen zu viele Rezeptoren (mehrere Hunderttausend pro Zelle) für Wachstumsfaktoren bilden und deshalb ihre Zellteilung zu stark stimuliert wird. Die Bindung des Wachstumsfaktors an seinen Rezeptor kann durch Antikörper gegen den Wachstumsfaktor wie durch Antikörper gegen den Rezeptor blockiert werden. Beide verhindern, dass die für die Zelle lebenswichtigen Signale das Zellinnere erreichen (Abb. 11.2). Zusätzlich aktiviert die Bindung des Antikörpers auch die immunologische Abwehr. Beispiel

Der Antikörper Trastuzumab (Herceptin) für die Behandlung des Mammakarzinoms: Trastuzumab wird in der Behandlung des Mammakarzinoms eingesetzt, wenn eine Vermehrung des HER2-Rezeptors vorliegt. Der Rezeptor bzw. sein Gen wird deshalb vor Therapiebeginn mit immunhistochemischen bzw. molekularbiologischen Methoden am Gewebeschnitt (Tumorgewebe) nachgewiesen (Abschn. 7.7). ◄

Antikörper gegen Immuncheckpunkte Die sog. Immuncheckpointhemmer werden in Abschn. 11.4.1 beschrieben. Antikörper-Wirkstoff-Konjugate An monoklonale Antikörper können Zytostatika oder radioaktive Substanzen gekoppelt werden (Antikörper-Wirkstoff-Konjugate). Der Antikörper wirkt dabei als Träger, der die Wirksubstanz gezielt an die Tumorzelle heftet. So können Substanzen, die sonst zu toxisch oder zu wenig wirksam wären, in hoher Konzentration in die Tumorzellen gebracht werden. Beispiele

• T-DM1 (Kadcyla): Verbindung des Her2-­ Antikörpers Trastuzumab (Herceptin) mit dem Zytostatikum Emtansine. Anwendung beim Her2-überexprimierenden Mamma-­ Karzinom. • 90Y-Ibritumomab-Tiuxetan (Zevalin): Verbindung eines CD20-Antikörpers mit einem Radionuklid. Anwendung bei rezidivierten follikulären Lymphomen. ◄

11.3.2 Hemmstoffe von Enzymen im Zellinnern („small molecules“) Gemeinsam ist diesen Medikamenten, dass sie innerhalb der Zelle gezielt bestimmte Enzyme hemmen. Es sind „kleine Moleküle“ („small molecules“), sie können peroral verabreicht werden. Ihre Nebenwirkungen unterscheiden sich wesentlich von denen der „klassischen Zytostatika“. Häufig ist die Haut betroffen, es treten aber auch Hypertonie, Ödeme, Durchfälle, Fatigue u.  a.  m. auf (Abschn. 11.3.3). cc Der Substanzname endet immer auf -ib. Hemmung von Wachstumssignalen Die Signalübermittlung wird in Abschn.  2.2.2 ausführlich besprochen  – die Kenntnis dieser Vorgänge ist Voraussetzung für das Verständnis der folgenden Abschnitte.

T. Kroner et al.

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a

b

Tyrosinkinase

c

Tyrosinkinase

d

Tyrosinkinase Tyrosinkinase

Abb. 11.2  a–d Angriffspunkte von „zielgerichteten Therapien“. (a) Physiologischer Zustand: Ein Wachstumsfaktor („growth factor“; GF), z. B. EGF, bindet an seinen Rezeptor. Dadurch wird das an den Rezeptor gebundene Enzym Tyrosinkinase aktiviert. Dies setzt die Übermittlung von Signalen in Gang, die schließlich zur Aktivierung von Genen führen, die z. B. die Zellteilung stimulieren. (b–d) Möglichkeiten der therapeutischen

Beeinflussung: (b)  Blockade des Rezeptors durch einen Antikörper. Dies verhindert die Bindung des Wachstumsfaktors, es wird kein Wachstumssignal in den Zellkern übermittelt. (c)  Blockade des Wachstumsfaktors durch einen Antikörper. Dies verhindert seine Bindung an den Rezeptor. (d)  Blockade der Signalübermittlung durch Hemmung der Tyrosinkinase

Mutationen in Tumorzellen betreffen oft Gene, die für Zellwachstum und Zellteilung wichtige Enzyme steuern. Diese Mutationen ­ bewirken eine Überaktivierung von Signalwegen und führen zu beschleunigtem und unreguliertem Zellwachstum. Die meisten an der Signalübermittlung beteiligten

Enzyme sind sog. Kinasen. Durch tumorwirksame Medikamente, die sog. Kinasehemmer (Kinaseinhibitoren), können diese Enzyme und damit auch das Tumorwachstum gezielt blockiert werden. cc Ihr Substanzname endet auf -nib.

11  Medikamentöse Tumortherapie

Hemmung der Blutgefäßbildung Tumorzellen müssen durch Blutgefäße mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden. Wenn der Tumor wächst, reichen die vorhandenen Gefäße für die Versorgung des Tumors nicht mehr aus. Die Tumorzellen regen dann das Wachstum von neuen Gefäßen, die Angiogenese, an, indem sie Wachstumsfaktoren produzieren, die in den Gefäßzellen Wachstumssignale auslösen (Abschn. 2.5.2 und Abb.  2.8). Einige Kinasehemmer blockieren speziell diese Wachstumssignale und verhindern dadurch die Neubildung von Blutgefäßen im Tumor. Zu diesen Hemmstoffen gehören z. B. Sunitinib (Sutent) und Sorafenib (Nexavar). Hemmung von Reparaturmechanismen Bei der Verdoppelung der DNA während der Zellteilung (Abb.  2.2) kommt es immer wieder zu Brüchen eines DNA-Strangs. Wie normale Zellen verfügen auch Krebszellen über Mechanismen zur Reparatur dieser Brüche. Einer dieser Mechanismen ist das sog. PARP-Enzym. PARP-Hemmer, zB. Olaparib (Lynparza) blockieren dieses Enzym. Dadurch reichern sich DNA-Brüche und andere Schäden des Erbmaterials an und die Tumorzelle stirbt ab. Hemmung von zellzyklusregulierenden Faktoren Wie in Abschn.  2.2.1 ausgeführt, kann der Zellzyklus, d. h. der Ablauf der Zellteilung, durch verschiedene Signale gebremst oder beschleunigt werden. Zu den beschleunigenden Faktoren gehören die Zykline. Sie sind bei verschiedenen bösartigen Tumoren überaktiv. Ihre Wirkung kann medikamentös gehemmt werden. Dies führt zum Absterben der Tumorzellen. Entsprechende Medikamente sind z. B. Palbociclib (Ibrance), Ribociclib (Kisqali) oder Abemaciclib (Verzenios) cc Ihr Substanzname endet auf -ciclib.

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11.3.3 Toxizität der zielgerichteten Therapien Die „zielgerichteten Therapien“ sind keineswegs frei von unerwünschten Wirkungen, ihre Toxizität unterscheidet sich jedoch wesentlich von derjenigen der „klassischen Zytostatika“: Die „targeted therapies“ führen in der Regel seltener und schwächer zu Erbrechen, Haarausfall oder Blutbildveränderungen. Dafür zeigen sich andere, teils schwere, mit den „klassischen Zytostatika“ nie beobachtete Nebenwirkungen. cc Im Gegensatz zu den „klassischen Zytostatika“ zeigt sich diese Toxizität nicht an Geweben mit einer hohen Zellteilungsrate, sondern an Geweben, die  – wie die Tumorzellen  – von dem gehemmten Signalweg abhängig sind.

Beispiele

• Zielmoleküle des monoklonalen Antikörpers Trastuzumab (Herceptin) und von verschiedenen Hemmstoffen der Signalübermittlung finden sich auch auf oder in den Zellen des Herzmuskels. Die Behandlung mit diesen Medikamenten kann deshalb zu Herzinsuffizienz führen. • Auch Hautzellen sind auf intakte Signalwege für epitheliale Wachstumsfaktoren angewiesen. Verschiedene „gezielte Therapien“ führen zu belastenden, teils akneähnlichen Hautveränderungen (sog. Rash = Hautaus­ schlag). ◄ Tab. 11.3 zeigt eine Übersicht über die unerwünschten Wirkungen dieser „gezielten“ Therapien. Allgemeines zur Toxizität tumorwirksamer Medikamente findet sich in Abschn. 11.8.

T. Kroner et al.

118 Tab. 11.3  Wichtige toxische Wirkungen von „zielgerichteten Therapien“. (Auswahl) Organ Akute Infusionsreaktion Knochenmark

Symptome Blutdruckabfall, Atemnot, Schüttelfrost, Fieber, Erbrechen Anämie

Immunsystem Magen-Darm-Trakt Zentrales Nervensystem Peripheres Nervensystem Haarwurzeln

Immunsuppression (erhöhte Infektanfälligkeit) Diarrhö Übelkeit/Erbrechen Enzephalopathie (Müdigkeit, Lethargie) Polyneuropathien (Kap. 27)

Haut und Schleimhäute

Blutungen Nagelveränderungen

Partieller Haarausfall, Verfärbungen

Akneartiger Ausschlag, trockene Haut, Fissuren Hand-Fuß-Syndrom Entzündung der Mundschleimhaut Herz und Kreislauf Lunge

Venenthrombosen, Lungenembolie Pneumopathie (Husten/Dyspnoe)

11.4 Immuntherapien Die Grundlagen der Immunologie maligner Tumoren sind in Abschn. 2.6 dargestellt.

Dauer bis zum Auftreten Minuten

Häufigkeit Reversibel +++ Ja

Wochen bis Monate Tage bis Monate Tage bis Wochen Stunden bis Tage Tage bis Wochen Tage bis Monate

++

Ja

++ + ++ ++ +++

Ja Ja Ja Ja z. T.

Wochen bis Monate Stunden bis Tage Wochen bis Monate Wochen bis Monate Tage bis Wochen Wochen bis Monate Tage bis Wochen Monate bis Jahre

+

Ja

+ +++

Ja Ja

+++

Ja

+++ ++

Ja Ja

++ +

Evtl. Evtl.

Immuncheckpunkte kann man sich cc  vereinfacht als Bremsen des Immunsystems vorstellen.

11.4.1 Immuncheckpointhemmer

Gegen verschiedene Immuncheckpunkte konnten monoklonale Antikörper (Abschn. 11.3.1) entwickelt werden.

Hauptaufgabe des körpereigenen Immunsystems ist es, körperfremde Organismen oder virusinfizierte Zellen zu eliminieren. Es ist aber aus verschiedenen Gründen wenig wirksam in der Bekämpfung von Krebserkrankungen (Abschn. 2.6.2).

Die Bindung dieser Antikörper an den cc  Checkpunkt bewirkt, dass seine Bremswir­ kung entfällt: Die Bremsen werden gelöst, die Immunreaktion wird aktiviert und die Krebszelle zerstört.

Krebszellen können sich aktiv der cc  Immunabwehr entziehen („immune escape“).

Als tumorwirksame Medikamente kommen vor allem Antikörper gegen den Checkpoint PD-1/PD-L1 zum Einsatz. Beispiele sind Nivolumab (Opdivo), Pembrolizumab (Keytruda), Atezolizumab (Tecentriq), Durvalumab (Imfinzi), Avelumab (Bavencio). Abb. 11.3 zeigt schematisch die Wirkung dieser Checkpointhemmer.

Sie benutzen dazu Mechanismen, die physiologischerweise das Immunsystem so regulieren, dass gesunde Zellen von ihm nicht angegriffen werden können. Diese hemmenden Mechanismen werden über sog. Immuncheckpoints (engl. für Kontroll- bzw. Checkpunkte) gesteuert.

11  Medikamentöse Tumortherapie Aktivierter Immuncheckpoint: Tumorzelle hemmt Immunabwehr

119 Immuncheckpoint inhibitorMedikament

Blockierter Immuncheckpoint: Immunzelle zerstört Tumorzelle

Immunzelle

Immunzelle aber Tumorzelle hemmt Immunzelle

Immunzelle erkennt Tumorzelle

Immunzelle erkennt Tumorzelle

Immuncheckpoint inhibitor hebt Hemmung auf

Tumorzelle

Tumorzelle

Tumorantigen Immuncheckpoint

Abb. 11.3  Wirkung von Immuncheckpointhemmern. (Nach einer Vorlage des Krebsinformationsdiensts, mit freundl. Genehmigung)

Toxizität der Checkpointhemmer Die Aktivierung des Immunsystems durch diese Medikamente kann zu schwerwiegenden immunvermittelten Nebenwirkungen führen, vergleichbar mit Autoimmunerkrankungen, wobei körper­ eigene Gewebe attackiert werden. Mögliche Folgen sind Entzündungen von Dickdarm (Kolitis), Leber (Hepatitis), Haut, Nerven (Polyneuropathie) oder endokrinen Drüsen wie Schilddrüse oder Hypophyse. Diese Nebenwirkungen können lebensbedrohlich sein und müssen rasch mit einer immunsupprimierenden Steroidtherapie, evtl. auch zusätzlich mit entzündungshemmenden Medikamenten behandelt werden.

11.4.2 CAR-T-Zell-Therapie Bei dieser Immuntherapie werden dem Patienten T-Lymphozyten aus dem Blut entnommen (Abb. 11.4). Sie werden in das Labor des Herstellers transportiert. Dort werden sie gentechno-

logisch so verändert, dass sie neue Rezeptoren auf ihrer Zelloberfläche ausbilden, sog. chimärische Antigenrezeptoren (CAR). Damit können die T-Lymphozyten das entsprechende Antigen auf den Tumorzellen des Patienten erkennen. Die CAR-T-Zellen werden in einem nächsten Schritt im Labor vermehrt, dann an die behandelnde Klinik zurückgeschickt und dort dem Patienten wieder infundiert. Im Körper des Patienten vermehren sie sich weiter und erkennen und vernichten Zellen, die das Antigen tragen. Produkte sind beispielsweise Tisagenlecleucel (Kymriah) und Axicabtagen Ciloleucel (Yescarta). Die Behandlung wird nur an spezialisierten Zentren durchgeführt. Zu den oft schweren akuten unerwünschten Wirkungen gehört das ICANS (Immun-effektorzell-assoziertes Neurotoxizität-­ Syndrom) mit u. a. Ataxie, Sprachstörungen, kognitiven und mnestischen Defiziten oder Erregungszuständen. Zudem ist über lange Zeit mit erhöhter Infektanfälligkeit zu rechnen.

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1

4

Entnahme

T-Zellen

Rückgabe

CAR-T-Zellen

3

2

Labor des Herstellers

Abb. 11.4 Herstellung von CAR-T-Zellen. (Nach einer Vorlage des Krebsinformationsdiensts, mit freundl. Genehmigung)

11.5 Hormontherapie cc Definition  Als Hormontherapie (endokrine Therapie) wird die Behandlung bösartiger Tumoren mit hormonell aktiven Substanzen (Hormonen und Antihormonen) bezeichnet. Bei den meisten dieser Therapien wird die Wirkung eines körpereigenen Hormons medikamentös blockiert – man spricht deshalb auch von antihormonellen Therapien oder Antihormontherapien.

11.5.1 Hormone und Tumorwachstum Hormone sind körpereigene Substanzen, die Wachstum und Funktion verschiedener Organe und Gewebe regulieren. Hormone spielen auch bei der Entstehung von Tumoren in ihren Zielorganen eine Rolle. Oft bleibt diesen Tumoren die Hormonempfindlichkeit ihres Ursprungsgewebes erhalten, d.  h., sie

11  Medikamentöse Tumortherapie

sind für ihr Wachstum auf die Zufuhr des Hormons angewiesen und bilden sich bei Fehlen des Hormons zurück. Man spricht deshalb von hormonabhängigen oder hormonempfindlichen (hormonsensiblen) Tumoren. Diese Hormonabhängigkeit wird bei der Hormontherapie therapeutisch genutzt. Die Wirkung eines Hormons an seiner Zielzelle wird durch sog. Hormonrezeptoren vermittelt. Dies sind Moleküle auf oder in der Zielzelle, die selektiv ein bestimmtes Hormon binden können. Durch die Bindung des Hormons an seinen Rezeptor wird in der Zelle der für das betreffende Hormon typische Effekt ausgelöst. Jedes Hormon hat seinen eigenen Rezeptor. Deshalb wirkt ein Hormon nur an Zellen, die diesen Rezeptor bilden können. Beispiel

Östrogene stimulieren die Gebärmutterschleimhaut (Endometrium) zum Wachstum, da die Zellen des Endometriums reich an Östrogenrezeptoren sind. Die Zellen anderer Schleimhäute, z. B. der Blase, werden durch Östrogene nicht beeinflusst. ◄ Die Konzentration von Hormonrezeptoren im Tumorgewebe wird meist mit immunhistologischen Methoden an Gewebeproben bestimmt (Abschn.  7.7.1). Aufgrund dieser Untersuchungen wird ein Tumor als positiv oder negativ für diesen Rezeptor bezeichnet. Weisen die Zellen eines Mammakarzinoms hohe Konzentrationen von Östrogenrezeptoren (ER) auf, spricht man von einem ER-positiven Tumor (ER+). cc Eine Wirkung der Hormontherapie ist nur bei Tumoren zu erwarten, die den entsprechenden Rezeptor in ausreichender Konzentration aufweisen. Eine Hormontherapie hat meist wesentlich weniger unerwünschte Wirkungen als eine Zytostatikatherapie. Insbesondere ist bei Hormontherapien nicht mit einer Hemmung der Knochenmarkfunktion zu rechnen. Damit entfällt die Notwendigkeit regelmäßiger hämatologischer

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Kontrollen. Auch Haarausfall oder Schleimhauttoxizität treten bei Hormontherapien kaum auf. Trotzdem sind auch Hormontherapien nicht frei von unerwünschten Wirkungen. Unerwünschte Wirkungen der Hormontherapien zeigen sich v. a. bei längerdauernden Behandlungen, z.  B. in der adjuvanten Situation. Hier können sich Arthralgien oder eine Osteoporose entwickeln. Die Hormontherapie des Mammakarzinoms unterscheidet sich bei prä- und postmenopausalen Frauen, entsprechend den Unterschieden in der Produktion der Östrogene vor und nach der Menopause.

11.5.2 Methoden der Hormontherapie Die Hormonbehandlung eines hormonabhängigen malignen Tumors kann auf verschiedene Arten erfolgen. Operative Kastration (Ovarektomie und Orchiektomie) Die beidseitige Ovarektomie, d. h. die operative Entfernung der Eierstöcke, ist die älteste Methode einer Hormontherapie bei bösartigen Tumoren. Sie wurde unterdessen durch medikamentöse antihormonelle Therapien ersetzt. Die operative Entfernung der Hoden (Orchiektomie oder Orchidektomie) bei Patienten mit Prostatakrebs ist technisch einfach. Die Wirkung tritt rasch ein, so lassen z.  B.  Schmerzen bei Skelettmetastasen bereits wenige Tage nach der Operation deutlich nach. Jüngere Patienten lehnen die Orchiektomie wegen der Aussicht auf den definitiven Verlust von Libido und Potenz oft ab. Medikamentöse Kastration Die Funktion von Ovarien und Hoden wird durch Hormone der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) gesteuert, die sog. Gonadotropine. Die Ausschüttung dieser Hormone kann durch Medikamente blockiert werden. Dadurch kommen die Östrogen- bzw. Androgenproduktion, die Eireifung und die Spermienbildung zum Erliegen. Man bezeichnet die Behandlung mit diesen

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Medikamenten deshalb auch als medikamentöse Kastration, bei Männern auch als Androgendeprivationstherapie (abgekürzt ADT). Die Medikamente werden bei Männern mit Prostatakrebs und bei prämenopausalen Frauen mit Brustkrebs eingesetzt. Ihre Wirkung ist reversibel, d. h., nach Absetzen der Therapie nehmen die Ovarien bzw. Hoden ihre Funktion wieder auf. Einige Präparate sind Buserelin (z.  B. Profact), Goserelin (z.  B. Zoladex), Leuprorelin (z. B. Trenantone), Degarelix (z. B. Firmagon). Die medikamentöse Kastration leitet ein verfrühtes Klimakterium ein. Als unerwünschte Wirkungen können deshalb Hitzewallungen, Schweißausbrüche oder depressive Verstimmungen auftreten. Die Entwicklung einer Osteoporose wird  – wie bei der natürlichen Menopause – beschleunigt. Es versteht sich von selbst, dass diese Symptome nicht mit östrogenbzw. androgenhaltigen Medikamenten behandelt werden dürfen. Im Gegensatz zur operativen Kastration ist die medikamentöse Kastration reversibel, sie ist deshalb für viele Patientinnen und Patienten eher akzeptabel. Antiöstrogene  Wichtigster Vertreter dieser Medikamentengruppe ist Tamoxifen (z.  B. Nolvadex, Kessar). Tamoxifen wird in den Zellen an den Östrogenrezeptor gebunden und blockiert so die Östrogenwirkung. Tamoxifen hat neben der antiöstrogenen Wirkung auch einen gewissen agonistischen, d.  h. östrogenähnlichen Effekt. Dieser kann sich v. a. bei älteren Patientinnen in unerwünschter Weise, z. B. mit Wasserretention oder Vaginalfluor, manifestieren und zur Hyperplasie (sehr selten auch zu Karzinomen) der Gebärmutterschleimhaut führen. Weitere Vertreter dieser Gruppe sind Toremifen (Fareston) und Fulvestrant (z. B. Faslodex). Aromatasehemmer  In der Postmenopause bilden die Eierstöcke keine Östrogene mehr. Trotzdem werden im Körper nach wie vor in geringen Mengen Östrogene produziert: In den Neben-

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nieren und im Fettgewebe gebildete Androgene werden durch das Enzym Aromatase in Östrogene umgewandelt, diese fördern das Wachstum hormonabhängiger Karzinome. Ihre Wirkung kann durch Aromatasehemmer blockiert werden  – mit dem Abfall des Östrogenspiegels bilden sich hormonabhängige Tumoren zurück. Als Aromatasehemmer stehen u.  a. zur Verfügung: Anastrozol (z.  B. Arimidex), Letrozol (z. B. Femara), Exemestan (z. B. Aromasin). Aromatasehemmer sind in der Regel kurzfristig gut verträglich, können aber unangenehme Muskel- und Gelenkschmerzen verursachen (Kap.  32). Bei der langzeitigen adjuvanten Anwendung (über 5 Jahre) besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Osteoporose durch den völligen Östrogenentzug. Antiandrogene  Antiandrogene sind synthetische Substanzen, die die Bindung der Androgene an ihren Rezeptor in den Tumorzellen blockieren. Sie werden bei Prostatakrebs oft als Zweittherapie nach operativer oder medikamentöser Kastration eingesetzt, um auch die Wirkung der in den Nebennierenrinden produzierten Androgene zu blockieren. Sie können zu Libidoverlust und Impotenz führen, gelegentlich auch zu leichter Übelkeit. Als Medikamente stehen u. a. Flutamid (z. B. Fugerel), Bicalutamid (z. B. Casodex), Enzalutamid (Xtandi) zur Verfügung. Sie werden peroral eingenommen. Hemmer von CYP17  Ein wichtiges Enzym für die körpereigene Synthese der männlichen Geschlechtshormone ist CYP17. Es kann durch das Medikament Abirateron (Zytiga) gehemmt werden. Dadurch wird die Androgensynthese in den Hoden, den Nebennieren, der Prostata und in den Zellen des Prostatakarzinoms blockiert. Dies verstärkt bei Prostatakrebs die Wirkung der chemischen oder operativen Kastration, die nur die Androgenproduktion der Hoden ausschaltet. Als Nebenwirkung können Ödeme auftreten.

11  Medikamentöse Tumortherapie

11.6 Wirksamkeit medikamentöser Therapien bei verschiedenen Tumoren Verschiedene maligne Tumoren zeigen ein ganz unterschiedliches Ansprechen auf medikamentöse Therapien: Einige Tumoren, z.  B. das Hodgkin-­Lymphom, sprechen in der Regel auf eine Chemotherapie sehr gut an, d. h., es kommt zu einer raschen und meist vollständigen Rückbildung (Remission) des Tumors. Bei den meisten Patienten kann so eine definitive Heilung erreicht werden. Man spricht von chemotherapiesensiblen Tumoren. Bei anderen Tumoren, z. B. dem metastasierten Mammakarzinom, kann bei der Mehrzahl der Patientinnen zwar mit einer vorübergehenden Remission, jedoch praktisch nie mit einer Heilung gerechnet werden. Wieder andere Tumoren, z. B. das Melanom oder das Nierenzellkarzinom, sprechen vergleichsweise selten auf eine Chemotherapie an, sie sind primär chemotherapieresistent; mit Immuntherapien lassen sich jedoch gerade diese Tumoren oft gut behandeln. Die Gründe für dieses unterschiedliche Ansprechen sind weitgehend unbekannt. Voraussage der Wirksamkeit Labormethoden Das Ansprechen eines Bakteriums auf eine Antibiotikatherapie kann vor der Behandlung durch eine sog. Resistenzprüfung getestet ­werden. Danach kann der Patient gezielt mit einem wirksamen Antibiotikum behandelt werden. Leider sind bis heute alle Versuche fehlgeschlagen, für klassische Zytostatika ähnlich aussagekräftige Tests, sog. Chemosensibilitätstests, zu entwickeln. Für die hormonellen Substanzen, monoklonalen Antikörper und Hemmer der Signalübermittlung stehen dagegen Methoden zur Verfügung, die es erlauben, das individuelle Ansprechen eines Patienten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Bei diesen Medikamenten ist das Zielmolekül bekannt und kann oft im Tumorgewebe mit Methoden der Labormedizin nachgewiesen werden. Der Nachweis des Zielmoleküls sagt ein Ansprechen auf

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die Behandlung mit dem jeweiligen Medikament voraus (Abschn. 7.7.1) (Abb. 7.5). Beispiele

• Östrogenrezeptoren bei Mammakarzinom: Die Behandlung eines Mammakarzinoms mit einem Antiöstrogen ist erfolgversprechend, wenn im Tumorgewebe Östrogenrezeptoren nachweisbar sind. • HER2 bei Mammakarzinom: Der Einsatz des monoklonalen Antikörpers Trastuzumab (Herceptin) ist sinnvoll, wenn das Zielmolekül (der HER2-Rezeptor) im Tumorgewebe überexprimiert wird. ◄ Statistische Methoden  Für klassische Zytostatika stehen keine prädiktiven Labormethoden zur Verfügung. Aus Studien und Erfahrung ist jedoch bekannt, welche Zytostatika aus welchen Gruppen bei bestimmten Tumorarten erfolgversprechend eingesetzt werden können. Therapieversuch  Weder der Nachweis von prädiktiven Faktoren noch die Statistik erlauben eine sichere Aussage, ob im Einzelfall der Tumor auf eine bestimmte Therapie ansprechen wird. Man ist deshalb immer gezwungen, empirisch vorzugehen: Es wird eine Therapie eingeleitet, von der aufgrund von Labormethoden oder der Statistik ein Ansprechen des Tumors mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann.

Das individuelle Ansprechen bei einem cc  Patienten kann nur durch die entsprechende Therapie, d.  h. durch einen Therapieversuch festgestellt werden. Dieser Therapieversuch dauert in der Regel einige Wochen, da das Behandlungsresultat selten früher schlüssig beurteilt werden kann. Das Ansprechen wird in der Regel durch Bildgebung (meist Computertomografie) gemessen. Bei Ansprechen des Tumors wird die Behandlung fortgeführt, bei Nichtansprechen (Resistenz) wird auf eine andere Therapie – sofern möglich – gewechselt.

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11.7 Resistenzentwicklung Wie bereits erwähnt, sprechen einige bösartige Tumoren von Anfang an nicht oder nur ungenügend auf eine medikamentöse Tumortherapie an, man spricht hier von primärer Therapieresistenz. Häufiger ist wahrscheinlich die sekundäre Therapieresistenz. Man versteht darunter das Auftreten einer Resistenz nach anfänglichem Ansprechen des Tumors. Eine sekundäre Resistenz entwickelt sich bei vielen bösartigen Tumoren, bei denen mit der medikamentösen Therapie nicht rasch eine vollständige Remission erreicht werden kann. Interessanterweise entwickelt sich in Normalgewebe, beispielsweise in den blutbildenden Zellen des Knochenmarks, nie eine Zytostatikaresistenz. An der Entwicklung der Therapieresistenz sind verschiedene Mechanismen beteiligt. Beispiele

• Mutationen: Maligne Tumorzellen sind genetisch instabil; sowohl unbehandelt wie unter Therapie entstehen ständig Mutationen. Ein bösartiger Tumor besteht deshalb meist aus verschiedenen Populationen genetisch unterschiedlicher Tumorzellen mit unterschiedlicher Empfindlichkeit gegenüber tumorwirksamen Medikamenten. Eine Therapie, die nur zu einer unvollständigen Remission führt, ­zerstört nur die sensiblen Tumorzellen, während die resistenten Tumorzellen sich weiter vermehren. Die Tumortherapie kann also zu einer ständigen Selektion von therapieresistenten Zellen führen. • Vermehrung der Zielenzyme: Die Wirkung von gewissen tumorwirksamen Medikamenten beruht auf der Blockade von für die Zelle wichtigen Enzymen. Durch vermehrte Synthese dieser „Zielenzyme“ kann die Tumorzelle die schädigende Wirkung der Medikamente aufheben, d.  h. Resistenz erwerben. Bei Hemmern der Signalübermittlung spielt ein ähnlicher Mechanismus eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Resistenzen: Nach Blockierung eines bestimmten Signalwegs wird das Signal in der Zelle über andere Wege übermittelt. ◄

Das Auftreten einer Resistenz kann durch verschiedene Maßnahmen verhindert oder verzögert werden. Beispiele

• Gleichzeitiger Einsatz von tumorwirksamen Medikamenten mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen (Kombinationstherapie) • Möglichst hohe Dosierung der Medikamente • Möglichst kurze Intervalle zwischen den Therapiezyklen ◄

11.8 Toxizität Im Folgenden werden einige allgemeine Aspekte der Toxizität besprochen. Spezifische Toxizitäten der verschiedenen Klassen tumorwirksamer Medikamente wurden bereits diskutiert (Abschn.  11.2.2 für „klassische Zytostatika“, Abschn.  11.3.3 für „zielgerichtete Therapien“, Abschn.  11.4.1 für Checkpointhemmer, Abschn.  11.4.2 für CAR-T-Zell-Therapien, Abschn. 11.5.2 für Hormontherapien). Früh- und Spättoxizität Unerwünschte Wirkungen können früh (innerhalb von wenigen Minuten, Tagen oder Wochen nach der erstmaligen Verabreichung der Zytostatika) oder spät bzw. verzögert (Monate bis Jahre nach der Therapie) auftreten. Zu den Frühtoxizitäten gehören z. B.: • • • •

Übelkeit und Erbrechen, Haarausfall, Knochenmarksuppression, Hautveränderungen.

Die Frühtoxizitäten sind in der Regel cc  reversibel, d. h., die toxischen Erscheinungen bilden sich nach Absetzen der Therapie meist vollständig zurück. Zu den Spättoxizitäten gehören zum Beispiel: • Neuropathien, • Schäden an den Keimdrüsen (Hoden/Ova-

11  Medikamentöse Tumortherapie

rien), • Schäden am Herzmuskel, • Entwicklung von Zweittumoren. cc Toxische Spätschäden an Organen sind oft teilweise oder vollständig irreversibel. Alle Toxizitäten können in unterschiedlichen Schweregraden auftreten. Neuropathien spielen für die Praxis der Ergotherapie eine große Rolle. Sie werden in Kap. 27 ausführlich beschrieben. Zweitmalignome Eine spezielle, zum Glück aber seltene Nebenwirkung der Therapie mit klassischen Zytostatika (wie auch der Radiotherapie) ist ihre kanzerogene Wirkung. Damit ist ihre Fähigkeit gemeint, gelegentlich selbst die Entwicklung von malignen Tumoren – sog. Zweitmalignomen  – zu verursachen. Diese Zweitmalignome manifestieren sich erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Therapie, meist also nur bei Patienten, die von ihrem Ersttumor geheilt sind. Bei den chemotherapieinduzierten Zweitmalignomen handelt es sich v. a. um akute Leukämien und maligne Lymphome, bei den strahlentherapie­ induzierten ­Zweitmalignomen hingegen häufiger um Karzinome oder Sarkome. Mit dem Risiko von Zweitmalignomen sind besonders Langzeitbehandlungen mit Zytostatika aus der Gruppe der alkylierenden Substanzen (etwa Alkeran) und Kombinationen von Chemo- und Radiotherapie verbunden. Nach Möglichkeit werden heute diese Behandlungen durch weniger kanzerogene Verfahren ersetzt. Es darf aber nicht vergessen werden, dass Patienten nur deshalb an Zweitmalignomen erkranken, weil sie vom Ersttumor geheilt wurden. Wertigkeit verschiedener Toxizitäten Es versteht sich von selbst, dass bei Patienten mit guter Langzeitprognose, also mit potenziell heilbaren Tumoren, versucht werden muss, chronische, irreversible zytostatikabedingte Organschäden und die Auslösung von Zweitmalignomen zu vermeiden, während eine vorübergehende, akute Toxizität mit Nebenwirkungen wie Übelkeit/Erbrechen und Haarausfall in Anbetracht der guten Langzeitprognose eher in Kauf genommen werden kann. Umgekehrt wird man bei palliati-

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ven Therapien, d.  h. bei Patienten mit unheilbaren Tumoren und voraussichtlich nur kurzer Überlebenszeit, versuchen, im Sinne der Optimierung der Lebensqualität in erster Linie die akute Toxizität gering zu halten.

11.9 Anwendungsformen Therapiezyklen und kontinuierliche Therapien Die meisten klassischen Chemotherapien werden nicht kontinuierlich, sondern in sog. Therapiezyklen verabreicht. Bei Therapiezyklen wechseln sich Therapiephasen und therapiefreie Intervalle ab. In den therapiefreien Intervallen erholt sich der Organismus von den toxischen Therapiewirkungen, v. a. sollten die Blutwerte wieder ansteigen. Falls die Blutwerte zu Beginn des neuen Zyklus noch nicht genügend angestiegen sind, wird das therapiefreie Intervall verlängert und/ oder die Dosierung der Zytostatika reduziert. Nicht alle Therapien werden zyklisch verabreicht. Vor allem hormonelle Therapien und Behandlungen mit Tyrosinkinasehemmern werden häufig kontinuierlich durchgeführt, z.  B. durch tägliche Tabletteneinnahme über längere Zeit. Induktions- und Erhaltungstherapie Induktion (lat. in = hinein, ducere = führen) bedeutet Einleitung. Bei einigen Tumoren, vor allem bei solchen mit raschem Wachstum, wird mit einer Induktionstherapie die Behandlung eingeleitet, meist mit intravenösen Therapiezyklen. Damit wird versucht, den Tumor möglichst schnell zu verkleinern. Der Induktion folgt in der Regel eine Erhaltungstherapie (engl. Maintenance), oft in Form einer peroralen Behandlung. Ihr Ziel ist es, den Erfolg der Induktionstherapie zu sichern und zu erhalten. Eine Erhaltungstherapie wird über eine bestimmte Zeit (Monate bis Jahre) durchgeführt (Abb. 11.5). Erstlinen-/Zweitlinientherapie Als Erstlinientherapie wird die erste Therapie für einen bestimmten Tumor bezeichnet. Sie ist für die meisten Tumorarten standardisiert und wird

T. Kroner et al.

126 Induktionstherapie

Erhaltungstherapie

4 – 6 Zyklen

Abb. 11.5  Auf eine Induktionstherapie mit 4 Zyklen intravenöser Chemotherapie folgt eine Erhaltungstherapie mit einem oralen Medikament, beispielsweise einem Antiöstrogen

nach Leitlinien internationaler oder nationaler Gremien durchgeführt. Bei Rückfall oder Nichtansprechen des Tumors oder bei Unverträglichkeit der Erstlinientherapie wird oft eine weitere Tumorbehandlung als sog. Zweitlinientherapie versucht. In Abhängigkeit vom Zustand des Patienten und seinem Ansprechen auf frühere Therapien werden später evtl. weitere Behandlungen (Dritt-, Viertlinientherapien) eingeleitet. Kombinationstherapie und Monotherapie Die Chemotherapie von vielen Tumoren wird durch den gleichzeitigen kombinierten Einsatz verschiedener Zytostatika durchgeführt: Man spricht von Kombinationstherapie. Diese Kombinationen werden oft nach den Anfangsbuchstaben der einzelnen Zytostatika benannt. Beispiele

• AC: Adriamycin, Cyclophosphamid (bei Mammakarzinom) • PEB: Platin, Etoposid, Bleomycin (bei malignen Hodentumoren) • R-CHOP: Rituximab, Cyclophosphamid, Hydroxy-­Daunorubicin (= Doxorubicin), Oncovin, Prednison (bei malignen Lymphomen) ◄ Zu einiger Verwirrung führt immer wieder die Tatsache, dass in diesen Abkürzungen ein und derselbe Buchstabe für unterschiedliche Zytostatika stehen kann: z. B. das „P“ in BEP für Platin, in CHOP aber für Prednison. Umgekehrt kann – ebenso verwirrend  – das gleiche Medikament durch verschiedene Buchstaben bezeichnet wer-

den: Adriamycin in der Kombination AC durch A, in der Kombination CHOP aber durch H. Eine Kombinationschemotherapie bringt nicht generell für alle bösartigen Tumoren und alle Medikamente Vorteile. Vor allem für die palliative Behandlung von soliden Tumoren (z.  B.  Mamma- oder Prostatakarzinom) ist die Behandlung mit einzelnen Zytostatika als sog. Monotherapie eine bevorzugte Behandlungsmethode. Portsysteme Bei Patienten, die über längere Zeit eine intravenöse Therapie benötigen, ist der Zugang zur Vene gelegentlich schwierig. Wiederholte erfolglose Punktionen sind schmerzhaft und belasten die Patienten oft erheblich. In dieser Situation wird häufig ein sog. Portsystem (nach dem ersten Modell auch „PortaCath“ oder kurz „Port“ genannt) eingesetzt (Abb. 11.6). Es handelt sich dabei um eine unter der Haut liegende Kammer aus Kunststoff oder Metall. Sie ist gegen die Haut mit einer dicken Silikonmembran verschlossen. An einer Seite ist ein dünner Katheter angeschlossen, der unter der Haut in eine große Vene geführt wird. Das System wird im Rahmen eines kleinen operativen Eingriffs unterhalb des Schlüsselbeins eingesetzt, üblicherweise in Lokalanästhesie. Beim Gebrauch wird mit einer Spezialnadel die Haut über dem Port und die Silikonmembran des Ports punktiert und dann das Medikament in die Kammer injiziert oder eine Infusion angeschlossen. Die Punktion ist praktisch schmerzfrei. Der Port ist vor äußeren Einflüssen ge-

11  Medikamentöse Tumortherapie

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Injektionsnadel

Implantierter Port

Zur Vene führender Katheter

Haut

Abb. 11.6  Schematische Darstellung eines unter die Haut implantierten Portsystems. Cancer Research UK. Attribution 4.0 International. (CC BY 4.0)

schützt. Die Patienten können sich damit in der therapiefreien Zeit frei bewegen, auch duschen, baden und schwimmen. Der Port kann wiederholt benutzt werden, falls nötig, über einige Jahre. Er wird nach Abschluss der Therapie meist wieder  – ebenfalls durch einen kleinen Eingriff – entfernt, kann aber auch belassen werden. Für spezielle Therapieformen werden Portsysteme gelegentlich auch für den Zugang in die Bauchhöhle, die Leberarterie oder die Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) eingesetzt.

11.10 Spezielle Punkte für Ergotherapeuten 11.10.1 Sicherheit des Therapeuten Beim Umgang mit Klienten, die mit Zytostatika behandelt werden, stellt sich dem Therapeuten die Frage, ob er durch diese toxischen Substanzen gesundheitlich gefährdet ist und ob er bei körpernahen Therapieformen persönliche Sicherheitsmaßnahmen ergreifen muss.

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Grundlagen Viele tumorwirksame Medikamente, vor allem die klassischen Zytostatika, besitzen Eigenschaften, die potenziell die Mitarbeitenden am Arbeitsplatz gefährden können: • Sie sind karzinogen, d.  h. können Krebs erzeugen. • Sie sind mutagen, d.  h. können permanente und vererbliche Veränderungen des genetischen Materials der Zellen auslösen. • Sie haben eine reproduktionsschädigende Wirkung, d.  h., sie können bei Exposition während der Schwangerschaft zu Missbildungen des Fötus oder Embryos führen. • Sie wirken reizend an Haut und Schleimhäuten. • Sie werden daher im Arbeitsschutzrecht als „CMR-Arzneimittel“ aufgeführt (canzerogen, mutagen, reproduktionsschädigend). Medikamente mit CMR-Eigenschaften cc  werden nicht nur in der Tumortherapie eingesetzt, sondern u. a. auch bei Krankheiten aus dem rheumatischen Formenkreis und bei Autoimmunkrankheiten. • Das Risiko der reproduktionsschädigenden und karzinogenen Wirkung ist für Patienten, die mit Zytostatika in therapeutischen Dosierungen behandelt werden, bekannt ­ (Abschn.  11.2.2). Dieses (geringe) Risiko muss im Einzelfall gegen den möglichen Nutzen einer Behandlung abgewogen werden. Im Gegensatz dazu wird die Gefahr für das Personal, das Zytostatika ungeschützt zubereitet und verabreicht, unterschiedlich diskutiert. Da eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann, wird von einer möglichen gesundheitlichen Gefährdung ausgegangen. Es wurden deshalb länderspezifische gesetzliche Vorschriften und Empfehlungen zu Schutzmaßnahmen ausgearbeitet (Literatur).

Sicherheitsvorkehrungen in der Praxis • Für Ärzte und Pflegende sind in erster Linie mögliche Risiken bei der Zubereitung und Verabreichung der Medikamente von Bedeutung. Diese Tätigkeiten sind für Ergotherapeuten nicht relevant. In der Ergotherapie stellt sich vielmehr die Frage nach dem Risiko des Kontakts mit dem Körper oder den Ausscheidungen des mit Zytostatika behandelten Klienten. • Zytostatika werden, abhängig vom Medikament, nach der Verabreichung während einiger Tage in kleinsten Mengen über Urin, Stuhl und Schweiß ausgeschieden  – unverändert oder als Stoffwechselprodukte. Theoretisch besteht deshalb bei Kontakt mit diesen Ausscheidungen ein Risiko. • Nach den deutschen Technischen Regeln für Gefahrenstoffe werden Sekrete und Exkrete von Klienten unter Chemotherapie nicht als Gefahrenstoffe eingestuft. Im Umgang mit diesen Klienten genügen deshalb die üblichen Hygienemaßnahmen (BAUA 2014). Das heißt, dass mit Klienten unter cc  Chemotherapie wie üblich gearbeitet und ihre Haut ohne Risiko berührt werden kann. „Wie üblich“ bedeutet u. a., dass sich der Therapeut (und der Klient) bei Abschluss der Therapie die Hände wäscht. Ferner bedeutet „wie üblich“, dass bei der Beseitigung und Entsorgung von Urin, Stuhl oder Erbrochenem aus hygienischen Gründen generell Schutzhandschuhe getragen werden. Hintergrundinformation Besondere Vorkehrungen sind lediglich in zwei Fällen nötig: Beim Beseitigen und Entsorgen von Erbrochenem in den Stunden nach oraler Arzneimittelapplikation wird empfohlen, spezielle Chemikalien-Schutzhandschuhe (EN 374) oder zwei Paar gewöhnliche Schutzhandschuhe übereinander zu tragen. Dasselbe gilt für das Beseitigen und Entsorgen von Urin und Stuhl von Klienten unter Hochdosistherapien im Rahmen von Stammzelltransplantationen.

11  Medikamentöse Tumortherapie

• Für schwangere und stillende Frauen gelten generell schärfere Vorschriften. Das heißt, dass schwangere und stillende Frauen nicht mit der Zubereitung, der Verabreichung, der Entsorgung von Zytostatika oder mit der Entsorgung von Körperausscheidungen von Betroffenen beauftragt werden dürfen, auch nicht bei Befolgen der entsprechenden Schutzmaßnahmen. Keine dieser Tätigkeiten gehört zu den Aufgaben der Ergotherapie.

11.10.2 Ergotherapeutische Behandlungsindikationen Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie Einige medikamentöse Therapien können periphere sensible und motorische Nerven schädigen. Diese chemotherapieinduzierte periphere Neuropathie (CiPN) wird in Kap. 27 ausführlich beschrieben. Störung von Gleichgewicht und Koordination Neben Schäden an den peripheren Nerven können Chemotherapien auch zu Schäden an Innenohr und Kleinhirn führen. Schwindel und Störungen von Gleichgewicht und Koordination sind mögliche Folgen. Durch ein gezieltes Training und Sturzberatung kann die Symptomatik gebessert werden (Kap. 28). Kognitive Dysfunktion Als „Chemobrain“ werden verschiedene nach Chemotherapie beobachtete Einbußen im kognitiven Bereich bezeichnet. Dazu gehören beispielsweise Konzentrationsstörung, Störung der Merkfähigkeit und verlangsamte Reaktionsgeschwindigkeit (Kap. 29). Fatigue Der Tumor und die intensiven Therapien, gepaart mit der psychischen Belastung durch die Diagnose und die ungewisse Prognose, können eine spezielle Form von Müdigkeit, die sog. Fatigue-­ Symptomatik, verursachen. Diese gilt es schon früh zu diagnostizieren und Strategien im Umgang damit zu erlernen (Kap. 33).

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Ängste/Depression Die psychische Belastung in Zusammenhang mit der Erkrankung, u. a. das Gefühl, fremdbestimmt und den Therapien „ausgeliefert“ zu sein, können sich negativ auf die Psyche des Patienten auswirken. Auch können hormonelle Dysbalancen, wie sie beispielsweise bei Hormontherapien (Abschn.  11.5.) auftreten, zu depressiven Verstimmungen führen. Ergotherapeuten können mit verschiedenen Angeboten und in enger Zusammenarbeit mit der Psychoonkologie depressiven Episoden und Ängsten entgegenwirken (Kap. 21). Arthralgie und Myalgie Klienten, die mit einer Hormontherapie behandelt werden, berichten von dieser Symptomatik und damit einhergehenden Einschränkung im alltäglichen Leben (Kap. 32). Schmerzen Ob im Zusammenhang mit der Polyneuropathie oder Arthalgien/Myalgien  – Klienten berichten oft von einer begleitenden Schmerzsymptomatik. Gemeinsam mit dem Arzt und der Psychoonkologie kann die Ergotherapie im Umgang mit Schmerzen im Alltag beraten (Kap. 34).

Literatur Zitierte Literatur BAUA (2014) Technische Regeln für Gefahrstoffe. Gefahrstoffe in Einrichtungen der medizinischen Versorgung. https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regelwerk/TRGS/pdf/ TRGS-525.html. Zugegriffen am 26.06.2023

Weiterführende Literatur Dietrich K, Theobald M (2015) Immunologische Tumortherapie. Der Internist 56:907 Hess V, Biedermann B, Meier G, Herrmann R (2001a) Prinzipien der Chemotherapie: Grundlagen. Schweiz Med Forum 1:985–989 Hess V, Biedermann B, Herrmann R (2001b) Prinzipien der Chemotherapie: Chemotherapie-Nebenwirkungen und deren Behandlung. Schweiz Med Forum 1:1081–1085 Heudobler D, Herr W, Thomas S (2019) Immuntherapien in der Hämatologie und Onkologie. Onkologe 25

T. Kroner et al.

130 (Suppl 1): S77–S82. https://doi.org/10.1007/s00761019-0609-y. Zugegriffen am 26.06.2023 Kroll T, Höffken K, Clement J.H. (2007) Intrazelluläre Signaltransduktionshemmung. Onkologe 13: 32–45 Michel C, Neubauer A, Burchert A (2015) Molekulare Tumortherapie. Der Internist 56:1389 Michels A, Hartmann J, Buchholz C.J. (2020) Chimäre Antigenrezeptoren (CARs) in der Onkologie. Bundesgesundheitl 63:1331–1340. https://doi.org/10.1007/ s00103-020-03222-8. Zugegriffen am 26.06.2023 Rink L, Kruse A, Haase H (2015) Immunologie für Einsteiger. Springer Spektrum, Berlin/Heidelberg

Broschüren zu Sicherheit und Schutzmassnahmen Deutschland BGW (2019) Zytostatika im Gesundheitsdienst. https:// www.bgw-online.de/DE/Medien-Service/Medien-Center/Medientypen/BGW-Broschueren/BGW09-19-042_ Zytostatika_im_Gesundheitsdienst.html

Schweiz SUVA (2018) Sicherer Umgang mit Arzneimitteln im Gesundheitswesen. https://www.suva.ch/de-CH/material/Dokumentationen/sicherer-umgang-mit-arzneimitteln-im-gesundheitswesen-286918d-5429-5429

Österreich Bundesministerium für Gesundheit (2011) Standards für das Gebrauchsfertigmachen, die Applikation und die Entsorgung von Zytostatika. Download: https://www. basg.gv.at/fileadmin/redakteure/03_amtlicheNachrichten/Arzneimittel/2011/Standards.pdf

Internetadressen Krebsinformationsdienst KID des Deutschen Krebsforschungszentrums. www.krebsinformationsdienst. de/themen/behandlung/index.php (aktuelle Übersichten über medikamentöse Behandlungsmethoden; sehr geeignet für Patienten und Angehörige)

Blutstammzelltransplantation

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Thomas Kroner, Urs Schanz und Sabrina Heizmann

12.1 Was ist eine Stammzelle? Blutzellen, also Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten, werden im Knochenmark produziert. Alle diese Zellen entstehen aus den Stammzellen der Blutbildung (=  hämatopoetische Stammzellen = Blutstammzellen). Blutstammzellen können aus verschiedenen Quellen gewonnen werden: • aus dem Knochenmark, • aus peripherem Blut, • aus Nabelschnurblut. Sie eignen sich als Ersatz für zerstörtes oder erkranktes Knochenmark: • Sie lassen sich kryokonservieren, d.  h., sie überleben Tiefgefrieren und Wiederauftauen und bleiben dabei funktionsfähig. • Sie siedeln sich nach intravenöser Transfusion wieder im Knochenmark an. • Sie sind multipotent, d. h., aus einer Stammzelle können sich verschiedene Blutzellen T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected] U. Schanz Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie, Universitätsspital Zürich, Zürich, Schweiz e-mail: [email protected] S. Heizmann Hofstetten, Deutschland

(Erythrozyten, Granulozyten, Monozyten, Lymphozyten, Thrombozyten) entwickeln. • Sie können sich selbst erneuern. Die Transplantation von Knochenmark war die erste und lange Zeit die einzige Methode, Stammzellen der Blutbildung von einem Spender auf einen Patienten zu übertragen. Heute werden zu diesem Zweck meist Stammzellen aus dem peripheren Blut, selten auch aus Nabelschnurblut gewonnen. Der Begriff „Knochenmarktransplantation“ wurde deshalb zugunsten der umfassenderen Bezeichnung „Blutstammzelltransplantation“ verlassen.

12.2 Bedeutung in der Onkologie und Hämatologie Blutstammzellen spielen für die Funktion des Knochenmarks eine zentrale Rolle. Sind sie erkrankt (wie beispielsweise bei Leukämien) oder zerstört (z. B. nach einer hochdosierten Chemotherapie), können sie eventuell durch Transplantation von gesunden Stammzellen ersetzt werden.

12.3 Indikationen und Methoden Ein Ersatz von Stammzellen kann in zwei völlig unterschiedlichen Situationen nötig sein:

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_12

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T. Kroner et al.

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• Bei schweren angeborenen oder erworbenen Knochenmarkerkrankungen (z.  B. bei angeborenen Immundefekten, schwerer aplastischer Anämie) und bei bestimmten Leukämien (v.  a. akuter myeloischer Leukämie) oder seltener bei anderen malignen hämatologischen Erkrankungen: Die Transplantation dient hier dem Ersatz der kranken oder defekten Stammzellen des Patienten durch die eines gesunden Spenders. Das kranke Knochenmark wird zuvor durch Chemo-, selten mit zusätzlicher Strahlentherapie zerstört. In diesen Situationen wird eine sog. allogene Transplantation vorgenommen, d.  h., die übertragenen Stammzellen stammen von einem Fremdspender. Da mit den Stammzellen auch Lymphozyten des Spenders übertragen werden, erhält der Empfänger auch ein neues Immunsystem. Dieses bewirkt beim Empfänger eine immunologische Reaktion gegen die Tumorzellen, den sog. „Graft-­versus-­Tumor“-Effekt (Abschn. 12.4.4). • Zur Unterstützung der Knochenmarkregeneration nach einer hochdosierten knochenmarktoxischen Chemotherapie: Durch sehr hohe Dosen von Zytostatika werden manche maligne, v. a. hämatologische Tumoren, die mit konventionellen Therapien nicht geheilt werden können, häufig erfolgreich kurativ behandelt (z.  B.  Rückfälle von fortgeschrittenen Non-Hodgkin-­Lymphomen). Diese hochdosierten Chemotherapien führen als unerwünschte Wirkung zu einer schweren Schädigung der gesunden Stammzellen des Patienten, die sich ohne Stammzellersatz nur langsam erholen würden; deshalb wird ein Ersatzverfahren angeschlossen. Bei dieser Indikation wird ein sog. autologer Stammzellersatz durchgeführt, d. h. mit den eigenen, zuvor entnommenen Stammzellen des Patienten.

Stammzellersatz

Allogener Blutstammzellersatz • Übertragung von Stammzellen eines fremden (verwandten oder nicht verwandten) Spenders auf den Patienten. • Ziel ist der Ersatz des (kranken) blutbildenden Systems des Patienten durch Blutstammzellen des gesunden Spenders und die Entwicklung eines immunologischen Effektes gegen die Tumorzellen. Autologer Blutstammzellersatz • Rücktransfusion von patienteneigenen Stammzellen. • Ziel ist die Verkürzung der Knochenmarkaplasie nach hochdosierter Chemotherapie. Die beiden Methoden unterscheiden sich hinsichtlich der Indikationen und der Komplikationen.

12.4 Allogene Blut­ stammzelltransplantation 12.4.1 Auswahl des Blutstammzellspenders Voraussetzung für das Gelingen einer allogenen Blutstammzelltransplantation ist die Gewebeverträglichkeit, d.  h. eine möglichst gute Übereinstimmung der Transplantationsgruppeneigenschaften (HLA: Humane Leukozyten-Antigene) zwischen Spender und Empfänger. Je schlechter die Übereinstimmung, desto mehr schwere, unerwünschte Immunreaktionen treten auf. Dazu

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gehört einerseits die Abstoßung des Trans- tiefgefroren und bis zum Gebrauch gelagert. Für die plantats, anderseits die Graft-versus-Host-Reak- allogene Transplantation werden sie in der Regel tion, bei der Lymphozyten des Spenders das für frisch direkt nach der Entnahme transfundiert. sie fremde Gewebe des Empfängers angreifen (Abschn.  12.4.4). Unterschiedliche AB0-­ Blutgruppen sind dagegen für eine Stammzell- 12.4.3 Ablauf der allogenen transplantation nicht von Bedeutung: Nach der Blutstammzelltransplantation Transplantation wird der Empfänger die Blutgruppe des Stammzellspenders aufweisen. Konditionierung Findet sich in der Familie kein gewebsverträg- Vor der allogenen Transplantation muss das erlicher Spender, wird ein passender unverwandter krankte Knochenmark (die Tumorzellen) des PaSpender gesucht. tienten zerstört werden. Ebenso wichtig ist jedoch eine ausreichende Unterdrückung (Supprimierung) seines Immunsystems zur Vermeidung von Ab12.4.2 Gewinnung von stoßungsreaktionen. Beides geschieht durch eine Blutstammzellen hochdosierte Chemotherapie, gelegentlich kombiniert mit einer Ganzkörperbestrahlung. Diese sog. Blutstammzellen aus Knochenmark Konditionierung dauert einige (6–10) Tage. Dem Spender werden – in der Regel unter Vollnarkose – durch mehrfache Punktionen am hinte- Transplantation ren Beckenkamm beidseits ca.  1000–1500  ml Die aus Knochenmark, peripherem Blut oder aus Knochenmark entnommen. Der Spender bleibt Nabelschnurblut gewonnenen Stammzellen werfür 2–3 Tage hospitalisiert. den dem Patienten nach der Konditionierung über Für den Spender bedeutet der Eingriff, ab- einen zentralvenösen Katheter transfundiert. Sie gesehen von der Narkose, kein Risiko. Während siedeln sich im Knochenmark des Empfängers an einiger Tage bis Wochen können jedoch Schmer- und ermöglichen im Verlauf von 10–20 Tagen zen an den Entnahmestellen bestehen, die in der wieder eine ausreichende Produktion von BlutRegel mit Analgetika gut zu beherrschen sind. zellen. Die eigentliche Transplantation ist also ein wenig aufwendiger Vorgang, der für den EmpfänBlutstammzellen aus peripherem Blut ger keinen chirurgischen Eingriff bedeutet. Stammzellen und andere Vorläuferzellen der Blutbildung finden sich zwar hauptsächlich im Knochenmark, sie kommen jedoch in geringer 12.4.4 Komplikationen Zahl auch im peripheren Blut vor. Gegenüber Stammzellen aus dem Knochenmark haben In den Wochen und Monaten nach dem allogenen Stammzellen aus peripherem Blut den Vorteil, Stammzellersatz können zahlreiche, oft schwere dass zu ihrer Entnahme keine Anästhesie nötig und evtl. tödliche Komplikationen auftreten. Es ist. Periphere Blutstammzellen sind heute die ge- handelt sich dabei in erster Linie um Infekte und bräuchlichste Stammzellquelle. um die sog. Graft-versus-Host-Reaktion (GvHR). Die Anzahl der Stammzellen muss vor der Ent- Weitere Probleme entstehen durch verschiedene nahme erhöht werden. Dazu wird die Blutbildung Spätfolgen der Therapie, leider auch durch des Spenders während etwa 5 Tagen mit Wachstums- Krankheitsrezidive. faktoren stimuliert. Die Entnahme erfolgt anschließend ambulant während 1–3  Tagen, dazu Infekte wird der Spender während je etwa 3–6 h an einen Die Konditionierung sowie die Behandlung der sog. Blutzellseparator angeschlossen. Die so ge- immunologischen Reaktionen führen zu einer wonnenen Stamm- und Vorläuferzellen werden für hochgradigen Abwehrschwäche. Der Patient ist die autologe Transplantation in flüssigem Stickstoff in den ersten Wochen nach der Transplantation

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anfällig für schwere Infekte. In dieser Zeit wird er meist in einer speziellen Transplantationsstation behandelt. Die vollständige Erholung der Immunabwehr dauert allerdings wesentlich länger, deshalb bleibt eine Gefährdung v.  a. durch Virusinfekte mehrere Monate bestehen.

12.4.5 Allogene Blutstammzell­ transplantation mit reduzierter Konditionierung

Wie oben beschrieben, bestehen zahlreiche Hinweise, dass die tumorzerstörende Wirkung der allogenen Stammzelltransplantation nicht Graft-versus-Host-Reaktion nur durch die Konditionierung, sondern auch Die Bezeichnung (engl. graft = Transplantat; lat. durch den Graft-versus-Leukämie (= Graftversus = gegen; engl. host = Wirt, Empfänger) er- versus-­ Tumor)-Effekt vermittelt wird. Diese klärt bereits das Problem: Mit den allogenen immunologische Antitumorwirkung wird Stammzellen werden dem Patienten auch T-­ durch die transplantierten T-Lymphozyten des Lymphozyten (Zellen des Immunsystems) des Spenders bewirkt. Spenders übertragen, die die Zellen des EmpfänDie Intensität der Konditionierung wird gers („Host“) als „fremd“ erkennen können; ihre deshalb in letzter Zeit verringert, z.  B. durch Immunantwort führt zu entzündungsähnlichen Verzicht auf die Ganzkörperbestrahlung oder Reaktionen im Körper des Stammzellempfängers. durch Reduktion der Zytostatikadosierung. Diese zeigen sich v. a. an der Haut, den Schleim- Ziel dieser reduzierten Konditionierung ist häuten des Magen-Darm-Trakts und der Leber. nicht mehr die vollständige Zerstörung der Die ersten Symptome sind Hautausschläge, Tumorzellen, sondern lediglich eine gerade so Durchfälle und Ikterus (Gelbsucht), gelegentlich weit gehende Unterdrückung des ImmunFieber. Diese akute Graft-­versus-Host-­Reaktion systems, dass die Abstoßung der trans(GvHR) kann abheilen, aber auch in eine chroni- plantierten Stammzellen verhindert wird. Die sche Form übergehen oder zum Tod führen. immunologische Graft-­versus-­Tumor-Reaktion bleibt aber erhalten. Graft-versus-Tumor-Reaktion Wegen der dosisreduzierten Konditionierung Die transplantierten fremden Lymphozyten wird das Verfahren als reduziert intensiv (RIC = ­bewirken nicht nur eine Graft-versus-Host-, son- „reduced intensity conditioning“) bezeichnet, im dern auch eine erwünschte Graft-versus-­Tumor- Gegensatz zur hochdosierten, sog. myeloablativen Reaktion, d.h. in diesem Fall eine Graft-­versus- Konditionierung (MAC = „myeloablative condiLeukämie-Reaktion. Durch sie werden tioning“). Die ansonsten mit der GanzkörperLeukämiezellen zerstört. bestrahlung und der Hochdosischemotherapie verbundene Toxizität ist dabei erheblich reduziert. Spätkomplikationen Es können somit auch ältere Patienten einer alloEine chronische Graft-versus-Host-Reaktion und genen Transplantation zugeführt werden. Das verschiedene Spätfolgen der Therapie können die Verfahren bleibt aber, vor allem wegen der Lebensqualität der Langzeitüberlebenden nach Graft-versus-Host-Reaktion, belastend und noch allogener Transplantation in unterschiedlicher immer mit einem Risiko schwerer, auch tödlicher Weise beeinträchtigen. Tab. 12.1 zeigt eine Aus- Komplikationen verbunden. wahl möglicher Spätkomplikationen. Tab. 12.1  Einige Spätfolgen nach allogener Knochenmarktransplantation. (Beispiele) Organ Auge Schleimhäute Gonaden (Hoden/ Eierstöcke) Alle Organe

Spätfolgen Grauer Star (Katarakt) Mundtrockenheit/Konjunktivitis Sterilität, vorzeitiges Klimakterium, Osteoporose bei Frauen Zweitmalignome (selten)

Behandlung und Prophylaxe Kataraktoperation Augentropfen, Immunsuppressiva Spermien- oder Eizellenkonservierung/ Hormonersatz Vorsorgeuntersuchungen

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12.4.6 Ergebnisse und Prognose Die Erfolgsaussichten der allogenen Stammzelltransplantation hängen von vielen, im Einzelfall unterschiedlich zu gewichtenden Faktoren ab. Zu den wichtigsten prognostischen Faktoren gehören: • Art der Grunderkrankung, • Stadium der Grunderkrankung, • Begleiterkrankungen und Allgemeinzustand. Für Patienten mit akuten Leukämien beträgt die Wahrscheinlichkeit, 5 Jahre nach allogener Transplantation zu überleben, bei rechtzeitiger Durchführung 50–70  %. Etwa 5–20  % der Patienten sterben an Komplikationen der Transplantation, meist in den ersten 3–6 Monaten; weitere 15–25  % (bei fortgeschrittenem Krankheitsstadium 50–70  %), erleben einen Rückfall der Leukämie. Für jüngere Patienten sind die Aussichten günstiger, da sie wesentlich seltener schwere Frühkomplikationen erleiden.

12.5 Autologe Blut­stammzell­ transplantation Bei der autologen Blutstammzelltransplantation ist der Patient zugleich Spender und Empfänger: Eigene (autologe) Stammzellen werden ihm entnommen und nach einer hochdosierten Chemotherapie – deren Ziel die vollständige Zerstörung aller Tumorzellen im Körper ist – rücktransfundiert. Die durch die hochdosierte Chemotherapie ebenfalls schwer geschädigten Stammzellen werden so ersetzt, und die Blutbildung wird wieder in Gang gebracht. Da keine körperfremden Zellen übertragen werden, handelt es sich eigentlich nicht um eine Transplantation. Man bezeichnet die Methode deshalb häufig auch als Rücktransfusion von autologen Stammzellen.

12.5.1 Ablauf Die Blutstammzellentnahme verläuft wie bei der allogenen Transplantation. Bei der auto-

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logen Variante werden heute allerdings fast ausschließlich periphere Blutstammzellen eingesetzt, die Transplantation von autologem Knochenmark wird nur noch sehr selten vorgenommen. Die gewonnenen Stammzellen werden nach der Entnahme tiefgefroren. Wenige Tage nach der hochdosierten Chemotherapie werden sie wieder aufgetaut und dem Patienten über einen Zentralvenenkatheter rücktransfundiert.

12.5.2 Komplikationen und Probleme Bei der autologen Stammzelltransplantation entfallen zwar die Probleme der Graft-­versusHost-­Reaktion, trotzdem handelt es sich nicht um eine risikofreie Methode. Die therapiebedingte Sterblichkeit kann in Abhängigkeit von Alter und Allgemeinzustand der Patienten 1–4  % in den ersten Monaten betragen. Probleme entstehen in erster Linie durch schwere Infekte und Komplikationen der hochdosierten Chemotherapie an den Organen (z.  B.  Lunge mit Pneumonitis), die auftreten, bevor die Blutbildung wieder funktionsfähig ist. Das Hauptproblem stellen aber Rezidive der Grunderkrankung dar.

12.6 Besonderheiten der stationären Betreuung Bei der Betreuung von Patienten mit Stammzelltransplantationen gibt es einige Besonderheiten: „Setting“  Die Patienten sind häufig in spezialisierten Transplantationsstationen hospitalisiert. Wegen der Infektgefährdung während der Dauer der Knochenmarkaplasie und der starken Immunsuppression werden sie bei allogenen Transplantationen in der Regel in Einzelzimmern mit speziell filtrierter, keimfreier Luft isoliert. Es gelten zudem spezielle Vorschriften für die Hygiene, z.  B. für Kleidung oder Anzahl der Besucher. Diese Vorschriften belasten die Patienten heute aber kaum.

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Dauer des Aufenthaltes  Patienten mit allogener Transplantation liegen im Durchschnitt 4–5  Wochen auf der Station. Dies bedeutet für die Patienten eine große Belastung, da sie während langer Zeit ihr Zimmer nicht verlassen dürfen. Bei autologen Transplantationen dauert der Krankenhausaufenthalt  – falls keine schweren Komplikationen auftreten  – meist kürzer, etwa 2–3 Wochen. Psychische Belastung der Patienten  Viele Faktoren führen zu einer außerordentlichen Belastung der Patienten: das Gefühl, „eingesperrt“ und „ausgeliefert“ (Kontrollverlust) zu sein, die aufgezwungene Passivität, die Ungewissheit über den Ausgang der Behandlung – dies alles neben der großen körperlichen Belastung durch Mukositis, Übelkeit, Fieber etc. Eine psychoonkologische Begleitung wird deshalb von vielen Patienten in Anspruch genommen.

12.7 Spezielle Punkte für die ergo­therapeutische Arbeit Bei der Arbeit mit Patienten nach Blutstammzelltransplantation sind folgende Punkte besonders zu beachten: Fatigue  Verschiedene Ursachen wie z. B. die intensiven Therapien, gepaart mit der psychischen Belastung, welche die Diagnose mit sich bringen kann, können eine Fatigue-Symptomatik verursachen. Es gilt, schon früh die Fatigue zu diagnostizieren und Strategien im Umgang damit zu erlernen. Mehr dazu Kap. 33. Gedächtnis und Konzentration  Die hochdosierte Chemotherapie in Zusammenhang mit

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der psychischen Belastung und Schlafmangel können zu einer kognitiven Dysfunktion führen. Mehr dazu Kap. 29. Depression und Angst  Die psychische Belastung, die die Diagnose Krebs mit sich zieht und das Gefühl der Fremdbestimmung und den Therapien „ausgeliefert“ zu sein, können sich negativ auf die Psyche des Patienten auswirken. Durch die Isolation kann sich die Situation verschlimmern. Ergotherapeuten können mit verschiedenen Angeboten und in enger Zusammenarbeit mit der Psychoonkologie depressiven Episoden und Ängsten entgegenwirken. Erhöhtes Infektrisiko  Individuelle Hygienemaßnahmen gibt der behandelnde Arzt vor. Der Ergotherapeut kann Ängste beim Klienten abbauen, indem der Alltag und nötige Hygienemaßnahmen für bestimmte Situationen im Vorfeld mit ihm besprochen werden (z.  B. wann ist ein Schwimmbadbesuch wieder ohne höheres Risiko möglich). Probleme in Zusammenhang mit Graft-­ versus-­Host-Reaktion  Hier gilt es, dass der Patient trotz verschiedener Einschränkungen durch die GvHR seinen Alltag so selbstständig wie möglich meistern kann. Die für ihn hierzu relevanten Betätigungsziele gilt es festzuhalten, zu analysieren und umzusetzen. Mehr dazu Kap. 26. Polyneuropathische Beschwerden  Aufgrund der hochdosierten Chemotherapie kann sich eine chemotherapieinduzierte Polyneuropathie entwickeln. Mehr dazu Kap. 27. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang auch die sekundären Folgen wie z. B. Gleichgewichts- oder Feinmotorikstörungen.

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Literatur Weiterführende Literatur Buchholz S, Ganser A (2009) Hämatopoetische Stammzelltransplantation. Der Internist 50:572–580 Gratwohl A, Passweg J, Kühne T, Tyndall A, Holzgreve W et al (2002) Hämatopoetische Stammzelltransplantation. Schweiz. Med Forum 2:597 Hertenstein B, Ganser A (2004) Knochenmarktransplantation: Indikationen, Chancen und Perspektiven. Internist 45:1261

Broschüren Sehr hilfreiche Broschüren der Deutschen. Leukämieund Lymphom-Hilfe e. V.: Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation – Informationen. für Patienten und Angehörige Gratis. https://www.leukaemie-hilfe.de/infothek/eigene-publikationen/informationsbroschueren/ hochdosistherapie-mit-autologer-stammzelltransplantation-informationen-fuer-patienten-und-angehoerige

137 Ratgeber für Patienten. nach allogener Knochenmarkund Stammzelltransplantation Gratis Download: https://www.leukaemie-hilfe.de/infothek/eigene-publikationen/informationsbroschueren/ratgeber-fuer-patienten-nach-allogener-knochenmark-und-stammzelltransplantation Sexualität nach Knochenmark- und Stammzelltransplantation. Gratis. https://www.leukaemie-hilfe.de/infothek/eigene-publikationen/informationsbroschueren/ sexualitaet-nach-knochenmark-und-stammzelltransplantation

Internetadressen Zahlreiche. gute und wichtige Informationen für Patienten, Angehörige und andere Interessierte: Krebsinformationsdienst. des Deutschen Krebsforschungszentrums. http://www.krebsinformationsdienst.de/behandlung/blutstammzelltransplantation.php Deutsche. Leukämie- und Lymphom-Hilfe e. V. https:// www.leukaemie-hilfe.de/

Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs

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Thomas Kroner

13.1 Einleitung Komplementär- und Alternativmedizin (KAM) ist bei Krebspatienten weit verbreitet. Bis zu zwei Drittel aller Betroffenen wenden Methoden der KAM an, meist zusätzlich zu schulmedizinischen Behandlungen. Ergotherapeuten werden von ihren Klienten häufig auf diese Methoden angesprochen. Sie sollten daher Informationen zu KAM vermitteln können und wissen, welche Hoffnungen und welche Risiken damit verbunden sind.

13.2 Definitionen Für Methoden der Komplementär- und Alternativmedizin sind zahlreiche weitere Bezeichnungen gebräuchlich, z.  B. „unkonventionelle Verfahren“, „Erfahrungsmedizin“, „ganzheitliche Medizin“ oder „holistische Medizin“. Durchgesetzt haben sich die Begriffe Komplementärmedizin und Alternativmedizin. cc Heute werden – entsprechend den folgenden Definitionen  – unter Komplementärmedizin und Alternativmedizin zwei unterschiedliche Konzepte verstanden.

Schulmedizin  Auch konventionelle oder wissenschaftlich orientierte Medizin genannt. Sie beruht auf naturwissenschaftlichen Grundlagen und bemüht sich, ihre Resultate durch kontrollierte Studien und statistische Methoden zu belegen. Komplementärmedizin  Therapien und Methoden, die die Schulmedizin ergänzen sollen. In der Onkologie verfolgt die Komplementärmedizin typischerweise supportive Ziele wie Besserung der Symptomkontrolle und der Lebensqualität. Alternativmedizin  Therapien und Methoden, die anstelle der Schulmedizin propagiert werden. Sie werden als Alternative zur Schulmedizin betrachtet. Integrative Medizin  Als integrative Medizin wird eine Medizin bezeichnet, die neben schulmedizinischen Methoden auch Methoden der Komplementärmedizin einsetzt. cc Allen Verfahren der KAM ist gemeinsam, dass die behauptete therapeutische Wirksamkeit nicht oder nicht ausreichend durch wissen­ schaftlich anerkannte Untersuchungen belegt ist (Horneber et al. 2010).

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_13

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T. Kroner

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Die genannten Begriffe lassen sich allerdings nicht scharf definieren: • Eine klare Trennung zwischen Alternativ- und Komplementärmedizin ist nicht immer möglich, da oft die gleichen Methoden eingesetzt werden. Ob eine Behandlung dann als alternativ oder komplementär eingestuft wird, ist davon abhängig, ob sie anstelle oder neben einer schulmedizinischen Behandlung durchgeführt wird. Es hat sich deshalb der Sammelbegriff Komplementär- und Alternativmedizin, abgekürzt KAM, eingebürgert. • Auch kann eine Therapie sowohl innerhalb der Schulmedizin wie der KAM eingesetzt werden: Werden z.  B.  Spurenelemente bei nachgewiesenem Mangel verordnet, handelt es sich um eine nützliche Maßnahme der Schulmedizin. Die Verordnung ohne Nachweis eines Mangels – z. B. von Vitamin E oder Selen – gehört zur KAM und kann auch schaden (Abschn. 13.4.5). • Ein anderes Beispiel: Die Wirksamkeit von Johanniskraut in der Behandlung leichter Depressionen ist durch mehrere wissenschaftlich fundierte Untersuchungen gut belegt. Ist Johanniskraut deshalb zur Schulmedizin zu zählen? Oder – als pflanzliche Substanz – zur KAM? • Schließlich ist unklar, welche Methoden generell zur KAM zu zählen sind: Sollen, wie in der Fachliteratur teils üblich, Gebete, Yoga oder Musik als KAM betrachtet werden?

13.3 Verhältnis von KAM und Schulmedizin Über viele Jahre war das Verhältnis zwischen Schulmedizin und KAM geprägt durch gegenseitige Kritik, Anfeindung und Ablehnung. Unterdessen hat sich das Verhältnis entspannt. Viele Vertreter der Schulmedizin akzeptieren komplementärmedizinische Methoden als Ergänzung zur Schulmedizin, sofern die Patienten offen über Nutzen und Risiken (Abschn. 13.6) informiert werden. An verschiedenen Universitäten

Tab. 13.1  Argumente von Vertretern der KAM und der Schulmedizin. (Nach Martz 1997) Argumente der Vertreter der KAM Vorteile der KAM Nachteile der Schulmedizin Ganzheitlich Organbezogen Geistig-seelische Auf somatische Aspekte Aspekte einbeziehend fokussiert Menschlich Technokratisch Sanft Aggressiv Natürliche Heilmittel Chemische, synthetische (gesund) Substanzen (toxisch) Keine Nebenwirkungen Ausgeprägte Nebenwirkungen Argumente der Vertreter der Schulmedizin Vorteile der Schulmedizin Nachteile der KAM Wirksamkeit an Wirksamkeit nicht in Patientenkollektiven Studien überprüft, nur nachgewiesen und aus Einzelfallberichten reproduzierbar abgeleitet Therapie auf Therapie auf naturwissenschaftlicher unbewiesenen Theorien Grundlage beruhend Beruht auf rationaler Irrational, oft mystisch-­ Grundlage magisch Erfahrungsaustausch Erfahrungsaustausch intensiv, international spärlich, oft nur regional Methoden immer wieder Starr, dogmatisch infrage gestellt

wurden Lehrstühle für Komplementärmedizin eingerichtet, an denen versucht wird, komplementär- und alternativmedizinische Methoden durch wissenschaftlich fundierte Studien zu überprüfen. Tab.  13.1 zeigt eine Gegenüberstellung einiger Argumente von Vertretern der KAM bzw. der Schulmedizin.

13.4 Methoden der KAM 13.4.1 Übersicht und Charakteristika Innerhalb der KAM werden unzählige diagnostische und therapeutische Verfahren in vielen Varianten angewandt (Übersicht Tab.  13.2). Im Literaturverzeichnis am Ende dieses Kapitels finden sich unter „Internetadressen“ Hinweise auf Websites mit ausführlichen Informationen zu zahlreichen Methoden.

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Tab. 13.2  Methoden der KAM. (Nach Horneber et al. 2010) Kategorie Diagnostische Verfahren Medikamentöse Verfahren Ernährung Technische Verfahren Psychologische Verfahren Manuelle Verfahren Komplexe/ traditionelle Konzepte

Beispiele Bioresonanz, EDIM-Technologie, Dunkelfeldmikroskopie nach Prof. Dr. Enderlein, Irisdiagnostik, Blutkristallisationstest Mistelextrakte, Laetrile, Thymusextrakte, Enzympräparate, Ukrain „Krebsdiäten“, z. B. Coy-Diät, Diät nach Breuss, Vitamine, Spurenelemente, orthomolekulare Medizin Hyperthermie, Ozonbehandlung, systemische Krebsmehrschritttherapie (v. Ardenne) Visualisierung, Hypnotherapie, Geistheilung, Reiki, Biofeedback, Qigong Chirotherapie, Kinesiologie, Reflexzonenmassage, Osteopathie, Kraniosakraltherapie Homöopathie, anthroposophische Medizin, Aromatherapie, Hildegard-Medizin, germanische neue Medizin (Hamer), Ayurveda, Traditionelle Chinesische Medizin, Akupunktur

Einige Besonderheiten der KAM

• Die Häufigkeit, mit der einzelne Methoden eingesetzt werden, unterscheidet sich von Land zu Land: Während in deutschsprachigen Ländern die Anwendung von Mistelpräparaten weit verbreitet ist, sind diese Präparate in den USA praktisch unbekannt. Dort steht bei Krebspatienten die Anwendung von Vitaminen und Haifisch- oder Rinderknorpel an erster Stelle. • Oft werden die Methoden als „traditionell“ bezeichnet, und es wird darauf hingewiesen, dass eine teils jahrhundertelange Erfahrung ihre Grundlage bildet (Homöopathie, Akupunktur). Dies beweist allerdings weder den Nutzen noch die Unschädlichkeit einer Methode. So gehörten Aderlässe  – von denen wir heute wissen, dass sie den Tod vieler Patienten beschleunigt haben – über Jahrhunderte zum Standardrepertoire der abendländischen Medizin. • Die Wirkung von KAM wird gelegentlich mit naturwissenschaftlichen Begriffen wie „Stärkung des Immunsystems“ beschrieben, ohne dass dieser Wirkungsmechanismus für die jeweilige Methode belegt wäre. • Methoden können auch mit griechischen oder lateinischen Begriffen be-

zeichnet werden, die in der wissenschaftlichen Medizin nicht bekannt sind, aber naturwissenschaftlich klingen (z. B. „orthomolekulare Medizin“). • Die Methoden werden als „ganzheitlich“ bezeichnet – im Gegensatz zu den Methoden der Schulmedizin, die nur auf den Tumor ausgerichtet seien. • Als Beweis für die Wirksamkeit werden häufig Einzelfallberichte von „geheilten“ Patienten präsentiert, die jedoch nicht überprüft werden können. • Oft werden die Methoden nach den Personen benannt, die sie entwickelt haben, häufig mit ihren akademischen Titeln versehen („Prof. Dr.“). Diese Gründerfiguren werden von den Anhängern der Methode oft wie Idole verehrt. Dies verhindert das nötige und in der Schulmedizin übliche kritische Hinterfragen der zugrunde liegenden Konzepte sowie ihre Weiterentwicklung.

13.4.2 Diagnostische Methoden In der KAM werden zahlreiche diagnostische Tests eingesetzt (Tab.  13.2), die angeblich bereits früheste Vorstufen von Krebs, sogar eine „Krebsdisposition“ oder „Tumorneigung“ feststellen können. Auch Tumorrezidive, die mit schulmedizinischen

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Methoden nicht zu erfassen sind, sollen so diagnostiziert werden können. Diese „Früherkennung“ erlaubt dann die Behandlung durch eine ebenfalls unbewiesene Methode, deren Erfolg dann durch den gleichen, jetzt negativen Test bewiesen wird. Die Treffsicherheit von diagnostischen Methoden kann nach wissenschaftlichen Kriterien untersucht werden. Keiner der in Tab. 13.2 aufgeführten Tests kann zwischen Tumorpatienten und Gesunden unterscheiden.

13.4.3 Heilpflanzen Heilpflanzen spielen in der Medizin seit jeher eine bedeutende Rolle. Viele werden auch in der modernen Schulmedizin eingesetzt, beispielsweise Johanniskraut gegen Depressionen, aus der Weide gewonnene fiebersenkende und schmerzlindernde Salicylate (Aspirin) und in der Onkologie die schon erwähnten Zytostatika aus Eibe oder Immergrün (Abb. 11.1). In der Schulmedizin werden die wirksamen pflanzlichen Substanzen in gereinigter Form angewandt, sie können so genau dosiert werden. Viele Patienten betrachten „natürliche“ pflanzliche Heilmittel als Alternative zum „chemischen Gift“ der Schulmedizin. Ihnen ist nicht bewusst, dass pflanzliche Wirkstoffe nicht unbedingt „sanft“ und damit harmlos sind. Sie können beispielsweise Allergien auslösen oder zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten führen (Tab. 13.4). cc Auch vermeintlich harmlose Pflanzenextrakte können pharmakologisch wirksame Substanzen enthalten. Neben möglichen erwünschten können deshalb auch unerwünschte Wirkungen auftreten. (Abschn. 13.6.2). Zu Nutzen und Risiken von Heilpflanzen auch Abschn. 13.5 und 13.6. Wegen ihrer Häufigkeit werden im Folgenden drei Anwendungen von Heilpflanzen näher beschrieben. Heilkräuter aus der TCM Heilkräuter aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) werden von Krebspatienten zu-

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nehmend genutzt. Dies ist aus mehreren Gründen problematisch: Die eingesetzten Heilkräuter sind zum größten Teil nicht erforscht und es besteht ein erhebliches Risiko von Nebenwirkungen, auch wegen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten (Hübner et al. 2017). Gefährlich sind besonders über das Internet in Asien bestellte „Heilkräuter“. Diese enthalten oft nicht deklarierte starke Medikamente wie Kortison ­ oder NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika). Die chinesische Kräutermischung Sho-­ saiko-­to wurde in einer kontrollierten klinischen Studie an Patienten mit Leberzellkrebs untersucht. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe war das Überleben der behandelten Patienten nicht signifikant verlängert (Ernst 2005a, b). Mistelpräparate Mistelpräparate wurden von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie (Abschn. 13.4.9), eingeführt, beruhend auf dem Grundsatz der Homöopathie „Heile Gleiches mit Gleichem“: Die Mistel, die als Parasit auf Bäumen gedeiht, soll demnach den Krebs, der als „Parasit“ des gesunden Körpers betrachtet wird, heilen können. Mistelpräparate gehören in das Behandlungskonzept der homöopathischen und der anthroposophischen Medizin, ihre Anwendung bei Krebspatienten ist heute allerdings auch außerhalb dieser Schulen weit verbreitet. • Inhaltsstoffe der Mistel (Viskotoxine und Mistellektine) stimulieren im Körper die Produktion von Zytokinen (Abschn.  2.6.1) und können eine unspezifische Immunreaktion hervorrufen, d.  h., sie aktivieren die körpereigene Immunabwehr: Nach Injektionen von Mistelextrakten wird eine Vermehrung von Leukozyten (weißen Blutkörperchen) beobachtet. • Im Labor konnte gezeigt werden, dass Inhaltsstoffe der Mistel zum Absterben von Tumorzellen führen. • In methodisch sauber geführten Studien konnte jedoch nie gezeigt werden, dass Mistelextrakte beim Menschen das Tumorwachstum beeinflussen oder die Überlebenszeit verlängern (Rostock 2020).

13  Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs

• Es gibt allerdings Hinweise, dass eine Misteltherapie zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen kann. Außerdem scheinen Patienten, die zusätzlich zu ihrer Chemotherapie eine Misteltherapie bekommen, die Therapie besser zu vertragen (Rostock 2020). Ob dies auf einem Placeboeffekt oder einer pharmakologischen Wirkung beruht, bleibt offen, ist aber letztlich belanglos. Die Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ kam zum Konsens, dass der Einsatz von Mistelextrakten „zur Verbesserung der Lebensqualität bei Patienten mit soliden Tumoren erwogen werden kann“. Für eine Empfehlung zum Einsatz zur Reduktion von Nebenwirkungen von Tumortherapien fand sich keine Mehrheit (Leitlinienprogramm Onkologie 2021). Die verschiedenen im Handel erhältlichen Präparate unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung je nach Hersteller. Anthroposophische Anbieter differenzieren ihre Präparate nach den Wirtsbäumen, auf denen die Misteln gewachsen sind. Mistelpräparate werden üblicherweise mehrmals wöchentlich in aufsteigenden Konzentrationen subkutan verabreicht. An den Einstichstellen kommt es häufig zu lokalen Entzündungsreaktionen, gelegentlich auch zu Fieber. Diese Reaktionen werden von den Anwendern als erwünschte Wirkungen der Therapie interpretiert. Cannabis Die Hanfpflanze (botanische Bezeichnung: Cannabis sativa) wird in vielen Kulturen als Rauschund als Heilmittel angewandt. Cannabis enthält zahlreiche pharmakologisch aktive Substanzen, darunter die sog. Cannabinoide. Die beiden medizinisch wichtigsten Cannabinoide sind Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) und Cannabidiol (CBD). Schmerzlindernde Wirkung  Cannabinoide haben einen gewissen analgetischen (schmerz-

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lindernden) Effekt. Bei starken krebsbedingten Schmerzen zeigt eine Mischung von THC und CBD (Sativex®) zusätzlich zu Opiaten keinen Nutzen (Fallon et al. 2017). Antiemetische Wirkung  Cannabinoide können Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapien reduzieren. Dies wurde in älteren Studien im Vergleich mit wenig wirksamen Antiemetika festgestellt. Es gibt keine Daten zum Vergleich von Cannabinoiden mit modernen antiemetischen Medikamentenkombinationen. Deshalb ist es unmöglich, den klinischen Wert von Cannabis als Antiemetikum einzuschätzen. In Deutschland ist synthetisches THC unter dem Markennamen Canemes® zugelassen zur Behandlung von chemotherapiebedingter Übelkeit und Erbrechen, die auf andere antiemetische Behandlungen nicht adäquat ansprechen. Wirkung auf Appetit und Gewicht  Bei Krebspatienten mit Anorexie-Kachexie-Syndrom (Abschn.  15.4.4) führen Cannabinoide nicht zu Gewichtszunahme. Der Appetit verbessert sich, allerdings nicht mehr als unter Behandlung mit einem Placebo (Strasser et al. 2006). Antitumor-Wirkung  Im Labor zeigen verschiedene Cannabinoide eine hemmende Wirkung auf Kulturen von bestimmten Tumorzellen. Bei Patienten konnte bislang allerdings keine Tumorrückbildung dokumentiert werden. Entsprechende klinische Studien sind im Gange, Resultate liegen noch nicht vor. Wie alle pharmakologisch wirksamen Substanzen zeigen auch Cannabinoide, vor allem THC, unerwünschte Wirkungen, in erster Linie Schläfrigkeit, Schwindel und Mundtrockenheit. Vor einer unkontrollierten Anwendung von Cannabinoiden ist zu warnen: Patienten mit Cannabisgebrauch zeigen ein schlechteres Ansprechen auf tumorwirksame Immuncheckpointhemmer (Abschn. 11.4.1) (Taha 2019).

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13.4.4 Diäten Das Thema Ernährung ist für Krebspatienten und für ihre Angehörigen von großer Bedeutung. In der Schulmedizin haben Diäten und Nahrungsergänzungsmittel primär das Ziel, den Ernährungszustand des Patienten zu verbessern (Abschn.  15.6.1). Gewisse alternative Diätkonzepte erheben dagegen den Anspruch, den Krebs zu heilen und Rezidive zu verhindern. Im folgenden Abschnitt werden einige häufig angewandte alternativmedizinische Diäten besprochen:

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sätzlich werden zur „Entgiftung“ Einläufe mit Kaffee vorgenommen.

Es gibt keinen wissenschaftlich fundierten cc  Nachweis dafür, dass solche Diäten beim Menschen Wachstum und Metastasierung eines Tumors verhindern oder verlangsamen oder dass sie die Wirksamkeit oder Verträglichkeit einer Chemooder Strahlentherapie verbessern. Sie können sogar gefährlich sein: Sie verstärken unter Umständen die krankheitsbedingte Mangelernährung und schwächen damit zusätzlich die Immunabwehr der Patienten. Den Patienten ist dringend davon Ketogene Diät (nach dem „Dr. Coy-­ abzuraten (Tab. 13.4). Prinzip“)  Theoretische Grundlage dieser Diät ist die Tatsache, dass Tumorzellen für ihren Die meisten Patienten suchen durch eine Diät Energiehaushalt mehr Kohlenhydrate brauchen allerdings nicht Heilung von ihrer Krankheit. Sie als normale Zellen. Die Diät ist deswegen in haben vielmehr das Bedürfnis, eine als „unerster Linie kohlenhydratarm, aber fettreich. gesund“ empfundene Ernährung umzustellen Zusätzlich werden verschiedene Substanzen oder ihren Ernährungszustand zu optimieren. Es verabreicht, die den Stoffwechsel beeinflussen empfiehlt sich, diese Patienten einer qualisollen. Als diagnostische Methode wird die sog. fizierten, auf wissenschaftlicher Basis arbeitenEDIM-Technologie (Epitop-Detektion in Mono- den Diätassistentin/Ernährungsberaterin zuzuzyten) eingesetzt. Ein hoher Plasmaspiegel der weisen. Diese wird den Ernährungszustand des Enzyme TKTL-1 und Apo10 könne Patienten Patienten überprüfen und gestützt darauf gezielte ermitteln, die von einer ketogenen Diät profitie- Empfehlungen abgeben, möglicherweise auch ren könnten. Darüber hinaus wird die diätetische Maßnahmen einleiten. Dadurch lässt EDIM-Technologie auch eingesetzt, um die sich vermeiden, dass Patienten unnütze und Wirkung der Diät zu prüfen. risikoreiche Diäten befolgen. Zu Nutzen und Risiken von Diäten auch Abschn. 13.5 und 13.6. Krebskur total nach Breuß  Sie geht von der Vorstellung aus, dass Krebserkrankungen durch den Verzicht auf feste Nahrung „ausgehungert“ 13.4.5 Vitamine und und damit geheilt werden können. Dies ist theoSpurenelemente retisch unsinnig und weder durch Laborexperimente noch durch klinische Studien belegt. Im Vitamine und Spurenelemente gehören zu den Rahmen der Breuß-Diät darf während 42 Tagen sog. Mikronährstoffen, d. h. zu Nahrungsbestandnichts gegessen werden, stattdessen werden ma- teilen, die  – im Gegensatz zu den Makronährximal 500  ml Gemüsesäfte und zusätzlich stoffen wie Kohlenhydrate und Fette – dem KörKräutertees in kleinen Schlucken getrunken. per keine Energie liefern. Viele, wenn nicht die meisten Krebspatienten nehmen Präparate mit Gerson-Diät  Auch diese Diät erhebt den An- Vitaminen, Spurenelementen und anderen Mikrospruch, Krebserkrankungen zu heilen. Sie ist fett- nährstoffen ein, oft in hohen, den Tagesbedarf um frei, salzfrei und vegetarisch, aber angereichert ein Vielfaches überschreitenden Mengen. Vermit Schilddrüsenextrakten und Vitamin B12. Zu- treter der alternativen „orthomolekularen Medi-

13  Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs

zin“ propagieren die teils intravenöse Verabreichung hoher Dosen von Vitaminen und von Selen. Ein Überlebensvorteil durch hochdosiertes Vitamin C ließ sich in randomisierten Studien nicht nachweisen. Schädliche Wirkungen sind möglich: Die Einnahme von Vitamin A, E und von Beta-Carotin (allein oder in Kombination) führte in einer großen Untersuchung zu einer Erhöhung der Sterblichkeit (Abschn.  6.2.4). Zu Nutzen und Risiken von Nahrungsergänzungen auch Abschn. 13.5 und 13.6. Der Nutzen von Vitaminen und cc  Spurenelementen ist nur bei nachgewiesenem Mangel belegt. Selen  Das Spurenelement Selen ist ein essenzieller Nahrungsbestandteil und u.  a. in Getreide, Hülsenfrüchten, Fleisch und Fisch enthalten. Eine präventive Wirkung auf die Entstehung von Tumoren konnte in großen, methodisch fundierten Studien nicht nachgewiesen werden. Auch für die Behandlung von bestehenden Tumoren oder die Prävention von Rezidiven besteht keine wissenschaftlich nachgewiesene Wirkung. Die Linderung von radio- oder chemotherapiebedingten Nebenwirkungen ist nur bei vorbestehendem Selenmangel belegt: Bei Patientinnen, die wegen gynäkologischen Tumoren bestrahlt wurden, traten unter Selensubstitution signifikant weniger Diarrhoen auf. Diese Patientinnen hatten allerdings bei Therapiebeginn einen Selenmangel mit erniedrigten Selenkonzentrationen im Blut. Die Verabreichung von Selen ist nur bei cc  nachgewiesenem Selenmangel von Nutzen. Überdosierung kann zu akuten oder chronischen Schäden führen. Symptome der chronischen Vergiftung (Selenose) sind Haarausfall, Nagelverdickung, Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Parästhesien und Lähmungserscheinungen. Um eine Selenose zu vermeiden, darf die tägliche Zufuhr 300 μg nicht überschreiten.

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13.4.6 Aromatherapie In der Aromatherapie werden Duftstoffe meist pflanzlicher Natur eingesetzt, wie sie bereits seit Jahrtausenden für therapeutische und rituelle Zwecke genutzt werden und auch in der Volksmedizin verwurzelt sind. Entsprechende Produkte (z.  B. das Menthol, Kampfer und Eukalyptus enthaltende „Wick Vaporub“) sind kommerziell erhältlich, ohne dass dabei von „Aromatherapie“ gesprochen würde. In der KAM werden Aromatherapien für zahlreiche Indikationen eingesetzt. Dabei wird in erster Linie der Geruchssinn angesprochen. Geruchsempfindungen können mit positiven Gefühlen (Wohlbefinden) verbunden sein, aber auch negative Reaktionen wie Übelkeit auslösen. Typische Anwendungen sind das Verdampfen der Duftstoffe in der Duft- oder Aromalampe, Massagen mit duftstoffenthaltenden Ölen, direktes Auftragen auf bestimmte Hautstellen, Zusatz zu Badewasser oder die Einnahme als Tee. Aromaöle können allergische Reaktionen auslösen. Das häufig angewandte Teebaumöl enthält lebertoxische Terpene und sollte nicht in hohen Konzentrationen über längere Zeit eingesetzt werden. Ein Vergleich der Wirkung einer Aromatherapiemassage mit einer gewöhnlichen Massage bei Krebspatienten zeigte, dass beide Behandlungen subjektiv das Wohlbefinden verbesserten. Es fand sich kein sicherer Zusatznutzen der Aromatherapie (Soden et  al. 2004). Zu Nutzen und Risiken der Aromatherapie auch Abschn. 13.5 und 13.6.

13.4.7 Akupunktur Akupunktur wird im Rahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) in China seit Jahrtausenden praktiziert. Danach zirkuliert die Lebensenergie (Qi) auf definierten Bahnen (Meridianen) im Körper und steuert seine Funktionen. Eine Störung des Energieflusses führt zu Er-

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krankungen. Durch Anregung der auf den Meridianen liegende Akupunkturpunkte sollen diese Störungen behoben und der Energiefluss wiederhergestellt werden. Akupunktur wird in der Onkologie zur Linderung von krankheits- oder therapiebedingten Symptomen eingesetzt (Übelkeit und Erbrechen, Fatigue, Schmerzen, Wallungen). Am besten belegt ist die Wirksamkeit der Akupunktur bei chemotherapieinduzierter Übelkeit und Erbrechen (als Ergänzung, nicht als Ersatz der medikamentösen antiemetischen Behandlung) (Garcia 2013). Auch Symptome einer chemotherapieinduzierten Neuropathie werden durch Akupunktur teils günstig beeinflusst, ebenso Gelenkschmerzen unter Aromatasehemmern (Bao 2020; Lu 2020). Für die Wirksamkeit bei anderen onkologischen Symptomen fehlen sichere Belege, insbesondere besteht für den Einsatz gegen direkt durch den Tumor bedingte Schmerzen keine sichere Evidenz. Zu Nutzen und Risiken der Akupunktur auch Abschn. 13.5 und 13.6.

13.4.8 Akupressur Im Gegensatz zur Akupunktur können Klienten und Angehörige Akupressur nach Anleitung selber durchführen. Es gibt Hinweise für den Nutzen der Methode als zusätzliche Maßnahme zur Reduktion von Übelkeit bei Chemo- und Radiotherapie, zur Senkung der tumorassoziierten Fatigue und – in Form einer Ohrakupressur – als zusätzliche Maßnahme bei Tumorschmerzen (Hübner 2021b).

13.4.9 Hyperthermie Lokale Hyperthermie (Überwärmung) des Gewebes auf 41–44 °C erhöht die Wirkung einer gleichzeitig durchgeführten Chemo- oder Radiotherapie. Dieser Effekt wird in der Schulmedizin unter bestimmten Bedingungen ausgenutzt. So kann lokale Hyperthermie beispielsweise eingesetzt werden bei der Chemotherapie von Weichteilsarkomen oder bei der Radiotherapie eines lokal rezidivierenden Mammakarzinoms.

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Diese Behandlungen sind technisch aufwendig, sie werden an einigen Universitätskliniken im Rahmen von klinischen Studien durchgeführt (Abschn. 10.3.1). Im Rahmen von komplementär- oder alternativmedizinischen Behandlungen (KAM) wird Hyperthermie von einigen niedergelassenen Ärzten und kleineren Kliniken angeboten. Dabei kommt meistens eine sog. Ganzkörperhyperthermie zum Einsatz. Die Erwärmung geschieht meist durch Infrarotlampen, evtl. kombiniert mit der Injektion von fiebererregenden Substanzen wie z.  B.  Mistelextrakten. Ein Nutzen dieser Form von Hyperthermie konnte nie belegt werden. Bei Patienten mit Herz-Kreislauf-­Problemen ist die Anwendung kontraindiziert. Zu Nutzen und Risiken der Hyperthermie auch Abschn. 13.5 und 13.6.

13.4.10 Therapien im Rahmen von Gesamtkonzepten Zu Gesamtkonzepten innerhalb der KAM gehören u.  a. die Homöopathie, die „anthroposophisch erweiterte Medizin“, die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), die Kneipp- oder die Hildegard-­Medizin. Sie alle sind in ein bestimmtes philosophisch oder historisch geprägtes Natur- und Menschenbild eingebettet und kombinieren mehrere therapeutische Ansätze, z. B. Empfehlungen zu Ernährung, zu Bewegung, zu medikamentösen, instrumentellen oder physikalischen Anwendungen. Einige dieser Ansätze wurden bereits erwähnt (Mistelextrakte als Bestandteil der anthroposophischen Medizin, Akupunktur als Instrument der TCM). Homöopathie Die Homöopathie (griech. homoios = gleich, ähnlich; pathos = Leiden) wurde durch den deutschen Arzt Samuel Hahnemann (1755–1843) begründet. Sie beruht auf zwei Annahmen: • Ähnlichkeitsprinzip: „Heile Ähnliches mit Ähnlichem“. Ein Arzneimittel wird so ausgewählt, dass seine Inhaltsstoffe unverdünnt

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an Gesunden ähnliche Symptome hervorrufen, wie sie der zu behandelnde Patient aufweist: Zwiebeln bringen Augen und Nasen zum Laufen  – deshalb könne Heuschnupfen mit Zwiebelextrakten behandelt werden. • Potenzierung: Die Grundsubstanzen werden wiederholt verdünnt (potenziert), meist bei jedem Schritt im Verhältnis 1:10 oder 1:100. Dazu werden sie mit Wasser oder Alkohol „verschüttelt“ oder mit Milchzucker verrieben. Verdünnungen waren ursprünglich wegen der hohen Giftigkeit einiger Grundsubstanzen erforderlich. Später wurde das Prinzip der „Hochpotenzen“ eingeführt. Bei diesen starken Verdünnungen sind keine Moleküle des Arzneimittels mehr in der Lösung vorhanden. Homöopathen, die solche Hochpotenzen anwenden, gehen davon aus, dass das Arzneimittel durch die Energiezufuhr beim Verschütteln oder Verreiben Information an das ­Lösungsmittel abgibt und dass diese immaterielle „Information“ die eigentliche Heilkraft darstellt. Für diese Annahme gibt es aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht weder experimentelle Belege noch eine plausible theoretische Begründung. Viele Homöopathen verwenden Verdünnungen (Potenzen) von 1:10.000 oder 1:1.000.000 (d. h. 1:104 oder 1:106, in der homöopathischen Nomenklatur D4 oder D6). Bei diesen Verdünnungen ist das Arzneimittel noch in messbarer und potenziell wirksamer Konzentration vorhanden. Die Anwendung von Hochpotenzen (über D23) ist kein zwingender Bestandteil der Homöopathie. Die klinischen Effekte homöopathischer cc  Behandlungen entsprechen einem Place­ boeffekt (Shang 2005). Zu Nutzen und Risiken von Homöopathie auch Abschn. 13.5 und 13.6. Anthroposophische Medizin Die anthroposophische oder anthroposophisch erweiterte Medizin wurde durch Rudolf Steiner (1861–1925), den Begründer der Anthroposophie,

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zusammen mit der Ärztin Ita Wegmann (1876– 1943) ab 1920 entwickelt. Sie verbindet nach eigener Darstellung die „naturwissenschaftlich-­ akademische“ Medizin mit der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Entsprechend der Bezeichnung „anthroposophisch erweiterte Medizin“ lehnen anthroposophische Ärzte die Schulmedizin nicht ab, sondern ergänzen sie durch eigene Methoden, auch solche der Homöopathie (s. oben). Die anthroposophische Medizin hat zahlreiche Einsichten und Entwicklungen vorweggenommen, die in der Schulmedizin erst später Einzug gehalten haben. Beispiele sind: • Bedeutung von psychosozialen und psychosomatischen Faktoren, • Bedeutung der begleitenden Pflege von Sterbenden, • Entwicklung von nichtmedikamentösen The­ ra­pieformen wie Kunsttherapie oder Gymnastik. Anderseits ist festzuhalten: • Die Wirksamkeit der Mistelpräparate auf das Tumorwachstum  – unabhängig davon, ob in homöopathischer oder in allopathischer Dosierung verabreicht  – ist nicht gesichert (Abschn. 13.4.3). • Generell konnte die Wirksamkeit von Medikamenten in homöopathischer, d.  h. stark verdünnter Dosierung nicht nachgewiesen werden (s. unten). • Viele Aspekte der anthroposophischen Medizin sind aus der Perspektive einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin nicht nachvollziehbar. Dazu gehören etwa die Zuordnungen von Planeten zu Metallen und Organen (z. B. Merkur – Quecksilber – Lunge) und die daraus abgeleiteten Behandlungen. Medikamente  Es werden Medikamente mineralischen, pflanzlichen und tierischen Ursprungs eingesetzt. Sie werden oft in potenzierter homöopathischer Form verabreicht, typischerweise als D-Potenzen. In der anthroposophischen Onkologie spielen Mistelpräparate (Abschn.  13.4.3) eine wichtige Rolle.

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Heilmittel  Nichtmedikamentöse Therapieformen (Heilmittel) sind wichtige Bestandteile der anthroposophischen Medizin. Dazu gehören u. a. Heil-Eurythmie, anthroposophische Psychotherapie, anthroposophische Kunsttherapien (Musiktherapie, Maltherapie, plastisch-­therapeutisches Gestalten), anthroposophische Körpertherapien (Gymnastik, rhythmische Massage, Öldispersionsbad u.  a.  m.), Ernährung mit Produkten aus „biologisch-dynamischer“ ­Landwirtschaft. Wichtige pflegerische Methoden sind äußere Anwendungen wie Wickel, Bäder und rhythmische Einreibungen. Dazu werden mineralische Substanzen (Quarz, Schwefel, Kupfer, Gold), pflanzliche Produkte (Kamille, Arnika, Schafgarbe u.  a.  m.) sowie tierische Produkte (z.  B. Quark und Honig) eingesetzt. Zu Nutzen und Risiken der anthroposophischen Medizin s. die folgenden Abschnitte.

13.5 Nutzen von KAM 13.5.1 Selbstwirksamkeit Vielen Tumorpatienten ist es wichtig, in der Therapie selbst aktiv zu werden. Zahlreiche Methoden der komplementären Medizin verlangen die aktive Mitarbeit der Patienten. Sie unterstützen so ihre Selbstwirksamkeit und fördern das „Patient Empowerment“ (Hübner 2021a).

13.5.2 Placeboeffekt Als Placebo oder Scheinmedikament wird ein „Medikament“ bezeichnet, das keine pharmakologisch wirksamen Substanzen enthält. Placeboeffekte sind positive Veränderungen des Gesundheitszustandes, die durch eine Behandlung mit Placebo hervorgerufen werden. Die Wirkung von Placebos wird mit psychosozialen Mechanismen erklärt. Die Wirkung einer Behandlung von subjektiv empfundenen Symptomen wie Schmerz, Übelkeit, Fatigue etc. beruht – unabhängig von ihrer

Ursache  – teilweise auf einem Placeboeffekt, egal ob es sich um eine schulmedizinische, komplementär- oder alternativmedizinische Behandlung handelt. Dies im Gegensatz zu objektivierbaren, messbaren Symptomen wie Gewichtsverlust, Anämie oder Tumorgröße. Diese können durch Placebos nicht beeinflusst werden. Beispiel

Eine große, methodisch gut angelegte Studie untersuchte die Wirkung von zwei Cannabispräparaten und einem Placebo auf Appetit- und Gewichtverlust bei Krebspatienten mit Anorexie-Kachexie-Syndrom (Abschn.  15.4.4). Der Appetit – ein subjektiv empfundenes Symptom  – verbesserte sich in gleichem Ausmaß unter den Cannabispräparaten wie unter Placebo (Strasser et al. 2006). Dies bedeutet, dass die Cannabiswirkung einem reinen Placeboeffekt entsprach. Das messbare Körpergewicht verbesserte sich weder unter Cannabis noch unter Placebo  – bei messbaren Eigenschaften zeigen Placebos keine Wirkung. ◄ Das Ausmaß des Placeboeffekts wird durch verschiedene Faktoren bestimmt: • Je wahrnehmbarer (durch Farbe, Geschmack, Geräusch etc.) ein Medikament oder eine Prozedur verabreicht wird, desto bedeutender ist der Placeboeffekt. • Informationen zur Behandlung und die Art ihrer Vermittlung beeinflussen das Ausmaß des Placeboeffekts. • Eine entscheidende Rolle spielt die Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient: Je empathischer und vertrauensvoller diese Beziehung ist, desto wirksamer ist die Behandlung. • Viele Patienten haben eigene Vorstellungen von der Entstehung ihrer Krebserkrankung (sog. subjektive Krankheitstheorien). Die Wirksamkeit einer Therapie ist besonders hoch, wenn ihr Wirkmechanismus, z.  B. „Unterstützung der Abwehrkräfte“, gut mit der Krankheitstheorie des Kranken übereinstimmt – z. B. Versagen der Abwehr.

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Der Nutzen des Placeboeffekts ist bei der cc  Anwendung von komplementär- oder alternativmedizinischen Methoden wie auch von Methoden der Schulmedizin nicht zu unterschätzen.

Lebensqualität. Ob die Linderung der Symptome auf einer pharmakologischen Wirkung, auf einem Placeboeffekt oder auf einer spontanen Rückbildung beruht, ist im Einzelfall meist nicht zu entscheiden, ist für den Patienten allerdings auch ohne Bedeutung.

13.5.3 Tumorrückbildung und Lebensverlängerung

cc Einzelne komplementärmedizinische Verfahren können bestimmte Symptome und damit die Lebensqualität der Patienten günstig beeinflussen.

In der konventionellen Onkologie sind Ziele und Erfolg einer Behandlung nach objektivierbaren Kriterien definiert: Die Verlängerung der Überlebenszeit, das Erreichen einer vollständigen oder teilweisen Tumorrückbildung (Remission), die Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung sind international definierte Kriterien (Abschn.  8.5). Die Diskussion um den Nutzen von Methoden der KAM ist dadurch erschwert, dass häufig weder die Ziele noch die Erfolgskriterien klar definiert sind, oft wird nur allgemein von „günstigen Resultaten“, „guten Erfahrungen“ oder „Erfolgen“ gesprochen. Keine Methode der KAM führt zu einer cc  objektivierbaren Tumorrückbildung oder einer Lebensverlängerung (Leitlinienpro­ gramm Onkologie 2021).

13.5.4 Lebensqualität Lebensqualität ist auch in der Schulmedizin nicht einheitlich definiert. Sie hat eine ausschließlich subjektive Dimension und wird wohl am besten beschrieben durch die Antwort des Patienten auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“. Sie ist schwierig zu messen; es gibt deshalb nur wenige Studien, die den Einfluss verschiedener Therapien auf sie mit adäquater Methodik untersucht haben. Lebensqualität wird in individuell unterschiedlicher Ausprägung durch zahlreiche Faktoren beeinflusst, sowohl psychischer (z. B. Angst, Hoffnungslosigkeit) wie körperlicher Natur (z. B. Übelkeit, Gelenkschmerzen, Fatigue). Die Linderung solcher Symptome im Verlauf einer komplementär-, alternativoder schulmedizinischen Behandlung verbessert auch die

13.5.5 Beispiel einer Nutzenbewer­ tung von KAM Die S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ (Leitlinienprogramm Onkologie 2021) versucht, den Nutzen verschiedener Methoden der KAM zu bewerten. Grundlage der Bewertungen ist die Beurteilung der Wirksamkeit nach den Methoden der evidenzbasierten Medizin. Dies ist bei den Anwendungen der KAM schwierig, da meist nur wenig wissenschaftliche Daten und nur selten Daten hoher Evidenzstufen vorliegen (Hübner 2021a). Tab. 13.3 zeigt einige Empfehlungen dieser Leitlinie. Unter allen komplementären Methoden cc  spricht die Leitlinie nur für „Bewegung und Sport“ eine starke Empfehlung aus (Kap. 23). Hintergrundinformation Die Erstellung der Leitlinie war von intensiven Diskussionen um die Bewertung der Evidenz und damit um die Formulierung der Empfehlungen gekennzeichnet. Zwischen der Arbeitsgruppe, die „Medizinische Systeme“ bearbeitete, und den Arbeitsgruppen, die sich mit substanzgebundenen Methoden (Vitamine, Spurenelemente, andere Nahrungsergänzungsmittel, pflanzliche Medika­ mente) beschäftigten, gab es zwei grundsätzlich unterschiedliche Haltungen und damit unterschiedliche Entscheidungen zum Empfehlungsgrad. • I n der Arbeitsgruppe „Medizinische Systeme“ wurde zu Methoden wie Akupunktur und Akupressur, die im Vergleich zu Placebo oder Standard Care nicht besser abschnitten, oft ein Empfehlungsgrad 0 (kann) ausgesprochen. Dies mit der Begründung, dass sie nicht schaden würden, wobei Schaden etwa durch Investition von Geld und Zeit nicht berücksichtigt wurde.

0 B–

0

0

A – 0

– 0

0

A–

0

0

Positive Empfehlungen: A Starke Empfehlung: „Methode soll empfohlen werden“ B Empfehlung: „Methode sollte empfohlen werden“ 0 Empfehlung offen: „Methode kann empfohlen werden“ Negative Empfehlungen: A– Starke negative Empfehlung: „Methode soll nicht empfohlen werden“ B– Negative Empfehlung: „Methode sollte nicht empfohlen werden“ O– Negative Empfehlung offen: „Methode kann nicht empfohlen werden“ – Keine ausreichenden Daten für Empfehlung 1 bei Übelkeit und Erbrechen während Radiotherapie: Empfehlung 0–

Meditation Yoga Entspannung Bewegung und Sport Schwedische Massage Mindfulness-based Stress Reduction Akupunktur Akupressur Mistel Ketogene Diät Ingwer Ginseng Carnitin Vitamin E B 0



0 0

01 0



0 0

A – 0

B

B– A–

Übelkeit/Erbrechen bei ChemoChemotherapieinduzierte Schlaf Hitzewallungen Schmerz oder Radiotherapie Fatigue periphere Neuropathie

Angst-/ Lebensqualität Stressreduktion 0 0 0 0

Tab. 13.3  Empfehlungen der S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“. (Nach Leitlinienprogramm Onkologie 2021)

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13  Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs • B  ei den substanzgebundenen Verfahren, z. B. der Behandlung mit Mistelpräparaten, wurde dagegen bei fehlendem Nachweis einer Verbesserung ein Empfehlungsgrad B „Sollte nicht“ ausgesprochen oder auf die Formulierung einer Empfehlung verzichtet. Diese strengere Beurteilung erfolgte wegen möglicher Risiken der Verfahren, etwa durch Interaktionen mit anderen Medikamenten oder durch eigenständige Nebenwirkungen (Hübner 2021a).

13.6 Risiken von KAM Die Anwendung von KAM erfolgt häufig in der Meinung, wenn die Methode schon nichts nütze, so könne sie doch auch nicht schaden. Dies trifft allerdings nicht zu: Auch die Anwendung von KAM kann mit Risiken verbunden sein.

13.6.1 Versäumnisse durch die Anwendung von Alternativmedizin Das größte Risiko geht von Anbietern aus, die ihr Vorgehen als einzig richtige „Alternative“ bezeichnen und die vor der Anwendung von Verfahren der Schulmedizin warnen: Sie seien schädlich für die Gesundheit und würden zudem die Wirkung der alternativen Methode beeinträchtigen oder verhindern. Es besteht dann die Gefahr, dass eine potenziell wirksame schulmedizinische Behandlung versäumt wird. Dies ist besonders tragisch, wenn eine potenziell kura-

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tive schulmedizinische Methode zur Verfügung steht und so eine Heilungschance verpasst wird.

13.6.2 Nebenwirkungen und Interaktionen Unerwünschte Wirkungen unter KAM werden im Vergleich zu konventionellen onkologischen Therapien selten beschrieben. Dabei ist allerdings zu beachten: • Anbieter von alternativen und komplementären Methoden bezeichnen ihre Methoden gerne als nebenwirkungsfrei. Sie haben deshalb kein Interesse daran, unerwünschte Wirkungen als solche zu benennen. Sie interpretieren und bezeichnen sie deshalb oft als Symptome des Tumors. • Häufig hängt es von der Position des Anwenders und des Patienten ab, wie Auswirkungen einer Behandlung gedeutet werden: Fieber oder Schüttelfrost können vom alternativen Therapeuten als willkommenes Zeichen des erwünschten Tumorzerfalls oder der erfolgreichen „Abwehr“ interpretiert werden. Es wird nicht in Betracht gezogen, dass es sich um eine allergische Reaktion gegen ein Medikament oder eine andere, evtl. gefährliche Nebenwirkung handeln könnte. Eine Auswahl von teils gefährlichen Nebenwirkungen zeigt Tab. 13.4.

Tab. 13.4  Unerwünschte Wirkungen alternativer Methoden. (Auswahl) KAM Diäten

Medikamente Pflanzenextrakte Gesamtkonzepte Vitamine und Spurenelemente

Krebskur total nach Breuß Gerson-Diät Laetrile (Vitamin B17) Germanium Johanniskraut, Cannabis, Gingko, Echinacea u. a. m. Neue germanische Medizin von Hamer Vitamin C, hochdosiert und wiederholt verabreicht Selen, hochdosiert und wiederholt verabreicht

Nebenwirkung Protein-Energie-Mangelernährung Elektrolytstörungen durch Kaffeeeinläufe mit Todesfolge Zyanidvergiftung, z. T. mit Todesfolge Nierenversagen, z. T. mit Todesfolge Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten Versäumnis von adäquater konventioneller Therapie Nierensteine (bei eingeschränkter Nierenfunktion) Haarausfall, Erbrechen, Müdigkeit, Parästhesien, Lähmungen

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cc Zu warnen ist besonders vor dem Kauf von „Heilmitteln“ über das Internet. Vor allem aus Asien importierte „Heilkräuter“ enthalten oft undeklarierte Substanzen wie Kortison, andere Hormone oder nichtsteroidale Analgetika  – sie sind damit wirksam, aber auch gefährlich. Ein besonderes Problem stellen Wechselwirkungen (Interaktionen) mit schulmedizinischen Therapien dar: Viele Produkte der KAM wie z. B. Extrakte aus Johanniskraut, Gingko, Echinacea u.  a.  m. beeinflussen den Abbau von ­Zytostatika und anderen Medikamenten – oft mit klinisch bedeutsamen Konsequenzen. Viele Tumorpatienten nehmen wegen einer depressiven Verstimmung Johanniskrautpräparate ein. Johanniskraut beschleunigt den Abbau von Irinotecan (einem Zytostatikum) und von Marcoumar („Blutverdünner“). Dies führt dazu, dass bei gleichzeitiger Einnahme von Johanniskraut die Wirkung dieser Medikamente reduziert wird: Bei Irinotecan wird die tumorhemmende Wirkung verringert; bei Marcoumar kann dies zu Thrombosen oder Embolien führen.

Vor der Einleitung einer alternativ- oder cc  komplementärmedizinischen Methode sollte geklärt werden, ob die Kosten von der Krankenversicherung übernommen werden.

13.7 Häufigkeit der Inanspruchnahme von Methoden der KAM In Deutschland wenden Befragungen zufolge bis zu zwei Drittel aller Krebspatienten zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Erkrankung Verfahren der KAM an, am häufigsten Mistel- oder andere pflanzliche Präparate, Vitamine und Spurenelemente. Jüngere Patienten und Frauen scheinen häufiger unkonventionelle Verfahren anzuwenden. Entgegen den Erwartungen nutzen Patienten in fortgeschrittenem Krankheitsstadium oder mit ungünstiger Prognose KAM nicht häufiger als Patienten in frühen Stadien und mit günstiger Prognose.

Wegen der Möglichkeit gefährlicher cc  Wechselwirkungen (Interaktionen) muss der behandelnde Arzt über den Einsatz aller alternativ- und komplementärmedizinischen Produkte informiert werden.

13.8 Beweggründe von Patienten für die Anwendung von KAM

13.6.3 Kosten-, Zeit- und Energieaufwand

„Individuelle, persönliche, ganzheitliche Behandlung“  Die schulmedizinische Behandlung wird oft als unpersönlich und krankheitszentriert empfunden. Anbieter von komplementär- und alternativmedizinischen Methoden erheben meist eine sorgfältige, ausführliche Anamnese und erfahren dadurch viel über die Person des Patienten und sein Umfeld. Sie können so oft besser auf den Patienten eingehen und richten die Aufmerksamkeit nicht nur auf seine Krankheit, sondern auf seine Person, seine Nöte und Ängste.

Die Suche nach KAM und ihre Anwendung bedeutet oft einen erheblichen Aufwand an Geld, Zeit und Energie. Viele Patienten empfinden dies nur als Belastung, andere dagegen sehen den Aufwand als entlastendes „Opfer“, das sie für ihre Gesundung gerne erbringen wollen. Auch Kosten können die Patienten und ihre Angehörigen stark belasten.

Von den Patienten selbst werden v.  a. folgende Motive, Methoden der KAM zu nutzen, angeführt:

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„Selbst etwas für die Gesundung tun“  Methoden der KAM entsprechen oft dem verständlichen Bedürfnis des Patienten, selbst etwas zu seiner Gesundheit bzw. Genesung beizutragen. Dies kann z. B. durch die Zubereitung einer komplizierten Diät geschehen oder durch die Selbstapplikation von Injektionen im Rahmen einer Misteltherapie. Patienten erleben dies auch als Minderung ihrer Hilflosigkeit gegenüber der Erkrankung. „Die Abwehr stärken“  Sowohl Radiotherapien wie Behandlungen mit klassischen Zytostatika oder Kortikosteroiden schwächen vorübergehend die Immunabwehr. Der Wunsch nach „Stärkung der Abwehr“ entstammt aber nicht nur dem Bedürfnis, diese therapiebedingten Folgen auszugleichen. Viele Patienten betrachten das ­„Versagen der Abwehr“ als Grund für ihre Krebserkrankung. Sie glauben deshalb, die Erkrankung können nur durch Stärkung der eigenen „Abwehrkräfte“ überwunden werden. Es gibt allerdings keine Belege dafür, dass durch komplementär- oder alternativmedizinische Methoden das Immunsystem gestärkt und dadurch der Verlauf einer Tumortherapie günstig beeinflusst werden kann. „Behandlung mit natürlichen Mitteln“  Wie bereits in Abschn. 13.4.3 beschrieben, betrachten viele Patienten die „chemischen Substanzen“ und „Strahlen“ der Schulmedizin als unheimlich und suchen deshalb zusätzlich oder alternativ Unterstützung durch „natürliche“ Heilmittel. „Angst vor Rückfall“  Der Abschluss der Erstbehandlung wird von sehr vielen Patienten als schwierig empfunden. Einerseits sind sie erleichtert, dass die wochen- oder monatelange belastende Therapie abgeschlossen wird. Gleichzeitig fühlen sie sich durch den Wegfall der Behandlung und die damit verbundene engmaschige ärztliche Kontrolle verunsichert und der Gefahr eines möglichen Rückfalls schutzlos ausgeliefert. Dies ist der Moment, in dem Patienten häufig zu komplementärmedizinischen Methoden greifen, die einen „Schutz vor Rezidiven“ verheißen.

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„Kann nicht schaden“  Ein häufiges Motiv für den Einsatz von KAM ist die Meinung, wenn die Methode vielleicht nicht sicher nütze, so könne sie zumindest nicht schaden. Dies trifft leider nicht immer zu (Abschn. 13.6.2). „Nichts unversucht lassen“  Besonders Patienten ohne Aussicht auf Heilung äußern gelegentlich den Wunsch, „nichts unversucht zu lassen“. Dies kann dazu führen, dass sie sich Methoden der KAM zuwenden, die auch in unheilbaren Situationen Heilung versprechen, dieses Versprechen aber nicht halten können. Druck der Umgebung  Viele Angehörige, Freunde und Bekannte geben Hinweise, welche Methoden die Patienten neben oder anstelle der Schulmedizin anwenden könnten oder sollten. Sie haben im Internet recherchiert oder berichten von guten Erfahrungen, die sie selbst mit dieser Methode gemacht oder von denen sie gehört hätten. Diese teils recht eindringlich vorgebrachten Ratschläge setzen die Patienten oft unter erheblichen Druck. Sie müssen befürchten, dass ein schlechter Ausgang dann dem Nichtbefolgen der Ratschläge zugeschrieben wird, vor allem, wenn diese von Personen stammen, von denen die Patienten in irgendeiner Weise abhängig sind. Einfluss der Medien  Bei der Verbreitung von KAM spielt heute das Internet eine zentrale Rolle. Patienten und Angehörige suchen hier Informationen zu ihrer Krankheit und zu möglichen Behandlungen. Dabei ist es für Laien unmöglich, im Internet zwischen seriösen und unseriösen Anbietern zu unterscheiden. Schwächen der Schulmedizin  Unzufriedenheit mit ihrer schulmedizinischen Behandlung oder fehlendes Vertrauen wird von den Patienten nur selten als Grund für den Einsatz von KAM genannt. Trotzdem tragen einige Defizite der heutigen Schulmedizin zur Popularität von KAM bei: • Apparative Untersuchungen haben ein zu großes Gewicht, dafür werden die sorgfältige Er-

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hebung der Anamnese, die körperliche Untersuchung und das persönliche Gespräch oft vernachlässigt. • Die psychosozialen Bedürfnisse der Patienten werden oft nur ungenügend berücksichtigt. • Nebenwirkungsreiche Therapien werden auch bei minimaler Erfolgsaussicht eingesetzt. • Der Einsatz zahlreicher Spezialisten führt für den Patienten zum Verlust der ärztlichen Bezugsperson.

vom Klienten oder von Angehörigen oder Freunden? Steht eine subjektive Krankheitstheorie dahinter? • In einem nächsten Schritt werden – entsprechend dem Wissensstand der Ergotherapeuten – die gewünschten Informationen vermittelt und Möglichkeiten des weiteren Vorgehens besprochen.

cc Diese Schwächen und Probleme der heutigen Praxis der Schulmedizin erklären teilweise die Attraktivität von KAM für Patienten und Angehörige.

Je nachdem, wie sie geführt werden, können diese Gespräche von den Klienten als mehr oder weniger hilfreich wahrgenommen werden (Horneber et al. 2010).

13.9 Ergotherapeuten und KAM Viele Klienten sprechen während der Behandlung über Methoden der KAM und fragen den Ergotherapeuten nach seiner Meinung und den Erfahrungen, die er bei anderen Klienten sammeln konnte. In Anbetracht der vielen Unsicherheiten werden diese Fragen oft als Herausforderung empfunden. Das Thema ist für viele Klienten aber wichtig, und oft steckt hinter der Frage des Klienten „Was kann ich denn sonst noch tun?“ der Wunsch nach Förderung der eigenen Gesundheit und persönlichem Austausch mit Fachpersonal.

Information und Beratung zu Fragen der KAM

• Klienten, die das Thema KAM ansprechen, wünschen sich, dass ihre Fragen dazu so ernst genommen werden wie diejenigen zu schulmedizinischen Therapien. • In einem ersten Schritt geht es darum zu erfahren, weshalb der Klient das Thema anspricht. Sind es Ängste vor einer bevorstehenden neuen Therapie, die im Gespräch angesprochen werden können? Kommt die Motivation für KAM

Als hilfreich werden empfunden: • Unterstützung bei der Suche nach verlässlichen Informationen, • sachliche Beschreibung des KAM-­Verfahrens, seines Nutzens und seiner Sicherheit, • eine abschließende persönliche und wertende Stellungnahme, die die Situation des Klienten einbezieht. Als wenig hilfreich werden empfunden: • alleinige Betonung der Unwissenschaftlichkeit und der fehlenden Wirksamkeit der KAM, • Gleichgültigkeit gegenüber den Anliegen des Klienten, • das Zeigen einer grundsätzlich ablehnenden Haltung. Vermitteln von Informationen Gerade zu Methoden der KAM werden Klienten und Angehörige mit widersprüchlichen und irreführenden Informationen überschwemmt. Es ist eine wichtige Aufgabe der Ergotherapeuten, hier Hilfe zu leisten, indem sie unvoreingenommen und sachlich informieren. In Anbetracht des unübersichtlichen Angebots ist es Ergotherapeuten wie Pflegenden und Ärzten unmöglich, über genügend Kenntnisse zu allen Methoden der KAM zu verfügen. Man wird sich deshalb oft darauf beschränken, den Klienten den Zugang zu sicheren Informationen zu eröffnen. Dies kann über

13  Komplementär- und Alternativmedizin bei Krebs

die Vermittlung einer Internetadresse oder durch Broschüren und Merkblätter geschehen (Beispiele am Ende des Kapitels, Internetadressen und Broschüren). Immer sollte aber dem Klienten die Möglichkeit gegeben werden, aus anderen Quellen erhaltene Informationen im persönlichen Gespräch zu diskutieren. Stellungnahme zu Methoden der KAM Klienten erwarten neben den sachlichen Informationen schließlich auch eine Stellungnahme oder einen Rat: Sollen sie die Methode anwenden? Warum nicht? Ergotherapeuten wie Ärzte dürfen Methoden der KAM auch kritisch bewerten. Mit einer sachlich und gut begründeten negativen Bewertung vermitteln sie dem Klienten ihre Integrität und ihre Kompetenz. Die Beziehung zum Klienten wird dadurch eher gestärkt als gefährdet (Horneber et al. 2010). Der Klient wird in der Regel mehrere Personen im Behandlungsteam – Ärzte wie auch Ergotherapeuten – um ihre Stellungnahme bitten. Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, dass dabei alle die gleiche Meinung vertreten. Wichtig ist vielmehr, dass jeder – wie immer er die Methode wertet –, dies klar als persönliche Meinung deklariert und dem Klienten hilft, im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung die für ihn richtige Entscheidung zu treffen. Das Team sollte über den Inhalt des Gesprächs informiert werden. Anwendung von Methoden der KAM durch Ergotherapeuten Ergotherapeuten können  – falls der Klient das wünscht und sie die nötigen Kompetenzen besitzen  – bestimmte komplementäre Methoden, z. B. Aromatherapien, Wickel oder Einreibungen anwenden. Der verantwortliche Arzt muss informiert und einverstanden sein.

Literatur Zitierte Literatur Bao T (2020) Effect of acupuncture vs sham procedure on chemotherapy-induced peripheral neuropathy symp-

155 toms. JAMA Netw Open 3(3):e200681. https://doi. org/10.1001/jamanetworkopen.2020.0681 Ernst E (2005a) Praxis Naturheilverfahren: Evidenzbasierte Komplementärmedizin. Springer, Berlin/Heidelberg Fallon MT et al (2017) Sativex oromucosal spray as adjunctive therapy in advanced cancer patients with chronic pain unalleviated by optimized opioid therapy. Br J Pain 11:119 Garcia MK (2013) Systematic review of acupuncture in cancer care: a synthesis of the evidence. J Clin Oncol 31:952 Horneber M et  al (2010) Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie. In: Hiddemann W, Bartram C (Hrsg) Die Onkologie. Springer, Berlin/Heidelberg Hübner J (2021a) Zentrale Empfehlungen und Statements der S3-Leitlinie zur komplementären Medizin für Patient*innen mit onkologischen Erkrankungen – Teil 1 Onkologe 27:795. https://doi.org/10.1007/s00761-­ 021-­00989-­6 Hübner J (2021b) Zentrale Empfehlungen und Statements der S3-Leitlinie zur komplementären Medizin für Patient*innen mit onkologischen Erkrankungen – Teil 2 Onkologe 27:917. https://doi.org/10.1007/s00761-­ 021-­00990-­z Hübner J et al (2017) Komplementäre Onkologie. Onkologe 23:167 Leitlinienprogramm Onkologie (2021) (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF) S3-­ Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen  – Langversion 1.0. https://www.leitlinienprogramm-­onkologie.de/leitlinien/komplementaermedizin/. Zugriff 28.06.2023 Lu W (2020) Acupuncture for chemotherapy-induced peripheral neuropathy in breast cancer survivors: a randomized controlled pilot trial. Oncologist 25:310 Martz G (1997) Unbewiesene Methoden in der Tumortherapie. In: Margulies A et  al. (Hrsg) Onkologische Krankenpflege, 2. Auflage. Springer Rostock M (2020) Die Misteltherapie in der Behandlung von Patienten mit einer Krebserkrankung. Bundesgesundheitsbl 63:535. https://doi.org/10.1007/s00103-­ 020-­03122-­x Shang A (2005) Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Lancet 366:726 Soden K et al (2004) A randomized controlled trial of aromatherapy massage in a hospice setting. Palliat Med 18:8792 Strasser F et al (2006) Comparison of orally administered cannabis extract and delta-9-­tetrahydrocannabinol in treating patients with cancer-related anorexia-­cachexia syndrome. J Clin Oncol 24:3394 Taha T (2019) Cannabis impacts tumor response rate to nivolumab in patients with advanced malignancies. Oncologist 24:549

T. Kroner

156

Weiterführende Literatur Bücher Ernst E (2005b) Praxis Naturheilverfahren: Evidenzbasierte Komplementärmedizin. Springer Nagel G, Nagel D, Bopp A (2008) Krebs – Was man für sich selber tun kann. Patientenkompetenz stärken, 2. Aufl. Herder, Freiburg Singh S, Ernst E (2013) Gesund ohne Pillen – was kann die Alternativmedizin? Hanser Verlag

Zeitschriftenartikel Doerfler W (2021) Nahrungsergänzung, Nadeln, Naturheilkunde. Evidenzbasierte Komplementärmedizin in der Onkologie. InFo Hämatologie + Onkologie 24:41 Eckert N (2020) Alternative Medizin: Keine Alternative bei Krebs. Dtsch Arztebl 117: A-498 Häuser W et al (2017) Cannabinoide in der Schmerz- und Palliativmedizin. Dtsch Arztebl. 114: 627

Internetadressen DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Ausführliche Informationen zu einzelnen komplementären und alternativen Therapie-

verfahren: https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/ guidelines, dort „Komplementäre und alternative Therapieverfahren“ anklicken Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums: Ausführliche Informationen zu Methoden der KAM: https://www.krebsinformationsdienst.de/ behandlung/unkonv-­methoden/index.php Psiram.com: „Wiki der irrationalen Überzeugungssysteme“ mit ausführlichen skeptischen Informationen zu Methoden der KAM: https://www.psiram.com/ ge/index.php/Unkonventionelle_Krebstherapien

Broschüren für Klienten und Angehörige Alternativ? Komplementär? Risiken und Nutzen unbewiesener Methoden bei Krebs. Krebsliga Schweiz. Download: https://shop.krebsliga.ch/broschueren-infomaterial/leben-mit-krebs/therapien Alternative und komplementäre Krebsmedizin. Krebsinformationsdienst, Deutsches Krebsforschungszentrum. Download: www.krebsinformationsdienst. de/wegweiser/iblatt/iblatt-­alternative-­krebsmedizin. pdf Sicher surfen zum Thema Krebs: So finden Sie gute Informationen im Internet. Krebsinformationsdienst, Deutsches Krebsforschungszentrum. Download: https:// www.krebsinformationsdienst.de/service/iblatt/iblatt-­ sichersurfen.pdf

Teil III Rehabilitation – eine multiprofessionelle Aufgabe

Rehabilitation in der Onkologie – Einleitung

14

Thomas Kroner

Rehabilitation ist Teamarbeit  – Ergotherapeuten sind Teil eines Teams. Die folgenden Kap. 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22 und 23 beschreiben je eine Disziplin, deren Vertreter neben und mit Ergotherapeuten an der Rehabilitation beteiligt sind. In diesem einleitenden Kapitel werden einige Prinzipien der Rehabilitation – mit Schwerpunkt auf der onkologischen Rehabilitation – geschildert. Die Strukturen, innerhalb denen Maßnahmen der Rehabilitation durchgeführt werden, sowie ihre gesetzlichen und versicherungsrechtlichen Grundlagen unterscheiden sich von Land zu Land. So ist etwa der in Deutschland wichtige Begriff der „Anschlussheilbehandlung“ im benachbarten deutschsprachigen Ausland unbekannt und unverständlich. Im Folgenden wird deshalb auf die Beschreibung von länderspezifischen Begriffen und Eigenheiten verzichtet. Die Wirksamkeit (Evidenz) der Rehabilitation ist durch zahlreiche Studien belegt, sowohl bezüglich einzelner Maßnahmen als auch als „Gesamtpaket“ (Strasser 2019).

Von den vielen publizierten Definitionen sei eine einzige erwähnt (Eberhard 2015):

14.1 Definition und Eigenschaften

14.2 Krankheitsbilder

Neben Prävention und Behandlung stellt Rehabilita­ tion die dritte Säule der Gesundheitsversorgung dar. T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected]

cc Definition  Rehabilitation ist ein gesundheitsund autonomieorientierter Prozess, welcher alle koordinierten Maßnahmen medizinischer, pädagogischer, sozialer und spiritueller Art umfasst, die es dem Kranken ermöglichen, krankheitsbedingte oder durch die Therapie bedingte Behinderungen oder Einschränkungen zu überwinden und wieder eine optimale physiologische, psychologische und soziale Funktionalität zu erlangen, in der Art, dass er sein Leben aus eigener Kraft in größtmöglicher Autonomie gestalten und seinen Platz in der Gesellschaft wieder einnehmen kann. Rehabilitation verhilft somit den Betroffenen zu größtmöglicher Unabhängigkeit bei alltäglichen Aktivitäten und ermöglicht ihnen die Teilnahme an Bildung, Arbeit und Erholung und die Übernahme von sinnvollen Aufgaben und Rollen im Leben.

Verschiedene Krankheitsbilder führen dazu, dass Patienten Rehabilitationsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Nach den Zahlen der Deutschen Rentenversicherung  – des größten Anbieters von Rehabilitationsleistungen in Deutschland  – wurden 2019 mehr als eine Million ambulante und statio-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_14

159

T. Kroner

160 45% 40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% Onkologie

Orthopädie

Psychisch 2000

Herz/Kreislauf 2019

Abb. 14.1  Die vier häufigsten Krankheitsbilder bei stationären und ambulanten Rehabilitationen in Deutschland, 2000 und 2019. (Nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung, Reha-Atlas 2020)

näre Rehabilitationen durchgeführt. Bei Männern und Frauen dominieren dabei orthopädische Krankheiten. Ihr Anteil hat sich in den letzten Jahren kaum verändert, dagegen haben die Rehabilitationen aufgrund von psychischen oder onkologischen Krankheiten deutlich zugenommen (Abb. 14.1). 2019 wurde in Deutschland jede sechste cc  medizinische Reha-Leistung (15,8  %) bei einer krebserkrankten Person erbracht.

14.3 Voraussetzungen Unabhängig vom Krankheitsbild sind vor einer Rehabilitationsmaßnahme folgende Fragen zu klären (Strasser 2019): Besteht Rehabilitationsbedarf?  Es ist nicht die Diagnose einer Krankheit oder eines Zustands, die die Indikation zu einer Rehabilitations-

maßnahme stellt. So bedeutet z. B. Zustand nach Brustentfernung wegen eines Karzinoms nicht automatisch auch Bedarf nach Rehabilitation. Voraussetzung für eine Rehabilitation ist eine individuelle Funktionseinschränkung in einem oder mehreren Bereichen (körperlich, emotional, psychosozial u. a.). Besteht Rehabilitationsfähigkeit?  Damit eine Rehabilitation möglich ist, muss der Rehabilitand zwei Bedingungen erfüllen: Er und sein Umfeld müssen die Motivation aufbringen, auf das Rehabilitationsziel hinzuarbeiten, und er muss körperlich und psychisch genügend belastbar sein, um die geplante Rehabilitation durchführen zu können. Wie ist die Rehabilitationsprognose?  Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist dann festzulegen, ob die gemeinsam festgelegten Rehabilitationsziele (Abschn. 14.4) erreicht werden können.

14  Rehabilitation in der Onkologie – Einleitung

14.4 Ziele Die Vereinbarung konkreter Ziele ist von größter Bedeutung für das Gelingen einer Rehabilitation. Abhängig von der individuellen Situation des Rehabilitanden beziehen sich die Ziele auf ein oder mehrere Bereiche. Immer sollten die Ziele SMART sein, d.  h. „specific“ (spezifisch), „measurable“ (messbar), „attainable“ (erreichbar), „realistic“ (realistisch) und „timed“ (zeitlich festgelegt). Also nicht z. B. „Ich will gesünder leben“, sondern „Ich nehme in 8 Wochen 2 kg ab und behalte dieses Gewicht“. cc Konkrete, herausfordernde, aber erreichbare Ziele bringen in der Rehabilitation die besten Resultate.

161

Tab.  14.1 zeigt eine Auswahl möglicher Ziele für die onkologische Rehabilitation. Sie müssen individuell angepasst und konkretisiert werden. In einer Studie definierten 118 onkologische Klienten zu Beginn ihrer ambulanten Rehabilitation ihre Rehabilitationsziele (Schmid 2015). Die Klienten konnten ein oder mehrere Ziele angeben, durchschnittlich wurden pro Klient 6,7 Ziele genannt. Häufigste Ziele waren die Verbesserung der kardiopulmonalen Situation und der Kraft sowie die Reduktion der Müdigkeit1 (Abb.  14.2). Aufgrund dieser Ziele wurden dann gemeinsam mit der zuständigen Koordinatorin die einzelnen Module der Rehabilitation festgelegt.

Tab. 14.1  Ziele für die onkologische Rehabilitation (Auswahl). (Nach Bartsch 2009) Schwerpunkte Somatische Ziele

Funktionsbezogene Ziele

Ziele im psychischen Bereich

Ziele im sozialen Bereich

Edukative Ziele

Spezifische Behandlungsziele Verbesserte Leistungsfähigkeit Reduktion von Fatigue Aufbau und Kräftigung der Muskulatur Optimierung der Ernährung Selbständiges Stomamanagement Optimierung der prothetischen Versorgung Verminderung eines Lymphödems Autonomie in den ADL Verlängerung der Gehstrecke Verbesserung sportlicher Aktivitäten Verminderung von Schlafproblemen Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit Verbesserung von Kontinenz und Sexualfunktion Abbau von Ängsten Psychische Stabilisierung Verminderung von Schlafstörungen Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung Bearbeitung von Problemen im privaten Umfeld Teilhabe am geselligen/kulturellen Leben Berufliche Wiedereingliederung Kommunikation in Partnerschaft/Sexualität Kenntnisse über Krankheit und Therapien Strategien zur Stressbewältigung und Entspannung Strategien zur Bewältigung von Ängsten Kenntnisse zu gesunder Ernährung

Ähnliche Zahlen zeigte eine Studie an > 24.000 Brustkrebspatientinnen von 57 stationären Reha-Einrichtungen in Deutschland (Domann et al. 2006). 1 

T. Kroner

162 Besserung der Narbe

3%

Sturzprophylaxe

4%

Reduktion des Lymphödems

14%

Verbesserung der Koordination

15%

Reduktion von Ängsten/Depression

15%

Besserung der Neuropathie

29%

Besserer Schlaf

36%

Stärkung im Umgang mit der Krankheit

36%

Weniger Schmerz

38% 40%

Psychische Stabilität

45%

Bessere Beweglichkeit Verbesserung der Ernährungssituation

64%

Besseres Allgemeinbefinden

67% 81%

Reduktion der Müdigkeit

93%

Zunahme der Kraft Bessere kardiopulmonale Leistung

95%

Abb. 14.2  Individuelle Rehabilitationsziele von 118 Tumorpatienten. (Nach Schmid 2015)

14.5 Ablauf und Organisation Traditionell wird die Rehabilitation als zeitlich letztes Glied im Behandlungsablauf gesehen: Auf die Diagnostik folgt die Behandlung, zuletzt die Rehabilitation. Dieses Schema wird allerdings zunehmend durch ein neues Konzept ersetzt: Es hat sich gezeigt, dass der Einsatz von rehabilitativen Maßnahmen bereits vor der Therapie, eine sog. Prähabilitation, in vielen Situationen zu besseren Resultaten führt.

dem Eingriff zu erhalten. Dadurch werden postoperative Komplikationen wie Wundinfektionen und Wundheilungsstörungen reduziert und die Rekonvaleszenz verkürzt (Kabata et al. 2015). ◄ Immer mehr werden rehabilitative Maßnahmen auch während einer Therapie, z. B. einer Chemooder Radiotherapie, durchgeführt. Schematisch sind die beiden Konzepte in Abb. 14.3 dargestellt. Beispiel

Beispiel

Ernährungstherapie vor einer Tumoroperation ermöglicht Krebspatienten in zuvor gutem Ernährungszustand, diesen Zustand auch nach

Bewegungs- und Sporttherapie während einer Chemotherapie führt zu einer besseren Verträglichkeit der Tumorbehandlung (Abschn. 23.3.1). ◄

14  Rehabilitation in der Onkologie – Einleitung

163 Altes Modell

Diagnostik

Therapie

Rehabilitation

Neues Modell

Diagnostik Prähabilitation

Therapie Rehabilitation

Rehabilitation

Abb. 14.3  Altes und neues Modell der Rehabilitation

14.6 Ambulante und stationäre Rehabilitation Eine Rehabilitation kann sowohl stationär wie auch ambulant durchgeführt werden, womöglich aber immer als Glied einer definierten und koordinierten Behandlungskette. Vor allem in Deutschland ist die stationäre Rehabilitation in einer Reha-Klinik die Norm, dies hauptsächlich aus historischen Gründen. In den skandinavischen Ländern, Großbritannien und den Niederlanden wird die onkologische Rehabilitation hauptsächlich im Rahmen von ambulanten Programmen durchgeführt (Hellbom et  al. 2011). Auch in Deutschland sind in den letzten 20 Jahren vermehrt ambulante Rehabilitationen zu verzeichnen (Abb. 14.4). • Stationäre Rehabilitationen dauern in der Regel 3–4 Wochen. • Ambulante onkologische Rehabilitationsprogramme dauern 12–16 Wochen, in komplexen Fällen länger. Die Wahl der Rehabilitationsform im Einzelfall, ob stationär oder ambulant, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die für jeden Klienten individuell zu gewichten sind.

Stationäre Rehabilitation In der stationären Rehabilitation ist der wichtige interprofessionelle Austausch unkompliziert. Er findet neben den regelmäßigen Teamsitzungen auch in vielen informellen Begegnungen statt. Dadurch lassen sich die verschiedenen Therapien leicht koordinieren, und es ist relativ einfach, das Rehabilitationsprogramm an die individuellen Bedürfnisse eines Klienten anzupassen. Diese Koordination ist in einem ambulanten Programm mit größerem Aufwand verbunden. Andererseits ist die relativ kurze Dauer des stationären Aufenthalts ein gewichtiger Nachteil: Das ­Rehabilitationsziel der möglichst weitgehenden Teilhabe am Sozial- und ggf. Erwerbsleben ist in einem Zeitraum von 3–4 Wochen nicht zu erreichen. Die stationäre onkologische Rehabilitation wird deshalb heute in erster Linie als multiprofessionelle praktische und theoretische Schulungsmaßnahme betrachtet. Sie soll den Klienten befähigen, die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu Hause weiter umzusetzen, um sich dadurch weitgehend selbst helfen zu können (Rick 2018). Häufig besteht jedoch auch nach Abschluss der stationären Rehabilitation noch ein Bedarf an rehabilitativen Maßnahmen. Die Klinik muss diese „nachstationäre Versorgung“ durch ein Entlassungs- und Überleitungsmanagement sicherstellen (Bönisch und

T. Kroner

164 Ambulante und stationäre Rehabilitationen 2001 bis 2019 900000

850842

837864

826014

16%

15%

800000

14%

700000

12%

12%

600000

10%

500000

8%

400000 6%

300000 200000 100000

162275

122835

3%

4% 2%

30472

0%

0 2001

2010 ambulant

2019

stationär

ambulant %

Abb. 14.4  Ambulante und stationäre Reha-Leistungen für Erwachsene (Deutschland 2001–2019): Die Anzahl ambulanter Rehabilitationen nimmt absolut und prozentual zu. (Nach Daten der Deutschen Rentenversicherung 2020)

Ernst 2018). Die Wahl der Rehabilitationsform, ob stationär oder ambulant, hängt deshalb von verschiedenen Faktoren ab, die in jedem einzelnen Fall individuell zu gewichten sind. Indikationen für eine stationäre onkologische Rehabilitation sind z. B.:

Beispiel

In den Niederlanden ist die Zusammenarbeit von stationärer Akutbehandlung und ambulanter Rehabilitation gut organisiert. Ein Beispiel ist die Rehabilitation von Klienten mit Kopf-Hals-Tumoren, etwa bei Kehlkopfkrebs. Ein multidisziplinäres ambulantes Programm strukturiert die „Prähabilitation“ vor dem operativen Eingriff und während der Chemo- und/oder Radiotherapie sowie die länger dauernde Rehabilitation danach. Diese umfasst u.  a. Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Ernährungsberatung und psychosoziale Unterstützung. Organisation, Zusammensetzung des Teams, Verantwortlichkeiten der einzelnen Teammitglieder, auch viele Details wie etwa der standardisierte Ablauf der Teambesprechungen sind in einem interessanten Dokument festgehalten. Es steht in englischer und holländischer Sprache zum freien Download zur Verfügung.2 ◄

• schlechter Allgemeinzustand nach großen abdominalen oder thorakalen Eingriffen bzw. belastenden Chemo- und Strahlentherapien, • komplexe Wund-, Stoma-, Atem- oder Schluckprobleme, • anhaltende Erschöpfung bzw. Fatigue, • Fehlen eines tragenden familiären/sozialen Umfelds, • Fehlen eines geeigneten ambulanten Angebots in Wohnortnähe. Ambulante Rehabilitation In vielen europäischen Ländern ist die ambulante Rehabilitation die Norm. Auch länger dauernde Maßnahmen, etwa der Wiederaufbau der muskulären und kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit oder die Anpassung und Schulung von Prothesen, können so ohne Wechsel der Institution und des Behandlungsteams durchgeführt werden.

The Netherlands Cancer Institute (2016): Multidisciplinary Head and Neck Rehabilitation (HHR-HNR 2.0). Download unter https://www.avl.nl/FlippingBooks/HHRHNR%202.0/mobile/index.html. 2 

14  Rehabilitation in der Onkologie – Einleitung

165

14.7 Angebot und Team Angebot Die Maßnahmen der onkologischen Rehabilitation bestehen aus einem breitgefächerten Angebot verschiedener Module (Abb. 14.5). Diese werden als Einzeltherapien oder in Gruppen durchgeführt. Das Angebot wird durch Schulungen und Vorträge zu wichtigen Themen ergänzt.

cc Nicht alle Klienten schätzen Vorträge. Aufgabe des Teams ist es, dem Klienten zu vermitteln, dass diese Vorträge für ihn wichtig sind: Sie vermitteln ihm die nötigen Kenntnisse, sodass er sich nach der Rehabilitation zu Hause selbst zu helfen weiß. Das Team soll ihn dazu ermutigen, in den Vorträgen Fragen zu stellen, damit die Informationen für ihn in seiner konkreten Situation von persönlichem Nutzen sind.

Medizin Pflege

Komplementärmedizin Psychologie, Psychoonkologie

Seelsorge

Psychotherapie

Ernährungsberatung

Patientin oder Patient Bewegungsund Sporttherapie

Soziale Beratung und Unterstützung

Ergotherapie

Sexual beratung

Schmerztherapie

Gestaltungs-, Mal-, Musiktherapie

Logopädie, Schlucktherapie

Abb. 14.5  Maßnahmen der onkologischen Rehabilitation. (Krebsliga Schweiz 2018, in Anlehnung an N. Zerkiebel. Mit freundl. Genehmigung der Krebsliga Schweiz)

T. Kroner

166

Welche Angebote von einem Klienten schließlich genutzt werden, ist abhängig von seinen Zielen und vom Angebot der Institution, in der er rehabilitiert wird, teilweise auch vom Kostenträger. Es bestehen große Unterschiede zwischen den Angeboten der verschiedenen Institutionen und ihrer Nutzung durch die Klienten (Abb. 14.6).

Team Für die praktische Ausführung dieser Maßnahmen ist ein multiprofessionelles Team verantwortlich. Damit in einem Rehabilitationsteam mit möglichst großem Nutzen bei möglichst geringer Reibung gearbeitet werden kann, sind klare Regeln für die Zusammenarbeit nötig.

a Ergotherapie 2% Kunsttherapie 2% Sport 14%

Lymphtherapie 8%

Ernährung 3%

Entspannung 11%

Physiotherapie 15%

Massage 8%

Schulung / Information 22%

Psychologische Beratung 10%

Sozialberatung /Berufl. Integration 5%

b Seelsorge 1% Pflege 1% Komplemetärmedizin 15% Sport und Bewegung 29% Sozialberatung 7%

Psychoonkologie 11%

Physiotherapie 17% Abb. 14.6  Nutzung verschiedener Angebote. (a) Nutzung von Angeboten stationärer Reha-Einrichtungen in Deutschland (nach Zahlen von Domann et al. 2006). (b) Nutzung einer ambulanten Reha-Einrichtung in der Schweiz (nach Zahlen von Schmid 2015). Der Anteil der

Ernährungsberatung 19% Komplementärmedizin ist hier recht hoch, fast jeder zweite Klient nimmt eine unterstützende komplementärmedizinische Behandlung in Anspruch, die anthroposophische Misteltherapie steht dabei im Vordergrund

14  Rehabilitation in der Onkologie – Einleitung

167

• Die Verantwortlichkeiten und Kompetenzen sind für alle Teammitglieder klar festgelegt. Die Leitung und damit auch die letzte Verantwortung liegt in der Regel bei einem Facharzt für Rehabilitation oder Onkologie. • Der Informationsaustausch im Team ist strukturiert (wobei selbstverständlich Raum für den informellen Austausch bleibt). • Der Klient weiß, wer für ihn zuständig ist.

Strasser F (2019) Onkologische Rehabilitation integriert in die Behandlungspfade der modernen Onkologie. Therapeutische Umschau 76:449–459

cc Es ist normal, dass in einem Team Konflikte entstehen. Sie werden nur dann zum Problem, wenn sie nicht angesprochen und nicht gelöst werden.

Internetadressen

Literatur Zitierte Literatur

Weiterführende Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (Hrsg) (2018) Rehabilitation. Vom Antrag bis zur Nachsorge  – für Ärzte, Psychologische Psychotherapeuten und andere Gesundheitsberufe. Springer Reference Medizin. Springer, Berlin, Heidelberg

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Ernährung und Ernährungstherapie

15

Reinhard Imoberdorf, Peter E. Ballmer und Maya Rühlin

15.1 Einleitung Viele Krebspatienten haben Ernährungsprobleme. Dabei ist der Gewichtsverlust ein wichtiges Thema. Patienten mit Gewichtsverlust sprechen weniger gut auf die Behandlungen an, leiden unter mehr und schwereren Nebenwirkungen und haben eine schlechtere Lebensqualität. Die Ernährungstherapie hat deshalb in der multiprofessionellen Behandlung und Rehabilitation eine große Bedeutung.

15.2 Ernährung und Krebs Ernährung ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung von Krebs. Allerdings wurden bis heute, abgesehen von Übergewicht und hohem Alkoholkonsum, nur wenige Einzelfaktoren in der Ernährung mit Sicherheit identifiziert, die das Risiko für bestimmte Krebserkrankungen erR. Imoberdorf (*) Medizinische Klinik, Kantonsspital Winterthur, Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected] P. E. Ballmer Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected] M. Rühlin Departement Medizin, Kantonsspital Winterthur, Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected]

höhen. (Abschn.  5.4.2). Umgekehrt kann ein hoher Obst- und Gemüseverzehr als Schutzfaktor das Risiko der Erkrankung an einigen häufigen Tumoren senken (Abschn. 6.2.2). cc Im Gegensatz zur gesicherten Rolle der Ernährung für das Erkrankungsrisiko gibt es keine Evidenz, dass  – abgesehen von ausreichend hoher Nährstoffzufuhr bei bestehender oder drohender Mangelernährung – spezielle Ernährungsformen oder Diäten eine einmal entstandene Krebserkrankung günstig beeinflussen könnten. Die Ernährung wird für viele Krebspatienten wie auch für ihre Angehörigen zu einem wichtigen Thema. Appetit- und Gewichtsverlust verändern die körperliche Identität. „Der Tumor frisst mich auf“ oder „Mein Mann isst nicht mehr, obwohl ich ihm seine Lieblingsmenüs koche“ sind für Patienten und Angehörige sehr belastende Situationen. Häufig wird von Patienten eine besondere Diät gegen den Krebs versucht. Durch eine spezielle Ernährungsweise soll entweder der Organismus gestärkt oder der Tumor geschädigt und zerstört werden. Diese „Krebsdiäten“ werden in Abschn. 13.4.4 ausführlich diskutiert. Der unterernährte Krebspatient sollte zu einer abwechslungsreichen, ausgewogenen, bedarfsgerechten Ernährung angeregt werden. Dabei ist die Optimierung der Kalorien- und Eiweißzufuhr

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_15

169

R. Imoberdorf et al.

170

vorrangig  – die Prinzipien einer „gesunden Ernährung“ treten vorübergehend in den Hintergrund. Die „gesunde Ernährung“ beinhaltet einen hohen Gemüse- und Obstkonsum sowie Vollkornprodukte. Sie führt zu einem hohen Sättigungsgrad und damit zu einer bei Unterernährung zu geringen Zufuhr an Energie und/ oder Eiweiß. Krebspatienten und ihre Angehörigen sind cc  darüber aufzuklären, dass bei einer drohenden oder bestehenden Mangel- und Unterernährung eine bedarfsgerechte Energieund Eiweißzufuhr vorrangig ist. Diese hilft, den durch den Tumor bedingten Gewichtsverlust nicht zusätzlich zu verstärken und die Lebensqualität zu verbessern. Während der Chemo- oder Strahlentherapie besteht häufig Inappetenz und/oder Nausea, die oft schwer zu beeinflussen sind. Den Patienten in dieser Situation zum Essen zu zwingen ist weder machbar noch sinnvoll. Unterstützende Ernährungsmaßnahmen sollen, wie in Abschn.  15.7 und  15.8 beschrieben, versucht werden. Besonders wichtig ist es, die Ernährung der Patienten zwischen den Therapiezyklen und nach Abschluss der Behandlung zu optimieren.

15.3 Nährstoffe Makronährstoffe • Proteine (Eiweiße) werden hauptsächlich als Baustoffe benötigt. Patienten mit einer Mangelernährung haben verminderte Proteinreserven. • Lipide (Fette) dienen v. a. als Energieträger/ Speicherenergie und sind als energiedichteste Nährstoffe besonders wertvoll für Tumorpatienten. • Kohlenhydrate sind wichtige Energielieferanten für die Zellen. • Nahrungsfasern sind Kohlenhydrate, die im Magen-Darm-Trakt nicht abgebaut werden. Sie wurden früher auch als Ballaststoffe bezeichnet. Bei einer Krebserkrankung mit Inappetenz und Völlegefühl soll keine nahrungs-

faserbetonte Ernährung angestrebt werden. Bei Obstipation soll die Stuhlregulation durch Medikamente optimiert werden. Mikronährstoffe Unter Mikronährstoffen versteht man Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Häufig wird onkologischen Patienten eine vermehrte Zufuhr von Mikronährstoffen, insbesondere von Anti­ oxidanzien, empfohlen. Bis zu 70 % der Krebspatienten nehmen einzelne oder mehrere Mikronährstoffe (z.  B.  Vitamin  C, E, Folsäure, Zink, Selen) als Nahrungsergänzung zu sich. Die Einnahme dieser Substanzen ist aber nur in bestimmten Situationen indiziert: • Bei Vorliegen einer Mangelernährung ist der Einsatz eines üblichen Multimikronährstoffpräparats als Ergänzung zu einer umfassenden Ernährungstherapie sinnvoll. Diese Präparate sollen bis 100 % der täglichen Zufuhrempfehlungen für jeden Mikronährstoff enthalten. • Der nachgewiesene Mangel von einzelnen Mikronährstoffen (z.  B.  Vitamin D, Eisen, Folsäure, Selen) soll gezielt vom Arzt behandelt werden. • Bei Patienten ohne Mangelernährung oder ohne nachgewiesenen Mangel an einzelnen Mikronährstoffen ist eine zusätzliche Einnahme von Mikronährstoffen unnötig und unter Umständen gefährlich: Überdosierung von Selen, Zink und fettlöslichen Vitaminen kann schwerwiegende Folgen haben (Abschn. 13.4.5).

15.4 Krankheits- und therapiebedingte Ernährungsstörungen 15.4.1 Definitionen Mangelernährung  bezeichnet einen Ernährungszustand, bei dem ein Mangel oder ein Ungleichgewicht von E ­ nergie, Proteinen oder anderen Nährstoffen messbare schädliche Auswirkungen auf Gewebe- und Körperfunktionen haben und zu einer höheren Komplikationsrate führen kann (Imoberdorf et al. 2011).

15  Ernährung und Ernährungstherapie

Unterernährung  bedeutet verminderte Energie-/Proteinaufnahme bzw. vermehrten Verbrauch. Sie ist charakterisiert durch ungewollten Gewichtsverlust und Veränderungen der Körperzusammensetzung. Eine schwere Unterernährung ist definiert durch >10 % ungewollten Verlust des Körpergewichts innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten oder >5 % innerhalb eines Monats.

171 Tab. 15.1 Mögliche Ursachen der Mangelernährung. (Auswahl) Tumorleiden

Strahlen-/ Chemotherapie

Anorexie  ist der Verlust des Appetits bzw. des Verlangens nach Nahrung. Kachexie  beschreibt die Auszehrung bei schwer konsumierenden Krankheiten wie Krebs oder fortgeschrittenem Organversagen. Kachexie wird definiert als ungewollter Gewichtsverlust von >5  % des Körpergewichts innerhalb der letzten 6 Monate, begleitet von einem Katabolismus (abbauender Stoffwechsel), der auch durch eine erhöhte Nährstoffzufuhr kaum zu beeinflussen ist. Tumor-Anorexie-Kachexie-Syndrom  umschreibt eine Erscheinung mit Kachexie und komplexen Veränderungen des Kohlenhydrat-, Fett-, Protein- und Energiestoffwechsels (Abschn. 15.4.3).

15.4.2 Ursachen der Mangelernährung Etwa 30–70  % der Krebspatienten leiden unter ungewolltem Gewichtsverlust. Betroffen sind v.  a. Patienten mit Magen- und Pankreaskarzinom, während beispielsweise Mammakarzinome und Leukämien anfänglich seltener zu Gewichtsverlust führen. Verschiedene Ursachen der Mangelernährung sind in Tab.  15.1 aufgeführt.

15.4.3 Folgen der Mangelernährung Die durch den Gewichtsverlust bedingte Schwäche kann eine schwerere Belastung darstellen als die häufigen chronischen Schmerzen. Etwa 25 % aller Tumorpatienten sterben an solchen Folgen.

Postoperativ

Abneigung gegen Nahrungsmittel Schmerzen Systemische Entzündungsreaktion (Anorexie-­Kachexie-­Syndrom) Schleimhautschädigung (Mukositis) Mundtrockenheit (Xerostomie) Geschmacksstörung (Dysgeusie) Nausea, Erbrechen Obstipation, Durchfall Störung der Magenentleerung und andere Motilitätsstörungen

Folgen von Mangelernährung im Überblick

Zunahme von • Komplikationen, z. B. postoperative Infekte • Mortalität • Nebenwirkungen der Strahlen- und Chemotherapie • Krankenhausaufenthalten und Kosten • Depressionen • Müdigkeit, Schwäche • Pflegeaufwand und Pflegebedürftigkeit Abnahme von • Ansprechen auf die Tumortherapie • Leistungsfähigkeit, Kraft • Lebensqualität

15.4.4 Primäres Tumor-Anorexie-­ Kachexie-Syndrom Das primäre Tumor-Anorexie-Kachexie-­ Syndrom ist eine paraneoplastische Erscheinung (Abschn. 3.2) mit komplexen Veränderungen des Kohlenhydrat-, Fett-, Protein- und Energiestoffwechsels. Das Syndrom wird begleitet von folgenden Symptomen:

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• • • • • • •

Appetitmangel (Anorexie), frühes Sättigungsgefühl, Schwäche (Asthenie), Blutarmut (Anämie), gestörte Immunfunktion, Muskel- und Fettabbau, verminderte Lebensqualität durch Abnahme der physischen Kapazität.

das Anorexie-Kachexie-Syndrom beherrscht und eine Gewichtszunahme erreicht werden. Mögliche Maßnahmen zur symptomatischen Linderung werden in Abschn. 15.6.7 diskutiert.

15.5 Diagnose des Ernährungszustands

Das primäre Tumor-Anorexie-Kachexie-­Unter- und Fehlernährung bei Tumorpatienten sind Syndrom ist eine meist irreversible Stoffwechsel- ein häufiges Problem, das im klinischen Alltag zu wenig Beachtung findet. Es ist deshalb wichtig, störung. Die sekundäre Tumor-Anorexie und -Kache- dass Patienten mit manifester Unterernährung oder xie ist vom primären Tumor-Anorexie-Kachexie-­ mit einem Risiko dafür früh erkannt werden, damit ernährungstherapeutische InterSyndrom zu unterscheiden. Sie ist direkte Folge rechtzeitig ventionen eingeleitet werden können. Ein guter Ervon verminderter Nahrungsaufnahme, z.  B. bei Entzündung der Mundschleimhaut oder bei chro- nährungszustand ist eine wichtige Voraussetzung nischem, schwerem Durchfall. Die sekundäre für die erfolgreiche Durchführung von ChemoTumorkachexie ist in der Regel reversibel, wenn und Radiotherapien wie auch für eine erfolgreiche die Ursache (z. B. eine schwere Entzündung der Rehabilitation. Patienten mit einem schlechten Ernährungszustand haben während der Therapie eine Mundschleimhaut) behoben wird. Im Folgenden wird auf das primäre Tumor-­ deutlich höhere Komplikations- und Sterberate und Anorexie-­Kachexie-Syndrom näher eingegangen. später geringere Chancen, ihre Rehabilitationsziele zu erreichen. Die systematische Erfassung des ErnährungsPathophysiologie Der Appetitmangel (Anorexie) und die dadurch zustands ist von herausragender Bedeutung. Sie reduzierte Nahrungsaufnahme alleine erklären geschieht in zwei Stufen: Ernährungsscreening, den Gewichtsverlust nicht. Das primäre Tumor-­ gefolgt von einem detaillierten ErnährungsAnorexie-­ Kachexie-Syndrom ist ein paraneo- assessment. plastisches Syndrom (Abschn.  3.2): Durch den Tumor werden Zytokine (Abschn.  2.6.1) akti- Ernährungsscreening viert; dies führt zu einer chronischen systemi- Das Screening des Ernährungszustands identischen Entzündungsreaktion und verursacht kom- fiziert Patienten mit Unterernährung oder mit plexe metabolische und neurohormonelle Ver- einem hohen Risiko dafür. Das Ziel des Screeänderungen. Es kommt zu einem Ungleichgewicht nings ist es, zu bestimmen, ob ein detailliertes zwischen Nahrungsaufnahme und Energiever- Ernährungsassessment notwendig ist. Das Screebrauch mit einer negativen Energiebilanz. Im ning benötigt wenige Minuten Zeit und kann von Rahmen der Entzündungsreaktion führen eiweiß- der Pflegenden, vom Arzt, von der Diät1 und fettabbauende Faktoren zu einem Schwund assistentin oder anderen Fachpersonen durchgeführt werden. des Muskel- und Fettgewebes. Behandlungsmöglichkeiten Wie bei anderen paraneoplastischen Syndromen besteht auch hier die einzige wirksame Therapie in der erfolgreichen Behandlung des Tumors. Nur wenn es gelingt, durch Operation, Radiooder medikamentöse Therapien den Tumor zu verringern oder vollständig zu entfernen, kann

Berufsbezeichnungen und Ausbildung sind im deutschen Sprachraum unterschiedlich geregelt. Es gelten folgende Berufsbezeichnungen: Deutschland: Diätassistentin; Schweiz: dipl. Ernährungsberaterin HF, Ernährungsberaterin BSc; Österreich: Diätologin. Im Gegensatz zu diesen geschützten Berufsbezeichnungen kann in Deutschland und der Schweiz auch die dort ungeschützte Bezeichnung „Ernährungsberaterin“ verwendet werden. 1 

15  Ernährung und Ernährungstherapie

cc Das Screening sollte bei jedem Patienten bei Krankenhauseintritt und bei Beginn der Rehabilitation durchgeführt werden, bei ambulanten Klienten anlässlich des ersten Kontakts. Ein einfaches und bewährtes Instrument zur Erfassung der Unterernährung ist das Screeningsystem nach Kondrup (Nutrition Risk Score2002, NRS-2002) (Kondrup et  al. 2003; Download: https://www.dgem.de/screening). Das Ziel ist die Identifikation unterernährter Patienten oder von Patienten mit einem hohen Risiko, eine Unterernährung zu entwickeln. Der Score berücksichtigt Angaben zu Nahrungsaufnahme und Gewichtsverlauf und zusätzlich eine Einstufung des Schweregrades der Erkrankung

173

kontinuierlich überprüft und nach Rücksprache mit dem Patienten und dem Behandlungsteam angepasst werden.

15.6 Ernährungstherapie Für eine ausführliche Beschreibung der Ernährungstherapie bei Krebspatienten verweisen wir auf die Guidelines der Europäischen Ernährungsgesellschaft (https://www.espen.org/ guidelines-home/espen-guidelines) und auf zwei Übersichtsarbeiten (Arends 2012; Muscaritoli et al. 2021).

15.6.1 Ziele der Ernährungstherapie

Ernährungsassessment Bei allen Patienten, die im Ernährungsscreening als unterernährt oder als Risikopatienten für eine Unterernährung identifiziert werden, sollte eine umfassende Beurteilung des Ernährungszustands erfolgen. Dieses sog. Ernährungsassessment wird durch eine Diätassistentin durchgeführt. Es umfasst unter anderem folgende Punkte:

Die Ernährungstherapie hat folgende Ziele:

• Ernährungsanamnese (Mahlzeitenzufuhr/-struk­ tur/-gewohnheiten und deren Veränderungen, Unverträglichkeiten, Vorlieben, Abneigungen), • anthropometrische Daten (Gewicht inkl. Normalgewicht, ungewollter Gewichtsverlust/ Zeiteinheit, Größe), • Messungen und Einschätzungen (z. B. Körperzusammensetzung/Nährstoffbedarf), • ernährungsbezogene physiologische Funktionen (z. B. Schluckfunktion, Kaufähigkeit), • Patientenanamnese (inkl. patientenbezogene Ressourcen und psychosoziale Situation).

15.6.2 Stufen der Ernährungs­ therapie: Übersicht

Aufgrund dieser Daten kann eingeschätzt werden, ob bzw. welche Ernährungsprobleme bestehen sowie mit welchen Interventionen diese angegangen werden können. Daraus resultieren konkrete ernährungstherapeutische Maßnahmen und ein individueller Ernährungsplan, welche

• Verbesserung des Ernährungszustands, • Verbesserung der Lebensqualität, • Erhöhung der Therapieeffektivität und Reduktion von Nebenwirkungen, • Verbesserung der Prognose.

Bei den vielschichtigen Ursachen, die die Inappetenz bei Krebspatienten erklären, ist es ein Ziel, die Energie- und Nährstoffdichte zu erhöhen bei möglichst geringer Erhöhung des Nahrungsvolumens. • In einer ersten Stufe wird die übliche Ernährung optimiert, energie-/eiweißdichte Zwischenmahlzeiten und/oder Getränke werden eingeplant und Anreicherungsmaßnahmen genutzt. • In einer weiteren Stufe kann Trinknahrung die Ernährung ergänzen und zu einer bedarfsdeckenden Ernährung beitragen. Bei dem heute großen Angebot an Trinknahrung sind eine gezielte Auswahl mit höchstmög-

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Stufe VI

künstliche parenterale Ernährung

Stufe V

künstliche enterale Sondenernährung

Stufe IV

Trink-, Zusatznahrung (Getränke, Suppen, Joghurt)

Stufe III

Anreicherung der Nahrung (z.B. Eiweißkonzentrate, Maltodextrin)

Stufe II

Ernährungsmodifikation, individuelle Ernährungstherapie und -beratung, intensivierte Betreuung, Einsatz von Hilfsmitteln

Stufe I

Evaluation und Therapie der individuellen Ursachen

Abb. 15.1  Stufen der Ernährungstherapie. (Mod. nach Löser 2013)

lichem Nutzen sowie eine sinnvolle Einplanung in die bestehenden Mahlzeitenstrukturen (mit genügend Abstand zu den Hauptmahlzeiten) wichtig. • Sind die Ressourcen der „konservativen“ oralen Ernährungsunterstützung ausgeschöpft oder ist eine orale Ernährung und Flüssigkeitszufuhr nicht möglich, soll eine künstliche Ernährung diskutiert werden. Diese kann enteral über Ernährungssonden oder parenteral über zentrale oder periphere Venenkatheter erfolgen. • Bei inadäquater oder nicht durchführbarer enteraler Sondenernährung (z.  B. chronischer Ileus bei Peritonealkarzinomatose) kann schließlich in Einzelfällen eine parenterale Ernährung in Betracht gezogen werden. Abb. 15.1 zeigt schematisch die verschiedenen Stufen der Ernährungstherapie. Diese werden in Abschn.  15.6.3 bis Abschn.  15.6.6 näher beschrieben. Alle Stufen der Ernährungsintervention cc  können bzw. sollen parallel genutzt werden.

Grundsätze der Ernährungstherapie

• Wenn immer möglich, peroral ernähren. • Die orale Ernährung weiterhin unterstützen, auch wenn eine adäquate Ernährung ausschließlich über künstliche Ernährung gewährleistet werden kann (Stimulation von Sensorik und Geruchswahrnehmung, Aufrechterhaltung von Kau-/Schluckfunktion, Autonomie, verbesserte Lebensqualität). • Wenn der Darm funktioniert, dann brauche ihn! • Meistens ist eine enterale (Sonden-) Ernährung möglich. • Nicht: enteral oder parenteral oder oral. Kombinationen sind sinn- und wertvoll. • Kurzfristige enterale Sondenernährung → nasoenterale Sonden. • Längerfristige enterale Sondenernährung → perkutane Gastrostomiesonde (PEG) oder Feinnadelkatheterjejunostomie (FKJ).

15  Ernährung und Ernährungstherapie

175

15.6.3 Nahrungsanreicherungen

15.6.4 Trinknahrung

Die Ernährung optimierende Maßnahmen müssen individuell an Indikation, Ziel, Bedürfnisse und Möglichkeiten angepasst sein.

Trinknahrung wird industriell hergestellt, maßgeschneidert und ist in der Regel vollbilanziert. Vollbilanziert bedeutet die Gewährleistung von Kohlenhydraten, Eiweiß und Fett als Hauptnährstoffe in einem optimalen Verhältnis. Es gibt jedoch auch Produkte, bei denen bewusst die Fettkomponente fehlt. Diese sind im Geschmack und in der Konsistenz „sirupähnlich“, anders als die „milchig“ empfundenen vollbilanzierten Produkte. Sie eignen sich insbesondere dann, wenn die vollbilanzierten Produkte nicht toleriert werden. Als Basiszutaten enthalten die verschiedenen Produkte Wasser, Milch-, Sojaeiweiß, Pflanzenöle, Maisstärke, Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Es sind isokalorische (1  kcal/ ml) und hochkalorische (1,5–3,2 kcal/ml) Trinknahrungen auf dem Markt, mit und ohne Ballaststoffe sowie mit verschiedenen Geschmacksrichtungen wie süß, neutral oder salzig. Die Vielfalt an Produkten ermöglicht eine individuelle Anpassung an die Patientenbedürfnisse. Die süßen Geschmacksrichtungen überwiegen im Angebot, was bei einer Aversion gegen Süßes, bei Geschmacksstörungen/-veränderungen oder bei einer längerfristigen Anwendung problematisch werden kann. In dieser Situation sind die neutralen Varianten besonders hilfreich.

Als erste Maßnahme wird die übliche cc  Ernährung optimiert (Tab. 15.2). Die Energieanreicherung der Speisen erfolgt mit hochwertigen Ölen (Olivenöl, Rapsöl) sowie mit Butter und/oder Rahm. Mit zusätzlichen Spezialprodukten auf Kohlenhydratbasis (Maltodextrine) kann mit den aufgeführten Maßnahmen eine bedarfsgerechte Zufuhr von Energie erreicht bzw. die Zufuhr deutlich optimiert werden. Die Ergänzung und Anreicherung der Nahrung mit Eiweiß erfolgt mittels natürlicher Produkte (Ei, Käse, Quark) oder Nahrungsergänzungsmitteln in Pulverform (Eiweißpulver). Die Toleranz der Energie- und/oder Eiweißanreicherung ist generell gut, kann aber aufgrund von individuellen Aversionen und Gegebenheiten reduziert sein oder fehlen. cc Kann eine dem Therapieziel entsprechende Zufuhr mit den genannten Maßnahmen nicht erreicht werden, soll die zusätzliche Verabreichung von Trink- und/oder Sondennahrung erwogen werden. Tab. 15.2  Optimierung der üblichen Ernährung Maßnahme Anpassung der Portionsgröße der Mahlzeiten Individuelle Zusammenstellung der Nahrungskomponenten

Problem - Inappetenz (Krebskachexie) - Große Portionen verstärken Inappetenz und Nausea - Häufige Aversionen z. B. gegen Fleisch, ausgeprägte Mahlzeitengerüche

Einbeziehen von energieund nährstoffdichten Zwischenmahlzeiten sowie von „nahrhaften Getränken“

- Verminderte Zufuhr von Energie und Eiweiß durch Inappetenz und kleine Portionen pro Mahlzeit - Übliche Zwischenmahlzeiten wie z. B. Obst sind häufig energie- und eiweißarm, aber voluminös - Getränke im üblichen Angebot wie Mineralwasser sind energiearm/-los

Lösungsansätze - Anpassung der gesamten Mahlzeit oder von Einzelkomponenten an adäquate Portionsgrößen (1/4–1/1 Portion) - Menü-/Komponenten an individuelle Bedürfnisse anpassen - Einbeziehen von fleischlosen Eiweißbeilagen wie Ei, Fisch, Käse - Geruchsarme bzw. kalte Mahlzeiten - 2–5 kleine Zwischenmahlzeiten pro Tag - Energie- und/oder eiweißhaltige Zwischenmahlzeiten wie Schokolade, Nüsse, Mandeln, Rahmquark, Joghurt, Cracker und Käse, Crème, kleines Käse-, Ei-, Thunfischoder Fleischsandwich, Süßgebäck etc. - Energie- und/oder eiweißhaltige Getränke wie lösliche Schokolade, Ovomaltine, Frappé, Fruchtsäfte, Süßgetränke sowie Cremesuppen - Wichtig: Einnahme der Getränke zwischen den Mahlzeiten wg. Inappetenz

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R. Imoberdorf et al.

cc Es gibt keine allgemeine Regel, wie und wann die Zusatztrinknahrung serviert werden soll. Zu beachten ist aber, dass sie zwischen und nicht mit den Mahlzeiten verabreicht wird. Individuelle Anpassung durch Berücksichtigung der Patientenbedürfnisse sowie Kreativität der Betreuenden und Angehörigen sind hier oberstes Gebot.

TPE soll Patienten vorbehalten sein, bei denen eine perorale/enterale Ernährung nicht möglich ist und bei denen aufgrund der Tumorerkrankung und Prognose eine Ernährung als indiziert betrachtet wird.

15.6.5 Enterale Sondenernährung

Tumor-Anorexie-Kachexie-Syndrom Im Folgenden werden mögliche Interventionen beim primären Tumor-Anorexie-Kachexie-­ Syndrom (Abschn.  15.4.4) aufgeführt. Dabei müssen auch die Angehörigen einbezogen und mit den Therapiezielen vertraut gemacht werden.

Wenn die Möglichkeiten der „konservativen“ oralen Ernährungsunterstützung ausgeschöpft oder die orale Ernährung und Flüssigkeitszufuhr nicht möglich sind, gewährleistet die teilweise oder ausschließliche enterale Sondenernährung die adäquate Zufuhr von Nährstoffen. Die Entscheidung zur Einlage einer Sonde wird im Gespräch zwischen Patient, Arzt, Pflegenden und Diätassistentin getroffen. In speziellen Situationen werden die Angehörigen mit einbezogen.

15.6.6 Parenterale Ernährung Bei ungenügender Bedarfsdeckung durch die enterale Sondenernährung oder wenn diese kontraindiziert ist (z.  B. bei einem Ileus), kommt die parenterale Ernährung in Frage. cc Definition  Unter totaler parenteraler Ernährung (TPE) versteht man die intravenöse Zufuhr aller Makro- (Protein, Glukose und Fett) und Mikronährstoffe (Elektrolyte, Vitamine und Spurenelemente), die zur Erhaltung des Organismus für unbestimmte Zeit notwendig sind. Partielle parenterale Ernährung bedeutet, dass nicht der gesamte Nährstoffbedarf parenteral verabreicht wird. Die TPE erfolgt in der Regel wegen der hohen Osmolarität der Nährlösungen über einen zentralen Venenkatheter. Für eine partielle parenterale Ernährung ist ein implantiertes Portsystem bzw. ein getunnelter zentraler Katheter notwendig.

15.6.7 Ernährung in speziellen Situationen

fortgeschrittenes Tumor-Anorexie-­ cc Ein Kachexie-Syndrom kann durch eine Ernährungstherapie nicht mehr wesentlich beeinflusst werden. Die Rolle der Betreuenden besteht v. a. darin, dem Patienten zu helfen, sich so gut wie möglich an die krankheitsbedingte Situation anzupassen. cc Ziel ist nicht eine Gewichtszunahme, sondern die Verbesserung des subjektiven Befindens der Patienten. Bei fortgeschrittenem Tumor-Anorexie-­ Kachexie-­ Syndrom erleben Patienten und Angehörige zunehmende Hilflosigkeit. Betreuende müssen die komplexen Zusammenhänge verstehen und versuchen, diese den Patienten und Angehörigen verständlich zu machen. Zeitgerechte, ehrliche Informationen, fokussiert auf die Wünsche, Ziele und das Befinden der Patienten, stehen im Vordergrund. „Dasein“ anstelle von Aktivismus. Aufklärende Gespräche darüber, dass bei einem fortgeschrittenen TumorAnorexie-­ Kachexie-­ Syndrom auch mit vermehrter Kalorienzufuhr keine Gewichtszunahme erzielt werden kann, schützen vor Frustration sowohl bei Patienten und Angehörigen wie letztlich auch bei den Betreuenden.

15  Ernährung und Ernährungstherapie

Interventionen beim primären Tumor-­ Anorexie-­Kachexie-Syndrom

• Formulieren von realistischen Zielen mit dem Patienten und seinen Angehörigen • Durch Nahrungsanreicherung (Abschn.  15.6.3) und Trinknahrung (Abschn.  15.6.4) versuchen, eine zusätzliche Verschlechterung des Ernährungszustands zu verhindern • Konzentration auf die Beeinflussung der Appetitlosigkeit (s. unten) • Erfassung und Behandlung von sekundären, gut beeinflussbaren Faktoren: –– Ungenügend gelinderte Symptome wie Verstopfung, Schmerzen und Übelkeit –– Ersetzen oder Anpassen von Medikamenten, die Übelkeit verursachen oder die Darmtätigkeit beeinträchtigen, wie z. B. Antibiotika, Opioide

cc Die Angehörigen gehen häufig von unrealistischen Vorstellungen aus und wollen in der Regel „zu viel des Guten“. Die Patienten sind dadurch oft einem großen Druck ausgesetzt. Die Betreuenden können durch Aufmerksamkeit, Verständnis, ruhiges Verhalten und sachliche Information die schwierige Situation zu verbessern suchen.

Appetitverlust Viele Ursachen können bei Krebspatienten zu Appetitverlust führen. Neben psychischen Faktoren wie Angst, Depression und Ratlosigkeit verursachen auch Chemo- und Radiotherapie Inappetenz. Eine wichtige Rolle spielt der Appetitverlust im Rahmen des Tumor-­ Anorexie-­ KachexieSyndroms (Abschn.  15.4.4). Unabhängig von der

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Interventionen bei Appetitverlust

• Kleine Portionen anbieten • Häufig kleine Zwischenmahlzeiten/ Snacks anbieten • Kleinen Vorrat an Naschereien anlegen, z.  B.  Käsewürfel, cremige Dips, Schokolade • Trinken zwischen den Mahlzeiten • Speisen appetitlich anrichten • Tisch schön decken • Starke Essensgerüche vermeiden, Zimmer gut durchlüften • Aperitifs (Sherry, Wein, Wermut) können den Appetit anregen • Volumenreiche und energiearme Nahrungsmittel wie Gemüse, Salat, Obst etc. nur in kleinsten Portionen anbieten

Ursache können die in der Übersicht oben genannten Maßnahmen hilfreich sein. Geschmacksveränderungen Sowohl die Krankheit wie auch die Behandlung können Geruchs- und Geschmacksempfinden negativ beeinflussen. Nicht nur Zytostatika, sondern auch andere, sehr unterschiedliche Arznei-

Interventionen bei Geschmacksveränderungen

• Bitter wird oft stärker, süß und sauer oft schwächer empfunden. Deshalb gewürzarm kochen und selbst würzen lassen. • Nahrungsmittel ohne starken Eigengeschmack sind oft besser verträglich, z. B. Kartoffeln, Teigwaren, Reis. • Kalte Mahlzeiten mit geringer Geruchsemission werden z. T. bevorzugt.

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mittelgruppen können das Geschmacksvermögen beeinflussen, z. B. einige Antibiotika, Blutdruckmittel oder Psychopharmaka.

assistentin ein auf die individuelle Situation ausgerichteter ernährungstherapeutischer Behandlungsplan erarbeitet werden. Dabei ist zu beachten, dass insbesondere der Energie- und Mukositis Proteinbedarf immer wieder an den höheren AkIm Verlauf einer Chemo- oder Strahlentherapie tivitätslevel und die Rehabilitationsziele anentwickelt sich oft eine Mukositis (Schleimhaut-­ gepasst werden muss. Mit dem Patienten müssen Entzündung) im Mund, in der Speiseröhre oder im entsprechende gezielte Maßnahmen zur Zufuhrganzen Magen-Darm-Ttrakt. Die Betroffenen lei- steigerung getroffen werden. Eine besondere Herausforderung im Rahmen der Rehabilitation stellt die Gewährleistung einer ausgeglichenen Mahlzeitenstruktur dar. Je Interventionen bei oraler/ösophagealer nach Therapieintensität und -zeiten ist die Zeit Mukositis für die Mahlzeiteneinnahme (insbesondere der • Konsistenz der Mahlzeiten anpassen: Zwischenmahlzeiten) begrenzt. Energie- und Kleingeschnittenes, Weichgekochtes, proteindichte kleine Zwischenmahlzeiten sowie Püriertes oder Flüssigkost testen Trinknahrung bieten sich dann als ideale er• Mild gewürzte, säurearme Speisen benährungstherapeutische Maßnahmen an. vorzugen Die Diätassistentin gewährleistet bei Austritt • Säurehaltige Nahrungsmittel meiden, nach Hause oder in eine Folgeinstitution das z. B. Zitrusfrüchte, Tomaten, Essig Weiterführen einer für die individuelle Situation • Nicht zu kalt und nicht zu heiß servieren optimierten Ernährung. Sie berät Patienten und in • Verfeinern mit Rahm oder Milch deren Umfeld für die Ernährung entscheidende • Stark klebende oder körnige NahrungsPersonen gezielt, leitet weiterführende Maßmittel/Speisen meiden nahmen wie z. B. die Organisation für die künst• Evtl. milde Saucen zusätzlich zu der liche Ernährung (inkl. Schulung und Versorgung Mahlzeit anbieten (bei Mundtrockendurch Homecareanbieter) ein und regelt die erheit) nährungstherapeutische Weiterbetreuung.

den je nach Lokalisation der Mukositis unter Schmerzen beim Schlucken, Bauchkrämpfen und Durchfall. Die Mukositis kann eine vorübergehende künstliche Ernährung notwendig machen.

15.7 Schwerpunkte der Ernährungsberatung in der Rehabilitation Bei sehr vielen Patienten besteht beim Eintritt in die Rehabilitation immer noch oder neu eine Mangelernährung. Es ist deshalb beim Eintritt das Ernährungsscreening mithilfe des NRS-2002 zu wiederholen, sei dies ambulant oder stationär (Abschn.  15.5). Besteht aufgrund dieses Screenings bereits eine Mangelernährung oder ein hohes Risiko, eine solche zu entwickeln, so muss nach einem Assessment durch eine Diät-

15.8 Schnittpunkte zwischen Ernährungsberatung und Ergotherapie Der Ergotherapeut soll in Zusammenarbeit mit der Ernährungsberaterin die Erfassung von Mangelernährung unterstützen. Gerade nach längerem Aufenthalt im Krankenhaus, möglicherweise sogar auf der Intensivstation, leiden viele Patienten an Dysphagie und können sich nicht normal selbst ernähren. Neben der Ernährungsberatung sind Ergotherapeuten bzw. Logopäden gefordert und müssen eine sorgfältige Schluckabklärung und -therapie einleiten und beurteilen, inwieweit eine Dysphagie besteht. Bei Schluckstörungen besteht ein hohes Risiko für eine Aspiration und damit für eine erneute Hospitalisation, gar auf der Intensivstation mit mechanischer Beatmung.

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15  Ernährung und Ernährungstherapie

Mit korrekten Vorgaben zur Konsistenz und Auswahl der Mahlzeiten und Getränke sowie unterstützenden Maßnahmen soll interdisziplinär, zusammen mit der Diätassistentin, der Pflege und dem Ärzteteam eine bedarfsgerechte Ernährung gewährleistet werden. Beispiele

• Gemeinsame Kochgruppen • Erarbeiten eines Plans zur bedarfsgerechten Ernährung • Planung der Integration der Essenszubereitung in den Alltag des Klienten ◄

Literatur Zitierte Quellen Arends J (2012) Ernährung von Tumorpatienten. Aktuel Ernahrungsmed 37:91–106 Imoberdorf R, Rühlin M, Beerli A, Ballmer PE (2011) Mangelernährung  – Unterernährung. Schweiz Med Forum 11:782–786 Kondrup J, Allison SP, Elia M, Vellas B, Plauth M (2003) ESPEN guidelines for nutrition screening 2002. Clin Nutr 22:415–421

Löser C (2013) Ernährung am Lebensende  – medizinische, ethische und juristische Grundsätze der palliativmedizinischen Ernährung. Aktuel Ernahrungsmed 38:46–66 Muscaritoli M et  al (2021) ESPEN practical guideline: Clinical nutrition in cancer. Clin Nutr 40:2898–2913

Internetadressen Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin.: https:// www.dgem.de/leitlinien (Leitlinien der deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin) Krebsinformationsdienst: Hinweise für Patienten und Angehörige. https://www.krebsinformationsdienst.de/ leben/alltag/ernaehrung/mangelernaehrung-ernaehrungstherapie.php Krebsliga Schweiz: Fragen der Ernährung bei Krebs. https://ernaehrung.krebsliga.ch/ernaehrung-­bei-­krebs/

Broschüren für Klienten und Angehörige Deutsche Krebshilfe: Ernährung bei Krebs. https://www. krebshilfe.de/infomaterial/Blaue_Ratgeber/Ernaehrung-bei-Krebs_BlaueRatgeber_DeutscheKrebshilfe. pdf Krebsliga Schweiz: Ernährungsprobleme bei Krebs. https://shop.krebsliga.ch/broschueren-­infomaterial/ praevention/ernaehrung/ Österreichische Krebshilfe: Ernährung bei Krebs. www. krebshilfe.net/services/broschueren/broschueren-­ bestellen/?detail=1

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Kunsttherapie Sabrina Heizmann, Thomas Kroner, Lina Herrmann und A. Cornelia Weigle

16.1 Definition „Kunsttherapie“ hat zwei unterschiedliche Bedeutungen: • Kunsttherapie wird einerseits als Sammelbezeichnung benutzt für alle Therapien, die mit künstlerischen Medien arbeiten, so etwa Maltherapie, Musiktherapie, Tanztherapie, Schreibtherapie oder Theatertherapie. Für diese Sammelbezeichnung wird auch der Begriff „Künstlerische Therapien“ verwendet. • Als Kunsttherapie wird aber auch die spezielle Form der künstlerischen Therapien bezeichnet, die Mittel der bildenden Kunst therapeutisch einsetzt, d. h. Malen, Zeichnen, plastische Gestaltung oder Fotografie.

Der kreative Prozess trägt dazu bei, Wünsche, Ängste und Phantasien in einem sicheren Rahmen auszuleben. Dabei können emotionale Konflikte gelöst und die Selbsterkenntnis gefördert werden (Dreifuss-Kattan 1986). Die Kunsttherapie zeichnet sich dadurch aus, dass zu Klient und Therapeut als weiteres Element das künstlerische Werk dazukommt. Zusätzlich zur Beziehung zwischen Klient und Therapeut spielen somit auch das Gestalten des Werks sowie seine Wirkung eine Rolle im therapeutischen Prozess (Abb. 16.1). Die Kunsttherapie wird durch unterschiedliche theoretische Disziplinen begründet, beispielsweise durch die Psychoanalyse, die kognitive Verhaltenstherapie, die Anthroposophie oder auch die Ergotherapie. Kunsttherapeutische Ausbildungsstätten berufen sich in der Regel auf eine

Dieses Kapitel behandelt die Kunsttherapie als Therapie mit Mitteln der bildenden Kunst. Kunsttherapie vereinigt in sich therapeutische Ansätze aus Kunst, Psychologie und Pädagogik.

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T. Kroner Winterthur, Schweiz

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S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland e-mail: [email protected]

L. Herrmann Oberwolfach, Deutschland A. C. Weigle Wuppertal, Deutschland e-mail: [email protected]

Klient

Beziehung

Therapeut

Abb. 16.1  Der kunsttherapeutische Prozess

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_16

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S. Heizmann et al.

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dieser theoretischen Grundlagen. Diese prägt später die praktische Tätigkeit der so ausgebildeten Kunsttherapeuten.

16.2 Anwendungsbereiche Kunsttherapie wird nicht nur im Gesundheitswesen eingesetzt. Sie hat einen festen Platz u. a. auch in der Heilpädagogik und im soziokulturellen Bereich, also etwa in Förderschulen, Heimen für Menschen mit Behinderung, Gefängnissen oder auch im Teamcoaching. Im Gesundheitswesen ist sie sowohl in der Akutmedizin wie in der Rehabilitation fest etabliert, hier vor allem in der Psychiatrie, der Onkologie, der Psychosomatik und der Pädiatrie. Hintergrundinformation In Deutschland und Österreich ist das Berufsbild der Kunsttherapie nicht einheitlich definiert. Kunsttherapeutische Ausbildungen werden an Hochschulen, Fachhochschulen und privaten Ausbildungsinstituten angeboten, allerdings ohne einheitliche verbindliche Standards. Die Berufsbezeichnung „Kunsttherapeut“ ist in diesen beiden Ländern nicht gesetzlich geschützt. In der Schweiz ist die Ausbildung reglementiert und die Bezeichnung „Kunsttherapeut mit eidgenössischem Diplom“ geschützt, sie gilt für die fünf Fachrichtungen Bewegungs- und Tanztherapie, Drama- und Sprachtherapie, Gestaltungs- und Maltherapie, intermediale Therapie und Musiktherapie.

16.3 Kunsttherapie in der Onkologie Die Kunsttherapie soll in erster Linie den Klienten dabei unterstützen, seine Lebensqualität zu verbessern. In der Onkologie berichten Klienten häufig über ein Gefühl der Fremdbestimmung, ein Gefühl, bei der eigenen Genesung nicht mitwirken zu können, auch ein Gefühl der Wut. Dazu kommen quälende Fragen (z. B. „Weshalb bekomme gerade ich diese Erkrankung?“), Zweifel und Hilflosigkeit. Frauen mit Brust- oder Gebärmutterkrebs und Männer mit Hodenkrebs leiden oft an Schamgefühlen, Ablehnung des eigenen Körpers, Körperbildstörungen und Libidoverlust. Häufige Folgen sind Rückzug von (Ehe-) Partnern und dem sozialen Umfeld.

Auch Sorgen über Nebenwirkungen wie CiPN, Fatigue, Arthralgie und ihre Folgen, aber auch Ängste um die finanzielle Zukunft und depressive Episoden (Kap.  35) verschlechtern die Lebensqualität der Klienten. Vielen Menschen fällt die Kommunikation über ihre Gefühle schwer, da sie sich ungern gegenüber Fremden (z. B. zu Beginn der Therapie gegenüber dem Therapeuten) äußern oder Familie und Freunde nicht belasten wollen. Manche Klienten spüren, dass es ihnen nicht gut geht und dass sie – bewusst oder unbewusst – von ­Gefühlen übermannt werden, sie finden dazu jedoch keinen Zugang. Kunsttherapie kann diesen Zugang ermöglichen. Viele Klienten lernen sie während der onkologischen Rehabilitation kennen.

16.3.1 Ziele und Wirkung In der Onkologie hilft Kunsttherapie den Klienten, ihre Krankheit zu verarbeiten, Ungewissheiten zu akzeptieren und sich den Veränderungen des Körpers zu stellen. Eigene Ressourcen werden entdeckt und aktiviert und neue Perspektiven entwickelt. Im Vordergrund steht nicht die kreative und technische Umsetzung, sondern die freie Entfaltung der eigenen Gefühlswelt. Anhand von drei Studien können verschiedene Techniken der Kunsttherapie und ihre Wirkung dargestellt werden: Studie 1 In einem italienischen Ambulatorium wurden Krebspatienten während der Chemotherapie kunsttherapeutische Sitzungen angeboten. Thema der ersten Sitzung war eine Collage: Die Kunsttherapeutin bat den Klienten, aus einer Anzahl von Bildern aus illustrierten Zeitschriften einige auszuwählen, sie auf einem weißen Blatt Papier anzuordnen und der Komposition einen Titel zu geben. Diese Technik verlangt keinerlei künstlerische Fähigkeiten. Sie weckt symbolische Verbindungen zwischen den ausgewählten Abbildungen und den Erlebnissen und Gefühlen des Klienten. Es ist dem Klienten überlassen, ob er darüber sprechen will oder nicht. In den nächsten Sitzungen standen den Klienten wiederum Abbildungen aus Illustrierten,

16 Kunsttherapie

aber neu auch Ölkreiden, Filzstifte und Wasserfarben zur Verfügung. Für die Studie wurden die teilnehmenden Klienten von einer Psychologin nach ihrer Beurteilung der Kunsttherapie befragt. Von 54 Klienten fanden 3 (5,5 %) die Kunsttherapie nicht hilfreich, sie hatten nur an einer Sitzung teilgenommen. 51 Klienten (94,5 %) fanden die Therapie hilfreich, sie hatten im Durchschnitt an vier oder fünf Sitzungen teilgenommen. Bei dieser zweiten Gruppe versuchte die Psychologin in einem Gespräch zu ermitteln, was die Klienten als hilfreich empfunden hatten. Es zeigte sich, dass es sich dabei um ein Kontinuum von positiven Erfahrungen handelte, von leichten, oft körperlichen Erfahrungen („Ich konnte mich entspannen“) bis zu tiefgreifenden Erlebnissen („Ich kam in Berührung mit meinem Unbewussten“) (Forzoni et al. 2010). Studie 2 In einer französischen Palliativstation beteiligten sich 28 Patienten an kunsttherapeutischen Sitzungen. Sie litten an weit fortgeschrittenen Tumoren – sie überlebten im Mittel (median) nach der ersten kunsttherapeutischen Sitzung nur 43 Tage. In der Therapie wurden verschiedene Techniken entsprechend dem Wunsch des Klienten eingesetzt, so Malen, Zeichnen, Photographie oder Skulptur. 22 Patienten füllten vor und nach den Sitzungen einen Fragebogen zur Erfassung von 6 krankheitsbedingten Symptomen aus (Edmonton Symptom Assessment System, ESAS). Die kunsttherapeutischen Sitzungen führten bei allen Klienten zu einer deutlichen Verbesserung aller untersuchten Symptome (Schmerzen, Angst, Müdigkeit, Traurigkeit, Depression und schlechtes Befinden). Statt passiv umsorgt zu werden, erleben sich die Klienten in der Kunsttherapie in einer aktiven Rolle. Dies fördert ihr Selbstvertrauen – sie sind nicht länger nur „Krebspatienten“ (Lefèvre et al. 2016). Studie 3 In einer Übersichtsarbeit wurden 12 weitere Studien zur Kunsttherapie bei erwachsenen Krebs­ patienten ausgewertet (Wood et  al. 2011). Sie zeigt einen Mechanismus auf, durch den Kunst-

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therapie möglicherweise ihre Wirkung erzielt: Sie befähigt die Klienten, nach einer Krebserkrankung ihr Selbstverständnis, ihr Funktionieren und ihre Beziehungen neu zu kalibrieren. Diese „Neukalibrierung der Identität“ führt zu einer aktiveren Beteiligung am Symptom-­ Management. Trotz der unterschiedlichen methodischen Qualität der untersuchten Studien kommt die Arbeit u. a. zu folgenden Aussagen: Kunsttherapie • verbessert die Lebensqualität, • erleichtert den Umgang (Coping) mit der Erkrankung, • hat möglicherweise eine positive Auswirkung auf Fatigue.

16.3.2 Therapeutisches Angebot Kunsttherapie wird in verschiedenen Formen angeboten: • Einzelsetting (Abb. 16.2), • geschlossene Kleingruppe, • offene Gruppe, z. B. einmal pro Woche freies Malen/Gestalten ohne vorherige Anmeldung. Im Einzelsetting ist es je nach Einrichtung, Therapeut und Klientenwunsch möglich, Angehörige in die Therapie zu integrieren.

16.3.3 Material Es kommen verschiedene Materialien und Techniken zum Einsatz: • verschiedene Farben in Acryl, Wassermalfarben, Buntstifte, Wachsmalfarben, Fingermalfarben, Kreide, • unterschiedlich große Papierbögen, • Ton, • Speckstein, • Drucktechniken (z. B. Linol- oder Holzschnitt), • Film- und Fotografie, • Collage.

S. Heizmann et al.

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Abb. 16.2  Die Kunsttherapeutin mit ihrer Klientin im Einzelsetting

16.3.4 Ablauf Eine Kunsttherapieeinheit verläuft unterschiedlich, abhängig von der Gruppenkonstellation und der Ausbildung, den Kenntnissen und Neigungen des Therapeuten. Üblicherweise wird mit einer Einführung in die Kunsttherapie begonnen. Der Ablauf und die Handhabung der verschiedenen Materialien werden erklärt. Für die aktuelle Einheit kann ein Thema vorgegeben werden, dies hilft vielen Klienten, sich auf den kreativen Prozess einzulassen. Manche Klienten haben zu Beginn Probleme, da sie nicht wissen, was von ihnen erwartet wird, oder da sie sich für zu wenig kreativ und für untalentiert halten. Vom Klienten wird keine künstlerische cc  Fähigkeit erwartet. Es geht vielmehr darum, dass er aus den angebotenen Materialien intuitiv eine Wahl trifft, die es ihm erlaubt, seine momentane Stimmung aufzunehmen

und umzusetzen. Er kann so den Zugang zu seinen verborgenen Gefühlen herstellen. Der Therapeut kann, falls er das für sinnvoll hält, auf den Klienten zugehen und ihm mit Vorschlägen den Start erleichtern. Folgende Hinweise können den Leistungsdruck vom Klienten nehmen und ihm ein freies Arbeiten ermöglichen: • Der Pinsel macht den nächsten Strich, nicht ich. • Ich muss nicht planen. Ich weiß noch nicht genau, was dabei herauskommt. Ich lasse es einfach auf mich zukommen und bin gespannt auf das Ergebnis. Gegen Ende der Einheit werden die genutzten Materialien gereinigt und aufgeräumt, bevor die Bilder beispielsweise im Gruppensetting ausgelegt und gemeinsam betrachtet werden können. In einer abschließenden Runde kann eine Reflexion mit folgenden Leitfragen erfolgen:

16 Kunsttherapie

• Wie habe ich mich beim Malen gefühlt? • Was bedeutet mir mein geschaffenes Werk? • Hat sich etwas für mich verändert? Ob und inwiefern diese Fragen beantwortet werden, muss unbedingt dem Klienten überlassen werden. Im Gruppensetting sollte der Therapeut, wenn überhaupt, die Arbeiten nur mit großer Zurückhaltung interpretieren oder Probleme des Klienten thematisieren. Der Therapeut sollte die Teilnehmer im Voraus fragen, welches Vorgehen sie wünschen. Auf jeden Fall steht es dem Klienten bei der Reflexion frei, sich zu äußern, welche Schlüsse er aus dem geschaffenen Werk für sich zieht. Im Einzelsetting kann der Therapeut die Bildinterpretation des Klienten unterstützen und dabei dessen Ressourcen und Wünsche herausarbeiten. cc Der kunsttherapeutische Prozess kann starke Gefühle freisetzen, die den Klienten nachhaltig beeinträchtigen. Daher sollte der Therapeut die Klienten während der Arbeit beobachten und ggf. anbieten, aufkommende Emotionen ungestört zu besprechen. Es sollte möglich sein, professionelle psychoonkologische Hilfe beizuziehen oder darauf zu verweisen. Wenn immer möglich, sollte ein Klient an mehreren kunsttherapeutischen Einheiten teilnehmen, da er nur so sich Stück für Stück von seinen Hemmungen lösen und in den kunsttherapeutischen Prozess einbringen kann. So kann auch der Verlauf der Krankheitsverarbeitung in den entstandenen Arbeiten verfolgt werden. Beispiel1

Abb. 16.3, 16.4 und 16.5 zeigen eine Serie von Werken, die im Verlauf einer Kunsttherapie erarbeitet wurden. Sie stammen von einer 74-jährigen verwitweten, kinderlosen Patientin mit einem weit fortgeschrittenen unheilDie Autoren verdanken das Beispiel Frau A.  Cornelia Weigle, Psychoonkologin und dipl. Kunsttherapeutin am lnterdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf. 1 

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baren Karzinom. Eine Radio-Chemo-Therapie, gefolgt von einer lmmuntherapie führt zur erhofften Rückbildung des Tumors. Dennoch wünscht die Patientin, die Therapie abzubrechen. Nach dem Tod ihres Mannes sieht sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben und ist hochgradig depressiv. In der ersten Arbeit (Abb. 16.3) zeigt sich die symbiotische Paarbeziehung der Patientin durch Doppelung der Symbole, gleichzeitig auch ihre Freudlosigkeit und Todessehnsucht durch Vierfach-Darstellungen. Ihre ­Einsamkeit zeigt sich in Form einer schwarzen, leeren Bank. Die Patientin gibt der Arbeit den Titel „Ohne Dich …“ In der weiteren therapeutischen Arbeit ergeben sich durch die zentrale Frage „Wie geht es weiter?“ Anhaltspunkte für die Stabilisierung und Ressourcenaktivierung. Negative Glaubenshaltungen können kognitiv umstrukturiert werden. Entspricht die schwarze Bahnschiene in Abb.  16.4 als Symbol für das ersehnte Ende dem Todeswunsch der Patientin oder gibt es noch Hoffnung und Vertrauen in ein „Anderes Leben“, das allerdings mit neuen lnhalten zu füllen wäre? Getragen von Dankbarkeit und Liebe für 49 Ehejahre (rot) erkennt die Patientin, dass allein sie in Selbstfürsorge und Eigenverantwortung ihrem Leben wieder einen Sinn geben kann. Durch das Malen erfährt sie sich als Handelnde wieder neu, steigert ihre Lebensqualität und erlebt wieder Freude am Leben. Die Patientin gibt ihrer Arbeit den Titel „Mein Versuch – versprochen!“ Das dritte Bild (Abb. 16.5) zeigt den vollzogenen Perspektivwechsel der Patientin in Richtung Leben. Sie plant nun, ihr Haus zu verkaufen (linke Bildhälfte mit Kreuz) sowie den Umzug zu ihrem Bruder und seiner Familie (Pfeil). „Mein Versuch …“ (2. Bild) ist jetzt „Ich will!“ Die ehemals schwarze Bahnschiene als Symbol ihrer Todessehnsucht ist zu einer roten „Straße der Liebe“ geworden und damit zu einer wunderbaren Parallele zur roten Fläche des 2. Bildes. Ihre neue Heimat in der Nähe ihrer Familie auf der rechten Bildhälfte ist weiß geblieben und symbolisiert die Potenziale der kommenden Veränderungen. ◄

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S. Heizmann et al.

Abb. 16.3  „Ohne Dich …“. (Mit freundl. Bewilligung von A. Cornelia Weigle und ihrer Patientin)

Abb. 16.4  „Mein Versuch – versprochen!“. (Mit freundl. Bewilligung von A. Cornelia Weigle und ihrer Patientin)

16.4 Schnittpunkte zwischen Kunsttherapie und Ergotherapie Die Abgrenzung zwischen Ergo- und Kunsttherapie ist – je nach Schwerpunkt des Therapeuten – fließend. Einige Ergotherapeuten besitzen eine zusätzliche Qualifikation als Kunsttherapeut. Ergotherapeuten ohne eine solche Qualifikation können

Abb. 16.5  „lch will – versprochen!“. (Mit freundl. Bewilligung von A. Cornelia Weigle und ihrer Patientin)

die ausdruckszentrierte Methode der Ergotherapie nutzen zur Verbesserung der Lebensqualität des Klienten. Diese Methode ist jedoch nicht mit einer kunsttherapeutischen Maßnahme zu vergleichen. Bei beiden Methoden setzt sich der Klient mit seinen Gefühlen auseinander, in der Ergotherapie wird im Gegensatz zur Kunsttherapie jedoch nicht aufdeckend gearbeitet. Die Ergotherapie kann von der Kunsttherapie profitieren, indem sich der Klient in der Kunst-

16 Kunsttherapie

therapie seiner verborgenen Gefühle und Ängste, aber auch seiner Ressourcen bewusst wird und damit seine Wünsche und Ziele in der Ergotherapie genauer formulieren kann.

Literatur Zitierte Literatur Dreifuss-Kattan E (1986) Praxis der Klinischen Kunsttherapie. Hans Huber, Bern Forzoni S et al (2010) Art therapy with cancer patients during chemotherapy sessions: an analysis of the patients’ perception of helpfulness. Palliat Support Care 8:41. https://doi.org/10.1017/S1478951509990691 Lefèvre C et al (2016) Art therapy among palliative cancer patients: Aesthetic dimensions and impacts on symptoms. Palliat Support Care 14:376. https://doi. org/10.1017/S1478951515001017 Wood MJM et al (2011) What research evidence is there for the use of art therapy in the management of symptoms in adults with cancer? A systematic review. Psycho-Oncology 20:135. https://doi.org/10.1002/pon.1722

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Weiterführende Literatur Horn M (2015) Wenn die Grenzen verwischen. ET Reha 54 Jg., 2015 Nr: 16–19 Hrsg. DVE Schuster M (2014) Kunsttherapie in der psychologischen Praxis. Springer, Berlin/Heidelberg Weigle A, Schulz C (2014) Kommunikation in der Kunsttherapie. In: Basiswissen Palliativmedizin. Springer-­ Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi. org/10.1007/978-­3-­642-­38690-­9_8

Internetadressen Deutsche Krebsgesellschaft informiert über die Kunsttherapie: https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/leben-mit-krebs/ kuenstlerische-therapien-in-der-krebsbehandlung.html Ein Artikel der Arbeitsgemeinschaft Soziale Arbeit in der Onkologie (ASO) über die Kunsttherapie in der Onkologie: https://www.onkosupport.de/asors/content/ e4126/e1743/e1802/e2088/e1805/ifo0404_63_F30.pdf Wissenschaftliche Literatur und Publikationen zur Wirksamkeit von künstlerischen Therapien: https://artecura.ch/_tmc_daten/File/Evidenz_Kunsttherapie_2020.pdf

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Logopädie Patricia Winkler und Regina Lehmann

17.1 Definition Logopädie (von altgr. logos: das Reden/Sprechen und paideuein: erziehen) beschäftigt sich mit Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen bei Kindern und Erwachsenen. Dazu gehören beispielsweise Sprach- oder Schluckstörungen nach Schlaganfall, Sprechstörungen bei Morbus Parkinson oder Störungen des Redeflusses (Stottern). Ziel der Logopädie ist die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit des Klienten, um seine soziale Integration zu fördern bzw. wiederherzustellen.

17.2 Logopädie in der Onkologie In der Onkologie befasst sich Logopädie hauptsächlich mit der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckfunktion nach chirurgischen Eingriffen und Bestrahlungen. Betroffen sind vor allem Patienten mit Hirntumoren oder mit Karzinomen von Zunge, Kehlkopf, Schilddrüse oder Speise­röhre.

P. Winkler (*) Praxis für Logopädie Patricia Winkler, Haslach, Deutschland e-mail: [email protected] R. Lehmann Zell a.H., Deutschland e-mail: [email protected]

Bei diesen Krankheitsbildern können verschiedene logopädische Störungsbilder auftreten. Diese werden im folgenden Abschnitt beschrieben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie oft mit schweren psychosozialen Folgestörungen verbunden sind. cc Wichtig  Störungen der Sprache, des Sprechens und der Stimme sind verbunden mit mangelnder Kommunikationsfähigkeit und führen zu Einschränkungen in der sozialen Teilhabe bis zur sozialen Isolation. Schluckstörungen bedeuten eine massive Einschränkung der Lebensqualität sowie ein gesundheitliches Risiko aufgrund des Risikos von Mangelernährung und Aspirations­ pneumonie.

17.3 Logopädische Störungsbilder 17.3.1 Aphasie Aphasie bedeutet „Sprachverlust“, verursacht durch eine Hirnschädigung. Abhängig von Ort und Ausmaß der Schädigung sind das Sprechen, das Sprachverstehen, das Lesen und das Schreiben unterschiedlich stark gestört. Häufigste Ursache ist ein Schlaganfall. In der Onkologie können Hirntumoren zu einer Aphasie führen. Sie spielen in der logopädischen Praxis eine untergeordnete Rolle, es wird deshalb im Folgenden nicht weiter auf die Aphasie eingegangen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_17

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17.3.2 Dysarthrie Die Dysarthrie ist eine erworbene Störung des Sprechens. Dabei sind die für das Sprechen wichtigen Muskeln und Organe intakt, jedoch ist ihre Innervation gestört. Ursache ist eine Läsion im Gehirn oder im Bereich von Hirnnerven. Symptome einer Dysarthrie: • undeutliche und „verwaschene“ Aussprache, da die Beweglichkeit von Lippen, Zunge und Gaumensegel eingeschränkt ist, • veränderter Stimmklang, • veränderte Atmung.

17.3.3 Dysphagie Bei einer Dysphagie ist der Schluckvorgang gestört. Es besteht die Gefahr, dass Speichel, Nahrung und Flüssigkeiten in die Atemwege gelangen. Eine solche Aspiration kann zu Erstickungsanfällen oder einer Lungenentzündung (Aspirationspneumonie) führen. Bei einer schweren Dysphagie ist es dem Klienten nicht möglich, zu husten und die aspirierte Nahrung wieder loszuwerden. Gefährlich ist das Verschlucken vor allem dann, wenn es vom Klienten selbst nicht bemerkt wird, so dass es „still“ verläuft, also ohne Husten (sog. „stille Aspiration“). Auch Mangelernährung ist eine typische Folge von Dysphagie. Dysphagien sind in der Onkologie häufig verursacht durch direkte Wirkung von Tumoren im Bereich von Mundhöhle, Rachen oder Speise­ röhre oder durch deren Behandlung (Operation und Radiotherapie), seltener durch Störung der Innervation der beteiligten Muskulatur.

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nie“ gesprochen. Oft gehen mit einer gestörten Stimmfunktion auch Missempfindungen einher (z. B. Kloßgefühl, „Kratzen“, Hustenreiz). Stimmstörungen können funktionelle Ursachen (u. a. ungünstiger Stimmgebrauch) oder organische Ursachen (u.  a. „Knötchen“ bzw. Entzündungen) haben. Auch durch psychische Probleme und hormonelle Einflüsse können Stimmstörungen entstehen. Eine häufige Ursache bei onkologischen Patienten ist die Lähmung des Nervus recurrens (Recurrensparese) im Mediastinum (Mittelfellraum im Thorax). Der Nerv innerviert die Stimmbänder, seine Lähmung führt dazu, dass ein oder beide Stimmbänder nicht oder nicht in vollem Maße schwingen können. Eine spezielle Form der Dysphonie ist die Stimmstörung nach Laryngektomie (Kehlkopf­ entfernung) (Abschn. 17.3.6).

17.3.5 Fazialisparese Unter einer Fazialisparese versteht man eine Lähmung des Nervus facialis (VII.  Hirnnerv). Die motorischen Anteile des Nervs versorgen alle mimischen Gesichtsmuskeln, das Platysma (Hautmuskel am Hals) und einen kleinen Muskel im Mittelohr (M. stapedius). Eine Fazialisparese tritt meist einseitig auf. Ihre Symptome sind abhängig von der Lokalisation der Störung. Man unterscheidet eine zentrale von einer peripheren Fazialisparese:

17.3.4 Dysphonie

Zentrale Fazialisparese  Der Nerv ist an seinem Ursprung im Hirnstamm beschädigt. Häufigste Ursache ist eine Hirnblutung. In der Regel sind neben dem Fazialiskern auch andere Hirnstrukturen von der Blutung betroffen. Die Symptome sind auch abhängig von den zusätzlich durch die Blutung beschädigten Hirnregionen.

Unter einer Dysphonie versteht man eine Störung der Stimmfunktion, die sich durch einen heiseren Stimmklang äußert. Die Stimme ist weniger belastbar und kann rau und gepresst oder kraftlos und „hauchig“ klingen. Kommt es zum gänzlichen Verlust der Stimme, wird von einer „Apho-

Periphere Fazialisparese  Der Nerv ist in seinem Verlauf vom Hirnstamm durch die Schädelbasis beschädigt. Häufigste Ursache in der Allgemeinbevölkerung ist die sog. „idiopathische“ Fazialislähmung, deren Ursache  – entsprechend dem Ausdruck „idiopathisch“  – unklar ist. Bei

17 Logopädie

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onkologischen Patienten ist die Schädigung oft durch Metastasen bedingt, die den Nerv in seinem engen knöchernen Kanal in der Schädelbasis komprimieren. Typisch für die periphere Fazialisparese bei Schädigung im Bereich der Schädelbasis ist die Lähmung aller Gesichtsmuskeln der betroffenen Seite mit folgenden Symptomen: • Das Gesicht ist in Ruhe asymmetrisch: Der Mundwinkel der betroffenen Seite hängt herab. • Beim Lachen oder Lächeln verzerrt sich das Gesicht. • Die Stirn kann nicht gerunzelt, die Augenbraue nicht gehoben werden. • Beim Sprechen ist die Artikulation gestört. • Der Mundwinkel lässt sich nicht völlig schließen, es kommt zum Verlust von Speisen und Flüssigkeit („orale Inkontinenz“). • Speisen verbleiben in der Backentasche, der Patient beißt sich auf die Wangenschleimhaut. • Der Lidschluss ist unvollständig (Risiko einer Hornhautentzündung!).

a

b

Abb. 17.1  a-c Sagittaler Schnitt durch Kopf und Hals a Normale Verhältnisse: Kreuzung von Luft- und Speisewegen im Bereich des Kehlkopfs. b Zustand nach totaler Laryngektomie: Luft- und Speisewege sind vollständig getrennt. c Ersatzstimmbildung nach totaler Laryngektomie: Die Ausatmungsluft wird durch ein

17.3.6 Laryngektomie Als Laryngektomie wird die operative Entfernung des Kehlkopfs (Larynx) bezeichnet. Sie wird meist aufgrund einer Krebserkrankung des Kehlkopfes durchgeführt. Der Kehlkopf trennt Luft- und Speiseröhre; seine Hauptaufgabe ist die Schließfunktion der Luftröhre, um die unteren Atemwege vor dem Eindringen von Fremdkörpern bzw. Nahrung zu schützen. Zudem sitzt im Kehlkopf das Stimmorgan, die Stimmlippen. Bei der Laryngektomie werden Luft- und Speiseweg getrennt, d. h., vom Mundraum gibt es keine direkte Verbindung mehr zur Luftröhre (Abb.  17.1). Eine neue Öffnung der Luftröhre wird am Hals oberhalb des Brustbeins angelegt. Durch diese Öffnung, das Tracheostoma, atmet der Klient nach der Operation. Die Stimme geht durch die Operation verloren, in der logopädischen Therapie muss deshalb eine neue Art des Sprechens erlernt werden (Abschn.  17.5.1). Nach einer Laryngektomie können zudem Schluckbeschwerden auftreten.

c

Tracheo-Ösophageal-Ventil in den Ösophagus (Speiseröhre) umgeleitet (G: Gaumen, K: Kehldeckel, KK: Kehlkopf, L: Luftröhre, N: Nasenhaupthöhle, S: Speiseröhre, T: Tracheostoma, TÖV: Tracheo- Ösophageal-Ventil, Z: Zunge) (aus: Hinck und Fischer 2017)

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17.4 Diagnostik 17.4.1 Bei Sprach- und/oder Sprechstörung Tests Zur Befunderhebung bei einer Sprach- und/oder Sprechstörung werden die Analyse der Spontansprache des Klienten und standardisierte Tests verwendet, z. B.: • AAT (Aachener Aphasie Test), • FDA-2 (Frenchay-Dysarthrie-Assessment 2).

Untersuchung der Stimme Die Untersuchung der Stimme erfordert die Zusammenarbeit zwischen Phoniater und Logopädin: • apparative Prüfung, z. B. Videolaryngostroboskopie (Phoniater), • funktionelle Stimmprüfung (u. a. Beurteilung des Stimmklanges/des Stimmumfanges/der Atmung), z.  B. die Bewertung der Stimmqualität anhand der RBH-Skalierung (Rauigkeit, Behauchtheit, Heiserkeit).

17.4.2 Bei Verdacht auf Schluckstörung

P. Winkler und R. Lehmann

17.5.1 Stimmrehabilitation nach Laryngektomie Ersatzstimme Durch die Laryngeketomie (Abschn. 17.3.6) geht die normale Stimme verloren. Der Klient muss in der logopädischen Therapie lernen, sich mit einer Ersatzstimme zu verständigen. Dazu stehen drei Methoden zur Verfügung: Funktionelle Stimmrehabilitation  (Ösophagusersatzstimme oder Ruktusstimme oder Speiseröhrenstimme) Der Klient lernt, Luft aus dem Mundraum in den Speiseröhreneingang aufzunehmen und beim anschließenden Herauspressen einen Klang zu erzeugen. Durch das Schwingen der Schleimhaut am Speiseröhreneingang entsteht ein „Rülpston“, der das Sprechen ermöglicht. Mit der Zeit bildet sich am Eingang der Speiseröhre ein Wulst, der die Funktion der Stimmlippen übernimmt. Operative Stimmrehabilitation  (Stimmprothese oder Shuntventil) Es wird operativ eine ventilartige Verbindung zwischen Luftröhre und Speiseröhre angelegt, sodass beim Ausatmen nach Verschluss des Tracheostomas durch einen Finger Luft durch das Shuntventil in die Speiseröhre umgelenkt wird. Die Schleimhaut des Speiseröhreneingangs wird in Schwingung versetzt, wodurch ein Ton entsteht (Abb. 17.1c).

• Sichtbefund im Mund, Überprüfung der Mundmotorik, Funktionsprüfung der oralen Reflexe sowie Schluckversuch • Ärztliche Untersuchung: FEES (Fiberoptic Endoscopic Examination of Swallowing = ­fiberoptische Untersuchung des Schluckvorgangs)

Apparative Stimmrehabilitation  (Elektrolarynx oder elektronische Sprechhilfe) Es wird ein vibrierendes, tonerzeugendes Gerät an die Halsweichteile gehalten. Der Ton überträgt sich in den Mundinnenraum und kann so zum Sprechen verwandt werden. Der Klient muss lernen, die Betätigung des Gerätes mit der Artikulation und der Atmung zu koordinieren.

17.5 Behandlung

Um den mit einer dieser drei Techniken entstandenen Ton verständlich zu artikulieren, muss der Klient das Pseudoflüstern beherrschen, d. h., er muss durch präzise Artikulation ohne Ton und ohne Luftstrom, nur mit der „Mundluft“, verständlich sein. Dazu sind mundmotorische Übun-

Ziel der logopädischen Therapie ist die bestmögliche Wiederherstellung der verbalen und nonverbalen Kommunikationsfähigkeit und somit der Teilhabe am sozialen Leben.

17 Logopädie

gen notwendig. Je deutlicher der Klient ­artikuliert, desto besser kann er sich mit einer der drei genannten Techniken verständigen. Während der Zeit, in der die oben genannten Techniken erlernt werden, ist die Kommunikation unter Umständen erschwert. Um den Patienten während dieser Zeit zu unterstützen, kann die Anwendung von Talkern und Kommunikationsbüchern besprochen werden. Kommunikationsbuch Diese Bücher werden individuell mit dem Patienten erarbeitet und können mit Bildern, Zeichnungen oder Fotos bestückt sein. Mithilfe eines Kommunikationsbuches wird dem Patienten die Möglichkeit gegeben, sich gegenüber anderen Personen mitzuteilen. Es bietet daher eine hohe Alltagsrelevanz im Leben des Patienten. Talker Ein Talker ist ein Sprachausgabegerät mit einer dynamischen Oberfläche, er wird zur Verständigung eingesetzt. Dabei werden fertige Sätze, Redewendungen etc. auf dem Gerät abgespeichert. Das individuell ausgewählte sprachliche Angebot hat dabei für den Patienten im Alltag wieder eine hohe Bedeutung. Hierbei muss aber sichergestellt sein, dass der Patient in der Lage ist, den Talker motorisch zu bedienen.

17.5.2 Behandlung bei Fazialisparese Zur Rehabilitation von peripheren Gesichtslähmungen gibt es weder in der Logopädie noch in der Physiotherapie oder Ergotherapie eine standardisierte Behandlung. Folgende Grundsätze sind jedoch unabhängig vom Konzept wichtig (www.fazialisparese.ch): Augenschutz  Solange das Auge nicht hundertprozentig schließt, hat der Augenschutz absolute Priorität! Symmetrie  Sowohl in Ruhe als auch in Bewegung soll eine bestmögliche Symmetrie erreicht werden. Dies bedeutet immer eine Mitbehandlung der gesunden Gesichtshälfte.

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Von passiv zu aktiv  Während der paralytischen Phase erfolgen ausschließlich passive Techniken. Sobald erste Bewegungen möglich sind, werden vermehrt aktive Übungen durchgeführt. Sensorik fördert Motorik  Sensorische Wahrnehmung und sensorische Eindrücke fördern die motorischen Fähigkeiten. Selektive Bewegung  Gezieltes Ansteuern von isolierten Muskelbewegungen oder Koordinationsübungen fördern die Beweglichkeit und verhindern die Ausprägung von Synkinesien (unwillkürliche Mitbewegungen). Zur Behandlung sind verschiedene Ansätze möglich (www.fazialisparese.ch). Neben ausschließlich für periphere Fazialisparesen entwickelten Therapieansätzen (z.  B.  Mime Therapy nach Beurskens) werden auch Methoden eingesetzt, die für Patienten mit zentralen Lähmungen oder für den Ganzkörper entwickelt und validiert wurden, z.  B.  PNF (propriozeptive neuromuskuläre Faszilitation), klinische Neurodynamik, kognitiv-­ therapeutische Übungen nach Perfetti, Kinesiotaping u. a. m. Dabei kombinieren erfahrene Therapeutinnen häufig Techniken verschiedener Ansätze, um den Klienten individuell angepasste Schritte anbieten zu können. Gelegentlich werden zur Behandlung einer Fazialisparese alternative Ansätze wie Akupunktur oder Elektrotherapie eingesetzt. Für den Nutzen von Akupunktur gibt es keine wissenschaftliche Evidenz. Von Elektrotherapie ist abzuraten: Es besteht das Risiko von Tonuserhöhung und Ausbildung von pathologischen Bewegungsmustern.

17.5.3 Behandlung bei Schluckstörungen Therapieziele sind die Wiederherstellung bzw. Verbesserung des gestörten Schluckaktes und das Verhindern von Aspiration. Dazu dienen: • die Stimulation geschädigter Muskulatur, • mundmotorische Übungen,

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• Erlernen von Strategien, die das Schlucken erleichtern, z.  B.  Kopfneigung nach vorne und unten. Dabei wird die Wirkung der Schwerkraft genutzt, und Nahrung oder Flüssigkeiten können nicht unkontrolliert in den Rachen fließen, • Anpassung der Nahrung, z. B. durch Andicken von flüssiger Kost. Liegt eine Hirnschädigung (z. B. durch Hirntumore) vor, kann die Beeinträchtigung über die Schluckstörung hinaus auch die Motorik der oberen Extremität betreffen. Hier können Logopäden wie Ergotherapeuten Hilfsmittel anbieten, die das Essen und Trinken erleichtern, z. B. Besteck mit Griffverdickung oder Becher mit Nasenkerbe.

Praxistipps bei leichten Schluckstörungen

• Der Klient sollte beim Essen möglichst aufrecht sitzen • Beim Essen keine Störfaktoren; Konzentration auf den Essvorgang • Kleine Portionen pro Schluck • Gut kauen; sich Zeit lassen • Eine halbe Stunde nach der Nahrungsaufnahme sitzen bleiben • Weiche Kost bevorzugen (erfordert nur wenig Beweglichkeit der Mund- und Zungenmuskulatur und kann daher leicht im Mund transportiert werden) • Auf folgende Speisen möglichst verzichten: –– Reis –– Blättriger Salat –– Fisch –– Nüsse und Körner –– Krümelige Speisen (Körnerbrot, Knäckebrot, Zwieback, Plätzchen, Chips) –– Festes/faseriges Fleisch/Wurst –– Nahrungsmittel mit Mischkonsistenz (flüssige und feste Konsistenz), z.  B.  Suppe mit Einlage, Müsli, Kompott

17.6 Schnittpunkte zwischen Logopädie und Ergotherapie Sind die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit und/oder die Kommunikation beeinträchtigt, bedeutet das für viele Klienten einen großen Verlust an Lebensqualität. Hinzu kommt, dass Klienten, die sich mit solchen Einschränkungen konfrontiert sehen, sich oft sozial zurückziehen. Gemeinsam können Logopädie und Ergotherapie den Klienten dabei unterstützen, seine Einschränkungen zu überwinden. Ist die Kommunikation eingeschränkt, kann die Nutzung der geschriebenen Sprache (Lesen und Schreiben) eine größere Bedeutung für den Klienten bekommen. Gemeinsam können sich Ergotherapeut, Logopäde und Klient überlegen, wie sich die geschriebene Sprache zur Erleichterung des Alltags einsetzen lässt. Arbeitet der Klient gerne mit einem Tablet, so kann er z.  B. eine Bestellung beim Bäcker auf diesem Gerät schriftlich formulieren. Ist die Nutzung eines Talkers oder Kommunikationsbuches für den Klienten denk- und umsetzbar? Bei Schluckstörungen können Ergotherapeut und Logopäde gemeinsam Strategien überlegen, die den Alltag des Klienten erleichtern.

Beispiel

Ein Klient leidet an leichten Schluckstörungen. Er geht regelmäßig mit Freunden in ein Lokal, um dort ein Abendessen einzunehmen. Er hat große Angst, sich in der Runde zu verschlucken und unangenehm aufzufallen. Von seiner Erkrankung wüssten die Freunde zwar, aber er möchte diese nicht ständig thematisieren. Er überlegt, ob das gemeinsame Essen für ihn unter diesen Umständen noch möglich ist oder ob er in Zukunft nicht mehr daran teilnimmt. Während der Logopäde an der Verbesserung des mechanischen Prozesses des Schluckens arbeitet, werden in der Ergotherapie gemeinsam mit dem Klienten Überlegungen angestellt, wie er doch mit Freude an

17 Logopädie

den Treffen teilhaben könnte. Es wird die Speisekarte des Lokals ausgedruckt und besprochen, was ihm schmeckt und welche Speisen er trotz seiner Schluckstörung gut konsumieren kann. So besprechen die beiden Disziplinen mit dem Klienten, dass er bei einer Suppe eher eine Cremesuppe (aufgrund der etwas festeren Konsistenz) statt einer Gemüsebrühe wählen sollte. ◄

Literatur Zitierte Literatur Hinck A, Fischer C (2017) Tumoren im Kopf-Hals-Bereich. In: Margulies A et al. Onkologische Krankenpflege. Springer, Berlin www.fazialisparese.ch/. Dort:Infos für Fachleute

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Weiterführende Literatur Bergauer UG, Janknecht S (2018) Praxis der Stimmtherapie, 4. Aufl. Springer, Berlin Deutsche Krebshilfe (2016) Die blauen Ratgeber: Krebs im Rachen und Kehlkopf. Stiftung Deutsche Krebshilfe, Bonn Lauer N, Birner-Janusch B (2010) Sprechapraxie im Kindes- und Erwachsenenalter. 2.Aufl. Thieme, Stuttgart Prosiegel M, Weber S (2013) Dysphagie: Diagnostik und Therapie: Ein Wegweiser für kompetentes Handeln, 2. Aufl. Springer Schneider B, Wehmeyer M, Grötzbach H (2021) Aphasie: ICF-orientierte Diagnostik und Therapie. 7.Aufl. Springer, Berlin Weber S et al (2023) Dysphagie: Diagnostik und Therapie von Dysphagien bei Erwachsenen. Springer, Berlin Vogel M, Ziegler W (2010) Dysarthrie: verstehen – untersuchen – behandeln. Thieme, Stuttgart

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Lymphtherapie Andrea Grob, Thomas Kroner und Sabrina Heizmann

18.1 Definition Lymphtherapie bezeichnet als Oberbegriff Methoden zur Behandlung eines Lymphödems. Sie wird in der Regel von Physiotherapeuten mit einer Weiterbildung in manueller Lymphdrainage ausgeführt. Ein Lymphödem kann sich nach bestimmten chirurgischen Eingriffen und nach Bestrahlungen als schwerwiegende, meist chronische Komplikation entwickeln. Seine korrekte, individuell angepasste Behandlung ist in der onkologischen Rehabilitation von großer Bedeutung.

18.2 Das lymphatische System Das lymphatische System (auch Lymphsystem genannt) spielt eine zentrale Rolle in der Abwehr von Infekten und in der Regulation des Flüssigkeitsgehalts der Gewebe. Es besteht aus den lymphatischen Organen und den Lymphgefäßen. Zu den lymphatischen Organen gehören

• der Thymus (eine Drüse hinter dem Brustbein) und das Knochenmark. Sie sind die primären Organe des Immunsystems, d.  h., in ihnen reifen bestimmte weiße Blutkörperchen, die Lymphozyten, heran. Lymphozyten sind für die Abwehr von Viren und anderen Mikroorganismen von großer Bedeutung. Auch in der Abwehr von Krebszellen haben sie eine wichtige Funktion (Abschn. 11.4); • die sekundären Organe des Immunsystems. Dazu zählen die Lymphknoten, die Tonsillen (Rachenmandeln), die Milz und das sog. diffuse lymphatische Gewebe, das sich vor allem im Dünndarm, im Knochenmark und in der Appendix (Wurmfortsatz) findet. In diesen Organen kommen die Lymphozyten in Kontakt mit den abzuwehrenden Krankheitserregern. Im Kontext dieses Kapitels sind vor allem die Lymphgefäße und Lymphknoten von Bedeutung, auf sie wird weiter unten näher eingegangen.

18.2.1 Bedeutung in der Onkologie A. Grob (*) Karben, Deutschland e-mail: [email protected] T. Kroner Winterthur, Schweiz S. Heizmann Hofstetten, Deutschland

Das lymphatische System spielt in der Onkologie eine große Rolle. Es kann selbst als Ganzes bösartig entarten, die entsprechenden Tumore sind die sog. malignen Lymphome (Kap. 43). Viele andere onkologische Erkrankungen m ­ etastasieren früh über die Lymphwege (lymphogene Metastasierung). Es wird deshalb im Rahmen der Stadien-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_18

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abklärung (Kap. 4) geprüft, ob die lokalen Lymphknoten (Abschn. 18.2.3) bereits durch Tumor befallen sind. Dies geschieht durch die chirurgische Entfernung und mikroskopische Beurteilung einer kleinen Anzahl von Lymphknoten aus der Umgebung des Tumors. Die für die Prognose und Wahl der Therapie wichtige Frage nach der lymphogenen Metastasierung des Tumors kann dadurch beantwortet werden. Bei Nachweis von Metastasen müssen eventuell weitere Lymphknoten entfernt und/oder die Lymphabflusswege bestrahlt werden. Diese Eingriffe in das Lymphgefäßsystem können den Lymphabfluss beeinträchtigen. Selten entsteht schon nach Entfernung eines einzigen oder einiger weniger Lymphknoten ein Lymphödem, häufig tritt aber auch nach Entfernung vieler Lymphknoten nur ein geringes oder gar kein Lymphödem auf. Eine individuelle Beurteilung und Behandlung und sinnvoll angepasste Verhaltensempfehlungen sind deshalb nötig.

18.2.2 Lymphgefäße Der Blutkreislauf und das Lymphgefäßsystem sind die beiden großen Zirkulationssysteme unseres Körpers. Sie durchziehen mit ihren Gefäßen weit verzweigt sämtliche Körperstrukturen. Der Blutkreislauf ist ein geschlossenes System mit dem Herzen als zentrale Pumpe. Das Blut zirkuliert durch die Arterien, die Kapillaren und Venen. So können die Organe mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt und Kohlendioxid und andere Stoffwechselprodukte abtransportiert werden. Pro Tag werden ca. 10.000 Liter Blut durch die Gefäße befördert.

A. Grob et al.

Das Lymphgefäßsystem ist ein halboffenes System. Es dient mit seinen zarten Gefäßen der Entwässerung des Zwischenzellraums, dem Abtransport von Zelltrümmern (z.  B. beim Abbau von Blutergüssen) und anderen „großen“ Molekülen und dem Transport von Abwehrzellen, v. a. von Lymphozyten. Es wird gebildet von den Lymphkapillaren, den etwas größeren Lymphkollektoren und dem zentralen Lymphgefäß. Die Lymphkapillaren beginnen blind (fingerförmig) zwischen den Zellen im Interstitium (Zwischenzellraum). Aus den Blutkapillaren wird durch den Blutdruck Flüssigkeit (Plasma) in das Interstitium gepresst. Zum großen Teil wird diese Gewebsflüssigkeit von den Blutgefäßen wieder resorbiert. Der Rest, etwa 2–4  l täglich, wird als Lymphe von den Lymphkapillaren aufgenommen und über das Lymphgefäßsystem wieder in den Blutkreislauf geführt. Die Lymphe enthält neben der Gewebeflüssigkeit Eiweiße und Abfallprodukte des Stoffwechsels, in den Lymphgefäßen des Verdauungstrakts auch Fette. Bei Infekten im entsprechenden Lymphterritorium (Abschn. 18.3.2) finden sich in der Lymphe auch Bakterien, bei bösartigen Tumoren evtl. auch Krebszellen. Die daran anschließenden größeren Lymphgefäße, die Lymphkollektoren, sind von glatter Muskulatur umgeben. Die Muskelzellen kontrahieren sich etwa zehnmal pro Minute und befördern dadurch die Lymphe weiter, Klappen in den Kollektoren verhindern ihren Rückfluss. Das zentrale Lymphgefäß des menschlichen Körpers, in den beinahe alle Kollektoren letztendlich münden, ist der sog. Ductus thoracicus. Er beginnt tief im Brustkorb auf der Höhe des 10. Brust-

18 Lymphtherapie

wirbels und mündet etwa auf Höhe des Schlüsselbeins auf der linken Körperseite in eine große, herznahe Vene, die Vena subclavia. Auch die Kollektoren aus dem Darm münden in den Ductus thoracicus. Ihre Lymphe enthält die aus dem Darm aufgenommenen Nahrungsfette und ist deshalb milchig-trüb, der Ductus thoracicus wird deshalb auch als Milchbrustgang bezeichnet.

18.2.3 Lymphknoten Die Lymphknoten (auch Lymphdrüsen genannt) liegen als Filterstationen gruppenweise im Lymphgefäßsystem. Die insgesamt 600 bis 700 bohnenförmigen Lymphknoten messen 2–10 mm, am Hals und in der Leiste bis 20 mm, bei Infektionen oder Tumorbefall auch deutlich mehr. Sie werden sowohl durch Lymphgefäße wie durch Blutgefäße versorgt. Die Blutgefäße führen Lymphozyten und andere Immunzellen in den Lymphknoten. Die Lymphe gelangt durch die zuführenden Lymphgefäße in die Lymphknoten und fließt darin langsam durch das lymphatische Gewebe. Dabei kommen die Immunzellen des Lymphknotens mit den in der Lymphe enthaltenen „Fremdkörpern“ wie Bakterien und Tumorzellen in Kontakt und lösen dadurch eine Immunreaktion aus (Abb. 18.1). Die Lymphe und die darin enthaltenen Lymphozyten fließen durch die abführenden Lymphgefäße ab und gelangen schließlich über den Milchbrustgang in den Blutkreislauf.

199 Kapsel zuführendes Lymphgefäß

abführendes Lymphgefäß Arterie Vene

Abb. 18.1  Aufbau eines Lymphknotens. (Aus Zilles und Tillmann 2010)

Die Lymphe einer Körperregion wird einer bestimmten Lymphknotengruppe, den regionalen Lymphknoten, zugeführt. Die entsprechende Körperregion wird Lymphterritorium genannt. Die Lymphknoten an Kopf und Hals gehören zur Körperregion oberhalb des Schlüsselbeins; die Achsellymphknoten zum Territorium von Arm und Brustwand der entsprechenden Seite; die Becken- und Leisten-Lymphknoten gehören zum Territorium von Unterbauch und Beinen (Abb.  18.2). Auch die Lymphe aus den inneren Organen wird über regionale Lymphknoten abgeführt, die Lymphe aus dem Darm z.  B. über Lymphknoten an der Darmwurzel, die Lymphe aus den Lungen über Lymphknoten an der Lungenwurzel (Hilus).

A. Grob et al.

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zervikale Lymphknoten

Ductus thoracicus/ Milchbrustgang Thymus

Lymphgefäße der Brustdrüse

axilläre Lymphknoten Milz

Cisterna chyli/ Lendenzisterne

lumbale Lymphknoten

Lymphgefäße der oberen Extremität

Beckenlymphknoten

Lymphgefäße der unteren Extremität

Leistenlymphknoten

Abb. 18.2  Das Lymphbahnensystem. Aus: Medical Gallery of Blausen Medical 2014. https://doi.org/10.15347/ wjm/2014.010 (CC BY 3.0)

18.3 Lymphödem Wird der Abtransport der Lymphe und der Gewebsflüssigkeit behindert, führt dies zu einem Stau im Gewebe und dies wiederum zu einer Schwellung, einem sog. Lymphödem. Unbehandelt ist das Lymphödem eine progrediente Erkrankung mit Tendenz zur Chronifizierung. Dabei kommt es zu einer Vermehrung und Ver-

änderung der Gewebsflüssigkeit, später auch zu einer Zunahme von Bindegewebe (Fibrosierung) und Fettgewebe. Ein Lymphödem muss deshalb möglichst früh und konsequent behandelt werden. Verschiedene einander ergänzende Behandlungen ermöglichen, dass das Ödem verringert oder sogar beseitigt wird und dass Betroffene mit ihrer Erkrankung möglichst gut und komplikationsfrei leben können.

18 Lymphtherapie

18.3.1 Ursachen Neben eher seltenen, genetisch bedingten sog. primären Lymphödemen spielen sekundäre (erworbene) Lymphödeme im therapeutischen Alltag eine wesentlich größere Rolle. Eine sekundäre Lymphstörung entsteht, wenn ein zuvor gesundes Lymphgefäßsystem durch äußere Einflüsse wie z. B. Entzündung, Operation, Bestrahlung oder Verletzung geschädigt wird. • Mögliche Ursachen eines Lymphödems in der Onkologie sind: –– operative Entfernung von Lymphknoten und dadurch bedingte Unterbrechung von Lymphgefäßen; –– Radiotherapie von Lymphknotenregionen: Die durch die Bestrahlung ausgelöste Entzündung führt zur Vernarbung der Lymphgefäße und Lymphknoten und dadurch zur Behinderung des Lymphabflusses; –– Infiltration von Lymphknoten und Lymphgefäßen durch Tumorgewebe.

18.3.2 Lokalisation und Häufigkeit Abhängig von Sitz und Ausdehnung des Tumors sowie seiner Behandlung (Operation und/oder Bestrahlung) besteht in einem oder mehreren Lymphterritorien ein unterschiedlich großes Risiko für die Ausbildung eines Lymphödems. Übergewicht fördert die Entwicklung eines Lymphödems. Brustkrebs Ein mehr oder weniger ausgeprägtes Lymphödem kann sich in folgenden Regionen entwickeln (Abb. 18.3): • gleichseitiger Arm, distal betont, mit größter Ödemausprägung im Bereich Unterarm/Hand oder proximal betont mit Schwerpunkt Oberarm/Ellenbogen, • gleichseitige Brustkorbwand mit Lymphödem in oder knapp unterhalb der Achselhöhle, evtl. mit Ausdehnung Richtung Rücken bis zur Außenkante des Schulterblattes,

201

• betroffene Brust: nach brusterhaltender Operation, vor allem in Kombination mit Bestrahlung. Die Inzidenz (Häufigkeit) des Lymphödems ist in erster Linie abhängig von der Behandlungsmethode des Mammakarzinoms (Abschn. 39.1). 12–24 Monate nach Abschluss der Behandlung findet sich ein Lymphödem • nach der heute nur noch selten notwendigen vollständigen axillären Lymphknotenentfernung bei ca. 20 % der Patientinnen, • nach der heute in den meisten Fällen durchgeführten Biopsie des Sentinel-(Wächter-) Knotens bei ca. 6 % der Patientinnen (DiSipio et al. 2017). Risikofaktoren für die Entwicklung eines Lymphödems am Arm sind die Anzahl der ­entfernten Lymphknoten und die Größe des Tumors, an der Brust zusätzlich Übergewicht und Adipositas (Goffman et al. 2004). Gynäkologische Tumoren (Karzinome von Gebärmutter, Scheide und Vulva) Lymphödeme können sich in folgenden Regionen entwickeln (Abb. 18.4): • Beine, ein- oder beidseitig, distal (Füße, Knöchel, Unterschenkel) oder proximal (Knie, Oberschenkel, Leiste) betont, • Unterleib- oder Bauchbereich, • Genitalbereich. Die Inzidenz beträgt nach operativer Behandlung von Eierstockkrebs etwa 7 %, von Gebärmutterkrebs etwa 18 %, sie ist mit 47 % am höchsten nach Behandlung von Vulvakarzinomen. Postoperative Bestrahlung erhöht das Risiko (Ryan 2003). Ilioinguinale Lymphknotenentfernung Nach ilioinguinaler Lymphknotenentfernung (Entfernung von Lymphknoten im Becken und in den Leisten) sind 40 % der Operierten von einem Beinlymphödem betroffen, nach Wundheilungs-

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Ort der Lymphknotenentfernung und/oder Bestrahlung gefährdetes Lymphterritorium

Abb. 18.3  Brustkrebs: Lymphödem-Risikoterritorium nach Lymphknotenentfernung und/oder Bestrahlung

18 Lymphtherapie

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Ort der Lymphknotenentfernung und/oder Bestrahlung gefährdetes Lymphterritorium

Abb. 18.4 Gynäkologische Tumoren: Lymphödem-Risikoterritorium nach Lymphknotenentfernung und/oder ­Bestrahlung

A. Grob et al.

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Ort der Lymphknotenentfernung und/oder Bestrahlung gefährdetes Lymphterritorium

Abb. 18.5  Nach Operationen im Halsbereich, z.B. nach Neck Dissection: Lymphödem-Risikoterritorium nach Lymphknotenentfernung und/oder Bestrahlung

störungen in diesem Bereich sogar 80  % (Földi und Földi 2010). Operationen im Halsbereich Nach Operationen im Halsbereich (z.  B. bei Schilddrüsen- oder Kehlkopfkarzinomen) mit

ausgedehnter Lymphknotenentnahme (sog. Neck Dissection) oder bei Narbenverlauf quer zur Lymphabflussrichtung können auch im Hals- und Gesichtsbereich Lymphödeme auftreten (Abb. 18.5).

18 Lymphtherapie

18.3.3 Symptome und Stadieneinteilung In einem frühen Stadium (Stadium I) findet sich einzig eine weiche Schwellung, die sich leicht wegdrücken lässt und sich bei Hochlagerung der betroffenen Extremität zurückbildet. Bei Fortschreiten der Erkrankung können folgende Symptome auftreten (nach Wilting et al. 2017): • Verdickung von Haut und Unterhaut durch –– Einlagerung von Fettgewebe –– Vermehrung des Bindegewebes (Fibrose, Sklerose) –– Bildung von Lymphzysten und evtl. nässenden Lymphfisteln • Trophische Veränderungen der Haut: –– Verhornung (Hyperkeratose) –– Verfärbungen (Hyperpigmentierung) –– Elefantenhaut (Elefantiasis) • Störungen der lokalen Immunabwehr –– Anfälligkeit für Erysipel (Abschn. 18.3.7) –– Anfälligkeit für Pilz- und andere Infektionen • Veränderungen des muskuloskeletalen Systems –– Bewegungseinschränkungen und lokale Überlastung führt zu asymmetrischer Körperhaltung, Schonhaltung und Schmerzen

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Stadium II  Geschädigtes Lymphsystem, das auch unter guten Bedingungen wie z.  B.  Hochlagerung nur eingeschränkt funktioniert, sodass Ödeme dauerhaft vorhanden sind und bleiben (Abb.  18.6). Chronifizierung mit Gewebeverhärtungen möglich, vor allem bei mangelnder Behandlung. Stadium III  Deformierende, harte Schwellung mit typischen Hautveränderungen (Papillomatose) (Abb.  18.7) und gelegentlich grotesker Volumenzunahme der betroffenen Extremität (Elefantiasis) (Abb. 18.8).

Abb. 18.6  Lymphödem Stadium II mit Beteiligung der Zehen. (Aus Kröger 2016, mit freundl. Genehmigung des Autors)

Entsprechend der klinischen Symptomatik werden Lymphödeme in Stadien eingeteilt: Stadium 0, sog. Latenzstadium  Schädigung des Lymphsystems von außen nicht sichtbar (latent = verborgen): kein klinisch nachweisbares Ödem. Stadium I  Überforderung des Lymphsystems, sichtbar durch weiche Schwellung in wechselnder Ausprägung. An den Extremitäten (wegen des hydrostatischen Drucks bei aufrechter Körperhaltung) oft im Tagesverlauf zunehmend, durch Hochlagerung über Nacht Rückgang oder Verschwinden des Ödems. Im Hals-/Gesichtsbereich ist es genau umgekehrt: Der Ödemzustand ist morgens am schlechtesten mit Besserung im Tagesverlauf.

Abb. 18.7  Stadium III mit Hautveränderungen (Papillomatose). Lange Jahre wurde hier die entstauende Therapie nur sporadisch durchgeführt. (Aus Kröger 2016, mit freundl. Genehmigung des Autors)

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Abb. 18.8 Stadium II oder III.  Zustand nach urologischer Tumoroperation. Dieses Ödem ist nicht mehr reversibel. (Aus Kröger 2016, mit freundl. Genehmigung des Autors)

18.3.4 Weiterführende Beschwerden Die von einem Lymphödem verursachten Beschwerden beeinflussen nahezu alle Bereiche des Lebens und werden unterschiedlich stark als Einschränkungen wahrgenommen. Als Folge der Krebstherapie besteht das Ödem weiter, auch wenn die onkologische Behandlung bereits lange abgeschlossen ist. Die Therapie des Ödems (Abschn. 18.3.6) beansprucht viel Zeit. Regelmäßige Behandlungstermine sowie die Hautpflege der betroffenen Extremität müssen in den Alltag und die berufliche Situation integriert werden. Es ist nicht

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immer einfach, daneben noch Zeit für Sport und Entspannung zu finden. Auch das Tragen einer Kompressionsversorgung stellt manche Betroffene vor große Herausforderungen: Besonders das Anziehen ist mühsam und zeitintensiv, ältere Menschen benötigen dafür oftmals Hilfe. Vor allem im Sommer wird die Kompression als Belastung empfunden. Auch aus optischen Gründen würden viele gerne darauf verzichten. Als Einschränkung werden auch die Verhaltensänderungen empfunden, die Lymphödem-­ Betroffenen empfohlen werden (Abschn. 18.3.7). Die oben beschriebenen muskloskeletalen Veränderungen können zu chronischen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führen. Auch die Berufsausübung wird unter Umständen durch ein Lymphödem eingeschränkt. Dies betrifft z. B. körperlich belastende Arbeiten, hohe Verletzungsrisiken, Arbeit in extremen Temperaturgereichen (sowohl Hitze als auch Kälte), langes Verharren in ungünstigen Körperhaltungen wie dauerhaftes Sitzen oder Stehen ohne Bewegungsmöglichkeiten. In solchen Fällen kann es nötig sein, den Arbeitsplatz anzupassen bzw. zu verändern. Eine Reduktion der Arbeitszeit hilft den Betroffenen, den als Folge des Lymphödems vermehrten Zeitbedarf aufzubringen. Natürlich spielen auch finanzielle Aspekte eine große Rolle. Nicht umsonst besteht für Lymphödem-­ Erkrankte die Möglichkeit, durch die Anerkennung einer Schwerbehinderung Unterstützung und Erleichterungen zu erhalten. Trotz der genannten Einschränkungen ist es jedoch wichtig, dass der Patient nicht in Inaktivität und Schonung verfällt. Ein gezieltes Bewegungsund Krafttraining unter Anleitung unterstützt die Reduktion des Lymphödems (Abschn. 18.3.6). Erysipel Eine ernst zu nehmende Komplikation bei Lymphgefäßerkrankungen ist das Erysipel (Wundrose). Es handelt sich dabei um eine bakterielle Infektion der Haut mit Streptokokken. Sie ist charakterisiert durch eine schmerzhafte, scharf begrenzte Rötung und Schwellung der befallenen Haut, begleitet von Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, allgemeinem

18 Lymphtherapie

Krankheitsgefühl, oft auch Erbrechen. Da sich die Streptokokken vor allem in den Lymphkapillaren der Haut vermehren, führt das Erysipel bei Patienten mit vorgeschädigtem Lymphgefäßsystem zu einer akuten, evtl. auch zu einer dauerhaften Verschlechterung des Lymphödems. Schon kleinste Bagatellverletzungen, die oftmals nicht einmal wahrgenommen wurden, können ein Erysipel auslösen. Es sollte von dem Betroffenen selbst, aber natürlich auch von Ärzten oder Therapeuten möglichst erkannt werden. Dies ermöglicht die frühzeitige Einleitung der unbedingt notwendigen Antibiotikabehandlung. Nur so kann eine zusätzliche Schädigung der Lymphgefäße und damit eine dauerhafte Verschlimmerung des Lymphödems vermieden werden. cc Der beste Schutz vor einem Erysipel besteht in der Vermeidung von Verletzungen. Sollte es doch zu einer Verletzung kommen, ist auf eine unverzügliche und vor allem saubere Wundversorgung zu achten. Für verletzungsanfällige Betroffene empfiehlt sich ein Sprühdesinfektionsmittelfläschchen, das auch unterwegs mitgenommen werden kann und stets schnell zur Hand ist.

18.3.5 Diagnostik Zur Feststellung eines Lymphödems braucht es zunächst keine apparative Diagnostik. Anamnese, Inspektion und Palpation sind die Basisdiagnostik, mit der ein Lymphödem erkannt und beurteilt werden kann. Die Anamnese gibt wichtige Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung und damit den Auslöser der Schwellung. Bei der Inspektion werden besonders die Ausprägung des Ödems im Seitenvergleich, der Zustand der Haut sowie eventuelle Verletzungen oder Narben beachtet. Im Rahmen der Palpation ist das sog. Stemmer-­ Zeichen von Bedeutung. Dabei wird geprüft, ob sich im Bereich des Grundgelenks der 2. Zehe der betroffenen Extremität eine Hautfalte abheben lässt. Ist dies nicht der Fall, spricht man

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von einem positiven Stemmer-Zeichen, das ein Lymphödem mit distaler Beteiligung bestätigt. Im Fall eines proximal betonten Ödems kann das Stemmer-Zeichen negativ sein, wenn Zehen bzw. Finger (noch) nicht betroffen sind. Umfangmessungen im Seitenvergleich erlauben es, den Behandlungsverlauf nachzuvollziehen und Therapieerfolge zu dokumentieren. Nur in speziellen Fällen sind weiterführende Diagnoseverfahren wie z. B. Duplex-Sonografie oder funktionelle Isotopenlymphografie nötig.

18.3.6 Behandlung Nach individueller Beurteilung sinnvoll angepasste Behandlung und Verhaltensempfehlungen sollen den Betroffenen helfen, mit ihrer Erkrankung möglichst gut zu leben. Sie sollen Experte für das eigene Krankheitsbild werden und mit einem guten Körpergefühl selbst entscheiden, welche Tätigkeiten oder Aktivitäten sie trotz Lymphödem ausüben können. Behandlung der Wahl eines Lymphödems ist die sog. Komplexe Physikalische Entstauungstherapie, abgekürzt KPE.  Sie besteht aus vier Komponenten, die es mit abgestuften Maßnahmen erlauben, das Lymphödem zu beseitigen oder zumindest gut unter Kontrolle zu halten. Die vier Komponenten sind • • • •

Hautpflege, Manuelle Lymphdrainage (MLD), Kompressionstherapie, Bewegungstherapie.

Diese Komponenten decken unterschiedliche Problembereiche rund um ein Lymphödem ab. Die Komplexe Physikalische ­Entstauungstherapie kann in zwei Phasen angewandt werden, die sich hauptsächlich in ihrer Intensität unterscheiden: In Phase 1, der eigentlichen Entstauungsphase, wird mit täglicher Lymphdrainage und Bandagierung über einen Zeitraum von mehreren Wochen ein stark ausgeprägtes Ödem reduziert. Diese Behandlungen können in einer lymphologischen Fachklinik stattfinden. Sie erzielen oft erstaunlich gute Ergebnisse.

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In Phase 2, der Erhaltungs- und Optimierungsphase, wird versucht, den in Phase 1 erreichten Zustand zu halten und ein Wiederauftreten oder eine Zunahme des Ödems zu verhindern. Die Lymphdrainage wird ambulant weitergeführt, das Tragen der Kompressionsstrumpfversorgung von morgens bis abends sollte selbstverständlich werden. Je nach ursprünglicher Ausprägung des Ödems und Stabilität oder Instabilität des Zustandes ist eine kontinuierliche Behandlung mit Manueller Lymphdrainage in regelmäßigen Abständen erforderlich. Bei Betroffenen mit sehr leichten Ödemen kann unter Umständen die Lymphdrainage abgesetzt werden. Durch Entstauungsübungen in Eigenregie und vor allem durch Schwimmen oder andere Wasseranwendungen kann in diesen Fällen eine genügende Entstauung erreicht werden. Schlüsselkomponenten der KPE sind Kompressionstherapie (im Sinne einer Strumpfversorgung) und Bewegungsübungen. Diese beiden Therapiebestandteile sind deshalb so wichtig, weil sie von den Betroffenen nach entsprechender Anleitung in Eigenregie durchgeführt werden und somit keiner Limitation unterliegen. Es bedarf, auf lange Sicht, weder einer Verordnung noch eines Therapeuten, um diese Maßnahmen regelmäßig anzuwenden. Sie sind, zumindest theoretisch, immer verfügbar. Deshalb wird bei einer sog. modifizierten KPE die manuelle Lymphdrainage verkürzt oder darauf verzichtet, sofern es die Ausprägung des Ödems zulässt. Die Patientinnen übernehmen ihre Behandlung durch das Tragen der Strumpfversorgung und die Bewegungstherapie weitgehend selbst. Bei Lymphödem nach Brustkrebsbehandlung sind die Langzeitresultate der „modifizierten KPE“ bezüglich Volumenreduktion mit denen der KPE vergleichbar (Davies et al. 2020; Liang et al. 2020). Hautpflege Lymphgefäßerkrankungen beeinträchtigen auch den Hautstoffwechsel und setzen damit die Widerstandsfähigkeit der Haut herab. Betroffene bemerken vielleicht, dass die Haut im Ödembereich anders reagiert als gewohnt, schneller zu Trockenheit neigt, anfälliger ist, mehr Pflege braucht als sonst.

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Durch regelmäßiges, dem Bedarf angepasstes Eincremen mit gut hautverträglichen Produkten bleibt die Haut intakt und kann ihre Barriere- und Schutzfunktion für den Körper erfüllen. Zudem wirkt gute Hautpflege auch als Vorbeugung vor einer ernst zu nehmenden Komplikation des Lymphödems, dem sog. Erysipel (Wundrose) (Abschn. 18.3.4). Manuelle Lymphdrainage (MLD) Die MLD ist eine spezielle Behandlungsform des Lymphödems. Sie scheint zwar einer Massage zu ähneln, hat aber wenig mit ihr gemeinsam. Bei der MLD werden festgelegte Griffreihenfolgen auf der Haut mit flächigem Druck und Schub angewandt. Dadurch wird der Abfluss der Lymphflüssigkeit gesteigert, die Eigenpulsation des Lymphgefäßsystems angeregt, die Transportkapazität der Gefäße erhöht und verhärtetes Gewebe gelockert. Die Lymphdrainage unterstützt durch Ablauf, Tempo und Rhythmus die physiologischen Vorgänge des Lymphsystems und seine Versuche, die gestörte Funktion zu kompensieren. Regelmäßige Behandlungstermine sollten bei Notwendigkeit prompt und durchgehend in Anspruch genommen werden, da sich Lymphödeme in fortgeschrittenen Stadien tendenziell eher verschlechtern als verbessern: Im Verlauf kann aus einer weichen, relativ gut behandelbaren Schwellung ein verhärtetes, immer schwieriger zu beeinflussendes Ödem werden. Kompressionstherapie Die Kompressionstherapie unterstützt optimal die Wirkung der Lymphdrainage über die Behandlungszeit hinaus. Möglichkeiten der ­Kompression sind entweder die Bandagierung als sehr ausführliche, intensiv entstauende, aber eher alltagsuntaugliche Methode oder die im Vergleich unauffälligere und leichtere Strumpfversorgung, die dennoch von vielen Betroffenen als lästig und einschränkend empfunden wird. Für Ödeme der oberen Extremität stehen Armstrümpfe und Handschuhe zur Verfügung, für die untere Extremität Kniestrümpfe, Oberschenkelstrümpfe oder Strumpfhosen (Abb.  18.9). Spezialisierte Sanitätshäuser sind für die Maßanfertigung solcher Versorgungen und eine gute Beratung zuständig.

18 Lymphtherapie

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Abb. 18.9  Kompressionsversorgung durch Strumpf und Zehenkappe in Flachstrick. Es gibt auch Strümpfe mit integrierter Zehenkappe. (Aus Kröger 2016, mit freundl. Genehmigung des Autors)

Eine Kompressionsversorgung – egal welcher Art – entfaltet ihre Wirkung am besten, wenn die entsprechende Extremität bewegt wird. Der Druck von außen und die Muskelaktivität von innen arbeiten dann zusammen und fördern so den Rückfluss der Lymphflüssigkeit optimal. Bewegungs- und Krafttraining Neben der eben beschriebenen Synergie von Kompressionsversorgung und Muskulatur muss

das Lymphgefäßsystem durch Bewegung und Entstauungsübungen regelmäßig unterstützt werden. Muskel- und Gelenkaktivitäten fördern die Eigenpulsation des Lymphgefäßsystems und erhöhen dadurch den Abtransport der Lymphe. In den Alltag können folgende Bewegungsübungen integriert werden: • Bewegungen des Schultergürtels/Schulterkreisen

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• Tiefe, entspannte Atemzüge in den Bauch • Für die obere Extremität: pumpende Bewegungen der Hände, gerne auch mit Beteiligung der Ellenbogengelenke und in unterschiedlichen Positionen der Schultergelenke • Für die untere Extremität: Aktivierung der Wadenmuskelpumpe durch Bewegen der Füße in unterschiedliche Richtungen und aus verschiedenen Ausgangsstellungen (z.  B.  Stand, Sitz, Rückenlage mit hochgelegten Beinen) • Bei allen Entstauungsübungen muss darauf geachtet werden, das volle Bewegungsausmaß der entsprechenden Gelenke auszuschöpfen und trotz Anstrengung die Atmung weiter locker fließen zu lassen. Das Anhalten der Luft und eine gepresste, verbissene Übungsausführung sind geradezu kontraproduktiv. • Aus einem anderen Grund sehr empfehlenswert sind Sport oder Bewegung im Wasser. Im Wasser wirkt der hydrostatische Druck von außen und befördert viel Gewebeflüssigkeit in die Lymphgefäße, durch die sie leicht abtransportiert werden kann. Es entsteht dabei beinahe die Wirkung einer Ganzkörperlymphdrainage. Neben dem Bewegen sollte auch immer wieder an das Dehnen zum Erhalt oder der Steigerung der Beweglichkeit gedacht werden. cc Den Patienten wird oft geraten, die betroffene Extremität zu schonen. Das ist falsch! Studien zeigen, dass moderates bis hochintensives Krafttraining die Bewegungseinschränkung verbessert, die Kraft fördert und Auswirkungen auf die Muskelpumpe hat. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Lymphabfluss gezielt gesteigert wird (Courneya et al. 2007). Lymphtaping Zusätzlich zu diesen vier Komponenten der KPE hat sich in den letzten Jahren das Lymphtaping als zusätzliche Methode, den Lymphabfluss zu unterstützen, etabliert. Eine spezielle Schnitt- und Klebetechnik der aus dem Sport bekannten bunten Pflasterstreifen soll den Lymphabfluss verstärken und die Wirkung einer Lymphdrainagebehandlung verlängern (Abb. 18.10). Das Taping wirkt durch Beeinflussung von Rezeptoren und Gefäßen. Es bewirkt keinen Druck, sodass bei einem aus-

geprägten Ödem die Wirkung nicht ausreicht, um z.  B. dauerhaft den ungeliebten Kompressionsstrumpf zu ersetzen. Ein Tape kann jedoch gut als Ergänzung der Therapie dienen, eine unvermeidlichen Behandlungspause von einigen Tagen überbrücken helfen oder an Körperstellen angewandt werden, an denen eine Kompression nur schwer möglich ist, wie z.  B. am Rumpf (Thoraxwandödem nach ­Brustkrebserkrankung). Das Tape besteht normalerweise aus Baumwolle und trägt sich sehr angenehm. Der Polyacrylkleber auf der Rückseite ist wellenförmig aufgebracht und wärmeaktiv. Das Tape schmiegt sich wie eine zweite Haut an den Körper und wird oft schon kurze Zeit nach dem Aufkleben gar nicht mehr oder nur positiv wahrgenommen. Der hohe Tragekomfort bleibt auch längere Zeit bestehen, sodass ein Tape mit nur wenig Pflege und Aufmerksamkeit je nach Beanspruchung mehrere Tage bis über eine Woche halten kann. Taping gilt als gut verträglich. Laut einer Übersichtsarbeit beenden jedoch wegen Hautproblemen 10–20  % der Patienten das Taping vorzeitig (Gatt et al. 2017). Vorsicht ist geboten bei der Anwendung in bestrahlten Hautarealen. Dort sollten Tapes frühestens 6 Wochen nach Abschluss der Radiotherapie angebracht werden. Es bestehen kaum Kontraindikationen, die Taping oder zumindest den Versuch dazu einschränken könnten. Auch anderen therapeutischen Maßnahmen steht das Tape nicht im Weg. Auch im Sport- und Freizeitbereich macht es alle Aktivitäten mit und darf sogar nass werden.

18.3.7 Verhaltenshinweise bei Lymphödem Probleme mit dem Lymphgefäßsystem äußern sich auf unterschiedliche Art und Weise und verschieden stark. Statt pauschaler Verbote sollten individuell cc  angepasste Verhaltenshinweise vermittelt und Betroffene dabei unterstützt werden, ein gutes Körpergefühl, speziell im Hinblick auf ihr Lymphödem, zu entwickeln.

18 Lymphtherapie

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Abb. 18.10  Lymphtapes bei einer Patientin mit Brustkrebs nach Operation und Bestrahlung der Brust und Exzision und Bestrahlung der rechten Axilla. Die Tapes am Arm sollen

den Lymphabfluss in die supraclavikulären Lymphknoten fördern; die Tapes am Rumpf unterstützen die Entstauung des Lymphödems der Brust und der Brustwand

Es liegt in der Verantwortung eines jeden Erkrankten, sich nach Möglichkeit so zu verhalten, dass sich das Ödem durch Unachtsamkeit nicht verschlechtert. Aber auch für Betroffene im Stadium  0 sollten prophylaktisch gewisse Verhaltenshinweise gelten. In beiden Fällen sind jedoch weniger pauschale Verbote als vielmehr ein Gespür für eventuelle Risiken in den ver­ schiedenen Bereichen des täglichen Lebens und das bereits erwähnte Körpergefühl von Wichtig-

keit. Dieses Körpergefühl muss nach der Erkrankung, manchmal mit viel Geduld und vor allem mit der notwendigen Achtsamkeit gegenüber sich selbst, neu erlernt werden. Oft muss im Leben auch eine neue Ausgewogenheit wiedergefunden oder eine solche sogar erst entwickelt werden. Wie für Körper und Seele sollte auch für das Lymphgefäßsystem die Balance stimmen zwischen Bewegung und Ruhe, Anspannung und Entspannung sowie Aktivität und Erholung. Zu-

212

sätzlich sind drei Aspekte zu bedenken: die Vermeidung von Überlastung, Überwärmung und von Verletzungen an der betroffenen Extremität. Bezogen auf verschiedene Bereiche des täglichen Lebens ergeben sich daraus folgende Verhaltenshinweise und -empfehlungen: Ernährung und Gesundheit • Von Blutdruckmessungen und Blutabnahmen am betroffenen Arm wird üblicherweise abgeraten. Zwar liegt für diese Empfehlung keine gute Evidenz vor (Ferguson et al. 2016), trotzdem sollten Blutdruckmessungen und Blutentnahmen, sofern möglich, immer am gesunden Arm durchgeführt werden. In Ausnahmefällen, beispielsweise bei beidseitigem Lymphödem oder bei „schlechten Venen“ auf der gesunden Seite, kann unter Einhaltung möglichst schonender und hygienisch einwandfreier Bedingungen auch der ödematöse Arm genutzt werden. –– Bei Blutdruckmessung am ödematösen Arm die Manschette nicht bis zum Anschlag aufpumpen. –– Bei Blutentnahmen am ödematösen Arm den Stauschlauch möglichst kurze Zeit belassen, die Haut gut desinfizieren und möglichst schonend stechen. • Ausgewogene Ernährung mit genügend Flüssigkeitszufuhr, Normalgewicht anstreben bzw. halten. • Weder Eisbehandlungen noch starke Hitzebehandlungen oder knetende Massagen an der betroffenen Extremität. –– Diese Empfehlung hat für Klienten mit Kopf-/Hals- sowie vor allem Armlymphödem folgenden Grund: Im SchulterNacken-Bereich verlaufen die Lymphbahnen, die den Abfluss in gesunde, benachbarte Lymphterritorien übernehmen können, um das betroffene Gebiet zu entstauen. Eine starke Massage oder Behandlung mit Wärme oder Fango verstärken die lokale Durchblutung. Dadurch entstehen mehr Abfallprodukte des Zellstoffwechsels, die vom sowieso schon überlasteten Lymphgefäßsystem abtransportiert werden müssen. Die genannten

A. Grob et al.

Maßnahmen sind deshalb im SchulterNacken-Bereich nicht zu empfehlen, sondern geradezu kontraindiziert! Dieser wichtige therapeutische Hinweis gilt für die ganzen alle betroffenen Territorien, wie in den Abbildungen (Abb. 18.3,  18.4 und 18.5) eingezeichnet (Abschn. 18.3.2). Haushalt, Beruf und Freizeit • Allgemein –– Vorsicht im Umgang mit Tieren: keine Bisse oder Kratzer an der betroffenen Extremität –– Sorgfältige Körperpflege und gründliche, aber behutsame Nagelpflege, keine Verletzungen oder Einrisse riskieren –– Kleine Wunden oder Verletzungen, die trotz aller Sorgfalt aufgetreten sind, gut versorgen, desinfizieren. Heilung beobachten und bei Auffälligkeiten früh reagieren –– Sonnenbrand vermeiden –– Vorsicht in der Sauna: nicht zu lange, nicht zu heiß; auf Reaktionen des Körpers achten und entsprechend reagieren –– Schutz vor Insektenstichen an der betroffenen Extremität –– Sportverletzungen so gut wie möglich vermeiden • Bei Armlymphödem: –– Keine ruckartigen, unkontrollierten Bewegungen aus der Schulter –– Schmerzgrenze respektieren; keine dauerhafte, massive Überanstrengung –– Kein schweres einseitiges Tragen –– Vorsicht beim Bügeln (Überlastung – Überwärmung– Verletzungsgefahr) –– Ausreichender Schutz vor scharfen oder spitzen Küchenwerkzeugen, kochendem Wasser oder Dampf, heißen Oberflächen –– Bei der Gartenarbeit Schutzhandschuhe tragen; Kratzer durch Pflanzen und Verletzungen durch Gartengeräte vermeiden • Bei Beinlymphödem: –– Nicht barfuß gehen (Verletzungs- und Infektionsgefahr) –– Fußpilz und Hautausschläge behandeln lassen

213

18 Lymphtherapie

Kleidung • Allgemein –– Einschnürungen und Abdrücke durch zu enge Kleidungsstücke vermeiden, keine Abflussbehinderungen der oberflächlichen Lymphgefäße • Bei Armlymphödem: –– Keine zu engen Ringe oder Uhren –– Breite Abschlüsse des BHs an Schultern und Brustkorb –– Brustprothese so leicht wie möglich • Bei Beinlymphödem: –– Keine zu engen Schuhe und Socken –– Keine zu engen Hosen –– Keine einschnürenden Abschlüsse der Unterwäsche am Bauch oder in der Leiste

18.4 Schnittpunkte zwischen Lymphtherapie und Ergotherapie Für die Ergotherapie stehen die Einschränkungen im Vordergrund, die der Klient durch das Lymphödem im Alltag erfährt. Das Ausmaß der Einschränkung wird durch die ergotherapeutische Diagnostik (Kap.  26) erfasst. Danach kann die Ergotherapie mit Strategien zur Anpassung der Handlungsabläufe, mit der Vorstellung von Hilfsmitteln (z.  B.  Anziehhilfe für Kompressionsstrümpfe für Arm/Bein) und Hilfe im Umgang damit oder bei der Anpassung der Umgebung unterstützen. Beispiel

Anpassung der Handlungsabläufe am Beispiel von Gartenarbeit Trotz Hilfsmitteln muss im Garten gelegentlich in der Hocke gearbeitet werden. Bei Ödemen im Bereich der Leiste und der unteren Extremität ist daher die Besprechung von Pausenmanagement und Entlastungsbewegungen sinnvoll. Nach 15  min in einer starren Position sollte die Körperhaltung gewechselt werden. Wichtig dabei ist, dass der

Klient sich eine solche Strukturierung und die Umsetzung in seinem Alltag vorstellen kann. Viele handeln nach dem Prinzip „Augen zu und durch“. Daher ist hier eine gute Kommunikation zwischen Therapeut und Klient wichtig. ◄

Beispiel

Einsatz von Hilfsmitteln am Beispiel einer Zahnarzthelferin Eine Zahnarzthelferin mit Lymphödem im Bereich beider Leisten und Beine berichtet, dass sie während ihrer beruflichen Tätigkeit oft sitzend assistieren muss. Es wird ein Sattelhocker ausprobiert, bei dem sie die Beine seitlich des Sitzes positionieren kann. Die Flexion im Bereich des Hüftgelenks wird dadurch verkleinert, dies wirkt – im Gegensatz zu einem herkömmlichen Sitz oder Hocker  – weniger stauend. ◄

Beispiel

Einsatz von Hilfsmitteln am Beispiel Schreiben mit Stift Durch ein Lymphödem von Vorderarm und Hand hat der Klient Schwierigkeiten, mit einem Stift zu schreiben. Hier ist der Verweis auf Stifte mit einem dickeren Stiftschaft oder einer Griffverdickung hilfreich. Zudem ist bei längeren Schreibarbeiten die Besprechung von Pausenmanagement und Entlastungsbewegungen sinnvoll. ◄

Beispiel

Anpassung der Umgebung am Beispiel der Gestaltung des Arbeitsplatzes: Ein Klient mit einem Lymphödem an der unteren Extremität beschreibt, dass er nicht weiß, wie er Bewegung in seinen Arbeitsalltag im Büro integrieren soll. Neben der Möglichkeit, sich selbst einen Wechselarbeitsplatz einzurichten (höhenverstellbarer Schreibtisch,

A. Grob et al.

214

Sitz-/Stehhilfe), kann geschlagen werden:

Folgendes

vor-

• Bewegung am Arbeitsplatz: –– Welche Übungen können im Stand, im Sitzen durchgeführt werden, um die Muskelpumpe zu aktivieren? –– Gibt es Tätigkeiten, bei denen der Klient gehen kann, z. B. Durchsehen der Post, Telefonate? • Bewegung außerhalb des direkten Arbeitsplatzes: –– Drucker in einen anderen Raum stellen –– Tee-/Kaffeepausen unabhängig von den Toilettenpausen planen, um öfters aufzustehen –– Nutzen von Treppen statt dem Fahrstuhl –– Mittagspause neben dem Essen auch für einen kurzen Spaziergang nutzen Die besprochenen Maßnahmen müssen dem Klienten sinnvoll und durchführbar erscheinen. Ein einfaches Aufzählen verschiedener Optionen ist nicht hilfreich! Bei Bedenken, dass häufiges Aufstehen und Herumgehen dem Vorgesetzten negativ auffallen könnten, ist ein klärendes Gespräch zwischen Klient und Arbeitgeber im Vorfeld sinnvoll. ◄ Äußerst wichtig ist, dass der Ergotherapeut seinen Klienten in Absprache mit dem Physiotherapeuten zu regelmäßigem Bewegungs- und Krafttraining animiert, um eine Reduktion des Lymphödems im Alltag zu unterstützen (Abschn. 18.3.6). Zudem kann gemeinsam mit dem Klienten und der Physiotherapie an der Umsetzung der Verhaltensweisen gearbeitet werden (Abschn. 18.3.7). Es ist sinnvoll, die Verhaltensweisen zu strukturieren und nach und nach in den Alltag einzubauen, statt alle auf einmal umsetzen zu wollen. Durch eine gezielte Befundung des

Klienten wird klar, welches seine Prioritäten im Alltag sind.

Literatur Zitierte Literatur Courneya KS, Segal RJ, Mackey JR et al (2007) Effects of aerobic and resistance exercise in breast cancer patients receiving adjuvant chemotherapy: a multicenter randomized controlled trial. J Clin Oncol 25:4396– 4404 Davies C et  al (2020) Interventions for breast cancer-­ related lymphedema: clinical practice guideline from the academy of oncologic physical therapy of APTA.  Phys Ther 100:1163. https://doi.org/10.1093/ ptj/pzaa087. Zugriff 04.07.2023 DiSipio T et al (2017) Incidence of unilateral arm lymphoedema after breast cancer: a systematic review and meta-analysis. Lancet Oncol 14:500 Ferguson CM et  al (2016) Impact of ipsilateral blood draws, injections, blood pressure measurements, and air travel on the risk of lymphedema for patients treated for breast cancer. J Clin Oncol 37:691–698 Gatt M, Willis S, Leuschner S (2017) A meta-analysis of the effectiveness and safety of kinesiology taping in the management of cancer-related lymphoedema. European Journal of Cancer Care 26, e12510, https:// doi.org/10.1111/ecc.12510. Zugriff 4.7.2023 Goffman et al (2004) Lymphedema of the Arm and Breast in Irradiated Breast Cancer Patients: Risks in an Era of Dramatically Changing Axillary Surgery. Breast J 10:405 Kröger K (2016) Das Lymphödem erkennen und behandeln. CME 13:9. https://doi.org/10.1007/s11298-­ 016-­5746-­7. Zugriff 4.7.2023 Liang M et al (2020) Manual lymphatic drainage for lymphedema in patients after breast cancer surgery. A systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Medicine 99:49 (e23192). https://doi. org/10.1097/MD.0000000000023192. Zugriff 4.7.2023 Ryan M (2003) Aetiology and prevalence of lower limb lymphedema following treatment for gynaecological cancer. Aust NZJ Obstet Gynaecol 43:148–151 Wilting J et al (2017) in: S2k Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme. Download: https://www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/058-­001l_S2k_Diagnostik_ und_Therapie_der_Lymphoedeme_2019-­07.pdf. Zugriff 4.7.2023 Zilles K, Tillmann B (2010) Anatomie. Springer, Berlin

18 Lymphtherapie

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Weiterführende Literatur

Schweiz

Bröker B, Schütt C, Fleischer B (2019) Grundwissen Immunologie, 4. Aufl. Springer Földi M, Földi E (Hrsg) (2010) Lehrbuch Lymphologie für Ärzte, Physiotherapeuten und Masseure/med. Bademeister, 7. Aufl. Urban & Fischer, München Neudecker J, Baumann F (2016) Kraftvoll gegen Ödeme. Physiopraxis 9/16

Für Fachpersonen: Das Lymphödem nach einer Krebsbehandlung. Eine Information der Krebsliga für Fachpersonen. Download: https://shop.krebsliga.ch/files/ kls/webshop/PDFs/deutsch/das-­l ymphodem-­n ach-­ einer-­krebsbehandlung-­011418013111.pdf Für Klienten: Das Lymphödem nach Krebs. Ein Ratgeber der Krebsliga. Download: https://shop.krebsliga.ch/ files/kls/webshop/PDFs/deutsch/das-­lymphoedem-­ nach-­krebs-­011410013111.pdf

Broschüren für Klienten und Angehörige Deutschland Krebs und Lymphödem. Informationen der Frauenselbsthilfe Krebs. Download: https://www.frauenselbsthilfe. de/medien/broschueren-­orientierungshilfen.html

Internetadressen Ausführliche, sehr gut lesbare Informationen aus dem Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums: https://www.krebsinformationsdienst.de/leben/lymphoedem/index.php

19

Pflege Sabrina Heizmann

19.1 Definition

19.2 Pflege in der Onkologie

Eine mögliche Definition der Pflege wurde vom International Council of Nurses erarbeitet:

Auch in der Onkologie finden sich spezialisierte Pflegefachkräfte. Ihre Weiterbildung ist in Europa von Staat zu Staat, in Deutschland von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geregelt (Wecht 2020). Sie sind in unterschiedlichen Funktionen tätig. In der onkologischen Ambulanz sind sie vorwiegend mit der Verabreichung von Chemotherapien beschäftigt. Bis vor wenigen Jahren standen dabei intravenöse Therapien im Vordergrund. Mit dem zunehmenden Einsatz von peroralen tumorwirksamen Medikamenten steht vermehrt die Beratung im Zentrum der pflegerischen Tätigkeit. Dabei geht es oft um das Management unerwünschter Therapiewirkungen wie Haarausfall, Hautveränderungen, Übelkeit u. a. m. Auf einer onkologischen Station betreuen Pflegefachkräfte Patienten, die aufgrund von Komplikationen des Tumors oder der Therapie, beispielsweise einer Infektion oder einer Fraktur, hospitalisiert werden müssen. Die Verabreichung einer medikamentösen Tumortherapie ist für sich allein nur noch selten, etwa bei komplexen, mehrtägigen Infusionstherapien, ein Grund zur Hospitalisation. Die meisten Tumorpatienten werden heute ambulant behandelt. Auch in der Onkologiepflege hat bereits eine weitere Spezialisierung stattgefunden. Beispiele dafür sind:

Pflege umfasst die eigenverantwortliche Versorgung und Betreuung, allein oder in Kooperation mit anderen Berufsangehörigen, von Menschen aller Altersgruppen, von Familien oder Lebensgemeinschaften sowie von Gruppen und sozialen Gemeinschaften, ob krank oder gesund, in allen Lebenssituationen. Pflege schließt die Förderung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten und die Versorgung und Betreuung kranker, behinderter und sterbender Menschen ein.

Weitere Aufgaben für die Pflege finden sich u.  a. in der Forschung, der Bildung und der Politik. Wie in allen Berufen, so hat auch in der Pflege eine weitgehende Spezialisierung eingesetzt. Beispiele dafür sind die Intensivpflege, die Säuglingspflege, aber auch die Stoma- oder die Wundpflege. Die entsprechenden Weiterbildungen und Berufsbezeichnungen variieren von Land zu Land.

Teile dieses Kapitels beruhen auf einem Gespräch, das die Autorin in dankenswerterweise mit Frau Rita Niemeier, Pflegefachkraft in der Winkelwaldklinik in Nordrach, führen konnte. S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland e-mail: [email protected]

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_19

217

S. Heizmann

218

Breast Care Nurse1  Die Breast Care Nurse (BCN) arbeitet in Brustzentren, d. h. in spezialisierten Institutionen für die interdisziplinäre Behandlung von Frauen mit Brustkrebs. Solche Brustzentren werden zunehmend in größeren Kliniken eingerichtet. Zu ihrem Behandlungsteam gehört auch die Breast Care Nurse. Oft übernehmen diese spezialisierten Pflegefachkräfte prä- und postoperative Aufgaben. Im Vordergrund steht nicht nur die körperliche Pflege, sondern vor allem die Begleitung und Unterstützung der Patientinnen während des ganzen Behandlungsprozesses, d.  h. von der Diagnose über den operativen Eingriff bis zur eventuell nötigen medikamentösen oder radiotherapeutischen Zusatzbehandlung. Study Nurse2  Die Study Nurse erfüllt wichtige Aufgaben in der klinischen Krebsforschung: Sie kann bereits bei der Erarbeitung eines Studienprotokolls spezifisch pflegerische Aspekte einbringen. Sie beteiligt sich an der Information der Patienten vor der Aufnahme in eine Studie, betreut teilweise die Patienten während der Studie und ist mitverantwortlich für die Dokumentation der Resultate.

19.3 Pflege in der onkologischen Rehabilitation Die Aufgaben der Pflege in der onkologischen Rehabilitation unterscheiden sich von denen in der onkologischen Ambulanz oder der onkologischen Akutstation. Aber auch hier ist sie wichtig und nimmt bei den Patienten eine besondere Stellung ein. Im Gegensatz zu anderen Disziplinen wie Physio- oder Ergotherapie, zu denen die Patienten meist nur durch einen gesonderten Termin Zugang bekommen, ist die Pflege konstant und direkt erreichbar – auch an Wochenenden und Feiertagen. Deshalb wenden sich viele Patienten mit ihren Fragen und Anliegen zuerst an die PflegefachIn Deutschland auch als „Brustschwester“ bezeichnet. Im deutschen Sprachraum sind auch die Bezeichnungen „Forschungsschwester“ oder „Studienschwester“ üblich, englisch wird häufig die Bezeichnung „Clinical Trial Nurse“ verwendet. 1  2 

kräfte. Ihr Büro bildet die Koordinationsstelle für die Bedürfnisse der Patienten. Neben ganz banalen Angelegenheiten wie dem Ordern eines neuen Kopfkissens oder der Information an den Hausmeister wegen einer defekten Nachttischlampe wenden sich die Patienten auch an die Pflegefachkräfte, wenn sie Fragen bezüglich ihrer onkologischen Erkrankung belasten. Die Pflegefachkräfte bieten Raum zum Gespräch und können z. B. auf Fragen, die sich aus einem Arztgespräch im Nachhinein ergeben, eingehen. Bei verschiedenen Einschränkungen, von denen Patienten berichten, können sie selbst Beratung und Linderung anbieten (z.  B. bei klimakterischen Beschwerden) oder auf andere Disziplinen verweisen und einen Termin vereinbaren (z. B. bei einer emotionalen Krise wird ein Nottermin in der Psychoonkologie vereinbart und der Arzt informiert). Es ist zudem keine Seltenheit, dass die Patienten während des Arztgesprächs Symptome nicht erwähnen, weil sie sie vergessen oder nicht als wichtig erachten. Im Laufe der Rehabilitation entwickelt sich dann oft doch ein Bedürfnis, über diese Probleme zu sprechen. Oft äußern Patienten ihre Fragen und Probleme unverhofft und verschlüsselt, z.  B. während einer pflegerischen Tätigkeit. Pflegefachkräfte haben dann die einzigartige Möglichkeit, diese erstmalig ausgesprochenen Gedanken der Patienten aufzunehmen, zuzuhören und Verständnis für die Sorgen und Anliegen zu zeigen, ohne sofort eine Lösung präsentieren zu müssen (Delbrück 2011). Beispiel

Ein Patient wendet sich an die Pflegefachkraft und beschreibt seine Probleme in der Feinmotorik und Handkraft. Diese seien nicht gravierend. Die Kanne zum Einschenken des Tees müsse er mit beiden Händen halten, und beim Schreiben mit einem Stift verkrampfe die Hand nach kurzer Zeit. Er habe nun im Gespräch mit seinen Mitpatienten mitbekommen, dass dies oft bei einer Polyneuropathie vorkomme. Die Pflegefachkraft nimmt das Anliegen auf, informiert den zuständigen ärztlichen Bereich und vereinbart einen Termin in der Ergotherapie zur weiteren Überprüfung. ◄

19 Pflege

19.3.1 Diagnostik und Dokumentation Eine besonders wichtige Aufgabe erfüllt die Pflege in der Beurteilung und Dokumentation. Neben der routinemäßigen und wiederholten Messung und Dokumentation von Körpergröße und -gewicht, Körpertemperatur, Blutdruck, Pulsfrequenz und anderen Parametern bestehen in der Rehabilitation spezielle wichtige Aufgaben in der initialen Beurteilung – dem Assessment – der Patienten: Ernährungsstatus  Häufig besteht bei Beginn der Rehabilitation als Folge der Krankheit und/ oder der Behandlung eine Mangelernährung. Diese muss routinemäßig bei allen Patienten erfasst werden, damit sie durch ernährungstherapeutische Maßnahmen angegangen werden kann. Zur Erfassung eignet sich der Nutrition Risk Score-2002 (Abschn. 15.5). Psychosoziale Belastung  Alle onkologischen Patienten sind durch die Diagnose sowie die notwendigen Untersuchungen und Therapien nicht nur somatisch, sondern auch psychisch belastet. Hinzu kommen Sorgen um das familiäre Umfeld und die berufliche Zukunft als soziale Belastungsfaktoren. Auch dies muss bei Eintritt routinemäßig beurteilt werden. Nur so können schwere Belastungen erkannt und eine entsprechende Betreuung durch Psychoonkologie und/oder Sozialarbeit frühzeitig eingeleitet werden. Mit dem Distress-Thermometer (Kap.  21) steht den Pflegefachkräften dazu ein einfaches, validiertes Beurteilungsinstrument zur Verfügung. Pflegebedürftigkeit  Der Grad der Selbständigkeit bzw. Pflegebedürftigkeit kann bei Bedarf mit dem Barthel-Index bestimmt werden. Dabei werden zehn „Aktivitäten des täglichen Lebens“ mit einem Punktesystem bewertet. Für Treppensteigen werden z. B. 0, 5 oder 10 Punkte vergeben. Eine Gesamtpunktezahl von 0 Punkten entspricht einer völligen Pflegebedürftigkeit. Der Maximalwert von 100 Punkten spricht für Selbständigkeit, allerdings nur in den untersuchten Aktivitäten.

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Situationsabhängig sind auch Wunden und Stomata zu beurteilen und zu dokumentieren. Sollte sich ein Patient während der Rehabilitation verletzen, z.  B. durch einen Sturz, müssen der Unfallhergang sowie die daraus entstandenen Symptome dokumentiert werden.

19.3.2 Beratung und Schulung Um die Patienten zur Selbstkontrolle nach der Rehabilitation zu animieren, werden sie zur Dokumentation ihrer Gesundheitsdaten angeleitet. Dies kann beispielsweise die Messung von Blutdruck oder Körpergewicht betreffen. Auch das Führen eines Schmerztagebuchs zur Dokumentation der Schmerzintensität und der Schmerzmitteleinnahme kann thematisiert werden. Anleitung, Training und Schulung können in verschiedenen Bereichen stattfinden. Beispiele dafür sind: • Training von Aktivitäten des täglichen Lebens (sich waschen, kleiden, aufstehen, bewegen), • Handhabung und Durchführung von subkutanen Injektionen (z. B. Misteltherapie), • Versorgung des eigenen Stomas (Tracheo­ stoma, Enterostoma, Urostoma), • Wund- und Narbenpflege, • Kontinenztraining, • Hautpflege nach Bestrahlung und bestimmten medikamentösen Tumortherapien, • selbstständige Inhalation und Absaugen bei Tracheostoma, • Selbstkatheterisierung. Im Bereich der Hilfsmittelversorgung leistet die Pflege einen ergänzenden Beitrag. Pflegefachkräfte können den Umgang mit verschiedenen Hilfsmitteln unterstützen, so z. B.: • Umgang mit dem Rollator, • An- und Ausziehen der Kompressionstrümpfe, • Umgang mit der Brustprothese nach Ablatio. Je nach Einrichtung kann die Pflege Vorträge anbieten, in denen den Patienten praktische Tipps vermittelt werden:

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• Hautpflege bei Strahlentherapie, • klimakterische Beschwerden und deren Linderung, • Selbstuntersuchung der weiblichen Brust.

19.3.3 Pflegerische Interventionen – Beispiele Neben der Verabreichung von Infusionen (z.  B. von Chemotherapeutika über das Portsystem) kann die Pflege bei verschiedenen Beschwerden beraten und unterstützen: Klimakterische Beschwerden  Viele Frauen leiden im Klimakterium  – den sog. Wechseljahren – unter Hitzewallungen. Abreibungen mit Salbeitee können dagegen helfen. Dabei wird Salbeitee aufgekocht und der Körper mit dem daraus entstandenen Sud abgerieben. Viele Patientinnen empfinden dies als kühlend und somit als wohltuend. Auch das Trinken von Salbeitee kann die klimakterischen Beschwerden lindern. Statt Tee können auch Salbeidragees eingenommen werden. Hilfreich sind auch Wechsel- oder kalte Güsse, zu denen angeleitet wird. Ebenso wichtig ist es, die Frauen zu beraten. Viele Patienten beobachten, dass sich die klimakterischen Beschwerden durch psychische Belastungen und Stress verschlimmern können. („Wenn ich unter Druck komme, schwitze ich noch mehr“). Ziel der Beratung ist es, dass die Patienten diese Zusammenhänge erkennen und nach geeigneten Lösungen suchen (z.  B.  Atemtechniken, um das Stresslevel kurzfristig zu senken). Beschwerden nach Bestrahlung  Zur Kühlung der Brust während und nach einer Bestrahlung bei Brustkrebs können Kohlblätter, die zuvor in den Kühlschrank gelegt wurden, in den BH ge-

S. Heizmann

legt werden. Auch Quarkwickel können Linderung verschaffen. Dazu wird eine Auflage mit Quark aus dem Kühlschrank für 20 min auf die betroffene Stelle gelegt. Beide Maßnahmen dürfen nur bei intakter Haut durchgeführt werden. Bei nässender oder ulzerierender Haut sind sie kontraindiziert.

19.4 Schnittpunkte zwischen Pflege und Ergotherapie Für viele Klienten sind die Pflegefachkräfte immer präsent, weshalb sie oft Ansprechpartner bei Fragen oder Problemen sind. In Einrichtungen, in denen sowohl Pflegefachkräfte wie Ergotherapeuten beschäftigt sind, ist es daher sehr von Vorteil für die Arbeit des Ergotherapeuten, regelmäßig an den Onkoteambesprechungen aller Behandlungs- und Beratungsdisziplinen teilzunehmen und sich zusätzlich mit der Pflege auszutauschen, um sich aktuelle Informationen über die Klienten einzuholen. Die Pflege erlebt den Klienten im Klinikalltag und leitet ihn bei vielen Tätigkeiten an. Der Klient sucht – gerade im Rehabilitationskontext – gezielt die Pflege auf, um bei Problemen Rat einzuholen. Die Pflegefachkraft sowie die Ergotherapie können dabei Hand in Hand arbeiten bei Themen wie der Narbenpflege, Erlernen von Entspannungstechniken und deren Integration in den Alltag oder auch Beratung im Umgang mit verschiedenen Hilfsmitteln. Berichtet ein Klient von Problemen, die in die Bereiche der Ergotherapie fallen, gibt die Pflege diese Information an die Ergotherapie weiter und vereinbart einen Termin zur Vorstellung des Patienten. Deswegen ist es wichtig, dass die Pflegekräfte über alle Angebote der Ergotherapie Bescheid wissen.

19 Pflege

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Literatur

Internetadressen

Zitierte Literatur

Deutschland

Delbrück H (2011) Rehabilitation. In: Margulies A et al (Hrsg) Onkologische Krankenpflege, 5. Aufl. Springer-­ Verlag, Berlin/Heidelberg Wecht D (2020) Pflegeaus- und Weiterbildung in Europa. Onkologische Pflege 10(1):12–20

KOK Konferenz Onkologischer Kranken- und Kinderkrankenpflege. https://www.kok-­krebsgesellschaft.de

Weiterführende Literatur Schmidt R et al (Hrsg) (2011) Pflege in der Rehabilitation: Medizinische Rehabilitation und Pflegeinterventionen. W. Kohlhammer Verlag

Österreich AHOP Arbeitsgemeinschaft hämatologischer und onkologischer Pflegepersonen in Österreich. www.ahop.at

Schweiz Onkologiepflege Schweiz. https://www.onkologiepflege.ch/

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Physiotherapie Andrea Grob und Sabrina Heizmann

20.1 Definition Die Physiotherapie, wörtlich übersetzt „Behandlung des Körpers“, umfasst aktive und passive Maßnahmen der Bewegungstherapie und der physikalischen Therapie. Ihr Ziel ist es, die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des Körpers zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen, um dem Patienten die größtmögliche körperliche Selbstständigkeit zu erlauben. In allen Bereichen der Medizin profitieren Patienten von Methoden der Physiotherapie: in der Neonatologie spastische Neugeborene, in der Traumatologie Sportler mit Sportverletzungen, in der Neurologie Patienten nach Schlaganfall  – um nur einige wenige Gebiete der Physiotherapie zu nennen. Dieses Kapitel beschränkt sich auf ihre Rolle in der Onkologie.

20.2 Physiotherapie in der Onkologie In der Onkologie beziehen sich die physiotherapeutischen Maßnahmen auf Folgen des Tumors oder der Tumortherapie. Diese sind von Pa-

tient zu Patient verschieden. Die Behandlung erfolgt deshalb unter Berücksichtigung der Symptome und Befunde individuell.

20.2.1 Ziele Ziele der Physiotherapie in der Onkologie sind: • Verbesserung von Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer und ggf. Unterstützung bei der Reduktion der Fatiguesymptomatik, • Behandlung von Mobilitätseinschränkungen nach Operationen oder Bestrahlungen, • Beratung und Übungsbegleitung bei Stuhlund/oder Harninkontinenz, • Lymphödemmanagement und Beratung bei der Kompressionsversorgung (Kap. 18), • dem Patienten als Ansprechpartner zu den Themen Bewegung und Beweglichkeit zur Verfügung zu stehen, • Begleitung des Patienten auf einem Stück seines Weges durch die Therapie, • Ermutigung in Phasen von Ausweglosigkeit und Resignation. Dabei hilft die Dokumentation der Befunde, die dem Patienten seine Fortschritte im Verlauf der Therapie aufzeigt.

A. Grob (*) Karben, Deutschland e-mail: [email protected] S. Heizmann Hofstetten, Deutschland © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_20

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Beispiele

• Bei einer Patientin mit Brustkrebs gilt es z. B., die Einschränkung der Schulterbeweglichkeit auf der operierten Seite zu beheben. • Patientinnen mit gynäkologischen Tumoren des Unterleibs haben nach großen Operationen mit langen Narben eine geschwächte Bauchmuskulatur und Schwierigkeiten mit der aufrechten Haltung, mit der Atmung und ggf. mit Inkontinenz. • Patienten nach Schilddrüsenkarzinomen leiden eventuell unter der sichtbaren Narbe, die die Beweglichkeit der Halswirbelsäule einschränken kann. • Wieder anders verhält es sich bei generalisierten Krebserkrankungen wie Blut- und Lymphdrüsenkrebs: Aufgrund einer allgemeinen Schwäche nach Chemotherapie steht hier die Steigerung von Ausdauer und Kraft im Fokus. ◄

20.2.2 Diagnostik und Dokumentation Die Befundaufnahme erfolgt wie üblich individuell und bezogen auf das Krankheitsbild. Anamnese Begonnen wird zunächst mit einem Gespräch zur Anamnese, das gleichzeitig dazu dient, einen ersten Eindruck vom Gesamtzustand des Patienten und seiner psychischen Verfassung zu gewinnen. Auch kann der Physiotherapeut dadurch einschätzen, wie es um das Körpergefühl des Patienten und die Akzeptanz des veränderten Körperbildes bestellt ist. Bei Patientinnen nach Unterleibsoperationen empfiehlt es sich, im Rahmen der Anamnese behutsam, aber direkt nach Inkontinenzproblemen zu fragen. Beschwerden dieser Art werden nicht unbedingt sofort angegeben und aus Schamgefühl manchmal sogar komplett verschwiegen. Auch Probleme mit Intimität und Sexualität können angesprochen werden (Abschn. 35.5.2).

A. Grob und S. Heizmann

Inspektion Hierbei wird besonders auf folgende Aspekte geachtet: • Körperhaltung mit möglichen Schonhaltungen • Körpersymmetrie • Atmung • Narben werden hinsichtlich ihres Heilungszustandes und Verlaufes beurteilt, um die Belastungsfähigkeit und Auswirkungen auf die Beweglichkeit einzuschätzen. • Muskulatur: Schmerzhafte Bereiche werden palpiert (abgetastet). Die Therapeutin erhält so Informationen über den Zustand der Muskulatur, deren Ursprung, Verlauf und Ansatz, Schmerzen sowie den Spannungszustand der Muskulatur (im Seitenvergleich). Auch die Haut und das Gewebe (Durchblutung, Temperatur, Schwellungszustand) können im Seitenvergleich beurteilt werden. • Aktive und passive Funktion eines betroffenen Gelenkes: Bewegungseinschränkungen im Seitenvergleich? Beweglichkeit Zur Dokumentation der Untersuchung sowie für die spätere Bewertung des Behandlungserfolges wird mit der Neutral-Null-Methode die Gelenkbeweglichkeit gemessen. Im Zusammenhang mit der eingeschränkten Schulterbeweglichkeit der Brustkrebspatientinnen darf der sog. skapulothorakale Gleitweg als Beteiligung des Schulterblattes am Bewegungsvorgang, besonders in die Abduktion (Abspreizen des Armes zur Seite), nicht vergessen werden. Ausdauer Zur Messung der Ausdauerleistungsfähigkeit bietet sich der PWC-Test an (Physical Working Capacity). Die einfache Durchführung dieses stufenförmigen Belastungstests auf einem Fahrradergometer oder dem Laufband erlaubt die Bestimmung der aktuellen Leistungsfähigkeit. Durch die Wiederholung des Tests, z. B. am Ende einer Reha-Maßnahme, werden Fortschritte sichtbar und können dokumentiert werden.

20 Physiotherapie

Kraft und Entspannung Zur Beurteilung der Kraft stehen zwar differenzierte Test für einzelne Muskeln oder ­Muskelgruppen zur Verfügung, jedoch ist es bei allgemeiner Kraftlosigkeit und Schwäche eher angebracht, den Patienten nach bestimmten Aktivitäten zu fragen, die aktuell nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich sind. Dieser Alltagsbezug hilft auch, Ziele für die Therapie festzulegen und verbindlich zu formulieren. Rückschlüsse auf die Entspannungsfähigkeit des Patienten lassen sich manchmal schon während der Befundung ziehen. Meist lassen sich Defizite in diesem Bereich jedoch erst während der Behandlung deutlicher feststellen: Kann sich der Patient auf die Therapie einlassen? Hat er großen Rede- und Erzählbedarf, oder kommt er bei entspannenden Maßnahmen auch einmal zur Ruhe? Kann er dabei lockerlassen und genießen? Diese Beobachtungen sind in den interdisziplinären Besprechungen für die Psychoonkologie und die Ärzte wertvoll. Schmerzen Beschreibt der Patient Schmerzen, werden diese nach Lokalisation, Intensität und in Bezug auf Auftreten bei Aktivität oder Ruhe dokumentiert. Zur Dokumentation der Wirkung von Behandlungsmaßnahmen wird eine numerische oder visuelle Analogskala zur Angabe der Schmerzintensität verwendet (Kap. 34). Zusammenfassung der Befunde Aus allen Beobachtungen, Antworten und Testungen setzt sich nun der Befund zu einem Gesamtbild zusammen. Darin werden abschließend gemeinsam mit dem Patienten konkrete Ziele formuliert und Maßnahmen zu ihrer Erreichung festgelegt.

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und Anleitung zu ihrer jeweiligen Problematik, die sie ggf. in der Einzelbehandlung weiter vertiefen können. Zudem erleben die Patienten in der Gruppe, dass sie mit ihren Beschwerden nicht allein sind. Themen, die in der Physiotherapie in einer Gruppe besprochen und angeleitet werden können, sind vielseitig. Beispiele hierfür sind: • • • • •

Kraft- und Bewegungstherapie, Beckenbodentraining, Umgang mit einem Lymphödem, Rückenschule, Narbenpflege.

20.2.4 Behandlung Mobilisation bei eingeschränkter Beweglichkeit Nach größeren Tumoroperationen ist häufig die Beweglichkeit in einzelnen Gelenken eingeschränkt, beispielsweise Bewegungen im Schultergelenk (Flexion/Anteversion und Abduktion) nach Brustamputation. Die Physiotherapie hilft mit gezielten Übungen, vor allem Dehnungsübungen, und evtl. mit Manueller Therapie (MT), die volle Beweglichkeit wiederherzustellen. Physiotherapie kann allerdings kontraproduktiv sein, wenn dadurch die Schmerzen verstärkt werden. Anstelle von Mobilisationsübungen werden die Therapeuten dann entzündungshemmende, schmerzlindernde und muskellockernde Behandlungen durchführen.

20.2.3 Beratung und Schulung

Bewegungs- und Sporttherapie Bewegungs- und Sporttherapie ist ein spezielles Gebiet der Physiotherapie (Kap. 23). Sie stärkt nicht nur die Muskulatur und den Kreislauf, sie unterstützt unter anderem auch das Immunsystem, hilft den Patienten, das verlorene Vertrauen in den eigenen Körper wiederzuerlangen, und verbessert ihre Lebensqualität.

Einige Themen der Physiotherapie lassen sich gut in einem Gruppensetting schulen. Die Patienten bekommen dabei umfassende Informationen

Idealerweise beginnt die Bewegungs- und Sporttherapie nicht erst während der Rehabilitation, sondern als Prähabilitation bereits

A. Grob und S. Heizmann

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vor dem operativen Eingriff im Akutkrankenhaus bzw. bereits während der Chemo- oder Radiotherapie in der Tumorambulanz (Abschn. 14.5). Es konnte gezeigt werden, dass Patienten, die während einer Chemotherapie eine Bewegungstherapie durchführten, die Tumortherapie besser tolerierten und früher an ihren Arbeitsplatz zurückkehren konnten (Helbrich et al. 2019). cc Bewegungs- und Sporttherapie spielt in der Onkologie eine zunehmend wichtige Rolle. Dem Thema ist deshalb ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 23). Entspannungstechniken Elemente aus der Entspannungstherapie runden die physiotherapeutische Behandlung ab. Sie dienen der Förderung der Körperwahrnehmung, dem Entwickeln eines positiven Gespürs für den veränderten Körper sowie der Tonusregulation der Muskulatur. Beckenbodentraining Das Beckenbodentraining beginnt mit der Vermittlung anatomischer und funktioneller Grundlagen. Viele Betroffene können sich weder vorstellen, wo genau sich ihr Beckenboden befindet, noch wie sie ihn differenziert anspannen können. Es braucht viel Übung und Erfahrung, bis dies sicher gelingt. In schweren Fällen der Inkontinenz können Elektrotherapiegeräte zur Unterstützung eingesetzt werden. Psychologische Aspekte Emotionale und belastende Themen sind bei manchen Patienten nur unterschwellig wahrnehmbar. Von anderen Patienten werden sie dagegen offen thematisiert. Bei diesen besteht großer Gesprächsbedarf, dem in der Therapie nicht angemessen begegnet werden kann. Dann ist evtl. psychoonkologische Unterstützung empfehlenswert. Gerade im Zusammenhang mit Erkrankungen, die sensible Bereiche des Körpers betreffen (z. B. Brust oder Intimbereich) und deren Therapie mit einschneidenden Änderungen des Körperbildes einhergeht, muss in der Physiotherapie vorsichtig und behutsam vorgegangen werden.

Sich ausziehen zu müssen oder angefasst zu werden ist für viele Patienten unangenehm. Das unkontrollierbare starke Schwitzen aufgrund einer Hormontherapie wird von Patientinnen oft als peinlich empfunden. Das Berühren noch tauber oder kribbelnder Körperabschnitte in der Nähe von Narben wird als sehr unangenehm empfunden. Eine Narbenbehandlung nach Ablatio (Brustentfernung) kann heftige emotionale Reaktionen der Patientin auslösen. cc Es ist deshalb wichtig, nötige Behandlungs­ schritte im Voraus verständlich zu erklären, dann nachzufragen und bei Schwierigkeiten zu besprechen, was die Patientin in einem solchen sensiblen Bereich akzeptieren kann. Neben der Psyche und dem emotionalen Bedarf des Patienten ist vom Therapeuten auch auf die eigenen psychischen Reserven zu achten (Kap. 25).

20.3 Schnittpunkte zwischen Physio- und Ergotherapie Äußerst wichtig ist eine genaue Absprache zwischen diesen beiden Disziplinen, um auf alle Beschwerden des Klienten eingehen zu können und keine zu vernachlässigen. Überschneidungen sind möglich, z. B. im Bereich von Bewegungseinschränkung der Gelenke, von Narbenbehandlung und Hilfsmittelversorgung (z. B. bei Lymphödem). Beide können sich verschiedene Schwerpunktziele des Klienten aufteilen oder ihre Therapien aufeinander aufbauen. Beispiel

Eine Klientin mit einem Brustkrebs rechts zeigt nach Operation und Bestrahlung ein Lymphödem am rechten Arm sowie an der Thoraxwand. Zudem besteht im Schultergelenk rechts eine Bewegungseinschränkung in Flexion und Abduktion. Die Klientin leidet zudem an kognitiver Dysfunktion und Beschwerden aufgrund einer CIPN. Sie ist selbst-

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ständige Malerin und möchte baldmöglichst wieder in ihren Beruf zurückkehren. Die Physio- und Ergotherapie teilen die verschiedenen Schwerpunkte untereinander auf. Die Physiotherapie arbeitet an einer alltagsrelevanten Erweiterung der Bewegungen im Schultergelenk (wichtig für die Klientin zur Ausübung des Berufs, da sie Wände streichen und über Kopf arbeiten muss). Diese werden mit Eigenübungen zur Unterstützung des Lymphabflusses kombiniert. Die Ergotherapie widmet sich den polyneuropathischen Beschwerden sowie der kognitiven Dysfunktion. ◄

Literatur Zitierte Literatur Helbrich H et al (2019) Körperliche Bewegung von Brustkrebspatientinnen während der Chemotherapie. Gynäkologe 52:69–80. https://doi.org/10.1007/ s00129-­018-­4375-­5

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Weiterführende Literatur Baumann FT et al (2019) (Hrsg.) Bewegungstherapie in der onkologischen Prähabilitation. De Gruyter Martin M (2016) Mitspieler aktivieren – Behandlung bei Belastungsinkontinenz. Physiopraxis 10(16):44 Zopf EM et  al (2014) Körperliche Aktivität und körperliches Training in der Rehabilitation einer Krebserkrankung. Die Rehabilitation 53:2–7

Broschüren für Klienten und Angehörige Patientenfaltblatt Physiotherapie nach einer Brustkrebs­ operation. Physio-Deutschland, Bestellung unter folgender Internetadresse: https://www.physio-­ deutschland.de/fachkreise/materialbestellung.html Sport, Bewegung und Krebs. Ein Ratgeber für mehr Sport im Leben – auch mit oder nach Krebs! Krebsverband Baden-Württemberg e.V.  Download: https://www. krebsverband-bw.de/produkt/sport-bewegung-undkrebs/

Psychoonkologie

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Ulrike Heckl

21.1 Was ist Psychoonkologie? Die Psychoonkologie, oft auch „Psychosoziale Onkologie“ genannt, ist ein eigenes Arbeitsgebiet in der Onkologie, in das Inhalte aus den Fachbereichen Medizin, Psychologie, Soziologie, praktische Philosophie, Ethik und Theologie sowie Pädagogik mit einfließen. Sie befasst sich mit dem Erleben und Verhalten onkologischer Klienten wie auch mit ihren Ressourcen im Zusammenhang mit Diagnosestellung und Behandlung und den hiermit verbundenen Problemstellungen. Dabei richtet sich der Blick nicht nur auf die von der Erkrankung direkt betroffenen Klienten, sondern auch auf deren Angehörige und das soziale Umfeld.

21.2 Bedeutung in der Onkologie Die Arbeitsgebiete der Psychoonkologie sind vielfältig. So ist es ihre Aufgabe, die Bedeutung von psychologischen und sozialen Faktoren für die Entstehung, Prävention, Früherkennung, Diagnostik, Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge wissenschaftlich zu untersuchen und in der Folge die gewonnenen Erkenntnisse in diesen Situationen in konkrete Unterstützungs- und Behandlungsangebote umzusetzen. Dabei zeichnet sich die U. Heckl (*) PPPO, Praxengemeinschaft für Psychotherapie & Psychoonkologie, Freiburg, Deutschland e-mail: [email protected]

Psychoonkologie durch eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen aus. In der psychoonkologischen Versorgung von Klienten arbeiten Ärzte unterschiedlicher Fachgebiete, Psychologische Psychotherapeuten, Pflegende, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, Kunsttherapeuten, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Seelsorger der verschiedenen Religionsgemeinschaften zusammen. Ziel des psychoonkologischen Arbeitens ist es, psychische und soziale Probleme wie auch Funktionsstörungen, die sich im Verlauf der Krebserkrankung zeigen, zu verbessern. Dabei steht die Unterstützung der Klienten bei ihrer Krankheitsverarbeitung im Vordergrund. Damit kann ihnen mehr Teilhabe ermöglicht und ihre Lebensqualität wie auch die ihrer Angehörigen verbessert werden (AWMF 2023). Zur psychoonkologischen Versorgung gehört darüber hinaus auch die Betreuung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase bis hin zur Sterbebegleitung.

21.3 Häufigkeit von psychischen Belastungen in Verbindung mit der Diagnose Krebs Unter sog. subsyndromalen psychischen Belastungen leiden 59  % der Krebsklienten. Man versteht darunter eine allgemeine hohe psychische Belastung, die unter dem Begriff „Disstress“

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_21

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in der Literatur beschrieben wird, eine Belastung, die aber noch unterhalb des Cut-off-Wertes von diagnostischen Kriterien nach ICD-10 oder DSM-5 angesiedelt ist. Dazu zählen starke Ängste mit 48 % und insbesondre Rezidiv- oder Progredienzängste, unter denen 32 % der onkologischen Klienten leiden, wie auch Depressivität und Niedergeschlagenheit mit 58 %. Epidemiologische Studien zur Prävalenz cc  psychischer Komorbidität zeigen, dass durchschnittlich ein Drittel der Krebsklienten an einer psychischen Störung wie einer affektiven Störung, einer Angststörungen oder einer Anpassungsstörung leiden (AWMF 2023).

21.4 Mögliche Symptome Klienten sind im Laufe ihrer Erkrankung mit körperlichen wie auch seelischen Symptomen konfrontiert. Die körperlichen Symptome sind natürlich sehr von der Besonderheit des Tumorgeschehens und den therapeutischen Eingriffen abhängig. Die Symptome können auf körperlicher sowie auch auf psychischer Ebene die Klienten belasten. Symptome auf körperlicher Ebene • • • • • •

Körperliche Schwäche Fatigue Schmerzen Schlafstörungen Kognitive Probleme Gewichtsprobleme

Nicht zu unterschätzen sind soziale und ökonomische Probleme, die auf die Befindlichkeit Einfluss nehmen können (Herschbach und Heussner 2008).

21.5 Diagnostik In der Onkologie stellt die Überlappung von körperlichen und psychischen Symptomen mit krankheits- und therapiebedingten Symptomen im Rahmen der Differenzialdiagnose eine Besonderheit dar. cc Zielsetzung ist das frühzeitige Erkennen psychischer, sozialer und familiärer Belastungen. Hierfür kann und sollte möglichst frühzeitig ein Screeningfragebogen eingesetzt werden. Standardisierte und validierte Screeninginstrumente sind z.  B. die HADS-D (Hospital Anxiety and Depression Scale) oder das Distress-­ Thermometer Distress-Thermometer Das Distress-Thermometer wurde vom National Comprehensive Cancer Network (NCCN) in den USA entwickelt, um psychisch belasteten onkologischen Klienten frühzeitig eine adäquate psychosoziale Versorgung anbieten zu können. Es wird national wie auch international häufig eingesetzt.

Symptome auf psychischer Ebene

cc Das Distress-Thermometer ist ein einfach zu handhabendes Screeninginstrument, mit dem das Ausmaß der körperlichen und psychosozialen Belastung sowie die inhaltlichen Problemstellungen eines Klienten gut zu erfassen sind. Es kann auch von Ergotherapeuten angewandt werden.

• • • • • •

Das Distress-Thermometer ist für die Klienten nicht stigmatisierend, kann in allen Behandlungssettings eingesetzt werden und ist gleichzeitig auch leicht auswertbar. Auf den Begriff „Distress“, den man mit „psychosoziale Belastung“ übersetzen kann, verständigte man sich

Depressive Verstimmungen Antriebsarmut Ängste Trauergefühle Hilf- und Hoffnungslosigkeit Sozialer Rückzug

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damals, weil er eine Palette von unangenehmen emotionalen Erfahrungen psychischer, sozialer oder spiritueller Art beinhaltet. Sie reicht von Verletzlichkeit über Verlust- und Trauergefühlen bis hin zu Depressionen, Angst, Panik oder spirituellen Krisen. Das Distress-Thermometer besteht aus einer Skala von 0 bis 10, auf der die Klienten ihre erlebte Belastung innerhalb der vergangenen Woche ankreuzen, und aus einer Problemliste, auf der sie die Problembereiche (allgemein, familiär, emotional, spirituell und körperlich) kennzeichnen. Behandler, die mit onkologischen Klienten arbeiten, können über dieses Screening schnell einen Einblick bekommen, ob und in welchem Ausmaß ein Patient belastet ist. Bei einem Wert von 5 gilt ein Patient als so belastet, dass eine weitere Unterstützung empfohlen wird. Krebspatienten durchlaufen während ihrer Erkrankung die unterschiedlichsten Belastungsphasen in Abhängigkeit der Behandlung und des Krankheitsverlaufs. Vor diesem Hintergrund wird in der S3-Leitlinie zur psychoonkologischen Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten empfohlen, das Screening nicht nur frühestmöglich, sondern wiederholt im Krankheitsverlauf durchzuführen, wenn es klinisch indiziert ist, oder bei Veränderung des Erkrankungsstatus (AWMF 2023). Auch Screeningfragen wie „Wie belastet haben Sie sich in der vergangenen Woche gefühlt?“, „Wie stark fühlten Sie sich in den letzten beiden Wochen durch Nervosität, Ängstlichkeit oder Anspannung beeinträchtigt?“ und „Wie stark fühlten Sie sich in den letzten beiden Wochen durch Niedergeschlagenheit und/oder Depressivität beeinträchtigt?“ tragen zu einer Einschätzung bei (AWMF 2023).

21.6 Behandlungsmaßnahmen Was die körperliche Symptomatik anbetrifft, kann eine frühzeitige Beratung beim Hausarzt oder behandelnden Onkologen hinsichtlich einer Medikation oder einer Modifizierung des Lebensstils sehr sinnvoll sein.

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cc Viele onkologische Klienten brauchen keine Psychotherapie, die auf einen langen Zeitraum angelegt ist. Ihre Probleme resultieren meist aus der unerwarteten Konfrontation mit ihrer Erkrankung. Viel wichtiger ist, dass sie schnell eine psychosoziale oder psychotherapeutische Unterstützung bekommen, um nicht eine Chronifizierung ihrer Beschwerden zu riskieren. Dies kann bei einem ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten sein oder in einer Krebsberatungsstelle.

21.6.1 Allgemeine Maßnahmen Was das psychotherapeutische Arbeiten in der Psychoonkologie betrifft, so hängen die psychotherapeutischen Interventionen sehr von der Erkrankungs- und Behandlungssituation ab wie auch vom Arbeitssetting (Akut- oder Rehabilitationsklinik, ambulante Praxis oder Beratungsstelle). Darum wird speziell in der Einzeltherapie auch keines der klassischen Psychotherapieverfahren (sog. Richtlinienverfahren: Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse) favorisiert, sondern es werden gezielt spezifische Interventionen aus dem vorhandenen Behandlungsrepertoire eingesetzt, die auf die Verbesserung der konkreten Beeinträchtigungen zielen. Eine wichtige Prämisse des psychoonkologischen Arbeitens ist, nicht aufdeckend zu arbeiten, sondern zu respektieren, dass dem Klienten keine andere Verarbeitungsstrategie, wenn sie auch noch so ungünstig erscheint, zur Verfügung steht, und ihn in dieser Situation zu begleiten. In psychoonkologischen Gruppen stehen in erster Linie die Auswirkungen der Erkrankung und deren Bewältigung sowie die supportive Unterstützung im Mittelpunkt. In dem breiten ­ Spektrum verschiedener Gruppenangebote lassen sich zwei wesentliche konzeptionelle Ansätze unterscheiden, nämlich die supportiv-­ expressive Gruppentherapie nach Spiegel (Spie-

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gel et al. 1981) und mehr edukativ ausgerichtete Gruppeninterventionen, die ihren Ursprung in den Arbeiten von Fawzy und Fawzy (1998) haben. Supportiv-expressive Gruppentherapie  Die supportiv-expressive Gruppentherapie ist stärker tiefenpsychologisch ausgerichtet und zeichnet sich durch eine offene Struktur aus mit Fokussierung auf psychodynamische Aspekte. Das offene und ehrliche Ansprechen und Ausdrücken von Gedanken und Gefühlen ist ein wichtiger Grundsatz dieses Ansatzes. Die jeweiligen Sitzungsinhalte entstehen im therapeutischen Gruppenprozess. Dabei ist die Intervention auf eine Dauer bis zu einem Jahr angelegt und ermöglicht so intensive persönliche Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern (Reuter 2015). Psychoedukative Programme  Synonym: Klientenschulungen. Diese sind interaktiv und klientenzentriert konzipiert. Jede Sitzung steht i. d. R. unter einem thematischen Schwerpunkt und ist strukturiert aufgebaut. Eingesetzt werden neben kurzen Vorträgen aktivierende Methoden wie Diskussionen, Kleingruppenarbeit und Rollenspiele. Es kommen Arbeitspapiere, Tagebücher, Fragebögen, Videos, kreative Techniken oder Imaginationsübungen zum Einsatz, um sich mit den vorgegebenen Themen aktiv zu auseinanderzusetzen. Zielsetzungen dieser Programme sind neben der psychischen Unterstützung und dem emotionalen Austausch unter Gleichbetroffenen die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen bezogen auf Krankheit, Behandlung, Gesundheitsverhalten und Lebensstil. Dabei steht die Förderung aktiver Verarbeitungsstrategien und Fertigkeiten im Vordergrund, um die Krankheitsverarbeitung zu verbessern und insgesamt mehr Kontrolle gegenüber der Erkrankung zu gewinnen (Faller 2016; Weis et al. 2018).

21.6.2 Spezifische Maßnahmen Umgang mit Fatigue Beispiel

„Ich bin einfach nicht mehr so belastbar und ziemlich oft müde. Gestern war ich zu einem Geburtstagskaffee eingeladen; vielleicht zwei Stunden war ich dort. Da war ich komplett erschöpft und musste mich ins Bett legen“ – dies ist eine typische Schilderung einer Klientin. ◄ Fatigue ist eines der häufigsten Folgeprobleme einer Krebserkrankung bzw. Behandlung. Man muss sich Fatigue als „eine in Ausprägung und Charakteristik ungewöhnliche Form der Müdigkeit“ vorstellen, „die mit einem subjektiv empfundenen Mangel an Energie und Antrieb einhergeht, nicht mit körperlicher oder geistiger Aktivität in Verbindung steht und nicht durch Schlaf oder Ausruhen zu beheben ist“ (NCCN 2017). Die häufigsten Symptome sind: • • • • •

Schlafstörungen, reduzierte Leistungsfähigkeit, Antriebs- und Interesselosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis.

Fatigue beeinträchtigt in hohem Maße cc  Lebensqualität, Alltagsaktivitäten und soziale Rollenfunktionen, und darum sind nicht nur die Klienten selbst, sondern auch ihr soziales Umfeld mit betroffen. Trotz intensiver Forschung hat man bisher noch keine zufriedenstellende Erklärung für diesen Erschöpfungszustand gefunden. Es ist ein multifaktorielles Phänomen, zu dem viele Ursachen beitragen, die oft gleichzeitig nebeneinander wirksam sind (unmittelbare Folgen des Tumors

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selbst, Krebstherapien, körperliche und/oder psychische Begleiterkrankungen). Einen besonderen Stellenwert nimmt die cc  differentialdiagnostische Abgrenzung der Fatigue von der Depression ein.

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Umgang mit Ängsten und Befürchtungen In Zusammenhang mit einer onkologischen Erkrankung treten von der Diagnosevermittlung an über den gesamten Krankheitsverlauf und sehr häufig auch noch nach Beendigung der Therapie vor allem Ängste, Befürchtungen und große Verunsicherung hinsichtlich der weiteren ­Zukunftsplanung auf. Insbesondere Progredienz­ angst gehört zu den größten psychischen Belastungen von Krebsklienten.

Sie fällt häufig schwer und unterliegt fließenden Übergängen. Wird eine Erschöpfung als körperliche Schwäche erlebt, spricht dies eher für ein Fatiguesyndrom. Eine Depression zeichnet sich dagegen durch ausgeprägte Antriebslosig- cc Anders als bei den klassischen Angststörungen keit, fehlende Motivation, depressiv-­ handelt es sich hier nicht um eine irrationale dysfunktionale Gedankengänge (exzessives Grüunangemessene Angst, sondern um eine beln), schuldhafte Verarbeitung und normale reaktive, bewusst wahrgenommene u. U. Suizidalität aus. Furcht, die aus der realen Erfahrung mit einer Zu den unterstützenden Maßnahmen, die helpotenziell lebensbedrohlichen Erkrankung und fen können, im Alltag mit der Fatigue besser umihrer Behandlung entsteht. Sie ist also Ausdruck zugehen, gehören: einer realistischen Auseinandersetzung mit der Lebenssituation. • Sport/Bewegung: mehrmals wöchentlich Ausdauer- und Krafttraining, Außerdem fürchten Krebsklienten die häufi• Psychoedukation und kognitive Verhaltens- gen Kontrolluntersuchungen, haben Angst vor therapie: Beratung und Information über Fa- den oft sehr invasiven Therapiemaßnahmen, vor tigue, Identifikation adaptiver und maladapti- Schmerzen oder anderen therapiebedingten ver Einstellungen, Abbau von Ängsten, Um- körperlichen Beeinträchtigungen und vor den gang mit Stress, Behandlung von Nebenwirkungen der Medikamente. Hinzu Schlafstörungen, Förderung aktiver problem- kommen die Sorge um die Familie sowie die zentrierter Verarbeitungsstrategien, Erlernen Befürchtung, ihre Autonomie zu verlieren und von Kontrollmöglichkeiten, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein (Hersch• Aktivitäts- und Energiemanagement: Ein- bach und Dinkel 2016). teilen von Kräften, Aufgabenplanung, EinDie kognitive Verhaltenstherapie bietet eine legen von Pausen und Ruhephasen, energie- Reihe von konkreten Interventionen, um diese dyserhaltende, arbeitserleichternde Maßnahmen, funktionale Angst zu behandeln. Tragende Tagestrukturierung, Delegierung von Pflich- Therapieelemente sind dabei die Selbstbeobachtung ten und Aufgaben, und Wahrnehmung der eigenen Ängste und ihre • Aktivitäten zur Gesundheitsförderung, Differenzierung. Dazu gilt es, sich mit ihnen zu • Meditation/Entspannungsverfahren: z. B. pro- konfrontieren, sie neu zu bewerten, um daraus Vergressive Muskelentspannung nach Jacobson, haltensänderung und Lösungen zu erarbeiten Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen (Waadt et al. 2011). Auch der sog. Gedankenstopp, (Rüffer 2016). eine verhaltenstherapeutische Technik, kann Klienten dabei helfen, überbordende Ängste und decc In Kap. 33 wird das wichtige Thema Fatigue pressive Gedanken zu unterbrechen, um mittels aus ergotherapeutischer Sicht ausführlich Selbstinstruktionen die Aufmerksamkeit auf konstbehandelt. ruktive oder ablenkende Aktivitäten zu richten.

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Umgang mit Stress „Stress“ ist ein umgangssprachlich viel benutzter, aber wenig differenzierter Begriff, der von vielen onkologischen Klienten angeführt wird, wenn sie sich damit beschäftigen, eine Ursache für die eigene Krebserkrankung zu finden. Stress ist ein komplexes physiologisches und psychologisches Geschehen, das ineinandergreift und gleichzeitig aber auch höchst individuell verläuft. Krebsklienten kostet zusätzlich das Stresserleben durch ihre Behandlung viel Kraft, zumal, wenn sie über einen langen Zeitraum verläuft, was zur Folge haben kann, dass sie über weniger Energie zu ihrer Krankheitsbewältigung verfügen, was wiederum ihre Lebensqualität beeinträchtigen kann.

hervorgerufen werden. Klientinnen erleben eine Mastektomie, Hysterektomie oder Vulvektomie sehr oft als eine ausgeprägte Störung ihrer körperlichen Integrität. Amputationen der Extremitäten oder auch eine Stomaanlage können ebenfalls die Wahrnehmung des eigenen Körpers sehr beeinträchtigen. Die Klienten sind gefordert, sich mit ihrem Selbstbild auseinanderzusetzen, und brauchen dabei Unterstützung. Neben einem ­intakten zugewandten sozialen Umfeld sind es die Behandler aus der Pflege, der Physio- und Ergotherapie wie auch Psychotherapeuten, die dazu beitragen können, die Akzeptanz der Erkrankung und ihrer Auswirkungen zu verbessern.

Auch in wissenschaftlichen Untersuchungen werden unterschiedliche Stressdefinitionen und Messgrößen verwendet: z. B. kritische Lebensereignisse, Alltagsbelastungen oder chronische Belastungen. Bislang liegen noch wenige Studien nach modernen wissenschaftlichen Kriterien zum Thema Stress und Krebsrisiko vor. So konnte z.  B. eine große Untersuchung, bei der auf die Daten des dänischen Gesundheitsregisters zurückgegriffen wurde, keinen Zusammenhang zwischen Krebs und besonders belastenden Lebensereignissen finden (Gradus et  al. 2015). Genauso scheint belastend wahrgenommener Alltagsstress das Brustkrebsrisiko nicht zu erhöhen, genauso wenig wie belastende Lebensereignisse (Nielsen und Grønbæk 2006). So kann man das Fazit ziehen, dass  – auch wenn stresshafte Lebensereignisse die Immunfunktion unterdrücken – eine kausale Beziehung zwischen Stress und der Entstehung einer Krebserkrankung nach wie vor ungeklärt ist. Indirekt jedoch kann Stress durchaus zur Krebsentstehung beitragen. Belastete Menschen verhalten sich gesundheitsschädigend. Sie rauchen mehr und trinken mehr Alkohol, ernähren sich ungesund und setzen sich damit bekannten Risikofaktoren für eine Krebserkrankung aus.

Entspannungsverfahren Entspannungsverfahren sind ein gutes Instrument zum Abbau von emotionalen Spannungen und damit ein Instrument zum Selbstmanagement, d. h. die Kontrolle über das eigene Befinden auszuüben. Zu den wissenschaftlich überprüften Entspannungsverfahren gehören das Autogene Training und die Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen.

Umgang mit der Körperwahrnehmung Störungen der Körperwahrnehmung können durch Operationen oder auch andere Eingriffe

• Bei der Progressiven Muskelentspannung wird durch bewusstes und sukzessives Anund Entspannen von Muskelpartien eine Lockerung des gesamten Körpers erreicht. Insbesondere zur Minderung von Schlafstörungen und zur positiven Einflussnahme auf Angstzustände wird diese Technik häufig eingesetzt. • Das Autogene Training dagegen basiert auf Autosuggestionen, die im Fokus haben, wie sich ein entspannter Körper anfühlt. Durch die Konzentration auf diese Suggestionen und bei einiger Übung stellt sich das vegetative Nervensystem, um und es werden diese Empfindungen der Ruhe empfunden. Manche Krebsklienten machen die Erfahrung, dass sie mithilfe des Trainings die Nebenwirkungen der Chemotherapie besser vertragen, weniger Schmerzen haben und auch Ängste gelindert werden.

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Imaginative Verfahren Bei Visualisierungsübungen stellen sich Klienten auf der Basis von Instruktionen zu einer körperlichen Entspannung angenehme Bilder vor, die positive Gefühle wecken. So ein Bild kann beispielsweise ein Ort sein, an dem man sich wohlfühlt. Mithilfe der Vorstellungskraft werden die Einzelheiten dieses Orts vor das innere Auge geholt und Farben, Gerüche oder Geräusche wahrgenommen. Die Vergegenwärtigung führt zu körperlichen und seelischen Reaktionen und kann sich positiv auf Atmung, Puls und Blutdruck auswirken.

21.7 Schnittpunkte zwischen Physioonkologie und Ergotherapie Onkologische Klienten sind sehr häufig hoch belastet aufgrund ihrer körperlichen Beschwerden, die sie einschränken und massiv ihre Lebensqualität beeinträchtigen. Diese Beschwerden können durch aktive Maßnahmen in der ergotherapeutischen Behandlung gelindert und die Einschränkung im Alltag psychologisch unterstützt werden. Ein Tätigkeitsfeld, in dem die Ergotherapeuten ebenfalls eine wichtige Rolle im psychoonkologischen Arbeiten innehaben, ist das neuropsychologische Training mit Klienten, die krankheitsbedingt oder auch therapiebedingt ausgeprägte ­ kognitive Defizite haben, wie Gedächtnis-, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Diese Neben- oder Folgestörungen, die unter Umständen auch lebenslang anhalten können, werden auch als Chemobrain bezeichnet. Hier kann Hirnleistungstraining zu einer Verbesserung der neuropsychologischen Defizite und Einschränkungen beitragen (Kap. 29). Im Bereich Hirnleistungstraining ist auch Stress ein Thema, das von Ergotherapeuten und Psychologen auf unterschiedlichen Ebenen angegangen werden kann. Beide Berufsgruppen können wertvolle Hilfen im Umgang mit Fatigue anbieten (Kap. 33). Auch das Thema Tagesstrukturierung kann von beiden Berufsgruppen ergänzend unterstützt werden.

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Beispiel

Ein Klient hat für sich erkannt, dass kleine Auszeiten im Alltag gut für ihn wären. Er kann sich vorstellen, diese „Inseln“ durch eine Entspannungsmaßnahme zu schaffen. Zusammen mit der Psychoonkologin kann die richtige Methode (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung o.  ä.) für den Klienten gefunden und eingeübt werden. Die Ergotherapie kann unterstützen, indem sie den Alltag mit dem Klienten bespricht und damit verbunden Möglichkeiten sucht, wann er diese Methoden in verschiedenen Formen (z. B. auch in Kurzform) anwenden kann: •



 u bestimmten Uhrzeiten: Der Klient beZ merkt immer zwischen 10 und 11 Uhr auf der Arbeit, dass er in ein konzentratives Loch fällt. Um sich wieder zu fokussieren, wäre eine Auszeit angebracht. In Stresssituationen: Der Klient be schreibt, dass es ihn stark unter Druck setzt, wenn sein Vorgesetzter ihn zum Gespräch bittet. Hier bietet sich eine „Auszeit“ vor dem Gespräch an. Dabei muss dem Klienten jedoch gesagt werden, dass die Anwendung in oder vor solchen Situationen Übung erfordert.

Zudem gilt es, Erinnerungshilfen zu schaffen, damit der Klient in den entsprechenden Situationen auch an die Entspannungsmöglichkeiten denkt. Dies könnte ein Wecker sein, ein Notizzettel oder eine Postkarte mit einem für den Klienten motivierenden oder inspirierenden Spruch. ◄

Literatur Zitierte Literatur AWMF, DKG, DKH (2023) S3 Leitlinie Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatient*innen. AWMF Registernummer 032-051OL. https://register.awmf.org/de/ start. Zugriff 8.7.2023

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236 Faller H (2016) Psychoedukation. In: Mehnert A, Koch U (Hrsg) Handbuch Psychoonkologie. Hogrefe, Göttingen, S 529–535 Fawzy F, Fawzy N (1998) Group therapy in the cancer setting. J Psychosom Res 45:191–200 Gradus JL et al. (2015) Posttraumatic stress disorder and cancer risk: a nationwide cohort study. Eur J Epidemiol 30:32. https://doi.org/10.1007/s10654-­015-­ 0032-­7. Zugriff 8.7.2023 Herschbach P, Dinkel A (2016) Psychologische Interventionen bei Progredienzangst. In: A Mehnert, U Koch (Hrsg) Handbuch Psychoonkologie, S 618–624 Herschbach P, Heussner P (2008) Einführung in die psychoonkologische Behandlungspraxis. Klett-Cotta, Stuttgart NCCN (2023) NCCN clinical practice guidelines in oncology (NCCN guidelines) cancer-related fatigue, Version 2.2023. NCCN.org. Zugriff 8.7.2023 Nielsen NR, Grønbæk M (2006) Stress and breast cancer: a systematic update on the current knowledge. Nat Clin Pract Oncol 3:612–620. https://doi.org/10.1038/ ncponc0652. Zugriff 8.7.2023 Reuter K (2015) Psychische Belastungen bei Krebserkrankungen: Gruppentherapie nach dem supportiv-­ expressiven Ansatz (Praxis der psychodynamischen Psychotherapie  – tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie). Hogrefe, Göttingen Rüffer JU (2016) Fatigue – das tumorassoziierte Erschöpfungssyndrom. In: A Mehnert, U Koch (Hrsg) Handbuch Psychoonkologie, S 316–326 Spiegel D, Bloom JR, Yalom I (1981) Group support for patients with metastatic cancer. A randomized outcome study. Arch Gen Psychiatry 38:527–533

Waadt S, Duran G, Berg P, Herschbach P (2011) Progredienzangst. Manual zur Behandlung von Zukunftsängsten bei chronisch Kranken. Schattauer, Stuttgart Weis J, Heckl U, Brocai D, Seuthe-Witz S (2018) Psychoedukation mit Krebspatienten. Therapiemanual für eine strukturierte Gruppenintervention. Schattauer, Stuttgart

Weiterführende Literatur Diegelmann C, Isermann M (2016) Ressourcenorientierte Psychoonkologie. Kohlhammer, Stuttgart Mehnert A, Koch U (Hrsg) (2016) Handbuch Psychoonkologie. Hogrefe, Göttingen

Broschüren für Klienten und Angehörige Psychoonkologie. Psychosoziale Unterstützung für Krebspatienten und Angehörige -Patienten Leitlinie. Leitlinienprogramm Onkologie. Download: https://register.awmf.org/assets/guidelines/032-051OLp_S3_ Psychoonkologie_2018-08.pdf Wenn auch die Seele leidet. Krebs trifft den ganzen Menschen. Ein Ratgeber für Betroffene. Krebsliga Schweiz. Download: https://shop.krebsliga.ch/files/kls/webshop/ PDFs/deutsch/wenn-auch-die-seele-leidet-krebs-trifftden-ganzen-menschen-011022012111.pdf

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Sozialberatung Sabrina Heizmann und Sandra Walter

22.1 Definition Nach Erkrankung, Unfall oder Behinderung benötigen viele Patienten Beratung und Unterstützung bei beruflichen, wirtschaftlichen und sozialrechtlichen Fragen und Problemen. Diese Sozialberatung wird von Sozialarbeitern angeboten.

22.2 Themen der Sozialberatung in der Onkologie Neben den Therapien richtet sich der Blick des Patienten auch auf die Gestaltung seiner Zukunft und die existenzielle Absicherung. Verbunden ist dies mit seinem Wunsch, das Leben wieder so selbstbestimmt wie möglich zu führen. Neben den individuell ausgeprägten Einschränkungen des täglichen Lebens wie Gefährdung der eigenen Versorgung, Unmöglichkeit der selbstständigen Haushaltsführung oder Pflegebedürftigkeit beschäftigt viele Patienten die Frage, wie und ob sie wieder in ihren Beruf zurückkehren können. Der Sozialarbeiter sucht mit dem Patienten Lösungen für diese Fragen. Dabei berücksichtigt er den voraussichtlichen weiteren Verlauf der ErS. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland e-mail: [email protected] S. Walter Freiburg, Deutschland e-mail: [email protected]

krankung. Bei Bedarf bietet er praktische Unterstützung z. B. beim Stellen eines Rentenantrags. Eventuell begleitet er den Patienten auch zu Behörden, falls körperliche, psychische oder kognitive Behinderungen dies nötig machen.

22.2.1 Wirtschaftliche Situation Eine Krebserkrankung stellt für Patienten mit geringerem/mittlerem Einkommen oder Solo-­ Selbstständige häufig eine belastende finanzielle Situation dar. Ein langwieriger Behandlungsverlauf birgt bei Einkommenseinbußen ein Verarmungsrisiko. Beispiel

Frau K. ist 53 Jahre alt, verheiratet und arbeitet als Kassiererin in einem Discounter. Da ihr Mann bereits verrentet ist, ist sie Hauptverdienerin, und das Ehepaar ist auf ihre Einnahmen angewiesen. Aufgrund eines Mammakarzinoms mit langwierigem Behandlungsverlauf war Frau K. krankgeschrieben und erhielt Krankengeld. Frau K. sah in der zeitlichen Beschränkung der Krankengeldzahlung kein Problem, da sie anschließend an den Rehabilitationsaufenthalt wieder als Kassiererin einsteigen wollte. Der ungünstige Reha-­Verlauf führt jedoch dazu, dass Frau K. weiterhin krankgeschrieben wird. Ihr ­Arbeitgeber verweigert einen Wiedereinstieg, da er zunächst eine betriebsärztliche Stellung-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_22

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nahme fordert. Frau K. hatte keine Anträge zur finanziellen Absicherung gestellt und steht am Ende der Reha ohne Einkommen da. Dies ist für Frau K. und ihren Mann eine enorme finanzielle und auch psychische Belastung. ◄ cc Besonders für Erwerbstätige ist es wichtig, sich frühzeitig mit der Frage der finanziellen Absicherung im Krankheitsfall auseinander­ zusetzen. In der Sozialberatung wird mit dem Patienten seine finanzielle Situation erhoben und zu folgenden Themen beraten: • Informationen rund um die Schwerbehinderung/Invalidität und Leistungen zur Teilhabe • Existenzsichernde Leistungen: Lohnfortzahlungen wie z.  B.  Kranken-, Übergangsund Arbeitslosengeld, Grundsicherung und Sozialhilfe

22.2.2 Umschulung/ Wiedereingliederung Sofern sie dazu in der Lage sind, ist die Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit für viele Patienten von zentraler Bedeutung. Dabei verbinden sie mit der Arbeit positive Aspekte wie die finanzielle Sicherung, die Strukturierung des Alltags und die Aufrechterhaltung ihrer persönlichen Identität. Durchschnittlich kehren ca.  60  % der Patienten nach der Behandlung an ihren Arbeitsplatz zurück bzw. nehmen eine neue Arbeit auf (Mehnert 2011). Die Sozialberatung unterstützt die Wiedereingliederung durch • Organisation der Wiederaufnahme der Arbeitstätigkeit, z.  B. durch Belastungserprobung, Wiedereingliederung in bestehende Beschäftigung, Umschulung, • Vermittlung von Kontaktadressen, die bei der beruflichen Wiedereingliederung oder der Umschulung örtliche Hilfestellung leisten können (in Deutschland: Integrationsfachdienst und Fachberater der DRV).

Beispiele

Bei einer Patientin besteht nach Behandlung eines Mammakarzinoms ein Lymphödem Stadium II am rechten Arm. Sie möchte weiterhin als Fleischereifachverkäuferin im Betrieb ihres Mannes arbeiten. Diese Tätigkeit ist  – vor allem wegen des Risikos von Schnittverletzungen  – mit dem Lymphödem nicht vereinbar, aber die Patientin hat den Willen, weiter im Betrieb zu arbeiten. In die Verwaltung möchte sie nicht – sie sieht ihre Stärken in der praktischen Arbeit hinter der Theke. Der Wunsch der Patientin hat Vorrang, jedoch möchte der Sozialarbeiter in Absprache mit dem behandelnden Team ihr die Möglichkeit einer späteren Umschulung offenhalten. Für den Kostenträger beschreibt er daher den Wiedereinstieg in die Tätigkeit als Belastungserprobung. Ein Patient mit kognitiver Dysfunktion beschreibt eine große Angst vor dem Wiedereinstieg in die Arbeit. Als Lokführer müsse er immer voll konzentriert sein. Er möchte unmittelbar nach der stationären Rehabilitation wieder in seinen Beruf einsteigen, hat jedoch Sorge, während der ganzen Dauer einer regulären Schicht durchzuarbeiten. Im interdisziplinären Team wird seine Wiedereingliederung besprochen. Der Patient traut sich zu, 4  h konzentriert zu arbeiten. Der Sozialarbeiter schlägt ihm vor, bei seiner Wiedereingliederung mit 4  h pro Tag zu beginnen und diese Stundenzahl in geregelten Abständen zu erhöhen. Der Patient empfindet diese Lösung als gut und der Sozialarbeiter beantragt mit ihm diese Maßnahme. ◄

22.2.3 Renten und Versicherungen Manche Patienten können aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung nicht mehr in den Beruf zurückkehren. Hier gilt es, den Bedarf von Berentung und den Anspruch auf verschiedene ­Versicherungen zu klären und ggf. Anträge zu stellen, z. B. in Bezug auf

22 Sozialberatung

• verschiedene Formen der Berentung: vorzeitige Altersrente, Erwerbsminderungsrente, • Leistungen der Pflegeversicherung.

22.2.4 Häusliche Versorgung Durch die onkologische Erkrankung oder Begleiterscheinungen der Therapie ist es manchen Patienten nicht mehr möglich, sich selbst zu versorgen. Mit dem Patienten und ggf. Angehörigen sucht und organisiert der Sozialarbeiter eine angemessene vorübergehende oder dauerhafte Versorgung. Mögliche Beratungsthemen: • Informationen und Einleitung z. B. von häuslicher Pflege, Kurz- und Langzeitpflege, Hilfsmittelversorgung, • Unterstützungsangebote im häuslichen Umfeld (z.  B.  Vermittlung von Unterstützungsdiensten oder zu Selbsthilfegruppen), • Beratung zu Betreuungsrecht und Vollmachten, • Informationen über Sozialverbände und deren Leistungsspektrum.

22.3 Sozialberatung im multiprofessionellen Team Der Sozialarbeiter gehört fest zum interdisziplinären Team. Er erhält von den Ärzten Informationen über den Krankheitsverlauf und die Prognose (z. B. kann der Patient nach der Reha wieder in den Beruf zurückkehren?) und kann so rechtzeitig Anträge stellen, um die finanzielle Lage des Patienten zu sichern. Im Austausch mit dem Sozialarbeiter wird das interdisziplinäre Team über wirtschaftliche und berufliche Probleme des Patienten informiert. Dies ermöglicht allen Beteiligten ein besseres, umfassendes Verständnis des Patienten. Finan-

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zielle Schwierigkeiten und damit verbundene Ängste können z.  B. eine Verschlechterung von Symptomen, etwa von Schmerzen, erklären. Alle Disziplinen können auch von Informationen der Sozialberatung zu gesetzlichen Änderungen im Hinblick auf verschiedene Leistungen für die Patienten profitieren.

22.4 Schnittpunkte zwischen Sozialberatung und Ergotherapie Ergotherapeuten ermitteln die Bedürfnisse des Patienten an seinem Arbeitsplatz. Sie stellen fest, welche Hilfsmittel oder Maßnahmen die Partizipation des Patienten erleichtern. Der Sozialarbeiter informiert, welche Leistungen dem Patienten rechtlich zustehen und wie Hilfsmittel und Maßnahmen finanziert und beantragt werden können. Beispiel

Eine Patientin mit beidseitigem Lymphödem Stadium II an den Oberschenkeln nach Behandlung eines Gebärmutterkarzinoms arbeitet in Vollzeit als Sekretärin. In der Ergotherapie werden die Gestaltung der Arbeit (z. B. Integration von Bewegungseinheiten in den Büroalltag) und ergonomische Aspekte besprochen und ausprobiert. Bei der Patientin bietet sich ein Wechselarbeitsplatz an, z.  B. mit einem höhenverstellbaren Schreibtisch. Sie kann sich sehr gut vorstellen, damit zu arbeiten. Der Sozialarbeiter erklärt ihr, dass der Arbeitgeber dafür zuständig ist, für Mitarbeiter einen leidensgerechten Arbeitsplatz einzurichten. Die Patientin hat Sorge, dass ihr die Möbel nicht bewilligt werden. Der Sozialarbeiter organisiert, dass der Integrationsfachdienst eingeschaltet wird und dafür sorgt, dass die Patientin sich durch ein „Nein“ des Arbeitgebers nicht abschrecken lässt. ◄

S. Heizmann und S. Walter

240

Literatur Zitierte Literatur Mehnert A (2011) Rückkehr zur Arbeit bei Patienten mit einer Krebserkrankung. Forum 26:23–26

Weiterführende Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante psychosoziale Krebsberatungsstellen (BAK) e.V., AG „Soziale Arbeit“ (o.J.) Soziale Arbeit in der ambulanten Krebsberatung  – ein wesentlicher Baustein zur bedarfsgerechten sychosozialen Versorgung, Download: https://bak-­ev.org/downloads/Soziale_Arbeit_in_der_ ambulanten_Krebsberatung_BAKWebsite.pdf

Broschüren für Klienten und Angehörige Deutschland Blauer Ratgeber der Deutschen Krebshilfe: Wegweiser zu Sozialleistungen. Download: https://www.krebshilfe.

de/infomaterial/Blaue_Ratgeber/Wegweiser-­z u-­ Sozialleistungen_BlaueRatgeber_DeutscheKrebshilfe.pdf

Schweiz Krebsliga Schweiz: Krebs  – was leisten Sozialversicherungen? Download: https://shop.krebsliga.ch/ files/kls/webshop/PDFs/deutsch/krebs-was-leistensozialversicherungen-011811013111.pdf Krebsliga Schweiz: Zurück in meinen Berufsalltag. Ein Leitfaden der Krebsliga für Betroffene im Arbeitsprozess. Download: https://shop.krebsliga.ch/files/kls/ webshop/PDFs/deutsch/leitfaden-zurueck-in-meinen-berufsalltag-011833102121.pdf

Österreich Österreichische Krebshilfe: Leben mit der Diagnose Krebs. Download: https://www.krebshilfe.net/fileadmin/user_ upload/Dachverband/Brosch%C3%BCren/2020_ Leben_mit_der_Diagnose_Krebs___Web.pdf Österreichische Krebshilfe: Krebs und Beruf. Download: https://www.krebshilfe.net/services/broschueren/seite/3#broschuere-­33

Bewegungs- und Sporttherapie

23

Jean-Marc Lüthi und Thomas Kroner

23.1 Definitionen Bewegungs- und Sporttherapie (auch als Trainingstherapie bezeichnet) sind wichtige Mittel in der Prävention und Behandlung verschiedener Krankheiten. Begriffe und Methoden überschneiden sich zum Teil: Physiotherapie  Beim Begriff „Physiotherapie“ handelt es sich um einen Oberbegriff, der alle aktiven und passiven Therapieformen umfasst. • Zu den aktiven Therapieformen gehört in erster Linie die Bewegungstherapie. Sie wurde früher als „Krankengymnastik“ bezeichnet. • Zu den passiven Therapieformen gehören etwa Massagen, Bäder (Hydrotherapie), die Anwendung von Kälte und Wärme (Thermotherapie) oder die Elektrotherapie. Sie werden zusammengefasst unter dem Begriff Physikalische Therapie. Bewegungstherapie  Dies ist der Sammelbegriff für alle Formen von Bewegung, die bei der Behandlung einer Krankheit zum Einsatz kommen. J.-M. Lüthi (*) Thun, Schweiz e-mail: [email protected] T. Kroner Winterthur, Schweiz

Sporttherapie  Die Sporttherapie ist eine neuere Form der Bewegungstherapie. Sie benutzt Methoden des sportlichen Trainings, unterscheidet sich aber klar vom Leistungssport und kommt vor allem in der Rehabilitation zum Einsatz. Sie wird als Einzel- wie als Gruppentherapie durchgeführt unter Anleitung von Sporttherapeuten sowie von Sportlehrern und Physiotherapeuten mit einer speziellen Weiterbildung in Sporttherapie. Entsprechende Ausund Weiterbildungen werden an Hochschulen angeboten.

23.2 Bewegung und Sport in der Onkologie: Übersicht Verschiedene Faktoren führen bei Krebskranken zu einem Bewegungsmangel: So können etwa der Tumor oder die Behandlung den Patienten schwächen, Schmerzen oder Operationsnarben die Beweglichkeit hemmen, tumorbedingte Fatigue Bewegung oder gar Sport unmöglich erscheinen lassen. Bewegungsmangel führt rasch zu Muskelabbau, verstärkt so die Schwäche und begünstigt dadurch weitere Inaktivität. Abb. 23.1 zeigt schematisch diesen Teufelskreis, der die Bewegungsmöglichkeiten immer weiter einschränkt und schlussendlich zu sozialer Isolation, Vereinsamung und Depression führen kann. Bewegungs- und Sporttherapie unterstützen die Pa-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_23

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J.-M. Lüthi und T. Kroner

242

Bewegungsmangel

Abbau von Strukturen (z. B. Muskelmasse)

Schonung / Rückzugstendenz Soziale Isolation

Rasche Erschöpfung

Verlust an Leistungsfähigkeit

Abb. 23.1  Bewegungsmangel führt zu einem „Teufelskreis“. (Stiftung Deutsche Krebshilfe 2017, mit freundl. Genehmigung)

tienten bei der Überwindung von körperlichen, aber auch von psychischen und sozialen Beeinträchtigungen und helfen so, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Bewegung und Sport spielen in der Onkologie in verschiedenen Situationen eine wichtige Rolle: • Prävention: Bewegung und Sport reduzieren das Risiko, an einem bösartigen Tumor zu ­erkranken, und vermindern nach einer Tumorbehandlung das Risiko eines Rückfalls. • Während der onkologischen Behandlung (in der Prähabilitation) verbessert Bewegung die Verträglichkeit der Therapien (chirurgische Eingriffe, medikamentöse Therapien, Radiotherapie) und beschleunigt die Erholung. • Nach Abschluss der Therapie, in der Rehabilitation, helfen Bewegung und Sport den Patienten, ihre körperlichen, psychischen und sozialen Kompetenzen wiederzuerlangen. Sie führen so zu einer mehrdimensionalen Verbesserung der Lebensqualität.

Verschiedene Formen von Bewegung und Sport Bewegung und Sport kann in verschiedenen Formen ausgeführt und erlebt werden: spontan und individuell oder organisiert, z.  B. in Turn- und Sportvereinen oder in verschiedenen Gruppen (z.  B.  Wander-, Nordic-Walking-, Jogginggruppen), im Rahmen der ambulanten onkologischen Rehabilitation auch in sog. „Rehabilitationssportgruppen“ oder „Krebssportgruppen“ (Abschn. 23.3.2). Nicht zu unterschätzen ist daneben die Bedeutung von Bewegung im Alltag  – als Treppensteigen, Radfahren zum Einkaufen, als Gartenarbeit etc. Hindernisse Der körperlichen Betätigung durch Bewegung und Sport stehen verschiedene Hindernisse im Wege: • Krebsbehandlungen belasten den Organismus. Lange Zeit war man deshalb ärztlicherseits der Meinung, die Patienten dürften neben

23  Bewegungs- und Sporttherapie

der Therapie keinen zusätzlichen körperlichen Belastungen ausgesetzt werden. Heute ist wissenschaftlich gut belegt, dass körperliche Aktivität bei Krebspatienten nicht nur ­ungefährlich ist, sondern im Gegenteil zahlreiche positive Effekte zeigt. Viele Patienten und ihre Angehörigen sind allerdings noch immer der irrtümlichen Meinung, ein Krebs­ patient brauche Ruhe und Schonung, deshalb verzögere körperliche Aktivität die Erholung und fördere das Tumorwachstum. • Viele Patienten leiden während und nach der Behandlung an Energiemangel und einer chronischen Müdigkeit, die sich auch durch Schlaf und Erholung nicht beeinflussen lässt. Dieser Zustand wird als „Fatigue“ bezeichnet (Kap. 33). Betroffene Patienten können sich nicht vorstellen, in diesem Zustand der Erschöpfung und Energielosigkeit sich mehr als unbedingt nötig zu bewegen oder gar Sport zu treiben. • Die meisten Krebspatienten haben als Folge ihrer Erkrankung das Vertrauen in ihren Körper und damit auch einen Teil ihres Selbstvertrauens verloren. • Krebsbehandlungen sind zeitintensiv. Vielen Patienten scheint es unmöglich, neben der Behandlung und dem Haushalt auch noch Zeit für regelmäßige körperliche Aktivitäten zu finden. Es ist deshalb wichtig, Patienten und Angehörige immer wieder über folgende Punkte zu informieren:

Wichtige Aspekte von Sport und Bewegung bei Krebs

• Bewegung und Sport fördern keinesfalls das Tumorwachstum – sie reduzieren im Gegenteil das Risiko eines Rückfalls. • Bewegung und Sport sind die wirksamsten Methoden zur Behandlung der tumorbedingten Fatigue. • Bewegung und Sport erlauben den Patienten, das Vertrauen in ihren Körper wiederzugewinnen. • Regelmäßige körperliche Bewegung lässt sich auch bei zeitlicher Belastung

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in den Alltag integrieren, z.  B. mit Treppensteigen, Spazierengehen oder Radfahren. • Bewegung und Sport verbessern die Lebensqualität von Krebspatienten auf mehreren Ebenen.

Vor allem während der Tumorbehandlung und zu Beginn der Rehabilitation müssen körperliche Aktivitäten durch den Arzt und den Sporttherapeuten dem Zustand des Patienten sorgfältig angepasst werden. Es gibt kein „Standardprogramm“ für Bewegung und Sport bei Krebspatienten: Jeder Patient ist einzigartig mit seinen eigenen körperlichen, seelischen und sozialen Voraussetzungen. Sport- und Bewegungstherapie müssen für cc  jeden Patienten individuell geplant werden.

23.3 Training in der Rehabilitation cc Bewegung und Sport sind wichtige Teile einer modernen, multimodalen onkologischen Rehabilitation.

23.3.1 Vor und während der Tumortherapie Ein relativ neues Konzept in der Onkologie ist die Prähabilitation. Man versteht darunter präventive und rehabilitative Maßnahmen, die vor Beginn und während einer onkologischen Therapie durchgeführt werden (Baumann et al. 2019). Dazu gehören z. B. ernährungstherapeutische Interventionen und Hilfestellung zur Nikotinabstinenz, in erster Linie aber die Bewegungstherapie. Ursprünglich wurde die Prähabilitation vor allem präoperativ eingesetzt, um die Patienten für den Eingriff möglichst fit zu machen. Unterdessen hat sich jedoch gezeigt, dass prähabilitative ­Bewegungstherapie auch vor und während Bestrahlungen und medikamentösen Tumortherapien Nutzen bringt.

J.-M. Lüthi und T. Kroner

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Training in der Prähabilitation bringt vielfältigen Nutzen (Cave et al. 2018): • Es verhindert negative Folgen von Inaktivität, in erster Linie den Abbau von Muskulatur und eine Schwächung des Herz-Kreislauf-Systems. • Es reduziert Nebenwirkungen der Behandlungen. Die unter Chemo- und Radiotherapie häufige Übelkeit und die chronische Müdigkeit (Fatigue) werden positiv beeinflusst. • Es ermöglicht eine schnellere Wiederaufnahme der Arbeit. • Es verbessert die Lebensqualität und reduziert Angst und depressive Verstimmung. Beispiel

Niederländische Forscher (van Waart et  al. 2015) untersuchten die Wirkung von prähabilitativer Bewegungstherapie bei 230 Brustkrebs­ patientinnen unter adjuvanter Chemotherapie (Abschn. 8.4.1). Die Patientinnen wurden randomisiert (durch Los) in eine von drei Gruppen eingeteilt. Gruppe 1 wurde instruiert, zu Hause ein Trainingsprogramm niedriger Intensität durchzuführen. Gruppe  2 führte unter Supervision ein Programm mittlerer bis hoher Intensität durch mit Kraft- und aerobem Bewegungstraining. Gruppe 3 diente als Kontrolle. Die Resultate waren eindeutig: Die Patientinnen der Gruppen 1 und 2 litten im Vergleich zur Kontrollgruppe während der Chemotherapie unter weniger Übelkeit und Erbrechen und zeigten bei Abschluss der Chemotherapie eine bessere körperliche Fitness. Die Patientinnen der Gruppe 2 hatten zudem  – verglichen mit der Kontrollgruppe  – mehr Muskelkraft und litten weniger unter kognitiver Dysfunktion. Sowohl bei Abschluss der Chemotherapie wie 6 Monate danach waren mehr Patientinnen der Gruppen 1 und 2 wieder zurück am Arbeitsplatz und arbeiteten dort mehr Wochenstunden als die Patientinnen der Kontrollgruppe. ◄ Es versteht sich von selbst, dass das Training während der laufenden Tumortherapie besonders sorgfältig geplant und auf die individuelle Situa-

tion abgestimmt wird. Der behandelnde Arzt muss vor Aufnahme des Trainings um seine Empfehlungen gebeten werden, und ein Physio- oder Sporttherapeut sollte die Übungen instruieren und ihre korrekte Ausführung kontrollieren. Während der Tumortherapie muss auf intensive körperliche Belastung verzichtet werden, das Training darf keinesfalls zur Erschöpfung oder anhaltenden Schmerzen führen. Kontraindikationen sind zu beachten: Bei Fieber, verstärkter Blutungsneigung oder starker Anämie sollte körperliche Belastung vermieden werden.

23.3.2 Nach Abschluss der Tumortherapie 23.3.2.1 Indikation Nach Abschluss der Tumortherapie wird die Rehabilitation  – ambulant oder stationär  – systematisch geplant (Kap.  14). Bewegungs- und Sporttherapie sollte ein integrativer Bestandteil des Programms sein. Die Indikation dazu ist sehr großzügig zu stellen – auf jeden Fall sollten die Patienten aber bei dieser Gelegenheit auf die Bedeutung von Bewegung und Sport hingewiesen werden. 23.3.2.2 Ziele

Ziele der Bewegungs- und Sporttherapie nach Abschluss der Tumortherapie

Für den Körper: • Stärkung der Muskulatur und des Kreislaufs • Wiedererlangen der Beweglichkeit • Stärkung des Immunsystems • Verhütung/Besserung von Lymphödemen (Kap. 18) • Halten/Erreichen des Normalgewichts (Maßnahmen gegen Mangelernährung oder Übergewicht Kap. 15) • Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten (Kap. 29) • Verbesserung der Schlafqualität

23  Bewegungs- und Sporttherapie

Für die Seele: • Wiedererlangen von Vertrauen in den eigenen Körper und die eigene Leistungsfähigkeit • Abbau von Stress und Angst • Stabilisierung der Stimmung • Erleben von Spass und Freude Sozial: • Förderung von sozialen Kontakten • Erfahrung von gemeinsamen Erfolgserlebnissen Präventiv: • Verminderung des Rückfallrisikos

23.3.2.3 Befundung Falls eine Bewegungs- und Sporttherapie angezeigt ist, wird ein Sporttherapeut eine spezifische Befundung durchführen und darauf basierend zusammen mit dem Patienten das Therapieziel festlegen und ein individuelles Trainingsprogramm ausarbeiten. Dieses berücksichtigt auf Seiten des Patienten folgende Faktoren: • Ressourcen: Unter anderem: Allgemeinzustand? Körperliche Leistungsfähigkeit (Kraft  – Beweglichkeit  – Kondition)? Erfahrung mit Bewegung und Sport? • Defizite: Unter anderem: Polyneuropathie? Muskelschwund? Postoperative Bewegungseinschränkung? • Erfahrung mit Bewegung und Sport: Vor der Erkrankung betriebene Sportarten? Wandern? Schwimmen? Radfahren? Ballspiele? Bestehen Vorlieben, Abneigung gegen oder Interesse an einer speziellen Sportart? Die körperliche Leistungsfähigkeit wird vor Beginn des Trainings gemessen (z. B. durch einen

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6-Minuten-Gehtest). Die Wiederholung des Tests während und bei Abschluss der Rehabilitation dokumentiert die gemachten Fortschritte.

23.3.2.4 Training Training bezeichnet eine geplante, regelmäßige körperliche Betätigung, ausgeführt in der Regel unter Anleitung eines Trainers mit dem Ziel der Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Trainingsarten Es werden folgende Trainingsarten unterschieden: • • • • •

Ausdauertraining Krafttraining Koordinationstraining Beweglichkeitstraining Schnelligkeitstraining

Das Schnelligkeitstraining ist in der onkologischen Rehabilitation ohne Bedeutung, alle anderen Trainingsformen werden auch bei Krebspatienten angewandt. Von Bedeutung wird das Schnelligkeitstraining erst, wenn es der Gesundheitszustand des Patienten erlaubt und der Klient auch den Wunsch dazu hat (z. B. Profisportler). cc Welche Trainingsart mit welchen Mitteln und wie häufig eingesetzt wird, muss für jeden Patienten individuell festgelegt werden.

Beispiel

• Herr A. leidet nach Operation eines Hirntumors an Gleichgewichtsstörungen. Ein wichtiger Bestandteil seines Trainings ist das Koordinationstraining, beispielsweise mit Übungen auf dem Balanceboard (Abb. 23.2). • Bei Frau B. bestehen nach Operation eines Mammakarzinoms eine Kraftminderung und ein leichtes Lymphödem des Arms der operierten Seite. Ihr wird – neben dem Ausdauertraining – speziell ein Krafttraining mit dem Theraband, evtl. auch mit Hanteln empfohlen. ◄

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J.-M. Lüthi und T. Kroner

Krafttraining  Krankheit wie Therapie führen bei Krebspatienten häufig zu einem Verlust an Muskelmasse. Gezieltes Krafttraining ermöglicht den Wiederaufbau und die Stärkung der Muskulatur. Gezieltes Krafttraining hat zudem bei Frauen nach Brustkrebsoperationen eine positive Wirkung auf das Lymphödem: Es reduziert das Risiko des Auftretens und führt bei bestehendem Lymphödem zu einer Besserung oder verhindert mindestens eine Verschlechterung (Neudecker und Baumann 2016). Abb. 23.2  Balanceboard „Teller“ (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

Tipps für das Training in der Rehabilitation

Generell gilt: • Regelmäßig ausüben, aber nicht übertreiben! • Vor dem Training aufwärmen  – nach dem Training entspannen! • Durch ein regelmäßig geführtes Protokoll werden die durch das Training erzielten Fortschritte erkannt und dokumentiert. Dies fördert die Motivation, das Training konsequent weiterzuführen. • Das Training muss Spaß machen!

Krafttraining kann ein- bis dreimal pro Woche während 45–60 min ausgeführt werden, ebenfalls mit etwa 40–70 % der maximal möglichen Kraft. Es sollten dabei jeweils verschiedene isotonische Übungen ausgeführt werden, um möglichst alle Muskelgruppen zu trainieren. Vor Beginn den Körper aufwärmen! Keine ruckartigen Bewegungen! Eher mit weniger Kraft/gegen geringerem Widerstand trainieren und dafür die Übungen häufiger wiederholen. Das Training sollte als „­etwas anstrengend“ bis „anstrengend“ empfunden werden. Das Training wird mit Einsatz des eigenen Körpergewichts, mit Hilfen (Hanteln, Fitness-­ Bänder) oder an Geräten durchgeführt.

Eine korrekte Anleitung durch einen cc  erfahrenen Instruktor ist bei dieser Trainingsform besonders wichtig. Auch sollte die Ausführung der Übungen im weiteren Ausdauertraining  In der Rehabilitation von Verlauf immer wieder kontrolliert werden, da Krebskranken ist Ausdauertraining die wichsich über die Zeit Fehler einschleichen tigste Trainingsform. Es beeinflusst sehr viele Körpersysteme, so beispielsweise Herz-­ können. Kreislauf, Bewegungsapparat und Immunsystem. Koordinationstraining  Koordination wird deIn der Regel sollte Ausdauer zwei- bis dreimal finiert als Zusammenwirken von zentralem in der Woche während 30–60 min trainiert wer- Nervensystem, von peripheren Nerven und den, immer im aeroben Bereich, d.  h. mit etwa Muskulatur innerhalb eines bestimmten Be40–70  % der maximal möglichen Leistung. Es wegungsablaufes. Koordinationsfähigkeit spielt sollte anstrengend sein, aber nicht zur Er- bei der Sturzprophylaxe eine wichtige Rolle: schöpfung führen. Lieber weniger intensiv, dafür Ausgleichsbewegungen nach Stolpern sind eine hochkomplexe koordinative Leistung. Bereits zeitlich länger trainieren. Geeignete Sportarten sind etwa Walken, nach wenigen Tagen völliger Inaktivität kommt Schwimmen, Radfahren, Skilanglauf und es zu einer Schwächung der koordinativen Schneeschuhwandern. In einem Studio auch etwa Fähigkeiten. Koordinative Übungen sollten desAerobic, Pilates oder Training auf dem Lauf- halb unmittelbar postoperativ aufgenommen werden. band, dem Crosstrainer oder dem Ergometer.

23  Bewegungs- und Sporttherapie

Schon gewöhnliches Gehen kann als koordinative Übung bezeichnet werden. Ihr Schwierigkeitsgrad kann beliebig gesteigert werden, z.  B. über Strichgang/Strichgang mit geschlossenen Augen/Einbeinstand/Einbeinstand auf instabiler Unterlage usw. Die Übungen müssen langsam, aber sauber ausgeführt werden. Spielerisch kann Koordination durch Übungen mit einem Ball alleine oder in Gruppen verbessert werden (Kap. 28). Koordinationsübungen verlangen viel Konzentration und können in der Regel nicht länger als 20 min sauber ausgeführt werden. Sie eignen sich deshalb gut als Ergänzung zu einem Ausdauer- oder Krafttraining. Beweglichkeitstraining   Beweglichkeitstraining spielt in der Rehabilitation von Krebspatienten eine untergeordnete Rolle. Es wird vor allem in Form von Dehnungsübungen (Stretching) oder Dreh-Dehnungs-Übungen (z. B. Pilates, Yoga) durchgeführt. Bei den Übungen ist darauf zu achten, dass keine ruckartigen oder wippenden Bewegungen gemacht werden. Auch Schwimmen kann als Dehnungsübung für die Brust- und Rückenmuskulatur eingesetzt werden. Training bei verschiedenen Tumorarten Es versteht sich von selbst, dass jedes Training an die individuellen Voraussetzungen eines jeden Patienten angepasst werden muss. Und trotzdem gibt es einige Trainingsaspekte, die bei bestimmten Tumorarten speziell zu berücksichtigen sind. Dies wird im Folgenden am Beispiel von Brust- und Lungenkrebs ausgeführt. Brustkrebs  Eine gezielte Physiotherapie sollte bereits wenige Tage nach der Operation eingeleitet und im Verlauf der Rehabilitation als Bewegungs- und Krafttraining konsequent weitergeführt werden. Neben den für alle Tumorarten geltenden Zielen sind es bei Brustkrebs speziell: • Vermeidung von Muskelverkürzungen (Kontrakturen) im Bereich von Schulter, Brust und Armen • Erhalt der Beweglichkeit im Schultergelenk

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• Verhütung bzw. Besserung eines Lymphödems • Verhütung von asymmetrischer Körperhaltung Besonders geeignet sind Bewegungsübungen im Wasser (Wassertherapie), da das Wasser durch seinen Widerstand einen gewissen Kraftaufwand erfordert und gleichzeitig schädliche, abrupte Bewegungen verhindert. Schwimmen, Wandern, Nordic Walking und Skilanglauf sind beliebte und geeignete Sportarten. Beim Gebrauch von Stöcken ist darauf zu achten, dass der Handgriff bei jeder Bewegung nach hinten gelockert wird. Dies verhindert eine konstante isometrische Belastung und fördert als „Muskelpumpe“ den Lymphabfluss. cc Welche Sportart schließlich gewählt wird, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass sie Freude bereitet und regelmäßig ausgeübt wird. Lungenkrebs  Neben den für alle Tumorarten geltenden Zielen sind es bei Lungenkrebs speziell: • Stärkung von Brust-, Bauch- und Rückenmuskulatur (durch Kraft- und Dehnungsübungen) • Erlernen und Üben einer guten Atemtechnik • Nach Operation: Dehnungs- und Beweglichkeitstraining Auch bei Lungenkrebs ist Schwimmen sehr empfehlenswert: Es stärkt und dehnt die für die Atmung wichtigen Brust- und Rückenmuskeln.

23.3.2.5 Organisation Die Bewegungs- und Sporttherapie wird als Einzel- und als Gruppentherapie durchgeführt, in der ambulanten Rehabilitation in der Regel im Rahmen von sog. Rehabilitationssportgruppen oder Krebssportgruppen. In deren Programm wird darauf geachtet, dass gleichermaßen Ausdauer, Kraft, Koordination und Beweglichkeit trainiert werden. Dazu gehören auch Spiele, in denen Berührungsund Bewegungsängste abgebaut werden können. Die soziale Bedeutung dieser Sportgruppen ist nicht zu unterschätzen: Die Teilnahme erlaubt

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den Patienten die Begegnung und den Austausch mit Menschen, die Gleiches oder Ähnliches erlebt und durchgemacht haben. Die gegenseitige Motivation zur Bewegung unterstützt sie in der Bewältigung des Alltags. Oft pflegen die Teilnehmer die in der Gruppe neu geknüpften Kontakte nach Abschluss der Sporttherapie im privaten Rahmen weiter. Die Organisation der Krebssportgruppen erfolgt in Deutschland durch Sportvereine, in der Schweiz durch die kantonalen Krebsligen oder die Onkologiezentren. In Österreich bietet die Krebshilfe in vielen Landesvereinen Projekte zu Bewegung und Sport an, im Tirol der Landesverband der ASKÖ (Arbeitsgemeinschaft für Sport und Körperkultur in Österreich). Beispiel

Im Onkologie- und Hämatologiezentrum des Spitals Thun (Schweiz) ist „Bewegung und Sport“ Teil eines strukturierten ambulanten onkologischen Rehabilitationsprogramms mit drei unterschiedlichen Angeboten: • Z  u Beginn der Rehabilitation werden den Teilnehmern innerhalb von 12 bis maximal 16 Wochen 24 Einheiten von Sportund Bewegungstherapie angeboten, zum Teil als Einzel-, zum Teil als Gruppentherapie. Auf Wunsch werden die Partnerinnen und Partner oder die Familie miteinbezogen. • Nach Abschluss kann einmal wöchentlich ein sog. Nachfolge- und Langzeittraining besucht werden. Dabei werden Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit und Koordination spielerisch trainiert und Entspannungstechniken geübt sowie Belastungskontrolle und Trainingsberatung angeboten. •  Ganzjährig werden Krebspatientinnen und -patienten sowie ihren Angehörigen halbtägige Wanderungen in der Region angeboten. Hauptziel dieser Nachmittage sind die Erlebnisse in der Natur, die Geselligkeit und ein besseres Kennenlernen des eigenen Körpers. ◄

J.-M. Lüthi und T. Kroner

23.3.2.6 Finanzierung Deutschland Die Krankenkassen finanzieren gesetzlich Versicherten die Teilnahme an einer Reha-­ Sportgruppe für 18 Monate. Jedem betroffenen Kassenpatienten werden zunächst 50 Übungseinheiten (mindestens jeweils 45  min) Rehabilitationssport in einem vom Landessportbund oder vom Behindertensportverband zertifizierten Sportverein verschrieben. Die Anzahl der Einheiten kann individuell verlängert werden. Die Indikation zum Rehabilitationssport muss durch einen Arzt gestellt und verordnet werden. Schweiz Ärztlich verordnete Physiotherapie wird von der obligatorischen Grundversicherung übernommen. Vor Beginn eines Sporttherapieprogramms im Rahmen der onkologischen Rehabilitation muss der Arzt allerdings ein schriftliches Gesuch zur Kostenübernahme an die zuständige Krankenkasse stellen. Die Kosten der Teilnahme an Krebssportgruppen werden nur von Zusatzversicherungen, nicht aber von der Grundversicherung übernommen. Die meisten Krebssportgruppen werden von kantonalen Krebsligen organisiert. Österreich Die Teilnahme an den Angeboten der Krebshilfe ist in der Regel unentgeltlich. Die ASKÖ erhebt für die Teilnahme an ihren Kursen einen geringen Unkostenbeitrag.

23.4 Training im Alltag Nach Abschluss der ärztlich überwachten Rehabilitation müssen Bewegung und Sport ihren Platz im Leben beibehalten: Zum einen möglichst oft als alltägliche Bewegung, beispielsweise: • Treppensteigen statt Liftfahren. • Kürzere Distanzen zu Fuß gehen oder das Fahrrad benutzen, nicht das Auto.

23  Bewegungs- und Sporttherapie

• Ein paar Busstationen vor dem Ziel aussteigen und zu Fuß weitergehen. • Auf dem Parkplatz beim Einkaufszentrum das Fahrzeug auf dem entferntesten Platz abstellen. Zum andern als geplante Aktivität – allein oder in einer Gruppe: cc Mindestens dreimal pro Woche sollte während einer Stunde Bewegung und Sport fest eingeplant werden, um vor allem Ausdauer und Kraft weiter trainieren zu können. Dies ist nicht nur mit den weiter oben erwähnten Sportarten möglich  – auch mit Wandern, Tanzen, Yoga, Pilates etc. lässt sich der Körper trainieren.

23.5 Bewegung und Sport in der Prävention Regelmäßige körperliche Aktivität reduziert das Risiko, an einem malignen Tumor zu erkranken. Dies ist sehr gut belegt für Tumoren von Dickdarm, Brust, Gebärmutter (Endometrium), Niere, Blase, Speiseröhre und Magen (Patel et al. 2019). Die Datenlage für Lungenkrebs und andere Krebsarten ist zurzeit noch weniger schlüssig, was aber einen positiven Effekt nicht ausschließt. cc Bewegung und Sport reduzieren nicht nur das Risiko, an einem malignen Tumor zu erkranken (Primärprävention), sondern vermindern auch das Risiko eines Rückfalls (Rezidivs) nach erfolgreicher Behandlung eines Tumors (tertiäre Prävention). Wirkungsmechanismen Die präventive Wirkung von Bewegung und Sport beruht auf mehreren Mechanismen: • Übergewicht erhöht das Risiko für verschiedene Krebsarten, so z. B. für Brustkrebs nach der Menopause, für Dickdarm- und für

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Gebärmutter- (Endometrium-)Krebs. Regelmäßige Bewegung verhindert Übergewicht und reduziert dadurch das Erkrankungsrisiko. • Regelmäßige Bewegung beeinflusst die körpereigene Produktion von Hormonen und anderen Wachstumsfaktoren, die die Entstehung von Krebs beeinflussen. So senkt regelmäßige körperliche Aktivität den Insulinund bei Frauen den Östrogenspiegel. Insulin und Östrogene wirken als Wachstumssignale und tragen so zur Tumorentwicklung bei. • Bewegung verhindert oder dämpft chronische Entzündungen, die oft mit Übergewicht verbunden sind (metabolisches Syndrom). Chronische Entzündungen erhöhen das Krebsrisiko. • Bewegung und Sport, vor allem Ausdauertraining, stärken das Immunsystem, u. a. durch Aktivierung bestimmter Lymphozyten. Allerdings können hochintensive sportliche Aktivitäten, die zu körperlicher Erschöpfung führen, das Immunsystem auch – zumindest vorübergehend – schwächen.

23.6 Schnittpunkte zwischen Bewegungs- und Sporttherapie und Ergotherapie Eine wichtige Aufgabe des Ergotherapeuten ist es, seine Klienten immer wieder auf die Bedeutung von Bewegung und Sport hinzuweisen und sie zur regelmäßigen körperlichen Aktivität zu motivieren. Der Ergotherapeut kann zudem gemeinsam mit dem Klienten einen Plan ausarbeiten, um Möglichkeiten für mehr alltägliche Bewegungen in den Tagesablauf einzuplanen (Abschn. 23.4). Bei Bedarf kann der Klient einem Sporttherapeuten zugewiesen oder über Rehabilitations- bzw. Krebssportgruppen informiert werden. Von einem guten Austausch zwischen Ergound Sporttherapeut profitieren die Therapeuten wie auch der Klient!

J.-M. Lüthi und T. Kroner

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Literatur

Schweiz

Zitierte Literatur

Körperliche Aktivität bei Krebs. Krebsliga Schweiz. Download: https://shop.krebsliga.ch/files/kls/webshop/PDFs/deutsch/koerperliche-­a ktivitaet-­b ei-­ krebs-­011027013111.pdf

Baumann FT et  al (2019) Die Bedeutung der Prähabilitation in der Onkologie. In: Baumann FT (Hrsg) Bewegungstherapie in der onkologischen Prähabilitation. De Gruyter Cave J et al (2018) A systematic review of the safety and efficacy of aerobic exercise during cytotoxic chemotherapy treatment. Support Care Cancer 26:3337 Neudecker J, Baumann FT (2016) Kraftvoll gegen Ödeme. Physiopraxis 14:44 Patel AV et al (2019) American college of sports medicine roundtable report on physical activity, sedentary behavior, and cancer prevention and control. Med Sci Sports Exerc 51:2391 Van Waart H et al (2015) Effect of low-intensity physical activity and moderate- to high-intensity physical exercise during adjuvant chemotherapy on physical fitness, fatigue, and chemotherapy completion rates: results of the PACES randomized clinical trial. J Clin Oncol 33:1918

Weiterführende Literatur Baumann F, Bloch W, Jäger E (2012) Sport und körperliche Aktivität in der Onkologie. Springer, Berlin Halle M, Freiberger V, Rank M (2012) Sporttherapie bei Krebserkrankungen. Schattauer, Stuttgart

Broschüren für Klienten und Angehörige Deutschland Bewegung und Sport bei Krebs. Die blauen Ratgeber, Stiftung Deutsche Krebshilfe. Download: https:// www.krebshilfe.de/infomaterial/Blaue_Ratgeber/Bewegung-und-Sport-bei-Krebs_BlaueRatgeber_ DeutscheKrebshilfe.pdf

Österreich Bewegung bei Krebs. Österreichische Krebshilfe. Download: https://www.krebshilfe.net/services/broschueren#broschuere-13

Internetadresse Netzwerk OnkoAktiv. Das Netzwerk wird vom deutschen Nationalen Tumorcentrum (NCT) organisiert. Auf seiner Homepage finden sich gute Informationen sowie Adressen von durch das NCT zertifizierten Anbietern von Sport- und Bewegungstherapie in Deutschland: https://netzwerk-­onkoaktiv.de/

Teil IV Ergotherapie in der Onkologie – Grundlagen

Kommunikation

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Sabrina Heizmann

24.1 Definition Kommunikation dient dem Austausch von Informationen. Sie besteht aus verbalen (Sprache), paraverbalen (z.  B.  Stimmlage, Lautstärke) und nonverbalen Anteilen (z. B. Körperhaltung, Mimik).

• nur 7 % der Wirkung durch die Worte und den Inhalt des Vortrags erreicht (Mehrabian und Ferris 1967).

Dies zeigt, wie wichtig es für Therapeuten ist, sich ihrer nonverbalen Kommunikation bewusst zu sein. Auch wenn die Bedeutung von Worten damit in den Hintergrund zu rücken scheint, sind sie 24.2 Notwendigkeit nicht zu vernachlässigen. Sie können sich auf den Für Therapeuten ist es wichtig, sich mit den ver- Klienten positiv wie negativ auswirken. So ist schiedenen Aspekten der Kommunikation zu be- mittlerweile bekannt, dass Worte je nach ihrer fassen. Der Therapeut sollte bewusst Aspekte der subjektiven Bedeutung in unterschiedlichen Kommunikation nutzen, um eine gute Klient-­ Hirnarealen aufgenommen werden. Verletzende Therapeut-­Beziehung aufzubauen, die Ziele des Worte aktivieren dieselben Hirnareale wie physiKlienten zu erfragen, unbedachte Kommunika- sche Schmerzen. tion zu vermeiden und seine Kompetenz zu unterstreichen. Ein Teil der therapeutischen Arbeit besteht aus 24.3 Aspekte der Kommunikation Beratung des Klienten. Daher sollte dem Therapeuten bewusst sein, dass es nicht ausschließlich 24.3.1 Verbale Kommunikation Worte sind, die Wirkung beim Klienten erzielen. In der Ausbildung lernen Therapeuten verBei einem Vortrag vor einer Gruppe wird schiedene Kommunikationsmodelle und Techni• 55  % der Wirkung durch die Körpersprache ken zur Gesprächsstrukturierung kennen. Auf des Redners erzielt (z.  B. durch Körper- diese wird hier nicht näher eingegangen und statthaltung, Gestik und Augenkontakt), dessen auf die weiterführende Literatur verwiesen. • 38 % durch die Stimmlage und Lautstärke bestimmt, 24.3.1.1 Gesprächstechniken Wegen ihrer großen Bedeutung sei hier nur auf S. Heizmann (*) folgende wichtige Gesprächstechniken hinHofstetten, Deutschland gewiesen: email: [email protected]

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_24

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Aktives Zuhören • Ausreden lassen • Einfühlsames Nachfragen • Spiegeln von Aussagen signalisieren, dass zugehört wurde und echtes Interesse am Klienten und seinen Gedanken besteht Wahrnehmen von Emotionen Das Wahrnehmen von Emotionen, die der Klient in der gegenwärtigen Situation hat, kann durch Äußerung des Therapeuten dem Klienten gespiegelt werden. Beispiel

Die an Brustkrebs erkrankte Klientin berichtet, dass ihre Mutter vor Jahren, als sie selbst noch ein Kind war, die gleiche Diagnose erhalten habe und daran verstorben sei. Während des Gesprächs beginnt sie zu weinen. Die Therapeutin hält ihr ein Taschentuch hin und setzt sich zu ihr: „Ich merke, dass Sie sehr aufgewühlt sind.“ ◄ Pausen aushalten Im Gespräch kann eine Pause entstehen, die von Klient und Therapeut unterschiedlich wahrgenommen wird. Der Therapeut fühlt sich dabei unwohl oder sieht sich verpflichtet, das Gespräch weiter am Laufen zu halten. Dem Klienten geben solche Pausen jedoch Raum, um seinen Gedanken nachzuhängen und Informationen zu verarbeiten. Daher muss der Therapeut diese Pausen aushalten. Er darf sie nicht mit Kommentaren füllen oder das Gespräch verfrüht beenden. Wissensvermittlung Darauf achten, inwiefern ein Klient über seine Erkrankung informiert werden möchte. Da Aufklärungsgespräche vom Arzt geführt werden, kann er dem behandelnden Team weitergeben, wenn der Klient nicht vollständig über seine Erkrankung/den Verlauf aufgeklärt werden wollte. Dies gilt es zu respektieren und von allen Behandlern im Therapieprozess zu berücksichtigen. Aktive Beteiligung Den Klienten zur aktiven Beteiligung am Therapiegeschehen motivieren durch Rückfragen

(„Wie sehen Sie das?“) und durch gemeinsames Erstellen realistischer Ziele entsprechend den Bedürfnissen des Klienten. Eruieren von Problemen und Nöten des Klienten Aktives Zuhören und Paraphrasieren (siehe Beispiel unten) erlauben es, Probleme des Klienten frühzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen (z.  B. durch Hinzuziehen eines Psychoonkologen). Unerkannte Probleme verstellen den Blick auf eigene Ressourcen und Ziele und wirken sich hinderlich auf die individuelle Zielfindung und den Therapieverlauf aus. Beispiel

Die Klientin aus dem obigen Beispiel schluchzt und sagt: „Meine Tochter ist doch erst 11 Jahre.“ Die Therapeutin sagt: „Verstehe ich Sie richtig? Sie selbst haben jung ihre Mutter verloren, und das hat sie sehr geprägt. Haben Sie Angst davor, selbst früh zu sterben und Ihre Tochter im Stich zu lassen?“ ◄ Im Praxisalltag werden diese Techniken erprobt. Eine regelmäßige Reflexion der Gespräche mit Klienten und Kollegen ist sinnvoll, um eigene Gewohnheiten aufzudecken. Folgende Fragen können dabei unterstützen: • Nutze ich zu viel und unnötigen Fachjargon im Umgang mit dem Klienten? • Versteht mich mein Klient/mein Kollege? Wie vermittle ich den Inhalt meiner Gedanken? • Rede ich zu viel und lasse meine Gesprächspartner nicht zu Wort kommen? • Wiederhole ich Gesagtes zu oft? • Falle ich meinen Gesprächspartnern ins Wort? • Kann ich Stille gut ertragen (während der Behandlung oder im Büro)? Auch die Wortwahl ist in der Therapie zu bedenken. Wie oben beschrieben, können Worte verletzen, krank machen oder Beschwerden verschlimmern. Dabei handelt es sich um den sog. Nocebo-Effekt. Den Gegensatz dazu bildet der

24 Kommunikation

besser bekannte Placebo-Effekt. Der Klient erwartet beim Nocebo-Effekt nicht eine positive, sondern eine negative Wirkung. Beispiel

Ein junger Mann nahm eine Überdosis an vermeintlichen Antidepressiva ein. Er wurde schläfrig und kollabierte. Sein Zustand normalisierte sich jedoch sehr schnell, als er durch die Ärzte erfuhr, er habe nicht Antidepressiva, sondern ein Placebo eingenommen (Reeves 2007). ◄ Therapeuten können durch ihre Äußerungen das Befinden des Klienten beeinflussen. Sätze wie • „Oh, ihre Narbe ist ja knallrot. Tut die nicht weh?“ • „Sie sind ja Risikopatienten. Da müssen Sie unbedingt aufpassen.“ können Probleme des Klienten verstärken.

24.3.1.2 Besondere Herausforde­ rungen Schwierige Gesprächsinhalte Themen wie ein negativer Krankheitsverlauf oder das Sterben bleiben im Arbeitsleben eines Therapeuten nicht aus. Primär sollten Aufklärungsgespräche vom Arzt geführt werden. Will der Klient vollständig aufgeklärt werden, wird er schrittweise, mit regelmäßiger Rückversicherung, ob und wie das Gesagte verstanden wurde, informiert. Alle involvierten Berufsgruppen können bei der Auseinandersetzung mit diesen Informationen unterstützen.

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spräch womöglich in Anwesenheit des Klienten zu führen. Der Therapeut muss dabei Angehörige als Unterstützer wahrnehmen und würdigen, gleichzeitig ihre Bedürfnisse berücksichtigen und ggf. auf Unterstützungsangebote aufmerksam machen (Kap. 38). cc Der Einbezug von Angehörigen erfolgt beim erwachsenen Klienten nur mit seiner ausdrücklichen Einwilligung. Barrieren der verbalen Kommunikation Einschränkungen wie z. B. eine Aphasie können die Kommunikation beeinträchtigen. Hierbei kann interdisziplinär (z.  B. mit einem Logopäden) nach Lösungen gesucht werden (Kap. 17). Anders liegt das Problem bei fremdsprachigen Klienten. Nicht immer ist es sinnvoll, Familienmitglieder des Klienten als Dolmetscher beizuziehen. Besser dazu geeignet sind Mitarbeiter der eigenen Institution. Es empfiehlt sich deshalb, in einem Register festzuhalten, welche Mitarbeiter welche Fremdsprache beherrschen. Ergeben sich Probleme mit einer Sprache, die kein Mitarbeiter spricht, kann ein örtlicher Kulturkreis um Mitarbeit gebeten werden. Es ist dabei zu beachten, dass der Klient dazu im Voraus seine Einwilligung geben muss.

24.3.2 Paraverbale Kommunikation Die paraverbale Kommunikation wird – wie die verbale Kommunikation  – „gehört“, jedoch anders als das gesprochene Wort. Sie umfasst die folgenden Modalitäten:

Eine frühzeitige Thematisierung und die wiederholte Vermittlung, dass der Therapeut bereit ist, über Themen wie Sterben und Tod zu sprechen, sind wichtig. Klient und Angehörige haben somit ausreichend Zeit, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.

Stimmlage  Sie ist z. B. hoch, tief, tragend oder zittrig. Über die Stimmlage vermittelt der Sprecher unbewusst Emotionen (z. B. Freude, Trauer), aber auch Stress oder Selbstbewusstsein. Eine tiefere Stimmlage setzen viele Hörer mit Ruhe, Bodenständigkeit und Kompetenz gleich.

Kommunikation mit Angehörigen Die Meinungen und Wünsche des Klienten bestimmen die Therapiegestaltung. Ist der Einbezug von Angehörigen erwünscht, ist das Ge-

Lautstärke  Eine zu laute Stimme wird von den Zuhörern als bedrohlich und aggressiv aufgefasst. Dagegen wird eine leise Stimme mit Unsicherheit verbunden.

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Betonung  Die Betonung in einem Satz ist wichtig, um die Information, die der Sprecher vermitteln möchte, zu unterstreichen. Je nach Betonung verändert sich für den Zuhörer die Bedeutung. Beispiel

• „Ich möchte ein Eis.“ (➔ Es geht hier um mich!) • „Ich möchte ein Eis.“ (➔ Wunsch steht im Vordergrund.) • „Ich möchte ein Eis.“ (➔ Nicht zwei, nicht drei, ich möchte nur ein Eis.) • „Ich möchte ein Eis.“ (➔ Ich möchte Eis, kein Obst oder etwas anderes.) ◄ Geschwindigkeit  Ein zu schnelles Sprechen wirkt verunsichert, ein zu langsames Sprechen langweilig. Melodie  Die Sprachmelodie kann lebendig oder monoton sein. Schwingt ein Lachen in der Stimme, wird dies als angenehm empfunden. Das Lachen/Lächeln sollte jedoch der Situation entsprechen, da es sonst aufgesetzt wirkt. Die paraverbale Kommunikation wird trainiert, indem man z. B. einen Text laut liest und sich dabei aufnimmt. Danach überprüft man die Aufnahme auf die verschiedenen genannten Modalitäten. Eine gute Atemtechnik senkt eine zu hohe Redegeschwindigkeit und dämpft den Stresspegel in der Stimme. Viel Trinken von Wasser schützt vor einer rauen Stimme. Das Trinken von reizenden Flüssigkeiten wie z.  B.  Orangensaft kann dagegen zu vermehrtem Räuspern führen.

24.3.3 Nonverbale Kommunikation Von dem österreichischen Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick stammt der Satz: „Wir können nicht nicht kommunizieren.“ Selbst wenn sich jemand nicht verbal äußert,

kommuniziert er. Diese nonverbale Kommunikation drückt unbewusst Stimmung und Gefühle des „Sprechenden“ aus. Sie bedient sich in erster Linie der Körpersprache. Verschiedene Modalitäten fallen in den Bereich der Körpersprache: Mimik  Damit sind sichtbare Bewegungen im Gesicht gemeint. Die Stellung der Augenbrauen, Bewegungen der Augen, von Nase und Mund können Meinungen und Gefühlszustände ausdrücken. Beispiel

Ein Klient kommt das erste Mal in die Polyneuropathie-­Gruppe. Bevor er ein Wort spricht, begutachtet er die Kisten mit den Igelbällen und zieht missbilligend die Augenbrauen nach oben. ◄ Blickkontakt  Ein Blickkontakt, der nicht aufgebaut oder für eine bestimmte Dauer gehalten werden kann, wird als Zeichen der Unsicherheit gedeutet. Gleichzeitig wirkt ein stechender oder unverwandter Blick einschüchternd und bedrohlich. Beispiel

Therapeut: „Haben Sie Ihre Übungen gemacht?“ Der Klient wendet beschämt den Blick ab. ◄ Gestik  Bewegungen des Kopfes, der Arme, Beine und Augen werden als Gestik beschrieben. Beispiel

Nach Behandlungsende wird gemeinsam nach einem neuen Termin gesucht. Therapeut: „Tut mir leid, am Vormittag habe ich diese Woche keinen Termin mehr frei, aber ich könnte Ihnen etwas morgen oder übermorgen Nachmittag ab 15 Uhr anbieten.“ Der Klient rollt genervt mit den Augen. ◄

24 Kommunikation

Haltung  Die Gangart oder auch die Haltung des Kopfes können Informationen mitteilen. Beispiel

Eine vorgeneigte Haltung im Oberkörper mit hochgezogenen Schultern signalisiert Unsicherheit. ◄ Taktilität  Körperberührungen gehören ebenfalls zur Körpersprache. Beispiel

Ein fester – nicht zu fester – Händedruck signalisiert Selbstbewusstsein. ◄ Distanzzonen  Diese Zonen regeln den Abstand, den wir in bestimmten Situationen zu unseren Mitmenschen einhalten (sollten), damit kein Unwohlsein durch inadäquate körperliche Nähe bzw. Abstand aufkommt. Der Anthropologe Edward T. Hall (Hall 1976) definierte dafür vier verschiedene Zonen: • Intime Zone: 60  cm  – Partner, nahe Angehörige • Persönliche Zone: 0,6–1,20  m  – z.  B. unter Kollegen • Soziale Zone: 1,20–3,60 m – in der Straßenbahn oder im Café • Öffentliche Zone: >3,60 m – z. B. bei öffentlichen Veranstaltungen Ergotherapeuten kommen ihren Klienten in manchen Behandlungssituationen sehr nah. Dabei gilt es, trotz Berührung mit den Händen so weit wie möglich Abstand mit dem Körper und dem Gesicht zu wahren. Folgende Maßnahmen erleichtern es dem Klienten, die Berührung zu akzeptieren: • Der Therapeut beschreibt vor der Berührung, was er tun wird und was er damit beabsichtigt. Erst danach, und wenn er die Aufmerksamkeit des Klienten hat, findet die initiale Berührung statt.

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• Der Therapeut achtet auf eine Berührung, die zunächst sanft und mit adäquatem Druck ausgeführt wird. • Der Therapeut benutzt beide Hände bei der Behandlung seines Klienten. Dabei übernimmt eine Hand die Bewegung, die andere Hand unterstützt und hält fest. • Die Hände werden nicht abrupt vom Körper des Klienten weggenommen. Bei Positionswechsel bleibt eine Hand am Klienten, während die andere Hand eine neue Position einnimmt. Habitus  Damit ist das Erscheinungsbild einer Person gemeint. Sind Frisur, Fingernägel, Zähne und die Kleidung gepflegt und ist die Kleidung situationsgerecht? Von einem Banker wird ein Auftreten im Anzug, ein Fitnesstrainer wird in Sportkleidung erwartet. Bei Ergotherapeuten gibt es kein „typisches“ Erscheinungsbild wie in anderen Berufsbranchen. Manchmal wird auch vom Arbeitgeber eine Berufskleidung (z. B. Poloshirt mit Einrichtungsaufdruck) vorgegeben. Je nach Klientel kann sich eine Veränderung des Kleidungsstils positiv auswirken. So kann z.  B. das kurzfristige Anziehen eines Blazers für einen Vortrag vor Klienten Souveränität vermitteln. In der Behandlung kann der Blazer jedoch überzogen auf den Klienten wirken.

Literatur Zitierte Literatur Hall ET (1976) Die Sprache des Raumes. Schwann, Düsseldorf Leitlinienprogramm Onkologie (2020) (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebser­ krankung, Langversion 2.1, AWMF-Registernummer: 128/001OL. https://www.leitlinienprogramm-­onkologie. de/fileadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/ Palliativmedizin/Version_2/LL_Palliativmedizin_Langversion_2.2.pdf (Zugriff am 23.07.2023) Mehrabian A, Ferris SR (1967) Inference of attitudes from nonverbal communication in two channels. J Consult Psychol 31:248 Reeves R (2007) Nocebo effects with antidepressant clinical drug trial placebos. Gen Hosp Psychiatry 29:275–277

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Weiterführende Literatur Aichhorn C (2020) Ergotherapie  – betätigungszentrierte in Ausbildung und Praxis. Georg Thieme Verlag KG, p 132–161 Baethge C (2013) Nocebo: Die dunkle Seite der menschlichen Einbildungskraft. Dtsch Ärztebl. 110: A-1904 Tewes R (2014) Einfach gesagt  – Kommunikation für Physio- und Ergotherapeuten. Springer Verlag

Tewes R (2015) „Wie bitte?“- Kommunikation in Gesundheitsberufen. Springer Verlag

Internetadressen https://www.paulwatzlawick.de (Zugriff am 25.07.2023) Interessante Seite mit Aussagen von Paul Watzlawick zur menschlichen Kommunikation

Psychohygiene für den Therapeuten

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25.1 Definition und Terminologie Psychohygiene umfasst alle Strategien, die zum Erhalt, zum Schutz und zur Wiederherstellung der seelischen Gesundheit eines Menschen beitragen.

Neben der psychischen Gesundheit ist auch die eigene Professionalität gefährdet: Aufgrund der Überbelastung kann der Therapeut auf seinen Klienten emotionslos oder aber auch aggressiv wirken. Beispiel

25.2 Notwendigkeit Die deutsche Krankenkasse AOK untersuchte den Zusammenhang zwischen Burn-out und Beruf. Es zeigte sich, dass Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Burn-out vor allem Kassenmitglieder aus sozialen Berufen betrifft (Ebert-Rall 2019). Verschiedene Faktoren können auf lange Sicht zu einem Burn-out oder Depression führen. Neben traumatischen Erlebnissen sind dies u. a.: • ständige Überforderung bei maximalem Einsatz, • Fehlen von Erholungsphasen, • Missverhältnis zwischen eigenen Bedürfnissen und Anforderungen. Dabei können die Anforderungen von einer Person an sich selbst (z.  B.  Perfektion, das Gefühl, sich kümmern zu müssen) oder auch von anderen Personen (z.  B.  Arbeitgebern, Kollegen, Klienten) gestellt werden. S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

Frau T. ist Ergotherapeutin in einer kleinen Praxis. Ihre regelmäßigen Arbeitszeiten sind von Montag bis Freitag von 8 bis 17 Uhr mit einer Stunde Mittagspause. In ihrer Pause erledigt sie oft Arbeiten, die im Büro anfallen, wie z.  B.  Rezepte überprüfen oder ändern lassen oder das Schreiben von Berichten. Oft findet sie in ihrem Arbeitsalltag dazu keine Zeit, und die Organisationszeit, die ihr von der Praxisleitung gewährt wird, reicht ihr bei der Fülle an Tätigkeiten rund um die eigentliche Therapie nicht aus. Obwohl ihr Arbeitsplan mehr als gefüllt ist, erklärt sie sich oft bereit, Neuanmeldungen als Überstunden „hintenanzuhängen“. Aufgrund des Therapeutenmangels hat Frau T. Mitleid mit den Klienten und denkt sich, dass die eine Stunde mehr oder weniger ihr nichts ausmacht. Sie ist gerne für ihre Klienten da. Die Kollegen wissen das und hängen auch manchmal ohne Absprache mit Frau T. einen Klienten hinten an. Frau T. kommt so selten vor 19 Uhr nach Hause. Auch dort beschäftigt sie das eine oder andere Krankheitsbild eines Klienten noch sehr. Sie ertappt sich

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_25

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oft dabei, dass sie abends auf der Couch vor dem Fernseher sitzt und sich über verschiedene Krankheitsbilder auf dem Handy kundig macht. Den Sportkurs oder das regelmäßige Treffen mit den Freundinnen abends unter der Woche hat sie schon lange aufgegeben. Entweder arbeitet sie zu dieser Zeit noch oder sie ist viel zu erschöpft nach der Arbeit. ◄

25.3 Schutzfaktoren Schutzfaktoren sind persönliche Faktoren, die Belastungen, denen ein Individuum ausgesetzt ist, abpuffern können. In einer bundesweiten Befragung wurden über 800 Mitarbeiter deutscher Palliativstationen und Hospize aufgefordert, ihre Schutzfaktoren zu nennen. Als bedeutendsten Schutzfaktor gaben die Mitarbeiter ihr Team an, dicht gefolgt von Humor bei der Arbeit und Privatleben (Müller et al. 2010). Auch für Therapeuten ist es wertvoll, sich Gedanken über die eigenen Schutzfaktoren zu machen, um diese in ihrem (Arbeits-)Alltag zu erhalten. Die Bedeutung des Privatlebens in dieser Studie zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, sich abgrenzen zu können. Anders als im obigen Beispiel von Frau T. sollte das Berufliche von Privatem klar getrennt werden. Nur so kann das Privatleben auch als Ressource oder protektiver Faktor genutzt werden. Genau diese Grenze zu setzen gestaltet sich für viele Therapeuten schwierig. Feste Gewohnheiten können dabei helfen, die Gedanken um das berufliche Geschehen bewusst einzugrenzen: • Einsetzen der Berufskleidung als Schutzschild: Legt man die Kleidung an, ist man Therapeut. Das Ablegen der Kleidung, um den Feierabend zu beginnen, dient auch zum „Ablegen“ von Gedanken über Klienten und deren Schicksal. • Bewusstes Zeitnehmen für Gedanken um die Arbeit: Statt sich ständig selbst zu rügen, dass auch nach Feierabend die Gedanken um die Arbeit

kreisen, kann man sich bewusst während einer begrenzten Zeit (z.  B. während 15  min, mit Wecker gestoppt) mit diesen Gedanken auseinandersetzen. • Bewusste Ablenkung von Gedanken um die Arbeit: Manche Menschen benötigen Zeit, in der sie sich von der Arbeit lösen und bewusst im Privatleben ankommen können. Der Heimweg nach der Arbeit bietet die Gelegenheit, sich mithilfe von Musik oder eines Buchs bewusst mit anderen Gedanken zu beschäftigen.

25.4 Burn-out-Prophylaxe Neben eigenen gesundheitsförderlichen Kompetenzen sollten auch Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die dabei helfen, mit Belastungen im (Berufs-) Alltag adäquat umzugehen.

25.4.1 Persönliche Maßnahmen Selbstanalyse Einen ersten Schritt stellt die Selbstanalyse dar, die vor allem übersteigerte Anforderungen an sich selbst aufdecken und anpassen soll. Statt „Ich muss allen Klienten helfen! Meine Klienten brauchen mich!“ sollte man die Formulierung umwandeln und verinnerlichen in: „In meiner Arbeitszeit bin ich gerne für meine Klienten da und versuche, sie nach bestem Wissen und Gewissen zu behandeln. Es ist nicht schlimm, wenn ich einmal an meine Grenzen komme und um Rat fragen muss. Meine Kollegin kann die Einheit mit dem Klienten genauso gut absolvieren. Der Klient braucht nicht mich, er benötigt meine Kompetenz als Therapeut.“ Zeitmanagement Die Analyse von übersteigerten Anforderungen an sich selbst sollte auch das eigene Zeitmanagement berücksichtigen. Sind alle meine Ziele, die ich heute/diese Woche/diesen Monat erreichen möchte, zu schaffen? Eine klare Auflistung der Aufgaben sowie zeitliche Einteilung und auch das Abgeben von Aufgaben sind sinnvoll.

25  Psychohygiene für den Therapeuten

Selbstbehauptung Auch das Thema der Selbstbehauptung sollte nicht zu kurz kommen: Die eigenen Bedürfnisse müssen wahrgenommen und gegenüber anderen vertreten werden. Nur so gelingt es, sich abzugrenzen und das eigene Zeitmanagement einzuhalten. Es werden mittlerweile viele Kurse angeboten, an denen „Nein-Sagen, ohne andere dabei zu verletzen“ erlernt und geübt werden kann. Techniken zur Achtsamkeit, Entspannung und Stressabbau Den Umgang mit belastenden oder mit Arbeitsstress verbundenen Situationen können einige Techniken erleichtern: • Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR): Dieses Training besteht grundsätzlich aus drei verschiedenen Bestandteilen: achtsame Körperwahrnehmung, Sitzmeditation und (Hatha-) Yoga-Übungen (Khoury et al. 2015). • Progressive Muskelentspannung (PMR). • Autogenes Training (AT) (Caponnetto et  al. 2019). • Auch Sport und Bewegung können als „Stresspuffer“ dienen (Klaperski et al. 2013).

25.4.2 Maßnahmen des Arbeitgebers Verschiedene vom Arbeitgeber beeinflussbare Faktoren können Arbeitsstress und damit der Entwicklung eines Burn-outs entgegenwirken: • Mentoring bedeutet das Begleiten und Einarbeiten eines neuen Mitarbeiters durch einen Mentor, d.  h. einen erfahrenen Kollegen. Der neue Mitarbeiter hat so einen Ansprechpartner und damit auch die Möglichkeit, entlastende Strategien seines Mentors zu übernehmen. Dies minimiert Arbeitsstress von Beginn an und wirkt sich positiv auf die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter aus (van Emmerik 2004). • Wie bereits in Abschn. 25.3 erwähnt, ist ein gut funktionierendes Team wichtig für ein gutes

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Arbeitsklima. Die positive Wirkung von Gesprächen zwischen Tür und Angel oder während gemeinsam abgehaltenen Kaffeepausen darf nicht unterschätzt werden. Hier können Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer in ungezwungener Atmosphäre stattfinden. Der Arbeitgeber sollte solche gemeinsame Pausen organisatorisch ermöglichen. • Eine wichtige Voraussetzung für ein gut funktionierendes Team ist, dass innerhalb des Teams auftretende Spannungen frühzeitig erkannt und angesprochen werden. Das kann durch Team-Supervisionen erreicht werden, in denen unter professioneller Anleitung über Probleme im Team, aber auch über Probleme mit einzelnen Klienten gesprochen wird.

Literatur Zitierte Literatur Caponnetto P et  al (2019) Quality of life, work motivation, burn-out and stress perceptions benefits of a stress management program by autogenic training for emergency room staff: a pilot study. Ment Illn 10:7913 Ebert-Rall T (2019) Burnout: „Oft versteckt sich dahinter eine Depression“. Ärzte Zeitung, 20./21. September 2019 Khoury B et al (2015) Mindfulness-based stress reduction for healthy individuals: a meta-analysis. J Psychosom Res 78:519 Klaperski S et al (2013) Does the level of physical exercise affect physiological and psychological responses to psychosocial stress in women? Psychol Sport Exerc 14:266 Müller M et  al (2010) Wie viel Tod verträgt das Team? Zeitschrift für Palliativmedizin 11:227 Van Emmerik H (2004) For better and for worse: adverse working conditions and the beneficial effects of mentoring. Career Dev Int 9:358

Internetadressen Burn-out: Website der Burn-out-Studie der TU Dresden mit zahlreichen guten Hinweisen und Links zum Thema: https://burnout-­studie.psych.tu-­dresden.de/ node/2 (Zugriff am 23.07.2023)

Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess

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26.1 Einleitung Ergotherapeuten sind Experten für die Betätigung. Aufgrund der in vielen Kliniken und Praxen üblichen Abläufe und Strukturen handeln sie allerdings oft nach einem funktionsorientierten Ansatz. Entsprechend werden sie als „Experten für Hände und Hirn“ betrachtet und leiten vorwiegend Gruppen, häufig für Feinmotorik- und Hirnleistungstraining. In Gruppen ist es aber schwierig, einen sinnvollen Alltagstransfer mit Nutzen für den einzelnen Klienten zu erarbeiten. Der funktionsorientierte Ansatz ist dabei nicht falsch, schränkt aber die Möglichkeiten der Ergotherapie stark ein. Das individuelle Betätigungsanliegen des Klienten kann nicht analysiert und es kann nicht daran gearbeitet werden. Das Arbeiten an Betätigungsanliegen lohnt sich: Das Wiedererlangen von verloren gegangener Betätigung ist mitentscheidend, ob der Klient nach seiner Krebserkrankung wieder ein zufriedenstellendes Leben führen kann. Betätigung ist auch im onkologischen Setting der zentrale Aspekt der ergotherapeutischen Arbeit. Dieses Kapitel beschreibt die Basis einer betätigungszentrierten Therapie. Eine detaillierte Beschreibung des betätigungszentrierten ergotherapeutischen Prozesses ist in den Büchern S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

Grundlagen der Ergotherapie (Le Granse et  al. 2019) oder Ergotherapie  – betätigungszentriert in Ausbildung und Praxis (Kohlhuber et al. 2019) zu finden. Der Ergotherapeut arbeitet mit seinem Klienten in einem ergotherapeutischen Prozess (Abschn. 26.3). Ziel ist es, den Klienten zu motivieren, seine eigenen Ressourcen zu entdecken und zu nutzen, um eigenverantwortlich aktiv zu werden und an Autonomie zu gewinnen. Diese Förderung der Fähigkeit zu selbstständigem/selbstbestimmtem Handeln wird als Empowerment bezeichnet. Das Konzept des Empowerments betrachtet nicht in erster Linie die Defizite des Klienten, sondern seine Potenziale und Ressourcen.

26.2 Ansätze im ergotherapeuti­ schen Prozess In diesem Abschnitt werden einige für den ergotherapeutischen Prozess wichtige Begriffe definiert. Bottom-up Dieser Ansatz ist funktionsorientiert. Es steht dabei die Störung der Körperfunktion im Vordergrund. Der Grundgedanke ist, dass durch das Wiederherstellen der körperlichen Funktion die Betätigungsanliegen des Klienten wieder gelingen. Die Teilhabe und gegenwärtige Alltagsbewältigung treten in den Hintergrund. Der

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_26

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­ herapeut legt die Ziele und Maßnahmen fest, T ohne das Betätigungsanliegen und die Zufriedenheit des Klienten mit der Betätigungsperformance zu erfassen. Beispiel

Eine Klientin mit chemotherapieinduzierter Polyneuropathie (CIPN) beschreibt eine Beeinträchtigung des Gefühls in den Fingerspitzen. Die Reduktion der CIPN steht für den Therapeuten im Vordergrund. Die Klientin wird in die Gruppe für Sensibilitätstraining eingebucht. ◄ Top-to-Bottom-up Bei diesem Ansatz erfasst der Ergotherapeut die Betätigungsanliegen des Klienten. Die Betätigung wird jedoch weder beobachtet noch analysiert. Stattdessen legt der Ergotherapeut fest, welche Interventionen ihm zum Erreichen des Ziels geeignet erscheinen. Dabei fließen Informationen über den Kontext, die Person und ihre Körperfunktionen mit ein. Der Therapeut agiert also zu Beginn der Behandlung betätigungszentriert (nach dem Top-down-Ansatz), schwenkt dann aber um und arbeitet nach dem Bottom-up-­ Ansatz. Beispiel

Eine Klientin mit CIPN beschreibt eine Beeinträchtigung des Gefühls in den Fingerspitzen. In der Sensibilitätsgruppe erkennt der Ergotherapeut, dass sich die Klientin durch die Missempfindungen in ihrem Alltag beeinträchtigt sieht. Er lädt sie zum Einzelgespräch und erhebt ihre Betätigungsanliegen. Die Klientin ist Mutter eines 5 Monate alten Säuglings. Sie hat vor allem Schwierigkeiten beim Schließen der Druckknöpfe der Bodys. Der Ergotherapeut notiert sich dies als Ziel, überlegt sich, wie die Klientin es erreichen könnte, und legt die Maßnahmen fest. Er bucht sie weiter in die CIPN-Gruppe ein und führt mit ihr zusätzlich ein Feinmotoriktraining durch. ◄

Top-down Dieser Ansatz ist handlungsorientiert. Er befasst sich mit der Betätigung eines Menschen in seinem Alltag und mit seinen gegenwärtigen Betätigungsanliegen (in Analyse und Performance). Das Wiederherstellen von Körperfunktionen kann eine Rolle bei diesem Ansatz spielen, sofern ihre Störung die gewünschte Betätigung beeinträchtigt.

Beispiel

Eine Klientin mit CIPN beschreibt eine Beeinträchtigung des Gefühls in den Fingerspitzen. In der Sensibilitätsgruppe erkennt der Ergotherapeut, dass sich die Klientin durch die Missempfindungen in ihrem Alltag beeinträchtigt sieht. Er lädt sie zum Einzelgespräch und erhebt ihre Betätigungsanliegen. Die Klientin ist Mutter eines 5 Monate alten Säuglings. Sie hat vor allem Schwierigkeiten beim Schließen der Druckknöpfe der Bodys. Der Ergotherapeut führt eine Analyse dieser Betätigung durch. Die Betätigung wird nach Absprache mit der Klientin gefilmt, sodass sie sich in Ruhe ihre Performance der Betätigung anschauen kann. Ihr fällt auf, dass sie dabei versucht, mehrere Langfinger der rechten und linken Hand zu nutzen, um Druck für das Schließen der Knöpfe aufzubauen. Klientin und Ergotherapeut berichten sich gegenseitig ihre Beobachtungen. Die Klientin bittet den Therapeuten, er solle einmal die Knöpfe schließen, damit sie eine „effiziente“ Ausführung dieser Betätigung beobachten könne. Die Klientin erkennt dabei, dass der Therapeut nur die Zeigefinger und Daumen der rechten/ linken Hand nutzt, um die Knöpfe zu schließen. Sie entwickelt nun für sich eine Kompensationstechnik, mit der es ihr gelingt, die Knöpfe selbst zu schließen. Sie möchte weiter die CIPN-Gruppe besuchen, da sie das Gefühl hat, den Fingerspitzen täte die gezielte Stimulation gut. ◄

26  Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess

In der betätigungszentrierten Ergotherapie cc  wird gemäß dem Top-down-Ansatz gehandelt. Dies schließt jedoch einen funktions­ orientierten Ansatz in der Therapie nicht aus, dieser kann vielmehr den betätigungszen­ trierten Ansatz ergänzen (Abschn. 26.3.3).

26.3 Der ergotherapeutische Prozess 26.3.1 Übersicht So vielfältig die Ergotherapie ist, so gibt es auch nicht „den einen“ ergotherapeutischen Prozess. Im Folgenden wird nicht ein vorwiegend funktionsbezogener ergotherapeutischer Prozess beschrieben, wie er dem Indikationskatalog Ergotherapie (DVE 2017) zugrunde liegt. Stattdessen lehnt sich der hier dargestellte Prozess an das betätigungszentrierte Modell der American Occupational Therapy Association (AOTA) 2018 an. Abb. 26.1 zeigt, wie viel Wert dabei auf eine ausführliche Evaluation gelegt wird, um die Betätigungsanliegen des Klienten umfassend zu verstehen, zu erfassen und zu dokumentieren. Erst auf der Grundlage einer solchen Evaluation wird ein individualisierter Maßnahmenplan erarbeitet.

26.3.2 Evaluation Erste Informationen sammeln In der Evaluationsphase werden Informationen rund um den Klienten gesammelt. In einer Praxis beginnt dies mit dem ersten Anruf des Klienten und den Informationen auf dem Rezept. In der Klinik erhält der Ergotherapeut die Informationen je nach Organisation möglicherweise in der Frühbesprechung, in der die neu angekommenen Klienten vorgestellt werden, oder über die Krankenakte. Beispiel

In der Frühbesprechung stellt der Arzt dem interdisziplinären Team eine neue Klientin vor:

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„Frau K. ist 43 Jahre alt, verheiratet und wohnt mit ihren zwei Kindern und dem Ehemann in einem Eigenheim. Bei ihr wurde ein lokalisiertes triple-negatives Mamma-Ca diagnostiziert. Sie wurde brusterhaltend operiert und erhielt anschließend eine adjuvante Chemotherapie. Sie berichtet im Erstgespräch von chemotherapieinduzierter Polyneuropathie (CIPN) und Fatigue. Sie möchte die Reha nutzen, um wieder fit zu werden. Zudem möchte sie bald wieder ihre Arbeit aufnehmen. Ihr Mann führt eine Schreinerei, in der sie angestellt ist und die Büroarbeit übernimmt.“ ◄ Für den Ergotherapeuten stellen sich damit folgende Fragen im Hinblick auf die Arbeit mit dem Klienten: • Was weiß ich über das Krankheitsbild des Klienten (in diesem Fall das Mammakarzinom)? ➔ Die Antworten findet der Ergotherapeut in Teil VII dieses Buches. • Was weiß ich über die onkologische Behandlung des Klienten (in diesem Fall die adjuvante Chemotherapie) und ihre Nebenwirkungen (in diesem Fall die CIPN und Fatigue)? ➔ Die Antworten findet der Ergotherapeut in Teil II dieses Buches. • Was weiß ich über die ergotherapeutische Behandlung der Beschwerden (in diesem Fall die CIPN und die Fatigue)? ➔ Die Antworten findet der Ergotherapeut in Teil V dieses Buches. Aus dem beschriebenen Beispiel ergeben sich für den Ergotherapeuten als mögliche Arbeitsfelder die CIPN und die Fatigue. Dies sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob oder wie sehr die Klientin beeinträchtigt ist und welche Betätigungen sie im Alltag nicht mehr zufriedenstellend ausführen kann. Klientenschulung: Was macht die Ergotherapie? Es ist unbedingt erforderlich, dem Klienten zu vermitteln, was ihn in der Ergotherapie erwartet. Viele Klienten kennen die Ergotherapie nicht oder nur in einem anderen Zusammenhang:

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Evaluation Infos sammeln

Klientenschulung: Was macht die Ergotherapie?

Betätigungsanliegen erheben

Betätigungsanalyse Betätigung beschreiben Ort/ Zeit festlegen Klient instruieren Ausführen und Beobachten der Betätigung Reflexion des Klienten/ Angehöriger Ergebnisse festhalten und sichern Ziele und Maßnahmenplan definieren

Überprüfung der Indikation

Intervention Durchführung

Kontinuierliche Überprüfung und Anpassung der Interventionen

Outcome Abschließende Überprüfung (Vorher/nachher durch Assessments)

Abschluss und Empfehlung

Abb. 26.1  Der ergotherapeutische Prozess: Grundstruktur in Anlehnung an AOTA 2018

26  Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess

„Mein Kind bekommt Ergotherapie, weil es nicht schön schreiben kann. Ich aber habe Krebs. Was soll das?“ cc Vielen Klienten ist nicht klar, welchen Nutzen sie von der Ergotherapie erwarten können. Die Wissensvermittlung kann schon vor dem ersten Termin stattfinden: In einer Klinik hat jeder Klient einen Briefkasten, in dem er seine Tagespläne und seine Post vorfindet. Ist für einen Klienten eine Ergotherapie geplant, können erste Informationen dazu mit einem Flyer in seinen Briefkasten oder in sein Zimmer gelegt werden. Alternativ kann der Flyer Angehörigen, die den Klienten unterstützen, übergeben werden. Ergänzen könnte man die Information mit einer ersten Aufgabe für den Klienten, z.  B.  – wie im nächsten Abschnitt beschrieben – dem Schreiben eines Tagesprofils. So kann sich der Klient auf seine erste ergotherapeutische Einheit vorbereiten. Erste Informationen und eine erste Aufgabe können beim Erstkontakt (z.  B. in einer Praxis) auch per Telefon oder Mail gegeben werden. Zur Schulung gehört auch, dass in der ersten Einheit mögliche Rückfragen des Klienten und seine Erwartungen an die Therapie geklärt werden. Betätigungsanliegen erfassen Kaum einem Klienten gelingt es auf Anhieb, ein Betätigungsanliegen zu formulieren. Es fällt ihm leichter, seine Defizite zu benennen oder eine Körperfunktion zu beschreiben, die wieder funktionieren sollte, als eine Alltagsaktivität anzugeben, die ihm Probleme bereitet. So beschreibt ein Klient beispielsweise das Ziel, dass „seine Hand wieder besser fühlen soll“, statt „Ich möchte beim Geschirrspülen mit der Hand die Wassertemperatur spüren und einschätzen können, ob ich mich verbrühe“. Es obliegt dem Ergotherapeuten, den Klienten weg von körperlichen Strukturen hin zu Betätigungsanliegen zu führen und gemeinsam zu ergründen, was, wann und wo in seinem Alltag verändert werden soll. Der Klient wird also gefragt, was er verändern oder wieder besser ausführen möchte. Dieser An-

267

satz zeigt auch gleich, dass Ergotherapeuten gemeinsam mit dem Klienten arbeiten. Ohne seine Mitarbeit funktioniert Ergotherapie nicht. Das Empowerment des Klienten steht im Vordergrund. Bei der Erfassung der Betätigungsanliegen ist das Erstellen eines Tagesprofils hilfreich. Ein solches kann der Klient selbst  – wie oben beschrieben – zur Vorbereitung auf die erste Therapieeinheit oder gemeinsam mit dem Ergotherapeuten erarbeiten. Durch das Tagesprofil kann der Ergotherapeut Rückschlüsse auf die Alltagsstruktur und auf wiederkehrende Handlungsmuster, auf Interessen, Werte und Bedürfnisse ziehen. Ein Tagesprofil kann auch zur Vorbereitung auf ein Interview mit dem COPM-Bogen dienen. Der Klient setzt sich so schon vor dem Interview intensiv mit seinen Alltagsaktivitäten auseinander und kann dann besser beschreiben, wie zufrieden er mit der Durchführung der Betätigungen ist bzw. wo er seine Betätigungsprobleme und -anliegen sieht. Dies hilft wiederum bei der Zielfindung und Zielpriorisierung. Betätigungsanalyse Bei der Betätigungsanalyse werden die Betätigungsanliegen aufgegriffen und ihre Ausführung überprüft. Die Analyse erfolgt in 7 Schritten (Romein und Trees 2016): • Schritt 1: Die zu überprüfende Betätigung wird vor der Ausführung beschrieben. Zu dieser Beschreibung gehört auch, dass Anfang und Ende der Betätigung festgelegt werden. Beispiel

Am Betätigungsanliegen „Schreiben mit einem Kugelschreiber“ kann gut verdeutlicht werden, weshalb es wichtig ist zu definieren, wann die Betätigung für einen Klienten beginnt: • F  ür Herrn A. bedeutet es, dass die Hand beim Schreiben verkrampft. • Herr B. sagt, dass für ihn bereits das Aufnehmen des Stiftes schwierig sei. ◄

268

S. Heizmann

• Schritt 2: Ort und Zeitpunkt der Analyse werden festgelegt.

wird nun die Betätigung „To-do-Liste schreiben“ herangezogen.

Die zu überprüfende Betätigung sollte nach Möglichkeit dort beobachtet werden, wo der Klient sie normalerweise ausführt. Dies kann in der Reha-Maßnahme schwierig sein. Gewisse Betätigungsanliegen sind mit dem Wohnort, dem Zuhause oder dem Arbeitsplatz und den dortigen Gegebenheiten verknüpft. Daher findet eine Analyse am besten dort statt, wo die Betätigung normalerweise ausgeführt wird. Ist dies nicht möglich, ist es Aufgabe des Ergotherapeuten, einen Kontext zu gestalten, der den ursprünglichen Bedingungen möglichst ähnlich ist.

Weg zum Café Ein Klient mit Gleichgewichtsstörungen aufgrund einer CIPN wünscht, nach der Entlassung aus der Reha-Klinik sich wieder jeden Samstagvormittag mit seinen Freunden in einem Café zu treffen. Das Café ist etwa 5 Gehminuten von seiner Wohnung entfernt. Er hat Bedenken, dass er die Strecke aufgrund seiner Gleichgewichtsprobleme nicht bewältigen könne. Da er sich in einer stationären Reha-Maßnahme befindet, kann die gewohnte Strecke nicht begangen werden. Alternativ schlägt ihm der Ergotherapeut vor, eine Strecke in der Umgebung der Klinik auszuwählen, die den Bedingungen der Strecke zum Café entspricht, z.  B. mittels einer Online-Karte. Kriterien zur Auswahl des Alternativweges wären etwa: Ist der Untergrund geteert, ist es ein Kiesweg? Wie viele Straßen sind zu überqueren? Wie viele Bordsteinkanten? Sind diese hoch oder tief? Wie viele Ampeln? Anschließend wird die ausgewählte Strecke zur Analyse gemeinsam begangen. ◄

Beispiele

Handschriftliches Arbeiten im Büro Eine Klientin berichtet von Beschwerden aufgrund von Arthralgien in den Händen. Als Betätigungsanliegen gibt sie das „Arbeiten als Sekretärin“ an, wobei ihr hier vor allem die Aktivität „handschriftliches Anfertigen von Notizen“ schwerfällt. Sie habe Schmerzen beim Halten eines Stiftes. Beim Schreiben selbst habe sie das Gefühl zu verkrampfen. Nach der stationären Reha-Maßnahme möchte sie schnell wieder in ihren Beruf einsteigen. Sie ist an der Rezeption einer physiotherapeutischen Praxis beschäftigt. Dort wird noch viel handschriftlich erledigt, beispielsweise das Eintragen und Ausgeben von Terminen. Aufgrund der Entfernung kann der Ergotherapeut die Analyse nicht gemeinsam mit der Klientin vor Ort durchführen. Er fragt sie, ob und wann sie denn in ihrem Klinikalltag etwas von Hand schreibe. Sie erklärt, sie schreibe jeden Abend eine kleine To-do-­Liste, um neben den Therapien nicht zu vergessen, eine Freundin anzurufen oder die Wäsche zu waschen. Zudem wolle sie noch Postkarten besorgen, um Angehörigen einen Postgruß zu senden. Beim Gespräch erwähnt sie, dass die Probleme auch beim Schreiben ihrer kleinen Listen auftreten. Aber da sie so sehr auf den Wiedereinstieg in den Beruf fokussiert sei, habe sie diese nicht erwähnt. Zur Analyse

Auch der Zeitpunkt der Analyse ist von Bedeutung. Wird die Betätigung im Alltag vom Klienten am Vormittag ausgeführt – wie der oben beschriebene Cafébesuch –, die Analyse aber am Nachmittag, dann kann dies das Ergebnis der Analyse verfälschen. • Schritt 3: Der Klient wird über die geplante Analyse instruiert. Die Rollen, die jeder Anwesende in der geplanten Analyse einnehmen soll, werden besprochen. Der Ergotherapeut ist während der Analyse nur Beobachter; er unterstützt nicht. Der Klient soll die Betätigung genauso vollziehen, wie er sie auch im Alltag durchführt. Die Betätigung wird während der Durchführung weder vom Klient noch vom Therapeut kommentiert und nicht verändert. Sind Angehörige gewöhnlich in die Betätigung involviert, werden auch sie in die Analyse einbezogen.

26  Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess

269

• Schritt 4: Analyse der Betätigung – Der Therapeut beobachtet und analysiert aus seiner Sicht.

Um mehr Sicherheit nach der Analyse zu erlangen, können weitere Assessments eingesetzt werden (Abschn. 26.3.5).

Dabei notiert der Therapeut alle für die Betätigung relevanten Beobachtungen. Neben fehlenden Fähigkeiten oder hemmenden Kontextfaktoren werden auch positive Aspekte aufgenommen, die später dem Klienten zurückgemeldet werden. Auch die Ausführung der Betätigung wird beurteilt (z. B. anstrengend/ermüdend).

• Schritt 7: Gemeinsam werden Ziele formuliert und ein Maßnahmenplan erstellt.

• Schritt 5: Analyse der Betätigung – Der Klient und ggf. weitere Anwesende analysieren aus ihrer Sicht. Unmittelbar nach der Betätigung stellt der Ergotherapeut dem Klienten Fragen. Sind Angehörige oder nahestehende Personen dabei, die ihn unterstützt haben, werden die Fragen auch von ihnen beantwortet: • Wie anstrengend war die Ausführung? • Wie zufrieden ist der Klient/sind die Angehörigen mit der Ausführung (auf einer Skala von 1 bis 10)? • Wo wurde Hilfe benötigt? Zusätzlich kann die Betätigung auf Video festgehalten werden, sodass sich der Klient bei der Ausführung selbst beobachten kann. Durch die Reflexion und die bewusste Eigenbeobachtung erhält der Klient die Chance, selbst zu erkennen, wie er die Betätigung verändern kann, um mit ihrer Ausführung zufriedener zu werden. • Schritt 6: Ergebnisse werden gemeinsam festgelegt. Nach der Reflexion des Klienten und ggf. weiterer Beteiligter äußert der Ergotherapeut seine Eindrücke zur beobachteten Betätigung. Es wird festgelegt, worin das größte Problem bei der Ausführung liegt. Dann wird gemeinsam überlegt und festgelegt, welche Veränderungen zum gewünschten Ergebnis führen sollen.

Die Probleme wurden identifiziert und Veränderungsmöglichkeiten festgelegt. Nun werden Maßnahmen bestimmt und der zeitliche Rahmen definiert, in dem das Ziel erreicht werden soll. Dieser Plan ist nicht fix, sondern kann jederzeit abgeändert und an die aktuelle Situation des Klienten, z. B. eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes, angepasst werden. Die Zielformulierung erfolgt nach der COAST-Methode (Brinkmann und Berding 2022). Sie ist betätigungszentriert und ergotherapiespezifisch. Sie fordert dazu auf, für den Klienten relevante Ziele konkret, erreichbar, messbar und mit einem Zeitrahmen zu definieren. Beispiel COAST-Methode : Der Weg zum Café

Herr Z. leidet an einem Prostatakrebs mit Skelettmetastasen. Eine pathologische Schenkelhalsfraktur wurde chirurgisch mit einer Hüftgelenksprothese versorgt und anschließend bestrahlt. Herr Z. hat sich gut erholt, ist wieder zu Hause und zunehmend mobil, jedoch verunsichert und ängstlich. Er hat zuvor regelmäßig seine Freunde in einem nahegelegenen Café getroffen. Er möchte wieder an diesen Treffen teilnehmen, traut sich jedoch nicht, den Weg von zu Hause ins Café alleine zu gehen. Formulierung des Nahziels: • C (Client) Herr Z. • O (Occupation) geht zu Fuß in 10 min ins Café • A (Assistance Level) in Begleitung • S (Specific Condition) und mit einem Stock. • T (Terminiert) in 2 Wochen Formulierung des Fernziels: • C (Client) Herr Z.

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• O  (Occupation) geht zu Fuß in 5 min ins Café • A (Assistance Level) alleine • S (Specific Condition) und ohne Stock • T (Terminiert) in 4 Wochen ◄ Sind nur wenige Ergotherapieeinheiten cc  möglich (z.  B. während einer stationären Reha-Maßnahme), sollten Ziele und Maßnahmen so definiert werden, dass eine Überprüfung des Outcomes noch während der Reha-Maßnahme erfolgen kann.

Überprüfung der Indikation Manch ein Klient hat kein konkretes Betätigungsanliegen und kann z.  B. seinen Alltag wie gewohnt fortführen. Beispiel

Der Klient verspürt auf Grund einer CIPN ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen. Er könne jedoch seinen Alltag wie gewohnt fortführen. Klient: „Das Kribbeln merke ich, wenn ich dran denke. Vor ein oder zwei Wochen war es noch präsenter, jetzt geht es deutlich zurück und ich schenke dem Ganzen keine Beachtung mehr. An manchen Tagen spüre ich gar nichts mehr. Es ist für mich nicht störend.“ ◄ Eine Überprüfung, ob Ergotherapie für den Klienten geeignet ist, findet in Schritt 6 der Betätigungsanalyse statt. Dabei sollte kritisch erwogen werden, welchen Nutzen die Ergotherapie für den Klienten hat. Beispiel

Einer Klientin wurden wegen eines Mammakarzinoms einige Lymphknoten im Bereich der rechten Achsel entfernt. Sie ist Rechtshänderin und hat nun ein leichtes Lymphödem am rechten Arm. Sie beschreibt, dass das Schreiben mit der Hand dadurch erschwert sei, vor allem morgens, wenn der Arm noch

etwas geschwollen ist. Sie ist Studentin und fertigt während den Vorlesungen viele Mitschriebe von Hand. In der Physiotherapie hat sie einen Kompressionsstrumpf erhalten und entstauende Bewegungsübungen kennen gelernt, beide Maßnahmen helfen ihr sehr. Zudem hat sie bereits selbst eine Veränderung am Schreibprozess vorgenommen: Sie benutzt jetzt zum Schreiben dickere Stifte. Damit kommt sie gut klar und beschreibt eine fortlaufende Verbesserung ihres Betätigungsanliegens. Es wird vereinbart, dass momentan keine Indikation für eine ergotherapeutische Intervention vorliegt. ◄

26.3.3 Intervention Auf die Evaluation folgt als nächster Schritt im ergotherapeutischen Prozess die Intervention. Viele Ergotherapeuten sind sich dabei unsicher, welche Interventionen sie bei einer betätigungszentrierten Ausrichtung der Therapie anwenden können. Ein Blick auf das Framework der AOTA von 2018 zeigt die Vielfalt möglicher Interventionen: • Therapeutischer Einsatz von Betätigung und Aktivität durch das Ermöglichen einer zufriedenstellenden Ausführung des Betätigungsanliegens des Klienten. Dafür kann die Ausführung mehrfach wiederholt und durch verschiedene Kompensationsstrategien oder Hilfsmittel geringfügig verändert und auf ihre Tauglichkeit für den Klienten überprüft werden. • Vorbereitende Methoden, z. B. Hilfsmittelversorgung und -anpassung, Rollstuhl-/Rollatortraining. • Vorbereitende Aufgaben, z.  B.  Schultermobilisation, Wärmeapplikation. • Schulung und Training, z.  B.  Arbeitsplatzberatung, Hirnleistungstraining, Sturzprophylaxe, Schulung über Fatigue, CIPN. • Fürsprache, z.  B.  Unterstützung bei Vermittlung zwischen Klient und Angehörigen. • Gruppeninterventionen.

26  Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess

271

cc Das Framework der AOTA macht also klar: Funktionsorientierte Ansätze können den betätigungszentrierten Ansatz ergänzen!

schrieben, sondern auch festgehalten, ob ein weiterer Bedarf an Ergotherapie besteht.

So sind z. B. bei einem Klienten mit CIPN und dem Betätigungsanliegen „Postkarten schreiben“ ein funktionsorientiertes Sensibilitätstraining (Abschn. 27.10.3) und eine Schulung über CIPN eine sinnvolle Ergänzung der Therapie.

26.3.5 Assessments

cc Während jeder Intervention wird die Reaktion des Klienten beobachtet und damit die Intervention auf ihren Nutzen überprüft. Somit kann der Prozess immer wieder verändert und an die Bedürfnisse des Klienten neu angepasst werden.

26.3.4 Outcome In einem letzten Schritt wird im ergotherapeutischen Prozess von Klient und Ergotherapeut bewertet, ob bzw. wie weit die Interventionen zum gewünschten Erfolg geführt haben. Für einen aussagekräftigen Vorher-Nachher-Vergleich sollten dieselben Assessments wie bei der Evaluation eingesetzt werden. cc Im Outcome zeigt sich, ob der Klient seine Ziele erreichen konnte und wie er mit seiner Performance zufrieden ist. Assessments machen das Ergebnis mess- und nachweisbar. Ist der Klient zufrieden, kann der Prozess abgeschlossen werden. Im Schlussbericht wird nicht nur der ergotherapeutische Prozess be-

Assessments stellen eine Beurteilung oder Einschätzung dar und helfen bei der organisierten Datensammlung. Assessments werden in verschiedenen Formen durchgeführt, z. B. als Interview, als Beobachtung oder mit standardisierten Tests. Als Assessment zählen die Datenerfassung zu Beginn der Therapie wie das Aufschreiben eines Tagesprofils, eine Betätigungsanalyse, der COPM, der DASH oder das Brief Fatigue Inventory (BFI). Natürlich kann mit dem Klienten nur eine begrenzte Anzahl Assessments durchgeführt werden. Eine gezielte Auswahl betont aber auch die Fokussierung auf die Betätigungsanliegen. Bei ihrer Auswahl sind folgende Überlegungen wichtig: • Welcher Gegenstandsbereich der Ergotherapie soll beurteilt werden? • Welche Fragen sollen beantwortet werden? • Welche Auswirkungen haben die Ergebnisse auf den weiteren Prozess? In den Kap. 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33 und 34 finden sich Assessments zu den Themen dieser Kapitel. Tab. 26.1 zeigt weitere Assessments, die bei onkologischen Klienten eingesetzt werden ­können.

Betätigungsbereich

Komponente des Gegenstandsbereichs der Ergotherapie

ADL IADL Erholung und Schlaf Arbeit Freizeit Soziale Partizipation

Kategorie innerhalb jeder Komponente

Test of Grocery Shopping Skills (TOGSS; Brown et al. 2009) Worker Role Interview (WRI; Braveman et al. 2005)

Activity Card Sort (ACS; Baum und Edwards 2008) Activity Measure für Post-Acute Care Short Forms for Inpatient and Outpatient Settings (AM-PAC; Jette et al. 2015) FIM™ Uniform Data System for Medical Rehabilitation 1997 Instrumental Activities of Daily Living Scale (Lawton und Brody 1969) Katz Index of Independence in Activities of Daily Living (Katz et al. 1963) Kohlman Evaluation of Living Skills (KELS; Kohlmann – Thomson und Robnett 2016) Physical Self-Maintenance Scale (Lawton und Brody 1969)

Beispiele für Assessments, die in der ergotherapeutischen Praxis angewandt werden

Instrument zur Messung von Beeinträchtigungen bei älteren Erwachsenen in einer Gemeinschaft oder Institution zur Assessment- oder Behandlungsplanung; die Items haben beobachtbare Verhaltensweisen zum Ziel Performanzbasiertes Messinstrument, wie genau und effizient Klienten Gegenstände in einem Supermarkt finden können Assessment zu psychosozialen Variablen, welche die Rückkehr an den Arbeitsplatz vorhersagen

Assessment (zur Einschätzung) von basalen täglichen Lebensfunktionen

Rating-Tool zur funktionellen Performanz, bei der Selbstversorgung, Schließmuskel­kontrolle, Transfers, Fortbewegung, Kommunikation und soziale Kognition Instrument zur Beurteilung von IADL, die für das Funktionieren in der Gemeinschaft (z. B. Einkaufen, Kochen, Finanzen) notwendig sind Abgestuftes Assessment zur Beurteilung (von Aktivitäten) wie Baden, Körperpflege, Transfers, Toilettengang, Ernährung und Kontinenz

Flexibles und zweckmäßiges Messinstrument für Betätigungen, das Klienten hilft, ihre IADL zu beschreiben Instrument zur Einschätzung von Aktivitätslimitationen, welches funktionelle Aktivitäten untersucht, denen Erwachsene häufig während ihrer täglichen Routine begegnen

Kurze Beschreibung des Assessments

Tab. 26.1  Ausgewählte Assessments, die häufig bei Erwachsenen mit einer Krebserkrankung verwendet werden. (Braveman et al. 2019, mit freundl. Genehmigung)

272 S. Heizmann

Kontext und Umwelt

Performanzmuster

Motorische Fertigkeiten

Performanzfertig­keiten

Kultureller, personbezogener, zeitlicher und virtueller Kontext; psychische/ körperliche und soziale Umwelt, welche die Performanz beeinflusst

Prozessbezogene Fertigkeiten (z. B. nimmt teil, initiiert, verwendet, sequenziert, organisiert, sucht/findet, nutzt, passt an) Soziale Interaktionsfertig­keiten (z. B. Sprachpro­duktion, flüssig sprechen, fragen, antworten und Ausdrücken von Emotionen) Gewohnheiten, Routinen, Rituale, Rollen

Gleichgewicht und funktionelle Mobilität

Kategorie innerhalb jeder Komponente

Komponente des Gegenstandsbereichs der Ergotherapie

Occupational Circumstances Assessment Interview and Rating Scale (OCAIRS; Forsyth et al. 2005) Occupational Performance History Interview (OPHI-II; Kielhofner et al. 2004) Model of Human Occupation Screening Tool (MOHOST; Parkinson et al. 2006) Work Environment Impact Scale (WEIS; Moore-Corner et al. 1998)

Canadian Occupational Performance Measure (COPM; Law et al. 2014)

(Fortsetzung)

Screening-Assessment für den Großteil der Konzepte des Modells menschlicher Betätigung (Volition, Habituation, Fähigkeiten und Umwelt), die einen Überblick über die Betätigungsfunktionen des Klienten geben Semistrukturiertes Interview und Beurteilungsskala, welche untersucht, wie Klienten mit körperlichen/psychischen oder psychosozialen Beeinträchtigungen ihr Arbeitsumfeld erleben und wahrnehmen

Semistrukturiertes Interview, das die Lebensgeschichte des Klienten in den Bereichen Arbeit, Freizeit/Spiel und Selbstversorgung untersucht

Klientenzentriertes Instrument, um Klienten zu befähigen, tagtägliche Probleme zu identifizieren und zu priorisieren, die ihre Performanz des täglichen Lebens beeinträchtigen oder beeinflussen Instrument, welches eine Struktur zur Sammlung von Informationen bietet und über das Ausmaß der Partizipation des Klienten Auskunft gibt

Beobachtendes Assessment, welches Daten über Kommunikations- und Interaktionsfertigkeiten in drei Bereichen sammelt: körperlicher Zustand, Austausch von Informationen und Beziehungen

Assessment of Communication and Interaction Skills (Forsyth et al. 1998)

Assessment of Motor an Process Skills (AMPS; Fisher und Jones 2012)

Kurzes Assessment zur Stärke der erlebten Fatigue der letzten 24 h und deren Auswirkungen auf die Funktion Fragebogen zur Beurteilung der Fähigkeit einer Person, alltägliche Aufgaben durchzuführen, die dazu verwendet werden können, die ursprüngliche Funktion, den weiteren Fortschritt und die Ergebnisse eines Klienten zu messen sowie funktionelle Ziele zu setzen Messinstrument zur Qualität der Performanz einer Person hinsichtlich funktioneller Aufgaben, die durch ein Bewertungssystem in Form von Leistung, Effektivität, Sicherheit und Unabhängigkeit motorischer und prozessbezogener Fertigkeiten beurteilt werden

Kurze Beschreibung des Assessments

Brief Fatigue Inventory (BFI; Mendoza et al. 1999) Lower Extremity Functional Scale (Binkley et al. 1999)

Beispiele für Assessments, die in der ergotherapeutischen Praxis angewandt werden

26  Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess 273

Ergebnisse

Klientenfaktoren

Komponente des Gegenstandsbereichs der Ergotherapie

Kontrolle von Willkürbewegungen (z. B. groß- und feinmotorische Kontrolle, Auge-Hand-­Koordination, mundmotorische Kontrolle, Blickbewegungs­steuerung) Lebensqualität

Funktion des Atmungssystems

Sensorische Funktion

Körperfunktionen Mentale Funktionen (z. B. Aufmerk­ samkeit, Gedächtnis, Kognition auf höheren Ebenen, Wahrnehmung)

Kategorie innerhalb jeder Komponente

Tab. 26.1 (Fortsetzung)

Functional Assessment of Cancer Therapy (FACT; Cella et al. 1993) Functional Assessment of Chronic Illness (FACIT; Webster et al. 2003) Patient Reported Outcomes Measurement Information Systems (PROMIS; Cella et al. 2007)

UCSD Shortness of Breath Questionnaire (Eakin et al. 1998) Disabilities of the Arm, Shoulder and Hand (DASH; Gummesson et al. 2003) Manual Ability Measure (MAM; Chen und Bode 2010)

Executive Function Performance Test (Baum et al. 2008) Kettle Test (Hartman-Maeir et al. 2009) Multiple Errands Test – Revised (METR; Morrison et al. 2013) Montreal Cognitive Assessment (MoCa; Nasreddine et al. 2005) Test of Everyday Attention (Robertson et al. 1994) Rivermead Behavioural Memory Test (RBMT; Clare et al. 2008) Weekly Planning Calendar Activity (WPCA; Toglia 2015) Pain Visual Analog Scales

A-ONE (Àrnadóttir 2011)

Beispiele für Assessments, die in der ergotherapeutischen Praxis angewandt werden

Sammlung verschiedener Fragebögen, die sich auf die Lebensqualität beziehen und das Management der chronischen Erkrankung zum Ziel haben System zum körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefinden aus Klientensicht

Allgemeines Assessment zur Lebensqualität bei Klienten mit Krebs

Selbst zu beantwortender Fragebogen, um körperliche Funktionen und Symptome bei Klienten mit muskuloskelettalen Beeinträchtigungen/Erkrankungen der oberen Extremität zu messen Betätigungsorientiertes Assessment der manuellen Fähigkeit

Messung zur selektiven Aufmerksamkeit, Daueraufmerksamkeit und Wechsel der Aufmerksamkeit Assessment für visuelle Wiedererkennung, verbale Wiedererkennung, Abruf, sofortiges und verzögertes tägliches Gedächtnis Untersuchungsinstrument für exekutive Funktionen, kognitive Funktionen auf höheren Ebenen und die Art von Performanzproblemen Visuelle oder gesprochene Skalen, um Schmerzen einzuordnen (z. B. 0 = keine Schmerzen bis 10 = schlimmste vorstellbare Schmerzen; Wong Baker FACES: Schmerzbeurteilungsskala, die Bilder verwendet, von keine Schmerzen bis schlimmste Schmerzen) Assessment zur Untersuchung von Kurzatmigkeit bei ADL

Performanzbasiertes Assessment kognitiver funktioneller Performanz Instrument zur Evaluation von exekutiven Funktionsbeeinträchtigungen bei täglichen Funktionen durch eine Anzahl von „Real-­World“-/lebenswirklichen Aufgaben Kurzes Screeninginstrument bei milden kognitiven Beeinträchtigungen

Kognitives Assessment, welches direkt funktionelle Performanz (ADL und Mobilität) mit neuropsychologischen Defiziten verlinkt wie z. B. kognitive Wahrnehmungsbeein­trächtigungen und motorische Beeinträchtigungen, die mit einer Schädigung des zentralen Nervensystems zusammenhängen Performanzbasiertes standardisiertes Assessment kognitiver Funktionen

Kurze Beschreibung des Assessments

274 S. Heizmann

26  Bemerkungen zum ergotherapeutischen Prozess

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S. Heizmann Ergotherapie in der Pädiatrie – klientenzentriert – betätigungsorientiert – evidenzbasiert. Schulz-Kirchner, Idstein, S 119–132 Toglia J (2015) Weekly calendar planning activity. AOTA Press, Bethesda Uniform Data System for Medical Rehabilitation (1997) Guide for the uniform data set for medical rehabilitation (including the FIM™ instrument), version 5.1. Author, Buffalo Webster K, Cella D, Yost K (2003) The functional assessment of chronic illness therapy (FACIT) measurement system: properties, applications, and interpretation. Health Qual Life Outcomes 1:79. https://doi. org/10.1186/1477-­7525-­1-­79

Teil V Ergotherapie in der Onkologie – Häufige klinische Situationen

Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

27

Sabrina Heizmann, Thomas Kroner und Lina Herrmann

27.1 Definition und Terminologie

27.2 Prävalenz

Der Begriff „Polyneuropathie“ bezeichnet eine Schädigung peripherer Nerven. Sie ist häufig die Folge von Diabetes mellitus oder Alkoholismus, tritt aber auch in der Folge von anderen Krankheitszuständen auf, so bei Vitamin-B12 Mangel, bei Autoimmunerkrankungen, bei Vergiftungen mit Schwermetallen (Blei, Quecksilber) oder als Nebenwirkung verschiedener Medikamente. Polyneuropathien als Folge von Chemotherapien und anderen medikamentösen Tumortherapien werden als chemotherapieinduzierte Polyneuropathie – abgekürzt CIPN – bezeichnet. Seltener führen bei Tumorerkrankungen auch andere Faktoren zu einer Polyneuropathie: Beim Multiplen Myelom (Abschn.  43.1) kann die Polyneuropathie auch als direkte Krankheitsfolge auftreten, bei anderen Tumoren als paraneoplastisches Symptom (Abschn. 3.2).

Tumorwirksame Medikamente schädigen periphere Nerven in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Eine generelle Prävalenz kann deswegen nicht angegeben werden. Bei vielen Medikamenten treten gar keine Neuropathien auf, anderseits zeigen beispielsweise bis zu 75 % der mit Oxaliplatin behandelten Patienten teils schwere neuropathische Symptome.

Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/ 10.1007/978-3-662-64230-6_27]. S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected] T. Kroner Winterthur, Schweiz L. Herrmann Oberwolfach, Deutschland

27.3 Ursachen und Risikofaktoren Verschiedene Wirkstoffe, die in der medikamentösen Tumortherapie zum Einsatz kommen, können periphere Nerven schädigen. Dazu gehören unter anderen Platinderivate (Cisplatin, Oxaliplatin), Taxane (Docetaxel, Paclitaxel), Vincaalkaloide (Vincristin, Vindesin), Eribulin, aber auch sog. zielgerichtete Medikamente wie Bortezomib und Immuncheckpointhemmer (Atezolizumab, Ipilimumab und andere). Einzelheiten zu diesen Substanzen Kap. 11. Die Intensität der CIPN ist je nach Medikament in unterschiedlichem Ausmaß abhängig von der Höhe der Einzeldosis, der Höhe der Gesamtdosis und der Verabreichungsweise (z. B. der Dauer der Infusion). Kombinationen von neurotoxischen Substanzen erhöhen das Risiko erheblich.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_27

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280

S. Heizmann et al.

Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus und Alkoholmissbrauch begünstigen die Entwicklung einer CIPN.

27.4 Symptome Periphere Nerven enthalten Fasern für die Leitung sensibler, motorischer und vegetativer Reize. In all diesen Bereichen können Symptome einer CIPN auftreten. Sensibilitätsstörungen sind in der Regel die ersten vom Klienten verspürten Symptome: • Parästhesien (Missempfindungen), beispielsweise Kribbeln („Ameisenlaufen“) oder Kältegefühl. Auch ein Gefühl von „Eingeschnürtsein“ wird beschrieben. • Hypästhesie (verminderte Sensibilität) äußert sich als Taubheitsgefühl oder als verminderte oder fehlende Wahrnehmung von Druck, Berührung, Schmerzreizen, Vibrationen und Temperatur. • Hyperästhesie (Überempfindlichkeit) kann auftreten: Dabei werden leichte Berührungen als schmerzhaft empfunden. • Störungen der Tiefensensibilität äußern sich in fehlendem Lagesinn, d. h., die Stellung der Gelenke wird nicht mehr richtig wahrge­ nommen. Diese Störungen beginnen typischerweise an den Fingerspitzen und Zehen und breiten sich im weiteren Verlauf handschuh- und sockenförmig aus (Abb.  27.1). Diese Verteilung ist für die CIPN typisch, da die längsten Nervenfasern am empfindlichsten auf die auslösenden Medikamente reagieren. Bei zunehmender Schädigung können sich die Symptome von den Händen und Füßen weiter auf Arme und Beine ausdehnen.

Abb. 27.1 Typische strumpf-und handschuhförmige Ausprägung einer Polyneuropathie. (Auf Grundlage einer Abb. von S. Raeber und U. Thormann, lizenziert unter CC-BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons. (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Human_body_schemes. png?uselang=de#filelinks)

Motorische Störungen • Muskelschwäche ist das erste und wichtigste Zeichen einer Störung motorischer Fasern. Sie schreitet selten bis zu Lähmungen fort. Auch sie betrifft zuerst die kleinen Muskeln der Hände und Füße, später evtl. auch die Muskulatur von Armen und Beinen. Bei längerer Dauer entwickelt sich ein Muskelschwund (Atrophie) der betroffenen Muskeln. • Muskelkrämpfe: Klienten beschreiben plötzlich eintretende, meist schmerzhafte Kontrak-

27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

tionen von Muskeln. Diese lassen gewöhnlich nach kurzer Zeit wieder nach. • Muskelzuckungen (Faszikulationen): Feine, unwillkürliche Zuckungen von einzelnen kleinen Muskelgruppen sind ein Zeichen der Denervation dieser Muskeln. Sie sind bei genauer Beobachtung an der Haut auszumachen. Vegetative Störungen, d.  h. Symptome der Schädigung autonomer Nervenfasern, äußern sich beispielsweise als orthostatische Hypotonie (starker Blutdruckabfall im Stehen), als Harnverhaltung, Herzrhythmusstörung, Verdauungsstörung oder als übermäßiges Schwitzen. Neuropathische Schmerzen sind ein typisches, sehr belastendes Symptom der CIPN, sie stehen für den Klienten oft im Vordergrund seiner Beschwerden. Sie werden als sehr intensiv, einschießend, elektrisierend, stechend oder brennend beschrieben. Sie können durch Berührung oder andere Hautreize ausgelöst werden. Die Symptome treten bei verschiedenen Patienten in sehr unterschiedlicher Ausprägung auf. Die Kombination der Sensibilitätsstörungen (vor allem Schwächung von Tastempfinden und Lagesinn) mit motorischer Schwäche kann den Klienten erheblich einschränken: • An den Händen äußert sich das in einer Störung der Feinmotorik: Schwierigkeiten beim Zuknöpfen von Kleidungsstücken sind ein typisches frühes Symptom der CIPN, da für diese Tätigkeit sowohl ein intaktes Tastgefühl als auch eine gewisse Kraft in den Fingern nötig ist. Ebenso können Schwierigkeiten bei Handarbeiten oder beim Halten einer Kaffeetasse oder eines Kugelschreibers auftreten. Veränderungen der Handschrift sind ebenfalls frühe Zeichen einer gestörten Feinmotorik. • An den Füßen beschreiben Klienten als Zeichen der gestörten Sensibilität oft das Gefühl, „auf Watte zu gehen“. Die Störung der Oberflächen- und der Tiefensensibilität (Lagesinn), kombiniert mit einer Schwäche der Fuß- und

281

evtl. Unterschenkelmuskulatur, führt zu Gangunsicherheit und reduziertem „Standvermögen“. Beim Nachfragen entdecken viele Klienten, dass sie diese Schwäche im Alltag bereits kompensieren, ihnen dies jedoch nicht aufgefallen ist: Beim morgendlichen Ankleiden lehnt sich der Klient z. B. an die Wand, statt im Einbeinstand die Hose anzuziehen.

27.5 Verlauf Die Symptome der CIPN beginnen typischerweise wenige Wochen nach Beginn einer Behandlung mit neurotoxischen Medikamenten. Sie verschlechtern sich bei Weiterführen der Behandlung und können auch nach ihrem Abschluss noch während Monaten weiter zunehmen oder erstmals auftreten. Dieses sog. Coasting-­Phänomen tritt vor allem bei Platinpräparaten auf: In einer Untersuchung zeigten mehr als 50 % der mit Cisplatin behandelten Patienten noch nach Therapieende ein solches Coasting-­Phänomen, oft mit Auftreten von neuen Symptomen, beispielsweise von Muskelkrämpfen (Park et al. 2013). Im Allgemeinen klingen die Symptome nach Abschluss der Behandlung nach einer unterschiedlich langen Plateauphase langsam ab. cc Dauerhafte Restschäden sind allerdings häufig. • 3 Jahre nach Behandlung mit Taxanen (Paclitaxel, Docetaxel) verspürten immer noch 41  % der Patienten Symptome der CIPN (Park et al. 2013). • 7 Jahre nach Behandlung mit Oxaliplatin litten noch 29  % der Patienten an neuropathischen Störungen an den Füßen (Park et al. 2013). • 13 und mehr Jahre nach Behandlung mit Cisplatin fanden sich bei 50 % der Patienten noch immer Parästhesien an den Füßen, 6 % der Patienten waren durch die CIPN behindert. Alle Patienten hatten sich jedoch an die Symptome adaptiert (Strumberg et al. 2002).

S. Heizmann et al.

282

27.6 Folgestörungen

27.7 Diagnostik

CIPN kann zu Einschränkungen im Berufsleben führen. Je nach Stärke der Ausprägung an Händen oder Füßen sind etwa die Fahrtüchtigkeit, das Führen von Maschinen oder feinmotorische Tätigkeiten, z. B. bei Floristen oder Schneidern, zu überprüfen und zu beurteilen. Zur Beurteilung des Schweregrads der Neuropathie ist eine standardisierte Einteilung nützlich (Tab.  27.1). Im Allgemeinen kann bei einem Schweregrad 1, evtl. auch Grad 2 von einer vollen Leistungsfähigkeit im Berufsleben ausgegangen werden. Dabei sind aber die individuellen Bedingungen, mit denen sich der Klient an seinem Arbeitsplatz konfrontiert sieht, immer zu berücksichtigen. So ist beispielsweise ein Juwelier, der mit kleinen Edelsteinen arbeitet, bereits bei einer Polyneuropathie Grad 2 in seiner Arbeitsfähigkeit erheblich beeinträchtigt, während ein Bauarbeiter mit den gleichen Störungen noch voll arbeitsfähig sein kann. Bei der Beurteilung gilt es zu beachten, wie lange die Polyneuropathie schon besteht (länger als 6 Monate). Neben verschiedenen Assessments zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ist auch eine Belastungserprobung mit der Nachstellung der jeweiligen Arbeitsaufgaben oder eine Arbeitserprobung am bestehenden Arbeitsplatz sinnvoll.

27.7.1 Fragen zur Anamnese

Tab. 27.1  Schweregradeinteilung der Polyneuropathie in Anlehnung an das Klassifikationssystem CTCAE (Common Terminology Criteria for Adverse Events;

Abschn. 8.6). (Mit freundl. Genehmigung der Leukämiehilfe Rhein-Main e.V. 2014).

Schweregrad 1 (mild)

2 (moderat)

3 (schwer)

4 (lebensbedrohlich)

Art der Symptome Neuropathische Schmerzen Leichte Schmerzen ohne Therapiebedarf

Mäßige Schmerzen: Schmerz oder Schmerztherapie beeinflussen die Funktion, aber nicht die Alltagsaktivitäten Starker Schmerz: Schmerz oder Schmerztherapie beeinflussen erheblich die Alltagsaktivitäten Invalidisierende Schmerzen

Um die genauen Symptome der CIPN des Klienten zu erfassen, sind im Folgenden einige Stichpunkte zu möglichen Fragen zusammengefasst. Fragen nach sensiblen Reiz- und Ausfallerscheinungen • Kribbeln, Ameisenlaufen oder andere Sensibilitätsstörungen? • Neuropathische Schmerzen? Fragen nach motorischen Reiz- und Ausfallerscheinungen • Muskelschwäche, schnelle Ermüdbarkeit? • Mühe, das Gleichgewicht zu halten? • Muskelzucken oder Muskelkrämpfe? • Muskelschwund? Fragen nach autonomen Störungen • Vermehrtes oder vermindertes Schwitzen? • Störungen beim Wasserlösen? • Schwierigkeiten bei der Erektion? • Verdauungsstörungen?

Motorische Neuropathie Asymptomatische Muskelschwäche, nur bei Untersuchung nachweisbar

Symptomatische Muskelschwäche mit Beeinflussung der Funktion, aber keine Beeinflussung der Alltagsaktivitäten Muskelschwäche mit Beeinflussung der Alltagsaktivitäten (z. B. Nutzung eines Gehstocks) Invalidisierend

Sensorische Neuropathie Asymptomatisch; Verlust der Sehnenreflexe oder Parästhesien (einschließlich Kribbeln) ohne Beeinflussung der Funktion Sensorische Störungen, auch Parästhesien (einschließlich Kribbeln), Beeinflussung der Funktion, aber keine Beeinflussung der Alltagsaktivitäten Sensorische Störungen, auch Parästhesie, mit Beeinflussung der Alltagsaktivitäten

Invalidisierend

27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

27.7.2 Befunde Prüfung der Sensorik • Vibrationsempfinden: Mit der Stimmgabel nach Rydel-Seiffer (Abb.  27.2) kann das Vibrationsempfinden quantitativ bestimmt werden. Es ist dies  – neben der Prüfung der Muskeleigenreflxe (s. unten) – die empfindlichste Methode zum objektiven Nachweis einer CIPN.  Der Untersucher bringt die Stimmgabel zum Schwingen (z.  B. durch Anschlagen an seinem Handballen) und setzt sie dem Patienten auf den Außenknöchel des Fußes. Der Patient nennt den Zeitpunkt, an dem er die immer schwächer werdende Vibration nicht mehr verspürt. In diesem Moment liest der Untersucher an der Skala an den Enden der Stimmgabel die Stärke der Vibration ab. Bei gesunden Personen unter 60 Jahren liegt dieser Wert zwischen 6 und 8, bei einer Polyneuropathie deutlich niedriger. • Berührungssensibilität: –– Mit einem Wattebausch kann einfach und schnell geprüft werden, ob der Klient leichte Berührungen verspürt. Bei einer Hyperalgesie wird die Berührung als brennend beschrieben. –– Mit einer Steck- oder einer Sicherheitsnadel wird geprüft, ob der Unterschied

283

zwischen spitz und stumpf wahrgenommen wird: Die Haut des Klienten wird in zufälliger Reihenfolge mit dem spitzen oder dem stumpfen Ende der Nadel berührt, und der Klient sagt, ob er die Berührung als spitz oder stumpf wahrnimmt. –– Quantitativ kann die Oberflächensensibilität mit dem Semmes-Weinstein-­ Monofilament geprüft werden. Das Untersuchungsinstrument ist ein kurzer Stab, an dem ein Nylonfaden von definierter Stärke – das Monofilament – befestigt ist. Es stehen Stäbe mit verschieden dicken standardisierten Filamenten zur Verfügung. Das Filament wird vom Therapeuten senkrecht auf die Haut aufgesetzt und gedrückt, bis es sich etwas durchbiegt. In diesem Moment sollte der Klient das Filament bzw. den Druck verspüren. Spürt der Klient dies nicht, wird der Test mit einem dickeren Filament wiederholt. Der Test ist zeitaufwendig. Er wird von Schormann (2019) im Detail beschrieben. • Temperaturempfinden: Das Warm-Kalt-Empfinden des Klienten wird mithilfe von Trink- oder Reagenzgläsern ­getestet, die mit kaltem bzw. warmem Wasser gefüllt sind. • Lagesinn (Propriozeption): Der Untersucher bewegt die Großzehe (evtl. auch Fingergelenke) des Klienten nach oben oder nach unten. Der Klient hält die Augen geschlossen und sagt, ob und in welcher Richtung er die Bewegung verspürt. • Muskeleigenreflexe: Mit dem Reflexhammer wird die Auslösung der Muskeleigenreflexe geprüft. Die Abschwächung oder der Verlust von cc  Achillessehnenreflex und Vibrationsempfinden sind die ersten objektivier­baren Symptome einer CIPN.

Abb. 27.2  Stimmgabel nach Rydel-Seiffer. (Mit freundl. Genehmigung von Luxamed GmbM &Co.)

Die entsprechenden Untersuchungen sollten deshalb bei Patienten, die mit neurotoxischen Substanzen behandelt werden, vor und während dieser Behandlung regelmäßig durchgeführt werden.

284

Prüfung von Motorik und Koordination Auch bei den motorischen Fasern werden zuerst die längsten Fasern geschädigt. Das heißt, dass die ersten Symptome von abnehmender Kraft sich an den Füßen (Zehen), dann an den kleinen Handmuskeln (Fingern) nachweisen lassen. • Zehen: Der Klient wird aufgefordert, seine Zehen einzeln gegen den Widerstand des Untersuchers zu beugen bzw. anzuheben. • Fersen- und Zehengang: Der Klient wird aufgefordert, mit angehobenem Vorfuß auf den Fersen bzw. mit angehobener Ferse auf dem Vorfuß einige Schritte zu machen. • Fingerspreizen: Der Klient wird aufgefordert, Zeige- und Kleinfinger gegen Widerstand (Daumen und Zeigefinger des Untersuchers) zu spreizen. • Romberg-Test: Mit dem Test wird die Standsicherheit überprüft. Die Standsicherheit ist sowohl bei Beeinträchtigung der Kraft wie der Tiefensensibilität (Lagesinn) eingeschränkt. Der Klient steht mit aneinander liegenden Füßen, vorgestreckten Armen und geschlossenen Augen aufrecht im Raum. Der Untersucher achtet dabei auf Schwankbewegungen des Körpers. Er steht während des Tests nahe hinter dem Klienten und ist bereit, ihn festzuhalten, sollte der Klient stürzen.

S. Heizmann et al.

Apparative Untersuchungen wie die Elektroneurografie (ENG) zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit und die Elektromyografie (EMG) zur Messung der elektrischen Muskelaktivität sind dem Arzt vorbehalten. Messinstrumente wie z.  B. der Allensbacher Feinmotoriktest (AFM) oder auch der Tinetti-­Test sowie auch die Berg Balance Scale können nach Ermessen des Therapeuten eingesetzt werden. Der Einsatz dieser Instrumente sollte sich an den vom Klienten im Alltag beschrieben Schwierigkeiten richten. Diese sollten klientenzentriert z. B. durch den COPM im Erstgespräch ermittelt werden. Fragebogen Wie die vorherigen Absätze zeigen, kann die Befundaufnahme einer Polyneuropathie sehr umfangreich sein. Die Klienten zeigen nicht alle Symptome. Zudem gilt es herauszufinden, inwiefern die Polyneuropathie den Klienten stört und bei seinen Betätigungen im Alltag einschränkt. Daher ist es sinnvoll, die Klienten durch einen Fragebogen ihre Beschwerden bewerten zu lassen (Abb. 27.3). Aus dem Ergebnis können weitere Schritte der intensiveren Befundung abgeleitet werden. Wichtig für Ergotherapeuten sind zudem Assessments, die die Alltagsbewältigung und Partizipation aufgrund der Beschwerden ermitteln. Eine Auflistung von möglichen Assessments dazu ist in Kap. 26 zu finden.

27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

285

Fragebogen für Patienten Wie stufen Sie die in den vergangenen 7 Tagen aufgetretenen Symptome ein? Bitte verwenden Sie die Bewertungsskala und kreisen Sie die entsprechende Nummer ein. gar nicht

wenig

mäßig

stark

sehr stark

lch hatte ein Taubheitsgefühl bzw. Kribbeln in meinen Händen/Fingern

0

1

2

3

4

lch hatte ein Taubheitsgefühl bzw. Kribbeln in meinen Füßen

0

1

2

3

4

Ich hatte andere unangenehme Gefühle in meinen Händen

0

1

2

3

4

lch hatte andere unangenehme Gefühle in meinen Füßen

0

1

2

3

4

lch hatte Schwierigkeiten, Kleidungsstücke zuzuknöpfen

0

1

2

3

4

lch hatte Schwierigkeiten, kleinere Objekte zu halten, zu erkennen

0

1

2

3

4

lch hatte allgemein keine körperliche Kraft mehr

0

1

2

3

4

lch hatte Schwierigkeiten, zu laufen

0

1

2

3

4

lch hatte Hörprobleme

0

1

2

3

4

lch hatte Geräiusche in den Ohren (klingen/summen/dröhnen)

0

1

2

3

4

Abb. 27.3  Fragebogen für Klienten zur Erfassung der therapieassoziierten Neurotoxizität. FACT/GOG-NTX-12 (Version 4). (Adaptiert nach Functional Assessment of

Chronic Illness Therapy/Gynecologic Oncology Group Neurotoxicity Questionnaire; www.facit.org)

27.8 Prävention

tiert. Nachgewiesen ist die Wirkung von Unterkühlung als Prophylaxe der Ablösung der Fingerund Zehennägel (Onycholyse) durch Taxane, eine häufige Nebenwirkung dieser Medikamente. Sie wird mit dieser Indikation deshalb bereits von vielen Onkologen routinemäßig durchgeführt. Als Prophylaxe der CIPN ist ihre Wirksamkeit noch nicht genügend belegt, sie wird deshalb von den Fachgesellschaften nur bedingt empfohlen („kann in Betracht gezogen werden“) (Jordan et al. 2020). Möglicherweise hilft der frühzeitige prophylaktische Beginn eines Bewegungstrainings, motorische Defizite zu verringern.

Die einzige sicher wirksame Prävention der CIPN ist die frühzeitige Erkennung der ersten Symptome durch regelmäßige Befragung der Patienten und Kontrolle von Reflexstatus und Vibrationsempfinden. Das Auftreten von CIPN-Symptomen muss dazu veranlassen, die Therapie zu überdenken und eventuell die Dosierung oder die Art der Verabreichung zu ändern oder auf ein weniger neurotoxisches Medikament zu wechseln. Es ist möglich, dass die neurotoxische Wirkung von Taxanen (Paclitaxel und Docetaxel) durch lokale Unterkühlung während der Applikation abgeschwächt wird. Die Patienten tragen dabei während der Taxan-Infusion spezielle „Kältehandschuhe“ und „Kältestrümpfe“, die durch Lagerung im Tiefkühlfach auf Temperaturen unter –20 °C gekühlt wurden. Auch das Eintauchen der Hände und Füße in eiskaltes Wasser wird prophylaktisch angewandt, die Wirkung dieser Methode ist allerdings schlecht dokumen-

cc Zur Vermeidung eines Funktionsverlustes kann bereits mit Beginn einer potenziell neurotoxischen Tumortherapie eine Anleitung zum regelmäßigen Funktionstraining vor allem der Zehen- und Fingerfunktionen erfolgen. Es ist derzeit ungeklärt, ob ein Training sensorischer Qualitäten (z.  B. durch Übungen im

S. Heizmann et al.

286

Bohnenbad) zusätzlich nützlich ist (Leitlinienprogramm Onkologie 2020). Eine wirksame medikamentöse Prophylaxe der CIPN ist nicht bekannt. Zahlreiche Studien mit unterschiedlichen Substanzen ergaben durchwegs negative Resultate. Insbesondere konnte von der Verabreichung von Mineralsalzen, Vitaminen oder anderen Spurenelementen keine schützende Wirkung nachgewiesen werden. Vor der unkontrollierten Einnahme von Vitamin E ist zu warnen.

27.9.2 Nichtmedikamentöse Behandlungen

27.9 Behandlung – Überblick

Bewegungstherapie In einer kleinen Studie zeigte eine zweiwöchige aktive Bewegungstherapie eine positive Wirkung auf Schmerzen, Gehdistanz und Schlaf bei CIPN nach Oxaliplatin-Therapie (Gui et al. 2021).

27.9.1 Medikamentöse Behandlung Störungen von Sensibilität und Motorik Es gibt zurzeit keine gesicherte medikamentöse Behandlung von Sensibilitätsstörungen oder motorischen Defiziten im Rahmen einer CIPN. Einzig für das Antidepressivum Venlafaxin besteht ein Hinweis auf einen möglichen Nutzen. Mineralsalze, Vitamine und andere cc  Spurenelemente sind zur Behandlung von Symptomen der CIPN ohne Wirkung. Vor der unkontrollierten Einnahme von Selen oder Vitamin E ist zu warnen.

Akupunktur In einer kleinen, methodisch guten randomisierten Studie (Bao et  al. 2020) zeigte Akupunktur nach 8 Wochen eine gewisse Verbesserung von Schmerzen und Parästhesien. Akupunktur kann deshalb bei ausgewählten Patienten zur symptomatischen Behandlung von CIPN in Betracht gezogen werden (Jordan et al. 2020).

Ergotherapeutische Behandlungen Ergotherapeutische Behandlungen können die Funktionalität bei CIPN verbessern. Verschiedene Methoden stehen zur Verfügung. Sie werden im nächsten Abschnitt beschrieben.

27.10 Die ergotherapeutische Behandlung 27.10.1 Ziele

Neuropathische Schmerzen Für die Behandlung neuropathischer Schmerzen stehen einige Medikamente zur Verfügung: Duloxetin (ein Antidepressivum aus der Gruppe der selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer [SSNRI]), Amitryptilin (ein trizyklisches Antidepressivum) und das Antikonvulsivum Pregabalin (Abschn. 34.12) lindern, alleine oder in Kombination, die Schmerzen (NIHR 2023). Auch für die lokale Anwendung von Mentholcreme 1 % und Capsaicin 8 % ist ein möglicher Nutzen nachgewiesen.

Die Therapieziele müssen klientenspezifisch cc  alltagsnah erhoben, formuliert und dokumentiert werden. Ein mögliches Therapieziel ist z. B. die Unterstützung bei CIPN-bedingten Schwierigkeiten, Knöpfe an der Bluse/am Hemd zu öffnen oder zu schließen (Abschn. 27.10.6). Um zu erfassen, mit welchen Betätigungsanliegen der Klient in die ergotherapeutische Einheit kommt, eignen sich einige Assessments wie z. B. der COPM. Weitere mögliche Assessments

27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

sind in Kap. 26 aufgelistet. Neben den unten aufgeführten Maßnahmen können die Förderung des Augen-Hand-Kontakts sowie die Hilfe und Anpassung von Hilfsmitteln oder Kompensationsstrategien das Erreichen der Ziele unterstützen.

27.10.2 Sensomotorik- und Vibrationstraining Die neuronale Plastizität, d. h. die Anpassungsfähigkeit des zentralen Nervensystems, kann durch ein Sensomotorik- oder Ganzkörper-­Vibrationstraining unterstützt werden. Koordination und Gleichgewicht werden positiv beeinflusst und somit das Sturz- und Verletzungsrisiko verringert. In Studien wurden positive Effekte auf sensorische und motorische Symptome nachgewiesen: eine verbesserte Tiefensensibilität, weniger temperaturinduzierte Missempfindungen, weniger Kribbelparästhesien und Taubheitsgefühle, verbesserte Achilles- und Patellarsehnenreflexe, eine verbessere Gleichgewichtskontrolle, mehr Kraft, ein erhöhtes körperliches Aktivitätsniveau und eine bessere Lebensqualität (Streckmann et al. 2019). Sensomotoriktraining Das Training beginnt wie in Abb. 27.4 dargestellt. Der Klient steht auf festem Untergrund mit beiden Füßen, die einen etwa hüftbreiten Abstand voneinander haben. Die Augen sind zunächst geöffnet. Erschweren kann man diese Übung durch z. B. Kopfdrehen. Eine weitere Erschwerung der Übung stellt das Schließen der Augen dar. Ebenfalls erschwert kann dieses Training dadurch werden, dass die Füße nah aneinandergestellt werden und somit die Unterstützungsfläche verringert wird. Die Füße eng versetzt nebeneinander und dabei mal den einen, mal den anderen Fuß nach vorne und zuletzt der Einbeinstand stellen ebenfalls eine Erhöhung des Schwierigkeitsgrades dar. Kann sich der Klient dabei gut ausbalancieren, kann das Training mit einer weicheren Unterlage fortgeführt werden. Eine weiche Unterlage kann z. B. eine Isomatte oder ein gefaltetes Handtuch darstellen. Die Stellung der Füße sowie Be-

287

wegungen des Kopfes und das Schließen der Augen stellen auch hier Steigerungen dar. In der dritten Stufe kann zusätzlich zur motorischen Aufgabe eine kleine kognitive Aufgabe hinzugefügt werden, z. B. in Form von Rechenaufgaben oder aber kleinen Spielen wie „Ich packe meinen Koffer“ oder „Blumen, Städte, Namen in alphabetischer Reihenfolge“ (z.  B.  Städte: Augsburg, Bamberg, Chemnitz, Dresden…). Trainingsdauer, Dauer der Übungen und Pausen sind Abb. 27.4 zu entnehmen. Vibrationstraining Ein Vibrationstraining kann als Ganzkörpervibration mittels einer Platte oder als lokale Vibration durchgeführt werden. Eine gute Evidenz für die Wirksamkeit besteht – im Gegensatz zur lokalen Therapie  – für die Ganzkörpervibration (Streckmann et al. 2019) (Abb. 27.5). Ganzkörpervibration mit Vibrationsplatte  Hierbei wird der Klient dazu aufgefordert, auf einer Vibrationsplatte bestimmte Körperhaltungen einzunehmen. Es gibt dabei eine seitensynchrone und eine seitenalternierende Vibrationsplattform, die beide zum Training eingesetzt werden können. Die unangenehme Weiterleitung der Vibration in Richtung Kopf ist bei der seitenalternierenden Plattform deutlich geringer ist als bei der seitensynchronen. Bei einem Vibrationstraining findet durch die Vibration eine Übertragung von mechanischen Schwingungen auf den Körper statt. Hierbei kommt es zur Dehnung des Muskel-­ Sehnen-­ Komplexes sowie zu zahlreichen weiteren Effekten, die jedoch noch nicht genügend erforscht sind. In jüngsten Studien zeigten sich unter Einhaltung von bestimmten Durchführungskriterien wie z.  B.  Dauer, Körperhaltung, Vibrationsfrequenz und Amplitude viele positive Entwicklungen bei den Klienten. So gaben die Klienten z. B. eine Verbesserung des Gangbildes und eine Reduktion des Sturzrisikos wie auch eine Steigerung der isometrischen Kraft und Verbesserung der posturalen Kontrolle an. Ebenso konnten Schmerzen reduziert werden.

288

S. Heizmann et al.

Abb. 27.4 Sensomotoriktraining (evidenzbasierte Trainingsempfehlung) bei Polyneuropathie (Streckmann und Balke 2018)

27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

Trainingssteuerung

Vibrationstraining

Trainingsdauer

Länger als 4 Wochen

Häufigkeit

2- bis 6-mal pro Woche

Dauer der Trainingseinheit

6–30 min

Dauer der Übung

20–60 s

Pause zwischen den Übungen

20–60 s

Anzahl der Serien

3–5

Pausen zwischen den Serien

1–4 min

Frequenz

>18 Hz – möglichst hoch

Amplitude

2–4 mm

Wie soll das Training aufgebaut sein?

Progressiv: Position auf dem Vorfuß (min-destens 80/20 %)

Effekte dieserTrainingsform

Anregung der neuronalen Adaptation

289

Reduktion von Schmerzen Einfluss auf atrophierte Skelettmuskulatur und Gangbild Verbesserung der isometrischen Kraft und Stäfkung der posturalen Kontrolle

Cave

Kontraindikationen beachten (z. B. Geschwüre am Fuß, Osteosynthesen, instabile Osteolysen, künstliches Hüft-/Kniegelenk, akute Beinvenenthrombose) Nicht barfuß trainieren

Abb. 27.5  Vibrationstraining (evidenzbasierte Trainingsempfehlung) bei Polyneuropathie (Streckmann und Balke 2018)

290

Die Klienten sollten die Übungen immer im Beisein eines Therapeuten absolvieren. Dem Therapeuten fällt dabei die Aufgabe zu, den Klienten zu einer korrekten Körperhaltung anzuleiten. Aufgrund der individuell ausgeprägten Symptomatik und der stärkeren oder schwächeren Gleichgewichtsstörungen ist die intensive Absprache zwischen Klient und Therapeut nötig, um Überforderungen und Gefahrenquellen wie z. B. Stürze zu vermeiden. Der Klient sollte mit leicht gebeugten Knien auf der Platte stehen und dabei mindestens 80 % des Körpergewichts auf den Vorfuß legen. Somit ist die Resonanz so weit wie möglich auf die untere Extremität beschränkt. Unangenehme Weiterleitungen in Richtung Kopf und Rumpf werden weitgehend unterbunden. Die gewählte Frequenz sollte dann mindestens bei über 18 Hz beginnen und stetig  – in Absprache mit dem Klienten – gesteigert werden. Wichtig zu wissen ist, dass es zum Vibrationstraining bis dato wenige Studien gibt. Die angegebenen Daten zur Einstellung des Gerätes sowie zur Übungsdauer, Anzahl der Serien etc. sind Empfehlungen, die weiterführender Studien bedürfen. Ebenso wird sich beweisen müssen, ob ein Sensomotorik- oder das Vibrationstraining oder gar die Kombination daraus am wirkungsvollsten für die Klienten ist. Lokale Vibration mit Handgerät  Lokale Vibration mit Handgerät (Beispiel Novafon®) wird von vielen Klienten mit CIPN als angenehm empfunden. Im Gegensatz zur Ganzkörpervibration mit Platte fehlen für diese Methode wissenschaftliche Belege für eine objektive Wirkung bei CIPN.  Es gilt, die Kontraindikationen des jeweiligen Herstellers unbedingt zu beachten.

27.10.3 Sensibilitätstraining Bei diesem Training steht die Stimulation der betroffenen Extremität mit verschiedenen Reizen im Vordergrund. Viele Klienten berichten danach von einer Linderung und/oder Reduktion ihrer Symp-

S. Heizmann et al.

tome – manchmal kurz-, teilweise langfristig. Ein Wirksamkeitsnachweis in einer Studie konnte dazu allerdings noch nicht erbracht werden. In einer Studie von Vogt et al. (2010) wurden u. a. die Reaktion der Klienten auf Methoden wie z.  B. über Granulat und Kies laufen oder die Hände in Wannen mit Körnern bewegen lassen untersucht. Diese Maßnahmen der Ergotherapie wurden aus Sicht der Klienten als sehr effektiv oder effektiv eingeschätzt. Kein Klient empfand diesen Ansatz als unsinnig. Die Studie beschreibt jedoch auch, dass sich die besondere, persönliche Zuwendung und Erfassung der Beschwerden begünstigend auf die Behandlung ausgewirkt haben kann. Durchführung Mit verschiedenen Materialien werden Hände und Füße stimuliert. Materialien Bürsten und Pinsel in verschiedenen Stärken können eingesetzt werden. Ebenfalls sind bei den Klienten Sensibilitätsbäder mit Rapssamen, Kirschkernen, Kies, Linsen etc. sehr beliebt. Auch durch unterschiedliche Massagegeräte können die Extremitäten behandelt werden (Abb. 27.6). Die Anwendung der Bürsten, Pinsel und Massagegeräte kann durch den Therapeuten als auch durch den Klienten selbst erfolgen. Eine Kombination aus Vibration und Bürstenreiz stellt die Behandlung der Zehen und Fingerspitzen mittels einer elektrischen Zahnbürste dar. Ebenfalls können Peelings eine intensive Stimulation darstellen (Abb.  27.8, Handout für Klienten: Zucker-­Öl-Peeling) Auch Paraffinbäder (Abb. 27.7) für Hände und Füße empfinden vor allem Klienten mit Kälteparästhesien als sehr angenehm. Zur therapeutischen Anwendung wird das Gerät auf 40–50 °C aufgeheizt. Der Klient darf die betroffene Extremität mehrmals in das Paraffin eintauchen. Anschließend wird eine Plastiktüte und weiter ein Frotteehandschuh übergezogen. Der Klient kann sich nun zurücklehnen und die Wärme genießen. Nach 10  min wird das Paraffin wieder abgenommen. Wichtig ist die Beachtung der Kontra-

27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

291

a

b

c

d

Abb. 27.6 (a-d) (a) Arthroringe, (b) Rapsbad, (c) Materialbäder mit Kirschkern, Kies, Plastikbohnen, (d) verschiedene Igelrollen und Akkumat/Nadelreizmatte. Fotos: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung

a

b

c

d

Abb. 27.7 (a-e) Anwendung Paraffinbad. (a) Eintauchen der Hand in das erwärmte Becken. Klienten verbal vorbereiten, dass das Wachs warm ist. (b) Eintauchen der Hand (Vorsicht: nicht bis zum Grund, da sich dort die Heizplatte befindet). (c) Die Hand nach 2–3 s wieder herausnehmen.

e

Der Vorgang wird 8- bis 9-mal wiederholt. (d) Die Hand wird mit einer Folie und anschließend mit einem Handtuch oder einem Stoffhandschuh umwickelt. Wärmeeinwirkung für ca. 20 min. (e) Das Wachs kann anschließend abgezogen werden. Fotos: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung

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indikationen wie z. B. Lymphödem, entzündliche Prozesse oder karzinogene Einschränkungen, wie z.B. Metastasen. Im Zweifelsfall ist der Einsatz dieser thermischen Anwendung mit dem behandelnden Arzt abzusprechen. Die Anwendung des Paraffinbades wirkt durchblutungs- und stoffwechselsteigernd. Durch die undurchlässige Paraffinschicht entweicht der Haut keine Feuchtigkeit während der Anwendung. Die Haut ist anschließend sehr geschmeidig. Speziell für die Finger kann auch ein Arthroring zum Einsatz kommen (Abb.  27.6a). Der Klient kann diesen Ring 10- bis 15-mal über den Finger hoch und runter rollen. Die kleinen Metallspitzen stellen dabei einen besonderen Stimulus dar. Praktisch sind diese Ringe vor allem im Alltag, da man sie einfach in der Tasche ­mitnehmen und unbeobachtet trainieren kann. Hierbei sollte jedoch eine Überreizung ­vermieden werden. Eine besondere feinmotorische Anforderung zur Förderung der selektiven Fingerbeweglichkeit kann hierbei erzeugt werden, indem der Klient versucht, den Ring mit nur einer Hand zu benutzen. Dies bedeutet, dass er über den Finger einer Hand mittels der anderen Finger der gleichen Hand gestülpt sowie hoch und runter gerollt wird. Wie oft kann der Klient üben? Es bietet sich an, die betroffene Extremität mehrmals täglich über einen kurzen Zeitraum (z.  B. 2–3× tgl. für wenige Minuten) mit einem Reiz in Berührung zu bringen. Dabei gilt der Grundsatz: Weniger ist mehr! Das bedeutet, dass sich ein paar Minuten über den Tag verteilt günstiger auswirken, als einmal am Tag am Stück 30 min zu stimulieren. Hierbei kann es zu einer Überreizung kommen (Abschn. 27.10.8). Kombination mit dem neurokognitiven Training Das gezielte Setzen der genannten Stimuli lässt sich auch mit dem neurokognitiven Training (auch bekannt als Methode nach Perfetti) verknüpfen. Dabei konzentriert sich das Training vor allem auf die gezielte Verarbeitung der sensiblen Reize. Allein durch die Vorstellung der Berührung mit verschiedenen Materialien kommt es

im Gehirn in bestimmten Arealen nachweislich zu einer erhöhten Aktivität. Beispiel

Vor der Anwendung eines Kirschkernbades bittet der Therapeut den Klienten, sich das Material anzusehen (nicht zu berühren!). Therapeut: „Was denken Sie, wie wird sich dieses Material anfühlen wird?“ Klient: „Weich und durch die Finger gleitend.“ Therapeut: „Um welches Material handelt es sich?“ Klient: „Um Kirschkerne.“ Therapeut: „Haben Sie dieses Material schon einmal früher befühlt?“ Klient: „Ich hatte einmal ein Kirschkernsäckchen.“ ◄ Durch das Beschreiben des zu erwartenden Stimulus wird das Gehirn aktiviert. Diese mentale Vorbereitung benötigen wir – unbemerkt von uns – für jede Bewegung, um Bewegungsablauf, -geschwindigkeit und Krafteinwirkung berechnen zu können. Neuste Ansätze versuchen auch, bekannte Erinnerungen zu wecken, um das Material dem Klienten noch vertrauter und präsenter zu machen. Beispiel

Der Klient taucht seine Hände in die Kirschkerne und bewegt sie darin. Therapeut: „Haben Sie dieses Gefühl erwartet?“ Klient: „Ja, es fühlt sich weich an, aber ich spüre nun auch die Rillen eines jeden Kerns. Sie sind nicht nur weich. Zudem spürt meine rechte Hand alles etwas dumpfer.“ ◄ Auch der Vergleich zwischen Vorstellung und Realität und der Vergleich zwischen z. B. beiden Händen ist ein aktives Auseinandersetzen mit der beeinträchtigten Sensibilität. Somit unterstützt ein zusätzliches neurokognitives Training bei der gezielten Anwendung der Reize die Reorganisation und ein „Präsent-

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27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

sein“ der Extremität im Gehirn und ermöglicht so ein Wiedererlernen physiologischer Bewegungsabläufe (Ismaier 2015).

27.10.4 Bewegungsübungen Vor jeder Bewegung muss das Gehirn Informationen aus der Sensorik sammeln, um die Bewegung aus den umgebenden Faktoren adäquat berechnen zu können. Beispiel

Um ein Trinkglas auf dem Tisch zu greifen, muss das Gehirn zur Bewegungsplanung wissen, ob die Hand, mit der das Greifen ­beabsichtigt ist, auf dem Tisch liegt oder auf dem Oberschenkel unter dem Tisch. Entsprechend muss das Bewegungsausmaß errechnet werden. Ebenso verhält es sich mit der Kraftdosierung. Beim Heben einer Packung Milch ist ein höherer Kraftaufwand nötig als beim Heben eines Schnapsglases. ◄ Aufgrund dieser engen Verknüpfung von Motorik und Sensorik empfiehlt sich die Kombination von Sensibilitätstraining und motorischen Übungen, denn auch hierbei wird die Sensibilität geschult. Neben später aufgeführten Beispielen für Übungen haben sich bewusst durchgeführte Alltagsbewegungen der Klienten bewährt. Spielt der Klient gerne ein Musikinstrument oder macht Handarbeiten, greift der Klient auf einstudierte Bewegungsmuster zurück, die ihn bei der Verbesserung für Kraftdosierung, Propriozeption etc. unterstützen können. Beispiel

Klient: „Ich habe eigentlich immer gerne Klavier gespielt. Aber seit meine Finger so taub sind, habe ich Angst, dass mich mein Spiel eher frustriert. Als ich langsam mit leichten Spielübungen – eigentlich für Kinder – wieder angefangen habe zu trainieren, merkte ich, dass ich es noch konnte, und habe mich sehr gefreut. Ich brauche noch viele Pausen zwi-

schen den Übungsintervallen. Es strengt mich sehr an, und ich bin noch nicht wieder auf dem Level, auf dem ich einmal war. Aber ich übe weiter.“ ◄ Eine Verbindung zwischen Stimulations- und Motoriktraining kann durch versteckte Gegenstände in den Sensibilitätsbädern geschaffen werden. Als Training für die Hände können Murmeln zur gezielten Reizdiskrimination herausgesucht werden. Bei den Füßen wird die Fußgymnastik in das Reiztraining miteinbezogen, indem z. B. Ringe und Stifte mit den Füßen aus einem Bad mit Kirschkernen herausgeholt werden sollen. Bespiele für Feinmotorikübungen • Knetübungen • Solitär • Qi Gong Kugeln • Einfädelspiele Beispiele für Zehengymnastik und Feinmotorikübungen für die Füße • Abspreizen der Großzehe • Spreizen aller Zehen • „Klavierspielen“ mit den Zehen • Runde oder weiche Gegenstände greifen und leicht anheben (Murmeln, Stift, Handtuch etc.) • Fuß auf den Boden aufstellen und mit den Zehen nach vorne ziehen • Ein auf dem Boden liegendes Handtuch mit den Zehen/dem Fuß falten • Geschicklichkeitsübungen mit Seil, Wellenlinien mit den Zehen legen, Seil verknoten/ entknoten

27.10.5 Eigenübungen zu Hause Hat ein Klient für sich passende Materialien und Übungen gefunden, ist es wichtig, mit ihm über die Planung des häuslichen Übens zu sprechen. Sind die Klienten erst einmal wieder im häuslichen Umfeld, kann es sein, dass aufgrund von Kleinigkeiten (z. B. wo bekomme ich das Material her) die Umsetzung zu Hause scheitert. Im Folgenden sind hierzu ein paar nützliche Tipps aufgeführt.

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Materialauswahl • Welche Materialien kann sich der Klient für zu Hause vorstellen? • Wo kann er sich diese beschaffen und sind diese kostenaufwendig? (z. B. lassen sich einige Klienten gerne ein Paraffinbad zu Weihnachten schenken) Integration der Übungen in den Tagesablauf Hierbei ist es wichtig, mit dem Klienten zu besprechen, wann die CIPN am stärksten auftritt oder zu welcher Tageszeit er am ehesten von den Übungen profitieren könnte. Beispiel

Klient berichtet: „Morgens habe ich oft das Gefühl, dass nach dem Aufstehen alle Glieder steif sind, und ich spüre meine Füße kaum. Manchmal habe ich Angst, dass ich beim Aufstehen gleich wieder umfalle, da ich den Boden nicht richtig unter meinen Fußsohlen spüre.“ ◄ Beim diesem Beispiel empfiehlt es sich, die Übungen direkt im Bett bzw. im Sitzen an der Bettkante zu machen  – als Vorbereitung zum Aufstehen. Andere Klienten berichten darüber, dass sie abends nach einem langen Tag verstärkt Beschwerden durch die CIPN haben. Beispiel

Klient berichtet: „…und wenn ich dann abends nach Hause komme und mich auf die Couch werfe, dann kribbeln und pochen die Füße, als wollten sie noch weiterlaufen…“ ◄ Hier empfiehlt sich die gemeinsame Überlegung, ob abends verschiedene Übungen und Materialien zur Beruhigung und Vorbereitung auf die Nacht eingesetzt werden könnten.

Aufbewahrung der Materialien Beispiel

Ein Klient erzählt im zweiten Reha-­ Aufenthalt, dass er das Training zu Hause bald aufgegeben habe. Klient: „Ich hatte eine große Schüssel mit Rapssamen auf dem Esstisch. Es hat mich immer daran erinnert, dass ich jederzeit das Training machen kann. Aber ich habe die Schüssel bald in die Abstellkammer gestellt. Denn immer, wenn Besuch kam, haben diese ihre Finger neugierig in den Raps getaucht und gefragt, ob ich eine Katze habe und für was das gut sei. Ich hatte das Gefühl, mich ständig erklären zu müssen, und wollte auch nicht gleich zu Beginn eines Treffens meine Erkrankung wieder in den Vordergrund stellen. Also stellte ich die Schüssel in die Abstellkammer. Abends auf dem Sofa, wenn ich an das Training gedacht habe, war ich ehrlich gesagt zu faul, wieder aufzustehen. Irgendwann habe ich die Schüssel auch mehr und mehr vergessen, obwohl ich weiß, dass es mir gutgetan hätte.“ ◄ Aufgrund dieser Erfahrungen, die Klienten immer wieder machen, ist es wichtig zu besprechen, wo sie sich die Verwahrung der Materialien vorstellen könnten. Wenn sie die Übungen morgens vor dem Aufstehen machen, dann hat sich bei vielen eine Wanne oder ein Säckchen im Nachttisch oder unter dem Bett bewährt. Bei abendlichen Übungen auf der Couch kann ein Fach in einem Regal oder der Raum unter der Couch für die Verstauung genutzt werden. cc Die Materialien sind in Greifweite, aber für andere nicht zu sehen. Abb.  27.8 zeigt ein mögliches Handout für Klienten.

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Handout zum Sensibilitatstraining bei Polyneuropathie Was ist eine Polyneuropathie? Bei Polyneuropathien handelt es sich um eine Schädigung der peripheren Nerven. Eine häufig vorkommende Ursache ist die Zuckerkrankheit, bei Krebspatienten wird die Polyneuropathie zumeist durch Chemotherapie ausgelöst (Nebenwirkung). Symptome können ein unangenehmes Kribbeln, Taubheit oder aber auch Schmerzen (elektrisierend oder einschießend) sein. Die Polyneuropathie tritt oft „handschuh- und/ oder sockenförmig’’ auf.

Mit was kann ich selbst ein Sensibilitätstraining durchführen? Die Nerven benötigen gezielte Reize, um sich regenerieren zu können. Dies können Sie unter anderem mit folgenden Materialien erreichen: Sensibilitätsbäder: Einen Teller oder ein Säckchen füllen mit z.B. Rapssamen, Kirschkernen, Linsen, Bohnen und darin Hände/ Füße bewegen Bürsten und Pinsel Mit Bürsten/ Pinsel über Hände/ Füße massieren. Es eignen sich verschiedenen Bürsten/ Pinsel in verschiedenen Stärken Elektrische Zahnbürste mit altem Bürstenkopf lgelbälle Fußmassagerollen Zucker-ÖI-Peeling Einreiben von Händen/ Füßen mit einem Esslöffel Öl (kann gewöhnliches Speiseöl sein) und einem Esslöffel Zucker

Wie oft sollte ich das Sensibilitätstraining durchführen? Das Training sollte mehrmals täglich für wenige Minuten durchgeführt werden.

Worauf sollte ich während der Durchführung achten? Bei der Durchführung des Trainings sollte man bewusst wahrnehmen, z.B. was fühle ich, wie fühlt es sich an, aber auch Unterschiede zwischen links und rechts. Hierbei wird das Gehirn aktiv in das Training miteinbezogen und dies kann wiederum helfen, geschädigte neuronale Strukturen in ihrer Regeneration zu fördern. Die Sensibilität ist unmittelbar mit der Motorik verbunden. Dies bedeutet, dass Sie zusätzlich mit den Fingern/ den Füßen Bewegungsübungen machen sollten. Beispiele: Hände: Führen Sie die Daumenkuppe jedem Finger der gleichen Hand zu Füße: Versuchen Sie, Kleidung oder Handtücher mit den Zehen zu greifen und aufzuheben. Ebenso sind Gleichgewichtsübungen, wie bspw. auf einem Bein stehen, sinnvoll.

Abb. 27.8  Handout für Klienten. Die Klienten können so in Ruhe die Informationen zu Hause noch einmal durchgehen. Zudem ist das Handout ein Leitfaden für das Eigentraining. (Handout zusätzlich als Download verfügbar)

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27.10.6 Hilfsmittelversorgung Zusätzlich zu den oben beschriebenen Trainingsmaßnahmen möchten Klienten eine konkrete Hilfestellung, um ihren Alltag weitestgehend auch mit ihren Beschwerden selbstständig bewältigen zu können. Es können zahlreiche Hilfsmittel angeboten werden. Sie müssen jedoch gemeinsam in der Therapieeinheit ausprobiert und angepasst, vom Klienten zu Hause erprobt und dann wieder besprochen werden, damit sie einen Klienten auch wirklich unterstützen können. Folgende Alltagstätigkeiten können Klienten mit einer CIPN Schwierigkeiten bereiten: • Zähneputzen, Auftragen von Lippenstift: Hier kann eine elektrische Zahnbürste den Putzvorgang erleichtern. Spezielle ­Verlängerungshalter können die Handhabung des Lippenstifts erleichtern. • Greifen und Bedienen eines Reißverschlusses, Bluse/Hemd knöpfen: Knöpfhilfen oder auch Verlängerungen für Reißverschlüsse können die Handhabung bedeutend vereinfachen. • Schwierigkeiten beim Schreiben mit dem Stift oder Spielen eines Instruments: Beim Stift auf einen breiten Stiftgriff oder eine Griffverdickung achten. Ein Kugelschreiber ist einem Bleistift vorzuziehen, da er auf dem Papier leichter gleitet.

der Kinästhetik beitragen und kann sich subjektiv entspannend und bewegungsfördernd auf die betroffenen Gelenke auswirken. Wechselbäder mit verschiedenen Temperaturen (heiß/kalt) können ebenfalls den Stoffwechsel anregen.

27.10.8 Verschlechterung der Symptomatik Manchmal berichten Klienten während der Behandlung von einer Verschlechterung der Symptomatik. Dieser Aussage gilt es nachzugehen. Tritt die Zunahme der Symptome innerhalb einer Einheit auf, kann es durch das intensive Training zu einer kurzfristigen Überreizung gekommen sein. Nun ist es notwendig, das Training zu beenden, um der betroffenen Extremität keine weiteren Reize zuzuführen. Meist klingt diese Hyperästhesie mit der Beendigung der Reizgebung ab. Auch können die Klienten davon berichten, dass sie dann erschöpft sind. Berichten Klienten über mehrere Einheiten hinweg von einer Verschlimmerung, gilt es, den Klienten zu fragen, wie oft und wie lange er am Tag trainiert. Gemeinsam mit dem Klienten sollte nun die Dauer sowie die Frequenz reduziert und erst langsam wieder aufgebaut werden. Beispiel

27.10.7 Weitere Behand­ lungsmaßnahmen Zusätzliche therapeutische Maßnahmen sind im Einzelfall individuell anwendbar. Eine Nervenmobilisation im Sinne einer Slide-Technik kann die Stoffwechselsituation im Bereich der Nerven deutlich verbessern und somit die Regeneration unterstützen. Evidenzbasiert ist diese Methode jedoch nicht und nur selten in der gängigen Literatur erwähnt. Manualtherapeutische Techniken zeigen sich subjektiv beim Klienten vor allem bei „Muskelkrämpfen in den Händen“ als erleichternd. Dies kann zur Verbesserung der Propriozeption sowie

Eine Klientin mit CIPN an den Füßen klagt über vermehrte Schmerzen an den Füßen. Gemeinsam mit dem Therapeuten wird nun ermittelt, wie lange und wie oft sie dieses Training durchführt. Sie führt das Training 3-mal täglich etwa 10 min durch. Die Klientin gibt zusätzlich an, seit dieser Woche täglich eine Stunde zu gehen. Die Reizung für die Füße durch das Training und die Laufsdauer ist hierbei enorm. Mit der Klientin wird die Laufdauer auf 20  min gekürzt und das Training auf 2-mal täglich 10 min reduziert. Die Klientin kann somit langsam eine adäquate Reiztoleranz aufbauen. ◄

27  Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie

Bei vielen Klienten reicht diese Veränderung und langsame Steigerung der Reize aus, um eine Verbesserung zu erreichen. Sollte sich die Symptomatik plötzlich einstellen oder auch durch eine Umstellung der Trainingsfrequenz und Dauer nicht verändern, gilt es, eine differenzialdiagnostische Untersuchung mit dem behandelnden Arzt anzusprechen. Zu denken ist dabei auch an ein sog. Coasting-­Phänomen (Abschn. 27.5).

27.10.9 Gruppenaufbau für ein Sensibilitätstraining Gruppenraum und Teilnehmerzahl Der Gruppenraum benötigt eine gute Belüftung, z. B. durch große Fenster, um zwischen den wechselnden Gruppen durchzulüften. Wenn die Gruppe eine geringe Teilnehmerzahl aufweist, benötigt man keinen großen Gymnastikraum. Dieser könnte sogar hinderlich sein, da die Teilnehmer voneinander wegstreben, was z.  B. einen Austausch zwischen den Klienten verhindern würde. Je nach Kapazität und Einrichtung sind Kleingruppen sehr beliebt. Durch eine übersichtliche Teilnehmerzahl (z. B. 4 Klienten) gelingt es dem Therapeuten, jeden Klienten zu betreuen und mit dem Material vertraut zu machen oder ihn z. B. bei der Desinfektion der betroffenen Extremität zu unterstützen. Materialien und hygienische Bedingungen Die genutzten Materialien sollten sich gut reinigen lassen. Bei Massagegeräten oder Igelbällen stellt das kein weiteres Problem dar. Hier sollte nach jedem Klientenkontakt das Material mit Desinfektionsmittel gereinigt werden. Schwieriger gestaltet sich dies bei Naturmaterialien wie z.  B.  Rapssamen oder Kirschkernen, die sich nicht nach jedem Klienten einzeln reinigen lassen. Hierbei muss man darauf achten, dass diese Materialien in regelmäßigen Abständen ausgetauscht werden, z. B. alle 3 Monate kompletter Wechsel. Die Benutzung durch den Klienten kann hier auf verschiedenen Wegen erfolgen:

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• Die Klienten desinfizieren sich die betroffenen Füße oder Hände vor und nach der Benutzung des Materials. Klienten mit Fuß- oder Nagelpilz sollten diese Anwendung nicht durchführen. • Die Klienten bekommen Handschuhe und Socken, mit denen sie in das Material eintauchen. Der Reiz ist jedoch dadurch deutlich abgeschwächt. Für einen Austausch zwischen den Klienten bietet sich an, die Materialien so anzuordnen, dass die Klienten sich gegenseitig gut sehen können. Viele Klienten empfinden einen Vorteil darin, zu hören, wie es anderen mit dieser Symptomatik ergeht oder ob sich schon etwas durch das Training verändert hat. Ablauf der Gruppe Zu Beginn der Gruppen sollte sich jeweils der erste Termin mit einer Einführung in diese Thematik befassen. Die Klienten gelangen auf verschiedenen Wegen zur Gruppe. In jeder Einrichtung wird die Informationsgabe zu diesem Thema unterschiedlich gehandhabt. Es ist wichtig, alle Klienten auf einen ähnlichen Informationsstand zu bringen, damit sie die Symptomatik verstehen. Zudem kann sich mit zunehmendem Verständnis eine Eigenmotivation entwickeln, die gerade bei dieser Therapie sehr wichtig ist, da der Klient in Eigenverantwortung zu Hause weiterüben sollte. Die weiteren Gruppeneinheiten dienen dazu, den Klienten zu unterschiedlichen Materialien und Übungen anzuleiten. Innerhalb dieser Einheiten stehen folgende Fragen im Vordergrund: • Hat sich etwas in der Symptomatik verändert? • Inwiefern ist eine Veränderung eingetreten? (Verbesserung, Verschlechterung) • Welches Material finden Sie angenehm/unangenehm? Mittels dieser Fragen kann man den Verlauf und die Veränderung der Symptomatik dokumentieren. Zudem kann man den Klienten in seinem Heimtraining bestärken und Überreizungen frühzeitig entgegentreten.

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27.11 Was sollte ein Klient mit CIPN im Alltag beachten? • Der direkte Kontakt der betroffenen Extremität mit Hitze und Kälte, z. B. bei Aktivitäten im Freien, sollte vermieden werden. Bei Kälte sollten schon frühzeitig Handschuhe/warme Socken angezogen werden, da viele Klienten von einer Verschlimmerung der Problematik bei Kälteexposition berichten. • Auch vor Hitzequellen im häuslichen Umfeld wird gewarnt, z.  B. heiße Herdplatte. Aufgrund der Hypästhesie fehlt die für den Schutz wichtige Sensibilität. Der Klient spürt die drohende Verbrennung nicht. • Vorsicht vor Verletzungen mit scharfen Gegenständen, z. B. beim Schneiden mit dem Messer, Hantieren mit Nägeln usw. • Schutz vor Wundinfektion: Regelmäßige Kontrolle der Extremitäten auf Blasen, Risse, Druckstellen (z.  B. durch enges Schuhwerk) und sonstige Wunden. Manche Klienten nehmen keinen Schmerz durch eine Wunde wahr.

Literatur Zitierte Literatur Bao T et al (2020) Effect of Acupuncture vs Sham procedure on chemotherapy-induced peripheral neuropathy symptoms. JAMA Netw Open. 3:e200681 Gui Q et al (2021) Efficacy of exercise rehabilitation program in relieving oxaliplatin induced peripheral neurotoxicity. Asian Pac J Cancer Prev. 22:705 Ismaier J (2015) Bis in die Fingerspitzen – Neurokognitive Therapie bei traumatischen Handverletzungen. Ergopraxis 8:32 Jordan B et al (2020) Systemic anticancer therapy-­induced peripheral and central neurotoxicity: ESMO–EONS– EANO Clinical Practice Guidelines for diagnosis, prevention, treatment and follow-up. Ann Onc. https:// doi.org/10.1016/j.annonc.2020.07.003 (Zugriff am 31.07.2023) Leitlinienprogramm Onkologie (2020) Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF: Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen  – Langversion 1.3, 2020, S 236–261. https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/supportive-­ therapie/ (Zugriff am 31.07.2023)

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Weiterführende Literatur Gießen-Jung C et  al (2018) Chemotherapie-induzierte periphere Neuropathie. Dtsch Med Wochenschr 143:970 Leitlinienprogramm Onkologie. (2020) Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF: Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen  – Langversion 1.3, 2020, S 236–261. https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/supportive-­ therapie/ (Zugriff am 31.07.2023)

Broschüren für Klienten und Angehörige Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF (2018) Patientenleitlinie Supportive Therapie: Vorbeugung und Behandlung von Nebenwirkungen einer Krebsbehandlung. S  100–107. Download: https:// www.leitlinienprogramm-onkologie.de/patientenleitlinien/supportive-therapie/ (Zugriff am 31.07.2023) Niedersächsische Krebsgesellschaft e.V. (2018) Wenn Füße und Hände kribbeln und schmerzen. Polyneuropathie durch Chemotherapie (CIPN), 2. Aufl. Download: https://www.nds-­krebsgesellschaft.de/downloads/broschueren/ndsk-­broschuere-­polyneuropathie.pdf (Zugriff am 31.07.2023)

Störung von Gleichgewicht und Koordination

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Sabrina Heizmann und Lina Herrmann

28.1 Definitionen

28.2 Physiologie

Gleichgewicht  Ein System ist im Gleichgewicht, wenn es sich ohne Einwirkung von außen nicht verändert. Die Medizin befasst sich mit dem körperlichen und dem seelischen Gleichgewicht, in diesem Kapitel wird nur das körperliche Gleichgewicht thematisiert. Dabei wird das statische Gleichgewicht (z. B. beim Sitzen oder Stehen) unterschieden vom dynamischen Gleichgewicht (z. B. beim Gehen).

28.2.1 Gleichgewichtssinn

Koordination  Allgemein bezeichnet Koordination das Aufeinanderabstimmen verschiedener Aktivitäten zum Erreichen eines bestimmten Ziels. In der Sensomotorik wird darunter das Zusammenspiel von sensorischen und motorischen Leistungen verstanden.

Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/ 10.1007/978-3-662-64230-6_28]. S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected] L. Herrmann Oberwolfach, Deutschland

Der Gleichgewichtssinn dient der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts. Es gibt kein spezielles Gleichgewichtsorgan. Verschiedene Sinne bzw. Organe bewirken gemeinsam, dass sich der Körper sicher im Raum orientieren und bewegen kann: • Das Innenohr (Vestribularapparat) nimmt die Richtung von Schwerkraft und Beschleunigungen wahr. • Das Auge orientiert über den Raum, über oben und unten. • Der Tastsinn als Teil der Oberflächensensibilität orientiert über die Beschaffenheit der Umgebung, so spüren die Füße z.  B.  Unebenheiten auf einem Weg. • Die Propriozeptoren (Rezeptoren in Muskeln, Gelenken und Sehnen) bilden den Lagesinn und informieren als Teil der Tiefensensibilität über Stellung und Bewegung von Muskeln und Körperteilen. • Im Gehirn, vor allem im Kleinhirn (Zerebellum), werden die Informationen aus den genannten Sinnesorganen koordiniert. Eine Schädigung des Kleinhirns führt deshalb in der Regel zu schweren Störungen von Gleichgewicht und Koordination.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_28

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S. Heizmann und L. Herrmann

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Der Gleichgewichtssinn ist redundant angelegt. Das heißt, der Ausfall eines einzelnen Organs kann oft zumindest teilweise kompensiert werden. So kann z.  B. ein Klient mit eingeschränkter Tiefensensibilität sein Gleichgewicht beim Gehen behalten, wenn er sich auf die optischen Informationen konzentriert. Blindgang ist ihm aber nicht mehr möglich.

28.2.2 Koordination Gezielte willkürliche Bewegungen sind das Resultat komplexer koordinativer Leistungen, zu denen verschiedene Systeme beitragen. Das Ergreifen eines Gegenstands beispielsweise bedingt das Zusammenspiel von sensorischen Leistungen (u.  a. Augen und Lagesinn), zentraler Verarbeitung (u.  a. im Kleinhirn) und motorischer Leistung der Muskulatur. Normale Willkürbewegungen zeichnen sich durch eine adäquat dosierte Muskelaktivität aus, die auf einer abgestimmten Koordination von Agonisten und Antagonisten beruht.

28.3 Ursachen Verschiedene Ursachen können bei onkologischen Klienten zu Störungen von Gleichgewicht und/oder Koordination führen: • Ein schlechter Allgemeinzustand und damit einhergehende Inaktivität führen zu Muskelschwäche. Eine kräftige Muskulatur ist aber Voraussetzung für Körperhaltungen, die gegen die Schwerkraft gerichtet sind und somit ein intaktes Gleichgewicht erfordern, also z.  B. für Sitzen, Stehen und Gehen. • Neurologische Störungen: Sehr häufig ist eine chemotherapieinduzierte Polyneuropathie (CIPN) (Kap.  27) Ursache von Gleichgewichtsstörungen. Seltenere Ursachen sind gut- oder bösartige Hirntumoren oder Erkrankungen des Innenohrs. • Amputationen, v.  a. solche der unteren Extremität.

• Begleiterkrankungen. Ein zu hoher oder zu niedriger Blutdruck kann Schwindel auslösen und so das Gleichgewicht stören. • Dehydration, d.  h. ein zu geringes Flüssigkeitsvolumen im Extrazellulärraum, oft Folge einer zu geringen Trinkmenge und/oder von entwässernden Medikamenten (Diuretika). • Medikamente: Schmerzmittel (Opioide), Schlaf- und Beruhigungsmittel, Psychopharmaka, z. B. Antidepressiva, Medikamente gegen hohen Blutdruck (Antihypertensiva). • Alkohol.

28.4 Symptome und Folgestörungen Die Symptome von Störungen des Gleichgewichtsregulation und der Bewegungskoordination werden in der medizinischen Terminologie mit dem Oberbegriff Ataxie bezeichnet. Störungen der Koordination führen zu unsicheren, meist überdosierten Bewegungen, sodass z. B. die Hand über das Ziel hinausgeführt wird (sog. Dysmetrie). Dysmetrien können sowohl die Grobmotorik (z. B. Beugen eines Arms) als auch die Feinmotorik betreffen. Bei der Feinmotorik zeigt sich die Koordinationsstörung darin, dass es dem Klienten unmöglich ist, rasch aufeinanderfolgende Bewegungen durchzuführen, z. B. die Finger einzeln wie beim Klavierspielen rasch zu bewegen. Diese Störung der Feinmotorik wird Dysdiadochokinese genannt. Störungen des Gleichgewichts äußern sich als Stand-, Sitz- oder Gangataxie, z. B. in einem unsicheren Stand, in verminderter Gehgeschwindigkeit, breitbasigem Gang, Steifigkeit und häufigem Stolpern. Diese Symptome gehen mit einem erhöhten Sturzrisiko einher. Beispiele

Ein Klient berichtet, er müsse sich beim Aufund Absteigen von Treppen sehr konzentrieren. Wenn er den Blick nicht fest auf die Stufen richtet, fürchtet er zu stürzen. Beim Hinuntersteigen hatte er schon mehrfach das Gefühl, „ins Leere zu treten“.

28  Störung von Gleichgewicht und Koordination

Eine Klientin erholt sich von einer langdauernden intensiven Chemotherapie. Sie hat neu Mühe beim Schreiben auf der Computertastatur: Die Finger „wollen ihr nicht gehorchen“ – sie könne sie nicht mehr so schnell wie früher bewegen und treffe oft nicht die richtige Taste. Einem Klienten wurde ein Hirntumor operativ entfernt. Er erzählt, dass das Schreiben von Hand ihm jetzt sehr schwer falle. Er könne die Bewegungen nicht steuern, sie seien oft ausfahrend. Die Schrift habe sich verändert, sie sei wie verwackelt und unregelmäßig, einzelne Buchstaben oder Buchstabenteile seien zu groß. Dabei habe er immer gerne und oft, z. B. bei der Arbeit, Notizen von Hand geschrieben. ◄ Es versteht sich von selbst, dass schwerere Störungen von Gleichgewicht und Koordination alltagsrelevante Tätigkeiten und evtl. auch die Berufsaktivität beeinträchtigen. Ist die Gangunsicherheit ausgeprägt, haben viele Betroffene die Sorge, dass sie von ihrer Umgebung für betrunken gehalten werden. Dies und Sturzangst führt oft zu sozialem Rückzug und Isolation. Zusätzlich ist oft – je nach Art und Intensität der Symptome – die Bewältigung alltäglicher Aufgaben sowie die Berufsausübung beeinträchtigt.

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28.5 Diagnostik Die Zusammenarbeit mit der Physiotherapie ist bei Störungen von Gleichgewicht und Koordination wichtig. Beide Berufsgruppen ergänzen sich hier optimal. Dies gilt auch für die Diagnostik. Sie kann nicht mit einem einzigen Assessment abgedeckt werden. Neben der Ebene der körperlichen Funktionen (Tab. 28.1) muss auch die Ebene der Aktivität und Partizipation (Tab. 28.2) erfasst werden. Zusammen bilden diese Erfassungen eine Grundlage nach Durchführung einer Betätigungsanalyse für einen klientenzentrierten Therapieansatz. Auf der Ebene der körperlichen Funktionen werden folgende Tests eingesetzt, in der Regel durch den Arzt oder den Physiotherapeuten: Prüfung der Koordination • Zeigeversuche: Dabei wird auf die Zielsicherheit und die Flüssigkeit der Bewegungen geachtet. –– Finger-Nasen-Versuch: Der Klient führt die Spitze des Zeigefingers erst bei offenen, dann bei geschlossenen Augen in einer ausholenden Bewegung – ohne den Ellbogen aufzustützen – zur Nasenspitze. –– Finger-Finger-Versuch: In ähnlicher Weise werden die Spitzen beider Zeigefinger zur Berührung gebracht.

Tab. 28.1  Assessments zur Erfassung von Gleichgewichts- und Gangstörungen und zur Einschätzung des Sturzrisikos Timed up and Go (TUG)

Berg-­Balance-­Skala (BBS)

Der TUG dient der Einschätzung der Mobilität und des Sturzrisikos. Der Patient sitzt auf einem Stuhl mit Armlehnen und wird aufgefordert aufzustehen, 3 m zu gehen, umzukehren und sich wieder zu setzen. Die Nutzung von Hilfsmitteln ist dabei erlaubt. Gemessen wird die Zeit, die für den Vorgang gebraucht wird Es werden 14 Aktivitäten (u. a. Transfer, Stehen mit geschlossenen Augen, Einbeinstand, Aufheben eines Gegenstands vom Boden) überprüft und mit Punkten bewertet. Gilt als Standard-Test zur Beurteilung des Gleichgewichts

Tab. 28.2  Assessments zur Erfassung der Auswirkung von Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen auf alltagsrelevante Tätigkeiten LEFS (Lower Extremity Functional Scale)

DASH (Disabilities of the Arm, Shoulder and Hand)

Fragebogen zur Erfassung von Aktivitätseinschränkungen der unteren Extremitäten. Erfragt werden Schwierigkeiten und ihr Ausmaß bei 20 Aktivitäten, z. B. Schuhe anziehen, in ein oder aus einem Auto steigen, tief in die Hocke gehen, auf ebenem Boden rennen Fragebogen zur Messung körperlicher Funktionen der oberen Extremität. Erfragt werden Schwierigkeiten z. B. bei Schreiben, Haarewaschen/-föhnen, einen Schlüssel umdrehen

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–– Knie-Hacken-Versuch: Der Klient setzt im Liegen die Ferse des einen Beins in weitem Bogen auf die Kniescheibe des anderen Beins und führt sie dann langsam, aber flüssig dem Schienbein entlang zum Fuß. • Tests der Diadochokinese: Man achtet dabei auf die Geschwindigkeit, Regelmäßigkeit und Flüssigkeit der Bewegungen. –– Der Klient bewegt die Finger beider Hände rasch wie beim Klavierspiel oder beim Schreiben auf einer Tastatur. –– Der Klient setzt nacheinander den 2.–5. Finger auf den Daumen derselben Hand. –– Der Klient führt bei leicht erhobener Hand rasche Drehbewegungen aus, wie wenn er eine Glühbirne einschrauben würde. Prüfung des Gleichgewichts • Romberg-­Versuch: Der Klient steht aufrecht mit sich parallel berührenden Füßen, erst mit offenen, dann mit geschlossenen Augen (Prüfung des statischen Gleichgewichts). Falls der Klient sicher stehen kann, stößt der Untersucher ihn von hinten an  – der Klient muss das Gleichgewicht wiederherstellen (Prüfung des dynamischen Gleichgewichts). Bei diesem Test steht der Untersucher hinter dem Klienten und ist jederzeit bereit, ihn bei einem Sturz aufzufangen! Prüfung des Gangs • Die Ganganalyse beurteilt gleichzeitig Gleichgewicht und Koordination. Die Gehstrecke muss mindestens 10–15 Schritte lang sein. Der Klient geht barfuß, zuerst mit offenen, dann mit geschlossenen Augen. Beobachtet wird das spontane Gangbild des Klienten mit Augenmerk u. a. auf Schrittlänge und Schrittweite, Flüssigkeit und Geschwindigkeit des Ganges, Bewegungen beim Starten und Anhalten sowie die motorische Kontrolle des Rumpfes, die Kopfhaltung und das Mitschwingen der Arme. Für Ergotherapeuten ist wichtig, wie sich Störungen von Gleichgewicht und Koordination auf den Alltag des Klienten auswirken. Auch dafür gibt es verschiedene Assessments (Tab. 28.2).

28.6 Die ergotherapeutische Behandlung 28.6.1 Übersicht Neben Beratung der Klienten zur Sturzprävention und der Umsetzung entsprechender Maßnahmen können Ergotherapeuten  – in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Physiotherapeuten  – spezielle motorisch-­funktionelle Behandlungen anbieten. Hierbei geht es neben der Förderung des Gleichgewichts und der Koordination auch um den Abbau von Ängsten (z.  B. Sturzangst), die den Klienten im Alltag hemmen. Entsprechend der Ursache der Gleichgewichts- oder Koordinationsstörung liegt der therapeutische Schwerpunkt mehr auf einem begleitenden Kraftund Ausdauertraining oder auf einer Maßnahme zur Reduktion der CIPN (Kap.  27). Kognitiv-­ therapeutische Übungen nach Perfetti können ergänzend eingesetzt werden. Schwindel oder Verschlimmerung der Symptome im Verlauf der Therapie müssen dem Arzt gemeldet werden, damit eine weitere Abklärung erfolgen kann.

28.6.2 Gleichgewichts- und Koordinationstraining Schon eine kurze Zeit der Inaktivität, z. B. nach einer Operation, führt zu einer Beeinträchtigung von Gleichgewicht und Koordination. Daher wird mit entsprechenden Übungen schon früh postoperativ begonnen. Das können zu Beginn, etwa bei sehr geschwächten bettlägerigen Klienten, einfache Übungen sein wie z.  B.  Sitzen an der Bettkante. Fühlt sich der Klient sicher, können Bewegungsübungen im Sitzen erfolgen. Beispiele dafür sind: • Gleichgewichtsverlagerungen; • Schulter- und Armbewegungen, wobei der Rumpf stabil gehalten wird; • Bewegungen mit den Beinen, wobei der Rumpf stabil gehalten wird; • Werf- und Fangspiele.

28  Störung von Gleichgewicht und Koordination

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Es lohnt sich, schon in diesem frühen Stadium des Trainings einen Alltagsbezug herzustellen. Ein Training mit Alltagsbezug ist isolierten Gleichgewichtsübungen vorzuziehen, auch im Hinblick auf die Motivation des Klienten. Es gilt, den Klienten zu befragen, welche Tätigkeiten ihm in der jetzigen Situation wichtig wären, um wieder mehr Selbstständigkeit zu erlangen. Beispiele dafür sind: • selbstständiges Durchführen der Morgentoilette. Das Sitzen auf einem Duschstuhl (mit oder ohne Arm-/Rückenlehne, je nach Klient) erfordert das Halten des Gleichgewichts mit koordinierten Bewegungen in den Armen (z. B. Zähne putzen, Haare kämmen); • Lagewechsel des Kopfes/Vorbeugen des Oberkörpers beim Anziehen der unteren Extremität mit Sitz auf der Bettkante; • Hinlegen/Aufsetzen im Bett/an der Bettkante. Stand- und Schrittübungen Mit zunehmender Sicherheit des Klienten werden Stand- und Schrittübungen miteinbezogen, z. B. an einem Rollator. Im Alltag lässt sich nach und nach das Bewältigen kurzer Distanzen im Zimmer beüben. Dabei steht nicht nur das Gehen (ob mit oder ohne Hilfsmittel) im Vordergrund, auch Richtungswechsel, Hinsetzen/Aufstehen (z. B. von der Toilette) sind elementare Bestandteile dieser Übungen. Gesteigert wird der Schwierigkeitsgrad von Gleichgewichtsübungen z. B. durch • den Einbeinstand, • das Stehen mit direkt hintereinander aufgesetzten Füßen, • das Stehen auf den Zehenspitzen u. v. m. cc Wichtig  Die Sicherheit des Klienten steht immer im Vordergrund! Eine Übung muss in der Therapie so durchgeführt werden, dass sie der Klient zu Hause auch ohne Unterstützung des Therapeuten umsetzen kann.

Abb. 28.1  Gleichgewichtstraining auf verschiedenen instabilen Materialien (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

Das bedeutet beispielsweise, dass bei einem Einbeinstand nicht der Therapeut stützt, sondern der Klient sich bei Bedarf an einer Stuhllehne/am Rollator festhält. Eine weitere Steigerung erfolgt, wenn das Gleichgewicht auf einem instabilen Untergrund gehalten werden muss (Abb. 28.1). Bei steigendem Sicherheitsgefühl kombiniert man mit dieser Übung zusätzliche Bewegungen (z.  B.  Gleichgewichtsverlagerung, Ball fangen und werfen) oder kognitive Aufgaben (z. B. Rückwärtszählen von 100 auf 1). Ballübungen Ballübungen können mit Spielen kombiniert werden. Ziel dabei ist es, den Fokus weg von den Füßen und hin zur Umgebung zu lenken. Bei vielen Klienten sind Blick und Konzentration bei solchen Übungen ganz auf die Füße/Beine gerichtet. Beispiel

Spiele bei einer Ballübung Der Ball wird zwischen Klienten und Therapeut (oder in einer Kleingruppe zwischen den Klienten) hin- und hergeworfen, wobei der

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Klient das Gleichgewicht halten muss. Derjenige, der den Ball auffängt, muss ein Wort ergänzen oder eine Rechenaufgabe lösen. Mögliche Spiele: • Ich packe meinen Koffer • Namen, Tiere, Städte, Blumen o. ä. nach dem Alphabet (Anneliese, Berta, Carla, Dorothee …) •  Rechenaufgaben (Therapeut sagt: 5×3 sind…?, Klient sagt: 15…+6?, Therapeut sagt: 21…–9? usw.) Diese Spiele kann der Klient auch gut zu Hause mit seinen Kindern, Enkeln oder dem Partner spielen. cc Je sicherer der Klient wird, desto mehr sollte der Therapeut ihn dabei unterstützen, die Aufmerksamkeit während der Übung bewusst nicht auf die Füße zu richten. Dies hat auch einen konkreten Alltagsbezug: Der Klient soll z. B. beim Spaziergang nicht ständig auf seine Füße starren, sondern sich seinem Begleiter zuwenden und sich mit ihm unterhalten können. Ausführlicher ist dieses sensomotorische Training in Kap. 27 beschrieben. Terraintraining Für den Alltagsbezug kann ein Terraintraining durchgeführt werden. Geht der Klient z. B. gerne auf Waldwegen spazieren oder erledigt er zu Fuß Besorgungen in der Stadt, dann entspricht ein Gangtraining in der Klinik oder Praxis nicht den für den Klienten relevanten Umständen: Der ebene Klinik- oder Praxisflur entspricht nicht einem Kiesweg mit Steigungen bzw. einem Fußgängerstreifen, den der Klient bei Grünphase einer Ampel schnell überqueren muss. Kann der Weg, den der Klient regelmäßig gehen möchte/ muss (z. B. zum Einkaufen, zur Arbeit, die alltägliche Morgenrunde) nicht begangen werden, da sich der Klient z.  B. in der Klinik befindet, können gemeinsam mit dem Klienten ähnliche Wege in der Umgebung gefunden und begangen werden.

S. Heizmann und L. Herrmann

Gleichgewichtstraining auf instabilen Materialien Als Alternative zu den in Abb. 28.1 gezeigten Geräten kann auch ein Trampolin genutzt werden. Für viele Klienten stellt ein Trampolin allerdings eine große, unter Umständen zu große Herausforderung dar. Wichtig sind Griffe zum Festhalten. Allgemein sollten Gleichgewichts- und cc  Koordinationsübungen nicht länger als 20–30 Minuten dauern, da sie viel Konzentration erfordern.

28.6.3 Kraft- und Ausdauertraining Kräftezehrende Therapien und operative Eingriffe reduzieren Aktivität und Bewegung der Klienten oder können sogar zu Bettlägerigkeit führen. Durch die Inaktivität lässt die Muskelkraft nach, in der Folge sind die Klienten schon bei alltäglichen Aufgaben schnell erschöpft. Kraft- und Ausdauertraining ist in diesen Situationen wichtig und erfolgreich (Kap. 23), es gehört allerdings in die Hände von entsprechend ausgebildeten Physio- und Sporttherapeuten. Der Ergotherapeut kann im Austausch mit diesen Disziplinen den Klienten dabei unterstützen, diese Übungen in seinen Alltag zu integrieren. Es ist dabei wichtig, dass alle beteiligten Therapeuten untereinander das Trainingsprogramm ­koordinieren. Bei der Fülle an möglichen Übungen für Kraft, Ausdauer, Gleichgewicht und Koordination besteht sonst die Gefahr, dass der Klient mit zu vielen verschiedenen Übungen überhäuft wird.

28.6.4 Kognitiv-therapeutische Übungen Kognitiv-therapeutische Übungen nach Perfetti können Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen positiv beeinflussen. Dabei stehen die Aufmerksamkeit, sensorische Wahrnehmung und -verarbeitung sowie die Vorstellung von Bewegungen im Vordergrund. Der Klient wird aktiv sensorisch und kognitiv gefordert, um über

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körperliche Feedbackmechanismen motorische Bewegungsaktivitäten neu zu organisieren. Das Konzept kommt aus der Neurologie. Liegt eine Gleichgewichts- und/oder Koordinationsstörung z.  B. aufgrund einer CIPN vor, können Übungen, die den Fokus auf die Verbesserung der Propriozeption legen, hilfreich sein. Voraussetzung ist, dass sich der Klient auf die Methode einlässt. Studien über den Einsatz des Perfetti-Konzeptes in diesem Kontext liegen nicht vor, jedoch konnten bereits positive Erfahrungswerte gesammelt werden. Beispiel

Ein Klient beschreibt: „Ich fühle meine Füße nicht mehr richtig. Ab den Knöcheln beidseits ist Schluss. Ich habe das Gefühl, dass ich oft stürzte, weil ich nicht fühle, wo meine Füße sind bzw. die ‚Bodenhaftung‘ nicht spüre.“ Sie würden sich auch wackelig fühlen, wenn Sie das Gefühl hätten, dass Sie ins Nichts treten. Da der Klient das Ziel hat, wieder sicher zwei Etagen Treppen zu seiner Wohnung zu steigen, wird gemeinsam entschieden, das Perfetti-Konzept auszuprobieren. Nach einer Einweisung legt sich der Klient auf die Behandlungsliege. Ziel ist es zunächst, herauszufinden, ob der Klient die Raumlage seiner Füße wahrnehmen kann. Dazu werden drei verschiedene Positionen festgelegt und mit Zahlen benannt. Begonnen wird hier mit dem linken Fuß. Maximale Dorsalextension im Sprunggelenk belegt die Zahl 1, die maximale Plantarflexion die Zahl 3, die Mittelstellung zwischen den zwei Positionen die Zahl 2. Zusammen mit dem Klienten werden die Positionen besprochen, und der Fuß wird passiv vom Therapeuten in die einzelnen Positionen bewegt, während der Klient zuschaut. Anschließend schließt der Klient die Augen, und der Therapeut führt den Fuß in eine der zuvor festgelegten Positionen. Der Klient muss nun die Position durch die richtige Zahl erfühlen und benennen. ◄

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28.6.5 Sturzprävention 28.6.5.1 Bedeutung Störungen von Gleichgewicht und Koordination führen häufig zu Stürzen, oft mit dramatischen Folgen wie z.  B.  Schenkelhals- oder Wirbelfrakturen. Sturzprävention ist deshalb auch in der Ergotherapie eine wichtige Aufgabe. Selbst für Menschen ohne gesundheitliche Beeinträchtigung stellt der Sturz ein häufiges Unfallszenario dar. In Deutschland stürzen jährlich 1,8 Mio. Erwachsene und benötigen anschließend medizinische Hilfe (Saß 2019). Von 1172 älteren selbstständig lebenden onkologischen Patienten (Durchschnittsalter 73 J.) erlebten 256 (22 %) in den vergangene 6 Monaten einen oder mehrere Stürze (Williams et al. 2015). In dieser US-amerikanischen Studie zeigten sich die gleichen Risikofaktoren wie bei Gleichaltrigen ohne onkologische Erkrankung: Erhöhtes Sturzrisiko fand sich bei Patienten mit eingeschränkten körperlichen Funktionen (vor allem bei schlechter Sehkraft), mit kognitiven Defiziten, mit Defiziten bei Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) oder mit Begleitkrankheiten und entsprechender Medikation. 28.6.5.2 Sturzangst Neben einer Verletzung kann ein Sturz auch psychische Folgen nach sich ziehen. Die Betroffenen verlieren nach einem Sturz das Vertrauen in den eigenen Körper. Um weitere Stürze zu ­verhindern, begrenzen sie beispielsweise ihren Bewegungsradius. Eine solche selbst auferlegte Einschränkung kann jedoch einen erneuten Sturz begünstigen. Die Sturzangst, auch als Post-Fall-­ Syndrom bezeichnet, ist eine nicht zu unterschätzende Folge eines Sturzes. Beispiel

Frau T. ist 45 Jahre alt und nach Operation, Chemo- und Strahlentherapie sehr geschwächt. Sie fühlt sich schnell sehr müde und „wackelig“ auf den Beinen. Dieser Zustand

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wird durch eine CIPN an den Füßen verstärkt. Zudem schämt sie sich sehr, nachdem ihr neulich ein Jugendlicher auf der Straße zugerufen hat, sie sei ihrem Gang nach zu schließen wohl betrunken. Nach einem kleinen Sturz – glücklicherweise ohne weitere Verletzung  – beschließt sie, nicht mehr so oft außer Haus zu gehen. Die Treffen mit den Freundinnen werden am Ende ganz eingestellt. Die fehlende körperliche Bewegung schwächt die Muskulatur. Dadurch fühlt sich Frau T. zunehmend unsicher auf den Beinen und schränkt ihre Bewegung weiter ein. Sie verliert zunehmend den Kontakt zu ihren Freundinnen. Durch die selbst auferlegte Isolation büßt Frau T. an Lebensqualität ein und begünstigt durch ihr Verhalten einen erneuten Sturz. ◄ In der Therapie ist es wichtig, die Sturzangst zu thematisieren. Manche Klienten geben nicht gerne zu, dass sie eine Sturzangst entwickelt haben, wollen sie doch vor ihrer Umgebung nicht als ängstlich oder übervorsichtig erscheinen. Bei einem Post-Fall-Syndrom ist es unbedingt notwendig, dieses zu durchbrechen. Dies geschieht, indem der Klient dabei unterstützt wird, seine Angst zu benennen, und durch das Üben von beängstigenden Situationen im therapeutischen Setting.

28.6.5.3 Behebung von Risikofaktoren Um Stürze zu verhindern, müssen mögliche Ursachen und Gefahrenquellen erkannt und beseitigt werden. Diese Risikofaktoren gilt es mit dem Klienten zu klären, um sich als Therapeut eine Basis zu schaffen, von der aus dann gemeinsam mit dem Klienten individuelle sturzmindernde Maßnahmen entwickelt werden (Abb. 28.2). Interne Risikofaktoren Interne Faktoren bezeichnen medizinische Probleme, die das Sturzrisiko erhöhen. Sie sind in Abschn.  28.3 beschrieben. Für ihre Abklärung Abschn.  28.5, für die ergotherapeutische Behandlung Abschn.  28.6. Hier nur einige ergotherapeutisch wichtige Ergänzungen:

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Blasenfunktion  Schwäche des Beckenbodens, Blasenentzündung oder Vergrößerung der Prostata äußern sich oft durch gehäuften Harndrang. Oft tritt dieser plötzlich auf und kann weder unterdrückt noch kontrolliert werden (sog. imperativer Harndrang). Klienten geraten dann oft in Hektik und stürzen beim Versuch, die Toilette noch rechtzeitig zu erreichen. Bei Beckenbodenschwäche können ein gezieltes Beckenbodentraining durch die Physiotherapie und das vorübergehende Tragen von Einlagen diskutiert werden. Sehkraft  Ist der Sehsinn beeinträchtigt, werden Stolperfallen leicht übersehen und Distanzen nicht richtig eingeschätzt. Möchte sich der Klient abstützen und schätzt die Distanz falsch ein, greift er ins Leere. Im Verlauf einer Erkrankung verändert sich oft die Sehkraft. Eine Brille korrigiert dann unter Umständen die Sehschärfe nicht mehr optimal. Ergotherapeuten sollten daher ihre Klienten fragen, wann ihre Sehschärfe bzw. die Brille letztmals vom Augenarzt oder Optiker kontrolliert wurde, und eventuell mit diesem Kontakt aufnehmen. Auch ist es wichtig, dass der Klient angepasste Hilfsmittel (z.  B.  Rollator, Stock) nutzt, um sich abzustützen, und dass er dazu nicht an Wände oder Kleinmöbel greift, die ihm keinen Halt geben. Trinkmenge  Eine reduzierte Trinkmenge kann zu Schwindel und damit zu Stürzen führen. Trinkprotokolle, Wasser- oder Teekannen in jedem Zimmer, Wecker zur regelmäßigen Erinnerung können dabei helfen, die Flüssig­ keitsaufnahme zu steigern. Externe Risikofaktoren Durch das Erkennen und Beheben von cc  externen Risikofaktoren übernimmt der Ergotherapeut eine entscheidende Rolle in der Sturzprävention. Dazu muss er gemeinsam mit dem Klienten nach individuellen Möglichkeiten der Risikoreduktion suchen und diese passend zu seinen Wünschen und Möglichkeiten umsetzen.

28  Störung von Gleichgewicht und Koordination

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Faktoren meines Körpers, die einen Sturz begünstigen Ja

Nein

Mir ist oft schwindelig und mein Blutdruck ist zu hoch/ zu nieder lch fühle mich beim Gehen nicht sicher und habe das Gefühl zu schwanken Wenn ich auf Toilette muss, dann muss es schnell gehen Mir verschwimmt häufiger die Sicht und ich kann Abstände nicht mehr richtig abschätzen lch nehme Medikamente lch trinke zu weniq (unter 2 Liter täqlich) Jedes angekreuzte ,,Ja” kann einen Sturz begünstigen. Besprechen Sie mit lhrem Therapeuten, wie Sie gemeinsam Risiken vorbeugen können.

Mein Wohnraum In der eigenen Umgebung können sich viele Stolperfallen verstecken. Sie fallen uns nicht mehr auf, da wir über Jahre an sie gewöhnt sind. Die folgende Liste kann eine Basis in der Wohnraumberatung zwischen Ihnen und lhrem Therapeuten darstellen. Sprechen Sie nach dem Ausfüllen der Liste mit lhrem Therapeuten und suchen Sie gemeinsam nach annehmbaren Lösungen. Ja Sind Treppen/ einzelne Treppenstufen zum Wohnraum oder innerhalb der Wohnung vorhanden? Gibt es einen Handlauf, der entlang der Treppe/ der Treppenstufen verläuft? Haben Sie Schwellen innerhalb lhres Wohnraums (z.B. an Türen)? Haben Sie Haltegriffe in der Dusche oder im Bereich der Toilette, um sich abstützen zu können? Haben Sie in der Dusche eine Antirutschmatte? 1st der Badvorleger am Boden haftend und rutscht nicht weg, wenn Sie auf ihn treten? Haben Sie Läufer/ Teppiche in der Wohnung? Befinden sich auf dem Boden liegende Kabel in lhrem ,,Gehbereich”? z.B. von einer Stehlampe. Haben Sie Sitzmöbel (z.B. einen Sessel) aus dem Sie Probleme haben aufzustehen? Können in lhrem Wohnraum umhergehen ohne irgendwo anzuecken oder etwas zur Seite schieben zu müssen? Haben Sie Möbelstücke, die leicht zu verrücken sind oder wegrollen, wenn Sie sich daran festhalten? (z.B. ein Nachttisch) Haben Sie das Gefühl, dass lhr Boden glatt ist? Haben Sie das Gefühl, dass die Lampen in lhrem Wohnraum hell genug sind und den Wohnraum ani:iemessen ausleuchten? Haben Sie Hilfsmittel? (z.B. Stock, Rollator, ... ) ... wenn Sie Hilfsmittel haben, benutzen Sie diese und fühlen Sie sich im Umgang mit Ihnen sicher?

Abb. 28.2  Checkliste für Klienten – Sturzrisiko (Checkliste auch als Download verfügbar)

Nein

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Eine Studie untersuchte das Sturzrisiko von älteren Klientinnen, die nach einer sturzbedingten Hüftfraktur aus der Rehabilitation nach Hause entlassen worden waren. Ein einziger Hausbesuch durch einen Ergotherapeuten reduzierte das Risiko eines erneuten Sturzes deutlich (M. Di Monaco 2008)! Schuhe  Viele Klienten lieben ihre offenen Pantoletten, in die sie direkt nach dem Aufstehen hineinschlüpfen können. Für die Sicherheit ist jedoch festes Schuhwerk mit Riemen um die Ferse unerlässlich. Es gilt auch, die Beschaffenheit der Schuhe in Augenschein zu nehmen. Absätze verlagern das Körpergewicht auf die Fußballen und verringern die Auflagefläche des Fußes auf dem Untergrund und damit die Stabilität. Das kann eine Gangunsicherheit verstärken. Dicke oder glatte Sohlen können ebenfalls Stürze begünstigen. Bodenbeschaffenheit  Ist der Boden glatt und begünstigt ein Ausgleiten? Auch bestimmte Muster von Teppichen (z.  B. mit großen, dunklen Ornamenten) oder Bodenbelägen (z. B. schwarz-­ weiße Fließen) können bei abgeschwächter Sehkraft ein Sturzrisiko darstellen. Schwellen oder Stufen können farbig gekennzeichnet werden, damit sie nicht übersehen werden.

Probleme dazwischen hindurchzugehen. Es kann notwendig sein, die Anordnung einzelner Möbel, z.  B. von Sesseln oder Tischen, zu überprüfen und zu besprechen. Sitzmöbel sind als mögliche Risikofaktoren zu betrachten. Ein zu tiefer Sessel kann Schwierigkeiten beim Aufstehen verursachen. Ein Keilkissen kann Abhilfe schaffen. Beleuchtung  Sorgt die Beleuchtung in den Zimmern für ein ausreichend helles (nicht grelles) Licht? Der Klient sollte es sich zur Gewohnheit machen, in der Nacht, z.  B. beim Gang auf die Toilette, immer das Licht anzuschalten. Ein eingeschränkter Gleichgewichtssinn kann durch den Sehsinn ein Stück weit kompensiert werden (Abschn. 28.2.1). Auch Gesunden fällt es schwerer, im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen das Gleichgewicht zu halten. Eine unter dem Bett angebrachte Lichtquelle erhellt den Boden für den nächtlichen Gang zur Toilette, ohne den Partner zu stören. Griffe und Geländer  An Treppen, Stufen oder im Badezimmer, beispielsweise seitlich der Toilette, geben Griffe oder Geländer Halt und ­Sicherheit.

Beispiel

Kabel  Kabel von Elektrogeräten sollten der Wand entlang geführt werden, damit nicht darüber gestolpert wird. Teppiche  Ein Teppich kann zur Stolperfalle werden. Am Rand eines hohen Teppichs oder an einer umgeschlagenen Kante kann ein Klient mit dem Fuß hängenbleiben, stolpern und stürzen. Möblierung  Kleinmöbel wie Nachttische oder Telefontische müssen stabil stehen. Im Notfall sollte sich der Klient darauf abstützen können, ohne dass das Möbel wegrutscht oder zusammenbricht. Die Abstände zwischen den einzelnen Möbelstücken müssen es dem Klienten erlauben, ohne

Frau W. ist vor Kurzem nachts vor dem Bett gestürzt. Seither hat sie Angst, erneut nachts zu stürzen, sich ernsthaft zu verletzen und nicht um Hilfe rufen zu können. Mit ihrem Therapeuten benennt Frau W. Situationen, die ihr im Alltag Angst machen, z. B. nachts auf die Toilette zu müssen und dabei zu stürzen. Die Situation im Schlafzimmer von Frau W. wird analysiert. Wie ist der Ablauf, wenn Frau W. nachts auf die Toilette geht? Es zeigt sich, dass Frau W. kein Licht macht, da die Toilette in der Nähe ist und sie den Weg „im Schlaf“ kenne. Ein Unterlicht unter dem Bett wird vorgeschlagen und ausprobiert. Zudem wird ein Hausnotruf mit einem Knopf, den sie am Handgelenk trägt, installiert. Da Frau W. nachts oft kalt an den Füßen wird, schläft sie

28  Störung von Gleichgewicht und Koordination

mit Socken, die beim Gehen ebenfalls Stürze begünstigen. Bei der Wahl zwischen Hausschuhen und Anti-Rutsch-Socken entscheidet sich Frau W. für Anti-Rutsch-­Socken, da sie fürchtet, das Anziehen der Hausschuhe zu vergessen. ◄

28.6.5.4 Überprüfung präventiver Maßnahmen Ein oft unterschätztes Thema in der Beratung zur Sturzprävention ist die Überprüfung der vorgeschlagenen Maßnahmen. Immer wieder wird man mit Klienten konfrontiert, bei denen viele Maßnahmen umgesetzt wurden, der Klient jedoch weiterhin stürzt. Es ist dann wichtig zu prüfen, was mit den einzelnen Maßnahmen bezweckt wird und ob sie zum Klienten passen. Eine gute Basis für die Zusammenarbeit bildet eine Checkliste für Klienten (Abb. 28.2). cc Wichtig  Eine Liste darf nicht ohne Einbezug des Klienten oder nur mit den Angehörigen abgearbeitet werden. Der Klient allein weiß, welche Maßnahmen sich gut in seinen Alltag integrieren lassen.

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Nicht alle Maßnahmen auf einmal umsetzen! Der Klient soll sich an neue Gegebenheiten gewöhnen können. Wird er überfordert, kommt es zu Frust.

Literatur Zitierte Literatur Saß et  al (2019) Sturzunfälle bei Erwachsenen. Präv Gesundheitsf 14:355–361. https://doi.org/10.1007/s11553019-00707-6 (Zugriff am 31.07.2023) Williams GR et al (2015) Geriatric assessment as an aide to understanding falls in older adults with cancer. Support Care Cancer 23:2273

Internetadressen Krebsinformationsdienst. https://www.krebsinformationsdienst.de/aktuelles/2018/news010-­neuropathie-­bei-­ krebs-­bewegung-­hilft.php (Zugriff am 31.07.2023) Netzwerk OnkoAktiv. Das Netzwerk wird vom NCT Heidelberg (Nationales Tumorcentrum) organisiert. Auf seiner Homepage finden sich viele gute Informationen sowie Adressen von wohnortnahen, durch das NCT zertifizierten Anbietern von Sport- und Bewegungstherapie in Deutschland: https://netzwerk-­ onkoaktiv.de/ (Zugriff am 31.07.2023)

Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion

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Fanny Görmar

29.1 Definition und Terminologie Der Begriff „kognitive Dysfunktion“ stellt einen Sammelbegriff dar und bezeichnet negative Veränderungen von höheren mentalen Leistungsprozessen wie Denken, Erinnern oder Wahrnehmung. Bei kognitiven Beeinträchtigungen, die im Rahmen einer Krebserkrankung auftreten, spricht man von einer krebsassoziierten kognitiven Dysfunktion. Bei der krebsassoziierten kognitiven cc  Dysfunktion handelt es sich um ein häufiges und belastendes Phänomen, welches noch nicht ausreichend anerkannt und behandelt wird. Die kognitiven Beeinträchtigungen, denen Krebserkrankte unterliegen können, werden in der Literatur uneinheitlich benannt. Klienten selbst nutzen häufig den Begriff Chemobrain bzw. Chemohirn, und auch die wissenschaftliche Literatur bedient sich dieser Bezeichnungen, da die ersten Befunde in den 1970er-Jahren eine hohe PräErgänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/ 10.1007/978-3-662-64230-6_29]. F. Görmar (*) Burgstädt, Deutschland email: [email protected]

valenz von kognitiven Störungen nach Chemotherapie ergaben. Chemobrain bezeichnet im populären Sprachgebrauch kognitive Dysfunktionen, die während oder nach einer Tumortherapie auftreten. Diese Bezeichnung kann die Komplexität des Phänomens allerdings nicht erfassen, da sie die Bedeutung anderer Einflussfaktoren (Abschn. 29.4) unberücksichtigt lässt. Darüber hinaus könnte der Begriff Betroffene davon abhalten, einer Chemotherapie zuzustimmen.

29.2 Prävalenz Insgesamt berichten 17–75 % der Patienten über unterschiedlich starke Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit (Ah 2015). Diese treten bei einigen bereits nach der Diagnose, aber noch vor der Behandlung der Tumorerkrankung auf. Etwa drei Viertel der Betroffenen beobachten die Beschwerden während und mehr als ein Drittel nach Abschluss der Therapie (Lange et  al. 2019). Dabei können die Symptome schnell rückläufig sein und gänzlich verschwinden oder Monate bis Jahre andauern bzw. in ihrem Schweregrad fortschreiten.

29.3 Ursachen und Risikofaktoren Eine krebsassoziierte kognitive Dysfunktion tritt in zwei verschiedenen Situationen auf:

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_29

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F. Görmar

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• Bei Patienten mit Hirnmetastasen oder einem im Hirn lokalisierten Primärtumor ist eine kognitive Dysfunktion direkte Folge der Zerstörung von Hirngewebe durch den Tumor, evtl. zusätzlich durch die lokale Behandlung (Chirurgie oder Bestrahlung). • Häufig ist allerdings eine kognitive Dysfunktion auch bei Patienten mit einem nicht im Hirn lokalisierten Tumor zu beobachten. Die kognitive Dysfunktion bei diesen Patienten wird heute als multifaktorielles Geschehen betrachtet. Abb.  29.1 zeigt Faktoren, die die Kognition bei Tumorpatienten negativ beeinflussen können. Neben den Risikofaktoren der Erkrankung, der Behandlung und den assoziierten Symptomen beeinflussen viele andere Aspekte die kognitiven Funktionen. So können beispielsweise sowohl Begleiterkrankungen und deren Therapie (z.  B.  Opioide, Antiepileptika oder Glukokortikoide) als auch persönliche Faktoren die kognitive Funktion stören. Ein aktiver Lebensstil in einem nährenden sozialen Umfeld kann z. B. den Aufbau einer umfassenden kognitiven Reserve unterstützen und damit das Risiko senken helfen.

29.4 Symptome und Folgestörungen Die Symptome betreffen folgende Bereiche: • • • • • •

Konzentration und Aufmerksamkeit, Merk- und Lernfähigkeit, Reaktionszeit, Multitasking, Wortfindung, Koordination.

Die kognitiven Beeinträchtigungen bei Patienten mit Hirntumoren unterscheiden sich von denen bei Patienten mit extrazerebralen Tumoren: Bei Hirntumoren sind die Symptome und der Schweregrad der kognitiven Dysfunktion bedingt durch die Funktionen der Hirnregion, in der der Tumor lokalisiert ist. Die Auswirkungen von extrazerebralen cc  Tumorerkrankungen betreffen v.  a. die Domänen Gedächtnis und Exekutivfunk­ tionen. Letztere Funktionen beinhalten höhere mentale Fähigkeiten wie beispielsweise bewusste

Krebsbehandlung z.B. Operation/ Narkose Medikamentöse Tumortherapie (Chemo-, Hormon-, lmmuntherapie) Radiotherapie Begleitmedikamente (u.a. Glukokortikoide) Krebserkrankung z.B. Primäre Hirntumore Hirnmetastasen Paraneoplastische Syndrome KOGNITIVE VERÄNDERUNGEN BEI KREBSPATIENTEN

Soziodemografische und persönliche Faktoren z.B. Alter Bildung Ökonomische Situation Lebensstil (u.a. Sport, Alkoholkonsum etc.)

Krebsassoziierte Symptome z.B. Distress Angst Depressivität Schmerz Fatigue Schlafstörungen Übelkeit

Begleiterkrankung und -medikation z.B. Arteriosklerose Hypertonie Schmerzmittel (u.a. Opioide etc.) Antidepressiva Hormonersatz

Abb. 29.1  Viele Faktoren beeinflussen bei Krebspatienten die Entwicklung einer kognitiven Dysfunktion. (Nach Scherwath in Mehnert und Koch 2016)

29  Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion

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Aufmerksamkeitssteuerung, kognitive Flexibilität, Selbstkontrolle oder Handlungsplanung. Sie ermöglichen ein adäquates Selbst- und Zeitmanagement. Klienten nennen bei der Anamnese häufig folgende Schwierigkeiten:

cc Diese Beeinträchtigungen gehen einher mit Symptomen von Depression, Angst und Fatigue. Dies ist in der ergotherapeutischen Behandlung zu berücksichtigen.

• Lesen fällt mir schwer. Wenn ich am Seiten­ ende bin, weiß ich schon gar nicht mehr, was ich vorher gelesen habe. • Ich vergesse viel. Meine Tochter sagt z. B., sie habe mir bereits von dem Ausflug erzählt, aber ich kann mich nicht daran erinnern. • Im Gespräch mit Freunden verliere ich schnell den Faden. • Ich verlege meine Schlüssel ständig. • Neue Informationen wie Namen von Personen, Telefonnummern, Arbeitsaufträge etc. kann ich mir nicht gut merken.

29.5 Diagnostik

Daraus resultieren weiterführende Beschwerden: In einer Untersuchung bezeichneten Brustkrebspatientinnen die anhaltenden kognitiven Defizite als die beschwerlichste Folgestörung ihrer Erkrankung. Die Frauen fühlten sich ängstlich, abhängig und emotional erschöpft (Boykoff et  al. 2009). Dadurch werden Lebensqualität, Selbstwahrnehmung, Rollenfunktion, allgemeine Teilhabe und das Autonomieempfinden stark beeinflusst. Hervorzuheben sind die damit implizierten Einschränkungen: Betroffene benötigen z. B. für alltägliche Aufgaben mehr Zeit oder sind aufgrund der Schwierigkeiten beim Führen eines Kraftfahrzeugs auf die Hilfe anderer angewiesen. Für die Betroffenen ist es besonders cc  erschwerend, wenn Freunde, Familien­ angehörige oder gar medizinisches Personal die geschilderte Symptomatik nicht ernst nehmen. Sozialmedizinisch ist der gravierende Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit und alle damit verbundenen Aspekte relevant. In einer Studie erwähnten 75 % der Befragten die kognitiven Defizite als ein deutliches Hindernis beim beruflichen Wiedereinstieg (Lange et al. 2019).

Wie vor jeder ergotherapeutischen Behandlung bedarf es auch hier einer eingehenden Anamnese. Diverse Befundsysteme finden sich im Indikationskatalog Ergotherapie und sollten nach den institutionellen Rahmenbedingungen sowie nach Alter und Leistungsniveau des Klienten ausgewählt werden. Krebserkrankungen zählen mit Ausnahme von Hirntumoren bisher nicht zum Indikationsspektrum einer neuropsychologischen Diagnostik. Daher existieren in Deutschland noch keine etablierten Richtlinien oder standardisierte Testverfahren. Tab. 29.1. gibt eine Übersicht über im deutschen Sprachgebiet eingesetzte neuropsychologische Messinstrumente und Verfahren. Bei der Auswahl für die eigene Anwendung sind drei Kernprobleme zu berücksichtigen: • die Inkongruenz zwischen subjektiven, z.  B. durch Selbsteinschätzungsbögen erhobenen, und objektiven, in neuropsychologischen Tests erreichten kognitiven Fähigkeitswerten, • die Vielfalt von getesteten Leistungsdomänen sowie der entsprechenden Testbatterien, • der personelle und zeitliche Aufwand der Testung. Erfassung objektiver Defizite Defizite wie schlechte Konzentrationsleistung können Ergotherapeuten z.  B. mittels des D2-­ Tests erfassen und das Arbeitsgedächtnis anhand der Zahlenspanne überprüfen. Die Anwendung einer umfangreichen standardisierten Testbatterie (z. B. TAP) sollte jedoch durch den Arzt oder Neuropsychologen erfolgen. Zur Verlaufsdokumentation bieten sich diverse Screeninginstrumente an, die im Prä-Post-Vergleich Leistungsunterschiede objektivieren können. Derartige Screenings finden sich beispielsweise

F. Görmar

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Tab. 29.1  Im deutschen Sprachraum eingesetzte neuropsychologische Tests und Testbatterien zur Erhebung von unterschiedlichen kognitiven Funktionen (Auswahl). (Defrancesco und Sperner-Unterweger 2015) Kognitive Funktion Screeningtests

Lernen und Gedächtnis

Name des Testverfahrens Mini-Mental State Examination Dementia Screening Test (DemTect) Hopkins Verbal Learning Test –Revised™ (HVLT-R™) CERAD-Wortliste Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT) California Verbal Learning Test Wechsler Memory Scale IV

Rey Figure Test Zahlenspanne (Digit Span) Corsi-Blöcke

Aufmerksamkeit

Benennen Exekutive Funktionen

Zerebraler Insuffizienztest (c.l.-Test) D2-Test

Continuous Performance Test (CPT) Boston Naming Test (BNT) Trail Making Test B Wisconsin Card Sorting Test (WCST) Clox I Stroop-Test

Turm von London Go-no-Go-Tests Psychomotorik Motorik und Sensorik, Apraxie Sprache

Trail Making test A Lurija Sequenzen Finger-­ Tapping Tinetti-Test Aachener Aphasietest (AAT) Aachener Aphasie-Bedside-Test (AABT) Boston Naming Test (BNT) Wortflüssigkeit (Tiere, s-Wörter) Token Test

Beschreibung Erfassung kognitiver Beeinträchtigungen Erfassung kognitiver Beeinträchtigungen

Dauer 10 min 10 min

Verbales Lernen, Gedächtnis, unmittelbarer und verzögerter Abruf 16–92 Jahre Alters- und bildungsnormiert Verbales Gedächtnis

5–10 min

Aktuelle deutschsprachige 4. Version, normiert nach Alter und Bildung, 16–90 Jahre Visuelles Gedächtnis Arbeitsgedächtnis Visuell-räumliches Arbeitsgedächtnis, auch bei Aphasie oder Analphabetismus einsetzbar Aufmerksamkeit

5 min 5 min 5 min 5–10 min

5–10 min 5 min 5–10 min

2–5 min

Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit (bis 60 Jahre normiert) Computergestützter Test zur Daueraufmerksamkeit Verbales Benennen Mentale Flexibilität und Umstellfähigkeit Mentale Flexibilität und Umstellfähigkeit

5 min

Visuelles Konzeptualisieren Informationsverarbeitung (Auswahl, Codierung und Decodierung) im optisch-­ verbalen Funktionsbereich Konvergentes problemlösendes Denken Fähigkeit zur Unterdrückung einer nichtadäquaten Reaktion Psychomotorische Geschwindigkeit Motorische Handlungsorganisation

2–5 min 10 min

Mobilität und Sturzrisiko Spontansprache (Benennen, Nachsprechen, Sprachverständnis) Schnelltest bei akuter Aphasie

10 min 60–90 min

Konfrontationsbenennen Semantische und phonematische Wortflüssigkeit Rezeptive Sprachstörungen

2–3 min 5 min

Variabel 5 min Ca. 2 min 20 min

20–25 min Variabel Variabel 1 min

30–40 min

5 min

315

29  Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion Tab. 29.1 (Fortsetzung) Kognitive Funktion Intelligenz

Standardisierte Testbatterien

Name des Testverfahrens Wechsler Adult Intelligence Scale IV (WAIS-IV) Mehrfachwahl-Wortschatz-­ Intelligenztest (MWT-B) Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) Wiener Testsystem (WTS) CERAD-plus

bei Cogpack® oder NeuroCogFX®. Bei Letzterem handelt es sich um ein speziell für die Onkologie adaptiertes, normiertes und computerbasiertes Verfahren, welches in der Ergotherapie nach entsprechender Einarbeitung valide und zeitökonomisch zum Einsatz kommen kann. Erfassung subjektiver Beschwerden Subjektive Beschwerden können ergänzend mittels standardisierter Fragebögen erhoben werden, beispielsweise mit dem EORTC-QLQ-C30 (The European Organization for Research and Treatment of Cancer Core Quality of Life Questionnaire) oder Fact-Cog® (The Functional Assessment of Cancer Therapy  – Cognitive Function). Meistens korrelieren diese Werte nur geringfügig mit denen objektiver Defizite. Eine mögliche Erklärung dafür ist die vergleichsweise hohe Korrelation von Werten dieser selbstberichteten Beschwerden mit psychischem Stress und die damit verbundene stärkere Ausprägung in den Bereichen Angst, Depression, Fatigue und Schlafstörungen. Eine weitere mögliche Erklärung ist die nicht ausreichende Sensitivität diverser Tests, wie z. B. des Mini-Mental State Test oder DemTect. Diese Tests werden deshalb zur Erfassung einer kognitiven Dysfunktion bei Tumorpatienten nicht empfohlen Auch wenn aktuell noch kein Goldstandard in der Diagnostik existiert und ihre Sorgen in objektiver Hinsicht unbegründet scheinen, müssen Menschen mit diesen Beeinträchtigungen ernst genommen werden. Die alltäglichen Erfahrungen von Betroffenen können sensitiver sein als gängige Messinstrumente, und der mögliche Leidensdruck berechtigt und erfordert das Angebot einer Intervention. Hier können ergo-

Beschreibung Intelligenz

Dauer 90 min

Prämorbide Intelligenz

4–6 min

Computergestützt, verschiedene Reiz-­ Reaktions-­Aufgaben Computergestützt, 120 Untertests Testbatterie zur Demenzdiagnostik

Variabel

Ca. 50 min

therapeutische Befundungen, die vor allem alltags- und handlungsorientiert ausgerichtet sind, sehr gute Dienste leisten und die Klienten in Zielfindung und -vereinbarung unterstützen. cc Daher empfiehlt sich in der ergotherapeutischen Praxis die Kombination eines Screeningverfahrens mit einem Selbstbe­ wertungsfragebogen, beispielsweise mittels NeuroCogFX®1 und Fact-Cog®2.

29.6 Ergotherapeutische Behandlung – Übersicht Das übergeordnete Ziel der Behandlung stellt die adäquate Betätigung in den für den Klienten wichtigen Bereichen von Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit dar. Die gezielte Behandlung strebt die Wiederherstellung bzw. Optimierung der dafür notwendigen kognitiven Fähigkeiten an. Während eines Rehabilitationsaufenthaltes sind im besten Falle alle involvierten Dienste vor Ort, von physikalischer und Bewegungstherapie über Ernährungsberatung, Psychologen, Ärzten, Pflege bis hin zu Ergotherapeuten. Dadurch können sich die ergotherapeutischen Maßnahmen z.  B. auf alltagsrelevante Handlungen und Verhaltensweisen beschränken. Bei einer ambulanten Folgebetreuung in der ergotherapeutischen Praxis wäre das unter Umständen nicht mehr der Fall. Hier empfiehlt sich ein breiterer Behandlungs-

Bezug über: [email protected]. Download unter www.facit.org.

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ansatz, welcher sich aus diversen Beobachtungen und Befragungen ableiten lässt. So sollte der Ergotherapeut herausfinden, ob und wenn ja welche Behandlungen der Klient parallel zum ergotherapeutischen Angebot wahrnimmt, um nach Möglichkeit die Therapien aufeinander abzustimmen. Gemeinsam sollte besprochen werden, welche bisherigen Anwendungen gut funktioniert haben, und ein Schwerpunkt erarbeitet werden. Ebenso wie im diagnostischen Bereich liegen aktuell keine Standards zur Behandlung neurokognitiver Folgestörungen bei Krebserkrankten vor. Die medizinische Rehabilitation gründet auf der Adaption von Standards für die Behandlung von anderen Klientelen (z. B. Demenzkranken). Dabei kommen pharmakologische sowie nichtpharmakologische Therapien zum Einsatz (Übersicht dazu bei Ah 2015). Die medikamentöse Therapie z. B. mittels Methylphenidad oder Modafinil wird aktuell nicht favorisiert. Zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit werden stattdessen die folgenden nichtpharmakologischen Interventionen empfohlen. Die Wahl der Methode hängt von der Ausbildung des Therapeuten und den Interessen des Klienten ab. Alle Maßnahmen sind sowohl individuell im Einzelsetting als auch im Gruppensetting durchführbar.

Gelenkbeschwerden leiden. Zu viel Reibung oder Gewicht kann sich schädlich auswirken und zu vorzeitiger Knorpelabnutzung, Gelenkfehlstellungen oder Arthrose führen. Eine Kombination von kognitivem und cc  physischem Training verbessert die mentalen Fähigkeiten wesentlich stärker als die Anwendung einer einzigen Trainingsmethode. Deshalb sollte Betroffenen ein kombiniertes Training empfohlen werden, entweder klassische Übungselemente wie z. B. Tanzen, Balancieren, Jonglieren etc. oder auch moderne interaktive Bewegungssteuerung über spielerische Formate von Spielekonsolen, auch in AR (Augmented Reality) bzw. VR (Virtual Reality). Entspannungs- und Resilienztraining Wie bereits erwähnt, besteht eine hohe cc  Korrelation zwischen subjektiv empfundenen kognitiven Defiziten und psychischem Stress.

Deshalb sind Entspannungs- und Resilienztraining weitere wichtige Interventionen zur Selbstregulation und psychophysiologischen Beeinflussung. Die körperliche Entspannung äußert sich Kognitives Training u. a. in Senkung von Blutdruck sowie Atem- und Kognitives Training verbessert die mentale Herzfrequenz. Auf der emotionalen Ebene zeigen Leistungsfähigkeit nach einer Krebserkrankung sich z.  B.  Gefühle von Ruhe und Wohlbefinden. und -therapie nachweislich und hilft zusätzlich, Die kognitive Entspannungsreaktion geht mit das Risiko für Demenzerkrankungen zu reduzie- einem assoziativ-gelockerten Denkablauf einher. ren. In Abschn. 29.7 wird diese Maßnahme aus- Zusätzlich nimmt die „Alarmbereitschaft“ ab, da führlich beschrieben. das Gehirn Außenreize vermindert aufnimmt. In der Onkologie erprobte Möglichkeiten sind Physisches Training z. B. Neurofeedback, Meditation oder MBSR. Das Auch moderate körperliche Aktivität (Kap.  20 Akronym MBSR steht für Mindfulness-­ based und 23) wie beispielsweise Fitnesstraining, Tai-­ Stress Reduction, ein von Jon Kabat-Zinn entChi, Qigong etc. hat positive Effekte auf neuro- wickeltes Programm zur Stressbewältigung. Auch psychologische Defizite bei Krebserkrankten. weitere funktionelle Verfahren wie Progressive Dabei werden unter anderem Durchblutung, Muskelrelaxation nach Jacobsen, Autogenes TraiStoffwechsel etc. gefördert und der körperliche ning nach Schultz, Feldenkrais, Pilates, Yoga, Gesamtzustand verbessert, was sich positiv auf Fünf Tibeter, Imaginations- und Atemtechniken, das Nervensystem auswirkt. Wichtig ist dabei, Hypnose oder Shiatsu etc. sind einsetzbar. Neben Bewegungsangebote auszuwählen, die den Be- diesen spezifischen Entspannungsverfahren köntroffenen Freude bereiten und die Gelenke mög- nen auch informelle Maßnahmen Entspannung lichst schonen, da viele Klienten bereits unter ermöglichen (z. B. ein Bad nehmen, Musik hören,

29  Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion

in der Hängematte liegen etc.). Auch diese einfachen Mittel sind dazu geeignet, die Gehirnfunktion nach onkologischer Therapie durch die Regulation der Körpersysteme zu verbessern. Sehr ­ergebnisorientierte Klienten könnten Entspannung mit einer negativen Konnotation wie z.  B. „faul sein“ verbinden. Dies erschwert das Training und sollte bei der Vermittlung einer ausgewogenen Aktivitäts- und Entspannungsbalance thematisiert werden.

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• Soziale Interaktion fungiert bereits an sich als mentales Training, da gleichzeitig viele Hirnregionen beteiligt sind und stimuliert werden. Darüber hinaus stellen Bezugspersonen eine wichtige emotionale und praktische Unterstützung dar. Klienten können Ermutigung erfahren, wenn sie sich anderen anvertrauen und auch um Hilfe bitten können. • Durch den Nachtschlaf konsolidieren sich Wissensinhalte, d.  h., Informationen werden ins Langzeitgedächtnis übertragen, und die Naturtherapien Konzentrationsfähigkeit verbessert sich. Positive Effekte auf kognitiven Funktionen zei- • Eine ausgewogene Ernährung ist grundgen auch Naturtherapien und Green-Care-­ legend für die Gesundheit, führt zu einer besVerfahren wie Gartentherapie, Landschaftsseren Leistung des Gehirns und schützt zellutherapie, Waldtherapie, tiergestützte Therapie, läre Funktionen. Das Gehirn entspricht zwar Green Meditation und weitere. nur etwa 2 % des Körpergewichts, verbraucht aber bis zu 20  % der gesamten Energie, die Kreativtherapie dem Organismus zur Verfügung steht. Um Sowohl zur Förderung der Leistungsfähigkeit als längere Zeit konzentriert zu arbeiten, sind auch zur Verbesserung der Entspannungsfähigeine gleichmäßige Energieversorgung und ein keit bietet sich Kreativtherapie an. Dabei komstabiler Blutzuckerspiegel wichtig. Zusätzmen Kunst,- Musik-, Tanz-, Drama-, Biblio- und lich ist auf eine ausreichende FlüssigkeitsPoesietherapie in Frage. zufuhr zu achten. • Eigenverantwortung kommt positiv zum TraTraining von kreativem Ausdruck gen, wenn der Klient sich selbst als Herr seiMit kreativem Ausdruck sind nicht nur die soeben ner Handlungen erlebt und Situationen kontgenannten kreativtherapeutischen Ansätze gerollieren kann. Dies kann seine psychische meint, sondern jegliches schöpferische Tätigsein. Energie ebenso wie „positives Denken“ stärAlle diese Ansätze sind besonders effektiv, wenn ken, denn die Interpretation einer Situation sie auf eigenem Interesse und echter Begeisterung beeinflusst ihre Wahrnehmung und damit das für ein Thema beruhen und keinesfalls Leistungspersönliche Erleben. druck oder Stress erzeugen. Daher finden Be- • Humor verhilft auch ernsten Themen zu troffene in alten oder neuen Hobbys viele MöglichLeichtigkeit, verringert Stress und trägt zu keiten, ihre kognitiven Fähigkeiten zu trainieren – einem entspannteren Lebensgefühl bei. sei es Handwerk, Kochen, Gärtnern, Singen, Modellbau, Theaterspielen oder dergleichen. Diese Eine sinnvolle Möglichkeit, die aufgezeigten Maßnahmen fördern vorhandene Ressourcen, Trainings- und Bewältigungsstrategien kombinaSelbstwahrnehmung sowie Selbstwirksamkeit und torisch zu verwenden, ist das sog. Bullet Journal. helfen, Erlebtes gleichermaßen wie Gelerntes auch Als persönliches Planungs- und Dokumentationsin außertherapeutischen Situationen umzusetzen. instrument kann es in Verbindung mit Habit-­ Tracking (übersetzbar mit GewohnheitsverTrainingsnaher Alltag folger) die Umsetzung im Alltag erleichtern, in Im Alltag können Klienten „nebenbei“ ihre Hirn- Rücksprache mit dem Therapeuten Schwierigleistung trainieren, indem sie sich ganz grund- keiten aufzeigen sowie mit kreativem Gestallegende Prinzipien bewusst machen: tungspielraum viel Freude bereiten.

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Das entsprechende Angebot sollte für die Betroffenen zugänglich, einfach zu handhaben, frei von Nebenwirkungen und kostengünstig sein. Aus der Klientenperspektive steht die Effektivität im Vordergrund. Diese sollte sich in einer verbesserten Leistungsfähigkeit, Handlungskompetenz und Lebensqualität widerspiegeln. Evidenzbasierte Therapiekonzepte über die Akutphase (im Regelfall eine 3-wöchige stationäre oder ganztägig ambulante onkologische Rehabilitation) hinaus sind in Deutschland aktuell nicht etabliert. Allerdings ist es leicht möglich und von Rehabilitanden als sehr hilfreich deklariert, ein adäquates Training stationär zu besuchen und in Eigenregie als Heimtraining fortzuführen. Ein Überblick über die wichtigsten Grundlagen ist am Ende des Kapitels als Mindmap wiedergegeben (Abb. 29.5, Kognitive Leistungsfähigkeit).

Was Klienten mit kognitiver Dysfunktion im Alltag beachten sollten

• Ausgewogene Balance zwischen Aktivität und Entspannung anstreben • Externe Gedächtnishilfen nutzen, z. B. –– Handysignal für Erinnerung wichtiger Termine oder Medikation –– Vorbereitung von schriftlichen Notizen, um z.  B. beim Arztbesuch alle Fragen zu erinnern • Alltag realistisch planen: mit Pufferzeiten, festen Routinen und unterstützenden Selbstgesprächen • Sich anderen anvertrauen und ggf. um Hilfe bitten • Freudvolle Aktivitäten verfolgen (Erfassung mittels Interessencheckliste)

29.7 Kognitives Training Kognitives Training umschließt jede Intervention zur Wiederherstellung, Erhaltung oder Verbesserung mentaler Funktionen. Ein wiederholtes und strukturiertes Vorgehen ermöglicht es den Klienten, problematische oder herausfordernde Alltagssituationen wieder adäquat zu bewältigen.

29.7.1 Behandlungsgrundsätze • Respekt vor der Autonomie der Klienten, d.  h., freiwilliges Training ohne Leistungsdruck oder „Schulsituationen“: keine Hausaufgaben, sondern ein gemeinsam besprochenes Trainingsprogramm; kein „Korrigieren“ der Aufgaben, vor allem nicht mit Rotstift; kein Abfragen in der Runde etc. • Vermeidung von Über- oder Unterforderung (Abb. 29.2) • Aufgabenstellungen klar formulieren und ggf. wiederholen • Zeit zum Nachdenken lassen und ggf. Hilfestellung geben • Möglichst wissenschaftlich überprüfte oder alltagsnahe Verfahren nutzen • Schwierigkeitsgrad langsam erhöhen, um Erfolgserlebnisse und Selbstwertgefühl zu ­steigern • Abwechslung einbauen • Alltagsbezogenes Material verwenden

Effektivität/Produktivität

cc Zusammenfassend empfiehlt sich ein auf die Bedürfnisse und Ziele der Klienten ausgerichtetes ganzheitliches Behandlungs­ angebot, welches verschiedene Methoden und Domänen miteinander vereint.

hoch

gering niedrig

mittel

hoch

Erregungsniveau/Anspannung/Aktivierung

Abb. 29.2 Yerkes-Dodson-Gesetz

29  Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion

29.7.2 Kontraindikationen Unter Beachtung der oben genannten Grundsätze gibt es keine Kontraindikationen. Vorsicht ist bei Klienten mit Epilepsie geboten, da bei besonders schwer betroffenen Klienten durch verschiedene Reize wie z.  B.  Flackerlicht, welches bei manchen computergestützten Aufgaben vorkommen kann, Anfälle ausgelöst werden können.

29.7.3 Verschlechterung der Symptomatik Es ist möglich, dass Klienten während des Therapieprozesses von einer Verschlechterung der Symptomatik berichten. In den meisten Fällen hängt dies mit einem erhöhten Anspannungsniveau zusammen (Abb. 29.2). Tritt die Zunahme der Symptome innerhalb einer Einheit auf, hat das Training möglicherweise zu einer kurzfristigen Überforderung geführt. Nun ist es notwendig, eine Pause einzulegen oder das Training zu beenden. Gemeinsam mit dem Klienten sollte stets eruiert werden, welche Komponenten zu dem Leistungsabfall geführt haben. Der Klient wird so für seine Grenzen sensibilisiert, und damit wird auch der Transfer in den Alltag erleichtert. Bei Bedarf sollten entsprechende Handlungsoptionen aufgezeigt und Unterstützung bei der Realisierung der favorisierten Variante angeboten werden. Meist bessert sich die Symptomatik mit Verringerung des Anspannungsniveaus (Abschn. 29.7.7 und Abb. 29.2). Berichtet ein Klient über mehrere Einheiten hinweg von einer Verschlimmerung, gilt es zu fragen, wie oft und wie lange er am Tag trainiert und welche sonstigen Verhaltensweisen er pflegt. Gemeinsam mit dem Klienten sollten nun Dauer und Frequenz des Trainings reduziert und dann langsam wieder aufgebaut werden. Zusätzlich empfiehlt sich, mit dem Klienten zu prüfen, inwiefern er den Alltag entlastender gestalten kann.

319

Beispiel

Eine Klientin mit Schwierigkeiten im Bereich der Konzentration gibt an, dass sie täglich Übungen im Internet absolviert. Sie hat das Gefühl, sich in ihren Leistungen nicht zu verbessern, eher sogar zu verschlechtern, was sie auch in den Punktwerten am Ende der Übungen bestätigt findet. Gemeinsam mit dem Therapeuten wird nun ermittelt, wie lange und wie oft sie dieses Training durchführt. Sie gibt an, jeden Tag 50 min zu trainieren, da sie sich für einen Trainingskurs entschieden hat, bei welchem jede der 5 Übungen 10 min dauert. Die Klientin gibt darüber hinaus an, dass sie die geplanten Familienspielabende vernachlässigt. Bei weiterem Nachfragen wird deutlich, dass sie sich nach der Arbeit bereits sehr erschöpft fühlt, da es aufgrund der Einführung einer neuen Software sehr stressig zugehe. Die Alltagsanforderung ist hier bereits zu hoch. Daher ist es empfehlenswert, die Trainingszeit zu halbieren und für den Abend eher entspannende Aktivitäten einzuplanen, welche das hohe Anspannungsniveau auf ein eher mittleres Niveau sinken lassen. Indem sie sich selbst weniger unter Druck setzt, mehr zu üben bzw. bessere Punktzahlen zu erreichen, kann die Freude an der Übung zurückkehren und ein baldiges Erfolgserlebnis wahrscheinlich machen. ◄ Bei vielen Klienten reichen diese Maßnahmen nicht aus, um das Anspannungsniveau dauerhaft zu regulieren. Hier kann eine psychotherapeutische Begleitung sinnvoll sein. Sollte sich die Symptomatik sehr plötzlich verschlechtern oder sich durch eine Trainingsumstellung nicht zumindest kurzfristig bessern, sollte der behandelnde Arzt einbezogen werden. Organische Veränderungen und Beeinträchtigungen wie Depression, Angst, Fatigue oder Medikamentennebenwirkungen müssen ausgeschlossen bzw. behandelt und ggf. muss eine neuropsychologische Testung veranlasst werden.

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29.7.4 Gestaltung des kognitiven Trainings

Auch verschiedene Software kann eingesetzt werden, z. B. Cogpack®. Diese Trainingssoftware beinhaltet Test- und Übungsprogramme mit di29.7.4.1 Inhalte und Umsetzung versen Aufgabenvarianten zu Visuomotorik, AufDie Gestaltungsmöglichkeiten des Trainings sind fassung, Reaktion, Vigilanz, Merkfähigkeit, vielseitig und erstrecken sich von allgemeiner sprachlichen/intellektuellen/berufsnahen FähigGrundlagenvermittlung über das Erlernen von keiten und Sachwissen (Marker Software GmbH Kompensationsstrategien hin zu regelmäßigem 2020). Vergleichbare Programme sind z.  B.  ReGebrauch von Übungsmaterial im weitesten hacom® (www.hasomed.de/produkte/rehacom) Sinne. oder Fresh Minder (www.freshminder.de). Die Therapiesitzungen können als moderierOnline-Trainingsprogramme können herantes Gruppentraining oder im Einzelformat statt- gezogen werden, wenn Klienten beispielsweise zu finden. Bisher gibt es noch keine Evidenz für eine Hause eigenständig weitertrainieren möchten. bessere Wirkung eines der beiden Formate. Ge- Trainingskurse oder einzelne Übungen werden z. B. sichert ist, dass solche Interventionsprogramme von NeuroNation (www.neuronation.com) zum Teil strukturierte Hilfestellungen für Klienten bieten kostenpflichtig angeboten. Diese Internetplattform und auch zu Hause unter Benutzung von Online-­ bietet ein Trainingsprogramm, welches sowohl viele Programmen weitergeführt werden können. Dar- mit Wissenschaftlern entwickelte Übungen als auch über hinaus kann kognitives Training helfen, ein integriertes soziales Netzwerk beinhaltet. Auch Symptome von Depression, Angst und Fatigue zu weitere Anbieter wie beispielsweise Memorado reduzieren. (www.memorado.net) sind empfehlenswert. Klientenschulung Für schulungsrelevante Anteile bietet sich eine visuelle Unterstützung durch eine PowerPoint-­ Präsentation oder das Verwenden einer Flipchart an. Wichtig ist die Vermittlung von Informationen zu den Bereichen kognitiver Leistungsfähigkeit, inwiefern diese nach onkologischer Erkrankung und Therapie beeinträchtigt sein können und warum diese Beeinträchtigung auftreten können (Abb.  29.1). Das Wissen um diese Zusammenhänge ermöglicht einen kompetenteren Umgang mit den durch die kognitive Dysfunktion verursachten Defiziten und geht mit einer verbesserten Lebensqualität einher. Kognitives Funktionstraining Prinzipiell kann beim kognitiven Funktionstraining mit Arbeitsblättern oder adaptierten Kopiervorlagen gearbeitet werden. Evaluierte Übungsvorlagen zu verschiedenen Leistungsdomänen finden sich beispielsweise bei Finauer (2009). Zur Durchführung spezieller kognitiver Funktionstrainings siehe Abschn. 29.7.5.

Einsatz von handwerklichen, spielerischen und kreativ-gestalterischen Techniken und Medien Wer weder mittels Arbeitsblätter noch computergestützt trainieren möchte oder kann, findet im Bereich therapeutischer Spiele und handwerklich-­ kreativer Techniken eine große Auswahl an Möglichkeiten. Gesellige Runden, entspannte Atmosphäre und Spaß können dabei prozessunterstützend wirken. Handlungs- und alltagsorientiertes Training Alltags- und handlungsorientierte Trainings stützen sich auf die AOT (Alltagsorientierte Therapie) und HoDT (Handlungsorientierte Diagnostik und Therapie). Sie sind darauf ausgelegt, die Handlungskompetenz der Klienten zu steigern und damit die Auswirkung bestehender Beeinträchtigungen auf den Lebensalltag zu reduzieren. Beschwerliche Alltagssituationen sollten möglichst konkret in die Behandlung integriert werden.

29  Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion

Beispiel

• I-ADL-Trainings: z. B. Ausfüllen von Onlineanträgen • Training von örtlicher Orientierung: z. B. Klienten empfehlen sich gegenseitig mit Skizzen Sehenswürdigkeiten/Wanderrouten/Geschäfte • Training von zeitlicher Orientierung: z. B. Einordnen von Therapieplan-Bausteinen während der stationären Rehabilitation • Training von sozialen Kompetenzen: z. B. Rollenspiele ◄ Arbeitstherapie Auch Maßnahmen der Arbeitstherapie können die Grundarbeitsfähigkeiten maßgeblich verbessern helfen. Im klinischen Setting sind diese häufig im Bereich MBOR (medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) angesiedelt. Arbeitstrainings können auch mit einer beruflichen Belastungserprobung einhergehen oder Anpassungen am vorhandenen Arbeitsplatz beinhalten. An einem Computerarbeitsplatz kann dies z. B. eine ergonomischere Einrichtung bedeuten, in Verbindung mit Hinweisen, die daran erinnern, Pausen einzuplanen für Bewegung, Atemübungen, Flüssigkeitszufuhr oder Augenentspannung.

29.7.4.2 Trainingsdauer Empfohlen wird ein tägliches kognitives Training von ca. 30–60 min 4- bis 5-mal pro Woche für vorerst 6 Wochen (Kesler 2013). Es ist ratsam, feste Übungsroutinen zu installieren und dabei die persönliche Leistungskurve zu berücksichtigen. Zu beachten ist: Je mehr physische, kognitive und emotionale Leistung der Tag an sich bereits gefordert hat, desto eher wird sich dies beim Training auswirken (Abschn. 29.7.3). Sofern das 6-wöchige Training als hilfreich empfunden wurde, kann das Programm in diesem Stil fortgesetzt oder ausgedünnt werden. Sollten keine Fortschritte bemerkbar sein, werden weitere 6 Wochen angeraten, ggf. mit Anpassung der Trainingsmodalitäten.

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29.7.5 Spezifische Trainings 29.7.5.1 Aufmerksamkeitstraining Vielen Klienten ist nicht bewusst, dass die Aufmerksamkeit guten Gedächtnisleistungen vorausgeht (Abb.  29.3), da ihnen Defizite oft erst auf der Erinnerungsebene auffallen. Der Trainingsbereich kann bei Bedarf spezifiziert werden, sodass vor allem geteilte oder selektive bzw. Daueraufmerksamkeit sowie Alertness und Vigilanz trainiert werden. Meistens ist dies jedoch nicht notwendig. Mögliche Maßnahmen sind: • Vermittlung der Faktoren, die die Aufmerksamkeit beeinflussen (z.  B.  Alter, Drogen, Medikamente, Anzahl der zu erfassenden Reize etc.; Abschn. 29.7.4), • Zahlen, Muster, Buchstaben, Wörter, Symbole suchen, verbinden, markieren, zählen, • handwerkliche Techniken, die in Anzahl an Arbeitsschritten, Schwierigkeitsgrad und Dauer adaptierbar sind, z. B. Peddigrohr. Elementar beim Aufmerksamkeitstraining ist die Vermittlung eines optimalen Anspannungsniveaus (Abb.  29.2), um dem Klienten deutlich zu machen, dass beides  – sowohl zu wenig als auch zu viel Anspannung – die Aufmerksamkeit negativ beeinflusst. Im ersten Falle wäre das Ziel, Anspannung aufzubauen, um sich gezielt auf eine Aufgabe konzentrieren zu können. Dies gelingt beispielsweise durch: • körperliche Aktivierung, • Bewusstheit für die anstehende Aufgabe, • persönliches Interesse für die Tätigkeit oder Relevanz für den Sachverhalt, • verbale Selbstinstruktion, • positive Emotionen, • ggf. Aufgabenwechsel. Leistungs- und Termindruck, Konflikte oder gesundheitliche Einschränkungen ziehen ein zu hohes Anspannungsniveau nach sich und werden

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Ereignisse Informationen Sinneseindrücke

Filter Was beeinflusst meine Aufmerksamkeit? lnformationsaufnahme

Kurzzeitgedächtnis Erinnerungsspanne Minuten Erinnerungskapazität 4-5 lnformationseinheiten

lnformationen speichern & abrufen

Was beeinflusst mein Gedächtnis?

Langzeitgedächtnis Erinnerungsspanne Jahre Erinnerungskapazität unbegrenzt

Abb. 29.3  Einfaches Gedächtnismodell nach Finauer (2009)

als Stressauslöser empfunden. Die ausgeschütteten Stresshormone beeinflussen Neurotransmitterfunktionen negativ, sodass zum Aufbau von Konzentration das Anspannungsniveau gesenkt werden sollte. Mögliche Maßnahmen sind: • Ablenkung reduzieren/eliminieren (innere Ablenkungsfaktoren wie Hunger, Schmerz, Grübelei etc. und äußere Faktoren wie Lärm, Unterbrechungen etc.), • Entspannungsübungen, • regelmäßige Pausen, • Monotasking, • Aufgaben ggf. in Teilschritte zerlegen.

Es kann mit dem Klienten erarbeitet werden, welche Stressauslöser er in seinem Alltag erlebt, und ggf. an sein Vorwissen bezüglich Stressbewältigung angeknüpft werden. Es muss deutlich werden, dass Stress ein individuelles Phänomen ist, welches auch unabhängig von einer Krebserkrankung und deren Therapie die Kognition beeinflussen kann. Es empfiehlt sich ferner, den Klienten zu ermuntern, sich zu beobachten, seine eigene Leistungskurve zu erstellen und zu notieren, unter welchen Bedingungen er besonders oder gar nicht leistungsfähig ist (morgens/abends, vor/nach dem Essen und ähnliches), und dies in der Planung des Alltags zu berücksichtigen.

29  Krebsassoziierte kognitive Dysfunktion

29.7.5.2 Gedächtnistraining und Kompensationsstrategien Auch ein Gedächtnistraining erleben viele Klienten als sinnvoll, da bessere Merkleistungen die Stressbelastung verringern. Als Grundlage sollten folgende Kenntnisse vermittelt werden: • einfaches Gedächtnismodell mit Hinweisen zu Informationsaufnahme, -speicherung und -abruf unter Darstellung von Kurz- und Langzeitgedächtnis (Abb. 29.3.), • Faktoren, die die Gedächtnisleistung beeinflussen (z. B. Alter, Alkohol, Drogen, Medikamente, Anzahl der zu erinnernden Einheiten, Hinweisreize etc.; Abschn. 29.7.4).

Strategien zur Gedächtnisstärkung Therapeutische Übungen und Spiele (z.  B. „Ich packe meinen Koffer“, Memory etc.) bieten Gelegenheit, verschiedene Strategien anzuwenden und einzuüben. • Lebendiges Wiederholen: Je aktiver, lebhafter und emotionaler wiederholt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, sich zu erinnern. Abwechslung macht Spaß und reduziert Ermüdungserscheinungen. Zusätzliche Bewegung und echtes Be„greifen‟ helfen bei der stetigen Wiederholung bis zur Übertragung ins Langzeitgedächtnis. • Nutzen von Merkhilfen wie Eselsbrücken, Akronymen, Reimen, Schaubildern bzw. bildhaftem Vorstellen. • Förderung multimodaler Informationsverarbeitung: Informationen hören, aufschreiben, ansehen, laut vorlesen, begreifen und den persönlichen „Lerntyp“ kennenlernen. • Verbesserung der Verarbeitungstiefe durch Strukturierung von Informationen z.  B. mittels PQRST-Technik, Mindmaps etc. • Das Verfassen kurzer Tagebucheinträge (z.  B.  Dankbarkeits- oder Glückstagebuch)

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schult täglich das Erinnerungsvermögen sowie die bewusste Wahrnehmung von Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen. • Mnemotechniken: Zum Einüben sollte anfangs einfaches Alltagsmaterial und später klientenspezifisches Material wie z.  B.  Einkaufs- oder To-do-­ Listen verwendet werden. –– Locitechnik (Körper- oder Raumroute) –– Zahl-Symbol-System –– Assoziationsketten –– Alphabetmethode –– Geschichtetechnik

Beispiel für Geschichtentechnik

Material findet sich üblicherweise in den ergotherapeutischen Räumlichkeiten, z.  B.  Tasse, Blume, Teller, Stein, Löffel, Tuch. Sie werden für alle gut sichtbar ausgelegt und benannt, bevor sie verdeckt werden. Eine flexible Geschichte, die je nach Anzahl der Gegenstände variiert und personalisiert werden kann, wäre die folgende: „Ich gebe etwas Milch in meinen Lieblingstee und rühre mit dem Löffel um. Nach jedem Schluck setze ich die Tasse auf dem Unterteller ab, um die Queen in mir zu feiern. Ich gehe nach draußen und binde ein Tuch um. Dann gieße ich die Blumen im Steingarten.“ (Abb. 29.4) ◄

Abb. 29.4  Beispielbild für Geschichtentechnik (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

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Kompensationsstrategien • Installieren von Routinen bei wiederkehrenden Tätigkeiten (z.  B. wichtige Utensilien wie Schlüssel oder Geldbörse stets am gleichen Ort aufbewahren). • Anwendung von externen Gedächtnishilfen (z.  B.  Handysignal für Erinnerung wichtiger Termine/Medikation oder Vorbereitung von schriftlichen Notizen, um z.  B. bei einem Arztbesuch alle Fragen zu erinnern, etc.). Die konsequente Nutzung eines Taschenkalenders oder Smartphones erlaubt eine gute Selbstorganisation und bildet damit die Grundlage für eine stressfreie Tagesstrukturierung und realistische Alltagsplanung. Dies entlastet das Arbeitsgedächtnis und unterstützt prospektive Gedächtnisleistungen. Ebenso können strukturierte Formate wie z. B. To-do-Listen, Mindmaps oder Einkaufszettel den Alltag für die Klienten erleichtern. Eine Alternative stellen hier auch entsprechende Apps für das Smartphone dar, wobei die Verarbeitungstiefe der Inhalte etwas geringer ist. Einige Klienten meiden den Einsatz solcher Kompensationsstrategien bewusst, da sie eine „Abhängigkeit“ befürchten. Dann ist es wichtig zu erklären, dass diese Kompensationsstrategien nur temporär als „Backup“ und vor allem zur Stressreduktion genutzt werden.

29.7.5.3 Training von Exekutivfunktionen Darunter fallen u. a. Übungen zum logischen und divergenten Denken, Planen und Problemlösen oder zur Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses. Letzteres sorgt z.  B. für Satzverständnis, Wortfindung, das Bewältigen von Kopfrechenaufgaben oder zur adäquaten Rückbesinnung auf eine Handlung, nachdem diese durch eine andere Aktivität unterbrochen wurde (Abschn. 29.3). Mögliche Maßnahmen sind: • Spiele wie Stadt-Land-Fluss oder Logicals, • Knobelaufgaben wie Turm von Hanoi, Tangram etc.,

• handlungsorientierte Therapie wie Wochenplan mit allen anstehenden beruflichen und privaten Aktivitäten sowie Pufferzeiten erstellen, • kreatives Gestalten wie Seidenmalerei (z. B. Erstellung und Durchführung eines zeitlich gebundenen Handlungsplans mit allen Komponenten von Motiventwurf und -übertragung, Farbauswahl, -auftrag, -fixierung). cc Selbstgespräche können das kognitive Training unterstützen. Sich selbst laut, leise oder innerlich Instruktionen zu geben ist eine effektive Strategie, um Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutive Funktionen zu verbessern.

29.7.6 Kognitives Training in der Gruppe Gruppenraum Der eher stimulationsarme Gruppenraum sollte über eine gute Belüftung, ausreichend Licht, eine angenehme Zimmertemperatur sowie eine passable Akustik verfügen. Mögliche Störungen durch Kollegen oder Telefonklingeln sollten vermieden werden. Als Zeit bietet sich der Vormittag oder frühe Nachmittag an. Je nach Kapazität und Einrichtung sind Kleingruppen praktisch. Zusammensetzung der Gruppe Eine übersichtliche Teilnehmerzahl (z.  B. 4–6 Klienten) ermöglicht es dem Therapeuten, jeden Klienten zu betreuen und auf individuelle Fragen einzugehen. Um vom Training bestmöglich zu profitieren, sollten die Teilnehmer über ausreichendes Sprachverständnis und sowohl über Lese- als auch Schreibvermögen verfügen. Sensorische Einschränkungen wie z. B. in der Sehoder Hörleistung bzw. Beeinträchtigungen durch eine Polyneuropathie sind zu berücksichtigen. Je homogener eine Gruppe bezüglich Aufmerksamkeitsspanne, Sozialverhalten und Motivation ist, desto hilfreicher werden die Einheiten üblicherweise von Klienten empfunden. Gemischte Gruppen hinsichtlich Krebsdiagnose, Erkrankungs-

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stadium, Bildungsniveau oder Alter sind der Regelfall und können den Austausch ­untereinander anregen. Es wird empfohlen, die Klienten vorab darum zu bitten, etwas zum Trinken (Wasser, Tee) bzw. persönliche Hilfsmittel wie Lesebrille oder Hörgeräte mitzubringen. Bedacht werden sollte ein möglicher Pausenbedarf während der ca. einstündigen Gruppentherapie. Materialien Zum kognitiven Training gibt es sehr viel Literatur, Übungsvorlagen und weitere Materialien. Wichtig ist eine adäquate Vorbereitung der Therapieeinheit. Bei Papier-Stift-Aufgaben sollten genügend Kopien, Stifte und ggf. Schreibunterlagen vorrätig sein. Bei der Nutzung von Computern werden die Klienten zur hygienischen Händedesinfektion angeleitet, um den Standardhygienemaßnahmen nachzukommen. Beim Einsatz von anderem Material (Gegenstände zum Merken, Softbälle für kleine Wurfspiele, Material für alltagsnahes Training etc.) ist darauf zu achten, dass es gut zu desinfizieren, altersgerecht und positiv besetzt ist und keine Verletzungsgefahr birgt.

Ablauf Bei geschlossenen Gruppen sollte die erste Therapieeinheit in die Thematik einführen. Die Klienten sind in der Regel unterschiedlich vorgebildet und profitieren von einem gleichen Informationsstand. Die Möglichkeit, in der Gruppe Erfahrungen und intuitive Bewältigungsstrategien auszutauschen bzw. Fragen zu klären, ermöglicht Verständnis und Akzeptanz. Empfehlenswert ist ein Seminar, in welchem mithilfe von Gruppendiskussionen die Grundlagen gemeinsam erarbeitet werden: • Was sind kognitive Fähigkeiten? (Abb. 29.5) • Wie funktionieren Konzentrations- und Gedächtnisprozesse, und was sind die Voraussetzungen bzw. Bedingungen dafür? (Abb. 29.5) • Welche Veränderungen können bei/nach einer Krebserkrankung bzw. -therapie auftreten? • Wie schätze ich meine eigene kognitive Leistungsfähigkeit ein? • Welche Bewältigungsstrategien werden bereits intuitiv genutzt und welche gibt es darüber hinaus?

KOGNITIVE LEISTUNGSFÄHIGKEIT

Voraussetzungen:

In Abhängigkeit von:

Kategorien: Regelmäßiges körperliches Training Geist, Denken, Konzentration, Gedächtnis, Informationsverarbeitung Ausgewogene Ernährung

Anzahl Nervenzellen

Sprache, Lese-/ Sinnverständnis

Resilienz- und Entspannungstraining Anzahl der Verbindungen unter den Nervenzellen

Rechnen, Logik

Schlaf Soziale Kontakte

Stoffwechselaktivität der Nervenzellen

Wahrnehmung, Sensorik, Orientierung in Ort, Zeit und Raum

Eigenverantwortung, Humor, positives Denken Lernen, Erkennen, Vergleichen, Entscheiden Mentales Training

Software- oder internetgestütztes Hirnleistungstraining am PC

Rätsel (Kreuzwort-, Logikrätsel etc.)

als möglichst frühzeitig aufgenommenes regelmäßiges Trainingsprogramm, welches persönliche Interessen berücksichtigt, z. B:

Musikinstrumente spielen

Gedichte lernen

Handeln, Problemlösen, Planen

Intelligenz, Verstehen, Bewerten, Beurteilen

Literatur lesen

Kreativität

Antrieb, Ausdauer Spiele (Brett-, Karten-, Computer- und andere Spiele)

Abb. 29.5  Kognitive Leistungsfähigkeit und deren Voraussetzungen nach König (2014)

F. Görmar

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Die weiteren Einheiten gestalten sich entsprechend dem abgeleiteten Therapiebedarf. Üblich sind: • Überprüfung des subjektiven Leistungsempfindens durch Befragung/Selbsteinschätzungsbogen (z.  B.  Fact-Cog®) oder Erfassung objektiver Fähigkeitswerte durch Screeningverfahren (z. B NeuroCogFX®) bzw. schriftliche Testung (z.  B.  D2-Aufmerksamkeitstest) • Training der kognitiven Leistungen mittels adaptiver Übungen • Vorstellung und Erprobung von Trainingsstrategien und Mnemotechniken • Training von erschwerten Handlungen mit alltagsnahem Bezug • Vertiefung des theoretischen Hintergrunds wie z.  B.  Mechanismen neuronaler Reorganisation oder Lernstrategien • Einführung in Heimtrainingsoptionen • Ergänzende Maßnahmen wie arbeitstherapeutisch ausgerichtete Kleingruppenarbeiten mit ergebnis- oder prozessorientiertem Charakter und weitere Therapie- und Trainingsmöglichkeiten (z. B. Projektarbeiten) Richtungsweisend sind dabei immer die Bedürfnisse und Ziele der Klienten. Folgende Fragestellungen können berücksichtigt werden: • Welche Ressourcen sind bereits vorhanden und können ausgebaut werden? • Welche Übungen/Strategien wurden darüber hinaus ausprobiert? • Welche werden als hilfreich empfunden? • Bei welchen gibt es Schwierigkeiten in der Anwendung? • Wodurch können sich vorhandene Beeinträchtigungen verschlechtern? Welche Maßnahmen wirken dem entgegen? • Sind Veränderungen aufgetreten oder Unklarheiten entstanden? Mithilfe solcher Fragen und der Screeningergebnisse lässt sich der Behandlungsverlauf dokumentieren, und Maßnahmen können entsprechend adaptiert werden. Das Maß ist der

Klient, da er sein eigener Experte ist und meist nur er sein prämorbides Leistungsniveau kennt. Die Klienten sind regelmäßig darauf hinzuweisen, dass zeitweiser Konzentrationsabfall oder das Vergessen von Terminen oder dergleichen natürliche Phänomene sind. Sie treten je nach Stressbelastung (Abb.  29.2) gehäuft bzw. ausgeprägter auf und können nicht durch die Erkrankung oder die Behandlung erklärt werden. Es empfiehlt sich, den Klienten die wichtigsten Informationen in Form eines Handouts als Erinnerungsstütze mitzugeben (Abb. 29.6).

29.7.7 Behandlungssituationen: Beispiele Beispiel

Klient: „Wenn ich von meinem Partner bei dem, was ich gerade tue, gestört werde, vergesse ich, womit ich mich vorher beschäftigt habe.“ ◄ Hier wäre ein alltagorientiertes Vorgehen mit für den Klienten bedeutungsvollen Tätigkeiten denkbar wie z.  B. das Ausfüllen von Paketscheinen unter angekündigten Störungen im Verlauf der Therapie. Je nach konkretem Ziel (Verbesserung der kognitiven Flexibilität oder Handlungsplanung, sollte er bestimmte Ergebnisse bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vorweisen) und Aufgabenkomplexität können spontan kurze Internetrecherchen aufgetragen oder Fragen zu Inhalten der vorherigen Behandlungseinheit gestellt werden. Nach Ausführung bzw. Beantwortung soll der Klient in die Grundaufgabe zurückfinden. Es ist besonders wichtig, die Klienten dazu anzuleiten, eigene Leistungsgrenzen wahrzunehmen und dementsprechend zu handeln, d. h., rechtzeitig Pausen einzulegen oder auch Übungen zu wechseln. Es ist häufig der Fall, dass diese adäquaten Handlungsweisen Klienten schwerfallen, möglicherweise aufgrund des eigenen Leistungsbilds aus Zeiten vor der Erkrankung oder aufgrund verinnerlichter Glaubensmuster. Die eigenen aktuellen Einschränkungen zu ak-

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Abb. 29.6  Beispiel, wie dieses Handout gemeinsam mit dem Klienten ausgefüllt werden kann. (Blankoformular als Download verfügbar)

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zeptieren, fällt oft schwer und macht Angst. Daher sei an dieser Stelle erneut auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit psychotherapeutischen Kollegen verwiesen, um die Klienten in ihrem Training optimal zu unterstützen. Häufig ist es hilfreich, den Betroffenen auch immer wieder deutlich zu machen, dass es sich in vielen Fällen um ein zeitlich begrenztes Phänomen handelt, welches sich auch ganz ohne ihr Zutun zum Positiven verändern kann. Beispiel

Vor der Auswertung einer computergestützten Übungsserie von Cogpack® bittet die Therapeutin die Klientin zu schildern, wie es ihr im Vergleich zu vor dem Beginn der Übungsserie geht und wie sie ihre Leistungen einschätzt. Therapeutin: „Wie geht es Ihnen jetzt nach diesem 30-minütigen Training?“ Klientin: „Ich fühle mich erschöpft und frustriert.“ Therapeutin: „Was meinen Sie, hätte daran etwas ändern können?“ Klientin: „Vielleicht kurze Pausen zwischendurch. Dann wäre ich nicht so von Aufgabe zu Aufgabe gehetzt.“ ◄ Durch die unmittelbare Nachfrage der Therapeutin wird die Klientin dazu angehalten, sich Zeit zu nehmen, um das eigene Befinden in Ruhe wahrzunehmen. Dadurch können auch die aktuellen Leistungsgrenzen deutlicher gespürt und entsprechend eingeordnet werden. Es könnte in diesem Beispiel analysiert werden, was genau als anstrengend empfunden wurde (körperliche oder mentale Erschöpfung, Aufgabenmenge, Schwierigkeitsgrad, Ablenkungsfaktoren, stressverstärkende Einstellungen). Eine überschnelle Aufgabenbewältigung kann zu einer hohen Fehlerquelle und damit zu Frustgefühlen führen. Würde die Therapeutin gleich zur Auswertung übergehen, könnten die geschilderte Erschöpfung und ihre Ursache nicht ausreichend bewusst werden. Diese bewusste

Analyse ist jedoch wichtig, um das Training für die kommenden Einheiten entsprechend anzupassen, ein Heimtrainingsprogramm selbstständig durchzuführen und letztendlich einen adäquaten Therapieerfolg zu erzielen. Beispiel

Therapeutin: „Was denken Sie, welche Aufgaben gingen Ihnen ganz gut von der Hand, und bei welchen Übungen hatten Sie den Eindruck, dass sie Ihnen schwerer fielen?“ Klientin: „Also bei ‚Augenzeuge‘ habe ich völlig versagt. Da konnte ich mir nichts merken, obwohl ich mir so viel Mühe gegeben habe. Das wäre mir vor der Erkrankung nicht passiert. Die Ufos treffen war wegen meiner gefühllosen Finger gar nicht so einfach, habe ich aber geschafft. Gute Ergebnisse habe ich bestimmt bei der Geldaufgabe. Das liegt mir einfach.“ ◄ Durch diese Selbsteinschätzung der Klientin und die vorangegangene Verhaltensbeobachtung können bereits relevante Aspekte für den Befund/ Verlaufsbericht abgeleitet werden, z.  B.  Arbeitsweise und -tempo, Aufgabenverständnis, Erwartungshaltung, Anspannungsniveau etc. Diese Einschätzungen seitens Klientin und Therapeutin lassen sich bei Cogpack® mit Normwerten aus der Nichtpatientengruppe vergleichen, obwohl nicht für alle Übungen eine aussagekräftige Stichprobe vorliegt. Auch internetbasierte Trainingsplattformen bieten Vergleichswerte an, die es auf Wissenschaftlichkeit zu prüfen gilt, bevor sie als Orientierung herangezogen werden. Erfahrungen zeigen, dass sich die meisten Klienten, unabhängig der Aufgabenstellung oder dem Übungsmedium, schlechter einschätzen, als es objektiv der Fall ist. Meist unterstützt eine grafische Darstellung das Verständnis der Betroffenen, wie ihre Werte und damit ihre Leistungen einzuordnen sind. Dies kann helfen, die eher pessimistische Einstellung zu relativieren und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu fördern. Auch der Vergleich zwi-

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schen Screeningergebnissen und Selbsteinschätzungsfragebogen kann hier herangezogen werden. Elementar wäre in oben aufgeführtem Beispiel die Betrachtung der Klientenaussage Völlig versagt…nichts gemerkt, denn meistens liegen die Ergebnisse im durchschnittlichen Bereich. Thematisiert werden könnten die persönliche Erwartungshaltung oder die stressverstärkenden Einstellungen und möglicherweise das damit erhöhte Anspannungsniveau. Klienten sollten ­ nach der Grundlagenschulung herleiten können, wie diese Aspekte mit kognitiver Leistungsfähigkeit zusammenhängen. Daraus ließe sich ggf. der Bedarf für ein Entspannungstraining oder ein Stressbewältigungsseminar ableiten. Ein weiterer Punkt, der an dieser Stelle vermittelt werden kann, ist, dass Klienten mit Aussagen wie Das wäre mir vorher nicht passiert häufig kontrafaktischem Denken unterliegen. Sie nehmen an, dass sie diese Aufgabe ohne die Krebserkrankung oder -therapie viel besser hätten ausführen können, was natürlich sein kann, aber nicht sein muss. Deutlich wurde die Behandlungsnotwendigkeit der möglichen Polyneuropathie, sofern diese nicht bereits bekannt ist und behandelt wird, um die Sensomotorik zu verbessern und damit Entlastung zu schaffen. Wichtig sind in diesem Beispiel ebenfalls die Betonung vorhandener Ressourcen und die positive Bestätigung in den Bereichen, in denen die subjektive Einschätzung kongruent zu den objektiv ermittelten Werten war: Beispiel

Therapeutin: „Schön, dass Sie beim Rechnen eine Ihrer Stärken entdeckt haben. Anhand der Grafik sieht man deutlich, dass dies heute Ihr bester Wert ist. Auch haben Sie mit Ihrer Ein-

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schätzung was den 'Augenzeugen' angeht dahingehend Recht, dass diese Übung heute für Sie am schwierigsten war. Aber können Sie schon einordnen, wo der Wert liegt? Er befindet sich im durchschnittlichen Bereich, d. h., Sie erzielen genauso gute Werte wie andere Frauen in Ihrem Alter.“ ◄

Literatur Zitierte Literatur von Ah D (2015) Cognitive changes associated with cancer and cancer treatment: state of the science. Clin J Oncol Nurs 19(1):47–56. https://doi.org/10.1188/15. CJON.19-­01AP Boykoff N, Moieni M, Subramanian SK (2009) Confronting chemobrain: an in-depth look at survivors’ reports of impact on work, social networks, and health care response. J Cancer Surviv 3(4):223–232. https://doi. org/10.1007/s11764-­009-­0098-­x Defrancesco M, Sperner-Unterweger B (2015) Diagnose und Therapie neurokognitiver Störungen bei onkologischen Patienten. Der Nervenarzt 86(3):282–290. https://doi.org/10.1007/s00115-­014-­4155-­y Finauer G (2009): Therapiemanuale für die neuropsychologische Rehabilitation. Kognitive und kompetenzorientierte Therapie für die Gruppen- und Einzelbehandlung, 2. Springer Berlin Heidelberg. Online verfügbar unter https://doi.org/10.1007/978-­3-­540-­ 89567-­1. Kesler S (2013) Improving cognitive function after cancer, 3. Aufl. CreateSpace Independent Publishing Platform, San Bernardino König V (2014) Chemobrain – Was kann ich dagegen tun? GMS Onkol Rehabil Sozialmed 3:Doc03. https://doi. org/10.3205/ors000011 Lange M, Licaj I, Clarisse B et al (2019) Cognitive complaints in cancer survivors and expectations for support: results from a web–based survey. Cancer Med 8:2654–2663. https://doi.org/10.1002/cam4.2069 Marker Software GmbH (2020). http://www.markersoftware.com/. Zugegriffen am 01.11.2020 Mehnert A, Koch U (2016) Handbuch Psychoonkologie, 1. Aufl. Hogrefe, Göttingen

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Weiterführende Literatur

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Narben Sabrina Heizmann und Thomas Kroner

30.1 Definition und Eigenschaften Eine Narbe stellt den Endzustand der Wundheilung dar. Ein faserreiches Ersatzgewebe ersetzt dabei das zerstörte Ursprungsgewebe, ohne dessen Eigenschaften zu übernehmen. Eine Narbe bedeutet deshalb immer auch eine Funktionseinbuße. Narben bilden sich nach Verletzungen in allen Organen  – z.  B. in der Haut, in der Herzmuskulatur (nach einem Infarkt) oder in der Niere (nach Entzündungen). Hautnarben sind weniger elastisch als die normale Haut. Sie können jucken, kosmetisch stören, schmerzen und Bewegungen einschränken. Sie enthalten keine Haare und weder Talg- noch Schweißdrüsen. Das vorliegende Kapitel behandelt in erster Linie Hautnarben nach chirurgischen Eingriffen bei Tumorpatienten. Die Therapie von Narben etwa nach Verbrennungen oder handchirurgischen Eingriffen wird im Folgenden nicht diskutiert.

30.2 Narben in der Onkologie • In der Onkologie sind Hautnarben meist Folge eines operativen Eingriffs. • Nach Radiotherapie kam es früher gelegentlich zu schweren Hautschädigungen mit entsprechender Vernarbung, dies ist mit modernen Bestrahlungstechniken nicht mehr der Fall. In tieferliegenden Geweben kann sich allerdings auch mit modernen Geräten eine „Vernarbung“ in Form einer Fibrose entwickeln (Abschn. 30.4.2). • Nach Chemotherapien treten Narben als Folge einer glücklicherweise sehr seltenen Komplikation auf: Liegt bei intravenösen Therapien die Kanüle nicht im Gefäß, sondern im umliegenden Gewebe, so gelangt das Medikament dorthin statt in den Blutstrom  – man spricht von Extra- oder Paravasation. Dies führt bei einigen Zytostatika (nicht bei allen!) zu Schäden in der Haut, gelegentlich auch in tieferen Geweben, mit verzögertem Heilungsverlauf und ausgedehnter Narbenbildung.

Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/ 10.1007/978-­3-­662-­64230-­6_30]. S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected] T. Kroner Winterthur, Schweiz © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_30

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30.3 Wundheilung Eine intakte Haut ist für den Körper wichtig: Sie schützt ihn vor dem Eindringen von Krankheitserregern und Fremdkörpern; die Schweißdrüsen und Blutgefäße regulieren die Körpertemperatur; die Pigmentzellen schützen vor schädlichen Sonnenstrahlen; Nerven liefern Informationen über die Umgebung. Mit der Wundheilung versucht der Körper, bei Verletzungen diese Funktionen möglichst schnell und vollständig wiederherzustellen. An der obersten Hautschicht (Epidermis) werden ständig abgestorbene Hautzellen abgeschilfert und durch neue Zellen, die etwas tiefer in der Epidermis gebildet werden, ersetzt. Bei Schürfungen und anderen Verletzungen, die nur die oberflächliche Epidermis betreffen, wird diese normale Zellregeneration beschleunigt. Nur diese oberflächlichen Hautwunden heilen ohne Narbenbildung ab. Bei tieferen Hautwunden und vor allem solchen mit größeren Defekten ist zwischen primär und sekundär heilenden Wunden zu unter­ scheiden: • Die primäre Wundheilung wird in der Fachsprache auch als „per primam“ (abgekürzt p.p.) bezeichnet, von lat. „per primam intentionem“, d. h., im ersten Anlauf. Primär verheilen geschlossene Wunden, deren Ränder in der ganzen Tiefe und Länge bündig aneinander liegen. Bei komplikationsfreiem Verlauf heilt eine vernähte Operationswunde primär. • Die sekundäre Wundheilung wird auch als „per secundam“ (abgekürzt p.s.) bezeichnet. Sie beschreibt die Heilung von offenen Wunden. Sie dauert länger und ist wegen des höheren Risikos von Infektionen häufiger mit Komplikationen verbunden. Für die Planung und Durchführung einer adäquaten Narbenbehandlung sind Kenntnisse der Wundheilung notwendig. Sie erlauben Rückschlüsse auf die Stabilität der Narbe und das Erkennen von Störungen der Wundheilung.

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Die Heilung einer Wunde ist ein komplexer Vorgang. Verschiedene Zellen, Wachstumsfaktoren und Zytokine (Abschn.  2.6.1) müssen dabei zusammenarbeiten. Sie verläuft in Phasen, die sich zeitlich allerdings stark überlappen. Im Folgenden wird die primäre Wundheilung ­ ­beschrieben.

30.3.1 Wundheilungsphasen Entzündungsphase (1.–5. Tag) Durch den operativen Eingriff kommt es zu Blutungen. Auch wenn der Operateur diese durch Naht oder Kauterisierung der blutenden Gefäße stillt, wird die Blutgerinnung aktiviert. Es entsteht ein Gerinnsel aus roten Blutkörperchen, Blutplättchen (Thrombozyten) und Fibrin. Dieses deckt als Schutz gegen Infektionen die Wundoberfläche ab und verschließt gleichzeitig kleine blutende Gefäße. Die Blutplättchen im Gerinnsel wie auch die verletzten Zellen setzen Faktoren frei, die erst eine Entzündung und anschließend die Wundheilung auslösen, z.  B.  Interleukine, EGF (Epitelial Growth Factor) und PDGF (Platelet-­ derived Growth Factor). In der Folge wandern verschiedene weiße Blutkörperchen (Leukozyten) in die Wunde ein: Neutrophile Granulozyten wehren eingedrungene Mikroorganismen ab, und aus dem Blut eingewanderte Monozyten wandeln sich um in gewebsständige Makrophagen. Diese Makrophagen wirken als Fresszellen und räumen das verletzte, defekte Gewebe ab, gleichzeitig stimulieren und steuern sie durch Sekretion von Zytokinen den Verlauf der Wundheilung. Sicht- und spürbar sind in dieser Phase die klassischen Entzündungszeichen: Rubor (Rötung), Calor (Überwärmung), Tumor (Schwellung, Ödem), Dolor (Schmerz) und Functio laesa (Einschränkung der Funktion). cc Diese Entzündung ist nicht mit einer Infektion gleichzusetzen: Sie tritt auch bei sterilen Wunden auf und ist ein wichtiger Schritt in der Wundheilung.

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Proliferations- oder Granulationsphase (2.–21. Tag) Von den Wundrändern wächst ein sog. Granulationsgewebe in die Wunde: Fibroblasten vermehren sich und produzieren Bindegewebe, d. h. sowohl die extrazelluläre Grundsubstanz wie auch kollagene Fasern, sog. Kollagen III.  Diese sind senkrecht zu den Wundrändern angeordnet und ziehen die Wunde langsam etwas zusammen. Angeregt durch die von Makrophagen und anderen Zellen ausgeschiedenen Wachstumsfaktoren wachsen zahlreiche neue Gefäße in das Granulationsgewebe (Angiogenese). Gleichzeitig bildet sich an den Wundrändern neues Epithel (Haut) und beginnt über das Granulationsgewebe zu wachsen und so die Wunde zu bedecken. Dieses Epithel ist z.  B. beim Verbandwechsel noch sehr leicht zu verletzen. Nach drei Wochen hat die Narbe erst etwa 20 % ihrer endgültigen Stärke erreicht (Singer und Clark 1999). Umbauphase (15.–360. Tag) Die Oberfläche der Wunde wird schließlich völlig von Epithel bedeckt. Anstelle des ursprünglichen Gewebes befindet sich nun eine Narbe: kollagenhaltiges, gefäßreiches Granulationsgewebe, bedeckt von einer Epithelschicht. Die Narbe ist zu diesem Zeitpunkt weich, rot und über die Oberfläche der umgebenden, unverletzten Haut erhaben. In den nächsten Monaten findet ein langsamer Umbau der Narbe statt: Das Granulationsgewebe mit seinen zahlreichen Gefäßen bildet sich zurück, und die ungerichteten Fasern des Kollagens Typ III werden durch die stärkeren, entsprechend der Belastung angeordneten Fasern des Kollagens Typ I ersetzt. Bei ungestörtem Verlauf erreicht die Haut nach drei Monaten mit etwa 70–90 % der ursprünglichen Festigkeit ihre maximale Belastbarkeit (Singer und Clark 1999; Nast et  al. 2020). Die Narbe passt sich dabei der Belastung an: Eine Narbe in der Achselhöhle ist anderen Scherkräften ausgesetzt als eine Narbe am Knie. Bei ungestörtem Verlauf ist die Narbe bei Abschluss des Umbaus straff, blass und flach. Sie enthält weder Haare noch Schweißdrüsen.

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30.3.2 Die Wundheilung beeinträchtigende Faktoren Für Therapeuten ist es nützlich, die wichtigsten Faktoren zu kennen, die sich bei Tumorpatienten negativ auf die Wundheilung auswirken können: • Alter • Mangelernährung • Begleiterkrankungen, z. B. Diabetes mellitus, arterielle und venöse Gefäßkrankheiten • Medikamente, z.  B.  Kortisonpräparate, Anti­ rheumatika, Chemo- und Radiotherapie • Unsachgemäße Wundbehandlung • Nikotin • Psychosoziale Faktoren (z. B. Stress)

30.4 Narbentypen 30.4.1 Narbe bei unauffälligem Heilungsverlauf Wie oben beschrieben verändert sich eine Narbe im Verlauf der normalen Wundheilung: Zu Beginn der Umbauphase ist sie rot und etwas erhaben, im weiteren Verlauf wird sie blasser, flacht ab und wird straffer, bleibt aber elastisch. Es entwickelt sich eine „normale“ fibröse Narbe.

30.4.2 Besondere Narbentypen Bei Störungen der Wundheilung bilden sich besondere Narbentypen aus (Worret und Vogt 2004; Nast et al. 2020): Sklerotische Narbe  Eine sklerotische Narbe ist hart, nicht elastisch und neigt im weiteren Verlauf zu Schrumpfung. Bei Lage über einem Gelenk kann sie die Beweglichkeit einschränken. Atrophe Narbe  Eine atrophe Narbe ist schüsselförmig etwas unter das Hautniveau eingesunken. Ihre Ränder sind scharfkantig. Typisches Beispiel ist die Aknenarbe. Sie entsteht bei verminderter Kollagenproduktion während der ­ Wundheilung.

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S. Heizmann und T. Kroner

Abb. 30.1  Hypertrophe Narbe. (Safonov 2012)

Abb. 30.2  Keloid. (Safonov 2012)

Hypertrophe Narbe  Hypertrophe Narben werden auch als Wulstnarben bezeichnet (Abb. 30.1). Der Wulst ist seitlich scharf begrenzt, er geht nicht über den Wundrand hinaus. Sie sind häufig und entwickeln sich innerhalb der ersten 6 Monate nach der Verletzung. Bei ihrer Entstehung spielen Zugkräfte senkrecht zur Wunde eine Rolle. Ihre Prognose ist gut, es kommt oft über viele Monate zu einer langsamen Rückbildung.

Unterlage nicht mehr verschiebbar. Je nach Ausmaß der Schädigung sind zudem an der Hautoberfläche Veränderungen sichtbar, z.  B.  Pigmentveränderungen, Atrophien oder Teleangiektasien (erweiterte Kapillargefäße). In Publikationen streuen die Angaben zur Häufigkeit einer Strahlenfibrose sehr, es finden sich Zahlen zwischen 5 und 70  %. Dies liegt zum einen daran, dass die Entwicklung einer Strahlenfibrose von vielen Faktoren abhängt wie etwa der Strahlendosis, dann aber auch daran, dass nicht definiert ist, ab wann eine Gewebeveränderung als Fibrose zu bezeichnen ist.

cc Hypertrophe Narben bilden sich häufig spontan zurück! Keloid  Keloide sind wulstige Narben, die über die Wundränder hinauswachsen (Abb. 30.2). Sie sind hell- bis dunkelrot Sie treten frühestens 6 Monate nach der Verletzung auf, d. h. später als hypertrophe Narben. Es kommt nie zu einer spontanen Rückbildung. Genetische Faktoren spielen eine wichtige Rolle, bei entsprechender Disposition können bereits kleinste Verletzungen wie Mückenstiche die Entwicklung eines Keloids auslösen. Fibrosen  Als Fibrose wird eine pathologische Vermehrung von Bindegewebe bezeichnet. Als Spätfolge einer Radiotherapie (Abschn.  10.6.2) kann sich eine Strahlenfibrose über Monate bis Jahre entwickeln. Das bestrahlte Gewebe, z.  B. die Haut oder die weibliche Brust, wird dichter, verliert an Elastizität und ist evtl. gegen die

30.5 Symptome und Folgestörungen Während der ersten Phasen der Wundheilung sind Symptome wie Rötung, Juckreiz, Schmerz oder leichte Schwellung häufig und normal. Bestehen diese Symptome aber über längere Zeit, kann dies auf eine Wundheilungsstörung hindeuten. Narben können daneben zu folgenden Beschwerden führen: • Hypo- oder Hypersensibilität, • Adhäsionen (Verklebungen mit dem Untergewebe), • Bewegungseinschränkungen.

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Einschränkungen im Bewegungsausmaß und Schmerzen haben Auswirkungen auf den Alltag und die Berufsausübung. Auch das Aussehen einer Narbe kann den Klienten beeinträchtigen, das ist besonders bei hypertrophen Narben oder Keloiden der Fall. Narben am Hals oder Kopf, besonders am Gesicht werden kosmetisch als besonders störend empfunden und können zum sozialen Rückzug des Klienten führen. Eine Narbe ist immer auch mit Gefühlen besetzt und kann den Klienten an eine „angstbesetzte“ Zeit erinnern. Manchen Klienten fällt es schwer, ihre Narbe zu berühren. Beispiele

Nach einer Brustkrebsoperation mit Entfernung von axillären Lymphknoten besteht bei einer Klientin eine Narbe im Achselbereich rechts. Diese schränkt sie beim Heben des rechten Armes ein. Ein Glas aus dem Hängeschrank in der Küche zu entnehmen fällt ihr sehr schwer und ist mit großen Schmerzen verbunden. Eine Klientin mit einer Narbe im Achselbereich links nach Entfernung von axillären Lymphknoten beschreibt starke Schmerzen bei der Abduktion des Armes. Eine Messung ergibt ein Bewegungsausmaß von maximal 60° Abduktion und 80° Flexion im Schultergelenk links. Sie hat nun Angst, ihren Beruf nicht mehr ausüben zu können. Sie betreibt ein kleines Friseurgeschäft und ist Linkshänderin. ◄

30.6 Diagnostik Standard ist die klassische Inspektion, Palpation und die passive wie aktive Funktionsanalyse der umliegenden Gelenke. Für eine Narbe, die im Alltag Probleme bereitet, können zusätzlich fundierte Assessments angewandt werden. Die POSAS (Patient/Observer Scar Assessment Scale) ist eines der bekanntesten Assessments. Es besteht aus zwei verschiedenen Beurteilungsbögen. Ein Bogen wird vom Therapeuten, der andere vom Klienten ausgefüllt. Der

Therapeut kann den Klienten bei Fragen unterstützen. Der Klient beurteilt Kriterien wie z.  B.  Schmerz, Juckreiz oder Steifigkeit. Kriterien wie Vaskularisierung, Dicke und Relief werden vom Behandler befundet. Unter https://www. posas.nl/ kann das Assessment kostenlos in Deutsch bezogen werden. Bei schmerzhaften Narben kann zusätzlich auf ein Schmerzassessment, wie in Kap. 34 aufgeführt, zurückgegriffen werden. Ferner können alltagsbezogene Assessments wie der DASH-Fragebogen (Disabilities of Arm, Shoulder and Hand Questionnaire) eingesetzt werden. Der Fragebogen erfasst Beeinträchtigungen im Betätigungskontext der der oberen Extremität und wird vom Klienten ausgefüllt. Er ist besonders für Klientinnen mit Narben bei Z.  n. Mamma-Ca. interessant. Das Assessment gibt es als Download kostenlos unter h t t p s : / / w w w. d a h t h . d e / w p -­c o n t e n t / u p loads/2016/05/DASH-­in-­Deutsch-­komplett.pdf. Eine Fotodokumentation der Narbe ist oft sinnvoll. Dabei gilt es zu beachten, dass der Klient dazu sein Einverständnis erklären muss. Bei Aufnahmen im Verlauf der Behandlung sollte immer mit den gleichen Kameraeinstellungen gearbeitet werden (z. B. Beleuchtung, Winkel, aus dem fotografiert wird).

30.7 Behandlung – Überblick cc Nicht jede Narbe muss behandelt werden! Ob eine Behandlung nötig ist, hängt allein davon ab, ob die Narbe Beschwerden verursacht.

30.7.1 Behandlung nach Narbentyp Die Behandlung von atypischen Narben (Abschn. 30.4.2) und Strahlenfibrosen wird hier nur kurz gestreift: Grundsätzlich stellen hypertrophe Narben und Keloide gutartige Hautveränderungen dar. Die Behandlungsbedürftigkeit ergibt sich aus den Symptomen (z. B. Juckreiz/Schmerz), aus funktionellen Beeinträchtigungen (z. B. Kontraktion/ mechanische Irritation durch Erhabenheit) sowie

S. Heizmann und T. Kroner

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aus ästhetischen/kosmetischen Gründen, die zum Teil zu einer hohen Einschränkung der Lebensqualität mit Stigmatisierung führen können (Nast et  al. 2020). Die Therapieziele müssen deshalb individuell festgelegt werden. Sie richten sich nach den Beschwerden des Patienten. • Ein Keloid kann nicht allein durch einen Ergooder Physiotherapeuten behandelt werden. Ein Konsil womöglich mit einem plastischen Chirurgen, ist erforderlich. Ärzten stehen verschiedene Therapiemöglichkeiten zur Verfügung wie Kryochirurgie, lokale Kortisoninjektionen, Laser, Radiotherapie, Microneedling, Druckbehandlung u. a. m. Die Therapie von Keloiden ist schwierig, nach ausschließlich chirurgischer Behandlung liegt die Rezidivrate bei 45–100 % (Nast et al. 2020). • Hypertrophe Narben bilden sich oft spontan zurück. Falls eine Behandlungsindikation besteht, ist ein Arzt, idealerweise ein plastischer Chirurg, beizuziehen. • Strahlenfibrosen werden, falls nötig, nach Angaben des Radioonkologen behandelt. Die in Abschn.  30.8 beschriebenen ergotherapeutischen Maßnahmen beziehen sich auf die Behandlung von „normalen“ Operationsnarben, die nach unauffälliger Wundheilung dem Klienten Probleme bereiten, z.  B.  Bewegung­ seinschränkungen, Hypersensibilität oder ­Schmerzen).

30.7.2 Prophylaktische Behandlung während der Wundheilung cc Wunden nach tumorchirurgischen Eingriffen heilen in der Regel problemlos. Spezielle Maßnahmen zur Förderung der Wundheilung sind deshalb unnötig und wirken eventuell sogar kontraproduktiv. Von einigen Institutionen wird allerdings empfohlen, bereits während der Wundheilung, u.  U. schon vor dem Fadenzug, eine prophylaktische Narbenbehandlung, z.  B. eine Narbenmassage, einzuleiten.

cc Für den Nutzen einer solchen prophylaktischen Narbenbehandlung nach tumorchirurgischen Eingriffen gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Nach tumorchirurgischen Eingriffen ist eine prophylaktische Narbenbehandlung nur angezeigt bei Patienten mit Keloidbildung in der Vorgeschichte oder mit entsprechenden genetischen Risikofaktoren (dunkle Hautfarbe bei afrikanischer, evtl. asiatischer Herkunft). Hintergrundinformation Eine dänische randomisierte Studie untersuchte bei Frauen nach Operation eines Mammakarzinoms den optimalen Zeitpunkt für den Beginn einer Physiotherapie zur Verbesserung der Schulterbeweglichkeit. Die Behandlung umfasste auch die spezielle Dehnung des Narbengewebes. Bei der ersten Gruppe wurde die Behandlung bereits 6–8 Wochen nach der Operation begonnen, bei der zweiten Gruppe erst nach 26 Wochen. Bei der Kontrolle 56 Wochen postoperativ hatte sich die Schulterbeweglichkeit in beiden Gruppen verbessert – ohne Unterschied zwischen den Gruppen (Lauridsen et al. 2005).

Prophylaktisch wichtig ist dagegen, die Klienten von Anfang an auf die Bedeutung eines guten Sonnenschutzes hinzuweisen: Die UV-Strahlen des Sonnenlichts führen während der Narbenbildung zu verstärkter bleibender Pigmentierung und zu Veränderungen des Bindegewebes innerhalb der Narbe. Die Narbe wird dicker und dunkler und damit stärker sichtbar; sie muss deshalb während der ganzen Dauer der Narbenbildung vor Sonnenstrahlung geschützt werden (Commander 2016). cc Klienten müssen während der ganzen Dauer der Narbenbildung, d.  h. während 12–18 Monaten, die Narbe durch Kleidung oder Sonnencremes (Schutzfaktor 50) vor Sonnenstrahlung schützen.

30.8 Behandlung in der Ergotherapie cc Die Behandlung einer Narbe, die dem Klienten Probleme bereitet, ist nur mit aktiver Mitarbeit des Klienten erfolgversprechend.

30 Narben

Ein Handout, auf dem alle relevanten Maßnahmen nachzulesen sind, kann ihm die Behandlung näherbringen. Es hat sich bewährt, das Handout (Abb. 30.7) gemeinsam mit dem Klienten durchzusprechen und auszufüllen. Der Therapeut kann darauf beispielsweise die Narbe als Strich und kreisende Bewegungen oder Massage parallel dazu einzeichnen. Ebenso ist es sinnvoll zu besprechen, welche Creme oder Salbe der Klient nutzen soll und mit welchen weiteren Materialien die Narbe behandelt werden kann, z. B. der Nadelreizmatte. Auch Übungen, die in der Therapie besprochen und durchgeführt werden, sollten notiert werden. Die Behandlung von Narben ist nicht ausschließlich Sache der Ergotherapie. Auch Physiotherapeuten und Pflegefachkräfte unterstützen den Klienten bei der Narbentherapie und leiten ihn zu einer guten Narbenpflege an. In der Praxis fällt immer wieder auf, dass Klienten aufgrund ihrer vielfältigen Beschwerden bereits so viele Therapieschwerpunkte haben, dass die Narbe in Vergessenheit gerät. Daher ist es wichtig, den Klienten zu fragen, ob er bereits in der Narbenpflege angeleitet wurde.

337

30.8.1 Narbenmassage Die Narbenmassage hat zum Ziel, das Narbengewebe geschmeidig zu machen und Verklebungen von Gewebeschichten zu lösen. Sie wird in der Ergo- wie in der Physiotherapie sehr häufig eingesetzt. Es gibt dazu jedoch erstaunlicherweise kaum methodisch gute wissenschaftliche Studien. Indikation Nach chirurgischen Eingriffen ist eine Narbenmassage indiziert bei Narben, die den Klienten stören, d. h. beispielsweise bei • verhärteten Narben, • Narben, die die Beweglichkeit einschränken, • Narbenkontrakturen. Kontraindikationen • • • •

Stark schmerzende Narben Offene Wunden Infektionen Entzündungen in der Umgebung der Narbe

Erhöhte Vorsicht gilt bei Generell gilt für die Narbenbehandlung

• Ist die Narbe oberflächlich noch nicht verschlossen (z.  B. kurz nach Fadenzug), muss der Therapeut unter Beachtung der übrigen Hygienemaßnahmen sterile Einmalhandschuhe tragen, um das Einschleppen von Keimen in die Wunde zu verhindern. • Narben sind nach Abschluss der Granulationsphase, d. h. spätestens nach drei Wochen, schmerzlos. Längerdauernde Narbenschmerzen müssen ärztlich abgeklärt werden. • Narben sind gelegentlich kälteempfindlich, sie sollten deshalb warmgehalten werden.

• Durchblutungsstörungen, • eingeschränkter Sensibilität, z.  B. bei Poly­ neuropathie, • CRPS (Complex Regional Pain Syndrome). Bei Verwendung eines metallenen Narbensticks ist bei Kontaktallergie z. B. auf Nickel Vorsicht geboten. Durchführung Techniken (Beispiele): • Rautengriff: Der Therapeut legt Daumen und Zeigefinger beider Hände an den rechten bzw. linken Narbenrand und kann so die Narbe etwas zusammenschieben. Die Finger des Therapeuten bilden eine Raute, daher der

338

Name des Griffs. Die Narbe kann nun in alle Richtungen langsam bewegt werden. Die Massage erfolgt mit streichenden Bewegungen parallel zur Narbe oder zur Narbe hin, keinesfalls jedoch darf die Narbe auseinandergezogen werden! Die Anwendung kann mit einer fettenden Hautcreme ergänzt werden. • Ansetzen der Finger rechts und links der Narbe, jeweils leicht versetzt. Dann die Narbe quer zusammenschieben (Abb. 30.3). • Narbe zusammendrücken und abheben (Abb. 30.4). Die Narbenmassage und die damit verbundenen Übungen können vom Klienten zu Hause selbst ausgeführt werden, mindestens. 4-mal täglich während je 10 min. Gerne wird die Narbenmassage mit einer fetthaltigen Creme (Abschn.  30.8.2) kombiniert, um die Durchführung zu erleichtern und die Geschmeidigkeit des Gewebes zu erhöhen.

Abb. 30.3  Querverschiebung (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

S. Heizmann und T. Kroner

Abb. 30.5 Narbenstick aus Messing (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

Ein Narbenstick (Abb.  30.5) kann die Arbeit des Therapeuten erleichtern. Narbensticks sind in verschiedenen Materialien erhältlich, z. B. Holz oder Metall. Aus hygienischer Sicht sind Sticks aus Messing oder Edelstahl vorzuziehen, da sie leichter zu reinigen sind. Bei der Behandlung mit dem Narbenstick muss darauf geachtet werden, dass nur punktuell gearbeitet und keine Haut „verschoben“ wird. Bei starken Adhäsionen kann mit einer Vakuumnarbenpumpe gearbeitet werden. Das Verfahren gleicht einem Schröpfverfahren und hebt Haut von tiefer liegenden Gewebsschichten ab. Es gilt äußerste Vorsicht bei der Handhabung, da der Unterdruck sorgfältig dosiert werden muss. Studien zur Evidenz dieser Technik liegen nicht vor. Nutzen Obwohl die therapeutische Narbenmassage bei Operationswunden häufig zum Einsatz kommt, ist die Evidenz für ihren Nutzen sehr schwach (Grigorian und Kampp 2020). Dies liegt möglicherweise auch daran, dass weder die ­ Behandlung noch die Instrumente zur Erfassung ihrer Wirkung standardisiert sind (Shin und Bordeaux 2011). Neben der erwünschten Wirkung auf die Narbe sind zusätzliche Effekte denkbar (nach Shin und Bordeaux 2011). Mögliche positive Effekte auf den Klienten 

Abb. 30.4  Narbe abheben (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

• Einbezug in die Behandlung

30 Narben

• Steigerung seines Wohlbefindens aufgrund der körperlichen Zuwendung durch den Therapeuten Mögliche negative Aspekte  • Zeitaufwand von Klient und Therapeut • Irritation der Haut und der Narbe durch die Massage • Entwicklung von Hautreizung und Kontaktallergien durch die benutzten Salben, Öle etc.

30.8.2 Cremes, Salben und Öle cc Cremes, Salben und Öle dürfen nur angewendet werden, nachdem sich die Wunde komplett geschlossen hat! Indikation und Durchführung Für Cremes, Salben und Öle gelten die gleichen Indikationen wie für die Narbenmassage. Sie scheinen besonders bei stark juckenden Narben hilfreich zu sein. Cremes, Salben und Öle auf pflanzlicher Grundlage, etwa Oliven- oder Johanniskrautöl oder Ringelblumensalbe, werden gerne mit der Narbenmassage kombiniert, um die Geschmeidigkeit des Gewebes zu erhöhen und die Wundheilung zu unterstützen. Das gilt auch für hyaluronhaltige Cremes. Das ausgewählte Medium wird im selben Intervall wie die Narbenmassage angewandt. Kontraindikationen und Hinweise In der Regel sind die oben aufgeführten Salben, Cremes und Öle gut verträglich. Bei einer bekannten Allergie gegen einen ihrer Bestandteile ist von einer Anwendung abzusehen. Auf mögliche Haut­ reaktionen muss unbedingt hingewiesen werden! cc Es ist wichtig, den Klienten über mögliche Hautreizungen zu informieren. Bei Auftreten

339

einer Reizung die Salbe, Creme oder das Öl unverzüglich absetzen! Nutzen Der Nutzen auch dieser Anwendungen ist wissenschaftlich nur schwach belegt (Monstrey 2014; Grigorian und Kampp 2020).

30.8.3 Silikonpräparate Indikation Silikonpräparate sollen nicht routinemäßig zur Behandlung frischer Operationsnarben eingesetzt werden. Folgende Indikationen sind anerkannt, allerdings ist die wissenschaftliche Evidenz für ihren Nutzen schwach (O’Brien und Jones 2013): • Prophylaxe von hypertrophen Narben/Keloiden bei Risikopatienten, d.  h. vor allem als Rezidivprophylaxe nach operativer Behandlung einer hypertrophen Narbe/eines Keloids • Als Zusatztherapie bei der Behandlung von aktiven hypertrophen Narben Kontraindikationen • Offene Wunden • Akne • Psoriasis Durchführung Silikon kann in Form von Creme, Spray, Auflagen, Kissen, Folie oder Gel auf der Narbe angebracht werden. Die Anwendung erfolgt 12–24 h am Tag über einen Zeitraum von 12–24 Wochen. Damit kann schon kurz nach dem Fadenzug begonnen werden.

30.8.4 Desensibilisierung Im Narbenbereich können eine Hypersensibilität oder neurombedingte Schmerzen auftreten. Sie sind Indikationen zu einer Desensibilisierung.

S. Heizmann und T. Kroner

340

cc Definitionen • Hypersensibilität Ein normaler Reiz in einem umschriebenen Bereich der Narbe, beispielsweise eine leichte Berührung, wird vom Klienten als unangenehm, eventuell sogar schmerzhaft empfunden. • Neuromschmerz Nach Durchtrennung oder Reizzuständen an einem peripheren Nerven kann sich unter der Narbe ein Neurom, d.  h. eine gutartige Neubildung von Nervengewebe entwickeln. Der durch ein Neurom bedingte Schmerz kann nur in einem sehr eng begrenzten Gebiet im Bereich der Narbe ausgelöst werden. Er wird als elektrisierender, ausstrahlender Schmerz empfunden. Ein Neurom in einer Amputationsnarbe kann einen Schmerz im Stumpf und/oder im Phantomglied auslösen. Durch Klopfen auf das Neurom kann der Schmerz provoziert werden. Im Bereich einer Narbe ist dieses sog. Tinel- (oder Hoffmann-Tinel-) Zeichen ein Hinweis auf ein Neurom. Ziel der Desensibilisierung  • Bei Hypersensibilität: Steigerung der Toleranz für Berührungen im betroffenen Gebiet • Bei neurombedingten Schmerzen: Schmerzreduktion Desensibilisierung bei Hypersensibilität Beispiel

Ein Klient hat eine Narbe am rechten Fußknöchel nach operativer Entfernung eines Melanoms. Das Überstreifen von Socken oder gar Schuhen mit Schaft ist im Bereich der Narbe sehr unangenehm. Momentan (im Sommer) könne er es noch vermeiden, in solchen Schuhen zu gehen. Er habe aber Sorge vor dem Herbst/Winter. Beim Wandern trage er gerne Schuhe, die über den Knöchel gehen. Therapeutisch wird die Desensibilisierung der Narbe nun zum Schwerpunkt der Therapie. ◄ Klient und Therapeut testen, mit welchen Materialien eine Berührung im nicht betroffenen Ge-

biet als angenehm empfunden wird. Dann wird der Stimulus vom nicht betroffenen Gebiet an die empfindlichen Stellen gelenkt. Der Reiz sollte immer als gut tolerierbar eingestuft werden, bevor zum nächststärkeren Reiz übergegangen wird. Beispiele für Materialien (Abb. 27.6)  • • • • • • • • • •

Verschiedene Fühlbädermaterialien Peeling (z. B. Zucker-Öl-Peeling) Frotteehandtuch Samt Igelbälle Gummi Filz Klettband Zahnbürste Nadelreizmatte

Zur Häufigkeit der Trainings finden sich verschiedene Angaben. Empfohlen werden z. B. 3–5 Trainings täglich von je 10 min (Rief 2018) oder 3-mal täglich je 2–5 min (Göransson und Cederlund 2011). Eine Besprechung mit dem Therapeuten zur Evaluation und evtl. Anpassung des Trainings muss in regelmäßigen Abständen erfolgen. Die Wirksamkeit der Desensibilisierung bei Hypersensibilität ist belegt (Göransson und Cederlund 2011). Desensibilisierung Neuromen

bei

schmerzhaften

Beispiel

Ein Klient verletzte sich vor drei Jahren mit einer Kreissäge. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand mussten im Bereich der Metakarpalgelenke amputiert werden. Es kam zur Ausbildung von schmerzhaften Neuromen an den Stümpfen. Diese wurden vor einem Jahr operativ entfernt. Jetzt besteht offenbar am Daumengrundgelenk ein Neurom-Rezidiv: Das Tragen der Prothese löst einen sehr starken elektrisierenden Schmerz im Bereich des Daumenstumpfs aus. Das Hoffmann-­ Tinel-­ Zeichen ist positiv. ◄

30 Narben

Bei einem Neurom kann wiederholtes Klopfen auf die Stelle, von der der Schmerz ausgelöst wird, Häufigkeit und Intensität der Schmerzen reduzieren. Dieses Klopfen wird mit zunehmender Intensität 2- bis 5-mal täglich während 10–20 min durchgeführt, es kann zu Beginn als unangenehm empfunden werden. Im Verlauf lassen die Schmerzen häufig nach, entsprechend wird die Häufigkeit reduziert. Die Wirksamkeit der Methode ist belegt (Ritchie Russell 1949). Kontraindikationen • Offene Wunde • Unklare, nicht auf ein Neurom zurückzuführende Schmerzzustände • Entzündungen und Infektionen der Haut Erhöhte Vorsicht gilt bei: • CRPS • Hautreizungen (z. B. Sonnenbrand) cc Wichtig  Desensibilisierungstraining nur bei komplett verschlossener Narbe! Das Training bei Hypersensibilität oder atypischen Neuromschmerzen muss vor Beginn mit dem Arzt besprochen werden! Hinweise für Klienten • Der Klient soll das Training regelmäßig zu Hause absolvieren. • Bei Schmerzen oder Verschlimmerung der Symptomatik soll er das Training abbrechen und am nächsten Tag erneut versuchen. Den Therapeuten muss er darüber informieren.

30.8.5 Dehn- und Bewegungsübungen Durch Dehn- und Bewegungsübungen können Adhäsionen gelöst und Bewegungseinschränkungen aufgehoben werden.

341

Indikation • Narben (vor allem in Gelenknähe), die Bewegungen behindern. Durchführung cc Wichtig  In den ersten 2–4 Wochen nach der Operation keine Dehnung senkrecht zur Narbe! Dies stört die Wundheilung und kann eine Hypertrophie der Narbe auslösen. Je mehr Kollagen in das Narbengewebe eingelagert wird, desto größer wird die Zugfestigkeit des Narbengewebes. Die Intensität der Übungen kann dann gesteigert werden. • Es ist sinnvoll, Dehnübungen mit der Applikation von Wärme (s. unten) zu ergänzen. Das Gewebe wird weicher, und der gewonnene Spielraum kann zur intensiveren Dehnung genutzt werden. Wärme darf jedoch erst nach Abklingen der Entzündungsphase appliziert werden. • Erhöhte Vorsicht gilt bei frischen Narben. Die Naht darf durch die Bewegungen nicht aufbrechen. • Die Schmerzgrenze des Klienten muss beachtet werden, und es darf nicht darüber hinaus geübt werden. • Individuelle, täglich ausgeführte Bewegungsübungen sollten mit dem Klienten b­ esprochen, regelmäßig angepasst und dokumentiert werden. Die Integration in Alltagsaktivitäten erleichtert es den Klienten, die Übungen regelmäßig zu wiederholen.

Beispiel

Einer Klientin mit Brustkrebs wurden vor 3 Monaten Lymphknoten in der rechten Axilla entfernt. Sie berichtet jetzt von einer Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Schultergelenks, vorwiegend bei Ab-

S. Heizmann und T. Kroner

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duktion des Armes. In der Befundung zeigt sich bei Vorschub der Haut ein größeres passives und aktives Bewegungsausmaß. Das heißt, dass die Narbe zu wenig elastisch ist und so die Bewegung im Schultergelenk einschränkt. Nach der Narbenmassage werden Bewegungsübungen, wie beispielsweise Armkreisen in Abduktion im gewonnenen Bewegungsradius vorgenommen. Anschließend kann die Klientin gefragt werden, in welchen Alltagssituationen sie die Einschränkung der Bewegung am meisten belastet. Die Klientin antwortet, sie mache gerne Yoga. Beim Sonnengruß könne sie den rechten Arm nicht mehr über die Seite und über den Kopf heben. Diese Yogaübung kann als weitere Bewegungsübung im Alltag miteingebunden werden. Es wird besprochen, dass sie vor der Yogaeinheit die Narbe massiert und somit vorbereitet. Der Sonnengruß wird dann ganz bewusst verlangsamt begonnen und um eine leichte Dehnübung erweitert. ◄

30.8.6 Wärme Wärme wird in der Narbenbehandlung als therapieergänzende Maßnahme genutzt. Durch Wärme sollen verschiedene Prozesse der Wundheilung stimuliert werden, um die Wundheilung zu unterstützen. Indikation • Kontraktes Narbengewebe • Einschränkung von Bewegungen Narbengewebe

durch

Kontraindikation • Entzündungen/Infektionen im Narbenbereich • Ödeme • Deutlich verminderte Sensibilität im Bereich der geplanten Wärmeanwendung • Kognitive Einschränkung, die es dem Klienten erschwert anzugeben, dass es zu heiß ist

Durchführung Wärme hat einen Einfluss auf das Dehnverhalten von Kollagenfasern – sie werden ab einer Temperatur zwischen 37–40 °C elastischer (Matthijs et al. 2003). Als therapeutisch wirksam werden Temperaturen zwischen 40–45  °C angesehen. Eine Wärmeapplikation sollte etwa 20–30 min dauern, um auch das subkutane Gewebe zu erreichen. Ein Paraffinbad oder „Hotpacks“ eignen sich beispielsweise für eine Wärmebehandlung. Ist das Eintauchen in Paraffin nicht möglich, z. B. bei Lokalisation der Narbe am Rumpf, kann das Wachs in einen Plastikbeutel gefüllt und auf die betreffende Körperstelle gelegt oder mithilfe eines Pinsels/Spatels auf die Haut aufgetragen werden. „Hotpacks“ sind erwärmte Gelkissen. Sie können vor der Applikation in ein feuchtes Tuch gewickelt werden. Anwendung des Paraffinbades Kap. 27 (Abb. 27.7).

30.8.7 Taping Für ein Narbentaping (auch kinesiologisches Taping genannt) wird elastisches Tapeband oder ein spezielles Gittertape (Abb.  30.6) verwendet. Es ist sehr dehnbar und wirkt aufgrund seiner Elastizität massierend und leicht stabilisierend. Das Band besteht aus Baumwolle. Auf einer Seite haftet Acrylkleber, der wellenförmig auf das Band aufgebracht ist. Indikation Es gibt keine Indikationen, bei denen Taping eine nachweisbare Wirkung zeigt. In der aktuellen Richtlinie zur Therapie pathologischer Narben (Nast et  al. 2020) wird Taping nicht erwähnt. Auch für den Nutzen einer prophylaktischen Narbenbehandlung gibt es keine wissen­ schaftlichen Belege. Taping wird deshalb im Sinn einer komplementärmedizinischen Maßnahme (Kap.  13) eingesetzt. Es darf nur bei geschlossenen und reizlosen Narben angewendet werden.

30 Narben

Abb. 30.6  Narbengitter. (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

Kontraindikation • Allergien (z. B. gegen Acryl) • Hautreizungen, z. B. durch Solarium, Sonnenbäder • Akute und chronische Hauterkrankungen (z.  B.  Pilzinfektionen, Erysipel, Neurodermitis, Schuppenflechte) und Gewebeschäden (Nekrosen) • Offene Wunden, Wundheilungsstörungen • Frische Thrombosen, Thrombophlebitis • Bestrahlung im Bereich des vorgesehenen Tapes • Unklares Fieber

343

Durchführung • Das Tape kann direkt quer in mehreren Streifen auf der Narbe oder  – bei empfindlichen Narben besser  – parallel zum Narbenverlauf angebracht werden, zumeist mit leichtem bis mäßigem Zug. • Bei Narben über einem Gelenk ist darauf zu achten, dass das Tape die Bewegungen des Gelenks nicht behindert. • Bevor das Tape auf die Haut geklebt wird, wird die Haut mit Wasser gereinigt und dann getrocknet. Auf Desinfektionsmittel oder Reinigungsmittel sollte verzichtet werden, um keine allergischen Reaktionen zu provozieren. • Das Tape wird dann anhand der Narbe abgemessen und mit einer Schere zugeschnitten. Die Ecken werden abgerundet, da sich das Tape an Ecken schneller ablöst. • Die Folie wird anschließend von einem Teil des Tapes gelöst und die Basis des Tapes ohne Zug angeklebt. Dann wird das Tape leicht mit Zug auf und neben die Narbe geklebt. Der Abschluss erfolgt wieder ohne Zug. • Ein Tape kann bis zu 14 Tage auf der Haut verbleiben, wenn keine der unten genannten Nebenwirkungen auftreten. Alle 2–3 Wochen kann die Anwendung wiederholt werden. • Als Alternative können auch Narbengitter (Abb. 30.6) genutzt werden, sie sind in der Nutzung vor allem für den Klienten selbst einfacher. Nebenwirkungen Durch das Tape können Kontaktallergien, Juckreiz, Hautreizungen und Bläschenbildung hervorgerufen werden. Hinweise für den Klienten Entscheiden sich Therapeut und Klient für eine Tape-Applikation, wird der Klient in die Handhabung eingeführt:

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• Der Klient kann mit dem Tape duschen. Wichtig ist, das Tape durch Tupfen und nicht durch Reibung mit dem Handtuch zu trocknen. • Wenn sich das Tape löst, dann komplett ablösen und nicht Stück für Stück zurück­ schneiden.

S. Heizmann und T. Kroner

• Bei Rötung und Juckreiz unter und neben dem Tape das Tape sofort ablösen. • Das Tape wird am besten unter der Dusche entfernt, so werden Hautreizungen weitestgehend vermieden (Abb. 30.7).

Abb. 30.7  Handout Anleitung Narbenbehandlung und Narbenpflege. (Auch als Download verfügbar)

30 Narben

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Literatur

Rief P (2018) Behandlungstechniken. In: Bollinger Herzka T et al (Hrsg) Ergotherapie in der Orthopädie, Traumatologie und Rheumatologie, 2. Aufl. Thieme, Ritchie Russell W (1949) Painful amputation stumps and phantom limbs; treatment by repeated percussion to the stump neuromata. Br Med J 4614:1024. https://doi. org/10.1136/bmj.1.4614.1024 Shin TM, Bordeaux JS (2011) The role of massage in scar management: a literature review. Dermatol Surg 38:414. https://doi.org/10.1111/j.1524-­4725.2011.02201.x. PMID: 22093081 Safonov I (2012) Pathological scars (keloid and hypertrophic scars). In: Safonov I (Hrsg) Atlas of scar treatment and correction. Springer, Berlin, Heidelberg Singer AJ, Clark RAF (1999) Cutaneous wound healing. New Engl J Med 341:738 Worret WI, Vogt HJ (2004) Narbentherapie in der Dermatologie. Dt Ärztebl. 101:A2819

Zitierte Literatur Commander SJ (2016) Update on Postsurgical Scar Management. Semin Plast Surg 30:122 Göransson I, Cederlund R (2011) A study of the effect of desensitization on hyperaesthesia in the hand and upper extremity after injury or surgery. Hand Ther 16:12. https://doi.org/10.1258/ht.2010.010023 Grigorian KV, Kampp JT (2020) Summary and evidence grading of over-the-counter scar treatments. Int J Dermat 59:1136 Lauridsen MC et al (2005) The effect of physiotherapy on shoulder function in patients surgically treated for breast cancer: a randomized study. Acta Oncologica 44:449 Matthijs O et  al (Hrsg) (2003) Manuelle Therapie der peripheren Gelenke, Band 1: Biomechanik, Bindegewebe, Schultergürtel. Urban & Fischer, München Nast A et al (2020). S2k-Leitlinie Therapie pathologischer Narben (hypertrophe Narben und Keloide)  – Update 2020. J Dtsch Dermatol Ges 2020. https://register. awmf.org/assets/guidelines/013-030l_S2k_Therapiepathologischer-Narben-hypertrophe-NarbenKeloide_2020-11.pdf. Zugriff: 20.7.2023 O’Brien L, Jones DJ (2013) Silicone gel sheeting for preventing and treating hypertrophic and keloid scars. Cochrane Database Syst Rev 2013(9). https://doi. org/10.1002/14651858.CD003826.pub3

Weiterführende Literatur Waldner-Nilsson B (2013) Wund- und Narbenbehandlung. In: Waldner-Nilsson B (Hrsg) Handrehabilitation, 3. Aufl. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg Zumhasch R (2020) Therapie und Prävention von Problemnarben. In: Praxis Handreha. Thieme Verlag, Stuttgart

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Amputation Sabrina Heizmann

31.1 Definition und Terminologie Amputation bezeichnet die Abtrennung eines Körperteils vom Körper. Die operative Entfernung der weiblichen Brust wird allerdings meist nicht als Amputation, sondern als Mastektomie oder als Ablatio bezeichnet.

31.2 Indikationen Die häufigsten Indikationen für eine Extremitätenamputation sind die periphere arterielle Verschlusskrankheit (paVK) und das diabetische Fußsyndrom (eine Kombination von paVK und Neuropathie bei fortgeschrittener Zuckerkrankheit). In der Onkologie müssen Amputationen von Extremitäten heute nur sehr selten vorgenommen werden: Bei einem Osteosarkom (einem malignen Knochentumor) oder einem Weichteilsarkom (maligner Tumor des Binde- und Stützgewebes) kann allerdings eine Amputation indiziert sein, wenn nach Entfernung des Tumors eine geErgänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/ 10.1007/978-­3-­662-­64230-­6_31]. S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

nügende Weichteildeckung und/oder der funktionelle Gebrauch der Extremität nicht gewährleistet ist. Bei Brustkrebs galt die sog. radikale Mastektomie, d. h. die Amputation der Brust, bis etwa 1970 als chirurgische Standardbehandlung (Abschn. 1.6.3). Heute wird, wenn immer möglich, auf die vollständige Mastektomie verzichtet und an ihrer Stelle eine brusterhaltende Operation vorgenommen.

31.3 Symptome Nach einer Amputation können – zusätzlich zur fehlenden Funktion des amputierten Körperteils – folgende Symptome auftreten: • • • • • •

Störung der Narbenbildung Ödeme Durchblutungsstörungen Hypersensibilität/Parästhesien (Wund-) Schmerzen Phantomschmerz/Phantomempfindungen

31.4 Folgestörungen Eine Amputation, egal um welches Körperteil es sich handelt, stellt immer einen großen Einschnitt im Leben eines Klienten dar. Neben der Heilung und dem damit verbundenen Wundschmerz sind

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_31

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S. Heizmann

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viele Klienten psychisch durch diese Situation belastet. Sie trauern um den Verlust, und ihr Vertrauen in den eigenen Körper ist erschüttert. Das eigene Körperbild leidet mitunter schwer am Verlust der Symmetrie und an der neuen Unvollständigkeit ihres Körpers. Bei Frauen geht oftmals mit dem Verlust der Brust ein Gefühl von fehlender Weiblichkeit einher. Auch der Alltag kann sich drastisch verändern. Fehlt eine Extremität, sind die Bewältigung des Alltags und die Selbstversorgung in Frage gestellt. Frauen mit einer Brustprothese haben teilweise Hemmungen, in die Öffentlichkeit zu gehen, und empfinden die Prothese als Fremdkörper. Infolgedessen ziehen sie sich unter Umständen aus dem öffentlichen Leben zurück. Schmerzen, die nach einer Amputation auftreten, werden generell als Amputationsschmerzen bezeichnet. Dabei muss zwischen Stumpf- und Phantomschmerzen unterschieden werden. Man geht davon aus, dass Stumpfschmerzen das Auftreten von Phantomschmerzen begünstigen.

Narbe entwickeln kann. Druck auf das Neurom löst einen elektrisierenden Schmerz aus und kann das Tragen einer Prothese erheblich erschweren (Abschn. 30.8.4). • Ischämie: Durchblutungsstörungen im Stumpf können einen ischämischen Schmerz auslösen und evtl. zu Nekrosen führen.

Stumpfschmerzen  treten direkt am Amputationsstumpf auf. Sie können durch folgende Faktoren ausgelöst werden:

Es ist wichtig, die Narbe zu beurteilen und zu erfahren, ob der Klient durch sie eingeschränkt ist und ob er mit einer Prothese versorgt wurde. Es ist von Vorteil zu Beginn mit dem Klienten eine gute Übersicht zu erarbeiten. Der Fragebogen in Tab.  31.1 kann eine Grundlage für das Erstgespräch bieten. Zur Vervollständigung sollte die Narbe begutachtet und befundet werden (Kap. 30). Bei Phantomschmerzen kann auch eine Stumpfkarte angefertigt werden (Abb.  31.1). Dies kann zur Dokumentation und zum Verlauf der Phantomschmerzen und -empfindungen hilfreich sein. Dabei muss beachtet werden, wie der Klient darauf reagiert. Bei emotionaler Dekompensation ist davon abzusehen. Auch die Intensität von Phantomschmerzen kann durch VAS (Kap.  34) ermittelt und festgehalten werden. Für die Dokumentation des Verlaufs empfiehlt sich die Durchführung von VAS vor und nach jeder Therapieeinheit.

• Druckstellen bei schlecht sitzenden Prothesen • Infektion der Narbe: In einer tief eingezogenen Narbe können Schweiß und Hautschuppen einen Nährboden für Bakterien und Pilze bilden und so eine Infektion unterhalten. • Scharfkantige Knochen: Bei der Operation wird eventuell der Knochen nicht adäquat angepasst. Beispiel: Das Knochenende wird spitz zugesägt, oder bei einer Unterschenkelamputation bleibt die Rest-­Fibula länger als die Rest-Tibia. • Neurombildung: Ein Neurom ist eine gutartige Neubildung von Nervengewebe, die sich nach Durchtrennung eines peripheren Nerven in der

Phantomschmerzen  sind Schmerzen, die an einem amputierten, nicht mehr vorhandenen Körperteil verspürt werden. Auf sie wird weiter in Abschn. 31.6.5 näher eingegangen. Phantomschmerzen sind unbedingt von Stumpfschmerzen zu unterscheiden - Ursachen und Behandlung unterscheiden sich fundamental. Phantomempfindungen  sind klar von Phantomschmerzen zu trennen. Auch auf sie wird näher in Abschn. 31.6.5 eingegangen.

31.5 Diagnostik

31 Amputation Tab. 31.1  Beispiel für Erfassen von Informationen aus dem Erstgespräch

349

350

S. Heizmann

Tab. 31.1 Fortsetzung

31.6 Die ergotherapeutische Behandlung 31.6.1 Narbenbehandlung Folgt die erste Therapieeinheit sehr dicht nach der Operation, stehen die Behandlung der Narbe und die Unterstützung der Wundheilung im Vordergrund. Detaillierte Maßnahmen dazu sind in Kap. 30 aufgeführt. Wie dort erwähnt, sollte der Klient zudem nach und nach dazu angeleitet werden, die angrenzenden Gelenke zu bewegen, um Kontrakturen und in der Folge Ausweichbewegungen vorzubeugen. Bei einer Mast-

ektomie ­betrifft das zunächst das Schultergelenk sowie den Schultergürtel der betroffenen Seite.

31.6.2 Unterstützung bei Verlust und Trauer Nach dem Verlust eines Körperteils durchleben viele Klienten Phasen der Trauer. Je nach Klient findet dieser Prozess in unterschiedlicher Ausprägung statt. Der Ergotherapeut kann diese Trauer begleiten und Raum für Gefühle geben. Er kann jedoch nicht den Psychoonkologen ersetzen!

31 Amputation

cc Es empfiehlt sich, den interdisziplinären Austausch mit der Psychoonkologie zu suchen, um sich für bestimmte Therapieangebote abzustimmen und zu unterstützen. Mögliche ergotherapeutische Angebote sind: • Kreative und handwerkliche Angebote, um die eigenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen und mit dem veränderten Körperbild umzugehen • Anbieten eines Abschiedsrituals für den verlorenen Teil des Körpers • Betätigungszentrierte Angebote, die den Klienten in der Gewissheit unterstützen, dass er auch mit dem Verlust sein Leben selbst gestalten kann Beispiel

Die Klientin hatte vor der Diagnose mit Bauchtanz angefangen. Nun, nach der Mastektomie, fühle sie sich unvollständig und nicht mehr weiblich genug, um den sehr sinnlichen Tanz auszuleben. Neben der Brust fehlen ihr auch ihre langen Haare, um sich als Frau zu fühlen. Von der Tanzgruppe nimmt sie Abstand. Sie möchte das Hobby aufgeben, es schmerzt sie jedoch sehr. In der Ergotherapie wird das Thema dann doch auf Wunsch der Klientin aufgegriffen. Es wird gemeinsam die Herkunft des Tanzes vertieft, und andere Elemente um den Tanz herum werden aufgegriffen. So erzählt die Klientin, dass sie die intensiven Farben der Kleider sehr liebe. Zur Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen rund um dieses für sie belastende Thema malt sie Bilder in kräftigen Farben. Auch die Brust deutet sie immer wieder schemenhaft in diesen Bildern an. Nach Wochen der Auseinandersetzung und Verarbeitung, die auch von psychoonkologischer Seite unterstützt wurde, erzählt die Klientin, sie habe sich nun einen guten Sport-BH gegönnt, indem auch die Prothese einen guten Halt habe. Sie spiele mit dem Gedanken, das Tanzen doch wieder zu beginnen, fühle sich jedoch immer noch gehemmt. Es wird überlegt, welche Maßnahmen oder Medien ihr einen Wiedereinstieg

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erleichtern könnten. Gemeinsam wird das Projekt „neues Hüfttuch“ gestartet, und der Ergotherapeut unterstützt bei der Planung und Umsetzung. Die Klientin erzählt nach der Fertigstellung, dass sie es sich zu Hause angezogen habe. Auch habe sie danach Lust verspürt, ein paar einfache Elemente zu tanzen. ◄

31.6.3 Stumpfpflege Ist die Wunde weitgehend abgeheilt, sollte der Klient dazu angeleitet werden, seinen Stumpf selbst zu pflegen. Eine Rötung oder kleine Verletzung kann die Nutzung der Prothese einschränken und Phantomschmerzen verschlimmern. Dies kann in der Folge die Alltagsbewältigung und Selbstversorgung gefährden, weshalb auch die Ergotherapeuten auf eine gute Anleitung zur Stumpfpflege achten sollten. Folgende Aspekte sollten unbedingt beachtet werden: • Beim An- und Ausziehen des Liners, also morgens und abends, sollte der Stumpf auf Wunden, veränderte Hautfarbe, Hautirritationen und erhöhte Temperatur überprüft werden. • Die Haut um die Stumpfkugel muss abgehärtet/desensibilisiert werden, damit sie den Druck durch die Prothese gut aushalten kann und keine Schmerzen oder Wunden durch das Tragen der Prothese entstehen können. Dieses Desensibilisierungstraining wird in Form von Abreibungen mit einem Frotteehandschuh, Igelball etc. durchgeführt und kann mit der Narbentherapie (Abschn.  30.8) einhergehen. Die Desensibilisierung ist vom Ergotherapeuten vor allem dann zu begleiten, wenn der Klient noch unter Ängsten leidet, seinen Stumpf selbst zu berühren. Dauern diese Ängste an, sind in jedem Fall der Arzt und der Psychoonkologe beizuziehen. Nach und nach ist die Densensibilisierung dem Klienten zu übergeben, damit er sie in seinen Alltag z. B. als einen Teil der Stumpfpflege integrieren kann. • Das Tragen der Prothese strapaziert die Haut. Die Haut kann trocken und spröde wirken. Waschungen sollten täglich mit einer milden Seife

352

und lauwarmem Wasser durchgeführt werden. Abends kann auch eine Salbe ­aufgetragen werden. Dies sollte jedoch mit dem behandelnden Arzt abgesprochen werden. Als Merkstütze kann mit dem Klienten ein Übungsblatt erstellt werden.

31.6.4 Prothesenversorgung Prothesenversorgung nach Mastektomie Eine Brustprothese dient nicht nur der optischen Angleichung. Sie ist auch wichtig zum Erhalt der Gewichtsymmetrie: Nach der Mastektomie besteht eine Gewichtasymmetrie, vor allem bei mittelgroßen und großen Brüsten. Wird diese nicht durch eine Prothese, einen operativen Wiederaufbau oder eine Reduktionsplastik beseitigt, kommt es zu einer Fehlhaltung des Oberkörpers. Diese kann Verspannungen der Muskulatur von Schulter, Nacken und Rücken zur Folge haben. Brustprothesen bestehen aus Silikon. Sie werden in einem Fachgeschäft nach ausführlicher Beratung ausgesucht und angepasst. Ist das Tragen der Prothese in einem handelsüblichen BH nicht möglich, wird zusätzlich ein spezieller Prothesen-­BH empfohlen. Der Ergotherapeut ist an diesem Prozess zumeist nicht direkt beteiligt, er sollte jedoch darauf achten, ob sich die Klientin mit der Prothese im Alltag wohlfühlt. Prothesenversorgung nach dem Verlust einer Extremität Wenige Tage nach der erfolgten Operation wird mit einer Kompressionstherapie begonnen. Diese kann z. B. durch straffe Wickel durch die Physiotherapie oder die Pflege ausgeführt werden. Auch das Tragen eines Liners postoperativ kann eine gleichmäßige Kompression des Stumpfes bewirken. Die Kompression dient dazu, einem postoperativen Ödem rechtzeitig entgegenzuwirken und den Stumpf für die Prothesennutzung „zu formen“. Der Liner  Ein Liner ist eine Silikonhülle, die über den Stumpf gestülpt wird. Er unterstützt die Formung des Stumpfes und wird auch unter der

S. Heizmann

Prothese getragen, denn so kommt es zum Halt der Prothese. Es ist wichtig, dass ein Klient selber in der Lage ist, den Liner an- und wieder auszuziehen. Das Training dazu kann auch in der Ergotherapie stattfinden: • Vor dem Anziehen ist darauf zu achten, dass der Liner trocken sowie fett- und ölfrei ist. • Der Klient sollte den Stumpf nach unten strecken. Dann wird mit dem Anziehen des Liners begonnen. Viele Klienten neigen dazu z. B. im Bett den Stumpf nach oben zu halten. Dadurch staucht der Stumpf minimal und wird etwas dicker. Dies kann den Sitz des Liners beeinträchtigen. • Der Liner wird auf links gedreht und die untere Wölbung auf den Stumpf gesetzt. • Der Liner wird nun über dem Stumpf langsam abgerollt. Es ist darauf zu achten, dass sich keine Luftblasen bilden. • Nur rollen, nicht ziehen! Ziehen kann zu Haut­ reizungen führen. • Es ist wünschenswert, dass der Ergotherapeut beim Termin des Klienten mit dem Mitarbeiter des Sanitätshauses anwesend ist. Bei Bedarf und Zustimmung aller Beteiligten kann eine Fotodokumentation zum Anziehen des Liners erstellt werden, um dem Klienten eine Merkstütze bereitzustellen. • Ausgezogen wird der Liner, indem er zurück über den Stumpf abgerollt wird. Auch hier keinesfalls ziehen! Definitiv-Prothese  Bis der Klient seine individuell angepasste definitive Prothese bekommt, vergeht eine gewisse Zeit: In der Regel beginnt die Stumpfbehandlung im Krankenhaus. Die Versorgung mit der ersten, provisorischen Prothese und die erste Mobilisation damit finden dann in der Reha-Klinik statt. Dort wird auch der Umgang mit der Prothese geschult. Erst dann erhält der Klient seine Definitiv-Prothese. Diese wird individuell durch den Orthopädietechniker angepasst. Er erklärt dem Klienten auch die Handhabung. Auch hier ist die Anwesenheit des Ergotherapeuten von großem Vorteil, damit er den Klienten beim Umgang mit der Prothese ­ unterstützen kann. Ihre Handhabung ist je nach Funktion sehr komplex.

31 Amputation

Daher ist es empfehlenswert, mit Fotos zu dokumentieren, wie die Prothese über dem Liner angelegt und wie sie bedient wird. Alltagstraining  Egal, in welcher Phase der Prothesenversorgung der Klient sich befindet: Die Aufmerksamkeit des Ergotherapeuten gilt immer dem Klienten in seiner aktuellen Situation: Welches dringende Betätigungsanliegen hat der Klient in der aktuellen Situation? Für den Klienten wichtige Tätigkeiten sollen nicht aufgeschoben werden, bis die Definitiv-Prothese endlich gefertigt wird. Das bedeutet, dass Hilfsmittel und Kompensationsstrategien immer an die aktuelle Situation angepasst und für den Klienten wichtige Alltagssituationen schon mit der Erstprothese trainiert werden. Das Erfassen der Betätigungsanliegen ist in Kap. 26 geschildert.

31.6.5 Phantomschmerzen und Phantomempfindungen 31.6.5.1 Was sind Phantomempfindungen und Phantomschmerzen? Etwa 70  % aller Klienten berichten nach einer Amputation von Phantomschmerzen. Sie treten meist nach Amputation einer Extremität (Arm oder Bein) auf, aber es werden auch Phantombrüste, – zungen oder -penisse beschrieben. Phantomempfindungen und Phantomschmerzen können sich wie folgt äußern: • Die fehlende Gliedmaße wird als noch existent wahrgenommen. • Eine charakteristische Wahrnehmung ist auch der sogenannte „Teleskopeffekt“ . Er beschreibt die Erfahrung vieler Patienten, dass die fehlende Gliedmaße sich in ihrer Länge verändert, in dem Sinne, dass die Entfernung zur Trennstelle des Stumpfes schrumpft bzw. wächst. Im Laufe der Zeit nimmt die Intensität dieser Phantomempfindungen häufig ab, jedoch bleiben die Sensationen in vielen Fällen auch dauerhaft vorhanden (Mosch et al. 2023).

353

• Sie kann jucken, prickeln oder/und schmerzen. • Die Klienten berichten von einer Morgensteifigkeit der Gelenke der nicht mehr existierenden Extremität. • Bewegungen (Beine, die ohne Unterlass laufen) oder Verkrampfungen werden beschrieben. • Eine Verschlimmerung der Symptomatik kann durch Berührung in der Nähe des Stumpfes ausgelöst werden. cc Kann ein Phantomschmerz durch Berührung oder Druck im Narbenbereich ausgelöst werden, liegt möglicherweise ein Narbenneurom vor (Abschn.  30.8.4). Dies muss unbedingt durch einen Arzt abgeklärt werden, da spezielle Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Die Entstehung des Phantomschmerzes ist nicht eindeutig geklärt: Nach der Amputation stoppt der Fluss an Informationen aus der Ex­tremität an das Gehirn. Das Gebiet, in dem die Extremität bislang im Gehirn repräsentiert wurde, empfängt keine Informationen mehr aus der Peripherie. Es kommt zu einer kortikalen Reorganisation, in deren Verlauf die Lokalisation von sensorischen Reizen gestört ist: So kann es vorkommen, dass der Klient seine nicht mehr existierende Hand auf dem Armstumpf spürt (Abb.  31.1). Wird der Klient an dem eingezeichneten Areal für den Daumen berührt, empfindet er die Berührung am Daumen seiner nicht mehr existenten Hand. Man stellt sich vor, dass ein Konflikt zwischen dem alten und dem neuen Muster innerhalb der reorganisierten kortikalen Repräsentanz des betroffenen Gliedes dann den Phantomschmerz auslöst.

31.6.5.2 Therapieansätze Prophylaxe ist die wirksamste Behandlung von Phantomschmerzen. Amputierte sollten deshalb möglichst rasch mobilisiert und prothetisch versorgt werden. Dies vermindert die Ausprägung von Phantomschmerzen signifikant (Greitemann et al. 2019). Phantomschmerzen, die länger als 6 Monate bestehen, sind therapeutisch wenig bis kaum be-

S. Heizmann

354 Repräsentation der Hand auf einem Armstumpf

HF

2 3

4

5

1

Bei Amputierten lassen sich durch Berührungen nahe der Amputationslinie sowie sechs Zentimeter über der Armbegue Phantomempfindungen hervorrufen. Der Daumen (1) ist auf der Karte größer repräsentiert, die Handfläche (HF) verbindet ihn mit den übrigen Fingern.

Abb. 31.1  Stumpfkarte. (Mit freundl. Genehmigung von dasgehirn.info, Corves 2011)

einflussbar. Als schmerzlindernde Medikamente werden vorzugsweise Analgetika eingesetzt, die bei neuropathischen Schmerzen eine gewisse Wirkung zeigen (z.  B.  Pregabalin, Carbamazepin, Gabapentin), evtl. unterstützt durch antidepressiv wirkende Medikamente. Vom Einsatz von Opiaten ist abzusehen: Ihre Wirkung ist bei dieser Indikation gering und das Abhängigkeitspotenzial groß.

Auch die ergotherapeutische Behandlung kann schwierig sein und für die Behandelnden und erst recht für die Klienten frustrierend. Wie in solchen Situationen üblich, wird eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten empfohlen. Bislang konnte jedoch von keiner Therapie ein Nutzen eindeutig nachgewiesen werden. Es bedarf noch viel Forschungsarbeit, bis eine evidenzbasierte Therapie empfohlen werden kann.

31 Amputation

Einige motorisch-funktionelle und sensomotorisch-perzeptive Ansätze, die in der Ergotherapie zum Einsatz kommen können, werden hier vorgestellt. Taktile Stimulation Ol et  al. (2018) untersuchten u.  a. die Wirkung von taktiler Stimulation. Durch diese Methode konnten sie über 50 % der Phantomschmerzen reduzieren. Ähnliche Ergebnisse erreichten sie mit Spiegeltherapie und mit der Kombination von Spiegeltherapie und taktiler Stimulation. Die Intensität der Schmerzen wurde mit der VAS-­ Skala ermittelt. Die Klienten mussten sich für die Dauer der Behandlung auf ein Bett legen. Eine weitere (vorzugsweise nahestehende) Person stimulierte alle Bereiche des Stumpfes mit 5 verschiedenen Stimuli: einem Stein, einem Holzstäbchen, einer weichen Bürste, einer Feder und einem weichen Stoff. Der Klient hatte die Anweisung, nicht auf den Stumpf, sondern zur Decke zu blicken und sich auf die Stimulation zu konzentrieren. Diese Behandlung wurde 4 Wochen lang morgens und abends für 5 min durchgeführt. Zweipunktdiskrimination (ZPD) Koller et  al. (2015) beschreiben einen weiteren interessanten Therapieansatz. Er gründet auf der Hypothese, dass die ZPD die Körperwahrnehmung verbessert und so die Phantomschmerzen reduzieren kann. Auch zu dieser Methode sind weitere Studien nötig. Bei der ZPD wird der Klient im Bereich des Stumpfendes mit einem oder beiden Enden einer Schiebelehre berührt. Der Klient muss dann sagen, an welcher Stelle des Stumpfs er wie viele Punkte (einen oder zwei) wahrgenommen hat. Die Lokalisation kann vereinfacht werden, wenn der Klient auf einer Fotografie des Stumpfes die Stelle der Berührung zeigen kann. Dieses Training wird insgesamt für 28 Tage durchgeführt. Zu Beginn werden die Behandlungen auf dreimal pro Tag für 10  min angesetzt. Nach der ersten Woche wird die Intervention auf einmal am Tag für 10 min reduziert.

355

Aktive Bewegung Aktive Bewegung des Stumpfes bringt viele Vorteile für den Klienten. Ein stetiger aktiver Einsatz kann sich positiv auf die Wundheilung, die Lymphödementwicklung sowie auf die Reduktion des Phantomschmerzes auswirken. Hier sollte in enger Zusammenarbeit mit dem Physiotherapeuten agiert werden, um mit dem Klienten Bewegungen zu erarbeiten, die ihm bei der Bewältigung seines Alltags von Nutzen sind. Spiegeltherapie In der Behandlung des Phantomschmerzes erfreut sich zurzeit die Spiegeltherapie (Abb. 31.2) großer Popularität. Trotz der weiten Verbreitung der Methode besteht für ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Reduktion von Phantomschmerzen nur eine sehr beschränkte Evidenz (Barbin et al. 2016; Aternali und Katz 2019; Rothnagel et  al. 2018). Studien unter Einsatz moderner bildgebender Verfahren (funktionelles MRI) zeigen allerdings bei Patienten mit klinischer Verbesserung unter Spiegeltherapie anatomische Veränderungen in den entsprechenden Hirnregionen (Foell et al. 2013). Prinzip  Der Stumpf wird hinter einen aufgestellten Spiegel gelegt. Der Klient sieht im Spiegel das Spiegelbild der anderen Extremität

Abb. 31.2  Spiegeltherapie (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

356

und erhält dadurch die Illusion, dass die andere Extremität noch besteht. Bis diese Illusion im Gehirn entsteht, können einige Minuten vergehen. ­Danach können im Spiegeltraining verschiedene Bewegungen ausgeführt werden. Vorbereitung  Klienten über die Spiegeltherapie aufklären und die Durchführung erklären. • Auf der intakten Seite, die gespiegelt wird, alle Merkmale abnehmen (z. B. Uhr, Muttermale abdecken, …), damit es bei der Spiegelung nicht irritiert. • Schaffen einer ruhigen Atmosphäre. • Spiegel mittig zum Klienten ausrichten. • Der Spiegel sollte so groß sein, dass er die komplette betroffene Seite des Klienten verdeckt. Durchführung  Zu Beginn sollte der Klient sich langsam und konzentriert im Spiegel betrachten. Er soll das Gefühl bekommen, nicht eine Spiegelung, sondern seine Extremität zu sehen. Der Therapeut kann den Klienten dabei unterstützen, indem er z.  B. mit Igelrollen auf beiden Seiten rollt (auf gleicher Höhe bis zum Stumpf). Ob das nötig ist, muss individuell entschieden werden. Sagt der Klient, dass er nun das Gefühl habe, er schaue auf seine Extremität, kann mit verschiedenen Übungen begonnen werden. Ziel der ersten Einheiten ist es, ein auf den Klienten zugeschnittenes, individuelles Behandlungsprogramm zusammenzustellen. Dazu werden verschiedene Übungen ausprobiert, und es wird mit dem Klienten besprochen, welche einen positiven Effekt auf die Phantomschmerzen hatten. Die Übungen gehören zu verschiedenen Kategorien und sollten nacheinander ausprobiert werden: 1. Motorische Übungen: leichte Bewegungen mit der Extremität. Die Übungen mit Finger oder Zehen sollten genau aufgeschrieben wer-

S. Heizmann

den, damit sie der Klient zu Hause gut nachvollziehen kann. 2. Sensible Reize: Arbeit z. B. mit Bürsten, Igelbällen, Frotteetüchern oder Körnerbädern. 3. Motorische Übungen mit Gegenständen: Hier können z.  B.  Kugeln in eine Schüssel einsortiert oder Knetübungen gemacht werden. 4. Imaginationsübungen: Eine einfache motorische Bewegung, die der Klient als angenehm empfindet, wird mehrfach im Spiegeltraining wiederholt. Er soll sich das Spiegelbild gut einprägen. Anschließend schließt er die Augen und wiederholt die Übung in Gedanken. Diese Übung fordert ein hohes Maß an Konzentration und ist nicht für jeden Klienten geeignet. Mit den als angenehm empfundenen Übungen wird nun ein Übungsprogramm für den Klienten erstellt. Vor Beendigung der Spiegeltherapiesitzung sollte der Klient auf das Ende der Übung und die Wegnahme des Spiegels hingewiesen werden, damit er nicht unvorbereitet wieder mit der Realität des Stumpfes konfrontiert wird. Der Klient kann dazu den Blick vom Spiegel abwenden und in den Raum blicken, wenn der Therapeut den Spiegel wegnimmt. Als Abschluss der Einheit folgt eine Reflexion (Wie ging es mir während der Durchführung, was war angenehm/unangenehm?) und eine Evaluation eingeleitet (z.  B.  VAS-Skala: Wie stark sind die Phantomschmerzen aktuell im Vergleich zu vorher?). Behandlungsdauer  Ziel ist es, dass der Patient die Spiegeltherapie selbstständig zu Hause durchführt. Täglich sollte er mindestens einmal die Übungen währen 10–15  min durchführen. Die Spiegeltherapie sollte insgesamt mindestens während 4 Wochen regelmäßig durchgeführt werden, um eine Beeinflussung der Phantomschmerzen durch das Training zu erreichen. Wie lange dieses Programm durchgeführt wird, hängt vom Erfolg und der Motivation des Klienten ab.

31 Amputation

Voraussetzungen  Eingeschränkte Möglichkeiten zur Kommunikation und kognitive Einschränkungen stellen eine Kontraindikation dar. Der Sinn des Programmes muss dem Klienten verständlich gemacht werden können, denn die richtige Durchführung erfordert viel Eigeninitiative und Konzentration. • Zustand der nicht betroffenen Extremität: Die Extremität, die gespiegelt werden soll, sollte gut beweglich sein. Zudem sollte sie nicht schmerzhaft sein, damit diese S ­chmerzen nicht auf den Stumpf übertragen ­werden. • Da die Spiegeltherapie visuell arbeitet, ist sie bei einer Einschränkung des Visus möglicherweise nicht durchführbar. • Psychische Belastungen/Erkrankungen sind ebenfalls eine Kontraindikation. Die Konfrontation mit der verlorenen Extremität kann Emotionen auslösen und psychische Erkrankungen triggern. • Bei Patienten mit ausgeprägtem Teleskopeffekt scheint die Spiegeltherapie kaum wirksam zu sein (Foell et al. 2013). Weitere unterstützende Möglichkeiten in Bezug auf Schmerzen sind in Kap. 34 aufgeführt. Beispiel für das Ausfüllen des Tagebuchs zur Spiegeltherapie  Das Beispiel in Abb.  31.3 bezieht sich auf eine Vorderarmamputation unterhalb des Ellenbogens.

357

Wichtige Hinweise für die Spiegeltherapie

• Übungen sollten immer unterhalb der Schmerzgrenze durchgeführt werden. Das Bewegungsausmaß und die Geschwindigkeit der Übungen sind daher individuell anzupassen, auch in Abhängigkeit von der Tagesform. • Vegetative Entgleisungen wie Schwin­ del oder Übelkeit können vor allem zu Beginn der Spiegeltherapie auftreten. • Die emotionale Komponente für den Klienten ist unbedingt zu beachten. Er wird unmittelbar wieder mit seiner „verlorenen gegangenen“ Extremität konfrontiert. Das kann Gefühle wie Wut, Trauer, Angst oder depressive Verstimmung hervorrufen. • Der Klient wird dazu ermuntert, in einem Tagebuch seine Erfahrungen mit der Spiegeltherapie festzuhalten (s. unten). • Auch wenn der Klient dazu angehalten ist, das Training in erster Linie zu Hause zu absolvieren, ist es wichtig, dass der Therapeut in regelmäßigen Abständen die Durchführung überprüft und das Therapietagebuch mit dem Klienten bespricht. • Während der Behandlung sollte nur das Nötigste gesprochen werden. Jede Ablenkung kann die Illusion im Spiegel für den Klienten zerstören.

S. Heizmann

358 Spiegeltherapietagebuch von: Müller, Joachim Tag Datum Uhrzeit Übungen Motorische Übungen Handfläche auf den Tisch legen. Wird zur Übung angehoben:

Woche des Therapieprogramms: 5. Woche Mo 13.01.2020 08:00 Übung 1, 2, 3, 4

1. Extension/ Flexion im Handgelenk 2. Faust ballen und wieder Iösen Hand anheben, Handinnenfläche zeigt in Richtung Spiegel 3. Handfläche Richtung Spiegel: Finger abduzieren/ adduzieren 4. Hakengriff und wieder Finger strecken Übungen Sensible Reize 1. Rollen eines lgelballs 2. Mit Fingerspitzen übe Frottee streichen Übungen Mot. Übungen mit Gegenständen 1. Geldmünzen, die auf dem Tisch liegen, mit der Hand einsammeln 2. Mit einer Schnur Buchstaben formen (mit den Langfingern) Übungen lmaginationstraining 1. Vorstellung Faustschluss 2. Vorstellung Hakengriff Wie deutlich wurde die gespiegelte Seite wahrgenommen?

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 0 = gar nicht 10 = sehr deutlich Stärke des Phantomschmerzes am Ende der Übungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 0 = keine Schmerzen 10 = sehr starke Schmerzen Bemerkungen (zusätzliche/ weniger Medikamente, allgemeines Empfinden)

Di Mi Do 14.01.2020 15.01.2020 15:30 9:00 Übung 1 Übung 1, 2 und 3 und 3

Übung 1 und 2

Übung 1

Übung 1 und 2

Übung 1 und 2

Übung 1

Übung 1

Übung 1

Keine Übung

Übung 1

9

2

5

2

7

4

Gut! Keine Medi

nicht gut, zusätzl. Medi

Besser, zusätzl. Medi

Fr

Sa

So

Abb. 31.3  Beispiel für das Ausfüllen des Tagesbuchs. (Blankoversion als Download verfügbar)

Literatur Zitierte Literatur Aternali A, Katz J (2019) Recent advances in understanding and managing phantom limb pain. F1000Research 2019, 8. Download: https://doi.org/10.12688/ f1000research.19355.1 (Zugriff am 21.07.2023) Barbin J et al (2016) The effects of mirror therapy on pain and motor control of phantom limb in amputees: a systematic review. Ann Phys Rehabil Med 59:270 Corves A (2011) Wenn die fehlende Hand schmerzt, Sept. 2011. Download: https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/fuehlen/wenn-­die-­fehlende-­hand-­schmerzt (Zugriff am 21.07.2023) Foell J et al (2013) Mirror therapy for phantom limb pain: Brain changes and the role of body representation; European Journal of Pain 18:729–739 Greitemann B et al (2019) Rehabilitation nach Majoramputation an der unteren Extremität. Leitlinie eines speziellen Rehabilitationskonzeptes. Download: https:// register.awmf.org/assets/guidelines/033-044l_S2k_ Rehabilitation_Majoramputation-untere_Extremitaet_2019-09_01.pdf (Zugriff am 21.07.2023) Koller T et  al (2015) Zweipunktdiskrimination bei Phantomschmerzen, Mai 2015. Download: https:// www.researchgate.net/publication/275956786_Zweipunktediskrimination_bei_Phantomschmerzen (Zugriff am 21.07.2023)

Mosch B et al (2023) Phantomschmerz – Phänomenologie, kortikale Veränderungen und Therapie; MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 27:153–159. Thieme Verlag Stuttgart Ol H et al (2018) Mirror therapy for phantom limb and stump pain: a randomized controlled clinical trial in landmine amputees in Cambodia. Scand J Pain 18(4):603–610. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30207289/ (Zugriff am 21.07.2023) Rothnagel A et al (2018) Traditional and augmented reality mirror therapy for patients with chronic phantom limb pain (PACT study): results of a three-group, multicentre single-blind randomized controlled trial. Clin Rehabil 32:1591. https://doi.org/10.1177/0269215518785948 (Zugriff am 21.07.2023)

Internetadressen Behandlungsleitfaden Spiegeltherapie Phantomschmerz: http://spiegeltherapie.com/behandlungsleitfaden-­ protokoll-­spiegeltherapie-­phantomschmerz/ (Zugriff am 21.07.2023) Informationen zur Brustrekonstruktion nach Brustkrebs und Adressen zur fachlichen Beratung: https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/krebsarten/brustkrebs/leben-mit-brustkrebs/ brustrekonstruktion.html (Zugriff am 21.07.2023)

Arthralgie und Myalgie

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Sabrina Heizmann

32.1 Definition und Terminologie Die Endung „-algie“ kommt von altgr. algos und bedeutet Schmerz. Arthralgie bezeichnet Gelenkschmerz und MyalgieMuskelschmerz.

32.2 Bedeutung und Prävalenz In der Onkologie sind Arthralgien und Myalgien ein häufiges Problem. Sie treten als sog. paraneoplastisches Syndrom auf (Abschn.  3.2), selten auch als Zeichen einer Skelettmetastasierung. Meist sind sie allerdings Folge der medikamentösen Tumorbehandlung mit sog. Aromatasehemmern (= Aromataseinhibitoren, abgekürzt AI) (Abschn. 11.5.2). Diese durch AI ausgelösten Arthralgien werden abgekürzt als AIA bezeichnet. Auch andere tumorwirksame Medikamente lösen gelegentlich Arthralgien und Myalgien aus, so die Tyrosinkinasehemmer (z.  B. eingesetzt zur Behandlung der chronisch myeloischen Leukämie) und verschiedene therapeutisch wirksame Antikörper (Kap. 11). Wegen ihrer großen praktischen Bedeutung behandelt dieses Kapitel in erster Linie die AIA. AI werden vor allem in der adjuvanten Situation (Abschn.  8.4.1) bei postmenopausalen Frauen mit Brustkrebs eingesetzt. Sie nehmen S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

diese Medikamente in der Regel während 5 Jahren ein. 35–50 % dieser Patientinnen leiden während der Behandlung unter Symptomen von AIA (Roberts et al. 2017)! cc Die damit verbundenen Muskel- und Gelenkbeschwerden müssen vom behandelnden Team unbedingt ernst genommen werden. Sie belasten die Patienten in ihrem Alltag während der Jahre und können sie auf die Dauer zermürben. Patienten nehmen wegen ihrer Gelenkbeschwerden oft die AI nicht wie vorgeschrieben ein oder brechen die Behandlung gar ganz ab. Ein solcher Abbruch der adjuvanten Behandlung ist mit einem hohen Rückfallrisiko verbunden und muss nach Möglichkeit vermieden werden. Dies unterstreicht die Bedeutung einer guten Behandlung der AIA.

32.3 Ursache der AIA Es ist seit Langem bekannt, dass Frauen in den Wechseljahren, in denen die Konzentration der Östrogene deutlich abfällt, häufig unter Gelenkbeschwerden leiden. Es ist deshalb anzunehmen, dass der durch die AI ausgelöste Östrogenmangel an der Entwicklung der AIA ursächlich beteiligt ist. Weshalb niedrige Östrogenkonzentrationen zu Gelenkbeschwerden führen, ist allerdings noch

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_32

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S. Heizmann

360

unklar. Möglicherweise spielen dabei Zytokine (Abschn. 2.6) eine wichtige Rolle: Es ist bekannt, dass bei rheumatischen Erkrankungen höhere Östrogenspiegel die Produktion von entzündungsfördernden Zytokinen hemmen und umgekehrt niedrige Spiegel die Produktion dieser Zytokine steigern. Entzündungsfördernde Zytokine sind auch erhöht bei Übergewicht, und übergewichtige Patientinnen zeigen ein erhöhtes Risiko, eine AIA zu entwickeln. Körperliche Aktivität dagegen reduziert die Wirkung dieser Zytokine – möglicherweise ein Grund für den Nutzen von Bewegungstraining bei AIA (Abschn. 32.7.3).

32.4 Symptome und Verlauf 32.4.1 Arthralgie Typische Symptome der AIA  • Gelenke sind symmetrisch befallen mit Schmerzen und morgendlicher Steifigkeit. • Betroffen sind v.  a. Hände und Knie, etwas seltener auch Füße, Hüften und Rücken. • Leichte Schwellung der Weichteile über den Gelenken. • Verminderte Beweglichkeit, z.  B. kompletter Faustschluss nicht mehr möglich. • Selten Karpaltunnel-Symptomatik, Ursache unklar (Sestak et al. 2009). Aufgrund der vorwiegenden Lokalisation an den Handgelenken sind feinmotorische Tätigkeiten wie z.  B.  An-/Ausziehen, Schreiben und Handarbeit erschwert.

32.4.2 Myalgie Die Patienten klagen über Muskelkrämpfe, Muskelsteifheit oder -schwere sowie Verspannungen. Die Symptome können sich auf einzelne Muskeln oder Muskelgruppen beschränken oder diffus am ganzen Körper auftreten.

32.5 Folgestörungen Bei starken Beschwerden ist auch das Berufsleben betroffen, v.  a. wenn im Beruf feinmotorische Tätigkeiten im Vordergrund stehen, wie z. B. beim Friseur, Floristen, Schneider oder wenn schwere körperliche Arbeit zu leisten ist, z. B. von Bauarbeitern oder Landwirten. Sozialer Rückzug ist oft eine Folge der chronischen Schmerzen.

32.6 Diagnostik Entsprechend Kap.  34 wird eine ausführliche Schmerzanamnese in Bezug auf die Arthralgien und Myalgien aufgenommen mit Fragen nach Lokalisation, Schmerzcharakter, Häufigkeit, verstärkenden Faktoren und möglichen Begleitsymptomen. Bezüglich der Arthralgie ist es wichtig, keine anderen Gelenkserkrankungen zu übersehen. Eine ausführliche Differenzialdiagnostik ist daher unerlässlich. Der Arzt sollte hinzugezogen werden, wenn bei Arthralgien zusätzlich folgende Veränderungen auftreten:

Typischer Verlauf der AIA  • Beginn meist innerhalb der ersten 2 Monate • typische Entzündungszeichen um das Geder AI-Behandlung, Karpaltunnel-Symptomalenk (Rötung, Überwärmung, starke tik erst später. Schwellung und erhebliche Bewegungsein• Besserung innerhalb von 2 Wochen nach Abschränkung), setzen der AI. • Muskelatrophien um das schmerzende Gelenk • Oft spontane Besserung innerhalb von 18 und/oder Kontrakturen, Monaten, auch bei Weiterführung der AI-­ • Abweichung des Gelenks von seiner physioBehandlung. logischen Achse.

32  Arthralgie und Myalgie

361

32.6.1 Arthralgie Neben einer Aufnahme der Betätigungsanliegen, die sich für den Klienten in seinem Alltag mit Arthralgie und Myalgie zeigen (Kap.  26), sollte auch eine gezielte funktionelle Befundung der Arthralgie und Myalgie erfolgen. Gelenkbeweglichkeit nach der Neutralnullmethode Die passive und aktive Beweglichkeit eines Gelenks wird mit einem Goniometer nach der Neutralnullmethode bestimmt und dokumentiert. Für jede Gelenkbewegung sind Normwerte definiert. Die neutrale Stellung des Gelenks entspricht der Nullstellung (Abb. 32.1). Das Goniometer vollführt mit einem seiner Schenkel den gleichen Bewegungsausschlag wie das Gelenk (Abb. 32.2). Der Winkel ist dann auf dem Goniometer abzulesen. Die Ergebnisse der Messung werden in einer Tabelle festgehalten. Tab.  32.1 zeigt ein Dokumentationsbeispiel. cc Die Neutralnullmessung kann von Therapeut zu Therapeut zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Daher sollte immer derselbe Therapeut die Messung vornehmen. Greifformen Neben der Messung der Gelenkbeweglichkeit sollte dokumentiert werden, welche Greifformen dem Klienten möglich sind (z.  B.  Hakengriff,

Abb. 32.2 Messung mit dem Goniometer: Ulnarabduktion im Handgelenk (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung) Tab. 32.1  Beispiel einer Gelenkmesstabelle nach der Neutralnullmethode an der oberen Extremität Gelenk (Bewegung) Ellenbogengelenke (Extension – Flexion) Radioulnargelenke (Pronation – Supination) Handgelenk (Extension – Flexion) Handgelenk (Radialabduktion – Ulnarabduktion) Daumensattelgelenk (Extension – Flexion) Daumensattelgelenk (Abduktion – Adduktion) IP-Gelenk Daumen (Extension – Flexion)

Rechts in ° 5 0 150

Links in ° 5 0 150

Faustschluss, Spitzgriff, Schlüsselgriff, Lumbrikalgriff) (Abb. 32.3). Zusätzlich empfiehlt sich eine Dokumentation mit Bildern und/oder Video (Video v. a. bei Bewegungen). Die Dokumentation von Bewegungen und Griffen durch Bilder/Videos kann den Klienten sehr motivieren, da er seine Fortschritte dokumentiert sieht.

Abb. 32.1  Messung mit dem Goniometer: Nullstellung im Handgelenk (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. ­Genehmigung)

Fingerkuppenhohlhandabstand Ist der Faustschluss inkomplett, kann der Fingerkuppenhohlhandabstand mit einem Instrument (Fingerkuppenhohlabstandsmesser oder Maßstab) gemessen und dann dokumentiert werden (Abb. 32.4).

S. Heizmann

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a

b

d

c

e

Abb. 32.3 (a-e) Greifformen. (a) Lumbrikalgriff, (b) Faust, (c) Schlüsselgriff, (d) Spitzgriff, (e) Hakengriff (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

Extension der Langfinger Die Hand des Klienten wird mit dem Handrücken auf eine Tischplatte gelegt. Der Klient soll die Finger strecken, sodass sie den Tisch berühren. Ist dies nicht möglich, wird der Abstand von jedem Langfinger zur Tischplatte ausgemessen.

32.6.2 Myalgie

Abb. 32.4  Messinstrument für den Fingerkuppenhohlhandabstand

Neben der oben erwähnten Schmerzanamnese (s. auch Kap. 34) kann der Arzt weitere Untersuchungen vornehmen. Dazu gehören labor-

32  Arthralgie und Myalgie

chemische Untersuchungen, bildgebende Verfahren und auch die Muskelbiospie. Allerdings sind diese Untersuchungen erst bei begründetem ­Verdacht auf eine andere Ursache als eine AIA sinnvoll. Andere Erkrankungen, die mit Myalgien einhergehen, sind z. B. das Fibromyalgie-­ Syndrom oder die Polymyalgia rheumatica.

32.7 Behandlung – Übersicht 32.7.1 Allgemeine Maßnahmen Wenn sich anhand der Diagnostik herauskristallisiert hat, dass Arthralgie und Myalgie auf ein tumorwirksames Medikament zurückzuführen sind, stehen Aufklärung, Beratung und ein adäquates und individuelles Management der Beschwerden an erster Stelle. In der Beratung sollten die positiven Auswirkungen von körperlicher Aktivität (Abschn. 32.7.3) und einer Reduktion von Übergewicht (Abschn. 32.3) besprochen werden. cc Wichtig für die Beratung der Klienten: Die Symptome der AIA sind zwar teils gleich wie bei einer rheumatoiden Arthritis (chronische Polyarthritis). Im Gegensatz zu dieser führt die AIA aber nie zu einer Zerstörung der Gelenke. Nach Absetzen der AI bleibt kein Schaden an den Gelenken zurück! Das Management sollte verschiedene angepasste Maßnahmen umfassen. Viele der im Folgenden genannten Maßnahmen sind leider nicht evidenzbasiert, da gute entsprechende Studien noch fehlen.

32.7.2 Medikamentöse Behandlung Durch Analgetika (Schmerzmittel) kann gelegentlich eine Schmerzlinderung erreicht werden. Bei schweren Verläufen wird oft der Wechsel auf einen anderen AI versucht.

363

32.7.3 Körperliche Aktivität, Bewegungs- und Krafttraining Klienten mit Gelenkschmerzen tendieren dazu, sich körperlich zu schonen. Dies ist bei AIA kontraproduktiv. cc Es ist wissenschaftlich gut belegt, dass körperliche Aktivität die Symptome von AIA dauerhaft günstig beeinflusst. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Ergotherapeuten, ihre Klienten entsprechend zu motivieren. In einer methodisch sehr guten randomisierten Studie führte aerobes Training (z.  B. raschem Gehen) während 150 min/Woche kombiniert mit einem kontrollierten Krafttraining 2-mal/Woche bereits nach 3 Monaten zu einer deutlichen Reduktion der Gelenkschmerzen. Diese Besserung hielt während der Dauer der Studie von einem Jahr an. In der körperlich nicht aktiven Kontrollgruppe blieben die Schmerzen während der Studiendauer unverändert (Irwin et al. 2015).

32.7.4 Sonstige Maßnahmen Akupunktur führt bei AIA nicht zu einer signifikanten Reduktion der Beschwerden (Chien et al. 2015).

32.8 Die ergotherapeutische Behandlung 32.8.1 Alltag des Klienten Die klientenspezifischen Ziele, die sich aus der Beeinträchtigung durch Arthralgien und Myalgien ergeben, sollten alltagsnah formuliert und dokumentiert werden. Näheres dazu in Kap. 26.

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Mögliche Interventionen umfassen folgende Bereiche: • Erlernen von Kompensationsstrategien • Ausübung der klientenspezifischen Alltagstätigkeiten unter Einbezug der Gelenkschutzregeln • Einweisung und Anpassung von geeigneten Hilfsmitteln (z.  B. mit dem Ziel, dass der Klient weniger Kraft für diese Tätigkeiten aufwenden muss)

32.8.2 Gelenkschutz Auch wenn die Beschwerden reversibel sind und dem Gelenk keinerlei Schaden droht, ist es sinnvoll, die Klienten im Bereich des Gelenkschutzes zu beraten. Ziel dieser Gelenkschutzregeln oder -tipps ist eine möglichst belastungsadäquate und kraftsparende Einwirkung auf die Gelenke. Wichtig bei der Vermittlung der Regeln durch den Therapeuten ist jedoch, dass diese nicht als Nocebos (Kap. 23) wirken: Der Klient soll keine Angst vor Bewegung bekommen oder die Regeln als einzige Möglichkeit sehen, Bewegungen auszuführen. Der Gelenkschutz kann ergänzt werden durch Hilfsmittel und Bewegungsübungen. Allgemeine Regeln Für Klienten mit Arthralgien gibt es allgemein gültige Verhaltensregeln, unabhängig von der Ursache der Gelenksproblematik: Grenzen respektieren  Kommt es während einer Tätigkeit zu Schmerzen, sollten diese Schmerzen als Warnsignal ernst genommen werden. Die Tätigkeit sollte dann unterbrochen/gewechselt oder eine Pause eingelegt werden. Beide Hände benutzen  Im Alltag nutzen wir oft nur eine Hand, um beispielsweise den Topf vom Herd zu nehmen. Um die Krafteinwirkung auf die Gelenke zu minimieren, sollten beim Heben und Tragen schwerer Gegenstände beide Hände genutzt und so das Gewicht verteilt werden. Zudem sollte das Gewicht möglichst nah am Körper getragen werden.

S. Heizmann

Kraft einsparen  Generell gilt: Statt tragen besser rollen. Eine schwere Reise- oder Einkaufstasche sollte durch einen Trolley ersetzt werden. Beachtung der Hebelwirkung! Belastung auf die großen Gelenke verteilen  Nutzung von größeren Gelenken kann kleinere Gelenke entlasten. Dies wird beispielsweise mit einer Griffverlängerung für den Kamm erreicht: Die Bewegung beim Kämmen geschieht dann nicht mehr über das Handgelenk, sondern wird durch Bewegungen aus dem Ellenbogen- und Schultergelenk übernommen. Dicke Griffe  Griffverdickungen für den Stift oder das Besteck erleichtern den Alltag einiger Klienten. Dabei müssen nicht zwangsläufig alle Griffe mit einer Verdickung ausgestattet werden. Daran stören sich viele Klienten, da es nach „kranksein“ aussieht. Stattdessen könnte der Klient darauf hingewiesen werden, beim Ankauf von Besteck und Geräten auf dickere Griffe zu achten, beispielsweise beim Kauf eines Spargelschälers. Es gibt auch modisches Besteck, das bewusst mit einem dicken Griff als Blickfang arbeitet. Achsengerechtes Arbeiten  Gelenke sollten so achsengerecht wie möglich belastet werden. Eine Hilfe für eine achsengerechte Stellung des Handgelenks bei Tätigkeiten im Alltag stellt eine Linie dar, die vom Mittelfinger über den Handrücken zur Mitte des Unterarms mit einem Stift eingezeichnet wird. Knickt die Linie bei Tätigkeiten, ist die Haltung nicht achsengerecht. Diese Übung kann Klienten sensibilisieren und dabei helfen, achsengerechtes Arbeiten (z.  B. im Bereich des Handgelenkes) einzutrainieren. Körperhaltung  Die Körperhaltung sollte nicht über einen längeren Zeitraum unverändert beibehalten werden. Möglichst häufige Bewegung ist wichtig. Besonders bei einem Büroarbeitsplatz ist zu überlegen, wie Bewegung in die Büroalltag gebracht werden kann, z. B. mit dem Gang zum Drucker im Nachbarraum, mit einem Pausenmanagement, das Bewegung enthält, usw.

32  Arthralgie und Myalgie

Besprechung und Planung mit dem Therapeuten helfen dem Klienten, zu erlernen, wie er seine Gelenke im Alltag schützen kann. Der Therapeut beschreibt, was mit einer Regel gemeint ist, und der Klient sucht dazu passende Beispiele aus seinem Alltag. Gemeinsam wird dann nach einer entsprechenden Maßnahme gesucht. Beispiel

In der Therapie wird die Regel „Grenzen respektieren“ besprochen. Frau K. erzählt, dass sie beim Zubereiten des Kartoffelsalats, für den sie in der Familie sehr geschätzt wird, Schmerzen in den Händen bekommt. Es wird analysiert, dass diese Schmerzen im Bereich der Daumengelenke (MCP I und CMC I) auftreten. Die Grenze respektieren bedeutet, dass Frau K. eine Pause machen sollte, um später mit dem Kartoffelschälen weiterzumachen. Frau K. wendet ein, da würde sie ja nie fertig werden  – aber die Schmerzen würden sie schon belasten. Sie wisse nicht, wie lange sie den Kartoffelsalat noch zubereiten könne. Mögliche Maßnahmen: Der Therapeut schlägt Frau K. vor, dass sie eine Pause machen oder einer anderen Tätigkeit nachgehen solle. Welche Tätigkeiten möchte sie noch verrichten, bevor der Besuch kommt (z.B. Staubsaugen)? Diese andere Tätigkeit entlastet die Daumengelenke und bringt sie in Bewegung nach starrer Haltung. Frau K. versucht dies demnächst (in den nächsten 2 Wochen) umzusetzen. Sie gibt Rückmeldung, ob diese Maßnahme für sie geeignet war. ◄ Individuelle Gelenksschutzberatung Mit dem Klienten können verschiedene Stationen im Alltag besprochen und dokumentiert werden. Der Klient soll sich bis zum nächsten Termin zu Hause Gedanken machen, welche Tätigkeiten durch die Beschwerden beeinträchtigt sind. Dort fallen ihm erfahrungsgemäß mehr Probleme auf als im Therapieraum. Gemeinsam können dann annehmbare Lösungen gesucht werden. Die fol-

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gende Aufzählung ist als Anregung für den Therapeuten gedacht: Bei der Körperpflege  • Fußwaschbürste • Griffverlängerungen an Kamm/Bürste • Strumpfanzieher • Wasch- und Eincremehilfe: Tool mit langem Griff und verschiedenen Bürsten. Auch eine Lackiererrolle ist z.  B. denkbar, mit der die Creme am Unterschenkel o. a. aufgetragen wird. In der Küche (Abb. 32.5)  • Rutschfeste Unterlage: Gegenstände gleiten nicht über die Arbeitsplatte, daher wird durch eine rutschfeste Unterlage Kraft gespart • Vakuumöffner • Flaschenöffner/Hebelöffner • Winkelmesser • Griffverdickungen für Besteck • Schäler und Messer sollten immer scharf sein, damit beim Schneiden möglichst wenig Kraft aufgewendet werden muss.

Abb. 32.5  Oben, von links nach rechts: Hilfe für die Handhabung von Reißverschlüssen, Gemüseschäler mit verdicktem Griff, Wäscheklammer, Nussknacker als Flaschenöffnerhilfe, Flaschenöffnerhilfe, Schraubglasöffnerhilfe, Winkelmesser; mittig: Flaschenöffnerhilfe. Unten: Anwendung einer Knöpfhilfe (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

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S. Heizmann

Beim Einkaufen  • Trolley, denn besser rollen statt tragen • Lieber öfter einkaufen gehen. Hierbei hat man Bewegung und überlastet sich nicht, indem man einen großen Einkauf transportieren muss • Fürs Auto: niedrige Laderampe • Einkaufstaschen mit einem dicken Längsgriff Am Schreibtisch und Arbeitsplatz  • Alle 20 min die Position wechseln • Ergonomische Maus • Ergonomische Tastatur • Stifte: auf leichtgängige Stifte achten wie z. B. Tintenroller • Dicke Stifte/Griffverdickungen Bei Bewegung und Sport  • Eigene Grenzen respektieren und nicht in den Schmerz hineintrainieren Umgang mit den Regeln/Tipps Der Ergotherapeut soll den Klienten in der Umsetzung dieser Regeln unterstützen. Eine Überschüttung mit allen Regeln führt allerdings eher dazu, dass sich der Klient nicht mehr mit ihnen befasst. Daher sollte der Therapeut zu Beginn zwar alle Regeln mit dem Klienten besprechen, dann aber mit ihm die Umsetzung von jeweils nur einer Maßnahme erarbeiten, wenn vom Klienten gewünscht.

32.8.3 Hilfsmittel und Bewegungsübungen Verschiedene Hilfsmittel sind bereits unter „Allgemeiner Gelenkschutz“ und „Individuelle Gelenkschutzberatung“ (Abschn.  32.8.2) aufgeführt. Es steht eine Vielzahl an Hilfsmitteln im Bereich des Gelenkschutzes zur Verfügung. Ihre Aufzählung an dieser Stelle ist nicht sinnvoll. Schließlich soll es darum gehen, den Klienten bei seinem Betätigungsanliegen zu unterstützen und nicht zu überlegen, welches Hilfsmittel ihm noch fehlt. Auch entwickeln viele Klienten ein großes Improvisationstalent, um sich bei verschiedenen Tätigkeiten selbst zu helfen.

Abb. 32.6  Rapsbad (Foto: Marcel Heinzmann, mit frdl. Genehmigung)

Bei Bewegungsübungen sind Übungen ohne Überlastung vorzuziehen. Bewegung tut den meisten Klienten gut und fördert zudem die Bildung von Synovialflüssigkeit. Das Gelenk wird sozusagen geschmiert. Das Bewegen in Körnern, z.  B. in Raps (ob gekühlt oder gewärmt) (Abb. 32.6), bietet dabei vielen Klienten ein entspanntes Bewegungsprogramm für zu Hause.

32.8.4 Manualtherapeutische und thermische Anwendungen Auch leichte Traktion oder Kompression an den Gelenken empfinden manche Klienten als angenehm. Bei Muskelverspannung im schmerzhaften Bereich kann der Klient zur leichten Massage der betroffenen Muskulatur angeleitet werden. Wärme- oder Kälteanwendungen nehmen manche Klienten als schmerzlindernd wahr. Möglich sind hier heiße Rolle, Paraffinbad, küh-

32  Arthralgie und Myalgie

les/warmes Handbad u. a. Diese Interventionen kann der Klient gut im Eigentraining ausführen, wenn sie ihm guttun.

32.8.5 Umgang mit Schmerz Trotz aller beschriebenen Maßnahmen haben die betroffenen Klienten oft Schmerzen, die sie in unterschiedlicher Ausprägung bei der Alltagsbewältigung behindern. Inwiefern der Ergotherapeut das Schmerzerleben begleiten kann, ist in Kap. 34 beschrieben.

Literatur Zitierte Literatur Chien TJ et al (2015) Acupuncture for treating aromatase inhibitor–related arthralgia in breast cancer: a systematic review and meta-analysis. J Altern Complement Med 21:251

367 Irwin ML et al (2015) Randomized exercise trial of aromatase inhibitor-induced arthralgia in breast cancer survivors. J Clin Oncol 33:1104 Roberts K et  al (2017) Management of aromatase inhibitor induced musculoskeletal symptoms in postmenopausal early breast cancer: a systematic review and meta-analysis. Crit Rev Oncol/Hematol 111:66 Sestak I et al (2009) Aromatase inhibitor–induced carpal tunnel syndrome: results from the ATAC trial. J Clin Oncol 27:496

Weiterführende Literatur Tenti S et al (2020) Aromatase inhibitors-induced musculoskeletal disorders: current knowledge on clinical and molecular aspects. Int. J Mol Sci 21:5625

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Fatigue Sabrina Heizmann und Thomas Kroner

33.1 Definition und Terminologie Das Fatigue-Syndrom, als Fatigue oder auch Erschöpfungssyndrom betitelt, kann als begleitendes Symptom bei akuten und chronischen Erkrankungen auftreten. Beispiele dafür sind Grippe, Covid-19, Multiple Sklerose oder chronische Herz- und Lungenkrankheiten. Für die spezielle Fatigue bei Krebskranken haben sich Begriffe wie tumorassoziiertes Erschöpfungssyndrom oder Cancer-related Fatigue (CRF) etabliert. cc Definition  Fatigue bei Krebskranken wird definiert als ein quälendes, andauerndes Gefühl von körperlicher, emotionaler und/oder kognitiver Müdigkeit und Erschöpfung. Die Beschwerden stehen dabei in keinem Verhältnis zu vorangehenden Aktivitäten. Anders als bei normaler Müdigkeit und Erschöpfung tritt nach Ruhephasen oder Schlaf keine oder nur eine geringe Besserung ein. Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/ 10.1007/978-­3-­662-­64230-­6_33]. S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

Da die CRF oft nicht erfragt wird, bleibt sie bei manchen Klienten unentdeckt. Dabei ist es wichtig, eine CRF frühzeitig zu diagnostizieren, um ihren Symptomen und der damit einhergehenden Leistungseinbuße im Alltag bis hin zur Berufsunfähigkeit entgegenzuwirken.

33.2 Prävalenz cc Fatigue ist das häufigste und schwerstwiegende Symptom bei Tumorpatienten. Sie beeinträchtigt die Patienten im täglichen Leben deutlich mehr als Schmerzen oder Übelkeit (Vogelzang et al. 1997). Etwa 70–90  % der Krebspatienten zeigen während und nach ihrer Erkrankung Symptome von Fatigue: • Bis 40  % der Patienten beschreiben eine Fatigue bereits bei der Diagnose ihrer Erkrankung, also noch vor Einleitung einer Therapie. • 80–90  % beschreiben Fatigue während der Chemo- und/oder der Radiotherapie. • 15–20 % der langzeitüberlebenden Hodgkin-­ Patienten leiden auch 5 Jahre nach Therapieende noch an Fatigue.

T. Kroner Winterthur, Schweiz © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_33

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S. Heizmann und T. Kroner

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33.3 Ursache und Risikofaktoren Die Ursachen der tumorbedingten Fatigue sind komplex und noch nicht vollständig geklärt. Am ehesten ist die CRF  – wie z.  B. auch der tumorbedingte Gewichtsverlust – als sog. paraneoplastisches Syndrom (Abschn.  3.2) zu verstehen: Tumoren führen zu einer Aktivierung des Immunsystems, dabei werden von Immunzellen verschiedene Botenstoffe, sog. Zytokine, freigesetzt. Auch bei Grippe und anderen Infektionskrankheiten werden im Rahmen der Immunantwort vermehrt Zytokine ausgeschüttet, und auch diese Krankheiten gehen einher mit vermehrter Müdigkeit und Erschöpfung. Dazu passt auch, dass unter den medikamentösen Tumortherapien die Immuntherapien (Checkpointhemmer, Abschn.  11.4) am häufigsten zu Fatigue führen.

Das Risiko, eine schwere Fatigue zu erleiden, ist erhöht bei fortgeschrittenem Tumorstadium und bei Behandlung mit Kombinationen von Chemo- und Radiotherapie. Das Risiko ist ferner erhöht bei vorbestehenden Schlafstörungen und bei Patienten mit wenig körperlicher Aktivität. Unklar ist, ob höheres Alter mit einem erhöhten Risiko verbunden ist. Verschiedene Begleiterkrankungen wie etwa Blutarmut (Anämie) oder Schilddrüsenstörungen können die Symptome einer Fatigue verstärken. Auch psychosoziale Faktoren spielen eine Rolle bei der Ausprägung des Schweregrades einer CRF: Frauen mit Brustkrebs, die in einer stabilen Beziehung leben, haben ein deutlich reduziertes Risiko, schwere Symptome einer Fatigue zu entwickeln (Abrahams et al. 2016). Weitere Faktoren, die die Entwicklung einer tumorassoziierten Fatigue beeinflussen können, zeigt Abb. 33.1.

Tumortherapie Medikamente

Tumor

FATIGUE

Psychologische Faktoren:

Personenbez. Faktoren:

Stress, Angst, Schlafstörungen, Depression

Alter? Geschlect? Vorerkrankungen Kondition

Begleiterkrankungen: Anämie, Infekte, Hormonstörungen, Schmerzen

Mangel an körperlichem Training

Abb. 33.1 Faktoren, die die Entstehung der tumor-assoziierten Fatigue beeinflussen (mit frdl. Genehmigung von U. Heckl)

33 Fatigue

33.4 Symptome und Verlauf Die Beschwerden einer CRF sind komplex mit Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen: • Physisch: Schwäche, reduzierte Leistungsfähigkeit, Kraftlosigkeit, Müdigkeit, vermehrtes Ruhebedürfnis, Schlafstörungen • Kognitiv: Konzentrationsstörungen, Gedächtnislücken • Emotional: Antriebs- und Energiemangel, Lustlosigkeit, Motivationsmangel, Traurigkeit, Angst, Reizbarkeit Ausprägung und Intensität der Symptome sind von Patient zu Patient sehr unterschiedlich. Patienten bemerken oft Symptome der Fatigue bereits Wochen oder Monate, bevor schließlich eine bösartige Erkrankung diagnostiziert wird. Während der Therapie verstärken sich die Symptome in der Regel, nehmen dann aber nach Abschluss der Behandlung innerhalb weniger Wochen rasch ab. Eine gewisse Fatigue kann aber als Langzeitfolge bei bis zu 30 % der Patienten über Monate oder Jahre bestehen bleiben.

33.5 Folgestörungen Die Klienten sind als Folge der CRF sehr erschöpft. Ein Einstieg in den gewohnten Alltag gelingt dadurch nicht oder nur sehr schlecht. Das ist frustrierend für den Klienten, hat er doch die Behandlung abgeschlossen und möchte nun wieder voll am Leben teilhaben. Gefühle der Verärgerung über sich selbst wie „Ich bringe auch nichts zustande“ oder Ängste, ob dieser Zustand von nun an das Leben begleiten wird, verstärken sich. Hat das Umfeld anfangs noch Verständnis für sein Verhalten, so stellen sich nach und nach Unverständnis, Verärgerung und auch Rückzug von außenstehenden Personen ein. Arbeitsunfähigkeit, finanzielle Sorgen und Depression sind mögliche Folgen.

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Beispiel

In einer neueren Untersuchung aus Deutschland an Patienten mit Hodgkin Lymphom (Abschn. 43.2) befanden sich 5 Jahre nach Abschluss der Therapie 84  % der Überlebenden ohne Fatigue, aber nur 57 % der Patienten mit schwerer Fatigue in einem festen Beschäftigungsverhältnis oder in Ausbildung. Insgesamt waren 49  % der Frauen und 36  % der Männer mit Fatigue zum Zeitpunkt nach 5 Jahren arbeitslos (Kreissl und Borchmann 2016). ◄

33.6 Diagnostik 33.6.1 Screening und weiterführende Untersuchungen Fatigue ist ein subjektives Gefühl, sie kann deshalb nicht objektiv erfasst werden – die Erfassung beruht auf der Selbsteinschätzung des Patienten. cc Ein Screening auf das Vorliegen einer Fatigue sollte bei allen Klienten mit einer Tumorerkrankung anlässlich der ersten Konsultation erfolgen und im Verlauf wiederholt werden, unabhängig davon, mit welcher Indikation der Klient zugewiesen wurde. Nur durch eine solche systematische Erfassung ist es möglich, eine Fatigue, die von den Klienten oft verschwiegen wird, rechtzeitig zu erkennen und ggf. zu behandeln. cc Das Screening kann durch die Fragen erfolgen: „Fühlen Sie sich außergewöhnlich müde und/oder schwach?“ oder „Wie müde sind Sie? Wie schwach sind Sie?“ Falls ein Klient die erste Frage bejaht, wird er aufgefordert, den Schweregrad seine Fatigue auf einer Skala von 1–10 zu benennen (1: sehr ge-

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ringe Symptome von Fatigue; 10: maximal vorstellbare Symptome) (Leitlinienprogramm Onkologie 2020). Bei Klienten, die eine Intensität von 4–10 angeben (mittlere bis hohe Intensität), ist eine weitere Abklärung durch ein gezieltes Gespräch oder Fragebogen nötig. Falls der Klient die Themen nicht spontan anspricht, könnten in einem solchen Gespräch etwa folgende Fragen gestellt werden (Blum et al. 2017): • „Sind Sie momentan müde?“ • „Wie intensiv/stark ist zurzeit Ihre Müdigkeit?“ (Angabe mit einer Skala von 0–10) • „Wann beginnt die Müdigkeit, und wie lange dauert sie an?“ (Kurzdauernd? Vorübergehend? Oft? Dauernd?) • „Wie unterscheidet sich die jetzige Müdigkeit in Bezug auf Ausmaß und Art von der Müdigkeit vor Beginn Ihrer Erkrankung?“ • „Wie äußert sich Ihre Müdigkeit körperlich?“ (Ausdauer, Energie, Kraftlosigkeit, Schwäche, müde Beine/Arme/ganzer Körper) • „Beeinflusst die Müdigkeit Ihre Konzentrationsfähigkeit?“ (Aufnahmefähigkeit, Gedächtnis, Fähigkeit, klar zu denken, Schläfrigkeit) • „Wirkt die Müdigkeit stimmungsverändernd?“ (Reizbar? Ungeduldig? Deprimiert? Langeweile? Motivationslosigkeit?) • „Wie beurteilen Sie selbst Ihre Müdigkeit?“ (Normal? Abnormal? Ungewöhnlich? Andere Eigenschaften?) • „In welcher Weise wirkt sich die Müdigkeit auf Ihre tägliche Routine und Ihre täglichen Aktivitäten aus?“ Neben dem Gespräch können auch Fragebögen zur Selbsteinschätzung eingesetzt werden. Von den vielen Instrumenten zur Erfassung der CRF eignen sich für Ergotherapeuten vor allem das Brief Fatigue Inventory (BFI) oder das Multidimensional Fatigue Inventory (MFI). Sie nehmen neben der Erfassung physischer Beeinträchtigungen u. a. Bezug auf die emotionale Dimension (z.  B.  Antrieb). Das BFI erfasst zudem knapp die Arbeitssituation sowie die Be-

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ziehung zu anderen Menschen und die momentan empfundene Lebensfreude des Klienten. Das BFI mit 10 Items oder das MFI mit 20 Items bedingen einen zeitlichen Aufwand von knapp 10 min. Kurze Assessments sollten bei Klienten gewählt werden, deren CRF die kognitiven Fähigkeiten, z.  B. die Konzentrationsfähigkeit, beeinträchtigt. Schmerzen, Schlafstörungen und Ängste können die Symptome einer CRF verschlimmern. Bestehen Schmerzen und Ängste, sollten diese gesondert befundet und in die Therapieplanung mitaufgenommen werden. Weiterführende Informationen dazu in Kap. 26.

33.6.2 Abgrenzung zwischen Fatigue und Depression Zwischen Fatigue und Depression bestehen Überschneidungen, so sind etwa das Gefühl von Schwäche sowie die Antriebslosigkeit typisch für Fatigue wie auch für Depression. Die Unterscheidung der beiden Zustände ist wichtig, da sie unterschiedlich behandelt werden, eine Depression etwa mit spezifischen Medikamenten. Die Abgrenzung ist allerdings gelegentlich schwierig oder unmöglich, da zwischen den beiden Zuständen fließende Übergänge bestehen und sie auch gleichzeitig vorkommen können. Einige Symptome sind trotzdem hilfreich für die Abgrenzung (Leitlinienprogramm Onkologie 2020): • Typisch für Depression (und untypisch für Fatigue) sind ein anhaltendes Gefühl von Wertlosigkeit, unangemessene Schuldgefühle und wiederkehrende Gedanken an den Tod. • Typisch für Fatigue sind eine inadäquate Erschöpfung bereits nach geringer Anstrengung und die fehlende Erholung nach Schlaf oder Ruhepausen. cc Besteht ein Verdacht auf das Vorliegen einer Depression, muss dies dem behandelnden Arzt mitgeteilt werden.

33 Fatigue

33.6.3 Diagnose von behandelbaren Faktoren Verschiedene behandelbare Faktoren können eine Fatigue verstärken. Dazu gehören etwa Blutarmut, Störungen von Hormondrüsen, Mangelernährung, Infektionen und verschiedene Medikationen. Die entsprechenden Untersuchungen werden durch den Arzt durchgeführt.

33.7 Behandlung – Übersicht 33.7.1 Bewegung und Sport Durch zahlreiche Studien ist gut dokumentiert, dass körperliche Aktivität Fatigue bei Krebspatienten reduziert. cc Bewegung und Sport sind die wirksamste Therapie der tumorbedingten Fatigue!

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Ausführlich wird in Kap. 23 auf Sporttherapie eingegangen.

33.7.2 Kognitive Verhaltenstherapie Kognitive Verhaltenstherapie wird im psychoonkologischen Setting zur Behandlung von CRF eingesetzt. Mehrere Studien zeigten ihre Wirksamkeit bei CRF. So erzielte eine niederländische Gruppe mittels einer Verhaltenstherapie bei 54  % ihrer Patienten eine klinisch bedeutende Reduktion der CRF (Gielissen et al. 2006.) Mögliche Therapieschwerpunkte sind: Umgang und Abbau von Stress, Abbau von Ängsten oder Erarbeiten von Strategien im Umgang mit den negativen Gefühlen, die die CRF beim Klienten auslösen. Auch die Kombination mit einem Achtsamkeitstraining zeigt eine positive Wirkung auf die CRF.

Abhängig vom Gesundheitszustand und den Vorlieben des Klienten bestehen viele Möglichkeiten der körperlichen Aktivität  – vom Spazierengehen bis zum Krafttraining. Wichtig ist, dass die Aktivität regelmäßig durchgeführt wird, dem Klienten Freude macht und ihm rasch zu einem Erfolgserlebnis verhilft. Art der Aktivität, Häufigkeit und Intensität sollten individuell im Gespräch zwischen dem Klienten und einem Sport- oder Physiotherapeuten festgelegt werden. Auf Seiten der Klienten mit Fatigue bestehen oft große Hindernisse gegen die Aufnahme von körperlichen Aktivitäten, besonders von „Sport“: Sie sind der falschen Meinung, bei Krebs brauche der Körper „Schonung“, und haben Bedenken, körperliche Aktivität verbrauche zu viel Energie, die ihnen ja eben fehle. Sie sind auch oft nicht gewohnt, sich körperlich zu betätigen, und fühlen sich dazu zu müde und zu schwach.

33.7.3 Entspannungstechniken

cc Es ist eine wichtige Aufgabe der Ergotherapeuten, diese Bedenken zu zerstreuen, ihre Klienten auf die positive Wirkung von Bewegung und Sport hinzuweisen und zu entsprechenden Aktivitäten zu motivieren.

Eine medikamentöse Behandlung der CRF kommt unter bestimmten Umständen in Frage. Die Indikation dazu muss aber wegen der erheblichen Nebenwirkungen sorgfältig und zurückhaltend gestellt werden.

Entspannungsverfahren wie z.  B. die Progressive Muskelrelaxation werden gelegentlich zur Behandlung von Fatigue eingesetzt. Allerdings konnte bisher eine Reduktion von CRF-­ Symptomen durch diese Methode wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Verschiedene Studien weisen jedoch darauf hin, dass sich Entspannungsverfahren positiv auf Begleiterscheinungen (z.  B.  Schlafstörungen, Angst, Depression) auswirken und so indirekt die Intensität der CRF beeinflussen können. Entspannungsmaßnahmen können das Management von Aktivitäts- und Ruhephasen unterstützen (Abschn. 33.8.4).

33.7.4 Medikamentöse Therapien

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• Methylphenidat: Das Medikament (Markenname z. B. Ritalin, Concerta) wird häufig zur Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) eingesetzt. Es zeigt auch bei CRF eine gewisse Wirkung. Typische Nebenwirkungen sind Nervosität und Gereiztheit. • Kortikosteroide in relativ hoher Dosierung reduzieren die Symptome einer CRF.  Bei längerem Gebrauch zeigen sich erhebliche Nebenwirkungen, sie sollten deshalb nicht längerfristig zur Behandlung der CRF eingesetzt werden. In Frage kommt eine kurzfristige Behandlung während einiger Tage, wenn der Klient z.  B. für einen Familienanlass vorübergehend möglichst „fit“ sein möchte (Leitlinienprogramm Onkologie 2020).

33.8 Die ergotherapeutische Behandlung 33.8.1 Edukation Die Klienten sollten zu Beginn der Behandlung detailliert über die CRF informiert werden. Vielen ist dieses Syndrom nicht bekannt, und sie sind frustriert über ihren Erschöpfungszustand. Die Erkenntnis, dass ein Syndrom hinter der Müdigkeit steckt und verschiedene Behandlungsansätze die CRF reduzieren können, entlastet die Klienten. Vor der Befundung und gezielten Behandlung der Symptome einer CRF steht deshalb die Wissensvermittlung im Vordergrund. Sie kann innerhalb des interdisziplinären Teams stattfinden und ist nicht Aufgabe einer bestimmten Berufsgruppe. Eine Wiederholung der Informationen oder die gezielte Frage an den Klienten, was er denn über CRF wisse, ist sinnvoll. Oftmals schätzen die Klienten die Möglichkeit, dass Informationen mehrfach angeboten werden oder sie bei Bedarf nachfragen können. Wichtige Aspekte der Vermittlung sind:

• Der Klient steht nicht allein mit seiner CRF.  Viele Klienten entwickeln eine solche (Abschn. 33.2). • Die Intensität der CRF ist nicht gleichbedeutend mit einer schlechten Prognose. • Aufzeigen von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten (Abschn. 33.7).

33.8.2 Befunderhebung Die CRF kann den Klienten in seiner Alltagsbewältigung sehr beeinträchtigen. Neben einem Assessment der Ausprägung der Fatigue (Abschn.  33.6) gilt es, den Alltag des Klienten gemeinsam zu analysieren und Aktivitäten/Betätigungen, die für ihn Priorität haben, zu definieren. Ein geeignetes Instrument dafür stellt der COPM (Kap. 26) dar. Gemeinsam werden diese prioritären Aktivitäten gezielt geplant, und der Klient erkennt, dass er sich dadurch Stück für Stück einen Teil seiner verlorenen Selbstständigkeit zurückerarbeiten kann. Beispiel

Frau K. leidet an einer vorwiegend körperlich ausgeprägten Fatigue. Die Auswertung des COPM zeigt, dass sie ihre Priorität vorwiegend darin sieht, sich selbst morgens zu waschen, anzukleiden und zu schminken. Dies sei für sie ein Ritual, um sich auf den Tag und alles, was kommen mag, vorzubereiten. ◄

33.8.3 Fatigue-Tagebuch Um sich einen Überblick über Kraft und Ressourcen eines Klienten zu verschaffen, ist das Führen eines Fatigue-Tagebuchs durch den Klienten eine gute Grundlage für die Planung des Alltags. Im Tagebuch lässt sich erkennen, wie sich die Energie des Klienten über den Tag verhält (Abb. 33.2).

33 Fatigue

375

33.8.4 Management von Aktivität und Ruhe In Abb. 33.2 zeigt sich deutlich, wie die Energie im Tagesverlauf abnimmt. Auch lässt sich erkennen, wie kleine Ruhepausen die Bewältigung des restlichen Tagesverlaufs unterstützen können. Aufzeichnungen über mehrere Tage lassen erkennen, zu welcher Tageszeit der Klient über die meiste Energie verfügt, wie Ruhepausen für ihn sinnvoll eingesetzt werden (hier: Meditation, Spazierengehen) und welche umgebenden Faktoren sich negativ auswirken (hier: schlechter Schlaf, schlechtes Wetter). Prioritäten einplanen Ist dem Klienten bekannt, wann er (vorwiegend) über die meiste Energie verfügt, kann der Alltag gemäß seinen Prioritäten geplant werden. Durch diese Planung wird sichergestellt, dass er die für ihn bedeutsamen Tätigkeiten durchführen kann und somit ein Stück seiner Lebensqualität zurückerhält.

Fatigue – Tagebuch von:

Ruhepausen einplanen und gestalten Nicht nur das richtige Timing von Ruhepausen sollte geplant werden, sondern auch deren Gestaltung. Eine Ruhepause ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit einem Mittagsschlaf auf der Couch. Es gilt, gemeinsam mit dem Klienten herauszufinden, wie und mit welchen Mitteln er sich entspannen kann. Für den einen ist es z. B. Meditation, das Betrachten des eigenen Gartens aus dem Fenster oder das Blättern in Fotobüchern. Ein anderer benötigt eine leichte Tätigkeit, um zu entspannen. Das kann beispielsweise das Ausmalen von Mandalas oder ein Spaziergang sein. Manche Klienten empfinden es als angenehm, die Pausen zur regelmäßigen Ausübung einer bestimmten Entspannungstechnik zu nutzen. Beispiel

Herr T. leidet an einer vorwiegend körperlichen Fatigue. Gerade am Wochenende freut er sich besonders auf die Gestaltung seiner Pause durch das Sortieren einer Bundesligatabelle aus Papier. ◄

Frau L.

Datum:

18.02.2019

Volle Energie

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Durchgeführte Tätigkeit

Anmerkung

8-8.30 Uhr

Aufstehen+ Frühstück

Wie gerädert durch die ganze Nacht, da wenig Schlaf.

9-12 Uhr

Arbeiten (Homeoffice)

Heute schwierig, musste öfters Pausen einlegen und die Augen schließen

12-13 Uhr

Mittagessen kochen und essen Pause

Konnte heute nicht kochen, habe etwas aus dem Tiefkühler aufgewärmt und gegessen

Haushalt/ Freizeitplanung

Saugen und Küche nach Mittagessen aufräumen, Termine und Verabredungen für die nächsten Tage koordinieren

15-16 Uhr

Pause

Meditation und Buch gelesen, tat gut, brachte mich weg von den trüben Gedanken heute

16-17 Uhr

Spazierengehen

Gemerkt, dass ich mich noch etwas bewegen muss. Trotz des schlechten Wetters habe ich mich an frischen Knospen an den Bäumen erfreut. Fühle mich nun wacher.

17-18 Uhr

Abendessen

Kleines Abendessen zubereitet und gegessen

18-21 Uhr

Fernsehen, dann Bett

Auf der Couch, danach sofort ins Bett

13-13.30 Uhr 13.30-15 Uhr

Kurzes hinlegen – Power-Nap – auf der Couch. Fühle mich danach so erschöpft wie zuvor.

Besonderheiten: In der Nacht schlecht geschlafen und geträumt. lmmer wieder aufgewacht, war sehr unruhig, schlechtes Wetter drückt auf Stimmung

Abb. 33.2  Beispiel Tagebuch Fatigue. (Blankoversion als Download verfügbar)

Uhrzeit

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Alltag planen Neben den Prioritäten sollte jedoch auch die restliche Tagesplanung Beachtung finden. Auch hier sollte nach untergeordneten Prioritäten gearbeitet werden. Wie können die Versorgung des Haushalts und das Treffen mit Freunden im Alltag vereinbart werden? Dies gilt es in der Therapie vorzuplanen, im Alltag zu testen und im Anschluss zu evaluieren. Beispiel

Frau S. sieht sich hauptsächlich mit den Symptomen einer kognitiven CRF konfrontiert. Sie kann sich schlecht konzentrieren und schweift oft mit den Gedanken ab. Dies geschieht vor allem, wenn im Laufe des Tages die Energie abnimmt. Dies ist ihr auch im Gespräch mit ihren Freundinnen peinlich. Nachmittägliche Shoppingtouren empfindet sie dadurch momentan als Belastung. Unter der Woche benötigt Frau S. vormittags ihre Energie für ihre berufliche Tätigkeit. Daher vereinbart sie mit ihren Freundinnen, dass sie sich regelmäßig samstagvormittags zum Brunch verabreden, statt wie früher die Nachmittage gemeinsam zu verbringen. ◄

Beispiel

Frau Z. hatte bisher an einem Tag der Woche ihren Hausputztag eingeplant. Diesem mit ihrer CRF nachzukommen scheint ihr unmöglich. Über die Möglichkeit einer Putzhilfe hat sie nachgedacht, möchte diese aber nur im Notfall einbestellen. Gemeinsam wird nun in der Therapie eine Liste aller Aufgaben aufgestellt und in anstrengende und weniger anstrengende Tätigkeiten unterteilt. Überlegungen, ob die Aufgaben, die früher an einem Tag bewältigt wurden, auf die ganze Woche verteilt werden sollen, findet Frau Z. interessant. Dabei werden anstrengende Tätigkeiten (z.  B.  Wäsche aufhängen) mit weniger anstrengenden Tätigkeiten (z. B. Blumen gießen im Haus) kombiniert. ◄

S. Heizmann und T. Kroner

33.8.5 Adaption von Betätigung Betätigungen, die den Klienten Kraft kosten, können vom Ergotherapeuten analysiert werden. Anschließend überlegen Klient und Ergotherapeut gemeinsam, durch welche Anpassungen die Belastungen reduziert werden könnten. Dabei kommen unterschiedlichen Strategien zur Anwendung: Anpassung durch Hilfsmittel  z.  B. bei der Morgentoilette: Nutzung eines (Dusch-) Stuhls, um sich im Sitzen zurecht zu machen. Anpassung des Umfeldes  z. B. bei der Morgentoilette: Alle notwendigen Gegenstände (z. B. Zahnbürste, Zahnpasta, Schminkutensilien) werden so drapiert, dass sie im Sitzen genutzt werden können. Anpassung der Handlungsabläufe  z.  B. rund um die Morgentoilette: Tätigkeiten, die Kraft kosten, werden zuerst gemacht (z.  B.  Duschen vor Zähneputzen). Nach der Morgentoilette wird eine kleine Pause eingelegt.

33.8.6 Unterstützende Maßnahmen Motivation zu Bewegung und Sport Wie in Abschn.  33.7.1 ausgeführt, sind Bewegung und Sport die wirksamsten Instrumente zur Behandlung der CRF. Es ist daher eine wichtige Funktion des Ergotherapeuten, den Klienten zu motivieren, eine ihm angepasste sportliche Aktivität aufzunehmen und dann regelmäßig auszuüben. Der Ergotherapeut kann auch interdisziplinär mit dem Sporttherapeuten bei der Auswahl einer passenden Aktivität behilflich sein. Auch bei der Einplanung in den Alltag kann er Unterstützung anbieten (Zu welcher Tageszeit bietet sich die Ausübung an, nach Abwägung mit anderen Prioritäten und entsprechend seinem Energielevel?).

33 Fatigue

Schlafhygiene Eine gute Schlafhygiene unterstützt die Therapie der CRF. Ein guter Schlaf ist von verschiedenen Rahmenbedingungen abhängig. Folgende Aspekte der Schlafhygiene sollten mit dem Klienten besprochen werden: • Regelmäßige Aufsteh- und Zubettgehzeiten. • Drei Stunden vor dem Zubettgehen –– keine sportlich anstrengende Aktivität, –– kein Koffein/Alkohol/Nikotin, –– keine „schwere“ Mahlzeit. • Rituale können das Einschlafen erleichtern (z.  B. entspannende Musik oder Ausüben einer Entspannungstechnik). • Evtl. Anpassung des Schlafzimmers durch z. B. kühle Temperatur und Vorhänge für die Abdunkelung. • Ein Glas Wasser bei Bedarf auf dem Nachttisch. • Ein Büchlein oder Notizzettel, um kreisende Gedanken oder Einfälle für den nächsten Tag zu notieren. • Körperliche Aktivität und der Verzicht auf Schlummerphasen während des Tags erleichtern das Einschlafen. Weitere Informationen zum Thema Schlaf oder konkrete Hilfe bei Schlafstörungen sollten mit dem Arzt besprochen werden. Auch die Psychoonkologen können bei Schlafstörungen wertvolle Hilfe bieten.

33.8.7 Unterstützung beim Umgang mit dem Umfeld Klienten leiden oftmals neben den Symptomen der CRF unter dem Unverständnis ihres Umfelds. Familie, Bekannte und Kollegen können die Müdigkeit oder das Rückzugsverhalten des Klienten nicht verstehen. Dies gilt besonders, wenn die CRF nach Abschluss der Tumorbehandlung weiter besteht: Der Klient gilt jetzt als genesen und müsste doch nun wieder in vol-

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lem Umfang an das vorherige Leben anknüpfen. Diese Gefühle fallen bei vielen Klienten auf fruchtbaren Boden, würden sie doch selbst gerne wieder voller Energie allen früheren Aktivitäten nachgehen. Es ist wichtig, mit dem Klienten zu besprechen, wie er sein Umfeld erlebt. Zeigt sein Umfeld Unverständnis und Ablehnung, ist dies ein wichtiges Thema für die Therapie, denn es kostet den Klienten zusätzlich Energie und kann letztendlich zu sozialem Rückzug und Isolation sowie einer Depression führen. Strategien, wie der Klient seine CRF-bedingte Beeinträchtigung seinem Umfeld vermitteln kann, können auch im ergotherapeutischen Setting aufgezeigt werden. Bei den Gesprächen mit seinem Umfeld soll der Klient • über die CRF Informationen geben (häufige Sekundärstörung etc.). Evtl. auch auf Plattformen verweisen, bei denen sich Interessierte weitere Informationen beschaffen können (z.  B. https://www.krebsinformationsdienst. de/leben/fatigue/fatigue-­index.php) (Zugriff am 22.07.2023); • berichten, wie sich die CRF bei ihm auswirkt; • seine Wünsche an das Umfeld formulieren – in Form von Ich-Botschaften. Schwierige Gespräche, vor denen der Klient sich aus Angst vor Ablehnung scheut, können in Rollenspielen geprobt werden. Eine zusätzliche psychoonkologische Betreuung und Absprachen zwischen Ergotherapie und Psychoonkologie sind dabei unbedingt ratsam. Die Psychoonkologie kann den Klienten auch unterstützen, wenn er mit offener Ablehnung konfrontiert wird.

Literatur Zitierte Literatur Abrahams HJG et al (2016) Risk factors, prevalence, and course of severe fatigue after breast cancer treatment. Ann Oncol 27:965

378 Blum D, Bachmann-Mettler I, Strasser F (2017) Fatigue. In: Margulies A et al (Hrsg) Onkologische Krankenpflege, 6. Aufl. Springer, Gielissen MFM et al (2006) Effects of cognitive behavior therapy in severely fatigued disease-free cancer patients compared with patients waiting for cognitive behavior therapy: a randomized controlled trial. J Clin Oncol 24:4882 Kreissl S, Borchmann P (2016) Tumorbedingte Fatigue bei Patienten mit Hodgkin-Lymphom. Forum 31:305 Leitlinienprogramm Onkologie (2020) Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF: S3 Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-­heilbaren Krebserkrankung, Langversion 2.2. Download: https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/ (Zugriff am 22.07.2023) Vogelzang NJ et al (1997) Patient, caregiver and oncologist perceptions of cancer-related fatigue. Semin Haematol 34:4

S. Heizmann und T. Kroner

Weiterführende Literatur Leitlinienprogramm Onkologie (2020) Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF: S3-­Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung, Langversion 2.2. Download: https:// www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/ palliativmedizin/ (Zugriff am 22.07.2023)

Broschüren für Klienten und Angehörige Fatigue  – Chronische Müdigkeit bei Krebs. Die blauen Ratgeber. Stiftung Deutsche Krebshilfe. Download: https://www.krebshilfe.de/infomaterial/Blaue_Ratgeber/Fatigue-­C hronische-­M uedigkeit-­b ei-­K rebs_ BlaueRatgeber_DeutscheKrebshilfe.pdf. (Zugriff am 22.07.2023) Eine detaillierte, sehr informative Broschüre – auch für Ergotherapeuten von Interesse!

34

Schmerz Thomas Kroner und Sabrina Heizmann

34.1 Definition Die Internationale Schmerzgesellschaft IASP (International Association for the Study of Pain) definiert den Schmerz als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsäch­ licher oder potenzieller Gewebsschädigung verbunden ist oder in Form einer solchen Schädigung beschrieben wird.“

34.2 Bedeutung in der Onkologie und Prävalenz Längst nicht alle Tumorpatienten leiden unter Schmerzen: Bei ungefähr einem Drittel aller Krebspatienten treten im Verlauf ihrer Krankheit kaum je nennenswerte Schmerzen auf. Trotzdem ist für viele Menschen, für Laien wie für Angehörige von Gesundheitsberufen, Krebs noch immer gleichbedeutend mit stärksten Schmerzen. Dies entspricht nicht mehr der Realität der heutigen Onkologie. Grund dafür sind Fortschritte in der Behandlung von Tumorschmerzen, vor allem die zunehmenden Kenntnisse über die praktische

Anwendung von Schmerzmedikamenten. Vorherrschende Symptome in allen Stadien einer Krebserkrankung sind heute Müdigkeit und Erschöpfung (Fatigue, Kap. 33). Aus neuen großen kanadischen Studien ergeben sich folgende Daten zur Häufigkeit von Schmerzen bei Tumorpatienten: Bei Diagnose (Cuthbert et al. 2020) • geben etwa 60  % der Patienten mit neu entdeckter Krebserkrankung Schmerzen an, diese Schmerzen sind allerdings meist von leichter Intensität (durchschnittlich 2,4 auf einer Skala von 0–10), • haben 20–40  % der Patienten moderate oder starke Schmerzen (Intensität ≥4 auf einer Skala von 0–10). Während des ersten Jahres nach Diagnose (Bubis et al. 2018) • leiden 37 % der Patienten mindestens zu einem Zeitpunkt an moderaten oder starken Schmerzen (Intensität ≥4). Sie werden im Verlauf dieser 12 Monate immer seltener angegeben.

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected] S. Heizmann Hofstetten, Deutschland email: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_34

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Am Lebensende, d. h. in den 6 Monaten vor dem Tod (Bubis et al. 2020) • leiden ca. 30 % der Patienten mindestens zu einem Zeitpunkt an starken Schmerzen (Intensität ≥7). Starke Müdigkeit und Erschöpfung wird von über 60 % der Patienten angegeben. Zum Vergleich: In denselben Studien finden sich zur Müdigkeit folgende Zahlen: Müdigkeit wird angegeben • bei Diagnose von 40–60 % der Patienten mit einer durchschnittlichen Intensität von 4,1, • während des ersten Jahres nach Diagnose von 59 % als moderat oder stark (Intensität ≥4), • am Lebensende von über 60  % als stark (Intensität ≥7). cc Obwohl Tumorschmerzen heute in der Regel gut beherrscht werden können, bleiben sie ein wichtiges Thema in der Onkologie und besonders in der onkologischen Rehabilitation. Noch immer gibt es bei Tumorpatienten Schmerzen, deren Behandlung unbefriedigend ist. Immer häufiger treten solche Schmerzen als Folge von Tumorbehandlungen auf, beispielsweise Neuropathien nach Chemotherapie (Abschn. 34.5.2), sie sind auch in der Ergotherapie von zunehmender Bedeutung.

34.3 Pathophysiologie des Schmerzes Zwischen der Einwirkung eines schmerzauslösenden Reizes und der subjektiven, bewussten Wahrnehmung des Schmerzes laufen im Nervensystem verschiedene Prozesse ab. Diese lassen sich grob wie folgt unterteilen: • Aktivierung der Schmerzrezeptoren, • Weiterleitung des Schmerzreizes im peripheren und zentralen Nervensystem,

T. Kroner und S. Heizmann

• Schmerzwahrnehmung, • Modulation (Verstärkung bzw. Abschwächung) der Schmerzübertragung. Die Definition des Schmerzes als „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis“ weist darauf hin, dass Schmerz „gefühlt“ und „erlebt“ wird. Während die physiologischen Vorgänge der Schmerzauslösung und -leitung recht gut verstanden werden, sind viele Fragen bezüglich der subjektiven Schmerzwahrnehmung noch ungeklärt.

34.3.1 Aktivierung der Schmerzrezeptoren Schmerzen werden durch die Reizung spezieller peripherer Schmerzrezeptoren, der Nozizeptoren, ausgelöst. Diese spezialisierten Endigungen sensibler Nervenfasern finden sich in fast allen Organen. Sie reagieren auf chemische, mechanische und Wärmereize: Überschreitet die Intensität eines solchen Reizes eine gewisse Schwelle, so wird im Nozizeptor ein elektrisches Signal ausgelöst, das entlang der Nervenfaser in das Rückenmark geleitet wird. Bei Entzündungen wird die Reizschwelle der Nozizeptoren durch im Gewebe freigesetzte „Entzündungsfaktoren“, z.  B.  Prostaglandine oder Bradykinin, herabgesetzt, d. h., sie werden leichter erregt. cc Die Wirkung der sog. „peripher wirkenden“ Schmerzmittel wie Aspirin oder Ibuprofen beruht vor allem auf der Hemmung dieser Entzündungsstoffe, d. h. der Prostaglandine.

34.3.2 Schmerzleitung und Schmerzwahrnehmung Die Schmerzleitung erfolgt über sensible Nervenfasern ins Rückenmark. Dort werden die peripheren Schmerzfasern in einer ersten Umschaltstation mit den aufsteigenden Schmerzbahnen des

34 Schmerz

Rückenmarks verbunden. Über diese Bahnen (v.  a. den Tractus spinothalamicus) erreicht der Schmerzreiz das Gehirn. Durch das komplexe Zusammenspiel verschiedener Hirnstrukturen entsteht schließlich die bewusste Schmerzwahrnehmung, mit der der Schmerz lokalisiert und ihm ein Charakter (z.  B. brennend oder stechend) und eine bestimmte Intensität zuordnet wird. In den vegetativen Zentren des Hirnstamms beeinflussen Schmerzsignale die Steuerung von Atmung und Kreislauf: Atmung und Herzfrequenz werden beschleunigt, der Blutdruck steigt.

34.3.3 Schmerzmodulation, Endorphine und Opiatrezeptoren Die Schmerzwahrnehmung ist auch von psychologischen Faktoren abhängig: Sind wir übermüdet oder verärgert, nehmen wir Schmerzen stärker

a

Abb. 34.1 (a, b) Entstehung, Leitung, Modulation und Wahrnehmung von Schmerzreizen. (a) Übersicht über die beteiligten anatomischen Strukturen. Die mit dem roten Kreis markierten Synapsen im Hinterhorn des Rückenmarks sind in b vergrößert dargestellt. (b) Modulation der Schmerzvermittlung im Hinterhorn des Rückenmarks: Absteigende, modulierende Nervenbahnen setzen Endor-

381

wahr als in ausgeruhtem und ausgeglichenem Zustand. Dies ist ein Hinweis auf die Existenz von Mechanismen, die die Schmerzempfindung beeinflussen bzw. verändern, d.  h. modulieren (Abb.  34.1). Als Neurotransmitter (Überträgerstoffe) für diese hemmenden Impulse wurden die sog. Endorphine nachgewiesen. Die Bezeichnung deutet darauf hin, dass es sich dabei um endogene (körpereigene) Stoffe mit morphinähnlicher Wirkung handelt. Endorphine binden an spezifische Rezeptoren, die  – weil auch Morphium und andere Opioide daran binden – Opiatrezeptoren genannt werden. Opiatrezeptoren sind im Körper weit verbreitet, vor allem im Nervensystem an den für die Schmerzleitung und Schmerzwahrnehmung verantwortlichen Bahnen. Daneben finden sie sich aber auch in anderen Organen, z.  B. im Darm, wo sie an der Regulation der Peristaltik der Darmbewegungen und der Drüsenfunktion beteiligt sind.

b

phine frei. Diese werden an Opiatrezeptoren gebunden und hemmen die Übertragung von Schmerzreizen auf aufsteigende Bahnen des Tractus spinothalamicus. 1 Schmerzreiz, 2 Sensibler Nerv, 3 Neurotransmitter, 4 Rezeptor für Neurotransmitter, 5 Ganglion der aufsteigenden Schmerzbahn (Tractus spinothalamicus), 6 Opiatrezeptor, 7 Endorphine, z. B. Enkephalin

382

cc Wirkung und Nebenwirkungen der „zentral wirkenden“ Schmerzmittel vom Typ des Morphins (Opioide) beruhen auf ihrer Bindung an die Opiatrezeptoren.

34.4 Schmerzursachen bei Tumorpatienten Schmerzen bei Tumorpatienten haben sehr verschiedene Ursachen. Diese müssen unterschieden werden, da die Behandlung je nach Ursache variieren kann. Tumorbedingte Schmerzen  Bei 50–60  % der Patienten werden die Schmerzen direkt durch den Tumor verursacht. Am häufigsten entstehen Schmerzen durch Knochenmetastasen, Nervenkompression oder Infiltration eines Hohlorgans. Knochenschmerzen, die den Hauptteil der tumorbedingten Schmerzen ausmachen, entstehen durch direkte Zerstörung des Knochens mit Reizung der Knochenhaut, gelegentlich auch  – bei drohender Fraktur – durch Instabilität. Therapiebedingte Schmerzen  Bei ca. 15 % der Krebspatienten treten Schmerzen als Folge medizinischer Interventionen auf. Beispiele für akute therapiebedingte Schmerzen sind Schmerzen nach einem operativen Eingriff oder schmerzhafte Schleimhautentzündungen nach Radiooder Chemotherapie. cc Einige chronische therapiebedingte Schmerzen sind häufige Behandlungsindikationen in der Ergotherapie: • Arthralgien während der Brustkrebsbehandlung mit Aromatasehemmern (Kap. 32) • Chemotherapieinduzierte Polyneuropathien (CIPN) (Kap. 27) • Narbenschmerzen (Kap. 30) • Phantomschmerzen nach Amputationen (Kap. 31) Tumorassoziierte Schmerzen  Als tumorassoziierte Schmerzen werden Schmerzen bezeichnet, die als Folge von bei Tumorpatienten häufi-

T. Kroner und S. Heizmann

gen Begleiterkrankungen auftreten. Beispiele sind die Neuralgie nach Herpes zoster und Schmerzen bei Venenthrombosen. Schmerzen dieser Art finden sich bei 5–10 % der Patienten. Tumorunabhängige Schmerzen  Etwa 5–10 % der Tumorpatienten leiden an Schmerzen, deren Ursache von der Tumorerkrankung unabhängig ist und die oft vorbestanden haben. Beispiele sind Migräne oder Schmerzen bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen.

34.5 Nozizeptiver und neuropathischer Schmerz Schmerzen werden nach dem Ort ihrer Auslösung in nozizeptive und neuropathische Schmerzen unterschieden. In den meisten Fällen werden Schmerzen durch Reizung der Schmerzrezeptoren, der Nozizeptoren, ausgelöst (Abschn.  34.3.1). Man spricht von einem nozizeptiven oder Nozizeptorschmerz. Entsteht der Schmerz aber durch direkte Verletzung eines Nervs, wird er als neuropathischer Schmerz bezeichnet.

34.5.1 Nozizeptiver Schmerz Es werden somatische Schmerzen und viszerale Schmerzen unterschieden: Somatischer Schmerz  Der somatische Schmerz entsteht durch Aktivierung der Nozizeptoren in Haut, Knochen, Muskeln und Gelenken. Er ist meist gut lokalisiert. Knochenmetastasen sind ein Beispiel für diesen Schmerztyp. cc Somatische Schmerzen Analgetika gut beeinflusst.

werden

durch

Viszeraler Schmerz  Der viszerale Schmerz entsteht durch Aktivierung von Schmerzrezeptoren in thorakalen oder abdominalen Organen aufgrund von Infiltration, Kompression oder Dehnung. Der Schmerz ist meist schlecht lokalisiert und wird oft begleitet von vegetativen Symptomen wie Nausea,

34 Schmerz

383

Erbrechen und Schwitzen. Ein tumorbedingter viszeraler Schmerz tritt beispielsweise bei großen Lebermetastasen auf, die zur Dehnung der Leberkapsel führen. In einigen Fällen wird der viszerale Schmerz nicht an seinem Entstehungsort, sondern an einem anderen Körperteil empfunden (z.  B.  Schulterschmerzen bei Zwerchfellreizung, Schmerzen im Arm bei Herzinfarkt). Schmerzen werden cc Viszerale Analgetika gut beeinflusst.

durch

34.5.2 Neuropathischer Schmerz Der neuropathische Schmerz entsteht durch eine direkte Schädigung des peripheren und/ oder Zentralnervensystems, z.  B. durch Kompression oder Infiltration eines peripheren Nervs, eines Plexus oder des Rückenmarks durch den Tumor. Zu dieser Schmerzform gehören auch die postherpetischen Neuralgien, die Trigeminusneuralgie, der Phantomschmerz und die in der Ergotherapie wichtige durch Chemotherapie induzierte periphere Neuropathie (CIPN, Kap.  27). Der neuropathische Schmerz wird meist als brennend, elektrisierend oder stechend beschrieben. Es handelt sich um einen konstanten Grundschmerz, auf den kurze und intensive Schmerzattacken in Form

von elektrischen Schlägen oder „Dolchstößen“ aufsatteln können. Oft besteht eine Sensibilitätsstörung im Ausbreitungsgebiet des entsprechenden Nervs. Die Behandlung ist schwierig, am wirksamsten sind bestimmte Antidepressiva und Antikonvulsiva, alleine oder in Kombination. (Abschn. 34.12, 34.13 und 34.14). cc Neuropathische Schmerzen sind Analgetika schlecht beeinflussbar.

durch

34.6 Akuter und chronischer Schmerz Tumorpatienten können sowohl an akuten wie auch an chronischen Schmerzen leiden (Tab. 34.1). Der Tumorschmerz ist meist chronischer Art.

34.6.1 Akute Tumorschmerzen Akute, durch den Tumor ausgelöste Schmerzen sind – abgesehen von den im Folgenden diskutierten Durchbruchschmerzen  – selten und mit Schmerzmitteln meist gut zu beherrschen (Tab. 34.1). Anders als beim chronischen Schmerz werden die Schmerzmittel hier gelegentlich intravenös verabreicht, um einen raschen Eintritt der Schmerzlinderung zu erreichen.

Tab. 34.1  Akute und chronische Schmerzen bei Tumorpatienten Beginn Dauer Ziel und Prinzipien der medikamentösen Behandlung

Einfluss auf die Psyche (bei ungenügender Behandlung) Beispiele

Akute Schmerzen Plötzlich Kurz (Stunden) Rascher Wirkungsbeginn notwendig, deshalb oft parenterale (intravenöse) Verabreichung Langzeitwirkung nicht notwendig, deshalb oft Verabreichung „nach Bedarf“ Wird in der Regel gut verarbeitet

Chronische Schmerzen Langsam, schleichend Lang (Monate) Kontinuierliche Wirkung nötig, daher regelmäßige Verabreichung in fixierten Zeitabständen (nicht „nach Bedarf“) Rascher Wirkungsbeginn in der Regel nicht notwendig, deshalb meist keine parenterale Verabreichung Verändert Persönlichkeitsstruktur, wirkt zermürbend, führt zu Depressionen

Akuter Oberbauchschmerz bei Blutung in eine Lebermetastase Akuter Schmerz bei Spontanfraktur aufgrund einer Metastase im Humerus

Chronische Rückenschmerzen bei Wirbelmetastasen Schmerzen bei CIPN

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Durchbruchschmerz Eine Sonderform des akuten Schmerzes ist der sog. Durchbruchschmerz. Definition  Als tumorbedingte Durchbruchschmerzen werden vorübergehende Schmerzspitzen bezeichnet. Sie treten trotz kontrollierter Dauerschmerzen spontan oder im Zusammenhang mit einem bestimmten Auslöser auf.

T. Kroner und S. Heizmann

Häufigkeit und Intensität sind die Patienten oft sehr beeinträchtigt. Die Behandlung ist schwierig, falls die auslösende Ursache nicht ausgeschaltet werden kann (Abschn. 34.6.2).

34.6.2 Chronische Tumorschmerzen Als chronisch werden Schmerzen bezeichnet, wenn sie länger als 3 Monate anhalten.

Nicht als Durchbruchschmerzen gelten: • Schmerzen, die zu Beginn einer Opioidtherapie im Rahmen der Dosiseinstellung auftreten, • Schmerzen, die unter einer Behandlung mit einem Schmerzmittel am Ende seiner Wirkungsdauer auftreten (z.  B. 4  h nach Einnahme eines kurz wirksamen Opioids). Meist wird der Schmerzdurchbruch durch eine Handlung des Patienten im Rahmen seiner Tagesaktivitäten ausgelöst. Die englische Fachliteratur bezeichnet dies als „incidental pain“ (engl. incident = Zwischenfall), man könnte auch von „ausgelöstem Schmerz“ sprechen. Dieser kann sehr intensiv sein und das auslösende Ereignis längere Zeit überdauern. Bei diesem „ausgelösten“ Durchbruchschmerz sind im Hinblick auf die Behandlung zwei Situationen zu unterscheiden: • Der Schmerz wird durch eine vorhersehbare Belastung ausgelöst. Beispiele sind etwa belastungs- oder bewegungsabhängige Schmerzen bei Skelettmetastasen oder Schluckschmerzen bei Speiseröhrenkrebs. • Der Schmerz wird durch eine nicht vorhersehbare Belastung ausgelöst, etwa durch Husten oder Niesen. Durchbruchschmerzen sind häufig: Sie treten bei mehr als 20 % der Tumorpatienten auf, meist mehrmals täglich. Die Schmerzen bauen sich innerhalb weniger Minuten auf und dauern in der Regel weniger als 30 min. Ihre Intensität wird als stark bis unerträglich beschrieben, aufgrund der

cc Die häufigsten chronischen Schmerzen bei Tumorpatienten sind tumorbedingt aufgrund von Skelettmetastasen. In den letzten Jahren treten chronische Schmerzen immer häufiger als Folge einer Tumortherapie auf (Abschn. 34.3.1) – eine problematische Entwicklung. Sehr viele chronische Tumorschmerzen lassen sich durch eine meist medikamentöse Schmerzbehandlung gut kontrollieren. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf trotz korrekter Behandlung andauernde, chronische Schmerzen bei Tumorpatienten. Anhaltende, chronische Schmerzen sind zermürbend: Sie stören und verhindern den Schlaf, führen zu ständiger Müdigkeit und damit zu körperlicher und psychischer Erschöpfung. Sie verhindern die Ausführung gewohnter Aktivitäten und verstärken bestehende Ängste. Depression und sozialer Rückzug können folgen. Umgekehrt beeinflussen psychosoziale Probleme das Schmerzerleben von Krebspatienten: Finanzielle, familiäre oder berufliche Probleme können chronische Schmerzen zwar verstärken, sie sind aber nie die Ursache der Schmerzen. cc Chronische Tumorschmerzen haben immer eine körperliche Ursache. Sie dürfen nicht mit der „chronischen Schmerzkrankheit“ verwechselt werden. Hier sind zwei Begriffe zu erwähnen, die fälschlicherweise oft in Zusammenhang mit chronischen Tumorschmerzen gebraucht werden.

34 Schmerz

„Chronische Schmerzkrankheit“  Als „chronische Schmerzkrankheit“ oder „chronisches Schmerzsyndrom“ werden üblicherweise chronische Schmerzen bezeichnet, deren Intensität  – anders als bei chronischen Tumorschmerzen  – nicht durch eine organische Ursache zu erklären ist. Beispiele sind das Fibromyalgie-Syndrom oder invalidisierende chronische Rückenschmerzen bei höchstens geringgradigen Veränderungen an der Wirbelsäule. Bei ihrer Behandlung liegt der Fokus auf edukativen, psychologischen und antidepressiven Maßnahmen. Die neue Auflage des internationalen Klassifikationssystems von Diagnosen (ICD), die 2022 in Kraft trat (ICD-11), enthält neu chronische Schmerzen als unabhängige Diagnose (Treede 2019). Sie bezeichnet die „chronische Schmerzkrankheit“ als chronisch sekundäre Schmerzen. Sie werden definiert als Schmerzen, die mit signifikanter emotionaler Belastung und funktioneller Beeinträchtigung verbunden und durch keine andere Diagnose zu erklären sind. Als chronisch primäre Schmerzen bezeichnet ICD-11 Schmerzen, bei denen der Schmerz Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung oder deren Therapie ist. Dazu gehören z.  B. chronische krebsbedingte Schmerzen. “Total Pain”  Aus der englischen Palliativmedizin, die in der Entwicklung der onkologischen Schmerzbehandlung eine Pionierrolle spielte, stammt der Begriff des „multidimensionalen Leidens“. Es wird im Englischen auch als “total pain” (umfassender Schmerz) bezeichnet. Der Begriff wurde für Hospizpatienten in der Palliativ­ pflege geprägt. Mit dieser Formulierung wird ­betont, dass terminal kranke und sterbende Patienten neben körperlichen Symptomen wie Schmerz oder Atemnot auch Trauer, Abschiedsschmerz, Angst und Hoffnungslosigkeit erfahren und somit auch an sozialen, seelischen oder geistlich-religiösen Problemen leiden.

385

cc Bei chronischen Schmerzen von Krebspatienten stehen in der Regel psychische, soziale und spirituelle Probleme nicht im Vordergrund. Sie sollten deshalb nicht als “Total Pain” betrachtet oder bezeichnet werden.

34.7 Erfassung und Dokumentation Wie bei allen Symptomen ist auch bei Schmerzen eine sorgfältige Erfassung wichtig. Sie sollte allerdings – vor allem, wenn die Schmerzen noch nicht kontrolliert sind – nicht zu ausführlich oder zu häufig durchgeführt werden. Sie kann die Aufmerksamkeit des Patienten zu sehr auf die Schmerzen lenken und sie dadurch verschlimmern. Eine zu häufige Erfassung wird vom Patienten unter Umständen als lästig empfunden (Kunz 2009). Auch hier ist gesunder Menschenverstand gefragt. Ein Mittel zur ausführlichen Erfassung und Dokumentation von Schmerzen bietet der Deutsche Schmerzfragebogen.1 Er ist sehr umfangreich und in mehrere Module gegliedert, wodurch er eine mehrdimensionale Betrachtung der Schmerzsituation erlaubt. Er ist für den Routineeinsatz nicht geeignet, bei komplexen Schmerzsituationen aber unter Umständen nützlich. Die Deutsche Schmerzgesellschaft versendet auf Wunsch Verlaufsbögen und Tagesprotokolle.

34.7.1 Lokalisation Das Erfassen von Lokalisation und Ausbreitung der Schmerzen ist hilfreich für die Beurteilung. Ein Körperschema ist gelegentlich nützlich, damit der Patient allein oder zusammen mit dem Ergotherapeuten die Schmerzpunkte einzeichnen kann. Gratis Download über: https://www.drk-schmerz-zentrum. de/mz-wAssets/docs/aktuelles/mz-deutscher-schmerzfragebogen-2020-01.pdf (Zugriff am 30.07.2023) 1 

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34.7.2 Intensität Da Schmerz eine subjektive Empfindung ist, wird seine Intensität am besten durch den Patienten selbst beurteilt. Die Erfassung kann informell erfolgen („Als wie stark würden Sie Ihre Schmerzen bezeichnen?“) oder mithilfe speziell entwickelter Erfassungsmethoden. Diese erlauben es, die Schmerzintensität auf einer Skala von 1–10 zu erfassen. Abb. 34.2 zeigt einige häufig eingesetzte Schmerzskalen. Diese Skalen können erfahrungsgemäß von den meisten Patienten problemlos benutzt werden. Das Messresultat muss dokumentiert werden (Abschn. 34.7.5). Die Häufigkeit der „Schmerzmessung“ richtet sich nach der klinischen Situation und den Bedürfnissen des Patienten. In instabilen Situationen, z. B. bei hospitalisierten Patienten mit starken, noch nicht kontrollierten Schmerzen, muss die Messung mehrmals täglich, evtl. stündlich, durchgeführt werden. In stabilen Situationen, bei Patienten mit gut eingestellter Schmerzmedikation, genügt die Messung in größeren Abständen, z. B. wöchentlich oder monatlich. Einige Patienten schätzen es allerdings, auch in diesen stabilen Situationen regelmäßig selbstständig die Schmerzintensität

T. Kroner und S. Heizmann

zu erfassen und zu dokumentieren. Andere Patienten empfinden diese Routine als bürokratische Schikane. Der Patient kann die Schmerzintensität auch selbst erfassen und in einem Schmerztagebuch festhalten (Abschn. 34.7.5).

34.7.3 Auslösende oder verschlimmernde Faktoren Verschiedene Faktoren, die häufig übersehen werden, beeinflussen das Auftreten oder die Intensität der Schmerzen. Dazu gehören beispielsweise: • Körperlage, • körperliche Aktivitäten (inkl. Kauen und Schlucken oder Husten), • verschiedene Speisen (z.  B. blähendes Gemüse), • Stuhlgang (bzw. Obstipation), • evtl. auch verschiedene Wetterlagen. Auch zusätzliche Symptome, z.  B. Übelkeit, oder psychosoziale Probleme, verstärken die Schmerzempfindung.

Abb. 34.2  Beispiele von Skalen für die Erfassung der Schmerzintensität. (Neuenschwander H et al. 2006)

34 Schmerz

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door-Aktivitäten traut sich Frau A. nicht zu, was sich negativ auf ihre Lebensqualität auswirkt. Ihr Sohn zeigt zwar schon in seinen jungen Jahren Verständnis, aber sie fühlt sich in ihrer Rolle als Mutter versagend. Zudem hat sie mitbekommen, dass Mitschüler ihres Sohnes Witze über sie gerissen hätten, da sie aufgrund ihres schwankenden Ganges alkoholisiert gewirkt habe. Spirituelle Ebene Sie hadert mit ihrem Schicksal und fragt sich, für welche Vergehen sie die Erkrankung erhalten habe. ◄

Psychosoziale Faktoren Psychosoziale Faktoren spielen für die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung eine zentrale Rolle und müssen deshalb sorgfältig erfasst werden. Es ist beispielsweise wichtig zu erfahren, wie viel der Patient über seine Krebserkrankung weiß (und wissen will): Patienten, die über ihre Krankheit nicht oder ungenügend informiert sind, sind oft gezwungen, ihre Fragen in Bezug auf ihre Erkrankung über das Thema „Schmerz“ zu kommunizieren. cc Ungelöste familiäre, berufliche oder finanzielle Probleme sind häufig schmerzverstärkende Faktoren. Bei der Erfassung und Besprechung solcher Probleme muss der Therapeut Fingerspitzengefühl beweisen. Klienten mit chronischen Tumorschmerzen stoßen gelegentlich auf Unverständnis bei Freunden, in der Familie, auch bei medizinischem Personal, die die Schmerzen verharmlosen oder bezweifeln. Bei Fragen nach psychosozialen Problemen kann bei einem Klienten deshalb das Gefühl entstehen, auch vom Therapeuten in die „psychische Ecke“ abgeschoben und als Hypochonder oder schwach betrachtet zu werden. Der Therapeut muss sich solcher Gedanken bewusst sein.

34.7.4 Alltagsbewältigung Chronische Schmerzen können es den Klienten erschweren oder verunmöglichen, ihren Alltagsbetätigungen nachzugehen. Die Aufnahme der betätigungsorientierten Anamnese, z.  B. durch den COPM (Kap.  26), ist unter Umständen schwierig und erfordert Fingerspitzengefühl. Durch das Betätigungsprotokoll wird dem Klienten unter Umständen erst richtig bewusst, wie sehr ihn die Schmerzen in seinem Alltag einschränken. Dies kann zu Frustration und Resignation führen.

Beispiel

Frau A. beschreibt Schmerzen in den Füßen. Diese hätten 2 Monate nach dem Abschluss der Chemotherapie begonnen und würden sie sehr in ihrem Alltag beeinträchtigen. Physische Ebene Durch die Chemotherapie wurden periphere Nerven beschädigt. Psychische Ebene Folgende Gedanken beschäftigen Frau A: Wie sehr hat die Chemo die Nerven geschädigt, und können diese sich jemals wieder erholen? Wie kann sie ihrem Beruf als Kellnerin nachgehen, wenn sie starke Schmerzen hat, nicht mehr so sicher und schnell auf den Beinen ist und ständig zu stürzen droht? Soziale Ebene Frau A. ist Mutter eines 8-jährigen Sohnes. Toben über den Spielplatz oder andere Out-

cc Die Erfassung von Prioritäten bei Betätigungsanliegen ist erschwert. Es kommt schnell zu Sätzen wie: „Alles tut mir weh. Ich kann nichts mehr machen. Nichts geht mehr.“ Durch gezielte und einfühlsame Fragen gelingt es jedoch oft trotzdem, kleine realisierbare Ziele festzuhalten.

34.7.5 Dokumentation In einem sog. Schmerztagebuch2 können Schmerzintensität, Schmerzmedikamente sowie Gratis Download bspw. über https://shop.krebsliga.ch/files/ kls/webshop/PDFs/deutsch/schmerztagebuch-so-nehme-ich-meine-schmerzen-wahr-011116032111.pdf oder https://schmerzliga.de/ewhihaje/2019/05/Schmerztagebuch. pdf (Zugriff am 30.07.2023) 2 

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Nebenwirkungen tabellarisch festgehalten werden. Diese Dokumentation ist vor allem bei Patienten hilfreich, bei denen die Einstellung der Schmerztherapie schwierig ist. Bei Patienten, deren Schmerzen unter einer Behandlung gut kontrolliert sind, ist die Weiterführung des Schmerztagebuchs nicht nötig. Gelegentlich wird diese Dokumentationsform aber auch dann noch geschätzt, sozusagen als Zeichen der Übernahme von Verantwortung und der aktiven Teilnahme an der Schmerzbehandlung.

34.8 Information und Edukation Viele Patienten sind der irrtümlichen Meinung, Krebsschmerzen seien unvermeidbar und unkontrollierbar. Auch über die Schmerzmedikamente machen sie sich oft falsche Vorstellungen (Abschn.  34.11.8). Solche Fehlmeinungen und Bedenken sind oft mit einer schlechten Compliance verbunden. Eine gute Compliance ist bei chronischen Tumorschmerzen für den Therapieerfolg, d.  h. die Schmerzlinderung, aber von größter Bedeutung, da die Medikamente für eine optimale Wirkung regelmäßig und in der vorgeschriebenen Dosis einzunehmen sind. Vor Beginn der Schmerzbehandlung müssen deshalb den Patienten Informationen vermittelt werden. Themen sind in erster Linie die Ursache ihrer Schmerzen, Prinzipien und Ziele der Schmerzbehandlung, mögliche Nebenwirkungen und was dagegen zu tun ist, evtl. auch das Führen eines Schmerztagebuchs. cc Bedenken und Ängste der Patienten in Bezug auf die Schmerztherapie müssen aktiv angesprochen und ernst genommen werden. Die Vermittlung dieser Informationen ist aufwendig. Der Aufwand lohnt sich jedoch: Es konnte gezeigt werden, dass Schmerzedukation bei Tumorpatienten zur Verbesserung der Therapietreue und zur Reduktion der Schmerzintensität führt (Oldenmenger et al. 2018). Als Ergänzung zur mündlichen Information stehen für Patienten und Angehörige sehr gute

und ausführliche Broschüren zur Verfügung (Literatur – Broschüren für Klienten und Angehörige). Sie können gratis bestellt oder heruntergeladen werden. Pain Neuroscience Education (PNE) Bei Patienten mit chronischen Schmerzen, vor allem im Rahmen der sog. „chronischen Schmerzkrankheit“ (Abschn.  34.6.2), werden spezielle Methoden der Schmerzedukation vorgeschlagen, so neben „Pain Neuroscience Education“ auch die „Therapeutische Schmerzedukation“, „Schmerzen verstehen“ (SV), „Biologische Schmerzedukation“ etc. Sie benutzen teilweise Inhalte der kognitiven Verhaltenstherapie (Abschn. 34.14). Die Methoden wurden zur Behandlung von Patienten mit chronischer Schmerzkrankheit wie Fibromyalgie und unspezifischer Lumbalgie entwickelt. Für den Nutzen von PNE bei Patienten mit tumorbedingten chronischen Schmerzen, etwa bei Skeletbefall oder bei chemotherapieinduzierter Neuropathie (CIPN), sind keine Belege zu finden.

34.9 Prinzipien der Schmerzbehandlung 34.9.1 Individuelle Bestimmung des Behandlungsziels Nicht alle Schmerzen sprechen gleich gut auf eine Therapie an (Abschn. 34.5). cc Gemeinsam mit dem Patienten muss ein realistisches Ziel für die Schmerztherapie festgelegt werden. Dies hilft, Enttäuschungen vonseiten der Patienten und der Betreuer zu vermeiden. Das Ziel ist nicht unbedingt Schmerzfreiheit, sondern eine „zufriedenstellende Schmerzkontrolle“. Mögliche Ziele Schmerztherapie:

bei

symptomatischer

• I: Schmerzfreier Nachtschlaf • II: Schmerzfreiheit bei Tag ohne körperliche Aktivität

34 Schmerz

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34.9.2 Möglichkeiten der Schmerzbehandlung

Symptomatische medikamentöse Schmerzbehandlung Die symptomatische medikamentöse Behandlung von Schmerzen erfolgt mit sog. Analgetika (von griech. an  =  ohne und algos  =  Schmerz). Analgetika beeinflussen die Schmerzwahrnehmung, haben jedoch keinen Einfluss auf die Schmerzursache. Ihr Einsatz soll  – wo immer möglich – mit einer spezifischen Tumortherapie bzw. der Behandlung der schmerzauslösenden Komplikation kombiniert werden.

Schmerzbehandlung durch Therapie des Tumors Bei tumorbedingten Schmerzen ist prinzipiell die Behandlung der Grunderkrankung – d. h. des Tumors – die sinnvollste und wirksamste Methode der Schmerzbekämpfung.

Als Analgetika stehen Opioide und Nichtopioide zur Verfügung. Medikamente aus beiden Gruppen können einzeln oder kombiniert verabreicht werden. Unter bestimmten Umständen werden zusätzlich Koanalgetika eingesetzt (Abschn. 34.12).

• III: Schmerzfreiheit bei Tag mit körperlicher Aktivität cc Vor allem bei durch Bewegung oder Belastung ausgelöstem Durchbruchschmerz (“incidental pain”) ist Stufe III oft nicht oder nur mit teils erheblichen Nebenwirkungen zu erreichen.

Beispiele

Schmerzbehandlungen durch spezifische Tumortherapie • Chirurgie: Operative Entlastung bei schmerzhaftem Darmverschluss • Radiotherapie: Schmerz bei isolierter Skelettmetastase • Chemo- oder Hormontherapie: Schmerzen bei multiplen Skelettmetastasen ◄ Behandlung von schmerzhaften Komplikationen Auch die Therapie von schmerzhaften Komplikationen ermöglicht eine wirksame Schmerzbehandlung. Beispiele

Schmerzbehandlungen durch Therapie von Komplikationen • Operativ/interventionell: –– Osteosynthese zur Stabilisierung von schmerzhaften Skelettmetastasen –– Einlegen eines Blasenkatheters bei schmerzhafter Harnverhaltung • Medikamentös: –– Antimykotische Therapie einer schmerzhaften Soor-Ösophagitis ◄

Nichtopioide  Dazu gehören z.  B.  Paracetamol und die sog. nichtsteroidalen Antiphlogistika. Sie werden in Abschn. 34.10 eingehender besprochen. Opioide  Opioide sind die wichtigsten Medikamente in der Behandlung von Tumorschmerzen. In Abschn.  34.11 finden sich dazu detaillierte Ausführungen. cc Die Opioidtherapie bei Patienten mit nicht tumorbedingten Schmerzen, vor allem bei chronischer Schmerzkrankheit, unterscheidet sich in vielen Punkten von der Therapie bei Tumorpatienten und wird hier nicht besprochen.

34.9.3 Prinzipien der medikamentösen Schmerzbehandlung Unabhängig von der Wahl des Medikaments gelten für die medikamentöse Behandlung chronischer Tumorschmerzen folgende Regeln: • Die Verabreichung erfolgt regelmäßig zu festgelegten Zeiten. Die Verabreichung „nach Bedarf“ ist bei chronischen Schmerzen falsch und führt in der

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• •







Regel zu einer schlechteren Schmerzkontrolle und vermehrt unerwünschten Wirkungen. Die Dosierung erfolgt individuell. Es gibt bei Opioiden keine Standarddosierung! Die für den einzelnen Patienten individuell richtige Dosierung ist abhängig von der Intensität der Schmerzen und von der von ihm gewünschten Schmerzkontrolle. Die Verabreichung erfolgt in der Regel peroral. Für sog. Schmerzdurchbrüche ist eine Schmerzmittelreserve vorzusehen und festzulegen. Zu erwartende Nebenwirkungen der Schmerzmitteltherapie müssen vor Behandlungsbeginn mit dem Patienten besprochen werden. Die bei Opioiden immer auftretende Obstipation muss prophylaktisch behandelt werden (Abschn. 34.11.5). Patienten, Angehörige und das Behandlungsteam müssen durch den Arzt über den Behandlungsplan orientiert werden. Die Schmerztherapie soll möglichst einfach gestaltet werden. Kombinationen von mehr als zwei Analgetika und mehreren Applikationsformen sind meist unnötig. Sie führen zu vermehrten Nebenwirkungen und erschweren die Kooperation des Patienten.

34.10 Nichtopioide In der Behandlung von Tumorschmerzen werden hauptsächlich zwei Gruppen von nichtopioidhaltigen Analgetika eingesetzt. Paracetamol und Novaminsulfon Paracetamol (Panadol) und Metamizol (Minalgin, Novalgin, Novaminsulfon) werden wegen ihrer praktisch fehlenden Nebenwirkungen bei schwachen Tumorschmerzen gerne eingesetzt. Ihre Anwendung ist wesentlich sicherer als die der nichtsteroidalen Antiphlogistika. Nichtsteroidale Antirheumatika Die Bezeichnung „nichtsteroidale Antirheumatika“ für diese Medikamentengruppe erklärt sich aus ihrer Geschichte: Sie wurden ursprünglich für die Rheumatologie entwickelt, wo sie anstelle

von Kortison und anderen Steroidhormonen als Antirheumatika eingesetzt wurden. Abgekürzt werden die Medikamente dieser Gruppe als NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika) oder als NSAID bezeichnet (engl. für „non-steroidal anti-inflammatory drugs“). Zu diesen Medikamenten gehören u. a. Azetylsalizylsäure (Aspirin), Diclofenac (Voltaren), Ibuprofen (Brufen), Mefenaminsäure (Ponstan). Sie werden vor allem bei schmerzhaften Skelettmetastasen eingesetzt, bei denen eine entzündliche Komponente an der Schmerzauslösung beteiligt ist. cc Tumorpatienten sind gelegentlich durch den Hinweis „gegen rheumatische Schmerzen“ in der Packungsbeilage verunsichert; da sie befürchten, der Arzt habe – da sie ja nicht an Rheuma leiden  – ein falsches Medikament verordnet. Mit entsprechender Information sind die Patienten leicht zu beruhigen. Die NSAR haben leider zahlreiche und oft schwerwiegende Nebenwirkungen an verschiedenen Organen: • Schleimhäute des Magen-Darm-Trakts: Gastritis, Magenulzera, Durchfall, Übelkeit, Erbrechen • Blutgerinnung: Hemmung der Thrombozytenfunktion (Blutungsgefahr) • ZNS: Kopfschmerz, Tinnitus, Schwindel, Übelkeit • Niere: akutes/chronisches Nierenversagen • Allergische Reaktionen: Rhinitis, Urtikaria (Nesselfieber), Bronchialasthma

34.11 Opioide 34.11.1 Definitionen Opium  Der eingetrocknete Milchsaft des Schlafmohns (Papaver somniferum). Opium enthält zahlreiche natürliche chemische Verbindungen, darunter Morphium, Codein und Papaverin. Opiat  Natürlicher Bestandteil des Opiums (z.  B.  Morphin oder Codein) sowie aus diesen

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abgewandelte, sog. halbsynthetische Opiate (z. B. Diamorphin = Heroin). Opioide  Überbegriff für alle Substanzen, die an Opiatrezeptoren (Abschn. 34.3.3) binden. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Opioide und Opiate häufig gleichbedeutend verwendet. cc Die Unterscheidung in „schwache“ und „starke“ Opioide wird mehr und mehr aufgegeben. Eine hohe Dosis von sog. schwachen Opioiden hat meist mehr Nebenwirkungen als eine niedrige Dosis eines sog. „schwachen“ Opioids.

34.11.2 Häufig eingesetzte Opioide Das wichtigste Opioid zur Behandlung von Tumorschmerzen ist Morphin, es gilt als Standard für die medikamentöse Behandlung von starken Tumorschmerzen. Markennamen sind u. a. Oramorph oder Sevredol. Andere in der Onkologie häufig eingesetzte Opioide sind Hydromorphon, Oxycodon, Fentanyl (Durogesic) und Tramadol.

34.11.3 Verabreichungsformen Orale Verabreichung Die orale Verabreichung ist die übliche Form der Opioidgabe bei chronischen Schmerzen. Sie ist einfach durchzuführen, wirksam und kostengünstig. Einzig bei Patienten mit Schluckstörungen und Magen-Darm-Problemen (gehäuftes Erbrechen, Resorptionsstörungen etc.) sind andere Verabreichungswege vorzuziehen. Injektionen wirken schneller, sind aber nicht wirksamer als die perorale Verabreichung (Abschn. 34.11.8). Für die orale Anwendung stehen kurz wirksame Formen (Tropfen, Tabletten) und Retardformen (Tabletten, Kapseln) zur Verfügung. Die nichtretardierten Formen haben eine Wirkungsdauer von ca. 4 h. Die Wirkungsdauer von oralen

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Retardformen beträgt 8–12  h, d.  h., sie müssen nur 2- bis 3-mal täglich eingenommen werden. Es gibt allerdings auch Retardformen mit einer Wirkungsdauer von 24 h. cc Retardformen sind ungeeignet bei instabilen Schmerzzuständen. Transdermale Verabreichung (Pflaster) Einige Opioide können mit sog. transdermalen Systemen als Hautpflaster appliziert werden. Diese geben ihren Wirkstoff während etwa 72– 96 h konstant ab. Das Pflaster muss deshalb nur alle 3–4  Tage ersetzt werden. Die Anwendung wird von vielen Patienten geschätzt, ist jedoch mit einigen Problemen verbunden: • Die Resorption durch die Haut ist temperaturabhängig. Fieber, körperliche Anstrengung oder Heizdecken führen zu vermehrter Resorption und damit vermehrt zu unerwünschten Wirkungen. • Bei sehr fetter oder sehr stark behaarter Haut und vor allem bei kachektischen Patienten mit fehlendem subkutanem Fett ist die Resorption gelegentlich unregelmäßig. Subkutane Injektionen Die Verabreichung ist einfach und kann vom Patienten oder von den Angehörigen evtl. selbst durchgeführt werden. Es gibt dafür allerdings in der Behandlung chronischer Schmerzen wenige Indikationen, am ehesten für die Behandlung von Schmerzspitzen, wenn die perorale Verabreichung nicht möglich ist. Intramuskuläre Injektionen Bei chronischen Tumorschmerzen gibt es kaum Indikationen für die schmerzhafte i.m.-Analgetikainjektion. Sie ist höchstens angezeigt bei Patienten mit akuten Schmerzen ohne venösen Zugang. Intravenöse Injektion Die i.v.-Injektion führt zu einem sehr schnellen Wirkungseintritt und ist deshalb für akute extreme Schmerzen geeignet. Die Wirkungsdauer ist kürzer als bei anderen Applikationsformen.

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Dauerinfusionen Dauerinfusionen sind sinnvoll, wenn die perorale Medikamenteneinnahme nicht möglich ist (u. a. bei Schluckstörungen) und gleichzeitig Suppositorien oder transdermale Systeme nicht indiziert sind. Infusionspumpen erlauben eine genau dosierte Dauerinfusion von Schmerzmitteln. Mit kleinen, tragbaren Infusionspumpen können auch ambulante Patienten oder Patienten in der häuslichen Pflege eine Schmerztherapie mit Dauerinfusionen erhalten. Rückenmarknahe (epidurale/intrathekale) Applikationen In gewissen Fällen stellt die rückenmarknahe Schmerzmittelapplikation eine wertvolle Alternative dar. Das Schmerzmittel wird dabei über einen permanenten Katheter in den Rückenmarkkanal appliziert. Der Katheter ist oft mit einem subkutanen Port verbunden. Wichtige Indikationen sind neuropathische Schmerzen im Beckenbereich und in den Beinen, beispielsweise bei Plexusinfiltrationen durch Tumoren im kleinen Becken

34.11.4 Opioide bei Durchbruchschmerzen Durchbruchschmerzen (Abschn.  34.6.1) sind u.  a. charakterisiert durch einen akuten Beginn (Schmerzmaximum wenige Minuten nach Auslösung) und kurze Dauer (meist unter 30 min). Für die Behandlung werden vor allem Opioide mit raschem Wirkungseintritt eingesetzt. Dabei handelt sich um Medikamente, die transmukosal (durch eine Schleimhaut) verabreicht werden, entweder durch die Mundschleimhaut (z.  B. als Sublingualtabletten) oder durch die Nasenschleimhaut als Nasensprays. Der Wirkstoff gelangt durch die Schleimhaut direkt ins Blut, dadurch tritt die Wirkung bereits nach etwa 10–15 min ein. Wegen der raschen Anflutung des Wirkstoffs im Gehirn können diese Darreichungsformen ein kurzes „Glücksgefühl“ auslösen. Sie besitzen deshalb ein erhöhtes Suchtpotenzial und sollten bei Patienten mit Suchtanamnese nicht eingesetzt werden.

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34.11.5 Unerwünschte Wirkungen und ihre Behandlung Opiatrezeptoren (Abschn.  34.3.3) kommen im Zentralnervensystem nicht nur in Regionen vor, die der Schmerzmodulation dienen. Zudem finden sie sich auch außerhalb des ZNS, beispielsweise in den Schleimhäuten des Magen-Darm-Trakts, wo sie die Sekretion und Motilität beeinflussen. Entsprechend kann die Verabreichung von Opioiden neben der erwünschten Analgesie zahlreiche unerwünschte Wirkungen nach sich ziehen. cc Anders als Analgetika vom Typ der Nichtopioide führen Opioide auch bei Langzeitanwendung nie zu Organschäden. Opioide verursachen keine Leber-, Nierenoder Knochenmarktoxizität. Sie zählen somit zu den sichersten in der Onkologie eingesetzten Medikamenten. Unerwünschte Wirkungen der Opioide sind allerdings nicht völlig zu vermeiden. Sie können und müssen behandelt werden, z. T. bereits prophylaktisch. Übelkeit und Erbrechen Nicht für alle Patienten unter Opioidbehandlung sind Übelkeit und Erbrechen ein Problem. Bei einigen wenigen kann dadurch allerdings eine Opioidbehandlung unmöglich werden. Bei den meisten Patienten treten Übelkeit und evtl. Erbrechen nur vorübergehend zu Beginn der Opioidtherapie auf. Mundtrockenheit Bei mehr als die Hälfte der mit Opioiden behandelten Patienten besteht während der ganzen Dauer der Behandlung eine mehr oder weniger starke Mundtrockenheit. Hilfreich sind Kaugummis, wiederholtes Befeuchten der Lippen, evtl. ein Spray mit künstlichem Speichel. cc Eine Erhöhung der Trinkmenge hilft nicht gegen die Mundtrockenheit!

Obstipation Fast alle Patienten, die wegen chronischer Schmerzen Opioide erhalten, leiden unter Obsti-

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pation. Diese kann sehr belastend sein und wiederum Schmerz auslösen. Solange der Patient Opioide einnimmt, bleibt die Obstipation bestehen. Es ist wichtig, die Obstipation zu verhüten und nicht erst dann zu behandeln, wenn der Patient darunter leidet. Deshalb müssen Laxanzien prophylaktisch und während der gesamten Dauer der Opioidbehandlung eingesetzt werden. Sedation Schläfrigkeit und Trägheit werden zu Beginn der Schmerztherapie mit Opioiden beobachtet. Normalerweise vermindert sich die Sedation nach einigen Tagen bzw. klingt ganz ab. Sie ist dosisabhängig, d.  h., bei einer Steigerung der Dosis tritt die Sedation vorübergehend wieder vermehrt auf. Unter einer optimal eingestellten Opioidtherapie macht sich die Sedation bei Patienten in gutem Allgemeinzustand in der Regel wenig oder gar nicht bemerkbar. Arbeitsfähigkeit und Fahrtüchtigkeit sind vom Patienten mit dem behandelnden Arzt zu diskutieren. cc Eine Opioidbehandlung allein bedingt weder generell eine Arbeitsunfähigkeit noch verhindert sie (nach Abklingen der anfänglichen Sedation und bei stabiler Dosierung) das Führen von Fahrzeugen. Atemdepression Opioide wirken hemmend auf Hustenreflex und Atemzentrum. Dieser Effekt wird therapeutisch bei starkem Husten und bei schwerer Atemnot genutzt. Schmerzen wirken stimulierend auf das Atemzentrum. Solange ein Patient Schmerzen angibt, ist nicht mit einer Atemdepression zu rechnen, ebenso wenig bei langsamer peroraler Dosisfindung. Ein Risiko besteht dagegen vor allem bei intravenöser Gabe von Opioiden, insbesondere bei Patienten, die zuvor nie mit Opioiden behandelt wurden. Juckreiz Vor allem zu Beginn der Opioidtherapie wird gelegentlich ein hartnäckiger Juckreiz beobachtet. Falls er unter Antihistaminika anhält, hilft häufig der Wechsel auf ein anderes Opioid.

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Harnverhaltung Harnverhaltung kann gelegentlich zu Beginn oder im Verlauf einer Opioidtherapie vorübergehend auftreten. Bei neu auftretenden Unterbauchschmerzen ist an eine Harnverhaltung zu denken, und es sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Nicht einfach die Opioiddosis erhöhen!

34.11.6 Überdosierung Anders als die oben beschriebenen unerwünschten Wirkungen der Opioidtherapie, die auch bei niedrigen Dosierungen auftreten können, sind die folgenden Symptome in der Regel Zeichen einer Überdosierung bzw. Opioidtoxizität. Ursache ist meist eine Anreicherung von Stoffwechselprodukten der Opioide. Diese tritt häufig bei Niereninsuffizienz oder nach Verabreichung von Opioiden in hoher Dosierung auf. Verwirrung und Halluzinationen Diese beiden Symptome sind in der Regel Zeichen einer Überdosierung bzw. Opioidtoxizität. Myoklonien (Muskelzuckungen) Unwillkürliche Muskelzuckungen, vor allem im Gesicht oder an den Extremitäten, sind ein typisches Zeichen der Opioidtoxizität. Myoklonien werden immer wieder als epileptische Symptome fehlgedeutet und entsprechend fehlbehandelt. Hyperalgesie und Allodynie Unter Hyperalgesie versteht man eine erhöhte Empfindlichkeit auf Schmerzreize. Als Allodynie wird ein Schmerz bezeichnet, der durch einen üblicherweise nicht schmerzauslösenden Reiz erzeugt wird, z.  B. durch die Berührung eines Kleidungsstücks. cc Hyperalgesie und Allodynie sind typische Zeichen der Opioidtoxizität. Hyperalgesie wird leider oft als ungenügendes Ansprechen auf die Opioidtherapie fehlinterpretiert und mit einer Dosissteigerung fehlbehandelt.

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34.11.7 Der „opioidresistente“ Schmerz Gelegentlich sprechen Schmerzen nicht oder ungenügend auf Opioide an. Einige häufige Ursachen sind • neuropathische Schmerzen, • Progredienz des Tumors, z.  B. eine neu aufgetreten Fraktur, • psychosoziale Faktoren (Abschn. 34.7.3), • Fehler bei der Opioid-Therapie: –– zu niedrige Dosierung der Opioide (Angst vor „Atemdepression“), –– zu lange Intervalle zwischen den Einzeldosen. Die Ursache einer „Opioidresistenz“ muss in jedem Fall sorgfältig abgeklärt werden.

34.11.8 Mythen und Ängste in Zusammenhang mit Opioiden Einem optimalen Einsatz der Opioide in der Behandlung chronischer Tumorschmerzen stehen nicht nur die genannten unerwünschten Wirkungen im Wege. Häufiger verhindern unbegründete Ängste und Befürchtungen eine wirkungsvolle Schmerztherapie. Die zentralen Themen lassen sich wie folgt definieren: cc Definitionen  Sucht Chronischer, zwanghafter Gebrauch einer Substanz, der zu einer physischen, psychischen oder sozialen Beeinträchtigung der Konsumenten führt und trotzdem fortgesetzt wird. Toleranz Die körperliche Adaptation (Gewöhnung) an eine Substanz auf physiologischer Ebene, die eine abnehmende Wirksamkeit bei wiederholter Anwendung herbeiführt. Physische Abhängigkeit Zeigt sich durch Entzugserscheinungen bei abruptem Absetzen der Behandlung. Missbrauch Jede regelwidrige Verwendung einer Substanz, verbunden mit einer Schädigung des Kon-

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sumenten oder anderer Beteiligter in physischer, psychischer, ökonomischer, juristischer oder sozialer Hinsicht. Zahlreiche Fragen und Missverständnisse zu Opioiden tauchen immer wieder auf. An dieser Stelle sollen einige der häufigsten falschen Auffassungen von Patienten (wie auch von Angehörigen von Gesundheitsberufen) besprochen werden. „Opioide machen süchtig und abhängig“ In dieser verallgemeinernden Form stimmt die Aussage nicht. Wenn Opioide bei Tumorpatienten zur Bekämpfung von Schmerzen eingesetzt werden, entsteht keine psychische Abhängigkeit von Opioiden, wie sie bei Drogensüchtigen beobachtet wird. Der Patient nimmt das Medikament, damit er schmerzfrei ist, und nicht, um ein Glücksgefühl zu erleben. Zudem tritt die Wirkung der in der Schmerzbehandlung eingesetzten Präparate relativ langsam ein, d.  h., es erfolgt keine rasche Anflutung des Opioids im Gehirn. Somit fehlt das „Einfahren“ des Opioideffekts, das bei der Suchtentwicklung eine wichtige Rolle spielt. Eine Ausnahme stellen die zur Behandlung von Durchbruchschmerzen gelegentlich eingesetzten Präparate mit raschem Wirkungseintritt dar: Hier besteht ein gewisses Suchtpotenzial (Abschn. 34.11.4). In allen anderen Fällen beendet der Tumorpatient die Einnahme der Opioide von selbst, wenn kein Grund mehr zur Einnahme besteht, d. h., wenn er keine Tumorschmerzen mehr hat. Es gibt allerdings auch bei Tumorpatienten eine gewisse physische Abhängigkeit von Opioiden. Beim abrupten Absetzen der Behandlung treten Entzugserscheinungen auf. Auch sterbenden/bewusstlosen Patienten muss man die Opioide weiter verabreichen, um Entzugssymptome wie Durchfall, Unruhe usw. zu vermeiden. Die Entzugserscheinungen sind aber nur theoretisch ein Problem: Wenn infolge einer wirksamen Tumorbehandlung der Schmerz nachlässt, geschieht das nicht von einem Tag auf den anderen; entsprechend wird der Patient seine Opioiddosis langsam reduzieren, bis er das Schmerzmittel nach einigen Wochen schließlich ganz absetzt. Entzugssymptome treten bei dieser langsamen Dosisreduktion nicht auf.

34 Schmerz

„Opioide verlieren mit der Zeit ihre Wirkung“ Diese Aussage ist Ausdruck einer weitverbreiteten, aber unbegründeten Angst vor einem Wirkungsverlust der Opioide. Viele glauben, dass man die starken opioidhaltigen Schmerzmittel nicht „zu früh“ einsetzen sollte, dass diese im späteren Verlauf ihre Wirkung verlieren und dann, „wenn man es wirklich braucht“, nicht mehr wirken. Diese Haltung führt dazu, dass der Patient mit dem Medikament „spart“, d. h., weniger als die verordnete Dosis einnimmt. Wohl ist im Verlauf einer Schmerztherapie wegen der Toleranzentwicklung eine gewisse Dosiserhöhung erforderlich, um die analgetische Wirkung aufrechtzuerhalten; dies ist problemlos möglich, da die unerwünschten Wirkungen nicht entsprechend zunehmen. In der Regel wird aber eine Erhöhung der Dosis durch eine Progredienz der Tumorerkrankung und nicht durch die Toleranzentwicklung erforderlich. cc Opioide verlieren ihre Wirksamkeit auch bei lang dauernder Anwendung nicht! „Opioide verordnen bedeutet: Endstadium“ Dieses Vorurteil ist sehr oft zu Beginn einer Opioidbehandlung anzutreffen. Viele der Beteiligten fürchten bei der Verordnung von Opioiden, dass die Krankheit ein sog. Endstadium erreicht hat und der Arzt den Patienten aufgegeben hat. Dies ist keineswegs so: Tumorschmerzen sollen mit den nötigen Schmerzmitteln behandelt werden, unabhängig davon, wie gut oder wie schlecht die Prognose ist. Der Einsatz von Opioiden schließt die Einleitung oder Weiterführung einer gleichzeitigen spezifischen Tumortherapie nicht aus. Gelegentlich erlaubt sogar erst eine wirksame Schmerzlinderung die Einleitung einer Behandlung, z. B. wenn ein Patient wegen der Schmerzen sonst nicht ruhig unter dem Bestrahlungsgerät liegen könnte. „Opioide schwächen“ Diese Aussage resultiert oft aus den Bildern der Medien oder aus eigenen Beobachtungen von

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ausgemergelten, kranken Drogenabhängigen. Patientenbezogen ist diese Befürchtung nicht gerechtfertigt, denn der schlechte Gesundheitszustand von vielen Drogenabhängigen hat mit den Opiaten nur indirekt zu tun und beruht vor allem auf der Verwahrlosung, die mit den unhygienischen Rahmenbedingungen ihrer Lebensweise zusammenhängt. Bei Krebspatienten erlaubt die Schmerzbehandlung wieder den Schlaf und ermöglicht so nach vielen wegen Schmerzen durchwachten Nächten Erholung und Kräftigung. Schwäche bei mit Opioiden behandelten Tumorpatienten ist nicht durch die Opioide, sondern durch den Tumor bedingt. „Spritzen wirken besser als Tabletten“ Dieser falschen Ansicht sind viele Patienten. Für sie besteht eine klare Hierarchie in der Wirksamkeit verschiedener Medikamente: Tropfen sind schwach, Tabletten sind etwas wirksamer, aber immer noch schwächer als Spritzen. Die wirksamste Applikationsform scheint vielen die parenterale Verabreichung. Die Empfehlung zur oralen Einnahme der Opioide stößt deshalb oft auf Widerstand: Manche Patienten fühlen sich nicht ernst genommen, wenn ihnen gegen starke Schmerzen ein Opioid in Tropfenform empfohlen wird. In diesen Fällen muss im Gespräch über Folgendes informiert werden: • Analgetika wirken bei peroraler Aufnahme als Tropfen oder Tabletten genauso stark wie bei Verabreichung als Injektion oder als Infusion. Bei der Injektion tritt die Wirkung nur etwas früher ein als bei der peroralen Einnahme. Der rasche Wirkungseintritt spielt aber bei der prophylaktischen Einnahme bei chronischen Tumorschmerzen keine Rolle. Anders ist dies bei akuten Schmerzen, z.  B. bei einem Unfall; hier muss rasche Schmerzfreiheit durch eine Injektion erreicht werden. • Die perorale Schmerzmittelzufuhr, z. B. Morphinlösung, ist wirksam, einfach zu handhaben und kostengünstig. Sie macht den Patienten unabhängig von Arzt und Pflegenden, auf die er sonst bei den Injektionen angewiesen ist.

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34.12 Adjuvante Medikamente (Koanalgetika)

34.14 Ergänzende Methoden der Schmerzbehandlung

Adjuvante Medikamente, auch als Koanalgetika bezeichnet, sind keine eigentlichen Schmerzmittel. Sie können jedoch in speziellen Situationen – zusätzlich zu Analgetika eingesetzt – deren analgetischen Effekt verstärken.

In der Ergo- und Physiotherapie sowie in der Pflege werden verschiedene nichtmedikamentöse Methoden zur Schmerzbehandlung eingesetzt. Diese Methoden sind meist patientenfreundlich und mit wenigen Risiken verbunden. Ihr Potenzial wird allerdings gelegentlich überbewertet.

Kortikosteroide Kortikosteroide (Kortison, Prednison, Dexamethason,Fortecortin) reduzieren Ödeme und wirken entzündungshemmend. Auf diesem Mechanismen beruht ihre analgetische Wirkung. Bei längerer Anwendung ist mit den üblichen Nebenwirkungen der Kortikosteroide zu rechnen (u.  a. Cushing-Syndrom, Osteoporose). Antidepressiva Einige Antidepressiva besitzen eine gewisse analgetische Wirkung. Sie werden vor allem bei neuropathischen Schmerzen eingesetzt. Häufige Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit, Obstipation, Tachykardien, Harnverhaltung, Sedation und Verwirrung. Antikonvulsiva Antikonvulsiva, die üblicherweise zur Behandlung von Epilepsien eingesetzt werden, sind bei Neuropathien oft sehr hilfreich und gelten dort als Therapie der ersten Wahl. Die meisten Erfahrungen bestehen mit Gabapentin (z. B. D/CH/A: Neurontin) und Pregabalin (z.  B.  D/CH/A: Lyrica). Unerwünschte Wirkungen sind in erster Linie Schwindel und Müdigkeit.

34.13 Lokal wirkende Medikamente Die Behandlung von neuropathischen Schmerzen (Abschn. 34.5.2) mit Analgetika ist oft wenig erfolgreich. Häufig lohnt sich ein Versuch mit lokal schmerzlindernden Substanzen wie Menthol, Lidocain oder Capsaicin 8 %.

Tumorschmerzen können diese cc Bei Maßnahmen eine korrekte medikamentöse Therapie nicht ersetzen, aber unter Umständen ergänzen. Zu einigen Indikationen finden sich ausführliche Hinweise in den entsprechenden Kapiteln: • Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie: Kap. 27 • Störungen von Gleichgewicht und Koordination: Kap. 28 • Kognitive Dysfunktion: Kap. 29 • Narben: Kap. 30 • Amputation: Kap. 31 • Arthralgie und Myalgie: Kap. 32 • Fatigue: Kap. 33

34.14.1 Physikalische Methoden Massage Massage ist eine der ältesten therapeutischen Interventionen, sie wird – in unterschiedlichen Formen – in praktisch allen Kulturen praktiziert. Sie führt zu einer Reihe von physiologischen und psychologischen Veränderungen, so senkt sie u. a. den Blutdruck, verbessert die Durchblutung und den Lymphabfluss, reduziert die Muskelspannung und erhöht die Schmerzschwelle. Sie scheint besonders bei schmerzhaften Muskelverspannungen hilfreich. Eine Metaanalyse von 12 Studien mit insgesamt 559 Patienten kommt zum Schluss, dass Massage bei krebsbedingten chronischen Schmerzen einen klinisch und statistisch

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signifikanten Nutzen zeigt, besonders ausgeprägt bei Schmerzen nach chirurgischen Eingriffen (Lee 2015).

Vor- und Nachteile von Massage und Applikation von Kälte und Wärme

Vorteile Hintergrundinformation Eine methodisch gute randomisierte Studie (Kutner 2008) untersuchte die Wirkung von Massage bei 380 Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung und mindestens mäßigen Schmerzen (≥4 auf einer Skala von 0–10). Die Patienten der Therapiegruppe wurden während zwei Wochen insgesamt 6-mal je 30  min von erfahrenen diplomierten Masseuren nach einem vorgegebenen Protokoll behandelt. Beim Vorliegen von “Trigger Points” wurde die Massage entsprechend angepasst. Bei den Patienten der Kontrollgruppe legte der „Masseur“ seine beiden Hände ohne Druck während je 3  min parallel auf zehn verschiedene Körperstellen (Hals, Schulterblätter, Rücken etc.). Dadurch wurden die Effekte von Berührung, Zeit und Zuwendung in der Therapiegruppe kontrolliert. Sowohl die Massage in der Therapiegruppe als auch die Berührung in der Kontrollgruppe führte unmittelbar nach der Behandlung zu einer klinisch und statistisch signifikanten Verbesserung von Schmerz und Stimmung. Die durch Massage erzielte Schmerzreduktion war mit −1.87 (Skala von 0–10) doppelt so stark wie die durch Berührung (−0.97) erreichte. Eine über mehrere Tage anhaltende Schmerzlinderung wurde weder für die Massage noch für die Berührung nachgewiesen.

Applikation von Kälte oder Wärme Tab. 34.2 gibt einen Überblick über die Applikation von Wärme und Kälte bei chronischen Tumorschmerzen

• Kaum mit Risiken verbunden • Meist einfach auszuführen • Verlangt wenig Patientenaktivität; günstig für Patienten in schlechtem Allgemeinzustand oder in schlechter emotionaler Verfassung • Verwandte und Freunde können in die Behandlung integriert werden Nachteil • Wirkung meist nur von kurzer Dauer

Bewegungstherapie Die positive Wirkung der Bewegungstherapie (Kap.  23) ist bei Arthralgien unter Behandlung mit Aromatasehemmern gut belegt (Kap. 32). Gemäß einer neueren Arbeit kann Bewegungstherapie auch Schmerzen bei chemotherapieinduzierter Neuropathie (CIPN) reduzieren (Gui et  al. 2021). Ein Therapieversuch könnte sich bei dieser Indikation lohnen.

Tab. 34.2  Applikation von Wärme und Kälte bei chronischen Tumorschmerzen Wärmeapplikation

Kälteapplikation

Möglich als  - feuchte warme Kompressen und Wickel  - trockene Wärme, z. B. Heizkissen, Gelbeutel (Hot-Cold-Pack)  - konventionelle Bäder, Sitz- oder Sprudelbäder mit oder ohne Badezusatz Möglich als  - trockene Kältepackungen (Gelbeutel oder selbstgemacht mit Eis)  - feuchte kalte Wickel (mit oder ohne Eis)  - direkte Applikation von Eis (ohne Schutzhülle)

Mögliche Indikationen Schmerzhafte Muskelverspannungen

Anmerkungen - Wirkung nicht sehr dauerhaft: Das Gewebe verliert die Wärme nach der Entfernung der Wärmequelle rasch - Während und nach Radiotherapie Durchführung nur nach Rücksprache mit dem Radiotherapeuten

Schmerzen bei CIPN

- Applikationsdauer ca. 5–10 min, je nach Verträglichkeit - Direkte Applikation: mit einer leichten, streichelnden Bewegung über der empfindlichen oder schmerzhaften Stelle, nur während 1–2 min

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cc Bei Schmerzen aufgrund von Skelettmetastasen ist die Indikation zu Bewegungstherapie mit großer Vorsicht und nur nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt zu stellen. Es darf dabei nie zu einer Verstärkung der Schmerzen kommen. In einem solchen Fall müsste die Bewegungstherapie sofort unterbrochen werden. Akupunktur Viele Patienten mit krebsbedingten chronischen Schmerzen lassen sich mit Akupunktur behandeln. Die wissenschaftliche Literatur dazu ist widersprüchlich. Studien (Lu 2018, 2020) zeigten eine schmerzlindernde Wirkung von Akupunktur: • bei schmerzhafter chemotherapieinduzierter Neuropathie (CIPN), • bei Gelenkbeschwerden unter Aromatasehemmern, • bei postoperativen Schmerzen. Nach einer Leitlinie der US-amerikanischen Krebsgesellschaft können Patienten mit chronischen Krebsschmerzen zur Akupunktur überwiesen werden (Paice 2016). Eine Cochrane-Analyse kommt allerdings zum Schluss, dass die Evidenz nicht ausreicht, um zu beurteilen, ob Akupunktur Krebsschmerzen wirksam verringert (Paley et al. 2015). Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) Bei der TENS handelt es sich um eine Reizstrombehandlung. Über Elektroden wird von einem batteriegetriebenen Gerät ein schwacher Strom von niedriger (2–4 Hz) oder hoher Frequenz (80– 100 Hz) auf die Haut übertragen. Die Elektroden werden in der Nähe der schmerzhaften Stelle auf die Haut geklebt. Der elektrische Reiz der TENS ist nicht schmerzhaft. Er soll die Übertragung der Schmerzreize ins Hirn durch einen konkurrierenden Reiz verringern. Eine Cochrane-Übersicht konnte bei verschiedenen chronischen Schmerzzuständen, auch bei krebsbedingten Schmerzen die Wirksamkeit von TENS nicht belegen (Gibson et al. 2019).

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34.14.2 Psychologische Methoden Ihr Nutzen ist besonders bei der „chronischen Schmerzkrankheit“ nachgewiesen, sie können jedoch auch bei chronischen Tumorschmerzen unterstützend eingesetzt werden. Kognitive Verhaltenstherapie Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) versucht, dem Klienten zur Kontrolle über seine Emotionen und Symptome zu verhelfen – durch Veränderungen seines Verhaltens und seiner Gedanken. Sie hilft dem Klienten, schädliche Denkund Verhaltensmuster zu erkennen und zu verändern und dadurch mit seinen Schmerzen besser umzugehen. Die KVT wird durch Verhaltenstherapeuten üblicherweise in einer Reihe von Einzel- oder Gruppensitzungen durchgeführt. Eine Variante der KVT ist das Achtsamkeitstraining (“Mindfulness-Based Stress Reduction”, abgekürzt MBSR). Entspannungsverfahren Zu den Entspannungsverfahren gehören u. a.: • Progressive Muskelentspannung (Muskelentspannung nach Jacobson): Bei dieser Technik wird zunächst eine bestimmte Muskelpartie bewusst entspannt, dann kurz angespannt und anschließend wieder vollständig entspannt. Dasselbe wird mit weiteren Muskelpartien durchgeführt, bis alle Muskeln gelockert sind. • Autogenes Training: Dabei führt eine Art von Selbsthypnose zu körperlicher und seelischer Entspannung. • Imagination: Der Klient greift dabei auf innere Bilder zurück, die für ihn mit angenehmen Empfindungen verknüpft sind (z. B. ein Waldspaziergang). Biofeedback Diese Methode kombiniert ein Entspannungsverfahren mit Verhaltenstherapie. Ein Gerät misst über an der Haut angebrachte Sensoren körpereigene Signale wie Puls, Atemfrequenz, Muskelspannung oder Hauttemperatur. Auf einem Moni-

34 Schmerz

tor und über einen Lautsprecher werden die Signale sicht- und hörbar. Der Klient muss dann erlernen, diese Werte z. B. durch Entspannung zu verändern. Das Gerät vermittelt ihm, wie der Körper auf die Entspannung reagiert. Er erhält so ein Feedback (eine Rückmeldung) zur Entspannung, es wird ihm dadurch bewusst, wie sich An- und Entspannung anfühlen. Durch das Training erlernt er, seine körperlichen Reaktionen zu beeinflussen. Wichtig dabei ist, dass das Gerät nur als zeitlich limitiertes Hilfsmittel eingesetzt wird. Der Therapeut muss mit dem Klienten den Transfer der Übungen ohne Gerät erarbeiten und den Übertrag in den Alltag trainieren.

34.14.3 Psychosoziale Unterstützung Die Schmerzempfindung wird durch psychische Faktoren beeinflusst – im positiven wie im negativen Sinn (Abschn.  34.7.3). Es ist deshalb bei Schmerzpatienten wichtig, psychosoziale Aspekte zu beachten und evtl. weitere Fachpersonen (Sozialarbeiter, Seelsorger, Psychoonkologen) beizuziehen.

Literatur Zitierte Literatur Bubis LD et al (2018) Symptom burden in the first year after cancer diagnosis: an analysis of patient-reported outcomes. J Clin Onc 36:1103 Bubis LD et al (2020) Patient-reported symptom severity among 22,650 cancer outpatients in the last six months of life. J Pain Symptom Management 59:58 Cuthbert CA et al (2020) Patient-reported symptom burden and supportive care needs at cancer diagnosis: a retrospective cohort study. Support Care Cancer 28:5889 Gibson W et  al (2019) Transcutaneous electrical nerve stimulation (TENS) for chronic pain  – an overview of Cochrane Reviews. Cochrane Database Syst Rev 2019(2). https://doi.org/10.1002/14651858. CD011890.pub2 (Zugriff am 23.07.2023)

399 Gui Q et al (2021) Efficacy of exercise rehabilitation program in relieving oxaliplatin induced peripheral neurotoxicity. Asian Pac J Cancer Prev 22:705 Kunz R (2009) Schmerztherapie im Alter. Vortrag, download: www.end-of-life-care.de/fileadmin/diakoniekolleg_upload/dateien/Symposium/Roland_Kunz.pdf (Zugriff am 23.07.2023) Kutner JS (2008) Massage therapy vs. simple touch to improve pain and mood in patients with advanced cancer: a randomized trial. Ann Intern Med 149:369 Lee SH (2015) Meta-analysis of massage therapy on cancer pain. Integr Cancer Ther 14:297 Lu W (2018) Oncology acupuncture for chronic pain in cancer surviviors. Haemat Oncol Clin N Am 32:519 Lu W (2020) Acupuncture for chemotherapy-induced peripheral neuropathy in breast cancer survivors: a randomized controlled pilot trial. The Oncologist 25:310 Neuenschwander H et al. (2006) Palliativmedizin, 2. Aufl. Krebsliga Schweiz Oldenmenger WH et al (2018) A systematic review of the effectiveness of patient-based educational interventions to improve cancer-related pain. Cancer Treat Rev 63:96 Paice JA (2016) Management of chronic pain in survivors of adult cancers: american society of clinical oncology clinical practice guideline. J Clin Oncol 34:3325 Paley CA et  al (2015) Acupuncture for cancer pain in adults. Cochrane Database Syst Rev 2015(10). https:// doi.org/10.1002/14651858.CD007753.pub3 (Zugriff am 23.07.2023) Treede RD (2019) Chronic pain as a symptom or a disease: the IASP Classification of Chronic Pain for the International Classification of Diseases (ICD-11). Pain 160:19

Weiterführende Literatur Beubler E (2020) Kompendium der medikamentösen Schmerztherapie, 7. Aufl. Springer, Der Onkologe (2014) 20: 825–875: Leitthema Tumorschmerztherapie: Nauck F: Tumorschmerztherapie, S.  825; Zimmer A und Meißner W: Prinzipien der pharmakologischen Tumorschmerzbehandlung; S. 833; Gehling M: Interventionelle Verfahren in der Tumorschmerztherapie, S.  845; van Oorschot B und Rades D: Perkutane Strahlentherapie zur Schmerzlinderung; S. 853; Schulz-Gibbens C: Psychologische Aspekte in der Tumorschmerzbehandlung, S.  860; Müllauer E et  al.: Physiotherapeutische Schmerztherapie in der Onkologie Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebs-

T. Kroner und S. Heizmann

400 erkrankung, Langversion 2.2, 2020. https://www. leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/. Zugegriffen am 25.10.2020 Neuenschwander H, Cina C (2015) Handbuch Palliativmedizin, 3. Aufl. Verlag Hans Huber, Bern WHO (2018) WHO guidelines for the pharmacological and radiotherapeutic management of cancer pain in adults and adolescents. World Health Organization,

ber/Schmerzen-bei-Krebs_BlaueRatgeber_DeutscheKrebshilfe.pdf (Zugriff am 23.07.2023) Krebsliga Schweiz: Schmerzen bei Krebs und ihre Behandlung. Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Download: https://shop.krebsliga.ch/files/kls/ webshop/PDFs/deutsch/schmerzen-bei-krebs-undihre-behandlung-011107012111_01.pdf (Zugriff am 23.07.2023)

Broschüren für Klienten und Angehörige

Internetadressen

Deutsche Krebshilfe und Deutsche Krebsgesellschaft: Die Blauen Ratgeber – Schmerzen bei Krebs. Download: https://www.krebshilfe.de/infomaterial/Blaue_Ratge-

Krebsinformationsdienst.: https://www.krebsinformationsdienst.de/leben/schmerzen/schmerzen-index. php (Zugriff am 23.07.2023)

Psychosoziale Folgen

35

Sabrina Heizmann

35.1 Definition

35.3 Ursachen

Eine Erkrankung kann durch körperliche, psychische und soziale Beeinträchtigungen zu psychosozialen Belastungen führen. Diese können sich auf das Sozialverhalten, die Partizipation und die Lebensqualität des Klienten auswirken.

35.3.1 Körperliche Beeinträchtigung

35.2 Psychosoziale Folgen in der Onkologie

Weitere Beispiele: • Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie (Kap. 27) • Arthralgie/Myalgie (Kap. 32) • Fatigue (Kap. 33) • Schmerzen (Kap. 34) • Narben (Kap. 30) • Kognitive Dysfunktion (Kap. 29)

Immer mehr Klienten werden von ihrer onkologischen Erkrankung geheilt oder leben damit über eine längere Zeit. Die Nebenwirkungen der Behandlung oder der Krebs selbst können den Klienten physisch, seelisch, sozial und/ oder spirituell belasten und langfristig begleiten. Bis zu 60  % der Klienten leiden während ihrer onkologischen Erkrankung unter hoher seelischer Belastung (Leitlinienprogramm Onkologie 2023). Vier Bereiche, die eine psychosoziale Belastung darstellen können, werden im Folgenden dargestellt.

S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

Übelkeit, allgemeine Schwäche, Haarverlust, Magen-Darm-Beschwerden u.  v.  m. können die Teilhabe, das Wohlbefinden und die Selbstständigkeit eines Klienten einschränken und somit zu psychosozialer Belastung führen.

35.3.2 Psychische Beeinträchtigung Angststörung Angststörungen umfassen eine Gruppe von psychischen Störungen, denen ein übersteigertes Angstempfinden gemeinsam ist. Diese Angst äußert sich nicht nur im Gefühl der Angst, sondern auch in assoziierten körperlichen Symptomen wie z. B. beschleunigter Atmung, Atemnot, Zittern oder Schwitzen. Die Gruppe der Angst-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_35

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S. Heizmann

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störungen umfasst Phobien, Panikstörungen, die generalisierte Angststörung und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Anpassungsstörung Eine Anpassungsstörung entsteht als Folge einer akuten Belastungssituation wie z.  B. bei einem Verlust oder der Diagnose einer schweren Erkrankung. Der Klient hat Probleme, dieses Ereignis anzunehmen und zu verarbeiten. Er ist mit der Situation überfordert. Depression Depression bezeichnet einen Zustand gedrückter Stimmung, verbunden mit Antriebslosigkeit und negativen Gedanken, der länger als 2 Wochen anhält. Eine Depression ist eine ernstzunehmende Erkrankung, sie beeinflusst das Handeln und Denken. Neben den genannten Symptomen äußert sie sich auch mit körperlichen Symptomen wie Appetitlosigkeit, thorakalem Druckgefühl und Schlafstörungen. Abhängigkeit Eine Abhängigkeit, z.  B. von Alkohol oder von Glücksspielen, ist durch ein unabwendbares Verlangen nach der entsprechenden Substanz bzw. dem entsprechenden Reiz gekennzeichnet. Vernunftgeleitete Gedanken sind diesem Verlangen untergeordnet. Weitere Formen psychischer Beeinträchtigung Gefühle wie Niedergeschlagenheit, (Selbst-)Zweifel, Trauer, Gefühl des Würdeverlusts, Hoffnungslosigkeit, aber auch Ärger, Aggression oder gar Suizidalität können mit einer onkologischen Erkrankung einhergehen. Zu sehen, wie die Krankheit auch das eigene Umfeld  – Partner, Kinder, Freunde  – belastet, hat ebenfalls Auswirkungen auf das psychische Erleben des Klienten.

35.3.3 Soziale Beeinträchtigung Dazu zählen Isolation, Einsamkeit, Diskriminierung, Ausgrenzung und Konflikte mit dem Umfeld. Auch die finanziellen Auswirkungen der Krankheit und ob/wie der Klient

an seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann und mit welchen Problemen er dort konfrontiert wird, stellen mögliche soziale Belastungen dar.

35.3.4 Beeinträchtigung der Sexualität Eine onkologische Erkrankung und ihre Behandlung kann sich körperlich und psychosozial auf die Sexualität und somit auf die Lebensqualität eines Klienten auswirken. Beispiele für körperliche Ursachen sind: • schlechter Allgemeinzustand z.  B. durch Übelkeit oder Erbrechen, • Narbenproblematik, Fatigue, • Schmerzen, z.  B.  Wundschmerzen oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Daneben wird die Sexualität auch durch seelische und psychosoziale Faktoren beeinflusst, die mit der Erkrankung und ihren Folgen in enger Wechselwirkung stehen. Beispiele dafür sind: • depressive Episoden, Angststörungen, • Veränderung des Körperbildes und des Selbstwertgefühls, evtl. verbunden mit Scham oder Ekel, nach Therapien wie Brustamputation oder Anlagen eines Darmstomas, • Konflikte mit dem Partner.

35.3.5 Beispiele aus der Praxis Die folgenden Beispiele zeigen, dass die einzelnen Bereiche in der Realität in starker Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig verstärken können. Beispiel Herr Z. Herr Z. hat durch die onkologischen Therapien eine chemotherapieinduzierte Polyneuropathie an den Füßen entwickelt, die sich auf das Gleichgewicht auswirkt. Er hat große Angst zu stürzen und wurde aufgrund seines schwankenden Gangbildes auch schon für betrunken gehalten. Er

35  Psychosoziale Folgen

schränkt seine Freizeitaktivitäten immer weiter ein und distanziert sich aus Scham von Freunden. Da er allein lebt, gerät er zunehmend in eine soziale Isolation. Beispiel Frau R. Frau R. berichtet von ihren Erfahrungen mit ihrem Umfeld. Sie habe die Diagnose Brustkrebs sehr früh in ihrer Familie, bei Freunden und Bekannten bekannt gemacht. Alle schienen dies gut aufzunehmen und wollten sie unterstützen. Als sie nach der Chemotherapie keine Haare mehr hatte und bewusst auf eine Perücke verzichtete, bemerkte sie, wie es einigen ihr vertrauten Menschen schwerfiel, mit ihr eine Unterhaltung zu beginnen. Die Kontakte wurden weniger und brachen nach Wochen komplett ab, auch, weil die Klientin enttäuscht über deren Verhalten war. „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich weiß, dass es schwer sein kann, mit so einer Diagnose umzugehen. Nicht nur für mich, sondern auch für mein Umfeld. Aber hier wünschte ich mir Ehrlichkeit. Die Ehrlichkeit und den Mut dieser Personen, auf mich zuzugehen und mir zu sagen, dass es momentan für sie schwer sei oder dass sie nicht wüssten, wie sie mit mir umzugehen hätten. Ob sie die Therapie ansprechen sollten oder nicht. Ob sie den Haarverlust ansprechen dürften oder nicht. Ja, das wäre kurz unangenehm gewesen, aber gemeinsam hätten wir einen Weg gefunden, da bin ich sicher. Aber so bin ich einfach nur enttäuscht. Dass ich doch immer wieder Verabredungen absagen musste aufgrund von starker Erschöpfung, wurde nicht verstanden. Auch dass ich Therapievorschläge von Bekannten (die keine Mediziner waren) ablehnte, kam bei diesen nicht gut an. Mir wurde immer wieder vorgeworfen, ich würde mich einigeln und keine Hilfe annehmen. Mir sei nicht zu helfen. Einige mir zuvor wichtige Freundschaften sind daran zerbrochen. Ich bin darüber sehr traurig und frage mich, was ich falsch gemacht habe.“

Beispiel Herr C. Herr C. arbeitete als Fluglotse, bevor er an einem Magenkarzinom erkrankte. Schon während der Behandlung bemerkt er kognitive Defizite. Gleichzeitig entwickelt er eine Fatigue-­ Symptomatik. Kognitive Prozesse, die viel Konzentration erfordern, erschöpfen ihn immens. Ein Jahr nach Diagnosestellung und Behandlung sehen aufgrund der Schwere seiner Symptome weder er noch das behandelnde Team eine Möglichkeit für die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit. Herr C. macht

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sich nun große Sorgen, wie es für ihn beruflich weitergehen soll und wie er seine Familie – Ehefrau und 3 Kleinkinder – versorgen kann. Er hat Ängste in Bezug auf seine finanzielle Situation, da er und seine Frau kurz vor der Diagnose ein Eigenheim erworben haben. Herr C. identifiziert sich zudem sehr über seine Tätigkeit als Fluglotse und war stolz auf seine beruflichen Leistungen. Die Angst, dass der Krebs zurückkehren könnte, lässt ihn nachts kaum schlafen.

35.4 Diagnostik Das Vorliegen einer psychosozialen Belastung kann mithilfe verschiedener Fragebogen ermittelt werden. Diese sollten im Behandlungsverlauf regelmäßig eingesetzt werden, um eine psychosoziale Belastung möglichst früh zu erkennen. Die zuvor genannte Leitlinie (Leitlinienprogramm Onkologie 2023) empfiehlt den Einsatz des Distress-­Thermometers (Kap. 21) oder die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS). Diese Fragebogen liefern keine Diagnose, sondern geben nur einen Hinweis auf das mögliche Vorliegen einer psychosozialen Belastung. Das bedeutet, dass bei einer auffälligen Auswertung unbedingt weitere Schritte unternommen werden müssen, beispielsweise ein persönliches Gespräch mit dem Klienten und eventuell die Überweisung an einen Psychoonkologen. Alle an der Behandlung Beteiligten sollten im Gespräch mit dem Klienten mögliche psychosoziale Belastungen ansprechen und ihm so die Möglichkeit geben, diese zu thematisieren. Wie oben beschrieben können verschiedene Ursachen  – allein oder in Kombination  – zu psychosozialen Problemen führen. Ihre Erfassung (Abschn. 35.3) ist wichtig. Anschließend ist ihre Ursache abzuklären. Nur so können dem Klienten passende Interventionen zur Lösung der Situation angeboten werden. Ist eine psychosoziale Belastung offensichtlich Folge einer körperlichen Beeinträchtigung, sollte diese nach Möglichkeit behandelt werden. In Kap. 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33 und 34 werden häufige körperliche Ursachen von psychosozialen Belastungen und die entsprechenden Interventionen beschrieben.

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35.5 Interventionen 35.5.1 Psychosoziale Beratung Verschiedene Berufsgruppen wie Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter oder Pädagogen bieten psychosoziale Beratungen an, sowohl im stationären sowie auch im ambulanten Setting. Je nach Kompetenz bezieht sich die Beratung auf soziale, z. B. sozialrechtliche Inhalte (Kap. 22) oder auf psychologische Themen wie psychosoziale Belastung und Krisenmanagement (Kap. 21). Im klinischen Setting ist es wichtig, dem Klienten für die Zeit nach dem Klinikaufenthalt wohnortnahe Adressen (z. B. Integrationsdienst, Krebsberatungsstellen) auszuhändigen, damit er weiß, an wen er sich zu Hause wenden kann.

35.5.2 Beratung bei Störungen der Sexualität Möglichkeiten, Sexualität anzusprechen Störungen der Sexualität werden vom medizinischen Personal wenig beachtet. Sexuelle Probleme werden vom Klienten nicht spontan angesprochen, auch wenn sie ihn sehr belasten. Die größte Hürde stellen dabei Hemmungen dar, dieses Thema anzusprechen – sowohl auf der Seite der Behandelnden wie auf der Seite der Klienten. Die Therapeuten möchten dem Klienten nicht zu nahe treten. Dabei werden offene Fragen nach möglichen sexuellen Problemen vom Klienten meist positiv wahrgenommen und geschätzt. Eine offene Frage wie z. B. „Haben Sie durch Ihre Erkrankungen oder Therapie Veränderungen in der Partnerschaft oder Sexualität erfahren?“ ermöglicht es dem Klienten, sich bei Bedarf auf die Thematik einzulassen und sich dem Therapeuten zu öffnen. Der Therapeut selbst muss bei einem solchen Gesprächsangebot dazu bereit sein, alle Wünsche, Erfahrungen und Probleme im sexuellen Kontext wertfrei aufzunehmen. Er darf im Gespräch mit dem Klienten nicht durch eigene Scham gehemmt sein. Ein hilfreiches Instrument zur Erhebung der Intimität und Sexualität als Betätigungsanliegen

S. Heizmann

ist auf OPISI-DE (https://uindy.edu/health-sciences/ot/opisi-de) zu finden. Um die Hemmschwelle zum Einstieg in die Thematik für den Klienten wie den Therapeuten niedrig zu halten, kann der Therapeut den Initialfragebogen mit folgenden Worten aushändigen: „Uns ist bekannt, dass Ihre Erkrankung mit einer Beeinträchtigung von Intimität und Sexualität einhergehen kann. Ich habe hier einen entsprechenden Fragebogen für Sie. Wenn das für Sie ein mögliches Thema für unsere Therapie darstellt, dann bringen Sie den Bogen zu einer der kommenden Einheiten wieder mit. Sonst werfen Sie ihn weg.“ Information und Beratung Oftmals benötigen Gespräche über sexuelle Beeinträchtigungen nicht viel Zeit. Klienten sind froh darüber, einen Rahmen zu finden, in dem sie damit ernst genommen werden. Durch das Sprechen über die Thematik mit einer außenstehenden Person können Hemmungen abgebaut werden, dieses Thema auch beim Partner anzusprechen. Zeitgleich können auch mögliche Lösungsstrategien angesprochen werden, wie z. B.: • Veränderung der Position beim Geschlechtsverkehr, • mögliche Hilfsmittelversorgung wie z. B. Penispumpe beim Klienten mit Erektionsstörungen oder Vaginaldilatatoren, um eine Stenosierung der Vagina bei Klientinnen nach Bestrahlung des Beckens zu vermeiden, • Verhinderung einer Strahlenvaginitis durch Nutzung von Tampons, die zuvor in Bepanthensalbe getränkt sind, • Nutzung von Gleitgel bei Trockenheit der Scheide. Auch die Vermittlung von Hilfsangeboten kann eine wertvolle Hilfe darstellen. Verweisen kann der Therapeut dabei auf die Sexualberatung, die in Deutschland z.  B. von ProFamilia angeboten wird. Auch die psychosozialen Beratungsstellen der Deutschen Krebsgesellschaften bzw. der Krebsliga Schweiz oder der Krebshilfe Österreich bieten bei sexuellen Störungen Unterstützung an (Internetadressen).

35  Psychosoziale Folgen

35.6 Bemerkungen zur ergotherapeutischen Behandlungsstrategie Ergotherapeuten können durch die Erfassung der Betätigungsanliegen (Kap. 26) und deren individuelle Bearbeitung unter Einbezug des Klienten einen großen Teil zur Linderung psychosozialer Belastungen beitragen. Durch das Wiedererlangen von Betätigungen, die ihnen wichtig sind, erlangen Klienten Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit und Lebensqualität zurück. Neben der Erarbeitung von Betätigungsanliegen sollten auch die Ressourcen der Klienten sichtbar gemacht werden. Ergotherapeutische Interventionen sollten je nach Ausmaß der psychosozialen Belastungen in enger Zusammenarbeit mit dem Arzt und/oder Psychoonkologen erfolgen, um Behandlungsschritte aufeinander abzustimmen und den Klienten bei psychischen Krisen aufzufangen.

Literatur Zitierte Literatur Leitlinienprogramm Onkologie (2023) (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten, Langversion 2.0. https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/filead-

405 min/user_upload/Downloads/Leitlinien/Psychoonkologie/Version_2/LL_Psychoonkologie_Langversion_2.0.pdf

Broschüren für Klienten und Angehörige Broschüren zu Sozialleistungen: Kap. 22 Männliche Sexualität bei Krebs.: https://shop.krebsliga. ch/files/kls/webshop/PDFs/deutsch/maennliche-­ sexualitaet-­bei-­krebs-­011029012111.pdf (Zugriff am 25.07.2023) Patientenleitlinie Psychoonkologie.: https://www.krebshilfe.de/infomaterial/Patientenleitlinien/Psychoonkologie_Patientenleitlinie_DeutscheKrebshilfe.pdf (Zugriff am 25.07.2023) Weibliche Sexualität bei Krebs.: https://shop.krebsliga.ch/ fi l e s / k l s / w e b s h o p / P D F s / d e u t s c h / w e i b l i c h e -­ sexualitaet-­bei-­krebs-­011030012111_01.pdf (Zugriff am 25.07.2023)

Internetadressen Beratungsstellen und Online-Beratung zu Partnerschaft, Sexualität, Familienplanung und Schwangerschaft (Deutschland): ProFamilia: https://www.profamilia. de/interaktiv/online-­beratung (Zugriff am 25.07.2023) Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie e.V.: www.dapo-­ev.de (Zugriff am 25.07.2023) Krebsgesellschaften: Deutschland.: https://www.krebsgesellschaft.de/landeskrebsgesellschaften.html (Zugriff am 25.07.2023) Österreich.: https://www.krebshilfe.net/ (Zugriff am 25.07.2023) Schweiz.: https://www.krebsliga.ch/ (Zugriff am 25.07.2023) OPISI-DE https://uindy.edu/health-sciences/ot/opisi-de (Zugriff am 25.07.2023)

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Fallbeispiele Sabrina Heizmann und Lina Herrmann

Die folgenden Fallbeispiele zeigen den ergotherapeutischen Prozess entsprechend dem Modell der American Occupational Therapy Association (AOTA) (z.  B.  Bravemann und Hunter 2019). Das Modell wird in Kap.  26 im Detail beschrieben.

Ergotherapeutisches Profil Bei Frau Z. (51 Jahre alt) wurde ein invasives Mammakarzinom diagnostiziert. Sie entdeckte bei sich selbst einen schmerzlosen Knoten in der rechten Brust und suchte anschließend den Frauenarzt auf. Die onkologische Behandlung bestand aus einer radikalen Mastektomie mit Lymphknotenbiopsie, Chemo- und Strahlentherapie. Die Biopsie ergab ein Mammakarzinom im 2. Stadium ohne Metastasen.

zwei Kinder (20 und 25 Jahre alt), die nicht mehr im Haushalt leben. Sie ist Inhaberin eines Friseursalons mit zwei Angestellten. Frau Z. war in allen Haushalts-, Alltags- und Berufstätigkeiten bis zur Erkrankung unabhängig. Sie fuhr mit dem eigenen Auto an 5 oder 6 Tagen in der Woche in ihren Salon, der etwa 5 km vom Eigenheim entfernt ist. Ihre Hobbys sind regelmäßiges Joggen in einer Laufgruppe, Yoga und Lesen. Frau Z. trug eine Perücke, mit der sie gut zurechtkam. Sie freute sich wieder auf ihre eigenen Haare. Sie gab an, dass ihre Fingerspitzen und Zehen kribbeln würden. Sie habe zudem das Gefühl, unsicher auf den Beinen zu sein und oft zu stolpern. Zudem gab sie Schmerzen beim Heben des rechten Armes an. Er würde sich geschwollen anfühlen. Gegen Ende eines Tages konnte sie die rechte Hand nicht mehr zur Faust ballen. Sie habe Angst, dass dies die Ausübung ihres Berufes beeinträchtigen könnte. Gemäß COPM wurden folgende Ziele definiert und nach Ausführung, Zufriedenheit und Wichtigkeit bewertet:

Ein erster ergotherapeutischer Befund wurde mittels des Canadian Occupational Performance Measure (COPM) erhoben. Frau Z. wohnt in einem Eigenheim mit ihrem Ehemann. Sie hat

• 20  min Stehen und eine Hochsteckfrisur anfertigen innerhalb von 3 Wochen • Eine Strecke von 3 km innerhalb einer Stunde joggen

S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

Analyse der Betätigungsperformance Da sich die Klientin in der Reha-Maßnahme befand, konnte keine Analyse am Arbeitsplatz ­gemacht werden. Aber es wurde versucht, die Si-

36.1 Fallbeispiel 1 36.1.1 Evaluation

L. Herrmann Oberwolfach, Deutschland

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_36

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tuation so genau wie möglich mit einem Frisierkopf nachzustellen. Die Tätigkeit wurde gefilmt. Nach 10  min musste Frau Z. die Betätigung unterbrechen, da sie Schmerzen im Arm hatte und sie sich zunehmend unsicherer im Stand fühlte. Anschließend wurde gemäß der Betätigungsanalyse die Betätigung begutachtet (Kap. 26). Zusätzlich wurde Folgendes unternommen: • In der Aufnahme fand eine Beobachtung von Frau Z. im Therapiegeschehen statt (Eintreten in den Therapieraum, Setzen auf Stuhl, Transfer, Laufen, Bewegungsqualität der oberen Extremität). • Aufnahme der polyneuropathischen Beschwerden (Abschn. 27.7). • Überprüfung des Gleichgewichts durch die Berg Balance Scale (Kap. 28). Die Mobilität ist leicht eingeschränkt und das Sturzrisiko erhöht. • Durchführung der Lower Extremity Functional Scale, um herauszufinden, wie Frau Z. selbst ihre Fähigkeiten zu stehen, gehen etc. im Alltagsbezug beurteilte. Sie erreichte eine Punktzahl von 45/80 Punkten. • Aktive und passive Überprüfung des Bewegungsausmaßes der oberen Extremität wurde gemäß der Neutralnullmethode mit einem Goniometer im Seitenvergleich dokumentiert. Leichte Schmerzen an der Narbe empfand sie vor allem bei einer Abduktion im Schultergelenk >90°. An Tipps zur Narbenpflege könne sie sich nicht erinnern. • Durchführung des Dash-Fragebogens, um die Auswirkungen der Bewegungseinschränkung der oberen Extremität auf die körperlichen Funktionen sowie ihre Partizipation zu bestimmen. Sie erreichte eine Punktzahl von 40 (0 = vollständige, uneingeschränkte Funktion, 100  =  die größtmögliche Funktionseinschränkung). Die Klientin bemerkte dabei, dass ihr noch mehr Betätigungen – vor allem über Kopf – im Alltag schwerfallen. • Nach Feststellung von feinmotorischen Schwierigkeiten im Dash wurde der Allensbacher Feinmotorik-Test durchgeführt. Im Screening ergibt sich eine leichte Beeinträchtigung der Feinmotorik.

S. Heizmann und L. Herrmann

• Anamnese zur Mastektomie (Abschn.  31.5): Ihre Brustprothese trägt sie in einem speziellen BH den ganzen Tag über und kommt damit gut zurecht. Sie stellt für sie eine Übergangslösung bis zur brustaufbauenden OP dar. Interdisziplinärer Austausch • Absprache mit der Physiotherapie in Bezug auf Lymphödem-Management, Gleichgewichtstraining und Armbeweglichkeit. Ebenso wurde besprochen, dass im Zuge der Förderung der Armbeweglichkeit die Physiotherapie das Narbenmanagement übernimmt. • Absprache mit der Physio- und Sporttherapie: Mit Frau Z. und den anderen Disziplinen wurde besprochen, dass  – sobald sie sich sicherer auf den Beinen fühlt – sie das Walken für sich ausprobieren soll, um das Ziel „Eine Strecke von 3 km innerhalb einer Stunde joggen“ vorbereiten zu können. • Absprache mit der Psychoonkologie: Ansprache und Besprechen von Strategien für Frau Z. im Umgang mit der Angst, Einschränkungen könnten dauerhaft bleiben und Privat- sowie Berufsleben beeinträchtigen. • Absprache mit der Sozialberatung: Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für Frau Z. als Selbstständige?

36.1.2 Interventionen Maßnahmenplan und -durchführung • Frau Z. wurde insgesamt 3 Wochen in der Anschlussheilbehandlung behandelt. Davon war sie 2-mal pro Woche für 30 min in der ergotherapeutischen Einzelbehandlung. • Die therapeutischen Interventionen zielten auf eine Verbesserung der Betätigungsperformanz sowie auf eine Wiederaufnahme von für sie bedeutsamen Betätigungsrollen ab (Chefin des Salons, Teilnehmerin ihrer Laufgruppe). • Aktive Bewegungsübungen mit Alltagsbezug wurden besprochen, ausprobiert und in Eigenübung angeleitet, um die Beweglichkeit der rechten oberen Extremität über Kopf zu för-

36 Fallbeispiele









dern (z. B. Haare waschen mit Duschbrause in der rechten Hand, Perücke frisieren auf dem Kopf, …). Verschiedene Übungen zur Förderung der Feinmotorik und des Faustschlusses, die sich leicht in den Alltag einbauen ließen, um die Feinmotorik über den ganzen Tag hinweg zu erhalten. Die Übungen sollten zudem den Abfluss der Lymphe unterstützen. Theoretische Überlegungen zur Anpassung des Arbeitsplatzes: –– Stehhilfe, um der Gleichgewichtsproblematik beim langen Stehen bei der Arbeit entgegenzuwirken, –– Management der Lymphproblematik, um den Einstieg in die Arbeit zu erleichtern: Zunächst Termine zum Schneiden vormittags einplanen. Nachmittags z.  B. eher Termine zum Frisieren, Arbeiten mit dickeren Griffen (z.  B.  Bürsten), Pausen und Bewegungsübungen zwischen den Kunden, mehr Büroarbeit mit höhenverstellbarem Schreibtisch, Walkboard etc. Haarewaschen/Kopfmassage an Mitarbeiter delegieren, um dauerhaft warmes Wasser an der Hand zu vermeiden. Frau Z. nahm 2- bis 3-mal pro Woche am polyneuropathischen Gruppentraining teil. Hierbei werden Informationen zur chemotherapieinduzierten Polyneuropathie (CIPN) sowie verschiedene Maßnahmen, die der Klient selbst für sich machen kann, vermittelt (Kap. 27). Frau Z. nahm 2-mal pro Woche an einem Trampolintraining zur Verbesserung des Gleichgewichts teil (s. Abschn. 27.10.2).

Überprüfung der Interventionen Eine Woche vor der Entlassung wurden die Interventionen überprüft. Frau Z. konnte folgende Fortschritte erzielen: • Evaluation COPM: Beim Stehen und Gehen sowie der Armhebung ohne Schmerzen war Frau Z. mit der Ausführung zufriedener, sie beschrieb merkliche Fortschritte. • Übungen im Stand und bei Tätigkeiten über Kopf konnte sie zeitlich länger ausführen. • Die Armbeweglichkeit konnte verbessert werden (Kontrollmessung Neutralnullmethode).

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• Frau Z. gab an, mehr Bewegungen über Kopf in ihren Alltag zu integrieren, statt sie zu umgehen. • Sie führte regelmäßig die feinmotorischen Bewegungsübungen mit der Hand durch. Sie konnte die Hand nun auch gegen Ende des Tages fast komplett zur Faust schließen. • Frau Z. fühlte sich beim Gehen sicherer und hat das Walken angefangen. Die zwei Stöcke vermittelten ihr ein sichereres Gefühl im Gelände. • Die Berg Balance Scale wurde wiederholt. Die Mobilität war noch leicht eingeschränkt. Ein leichtes Sturzrisiko bestand weiterhin. • Im Dash Score erreichte sie nun eine Punktzahl von 20 (0  =  vollständige, uneingeschränkte Funktion, 100  =  größtmögliche Funktionseinschränkung). • Die Lower Extremity Functional Scale wurde ebenfalls wiederholt. Nun erreichte Frau Z. in der Selbsteinschätzung 60/80 Punkten. Frau Z. berichtete, dass sie das Gefühl habe, die Kribbelsymptomatik der CIPN würden zunehmen. Interventionen nach Abschn.  27.10.6 wurden eingeleitet.

36.1.3 Outcome Die Betätigung „20 Minuten Stehen und eine Hochsteckfrisur anfertigen innerhalb von 3 Wochen“ wurde zum Abschluss der Reha-­Maßnahme nochmals überprüft und die Betätigung über 20  min wieder gefilmt. Frau Z. gelingt es, den Modellkopf innerhalb von 20  min im Stand zu frisieren. Sie ist danach erschöpft, aber glücklich. Die Verschlechterung der Kribbelsymptomatik der CIPN war ebenfalls rückläufig. Frau Z. hatte regelmäßig überstimuliert. Die Ergotherapie sprach die folgenden Empfehlungen aus: • Fortführung des Bewegungsprogramms für die obere Extremität • Fortführung des Gleichgewichtstrainings, um die Betätigungsziele sicheres Stehen bei der Arbeit und das Betätigungsziel „eine Strecke

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von 3  km innerhalb einer Stunde joggen“ weiterhin zu unterstützen • Fortführung des Sensibilitätstrainings zur Unterstützung der Reduktion der CIPN • Unterstützung durch eine ergotherapeutische Intervention, die Frau Z. bei der Anpassung des Arbeitsplatzes unterstützt, um ihr den Einstieg zu erleichtern

36.2 Fallbeispiel 2 36.2.1 Evaluation Ergotherapeutisches Profil Bei Frau G. (39 Jahre alt) wurde ein Ovarialkarzinom festgestellt. Bei der anschließenden Operation wurde das Stadium 3 durch eine Biopsie ermittelt. Beide Ovarien und der Uterus sowie angrenzende Lymphknoten im Leistenbereich wurden entfernt. Anschließen erfolgte eine Behandlung durch Chemotherapie. Frau G. hat an beiden Beinen ein Lymphödem 2. Grades. Ein erster Befund wurde mittels COPM erhoben: Frau G. ist alleinstehend und arbeitet als Sekretärin in einem großen Unternehmen. Sie bewohnt eine Mietswohnung und kann mit den öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb von 20 min ihren Arbeitsplatz erreichen. Bisher sei sie in ihrer Alltagsbewältigung selbstständig gewesen. Sie besuche regelmäßig ihre verwitwete Mutter und unterstütze sie bei Einkäufen und Haushalt. Ihre Hobbys sind Lesen, Malen und Schwimmen. Seit der Therapie konnte sie sich nicht mehr richtig konzentrieren und gab an, ständig völlig erschöpft und müde zu sein. Sie habe das Gefühl gehabt, kein Schlaf brächte ihr Erholung. Vieles im Haushalt war liegen geblieben, und sie konnte sich auch nicht dazu aufraffen, ihren Hobbys nachzugehen. Die Aussicht darauf, bald wieder arbeiten zu müssen, würde sie erschlage. Davor habe sie am meisten Angst: kraftlos und ohne sich konzentrieren zu können an ihrem Arbeitsplatz zu sitzen. Durch das Lymphödem wüsste sich auch gar nicht, ob und wie lange sie dadurch ihrer Tätigkeit wieder nachgehen könne, ohne dabei

S. Heizmann und L. Herrmann

Schmerzen zu haben. Auch die Unterstützung der Mutter konnte sie zu dieser Zeit nicht mehr bewerkstelligen, da sie selbst die Kraft für ihren Alltag gebraucht habe. Aber sie fühlte sich für sie verantwortlich und wollte baldmöglichst wieder für sie da sein. Sie wollte den eigenen Haushalt und den ihrer Mutter wieder bewältigen können. Die Ausführung einzelner Tätigkeiten im Haushalt sei an sich dabei nicht das Problem gewesen. Vielmehr die Planung und Mobilisierung von Energie, sich zu diesen Tätigkeiten „aufzuraffen“. Gemäß COPM wurden folgende Ziele definiert und nach Ausführung, Zufriedenheit und Wichtigkeit bewertet: • Sich 30  min konzentrieren können auf die Arbeitsaufgaben (Texte lesen, Anrufe beantworten, Termine notieren …) • Sitzen über 30 min am Schreibtisch Analyse der Betätigungsperformance Da sich die Klientin in einer Reha-Maßnahme befand, konnte keine Analyse am Arbeitsplatz gemacht werden. Aber es wurde versucht, die Situation (Büroarbeitsplatz) nachzustellen. Die Tätigkeit wurde gefilmt. Da Frau G. als Sekretärin viele Termine und Anrufe entgegennehmen muss, wurde diese Situation der Arbeit mit dem RehaCom-­ Anrufe-/Anrufbeantworteransagen-­Tool simuliert. Dabei hörte die Klientin über 30 min verschiedene Anrufbeantworteransagen und musste anschließend Fragen zu den Inhalten beantworten. Das Tool wurde zuvor Frau G. kurz vorgestellt und abgeglichen, ob es die Arbeitsbedingungen von Frau G. in etwa widerspiegeln würde. Nach 20  min wurde Frau G. zunehmend unruhiger in ihrer Sitzposition. Die 30 min konnte sie jedoch sitzen bleiben. Zufrieden war sie jedoch nicht damit, da sie sich unwohl und einen Druck der Beine gefühlt habe. Sie fühlte sich nach dieser Arbeit sehr erschöpft, und das Tool zeigte nach 15 min eine deutliche Erhöhung der Fehleranzahl. Anschließend wurde gemäß der Betätigungsanalyse die Betätigung begutachtet (Kap. 26). Zusätzlich wurde Folgendes unternommen:

36 Fallbeispiele

• Es wurde ein Interview mittels des OPHI-II durchgeführt, um die Betätigungsrollen von Frau G. zu erfassen. Ihre Rollen als fürsorgliche Tochter und verantwortungsvolle Arbeitnehmerin treten dabei in den Vordergrund. • Durchführung Brief Fatigue Inventory (BFI), um die Ausprägung der Fatigue zu messen (Kap. 33). • Durchführung von Testungen zu Aufmerksamkeit und Kurzzeitgedächtnis (Kap. 29). • Durchführung der Work Environment Impact Scale (WEIS) zur Erhebung der Arbeitsumwelt am aktuellen Arbeitsplatz. Bei der Analyse sprach Frau G. immer wieder das Thema „abgeschlossener Kinderwunsch“ an. Sie habe keinen Wunsch nach Kindern gehabt, und auch der richtige Partner habe ihr bis zum jetzigen Zeitpunkt gefehlt. Durch den Krebs und die anschließende Operation war diese Entscheidung nun endgültig. Sie beschrieb, dass es ihr schwerfallen würde, dies nun zu akzeptieren, da sie sich nicht mehr frei in ihrer Entscheidung fühle. Der Krebs habe entschieden. Interdisziplinärer Austausch • Absprache Sporttherapie: angepasstes Bewegungstraining zur Reduktion der Fatigue. • Absprache Psychoonkologie: Absprache zur Behandlung der Fatigue, Ansprache der Angst vor dem Wiedereinstieg in die Arbeit, Kinderwunschsituation. Zudem Besprechung der Rollen, die Frau G. in ihrem Alltag einnimmt (fürsorgliche Tochter, pflichtbewusste Mitarbeiterin). • Absprache Kunsttherapie: Frau G. wollte sich gerne mit ihrer Erkrankung auf kreative Weise auseinandersetzen, Informationen über die Kinderwunschsituation teilen. • Absprache Sozialberatung: Erleichternde Maßnahmen (stufenweise Wiedereingliederung, welche Hilfsmittel stehen ihr aufgrund der Lymphproblematik zu) zum Wiedereinstieg in die Arbeit wurden besprochen.

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36.2.2 Interventionen Maßnahmenplan und -durchführung • Frau G. wurde insgesamt 3 Wochen in der Anschlussheilbehandlung behandelt. Davon war sie 2-mal pro Woche für 30 min in der ergotherapeutischen Einzelbehandlung. • Das Management der Fatigue beinhaltete Aufklärung und die Einführung in das Führen eines Tagebuchs, um das eigene Energielevel über den Tag kennenzulernen, Stressoren und Ressourcen für sich zu erkennen (Kap. 33). • Frau G. nahm 2- bis 3-mal pro Woche an einem Hirnleistungstraining in der Gruppe teil. Hierbei wurden Informationen zur kognitiven Dysfunktion sowie verschiedene Maßnahmen, die der Klient selbst für sich machen kann, vermittelt (Kap. 29). • Gemeinsames Erarbeiten erleichternder Maßnahmen bezüglich Lymphödem an den Beinen am Arbeitsplatz: Erproben eines Wechselarbeitsplatzes (Steh-/Sitz), Sattelsitz, um einen 90°-Winkel im Hüftgelenk beim Sitzen zu vermeiden, Erarbeiten von Pausen- und Bewegungsstrategien, die sich in den Arbeitsalltag integrieren lassen (z. B. Weg zum Drucker, Übungen der unteren Extremität am Arbeitsplatz, zeitlich versetztes Einplanen von Kaffee- und Toilettenpausen, um mehrmals aufzustehen, arbeiten mit Headset, um im Stehen/Gehen zu telefonieren). Überprüfung der Interventionen Die Fortschritte von Frau G. wurden eine Woche vor Entlassung überprüft. Folgende Fortschritte konnten erzielt werden: • Frau G. bemerkte Fortschritte im Bereich konzentriertes Lesen. Sie konnte sich gute 20 min auf den Inhalt des Buches konzentrieren. • Frau G. bemerkte nach anfänglicher Frustration, dass ihr die Übungen für Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit Spaß machen würden und sie sich gut vorstellen könnte, die Lösung

S. Heizmann und L. Herrmann

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von kognitiven Aufgaben/Rätseln zu einem neuen Hobby zu machen. • Frau G. gab an, dass sie vor allem ab dem späten Vormittag sehr leistungsfähig sei. Diese Leistungsfähigkeit nahm meist ab dem Spätnachmittag deutlich ab. Kleine Pausen konnten den Leistungsabfall etwas hinauszögern. Dementsprechend hatte sie sich nach Besprechung mit der Ergotherapie mit der Therapieplanung zusammengesetzt und versucht, das Sportprogramm frühestens ab 10:30 Uhr einplanen zu lassen. Entspannende Anwendungen versuchten sie eher am Abend einzuplanen. Frau G. erklärte, dass ihr die körperliche Bewegung und ein geplanter Ablauf des Alltags sehr guttäten. Sie hatte jedoch Angst, dass ihr die Übernahme in den Alltag nicht gelingen würde. Darauf wurde im Einzelsetting weiter eingegangen, und theoretische Transfermöglichkeiten wurden besprochen. So wollte Frau G. mit ihrem Arbeitgeber sprechen, um ihre Arbeitszeiten ihrer Leistungsfähigkeit anzupassen. Sie berichtete außerdem, dass sie die Erkrankung psychisch doch mehr mitnahm, als sie sich zu Beginn eingestanden hatte. Daher wollte sie auch zu Hause weiter psychoonkologisch betreut werden.

36.2.3 Outcome Die Betätigungen „30 Minuten am Schreibtisch sitzen können“ gelang ihr zum Abschluss der Reha-Maßnahme, und sie fühlte sich dabei wohl. Sie berichtete zudem, dass sie nun weniger Angst (vor zu langem Sitzen und dadurch vor Verschlechterung der Lymphproblematik) habe durch die vielen Strategien, die sie in ihren Arbeitsalltag

integrieren wollte. Im Vorher-­Nachher-­Vergleich zeigte Frau G. bezüglich der Konzentrationsdauer deutliche Fortschritte. Sie konnte sich nun 20 min auf ihre Aufgabe konzentrieren, bevor wieder die Fehlerquote im Tool erhöht wurde. Auch wenn hierbei kein Transfer zu ihrem Arbeitsplatz gezogen werden kann, was Frau G. auch weiß, gibt es ihr nach eigener Aussage dennoch Sicherheit. • Der BFI wurde wiederholt. Sie erreichte nun einen Wert von 50/70. • Testungen der Aufmerksamkeit, des Kurzzeitgedächtnisses und der Merkfähigkeit wurden wiederholt. Auch hier haben sich die Ergebnisse im Vergleich zur Aufnahme gebessert. Die Ergotherapie sprach die folgenden Empfehlungen aus: • Fortführung des Eigenprogramms des Hirnleistungstrainings • Fortführung des Fatigue-Tagebuchs und Alltagsplanung mit Identifizierung von Stressoren und Ressourcen im Alltag • Ergotherapeutische Interventionen im häuslichen Umfeld, um bei der Integration in den Alltag die für gut befundenen o.  g. Maßnahmen zu unterstützen. Ebenso sollten die betriebliche Integration und die Erprobung der besprochenen Maßnahme am Arbeitsplatz begleitet und angepasst werden.

Literatur Zitierte Literatur Bravemann B, Hunter EG (2019) Rehabilitation nach Krebserkrankung. Leitlinien der Ergotherapie, Bd 13. Hogrefe, Bern

Teil VI Spezielle Bereiche der Ergotherapie in der Onkologie

Ergotherapie in der pädiatrischen Onkologie

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Sabrina Heizmann

37.1 Einleitung In der Ergotherapie, gerade in Praxen, machen Kinder einen großen Teil der Klientel aus. Mit pädiatrischen onkologischen Erkrankungen und deren Nachbehandlung kommen Ergotherapeuten jedoch weniger in Berührung, weil diese Erkrankungen sehr selten sind. Auch in der Ausbildung ist die pädiatrische wie auch die allgemeine Onkologie kaum ein Thema. Unwissenheit macht jedoch unsicher, weshalb dieser Bereich hier dargestellt werden soll. In Kap. 44 werden einige wichtige kindliche Tumoren beschrieben. In erster Linie wollen wir aber die pädiatrische Onkologie für unsere Leser „greifbar“ darstellen. Wir wollen zeigen, welchen Weg der kleine Klient, wenn er zur Nachbehandlung kommt, schon hinter sich gebracht hat. Nur in ganz wenigen Kliniken zur pädiatrisch-­ onkologischen Akutbehandlung sind Ergotherapeuten angestellt, die die Kinder und Jugendlichen begleiten. Eine solche Klinik haben wir jedoch gefunden und konnten dort einen Arzt und zwei Ergotherapeuten über ihre Arbeit, ihren Alltag und ihre Strategien befragen.

S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected]

37.2 Interviews zur pädiatrischen Onkologie 37.2.1 Vorstellung der Klinik Beim Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) in Bielefeld handelt es sich um ein Krankenhaus der Maximalversorgung mit rund 4600 Mitarbeitenden. Es stehen 1755 stationären Betten für die Versorgung von jährlich 170.000 Klienten zur Verfügung. Auch teilstationäre und ambulante Behandlungen werden angeboten. Es ist eines der größten Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen mit über 30 Fachabteilungen.

37.2.2 Vorstellung der Abteilung Ergotherapie Eine Fachabteilung des EvKB ist die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin mit der Unterabteilung Kinderhämatologie und -onkologie. Die Autorin hat die Station „K8“ besucht und einen Arzt sowie die dort behandelnden Ergotherapeuten interviewt. In der Abteilung arbeiteten im Jahr 2020 zwei Ergotherapeuten in Vollzeitanstellung, die von Montag bis Freitag die Kinder und Jugendlichen auf der Station betreuten. Die Ergotherapie bietet den Kindern einen Raum auf der Station, in dem sie sich entfalten können und der ihnen Schutz und Intimität während der stationären Aufenthalte bietet. Trotz

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_37

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Abb. 37.1  Dompteur des Schicksals, das Spiel mit der Gefahr Mattis ist seit 4 Jahren in Behandlung. Er mobilisiert alle seine Ressourcen und spielt phantasievoll mit der Gefahr (auch in der Realität), wodurch er weiterhin Stärke erfährt. Neben der medizinischen Therapie, die er passiv mitmacht, kämpft Mattis auch aktiv gegen die Krankheit, manchmal bewusst und manchmal unbewusst, wie im Spiel mit dem Krokodil

der Krankheit und der Isolation durch die langen stationären Aufenthalte ist es wichtig, dass Autonomie, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit etc. erhalten bleiben und auch weiterhin wachsen (Abb. 37.1).

37.2.3 Das Interview mit dem pädiatrischen Onkologen Sabrina Heizmann (SH)  Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen für meine Fragen. Die pädiatrische Onkologie: Um was handelt es sich dabei, und welche Krankheitsbilder sind vertreten? Gibt es große Unterschiede zur Onkologie der Erwachsenen? Arzt  Die pädiatrische Onkologie beschäftigt sich mit der Diagnostik und Behandlung von bösartigen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, d.  h. von Neugeborenen im Alter von einigen Tagen bis zu Adoleszenten im Alter von 18 Jahren. Bei den Jugendlichen gibt es allerdings einen „Übergangsbereich“, in dem das Krankheitsbild entscheidet, ob die Behandlung in den pädiatrischen Bereich oder in den Erwachsenenbereich gehört.

S. Heizmann

Die pädiatrische Onkologie zeigt viele Unterschiede zur Erwachsenenonkologie. Es sind z.  B.  Kinder viel weniger betroffen als Erwachsene. In Deutschland erkranken jährlich insgesamt etwa 1800 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren neu an einem bösartigen Tumor – bei den Erwachsenen sind es im gleichen Zeitraum etwa 500.000. Die Art der Erkrankungen unterscheidet sich ebenfalls. Während bei Erwachsenen Lungenund Brustkrebs die häufigsten onkologischen Erkrankungen sind, sind es bei Kindern und Jugendlichen die akuten Leukämien. Die zweitgrößte Gruppe bilden bei Kindern und Jugendlichen die Hirntumoren, dann folgen Lymphome, Nierenund Augentumoren, Knochentumoren, Tumoren der Weichteile oder der endokrinen Organe. Auch bei den krebsauslösenden Faktoren zeigen sich Unterschiede: Bei Erwachsenen gibt es klare Zusammenhänge etwa zwischen Rauchen und Lungenkrebs oder zwischen Infektion mit Papillomaviren und Zervixkarzinom. Bei Kindern sind solche Risikofaktoren die absolute Ausnahme. Es scheinen in der Regel schicksalhafte Erkrankungen zu sein. Ein weiterer Aspekt: In der pädiatrischen Onkologie spielen sog. embryonale Tumore eine bedeutende Rolle. Dabei handelt es sich um Tumoren, die sich während der Embryonalzeit entwickeln, dann im frühen Kindesalter „erwachen“ und ein schnelles und aggressives Wachstum zeigen. Bei Erwachsenen sind embryonale Tumore eine Seltenheit. SH  In pädiatrischen Kliniken arbeiten nach eigenen Recherchen sehr wenige Ergotherapeuten im Gebiet der Onkologie. In Ihrer Klinik ist das anders. Wieso finden Sie die Ergotherapie in diesem Bereich sinnvoll? Arzt  Die erfolgreiche Behandlung eines Kindes mit einer onkologischen Erkrankung beruht nicht nur auf der richtigen Diagnose und der Auswahl der passenden Chemotherapeutika, sondern auch auf den Selbstheilungskräften des Kindes. Zum einen sind diese wichtig, damit die Therapie gut

37  Ergotherapie in der pädiatrischen Onkologie

überstanden und die daraus resultierenden Belastungen verarbeitet werden können. Des Weiteren sind wir davon überzeugt, dass sie ihren Teil zur Heilung beitragen. Wir wissen beispielsweise, dass bei den Leukämien die allerletzten Tumorzellen nicht von der Chemotherapie zerstört werden können, sondern dass die eigenen Abwehrkräfte des Kindes dazu beitragen, diese Zellen zu eliminieren. Der Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und dem immunologischen Abwehrsystem ist bekannt. Bei Kindern ist der sprachliche Zugang, z. B. aufgrund des Alters, limitiert. Das heißt, dass es für die Psychoonkologie schwierig sein kann, die Kinder bei der Verarbeitung der Erkrankung und ihrer Folgen zu unterstützen. Dazu kommt, dass Kinder häufig über ihr Tun ihren Gefühlen Ausdruck verleihen und somit verarbeiten. Hier kann die Ergotherapie eine geeignete Unterstützung darstellen und Brücken zu anderen Disziplinen schlagen. Deshalb setzen wir hier mit der Ergotherapie einen Schwerpunkt. SH  Was ist Ihnen in Zusammenhang mit der Ergotherapie wichtig? Arzt  Die ständige Präsenz. Ideal ist immer, wenn die Therapeuten nicht durch räumliche Trennung weit weg vom Geschehen sind, sondern der therapeutische Bereich in die Station integriert ist – so wie hier bei uns. Man kann sich ständig interdisziplinär absprechen, und der therapeutische Prozess kann auf der Station stattfinden. Andere Therapeuten, die nur an bestimmten Tagen im Haus sind oder – wie in anderen Häusern  – ausgegliedert sind, haben zusätzlich das Problem, dass die Ergotherapie teilweise nicht stattfinden kann, da die Patienten andere Termine, z. B. eine Chemotherapie, wahrnehmen. Da besteht hier ein großer Unterschied: Die Ergotherapie kann immer stattfinden, und die Ergotherapeuten sind immer da, für das Team sowie auch für den Patienten und die Angehörigen.

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SH  Wie steht es mit der Finanzierung der Ergotherapeuten? Ich habe gehört, dass sie vor allem durch Spenden finanziert werden. Arzt  Ja, früher. Die ergotherapeutischen Stellen wurden ursprünglich durch eine Elterninitiative eingerichtet und finanziert. Mittlerweile hat bei uns die Klinik die Finanzierung der Ergotherapeuten übernommen. Bislang ist es jedoch so, dass alle Therapeuten, nicht nur die Ergotherapeuten, durch Drittfinanzierung bezahlt werden, um eine kontinuierliche Therapie zu gewährleisten. Dieser Missstand ist jedoch erkannt worden. Mittlerweile etablieren sich kinderonkologische Zentren, in denen versucht wird, therapeutische Leistungen zu integrieren. Ein psychoonkologisches Team, zu dem auch die Ergotherapie gehören kann, ist in solchen Zentren vorgesehen, doch wie dieses zusammengesetzt ist, ist nicht definiert und obliegt mehr oder weniger dem einzelnen Träger. SH  Eine weitere Frage: Haben Sie Richtlinien zur Psychohygiene in Ihrer Klinik? Ich könnte mir vorstellen, dass die Arbeit in Ihrem Bereich nicht immer leicht ist … Arzt  Wir nutzen hier vor allem die großen interdisziplinären Besprechungen zum gegenseitigen Austausch. Darin werden nicht nur die Patienten, sondern auch Konfliktsituationen besprochen. Bei schwierigen Patienten kann man sich im Team absprechen, wenn etwa den Einzelnen ein Schicksal zu sehr belastet. Für schwierige Ethikfragen steht ein Ethikbeauftragter zu Verfügung, über den ein Ethikkonsil eingeholt werden kann. Ein zentraler Punkt ist das ergänzende Miteinander. Die gegenseitige Unterstützung im Team und das Aufteilen von Aufgaben, das Verteilen auf mehrere Schultern, kann den Einzelnen unglaublich entlasten. Ein weiterer Aspekt ist, sich selbst nicht als Heiler, sondern als Helfer zu sehen. Auch diese veränderte Sichtweise kann ­entlasten.

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SH  Was würden Sie generell in einer nachsorgenden Therapie, z. B. der Ergotherapie in der Praxis, im Umgang mit den Kleinen empfehlen? Arzt  Das ist im Einzelnen sehr schwierig zu beurteilen, da alle Kinder individuelle Bedürfnisse haben. Generell kann man jedoch sagen, dass die Ressourcen der Kinder geweckt und weiter gestärkt werden sollten. Nur auf Handicaps bezogen sollte nicht therapiert werden. Sie sollten zwar nicht aus dem Fokus der Therapie verschwinden, aber der ressourcenorientierte Anteil sollte überwiegen.

37.2.4 Das Interview mit den Ergotherapeuten SH  Auch ein großes Dankeschön an Sie beide, dass Sie sich für meine Fragen zur Verfügung stellen. Ich beginne gleich mit der ersten Frage, wie denn die Kinder zu Ihnen gelangen? Ergotherapeuten  Es gibt, im Gegensatz zu Praxen, keine Rezeptüberweisung. Wir arbeiten in einem Akutkrankenhaus, in dem die Kinder mit Verdacht auf eine onkologische Erkrankung aufgenommen werden. Das heißt, die Kinder kommen mit mehr oder weniger spezifischen oder unspezifischen Symptomen in die Klinik. Es erfolgt dann umgehend eine Diagnostik. Bestätigt sich der Verdacht auf Krebs, beginnt unser Auftrag. Allerdings lassen wir uns 1–2 Wochen Zeit, bis wir uns den Kindern oder Jugendlichen vorstellen. Die Diagnose und die damit verbundene Situation sind neu und sehr dramatisch für die Kinder und ihre Angehörigen. Der Arzt und viele weitere Beteiligte haben viele Informationen für die Betroffenen, und es erfolgen auch weitere Untersuchungen. Bevor die Behandlung überhaupt beginnt, kann sich die Klinik mit Konflikten um das Sorgerecht, die Aufenthaltsgenehmigung oder auch Sprachbarrieren konfrontiert sehen. Wohnen beide Elternteile weit auseinander, ist an die Frage des Sorgerechts vielleicht auch eine Verlegung in eine Klinik in der Nähe des anderen Elternteils gekoppelt. Wir

S. Heizmann

beginnen erst, wenn geklärt ist, dass die Kinder längerfristig in unserer Klinik behandelt werden. SH  Wie ist die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen organisiert? Gibt es Familien­ zimmer? Ergotherapeuten  Gerade zu Beginn bleiben die Eltern bzw. ein Elternteil bei den Kindern. Manche Kinder bleiben auch alleine hier am Tag, wenn sie sich sicher fühlen oder es sich z. B. zutrauen, nachts alleine im Krankenhaus zu schlafen. Das ist von Kind zu Kind, Familie zu Familie unterschiedlich. Zusätzlich verfügt die Klinik noch über den „Ellenhof“, eine Art Elternhaus, das nur etwa 100 m von der Klinik entfernt ist. Dies wird als Alternative angeboten, wenn beide Eltern in der Nähe der Klinik sein wollen, da die Bettenanzahl auf Station begrenzt ist. Dazu sei aber gesagt, dass es therapeutisch wichtig ist, dass die Kinder und Jugendlichen neben der Bewältigung ihrer Erkrankung sich ihre Autonomie und Selbstständigkeit zurückerobern und erhalten. Dies funktioniert in der Regel besser, wenn die Eltern nicht dabei sind und es mehr Raum zwischen Eltern und Kind gibt. Manche Kinder regredieren und fallen in ihrer Entwicklung um Jahre zurück. Wenn die Eltern dem nichts entgegensetzen können, kann die Klientenrolle noch mehr verstärkt werden. Autonomie und Selbstständigkeit sind für den therapeutischen Prozess wichtig. Sie sind notwendig, um eigene Ressourcen zu mobilisieren. Zeitweise sind Familienzimmer sicher notwendig (vor allem auch bei sehr kleinen Kindern), im Verlauf plädieren wir dann aber für temporäre Trennung von den Eltern, um bei den Klienten soziale Kompetenz und Selbstständigkeit zu fördern. Mit den Eltern und den jugendlichen Klienten wird dies nach einer Eingewöhnungszeit klar kommuniziert. Mit kleineren Kindern wird es spielerisch erprobt. Beispielsweise wird mit dem Kind gespielt und darauf hingewiesen, dass die Mama nun kurz einen Kaffee trinken geht. Wir achten dabei genau darauf, ob das Kind den Abstand zur Mutter/den Eltern toleriert. Mit der Zeit

37  Ergotherapie in der pädiatrischen Onkologie

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wird dieser Abstand weiter ausgebaut. Wenn das Kind noch nicht so weit ist, rudern wir zurück.

SH  Wie darf ich mir Ihren Arbeitsalltag ­vorstellen?

SH  Wenn Sie mit den Eltern so klar kommunizieren, ist dann auch das Thema Erziehung ein Bestandteil ihrer Elterngespräche?

Ergotherapeuten  Wir Ergotherapeuten arbeiten von montags bis freitags und sind im Schnitt von 9 bis 16 Uhr für die Klienten und Angehörigen erreichbar. Um 7:30 Uhr beginnt unser Tag mit einer Übergabe. Die Pflege sowie ein Arzt und ein Ergotherapeut tauschen sich über Vorkommnisse in der Nacht, neue Aufnahmen, Krisen und den Zustand der Kinder und Jugendlichen aus. Außerdem gibt es Informationen über Untersuchungen oder sonstige Termine. Manche Kinder brauchen besondere Aufmerksamkeit der Ergotherapie, in dieser Übergabe werden Aufträge benannt.

Ergotherapeuten  Ja, unbedingt. Wir sind aber keine Erzieher und keine Pädagogen. Alltag, wie die Kinder ihn von zu Hause gewohnt sind, ist hier auf der Station ein Fremdwort. Regeln und Erziehung sind deshalb auch hier bei uns ein wichtiges Thema, um den Kindern einen Rahmen zu bieten, an dem sie sich festhalten können, auch um sich ein Stück Normalität zu bewahren. Natürlich schon gelockert, aber gewisse Bestandteile sollten nach wie vor erhalten bleiben. Wir argumentieren beispielsweise dabei immer in die Zukunft: Wenn das Kind wieder gesund ist und nach Hause darf, dann ist es wichtig, gewisse Regeln beständig beibehalten zu haben. Unsere ergotherapeutische Aufgabe dabei besteht darin, die Eltern zu ermutigen, trotz der Erkrankung Regeln und Grenzen zu setzen. SH  Mit welchen Beschwerden kommen denn die Kinder zu Ihnen? Ergotherapeuten  In der Ergotherapie sehen wir uns häufig mit den Nebenwirkungen der Therapien konfrontiert. Das können Fieber, Erbrechen, Knochenschmerzen, Schlafstörungen, Bauchschmerzen etc. sein, aber auch verschiedene Ängste. Die Chemotherapie greift die Schleimhäute an. Unser gesamter Magen-Darm-Trakt, der Mund, die Nase, im ganzen Körper können Schleimhäute vorübergehend geschädigt werden, was z.  B.  Mund- und Bauchschmerzen verursachen kann. Es ist für die Kinder sehr schwer, diese Beschwerden zu verarbeiten. Häufig kommen sie mit wenig bis keinen Beschwerden in die Klinik. Die Mutter sagt ihnen, dass sie nun gesund werden, und mit Beginn der Therapie geht es den Kindern plötzlich schlechter als vorher. Sie erleben die Therapie als krankmachend.

Die anderen Therapeuten und Pädagogen (Physio-, Musiktherapeut, Psychologe, Lehrer, Seelsorger usw.) holen sich dann nach und nach die Informationen von uns, und wir legen zusammen Schwerpunkte fest. Es gibt somit jeden Tag eine neue Therapieplanung mit den anwesenden Therapeuten. Wichtige multiprofessionelle Besprechungen finden einmal wöchentlich statt, das sog. psychosoziale Team und das Onkoteam. Neben den individuell und zum Teil spontan geplanten Therapiezeiten mit den Kindern und Jugendlichen gibt es feste Angebotstermine im Verlauf der Woche. Mittwochs findet ein Elterncafé und dienstags eine Sport- und Entspannungsgruppe für Eltern statt. In dieser Zeit werden die jüngeren Kinder von der Ergotherapie betreut. Freitags gibt es eine Kochgruppe für alle Kinder auf Station. Ziel dabei ist neben der aktiven Auseinandersetzung mit Essen auch die Erweiterung und Verstärkung psychosozialer, emotionaler und motorischer Kompetenzen. Jeder Tag ist anders, nichts ist wirklich planbar. Die Tage sind voller Leben, Lust, Lachen und Tränen. Alles ist möglich. SH  Weshalb ist das Thema Essen so wichtig, und wie gestalten Sie diese Gruppe?

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Ergotherapeuten  Durch die Therapien, die die Kinder hier erhalten, u.  a. die Chemotherapie, haben die Kinder Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und, wie schon erwähnt, offene Schleimhäute, was zusätzlich Schmerzen im Mund verursachen kann. Auch der Geschmackssinn ist oft verändert. So haben die Kinder häufig gar keine Lust auf Essen. Für Angehörige ist das oft schwer auszuhalten: „Iss doch endlich mal was! Du brauchst das!“ Das macht Stress. Bei uns können alle Kinder nach Lust und Laune mitmachen. Kochen und Rezepte werden gemeinsam mit den Kindern geplant (Obstsalat, Pizza, englisches Frühstück, Kartoffelsuppe usw.). Das Besondere: die Kinder müssen bei uns anschließend das Essen nicht essen, wenn sie nicht mögen oder nicht können. Durch die Ergotherapie wollen wir wieder ein positives Erleben mit Essen schaffen. Es gibt positive Erinnerungen, wie z.  B.: Deine Oma backt immer Plätzchen? Sollen wir auch welche backen? Auch das Verschenken oder Kochen für andere ist oft eine Motivation für die Kinder. Wir als Ergotherapeuten können außerdem einen spielerischen Zugang zum Thema Essen ermöglichen. Wir können Puderzucker auf den Tisch streuen und den Namen einschreiben, mit Nutella das Gesicht schminken oder auch Traubentischfußball spielen. Mit einem Kind haben wir mit Trauben über den Tisch gekullert. Dann haben wir nach und nach das Spiel ausgebaut und ein Tor aus Ananasscheiben gebaut. Das steht natürlich im Widerspruch zu „Mit Essen spielt man nicht“. Aber glauben Sie uns: Meistens landet auch eine Traube im Mund, oder der Finger wird abgeleckt. Die Kinder beginnen nicht mit Zwang zu essen, sondern weil sie Lust darauf haben. Es wird gelacht, ausprobiert, getauscht und Neues erfahren. Aber es geht über ADL (Activities of Daily Living) hinaus. Hinter allem stehen ergotherapeutische Inhalte: wahrnehmungs- und kompetenzzentrierte Methoden, gustatorische, olfaktorische und sensorische Interventionen. SH  Leiten Sie auch Angebote für die Eltern oder Geschwisterkinder?

S. Heizmann

Ergotherapeuten  Es gibt einmal in der Woche ein offenes Sport- oder Entspannungsangebot, an dem alle Angehörigen der Klienten teilnehmen können. Des Weiteren bieten wir den Eltern an, bei Problemen (z. B. mit den Geschwisterkindern oder bei Erziehungsfragen in dieser besonderen Situation) individuell auf uns zuzukommen. Diese Termine werden dann nach Bedarf gestaltet. Wir bieten Sport, Klangmassagen, Fußreflexzonenmassage, Behandlungen nach DornBreuss, Aromatherapie, Rückenmassage oder auch verschiedene Entspannungstechniken, z. B. Progressive Muskelentspannung, an. Meist benötigen die Eltern ein oder zwei Termine, um erneut Kraft zu schöpfen und ihre Ressourcen zu stärken. Wir sind immer wieder erstaunt, wie sehr die Eltern davon profitieren. Wir geben den Eltern auch den Gedanken mit, dass ihr Kind von ihrer Energie zehrt, deshalb sollten sie immer auch auf ihre eigenen Ressourcen achten. Das kann man durch eine kurze Auszeit, so wie wir sie anbieten, schaffen, aber auch durch den Einbezug von Hilfen durch andere Personen im Haushalt, durch Fahrdienste etc. Auch Geschwisterkinder benötigen in der Regel nur wenige Termine. Bei ihnen geht es darum, dass sie sich nicht ausgeschlossen fühlen. Häufig erleben die Geschwisterkinder ihre Eltern als weniger verfügbar. Sie werden von nahen Angehörigen oder Freunden betreut und können vielleicht wegen Schule oder Kindergarten nicht mit ins Krankenhaus kommen. So geht es darum, den Kindern wieder zu ihrem persönlichen Gleichgewicht zu verhelfen, damit sie erkennen können: „Auch ich gehöre hier dazu. Es gibt auch Raum für mich.“ SH  Ganz spitzfindig gefragt: Fußreflexzonenmassage ist doch keine ergotherapeutische Leistung. Gibt es da keinen Konflikt mit Ihren Kollegen? Ergotherapeuten  Nein, wir arbeiten sehr eng im interdisziplinären Team zusammen. Wichtig ist, dass es unseren Kindern und Jugendlichen sowie deren Angehörigen gut geht, und da ist es, provokativ gesagt, egal, wer sich wie den Zugang

37  Ergotherapie in der pädiatrischen Onkologie

zu ihnen einholt. Und wenn man ganz genau schaut: Eine Massage, körperliche Berührung, „öffnet“ oft die Menschen, und sie können erzählen. Ganz vielen Eltern ergeht es so, dass sie während der Massage ohne Punkt und Komma reden und daraus dann Kraft ziehen. Dieses Gespräch begleiten wir als Therapeuten (wir haben eine Weiterbildung in der Gesprächsführung nach ­Rogers). Manche Einheiten gestalten wir auch bewusst multiprofessionell. So kann z. B. bei einer Massage die Musiktherapeutin die Entspannung mit Musik fördern. Oder die Psychologin wird zum Tischkickerspielen eingeladen. Bei allem ist Authentizität sehr wichtig. Die Kinder und Jugendlichen sowie auch ihre Angehörigen haben ganz sensible Antennen. Sie bemerken, wenn jemand nur „seinen Stiefel durchzieht“ und eben nicht authentisch ist. Derjenige hat es dann sehr schwer, einen Zugang zu finden, um Prozesse therapeutisch zu begleiten. SH  Sie gaben in einem früheren Gespräch an, dass Öffentlichkeitsarbeit ebenfalls einen Teil Ihrer Arbeit ausmacht. Was kann ich mir darunter vorstellen? Ergotherapeuten  Es gibt in unserem Krankenhaus eine Spendenabteilung, die Geld- und Sachspenden aus der Bevölkerung koordiniert. Darüber bekommen auch wir viele Spendenangebote. Nun bedarf es der Organisation der Spenden, egal ob Geld- oder Sachspenden oder aber auch aktive Unterstützung. Einmal hat eine Frau gefragt, ob sie für die Kinder Sachen stricken könne. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir dafür keine Verwendung und fragten, ob wir uns bei Bedarf wieder melden dürften. Dann hatten wir eine Aktion mit „Sorgenfressern“ aus Stoff. Die Dame wurde kontaktiert, und sie gründete einen kleinen Nähzirkel, um diese herzustellen. Wir konnten auch eine Tanzgruppe dazu einladen, unser Sommerfest mitzugestalten. Manche Firmen richten Konten ein, damit wir, wenn wir es für ein Projekt brauchen, etwas davon für die Kinder und Jugendlichen kaufen

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können. Wieder eine andere Firma hat einen Social Day bei sich eingeführt und gestaltet jedes Jahr an der Weihnachtsfeier der Klienten mit den Kindern Lebkuchen. Die Anleitung der Freiwilligen im Umgang mit den Kindern und ihren Eltern und die Betreuung der Aktion fallen auch in den Aufgabenbereich der Ergotherapie. Es gibt viele, die bereit sind zu geben, aber es bedarf der guten Betreuung, um ein beständiges Netz zu schaffen, woraus Projekte erwachsen können. Wenn ein Kind sich also ein großes Stück gebratenes Steak wünscht, haben wir auch die finanziellen Möglichkeiten, sofort loszuziehen, um es zu kaufen und gemeinsam mit dem Kind zuzubereiten. Fast alle dieser Projekte werden von Presse, Rundfunk oder sogar Fernsehen begleitet. Das ist für die Spender wichtig und bedeutet für uns eine Menge Koordinationsarbeit. SH  Wie gestaltet sich die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen für Sie? Ergotherapeuten  Autonomie, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit (im Sinne der Salutogenese) der Kinder und Jugendlichen sind in unserer Arbeit sehr wichtig, und genau das soll hier auch zum Ausdruck kommen. Die Kinder und Jugendlichen „müssen“ an vielen Therapien teilnehmen, Tabletten einnehmen, Operationen über sich ergehen lassen, Infusionen bekommen usw. Wir wollen ihnen einen Raum zur freien Entfaltung und freien Entscheidung geben. Das wird auch klar mit dem Klienten kommuniziert: Wir sind da, wenn du uns brauchst. Es wird natürlich auch aktiv von unserer Seite etwas angeboten, und wir besuchen die Klienten in ihren Zimmern regelmäßig. Wir bieten Ihnen unendlich viel kreatives Material an, Bewegungsmöglichkeiten, Spielideen usw. Die Kinder bekommen die Chance, etwas auszuwählen oder auch angeregt durch unseren Input Eigenes einzubringen (Abb. 37.2). Wir hatten einmal eine Jugendliche, die kam in die Räume der Ergotherapie, um sich in der Kuschelecke hinzulegen und zu schlafen. Nur für wenige Minuten. Aber dies regelmäßig. Es war

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Abb. 37.2  Explosion – Exploration Tatjana lässt ihre Wut und ihren Schmerz heraus und spürt dabei Lebendigkeit. Tatjana hatte den Wunsch, ihre Wut rauszulassen und etwas zu zerstören, deshalb haben wir ein altes Waschbecken besorgt, Schutzkleidung etc. und sie dabei unterstützt, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen. Ziel der Intervention war es unter anderem, die Kräfte zu kanalisieren, sie zu unterstützen, die Handlung zu planen und auch umzusetzen und sich wirksam zu fühlen auf verschiedenen Ebenen, emotional, körperlich und sozial

für sie ein Ort, der mal kein Krankenzimmer war, weg von Behandlung und besorgten Angehörigen – ihre Auszeit. Ein anderes, kleines Kind saß immer wieder im Kinderwagen an der Tür zur Ergotherapie. Es gab kurze Interventionen, mit viel Geduld und Fingerspitzengefühl vorsichtige Kontaktaufnahme mit dem Kind, aber nur so, wie es selbst wollte. Auch das ist Teilhabe am therapeutischen Prozess. Insgesamt arbeiten wir hier meistens mit psychosozialen Ansätzen und weniger funktionell. Wir tragen auch eine andere Berufskleidung als Ärzte oder Pflegende, damit uns auch die Kleinsten gut von den anderen unterscheiden können. Auch Tabletteneinnahme kann ein Thema sein. Bei einem Kind, schon ein Schulkind, kam beim Rollenspiel mit dem Arztkoffer heraus, dass es gerne nach der Tabletteneinnahme einen Schnuller hätte. Diesen haben wir ihm organisiert. Nach der Einnahme nuckelte das Kind 2 min daran, und dann hat es selbst den Schnuller wieder weggetan. Den Schnuller nahm das Kind, wie in einem Ritual, eine Woche lang nach jeder Medikamenteneinnahme. Danach nicht mehr. Die Kinder wissen meist, was sie brauchen. Es

S. Heizmann

fehlt nur oft die Zeit, um ihnen Raum zur Findung einer Lösung zu geben. Auch vermitteln wir oft Ansätze aus dem Entspannungsbereich. Beispielsweise begleiten wir den Portnadelwechsel (Kap.  9) mit Fantasiereisen oder Akupressur/Handmassage, wenn die Kinder oder Jugendlichen das wünschen. Mit der Zeit machen sich die Kinder diese Rituale zueigen, fordern sie ein oder kommen alleine mit der Situation klar. Dann haben sie das Verfahren quasi internalisiert und auch damit ein Stück Autonomie gewonnen. SH  Das hört sich alles sehr „frei“ in der Zeiteinteilung an. Arbeiten Sie nach einer bestimmten Taktung? Ergotherapeuten  Ja, wir sind frei in unserer Zeiteinteilung. Das heißt, wir können nach Bedarf anbieten und da sein, „wo es gerade brennt“. Das bedeutet, dass wir teilweise auch einmal 4 h oder länger eine Familie unterstützen können. Trotzdem halten wir uns insbesondere in Einzeleinheiten an Zeitvorgaben (45 min), zum einen, um den Kindern eine Struktur zu bieten, zum anderen aber auch, um möglichst alle stationären Klienten zu erreichen. SH  Inwieweit spielt die altersgerechte Kindesentwicklung in Ihrer Arbeit eine Rolle? Ergotherapeuten  Das ist ein Punkt, den wir im Blick haben müssen. Es zeigt sich bei vielen Kindern und auch Jugendlichen, dass sie als Folge der Krankheit regredieren. Ein Kind, das schon laufen konnte, kann es plötzlich nicht mehr. Ein 2-jähriges Kind verhält sich plötzlich wieder wie ein Säugling. Die Regression kann man als eine Art Schutz ansehen. Für uns ist es wichtig, eine Vertrauensbasis aufzubauen und dem Kind altersgerechte Interventionen anzubieten. Man kann sich eine onkologische Erkrankung wie einen Berg vorstellen. Man muss erst ein paar Schritte zurückgehen, Kräfte sammeln, dann Anlauf nehmen und das Hindernis überwinden. Viele Eltern betrachten die Entwicklung natürlich mit Sorge. Wir versuchen ihnen jedoch mit

37  Ergotherapie in der pädiatrischen Onkologie

dem Bild von dem Berg die Situation zu erklären und ihnen und vor allem dem Kind den Druck zu nehmen. Die Krankheit soll in erster Linie überstanden werden. Anschließend kann man sich immer noch Gedanken über fortlaufende Therapien zur Unterstützung der altersgerechten Entwicklung machen. Die meisten Kinder holen diese Verzögerung auch sehr schnell wieder auf. Wir hatten hier auch schon einmal einen Fall, bei dem es eigentlich noch um die Abklärung von Autismus ging. Dies wurde komplett auf Eis gelegt, um sich allein auf die bevorstehende Therapie konzentrieren zu können. SH  Was machen Sie, wenn es den Kindern schlecht geht? Ergotherapeuten  Da uns die Autonomie der jungen Klienten wichtig ist, muss man mit Aussagen wie „Heute möchte ich/kann ich nicht zur Ergotherapie“ umgehen können. Diese Aussage wird von uns akzeptiert. Die Krankheit verläuft in verschiedenen Phasen. Es geht den Kindern und Jugendlichen nicht durchgehend schlecht. Manche könnten dann denken, dass die Ergotherapie in den „guten“ Phasen nicht gebraucht wird, doch das ist falsch. Diese Phasen dienen dem Aufbau der Klient-­ Therapeut-­Beziehung. Wir wollen, dass aus diesen positiven Erinnerungen und Erlebnissen Kraft in schlechten Phasen geschöpft werden kann. Ziel dahinter ist ein Netz aus Vertrauen, das die Kinder und Jugendlichen auffängt, wenn sie fallen. Statt dann alles abzulehnen, wenn es ihnen schlecht geht, sagen sie vielleicht: „Okay, ich probiere es aus.“ Manchen geht es so schlecht, dass sie keinen weiteren äußerlichen Reiz zu ertragen scheinen. Sie lehnen dann alles ab, aber wollen, dass man bei ihnen bleibt. Auch dies ist eine wichtige Aufgabe für uns. Wir schweigen gemeinsam und halten „gemeinsam“ den Schmerz aus. Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Für die Angehörigen ist es häufig schwer auszuhalten, „nur da zu sein“. Wir leiten Eltern an, wie sie in dieser Situation ihrem Kind Gutes tun können,

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z. B. durch Vorlesen oder Singen. Die Eltern können während des Vorlesens oder Singens die Sinne des Kindes miteinbeziehen. Wird in einer Geschichte das Essen von Beeren beschrieben, können Naschbeeren bereitgestellt und gemeinsam verspeist werden. Massagen, das Streicheln, die Umarmung von Figuren aus einem Buch oder ein Lied können nachgestellt werden. Sinne sind oft aufgrund der Therapien eingeschränkt (z.  B. bei Sensibilitäts- oder Geschmacksstörungen durch Chemotherapie). Durch spielerisches Einbeziehen können sie wieder trainiert werden. Wir versuchen, auch die Eltern zu entspannen. Wir sprechen mit Ihnen gemeinsame Erinnerungen an: „Wissen Sie noch …? Erinnern Sie sich …?“ Gemeinsames Lachen und auch der Verweis auf die Stärke des Kindes können die Eltern entlasten. Die Entspannung überträgt sich unweigerlich auch auf das Kind und ist durch nichts zu ersetzen. SH  Auf welche weiterführenden Organisationen und Therapien verweisen Sie? Ergotherapeuten  Jeden Mittwochnachmittag gibt es hier ein Angebot von einer Elterninitiative („Hand an Hand“), bei der ehemals betroffene Eltern den nun betroffenen Eltern die Möglichkeit für eine kurze Auszeit und zum Austausch anbieten. Hier bekommen die Eltern einen ersten Kontakt zu einer möglichen Stelle, mit der sie über die Klinikräume hinaus Kontakt halten können. Wir bieten den Eltern an, dort hinzugehen, und betreuen die Kinder während dieser Zeit. Elterninitiativen gibt es an vielen Kliniken. Sie sind sehr engagiert und haben es ja ermöglicht, dass sich die Ergotherapie hier nach und nach etablieren konnte. In anderen Fällen sind die Kinder z. B. durch eine Operation so schwer beeinträchtigt, dass wir bereits für die Zeit zwischen der Entlassung aus der Chirurgie und dem Eintritt bei uns kontinuierliche Therapien wie Physiotherapie oder auch Frühförderung empfehlen. In der Regel reichen die Therapieangebote auf Station zur Begleitung und Bewältigung der Krankheitssituation. Ist der stationäre Aufenthalt

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beendet, erfolgt – je nach Therapieverlauf – ein Angebot für eine Reha. Hier können nochmals Erlebnisse aufgearbeitet und motorische Fähigkeiten, Ausdauer und Kraft gestärkt werden. Zu viel möchten wir nach gut überstandener Therapie gar nicht empfehlen. Die Kinder sollen wieder in der Normalität ankommen. Der Alltag kann sich unglaublich heilsam auswirken. Daher ist weniger mehr. Die Familien dürfen genießen, dass sie wieder Zeit haben für gemeinsame Aktivitäten wie zusammen kochen, Freibad, Natur erleben usw. Ist ein Kind verstorben, gibt es verschiedene Trauergruppen, die den Familien unterstützend zur Seite stehen können. Auch für Geschwisterkinder gibt es hier Angebote. SH  Mit wem arbeiten Sie im interdisziplinären Team? Ergotherapeuten  Das Team besteht aus Ärzten, Pflegepersonal, Sozialarbeitern, Musiktherapeuten, Psycho-, Physio- und Ergotherapeuten, Lehrern, Pastoren, einem Palliativteam und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Wir haben auch ein ambulantes Palliativteam sowie in der Nähe ein Hospiz. SH  Wo wir gerade von der palliativen Situation sprechen: Die palliative Situation oder auch der Tod eines Kindes – wie gehen Sie mit den Kindern und Jugendlichen bzw. im Team damit um? Ergotherapeuten  Ehrlichkeit ist die vorherrschende Philosophie. Ab einem bestimmten Alter, wenn die Kinder erfassen können, was passiert, und sie explizit fragen, dann antworten wir ehrlich. Bei uns gibt es kein Tabu rund um das Thema Tod und Sterben. Es gibt Kinder, die werden nie fragen oder das Thema zur Sprache bringen. Aber sie sollen das Gefühl haben, dass sie es jederzeit ansprechen könnten. Ehrlichkeit ist in diesem Kontext das Allerwichtigste. Denn wenn man hier Vertrauen verspielt durch eine Lüge, dann bekommt man keinen Zugang mehr.

S. Heizmann

Die Aufklärung erfolgt oft gemeinsam mit den Eltern. Als Hilfestellung gibt es eine Vielzahl an altersgerechter Literatur, die sich mit den Themen Tod, Sterben, Leben auseinandersetzt. Schwieriger kann es da mit den Jugendlichen werden, und man kann an seine Grenzen stoßen. Hier unterstützen wir, dass sie für sich formulieren, was sie noch erreichen möchten, und wir versuchen, ihnen bei der Verwirklichung zu helfen. Bei der Zielverwirklichung geht es um die Aufrechterhaltung der Lebensqualität sowie das Stärken von Ressourcen. Dies ist abhängig davon, wie realistisch das Ziel ist. Eine Jugendliche beispielsweise äußerte den Wunsch, dass sie gerne „echte Liebe“ vor ihrem Tod noch erfahren würde. Keinen Sex, sondern die Liebe und geliebt zu werden von einem Partner. Für alle Beteiligten war klar, dass dieser Wunsch nur schwer erfüllt werden konnte. Für das therapeutische Arbeiten ist es wichtig, verschiedene Trauermodelle zu kennen, um den Familien bei der Verarbeitung und Annahme zu helfen. Das Verhältnis von Nähe und Distanz in der palliativen Begleitung ist entscheidend. Verlieren wir die Distanz, verlieren wir an Professionalität und schaden dem Klienten. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir ohne Emotionen arbeiten. Unser gesamtes Team geht zur Beerdigung, wenn wir eingeladen werden. Wir haben eine Karte entwickelt mit einem Text, der für alle Verstorbenen passt und beim Lesen individuelle und persönliche Bilder wecken kann. Die Karte wird mit Hand geschrieben und ein Bild des Kindes vorne aufgeklebt. Alle Kollegen unterschreiben diese Karte, die an die Familie weitergegeben wird. Es ist ein Ritual, das wir für uns entwickelt haben, um mit Emotionen unsere Anteilnahme auszudrücken. Die Klinik bietet zudem für die Familien der verstorbenen Kinder eine überkonfessionelle Erinnerungsfeier an. Diese wird von Pastorinnen und Mitarbeitenden vorbereitet und durchgeführt. Es gibt Kinder, die sterben, und sie sowie die Familien sind darauf vorbereitet. Es gibt aber auch Fälle, bei denen die Kinder aufgrund von Komplikationen plötzlich sterben. Niemand kann

37  Ergotherapie in der pädiatrischen Onkologie

darauf vorbereitet sein. Für uns gilt, dass wir die Unterstützung bieten, die gewünscht und erforderlich ist. In palliativen Situationen dürfen wir uns die Zeit nehmen, um Hausbesuche zu machen. Gerade die „Endphase“ ist eine sehr intime Phase. Wir sind Begleiter, und wenn wir das Gefühl haben, wir stören, ziehen wir uns zurück. Der bestmögliche Erhalt der Lebensqualität des Kindes bis zur letzten Sekunde ist das oberste Ziel.

37.3 Fazit der Autorin Die Ergotherapeuten der Abteilung K8 des EvBK haben mir einen Einblick in ihre Arbeit im pädiatrisch onkologischen Bereich gewährt, der mich sehr beeindruckt hat. Ihr Einfühlungsvermögen und Ideenreichtum, gepaart mit dem Blick auf die bestmögliche Selbstständigkeit und Lebensqualität der kleinen Klienten, bilden für mich ein

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stimmiges Therapiekonzept. Dabei achten sie darauf, das Vertrauen ihrer Klienten zu gewinnen und nicht zu erschleichen. Dazu kommt das Spannungspotenzial, welches diese Klientel bietet und das auch die eigenen emotionalen Grenzen belasten kann. Die Vielschichtigkeit der Aufgaben der Ergotherapeuten ist bemerkenswert und zeigt ein so ganz anderes therapeutisches Arbeiten als das mir bekannte. Auch das Fehlen der strengen Taktung, nach der so viele Therapeuten arbeiten, hat mir neue Perspektiven eröffnet. Die Umsetzung erfordert allerdings viel Engagement seitens der Therapeuten. Auch Sie, lieber Leserinnen und Leser, können einen Einblick in die spannende Arbeit auf dieser Station erhalten. Geben Sie dazu den folgenden Link in Ihren Browser ein: Evkb.de/k8-ergo-videos Viel Freude damit!

Ergotherapie in der Palliative Care

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Sabrina Heizmann und Thomas Kroner

38.1 Definition und Terminologie Das Wort „palliativ“ hat seinen Ursprung im lateinischen Wort „palliatus“. Es bedeutet, von einem Mantel umhüllt zu sein. „Care“ leitet sich vom Englischen ab und bedeutet Pflege oder Fürsorge. Gleichbedeutend wie Palliative Care sind die im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Begriffe Palliativmedizin, Palliativversorgung und Hospizversorgung. Palliativmedizin wird dabei nicht auf den medizinischen und/oder ärztlichen Beitrag reduziert, sondern umfassend im Sinne einer multiprofessionellen Palliativversorgung, d. h., sie bezieht sich auch auf die Pflege und die therapeutischen Disziplinen (Leitlinienprogramm Onkologie 2020). Nach einer Definition der WHO von 2002 ist Palliative Care ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen mit Problemen, die mit einer unheilbaren lebensbedrohlichen Erkrankung einher-

gehen – durch Vorbeugen, frühzeitiges Erkennen, Beurteilung und Behandlung von belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art. Palliative Care ist nicht gleichzusetzen mit dem in der Onkologie wichtigen Begriff „Palliative Tumortherapie“ (Abschn.  8.4.2). Die palliative Tumortherapie versucht, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern, indem Tumorsymptome durch Behandlung des Tumors mit Operation, Bestrahlung oder medikamentösen Tumortherapien angegangen werden. Palliative Care und palliative Tumortherapie schließen sich nicht aus: Palliative Tumortherapie kann als eine Methode der Palliative Care betrachtet werden.

38.2 Merkmale von Palliative Care Palliative Care zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

S. Heizmann (*) Hofstetten, Deutschland email: [email protected] T. Kroner Winterthur, Schweiz © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_38

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S. Heizmann und T. Kroner

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• Ihr Fokus liegt auf der Verbesserung der Lebensqualität durch Linderung der Beschwerden. • Das Sterben wird als normaler Prozess betrachtet, der weder beschleunigt noch verzögert wird. • Psychosoziale und spirituelle Ansätze werden in die Behandlung miteingebunden. • Sie unterstützt den Patienten darin, bis zu seinem Tod so selbstbestimmt und aktiv wie möglich zu leben. • Sie unterstützt die Familie der Patienten während der Erkrankung und in der Trauerphase. • Ihre Arbeit erfolgt in einem multiprofes­ sionellen Team. Sie wird idealerweise bereits früh in den Krankheitsverlauf und die Behandlung eingebunden, z. B. bereits während palliativen Strahlen- oder Chemotherapien.

38.3 Organisation In den Institutionen der Palliativversorgung werden Patienten mit sehr unterschiedlichen Diagnosen betreut. Am häufigsten, aber nicht ausschließlich, handelt es sich um fortgeschrittene onkologische Erkrankungen, daneben aber auch um neurologische Krankheitsbilder (z. B. Parkinson, ALS), Lungenerkrankungen (Mukoviszidose) oder Infektionskrankheiten (Aids). Organisatorisch wird unterschieden zwischen der allgemeinen Palliativversorgung und der spezialisierten Palliativversorgung. Allgemeine Palliativversorgung Die allgemeine Palliativversorgung (APV) ist die Basis der Versorgung mit Palliative Care. Sie erfolgt durch eine nicht in Palliative Care spezialisierte Fachperson. Ziel der APV ist die möglichst frühe Erkennung der palliativen Situation und der Bedürfnisse des Patienten, die entsprechende Kommunikation mit dem Patienten und evtl. den Angehörigen und die Einleitung der Palliativbehandlung, d. h. der Symptomkontrolle. Angeboten wird die allgemeine Palliativversorgung z. B. von:

• • • •

Gemeindekrankenpflege, Hausärzten, Onkologen, Pflegeheimen.

Spezialisierte Palliativversorgung Die spezialisierte Palliativversorgung (SPV) wird in komplexen palliativen Situationen beigezogen, z. B. bei therapierefraktären Schmerzen oder bei schwierigen psychosozialen Verhältnissen. SPV ist die Aufgabe eines multiprofessionellen, palliativmedizinisch qualifizierten Teams aus Medizin, Pflege und weiteren Fachpersonen. Sie wird in verschiedenen Organisationsformen angeboten (nach Radbruch und Payne 2011): Palliativstation  Eine Palliativstation ist eine eigenständige Abteilung in einem Akutkrankenhaus, die auf die Versorgung von Palliativpatienten spezialisiert ist. Mögliche Indikationen für die Aufnahme bzw. Verlegung auf eine solche Station sind komplexe palliativmedizinische, pflegerische, psychosoziale oder spirituelle Probleme, schwierige Entscheidungsfindung, Evaluation und Vorbereitung der zukünftigen Betreuungsstruktur, Erschöpfung des bisher behandelnden Netzes oder eine stark belastende Situation in der Sterbephase. Patienten werden in der Regel im Sinne einer Krisenintervention nur für wenige Tage oder für einige Wochen aufgenommen. Ziel ist – nach Klärung der Situation  – die Verlegung nach Hause (falls nötig mit Betreuung durch eine ambulante Organisation der SPV oder APV) oder die Verlegung in ein Pflegeheim oder Hospiz. Palliativer Konsildienst  Der palliative Konsildienst1 leistet in einem Krankenhaus Fachberatung und Unterstützung für Klinikpersonal, in erster Linie für Ärzte und Pflegende von nicht palliativ spezialisierten Krankenhausabteilungen. Erst in zweiter Linie berät er Patienten oder Angehörige. Indem der Konsildienst Fach­ In Deutschland auch als „Palliativdienst im Krankenhaus“ bezeichnet, in Österreich und der Schweiz meist „Palliativer Konsiliardienst“ genannt. 1 

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38  Ergotherapie in der Palliative Care

personen seine Expertise zur Verfügung stellt, hilft er ihnen bei der Betreuung von Patienten in schwierigen palliativmedizinischen Situationen. Bei dieser konsiliarischen Mitbetreuung bleibt die Entscheidung über die Umsetzung von Therapien und Interventionen in der Verantwortung des für den Patienten zuständigen medizinischen Personals. Daneben bietet der Konsildienst Fortbildungen zu Themen der Palliativmedizin an. Hospiz  Von lat. „hospitium“ für Gastfreundschaft, Herberge. Ein stationäres Hospiz nimmt Patienten in ihrer letzten Lebensphase auf, wenn die Behandlung in einem Krankenhaus nicht mehr notwendig und die Betreuung zu Hause oder in einem Pflegeheim nicht möglich ist. Die wichtigsten Ziele sind die Linderung der Symptome und das Erreichen der bestmöglichen Lebensqualität bis zum Tod sowie Unterstützung in der Trauer. Das Kernteam besteht aus Pflegefachkräften. Ein palliativmedizinisch erfahrener Arzt ist jederzeit erreichbar, gehört jedoch nicht notwendigerweise zum Kernteam. Das erweiterte Team besteht aus Therapeuten verschiedener Disziplinen. Für ein Hospiz charakteristisch ist die Mitarbeit von freiwilligen ehrenamtlichen Mitarbeitern. Ambulanter Palliativdienst2  Das ambulante Palliativteam leistet spezialisierte Palliativversorgung für Patienten, die zu Hause versorgt werden. Es unterstützt den Übergang zwischen Krankenhaus und Versorgung zu Hause. Es berät Angehörige und unterstützt andere Betreuer wie Personal der Gemeindekrankenpflege, beispielsweise bei der Bedienung von Medikamentenpumpen. Zwischen den Organisationsformen der allgemeinen und der speziellen Palliativversorgung bestehen fließende Übergänge. Phasen der Betreuung in der APV können mit Phasen in der SPV abwechseln. Für das Wohl der Patienten ist eine gute Zusammenarbeit zwischen den in der In der Schweiz und in Österreich als „Mobiler Palliativdienst“ bezeichnet. 2 

Palliative Care tätigen Organisationen von größter Bedeutung. Beispiel

Ein durch die Gemeindekrankenpflege (APV) zu Hause betreuter Patient mit fortgeschrittenem Prostatakrebs leidet zunehmend unter starken, durch Bewegung ausgelösten Schmerzen in der rechten Hüfte (Durchbruchschmerzen, Abschn. 34.6.1). Hohe Dosen von Opioiden verhindern die Schmerzen nicht, führen jedoch zu anhaltender Übelkeit und Erbrechen. Der Patient wird wegen der Schmerzen und der Verschlechterung des Allgemeinzustandes auf die Medizinische Abteilung des Krankenhauses (APV) eingewiesen. Die Stationsärzte lassen sich durch den palliativen Konsiliardienst (SPV) beraten und ändern die Schmerztherapie. Der Zustand des Patienten verbessert sich, es kommt jedoch zur Spontanfraktur des rechten Schenkelhalses. Nach der operativen Frakturbehandlung wird der Patient auf die Palliativstation (SPV) verlegt. Die Schmerztherapie wird neu eingestellt und der Patient wieder mobilisiert. Mithilfe des ambulanten Palliativdienstes (SPV) wird die Rückkehr nach Hause organisiert. Zu Hause übernimmt wieder die Gemeindekrankenpflege die Betreuung (APV), lässt sich aber weiter durch den ambulanten Palliativdienst (SPV) beraten. ◄

38.4 Ergotherapie in der Palliative Care Die Vorstellung, in einer Palliativstation oder einem Hospiz zu arbeiten, wirkt auf viele Ergotherapeuten erschreckend. Sie fürchten sich vor der Konfrontation mit schwerkranken und sterbenden Klienten, ihr oft unmittelbar bevorstehender Tod macht Angst. Die Arbeit in der Palliative Care kann für den Therapeuten jedoch sehr erfüllend sein – sie ist dem Leben zugewandt, mit ­Erfolgserlebnissen und mit kostbaren Erfahrungen verbunden (von dem Berge 2015).

S. Heizmann und T. Kroner

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38.4.1 Besonderheiten

feld, muss er sich mit den anderen Therapeuten (Physiotherapeut, Psychoonkologe usw.) sowie dem zuständigen Arzt konstant austauschen. Dabei wird über Bedürfnisse des Klienten orientiert und die Behandlungsstrategie beraten. Sehr zu empfehlen sind gemeinsame Hausbesuche beim Klienten, z. B. mit dem Sozialarbeiter oder der Palliativfachpflegekraft. Auch die Unterstützung der Angehörigen wird im Team koordiniert und Auffälligkeiten, z.  B. eine pathologische Trauerreaktion (Abschn.  38.4.5), werden frühzeitig erfasst.

Gegenüber der üblichen Arbeit in der Rehabilitation zeigt die Ergotherapie in der Palliative Care einige Besonderheiten:

38.4.3 Diagnostik

Hintergrundinformation Die Ergotherapie ist in Deutschland noch nicht lange in die Palliative Care integriert. 2011 gab es für Ergotherapeuten erste Fortbildungsangebote in diesem Bereich. 2015 wurde erstmals ein Berufsverband der Ergotherapie in die Arbeit an der deutschen S3-Leitlinie „Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“ miteinbezogen. 2016 erfolgte die Aufnahme der Ergotherapie in die Sektion „Physiotherapie – Ergotherapie  – Logopädie“ der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.

• Den Klienten fehlt die Langzeitperspektive. Sie brauchen Unterstützung, bewusst im Moment zu leben. Die therapeutischen Ziele zur Verbesserung der Lebensqualität müssen deshalb in der unmittelbaren Zukunft liegen, realisierbar und für den Klienten wichtig sein. Oft liegt das Ziel auch im Moment: „Was kann ich jetzt – in diesem Moment – Relevantes für den Klienten tun?“ • Die Klienten und Angehörigen werden bei der Vorbereitung auf das bevorstehende Lebensende unterstützt, gleichzeitig muss aber das verbleibende Leben bejaht werden (Kealey und Mcintyre 2005). • Palliative Care bedeutet für die Angehörigen eine große Belastung. Sie müssen in die therapeutische Arbeit einbezogen werden, ihre Beratung und Unterstützung ist eine wichtige Aufgabe der Therapeuten.

38.4.2 Teamarbeit In Institutionen der spezialisierten Palliativversorgung arbeitet der Ergotherapeut in einem Team eng mit anderen Professionen zusammen. Behandelt ein Ergotherapeut aus einer Praxis einen Palliativklienten in dessen häuslichem Um-

Zur Erfassung der Beschwerden werden die in den Kap. 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, und 35 aufgeführten Assessments genutzt. Im Vordergrund steht der Top-down-Ansatz, der die Bedürfnisse des Klienten (und der Angehörigen) berücksichtigt und klienten- und betätigungsorientiert ausgerichtet ist (Kap. 26). cc In der Palliative Care kann sich das körperliche und psychische Befinden der Klienten rasch verändern. Deshalb muss der Ergotherapeut seine Zielsetzung und Strategien mit dem Klienten ständig überprüfen und anpassen.

38.4.4 Symptome und Behandlungsansätze 38.4.4.1 Symptome und Problemfelder Eine irische Studie untersuchte Klienten mit weit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen, die zu Hause durch Ergotherapeuten und Angehörige im Rahmen von Palliative Care betreut wurden (Kealey und Mcintyre 2005). Folgende Problemfelder hatten nach eigener Einschätzung für über 60  % der Klienten einen bedeutenden Einfluss auf ihre Lebensqualität:

38  Ergotherapie in der Palliative Care

• Körperlich: –– Fatigue –– Muskelschwäche • Psychologisch: –– Stress –– Angst und Sorgen um die Zukunft –– Verlust von Selbstvertrauen –– Verlust der sozialen Rollen • Funktional: –– Mobilität (in- und außerhalb der Wohnung) –– Treppensteigen –– Bad und Toilette • Sozial: –– Pflege der sozialen Kontakte –– Pflege von Hobbys und Interessen

38.4.4.2 Interventionen Wichtige ergotherapeutische Interventionen in der Palliative Care (nach Eva und Morgan 2015; Kealey und Mcintyre 2005): • Vermittlung von Hilfsmitteln und Instruktion zu ihrer Anwendung • Unterstützung und Instruktion zu komfortablem Sitzen, Liegen und zu Transfers • Strategien zur Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens • Unterstützung bei der Organisation von externen Aktivitäten • Emotionale Unterstützung • Umgang mit Fatigue • Übungen zur Verbesserung von Beweglichkeit und Kraft • Übungen zur Entspannung Beispiele

Ein bettlägriger Klient mit einer Lebenserwartung von noch wenigen Wochen wünscht sich sehnlich, an der Taufe eines Urenkels teilzunehmen. Der Ergotherapeut organisiert zusammen mit den Angehörigen und dem Pfarrer den Transport des Klienten in die Kirche und dort ein geeignetes Bett. Eine bettlägrige Klientin wünscht sich, am Fenster zu sitzen, aus dem sie in den Garten sehen kann. Der Ergotherapeut organisiert die

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Beschaffung eines geeigneten Stuhls und in­ struiert die Angehörigen über die Durchführung des Transfers. Ein Klient mit weit fortgeschrittener Tumorerkrankung möchte verschiedene Erlebnisse aus seinem Leben für seine Kinder und Enkel niederschreiben. Wegen seiner Fatigue kann er sich nicht lange konzentrieren. Der Ergotherapeut hilft ihm bei der Umsetzung und ermittelt, zu welcher Tageszeit er die meiste Energie hat, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Eine Klientin wünscht sich mehr Nähe zu verschiedenen Familienmitgliedern und Freunden. Dies ist nur bedingt möglich, da manche Personen sehr weit entfernt wohnen. Manche Freunde sind auch bereits verstorben. Mithilfe des Ergotherapeuten erstellt sie ein Büchlein mit Fotos und kurzen Geschichten zu diesen Personen. Das Büchlein trägt sie in der Folge immer bei sich. ◄ Wirksamkeit Aus einer Übersichtsarbeit zur Wirksamkeit von Ergotherapie am Lebensende (Chow und Pickens 2020) seien als Beispiele drei Interventionen erwähnt: Unterstützung beim Essen  In den Palliativstationen von zwei großen Krankenhäusern in Hongkong wurden 36 Klienten mit fortgeschrittener Tumorkrankheit der Ergotherapie zugewiesen wegen Problemen bei der Nahrungseinnahme. Als häufige Ursachen erwiesen sich unsachgemäße Position, eingeschränkte Funktionen von Hand oder Arm, unsachgemäßer Gebrauch von Hilfsmitteln oder psychologische ­Abhängigkeit von Pflege. Entsprechende ergotherapeutische Maßnahmen konnten die Selbständigkeit beim Essen schon innerhalb einer Woche signifikant verbessern (Lee et al. 2005). Unterstützung bei Fatigue durch Edukation  In einer Londoner Palliativ-Tagesklinik wurde eine relativ kleine Studie zur Unterstützung von ambulanten Klienten mit Fatigue durchgeführt. Eine individuelle Therapie erwies sich als

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wirksamer als eine Gruppentherapie. Die Intervention basierte ausschließlich auf Edukation: Der Therapeut informierte über Fatigue, Energiehaushalt, Schlaf und Entspannung, analysierte mit dem Klienten einen typischen Tagesablauf und gab Hinweise auf mögliche Modifikationen. Ein Großteil der Klienten gab nach zwei Sitzungen eine deutliche Besserung der Fatigue an (Littlechild 2016). Bei der Behandlung von Fatigue spielen neben der Edukation auch Bewegung und Sport eine wichtige Rolle (Kap. 33). Psychologische Unterstützung durch Erstellen einer Collage  Eine japanische Studie untersuchte ältere Krebspatienten in stationären und ambulanten Institutionen der Palliative Care. Ein Ergotherapeut führte in einer ersten Sitzung ein etwa einstündiges strukturiertes Gespräch mit dem Klienten. Darin sollte sich der Klient wichtige Erlebnisse in Erinnerung rufen. Dazu dienten z. B. folgende Fragen: „Wenn es ein Ereignis oder eine Person gibt, die Ihr Leben stark beeinflusst haben – wollen Sie mir erzählen, wer oder was das war?“ oder „Gibt es etwas in Ihrem Leben, worauf Sie besonders stolz sind?“ In einer zweiten Sitzung arrangierte der Klient eigene Fotos und vom Therapeuten ausgewählte Illustrationen aus Zeitschriften in einem Heft zu einer Art Collage. Die fertige Collage stellte für viele Klienten und ihre Angehörigen ein wichtiges Souvenir dar. Assessments vor der ersten und nach der zweiten Sitzung zeigten eine signifikante Verbesserung im spirituellen Wohlbefinden (FACIT-Sp) und eine signifikante Abnahme von Ängsten und Depression (HADS) (Sakaguchi und Okamura 2015).

38.4.5 Sterbebegleitung und Trauer Ein Therapeut begleitet den Klienten in verschiedenen Phasen seines Lebens. In der letzten Lebensphase ist die Trauer ein zentrales Thema im Umgang mit dem Klienten und seinen Angehörigen. Einige Grundkenntnisse helfen dem Therapeuten, Trauernde zu verstehen und zu begleiten, ohne sich dabei hilflos zu fühlen.

S. Heizmann und T. Kroner

In der Sterbephase ergeben sich folgende Aufgaben (nach Smeding und Aulbert 2005): • die Sterbebegleitung des Klienten, • Vorbereitung der Angehörigen auf Verlust und Trauer, • Erkennen von Angehörigen mit einem erhöhten Risiko für eine pathologische Trauerreaktion und ggf. Ergreifen von präventiven Maßnahmen, • Trauerbegleitung für Angehörige nach dem Tod des Klienten, • Ergreifen von Maßnahmen bei pathologischer Trauerreaktion.

38.4.5.1 Sterbebegleitung Neben der konsequenten Kontrolle und Behandlung der körperlichen Symptome und der damit verbundenen Einschränkungen im Alltag muss dem Sterbenden geholfen werden, die Krankheit und den kommenden Tod nach Möglichkeit zu akzeptieren. Ein Sterbender durchlebt bei seinem Abschied vom Leben viele verschiedene Phasen. Dazu gehören Emotionen wie Wut, Angst, Trauer und Verzweiflung genauso wie Dankbarkeit und Annehmen. Das Aussprechen, Betrauern und Akzeptieren sind vom Therapeuten nach Möglichkeit zu unterstützen. Oftmals laufen diese Prozesse und damit verbundene Fragen zum Leben und Sterben im Inneren des Klienten oder im Schlaf (durch Träume) ab. Bedürfnisse des Klienten wie in bestimmten Situationen alleine oder nicht alleine zu sein müssen akzeptiert werden. Die Hoffnungen und Wünsche des Sterbenden müssen beachtet und darauf nach Möglichkeit eingegangen werden. Die Rolle des Therapeuten ist in erster Linie die eines verständnisvollen Begleiters. Es geht nicht darum, den Klienten mit gut gemeinten Ratschlägen und Informationen zu versehen, sondern hauptsächlich darum, ihm  – wenn er reden will – zuzuhören und ihm zu zeigen, dass seine Ängste verstanden werden. Möglichkeiten der Gestaltung eines Gesprächs sind in Abschn. 24.3.1 aufgezeigt.

38  Ergotherapie in der Palliative Care

cc Nicht jeder Sterbende will über seinen Trauerprozess reden. Auch wenn das Team im Ansprechen von Gefühlen eine Chance sieht, dem Klienten zu innerem Frieden zu verhelfen, muss es den Weg des Klienten akzeptieren.

38.4.5.2 Trauerbegleitung von Angehörigen Nahe Angehörige können bereits während der Krankheit auf den bevorstehenden Tod des Klienten vorbereitet werden. Dies gilt insbesondere für Angehörige ohne stützendes Umfeld, z. B. für ältere kinderlose Ehepartner mit kleinem Bekannten- und Freundeskreis. Verschiedene Maßnahmen bieten den Angehörigen schon frühzeitig Hilfe und Halt, beispielsweise das Angebot von psychologischer Betreuung oder der Hinweis auf kreative Möglichkeiten wie Kunsttherapie oder auf Selbsthilfegruppen für Angehörige. Kindern können je nach Alter Gesprächsrunden oder kreative Arbeiten angeboten werden. Solche Angebote sollen sie dazu ermutigen, ihre Trauer und die damit verbundenen Gefühle im Gespräch/im Tun kennenzulernen, auszudrücken und zu akzeptieren. Ziel ist es, dass sie ihre Trauer als natürliche Reaktion auf den Verlust verstehen. Pathologische Trauerreaktion Das Erkennen einer pathologischen Trauerreaktion ist wichtig, weil die Betroffenen in der Regel professionelle psychologische Unterstützung brauchen. Der Übergang zwischen normaler und pathologischer Trauerreaktion ist allerdings fließend und die Diagnose einer pathologischen Trauer oft entsprechend schwierig.

Hinweise auf eine pathologische Trauerreaktion

• Ständiges Sehnen nach der verstorbenen Person • Das Gefühl, selbst gestorben zu sein • Auffällige Behinderung am Arbeitsplatz und im persönlichen Umfeld • Unfähigkeit, über den Verstorbenen und die eigene Situation zu reden

433

Die normale Trauer geht mit einer depressiven Reaktion einher. Diese klingt auch ohne therapeutische Intervention ab. Sie ist zu unterscheiden von einer behandlungsbedürftigen Depression. Typisch für eine solche sind u.  a. das Gefühl der Wertlosigkeit, Interessenverlust und anhaltende Schlafstörungen. Risikofaktoren für die Entwicklung einer pathologischen Trauerreaktion sind u. a.: • Art des Verlustes: Konnte ein Abschied stattfinden oder wurde der Verstorbene plötzlich aus dem Leben gerissen? • Persönliche Struktur: Wie ist die Person bisher mit Schicksalsschlägen umgegangen? Welche Art der Beziehung hatte sie zu der verstorbenen Person? Wie hoch ist die eigene Vulnerabilität? Wurde der bevorstehende Verlust fortdauernd verleugnet? • Fehlende Unterstützung durch das soziale Umfeld, durch Familie und Freunde

38.4.5.3  Umgang mit Trauer im Team Auch das behandelnde Team bleibt von Trauer nicht verschont. Daher sollte man sich im Vorhinein überlegen, welche Maßnahmen den Mitarbeitenden eine Verarbeitung ermöglichen. Mögliche Maßnahmen sind: • Team-Supervision: Sie bietet Zeit und Raum für Gespräche, um Trauer zuzulassen und auszusprechen. • Rituale, beispielsweise: –– Während einer Sitzung eine Kerze mit Bild des Verstorbenen aufstellen und dabei ­Begegnungen mit dem Verstorbenen Revue passieren lassen. –– Gemeinsam eine Trauerkarte schreiben und von allen unterschreiben lassen.

38.4.5.4 Psychohygiene Die Themen, die von Klienten und Angehörige an den Therapeuten herangetragen werden, sind oft sehr belastend. Dabei entsteht für den Therapeuten ein Dilemma: Er soll sich in die Situation einfühlen, um sein Interesse und seine Anteilnahme auszudrücken; gleichzeitig darf er nicht

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mitleiden, damit er die professionelle Distanz wahren kann. Dieser Balanceakt stellt eine große Herausforderung dar. Der Therapeut sollte sich jedoch immer vor Augen halten, dass er für den Klienten und seine Angehörigen ohne Distanz keine professionelle Hilfe anbieten kann. Verschiedene Techniken erlauben es dem Therapeuten, einen gesunden Selbstschutz aufzubauen (Kap. 25).

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Broschüren für Klienten und Angehörige Deutscher Hospiz- und PalliativVerband (o.J.) Trauer und Trauerbegleitung. https://www.dhpv.de/files/public/ themen/2017_HR_TrauerundTrauerbegleitung.pdf (Zugriff am 27. Juni 2023) Leitlinienprogramm Onkologie (2020) Palliativmedizin für Patientinnen und Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. Download: https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/fileadmin/user_upload/ Downloads/Patientenleitlinien/Patientleitlinie_ Palliativmedizin-1980012.pdf (Zugriff am 23. Juni 2023) Stiftung Deutsche Krebshilfe (2018) Die blauen Ratgeber. Palliativmedizin  – Antworten/Hilfen/Perspektiven. https://www.krebshilfe.de/infomaterial/Blaue_Ratgeber/Palliativmedizin_BlaueRatgeber_DeutscheKrebshilfe.pdf (Zugriff am 27. Juni 2023)

Teil VII Häufige Tumoren – Symptome, Diagnostik, Therapie

Mamma- und Ovarialkarzinom

39

Thomas Kroner

39.1 Mammakarzinom (Brustkrebs) 39.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • In Deutschland jährlich etwa 70.000 Neuerkrankungen, davon 1 % bei Männern. • Etwa 1 von 8 Frauen erkrankt im Lauf ihres Lebens an Brustkrebs. • Risikofaktoren: –– Höheres Alter –– Erbliche Veranlagung, am häufigsten durch Mutationen im BRCA1- oder BRCA2-Gen (Abschn. 5.4): Etwa eine von 500 Personen trägt eine Mutation im BRCA1-Gen, etwa eine von 700 Personen im BRCA2-Gen. Frauen mit einer BRCA1- oder BRCA2-­ Mutation erkranken rund 20 Jahre früher als Frauen ohne familiäres Risiko und haben ein lebenslanges Risiko von 45–65  %, an einem Mammakarzinom zu erkranken. Auch das Risiko für Ovarialkarzinome ist bei Trägerinnen einer solchen Mutation erhöht. –– Weniger starke Risikofaktoren sind u.  a. Übergewicht und eine Hormonersatztherapie, Letztere besonders bei längerer Dauer.

Hormonhaltige Ovulationshemmer („Pille“) erhöhen das Risiko nur gering. –– Ein normales Gewicht und ausreichend Bewegung verringern das Risiko.

39.1.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors • Tastbarer, meist schmerzloser Knoten • Evtl. Einziehung der Mamille, Veränderung der Haut über der Mamma: „Apfelsinenhaut“, evtl. entzündliche Veränderungen

39.1.3 Diagnostik Früherkennung/Screening • Mammografie • Evtl. Ultraschall und/oder MRI • Tastuntersuchung durch den Arzt und Selbstuntersuchung der Brust sind ungeeignet zur Erfassung von kleinen Tumoren.

Bei Verdacht auf Brustkrebs • Ziel der Abklärungen ist die Sicherung der Diagnose: –– Mammografie –– Ultraschallgesteuerte Biopsie

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_39

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T. Kroner

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Bei gesicherter Diagnose • Ziel der Abklärungen ist die Beurteilung des Tumorstadiums, des Gradings und von prognostischen und prädiktiven Biomarkern (Abschn. 7.7) als Grundlage für die Therapiewahl. • Suche nach Fernmetastasen nur bei erhöhtem Risiko, z. B. bei befallenen Lymphknoten

39.1.5 Metastasierung • Lokoregionäre Metastasierung in Lymphknoten • Fernmetastasen v. a. in Skelett, Lunge, Leber, Hirn

39.1.6 Therapie 39.1.4 Histologie und Biomarker

Einteilung aufgrund von Biomarkern Im Tumorgewebe werden Biomarker bestimmt (Abschn. 2.2 und 7.7):

39.1.6.1 Übersicht • Eine definitive Heilung ist möglich, solange der Tumor auf Brust und lokale Lymphknoten beschränkt ist: chirurgische Resektion und evtl. zusätzliche Radio- und/oder medikamentöse Tumortherapie. • Bei Fernmetastasen meist medikamentöse Tumorbehandlung in palliativer Absicht. Oft über viele Jahre anhaltende Tumorrückbildung bei guter Lebensqualität.

• Hormonrezeptoren: Östrogenrezeptor (ER) und Progesteronrezeptor (PgR) • HER2-Rezeptor (Humaner epitelialer Wachstumsfaktor-Rezeptor) • Ki-67-Proliferationsindex: Gibt an, welcher Anteil der Krebszellen sich in Teilung befindet. Ein Wert von ≥25 % gilt als „hoch“.

39.1.6.2 Chirurgie Prophylaktisch • Bei Trägerinnen einer Mutation von BRCA1 oder BRCA2 evtl. prophylaktische beidseitige Mastektomie, evtl. kombiniert mit prophylaktischer Entfernung der Ovarien ­ (Abschn. 39.2).

Anhand der Resultate dieser Bestimmungen erfolgt eine Einteilung in vier Gruppen (Tab. 39.1).

Kurativ

Histologie • Fast ausschließlich Adenokarzinome • Weitaus am häufigsten „Invasives Karzinom, kein spezieller Typ (NST)“

cc Diese Einteilung ist entscheidend für die Wahl der medikamentösen Tumortherapie.

Brust

• Brusterhaltende Therapie (BET): Sie ist die operative Standardbehandlung des Mammakarzinoms. Der Tumor und ein Sicherheits-

Tab. 39.1  Einteilung der Mammakarzinome anhand von Biomarkern Hormonempfindlicher Brustkrebs

Luminal A Luminal B

HER2-positiver Brustkrebs Dreifach-negativer (triple-­negativer) Brustkrebs

ER und/oder PgR positiv, HER2 negativ und Ki-67 niedrig ER und/oder PgR positiv, HER2 negativ und Ki-67 hoch Oder: ER und/oder PgR positiv, HER2 positiv und Ki-67 hoch oder niedrig HER2 positiv, ER und PgR negativ HER2 negativ, ER und PgR negativ

39  Mamma- und Ovarialkarzinom

rand von gesundem Brustgewebe werden operativ entfernt. Eine BET ist gelegentlich nicht möglich, z. B. wenn der Tumor im Verhältnis zur Brust sehr groß ist oder bei entzündlichem (inflammatorischem) Mammakarzinom. Die BET wird in der Regel durch eine Radiotherapie ergänzt. • Mastektomie: Ist eine BET nicht möglich oder bei entsprechendem Wunsch der Patientin wird die Mastektomie durchgeführt, meist als „modifiziert radikale Mastektomie“. Dabei werden der ganze Brustdrüsenkörper, die Haut mit der Brustwarze sowie die Faszie über dem großen Brustmuskel entfernt. Der Brustmuskel bleibt erhalten. Die fehlende Brust kann operativ durch Eigengewebe oder ein Implantat rekonstruiert werden. Viele Frauen entscheiden sich anstelle des Wiederaufbaus für das Tragen einer Prothese (Abschn. 31.6). Axilläre Lymphknoten

• Biopsie der Wächterlymphknoten: Als Wächterlymphknoten oder Sentinel Nodes werden diejenigen Lymphknoten bezeichnet, die dem Tumor am nächsten liegen, d. h. die ersten Lymphknoten, in denen Krebszellen aus dem Tumor zurückgehalten werden. Falls vor der Operation kein Hinweis auf Lymphknotenbefall besteht, werden während des Eingriffs an der Brust die Wächterlymphknoten markiert (Abb. 39.1) und nur diese entfernt und mikroskopisch untersucht. Man geht dabei davon aus, dass bei Tumorfreiheit dieser Lymphknoten auch die weiter entfernten tumorfrei sind und den Patientinnen damit ein größerer Eingriff in der Axilla zur Entfernung weiterer Lymphknoten erspart werden kann. Das Risiko eines postoperativen Lymphödems wird dadurch erheblich reduziert. • Axilläre Lymphknotenentfernung: Bei Befall der Wächterlymphknoten werden weitere axilläre Lymphknoten entfernt (axilläre Lymphknotendissektion, abgekürzt ALND) und mikroskopisch untersucht. Tumorbefall bzw. Tumorfreiheit geben wichtige Hinweise auf die Art der weiteren Therapie.

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Abb. 39.1 Sentinel-Lymphknotenbiopsie. 1  Tumor. 2 Injektion von radioaktiver Substanz und blauem Farbstoff in der Nähe des Tumors (vor der Operation). 3 Während der Operation signalisiert ein Strahlendetektor die vom Wächterlymphknoten (im roten Kreis) aufgenommene Radioaktivität und erlaubt es, ihn zu lokalisieren. (Nach Ostertag und Jonat 2003)

39.1.6.3 Strahlentherapie Adjuvant • Nach BET in der Regel adjuvante Bestrahlung der Brust • Nach Mastektomie Bestrahlung der Brustwand nur bei erhöhtem Rückfallrisiko • Indikation zur zusätzlichen Bestrahlung der Lymphabflusswege, abhängig von verschiedenen Faktoren (u. a. Lage und Größe des Primärtumors, Anzahl befallener Lymphknoten) Palliativ • Bestrahlung schmerzhafter Knochenmetastasen • Bestrahlung von Hirnmetastasen

39.1.6.4 Medikamentöse Behandlung Indikation Neoadjuvant

• Bei großen Tumoren, um durch Rückbildung des Tumors eine BET anstelle der Mastektomie zu ermöglichen • Bei entzündlichem (inflammatorischem) Mammakarzinom

T. Kroner

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Adjuvant

• Abhängig von Risikofaktoren für Rezidiv des Tumors

catinib (Tucysa) hemmen die Signalübermittlung von HER2 innerhalb der Zelle. Chemotherapie

Palliativ

• Bei Lokalrezidiv nach Bestrahlung und bei Fernmetastasen • Ziel: möglichst langdauernde Tumorfreiheit bei guter Lebensqualität Medikamente Übersicht

• Wahl der Medikamente in erster Linie aufgrund von Biomarkern (Tab. 39.1): –– Hormonempfindlicher Brustkrebs: Hormontherapie, evtl. kombiniert mit Chemotherapie –– HER2-positiver Brustkrebs: Anti-­HER2-­ Antikörper oder andere gezielt gegen HER2 wirkende Medikamente, kombiniert mit Chemo- oder Hormontherapie –– Dreifach-negativer Brustkrebs: Chemotherapie Hormontherapie

• Details Abschn. 11.5 • In der Prämenopause Tamoxifen, evtl. zusätzlich LHRH-Antagonist • In der Postmenopause Tamoxifen, evtl. gefolgt von Aromatasehemmer Gegen HER2 wirksame Medikamente

• Details Abschn. 11.3 • Verschiedene Medikamente wirken gezielt gegen Krebszellen, die HER2 auf ihrer Oberfläche tragen. Dazu gehören die monoklonalen Antikörper Trastuzumab (Herceptin) und Pertuzumab (Perjeta). Bei Trastuzumab-­Emtansin (T-DM1, Kadcyla) ist der Antikörper Trastuzumab mit dem Zytostatikum Emtansin chemisch verbunden. Lapatinib (Tyverb) und Tu-

• Details Abschn. 11.2 • Zahlreiche „klassische“ Zytostatika aus verschiedenen Wirkstoffklassen sind gegen Brustkrebs wirksam. Häufig eingesetzt werden Taxane (z.  B.  Taxol), Anthrazykline (z.  B.  Doxorubicin) und Cyclophosphamid (z. B. Endoxan). –– Auch neuere „zielgerichtete“ Medikamente zeigen bei bestimmten Gruppen von ­Brustkrebs Wirksamkeit, z.  B.  Abemaciclib, Ribociclib u. a. m.

39.1.7 Prognose • Stadienabhängig • Anlässlich Screening erkannte Frühstadien: 10-Jahres-Überlebensrate über 95 % • Lokal wenig fortgeschrittene Erkrankung: 10-Jahres-Überlebensrate 70–95 % • Bei Fernmetastasen: 10-Jahres-­Überlebensrate 10–15 %

39.1.8 Nachsorge Ziele • Früherfassung von behandelbaren Rezidiven nach kurativer Behandlung • Früherfassung von Zweittumoren, v. a. in der gegenseitigen Brust • Erfassung von Behandlungskomplikationen Untersuchungen • Mammografie der gesunden Brust und (nach brusterhaltender Therapie) der erkrankten Brust • Zusatzuntersuchungen gemäß Symptomatik

39  Mamma- und Ovarialkarzinom

39.2 Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs) 39.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • Jährlich etwa 10  Neuerkrankungen pro 100.000 Frauen • In Deutschland jährlich etwa 7000 Neuerkrankungen • Stetige Zunahme mit dem Alter, mittleres Alter bei Erkrankung 68 Jahre Risikofaktoren • Alter • Mutationen von BRCA1 oder BRCA2 (Abschn. 5.4) bei ca. 20 % der Patientinnen! –– Trägerinnen einer BRCA1-Mutation haben bis zum 69. Lebensjahr ein Risiko von knapp 40  %, an einem Eierstockkrebs zu erkranken. –– Bei Mutationen von BRCA2 beträgt dieses Risiko 10–20 % • Andere Risikofaktoren: –– Hormonersatztherapie in der Peri- und Postmenopause –– Asbestexposition –– Übergewicht • Die Einnahme von oralen Antikonzeptiva (empfängnisverhütende Mittel, „Pille“) senkt das Erkrankungsrisiko, auch bei Vorliegen einer BRCA-Mutation.

39.2.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors • Keine Frühsymptome. Beschwerden können bis zu weit fortgeschrittenen Tumorstadien fehlen. • Später oft unklare Bauchbeschwerden wie Völlegefühl, Blähungen oder häufiger Harndrang

39.2.3 Diagnostik Bei Verdacht auf Ovarialkarzinom • Gynäkologische Tast- und Spiegeluntersuchung und transvaginaler Ultraschall

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• Bestimmung des Tumormarkers CA-125 im Blut • Die histologische Sicherung der Diagnose und die Stadienbestimmung finden operativ statt!

39.2.4 Histologie und Metastasierung Histologie • Meist seröses Karzinom, unterteilt nach Malignitätsgrad in „high grade“ (über 50  % aller Ovarialkarzinome) und „low grade“ • Seltener muziöse und andere Karzinome Metastasierung • Lymphknoten im Becken und längs der Aorta • Ausgedehnte Metastasierung auf dem ganzen Bauchfell (Peritoneum)

39.2.5 Therapie 39.2.5.1 Übersicht • Die vollständige chirurgische Entfernung aller Tumorherde ist Voraussetzung für eine definitive Heilung. • In der Regel folgt postoperativ eine Chemotherapie. 39.2.5.2 Chirurgie Präventiv • Bei Trägerinnen von Mutationen des BRCA1oder BRCA2-Gens: Prophylaktische beidseitige Entfernung der Eierstöcke und der Eileiter, in der Regel als laparoskopischer Eingriff (bilaterale Salpingo-Oophorektomie). Bei „lokalisiertem“ Karzinom • Bei etwa 25–30  % der Patientinnen scheint der Tumor bei Diagnose noch lokalisiert, d. h. auf das Becken beschränkt. Da häufig mikroskopische Tumorherde außerhalb des Beckens bestehen, werden bei diesen „frühen“ Stadien während der Operation ausgedehnte Biopsien vorgenommen.

T. Kroner

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• Die Operation wird als offene Laparotomie durchgeführt und umfasst Folgendes: –– Inspektion und Palpation der ganzen Bauchhöhle von der Zwerchfellkuppel bis zum Enddarm –– Beidseitige Entfernung der Ovarien und der Eileiter sowie des Uterus (­Hysterektomie) und des großen Netzes (Omentektomie), evtl. auch Appendektomie –– Systematische Exzision der Lymphknoten im Becken und paraaortal –– Systematische Biopsien von allen Arealen des Bauchfells (Peritoneum)  – von den Zwerchfellkuppeln bis ins kleine Becken

Bei fortgeschrittenem Karzinom • Die Prognose der Patientinnen wird wesentlich durch das Ausmaß der Tumorreste nach der Operation bestimmt. Ziel der Operation ist deshalb die vollständige Entfernung aller sichtbaren Tumorherde. • Zusätzlich zum oben bei „lokalisierten“ Karzinomen beschriebenen Vorgehen werden deshalb nach Möglichkeit alle sichtbaren Tumorherde entfernt. Das heißt, es werden unter Umständen die Milz, ausgedehnte Teile des Bauchfells und des Darms und Teile der Leberkapsel entfernt. Auf eine systematische Exzision der Lymphknoten wird in der Regel verzichtet, sie führt nicht zu einer Verbesserung der Prognose.

39.2.5.3 Radiotherapie Ovarialkarzinome sind strahlensensibel. Da bei den meisten Patientinnen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose eine fortgeschrittene Erkrankung vorliegt, müsste eine Bestrahlung das ganze Abdomen erfassen. Diese Ganzabdomenbestrahlung ist mit einer hohen Toxizität verbunden und wird deshalb nicht mehr eingesetzt. Radiotherapie gelegentlich bei ausgewählten Fällen von lokalisiertem Rezidiv. 39.2.5.4 Chemotherapie Postoperativ • Außer bei ganz frühen, sicher lokalisierten Stadien ist eine postoperative Chemotherapie

immer indiziert. Sie verlängert das Überleben. • Postoperative Standardtherapie bei fortgeschrittenem Karzinom sind 6 Zyklen einer Kombination von Paclitaxel (Taxol) und Carboplatin (Paraplatin). • Bei Patientinnen mit BRCA-Mutation erfolgt nach diesen 6 Zyklen in der Regel eine Erhaltungstherapie mit Olaparib (Lynparza). • Die hypertherme intraperitoneale Chemotherapie (HIPEC) ist sehr aufwendig. Die Resultate sind umstritten, sie gilt als experimentell.

Bei Rezidiv (Rückfall) • Je nach Ansprechen auf die postoperative Therapie unterschiedliche Optionen: –– Nochmals platinhaltige Chemotherapie –– Chemotherapie mit anderen Substanzen, z. B. Doxorubicin (Caelyx, Myocet), Topotecan (Hycamtin), Gemcitabin (Gemzar), evtl. in Kombination mit Bevacizumab (Avastin)

39.2.6 Prognose • Bei auf Becken beschränktem Tumor: 5-­Jahres-Überleben 70–95 % • Bei fortgeschrittenem Tumor: 5-Jahres-­ Überleben 15–60 %

39.2.7 Nachsorge Ziele • Erkennen und Behandlung von Nebenwirkungen und Spätfolgen der Therapie • Erkennen von Rezidiven Untersuchungen • Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema • Anamnese, gynäkologische Untersuchung, transvaginaler Ultraschall • Bei symptomfreien Patientinnen keine Vorteile durch laborchemische (Tumormarker CA 125) und apparative Diagnostik

Bronchialkarzinome (Lungenkrebs)

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Miklos Pless

40.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • Etwa 55 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Männer, Inzidenz sinkt • Etwa 30 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Frauen, Inzidenz steigt • Das Erkrankungsrisiko nimmt etwa ab dem 40. Lebensjahr mit dem Alter zu • Wichtigster Risikofaktor: Zigarettenrauchen (Ursache von 90 % aller Lungenkrebsfälle bei Männern, 60–80 % bei Frauen) • Weitere Risikofaktoren: Asbest, Radon, Passivrauchen

40.2 Symptome Symptome des unbehandelten Primärtumors • Neu einsetzender Husten oder Ver­ schlimmerung eines chronischen Hustens • Auswurf mit oder ohne Blutbeimengungen • Schmerzen • Atemnot • Gewichtsverlust, Abgeschlagenheit

M. Pless (*) Medizinische Onkologie und Tumorzentrum, Kantonsspital Winterthur, Winterthur, Schweiz e-mail: [email protected]

In der Regel keine oder nur unspezifische cc  Frühsymptome. Häufig Diagnoseverschlep­ pung.

40.3 Diagnostik 40.3.1 Bei Verdacht auf Bronchialkarzinom Ziel • Sicherung oder Ausschluss der Verdachts­ diagnose Untersuchungen • Thorax-Röntgen • Bronchoskopie oder EBUS (endobronchialer Ultraschall), wenn möglich mit Biopsie und pathologischer Untersuchung • Evtl. invasive Methoden, z. B. Thorakoskopie mit Biopsie

40.3.2 Bei pathologisch gesicherter Diagnose Ziel • Erfassung der Krankheitsausbreitung im Kör­ per (lokal und metastatisch) • Beurteilung der Operabilität des Tumors

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_40

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M. Pless

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Untersuchungen • Computertomografie des Thorax und des Oberbauchs • PET-CT (Lymphknotenbefall im Mediasti­ num? Fernmetastasen?) • Mediastinalstaging mit EBUS oder Mediasti­ noskopie • Skelettszintigrafie bei Verdacht auf Knochenmetastasen (nur wenn PET nicht verfügbar) • Ggf. MRT des Schädels

40.4 Histologie, Stadieneinteilung und Metastasierung 40.4.1 Histologie Unterteilung in: • Kleinzelliges Bronchialkarzinom (15–20  %), engl.: small cell lung cancer, abgekürzt SCLC. • Die Abkürzung SCLC ist auch im deutschen Sprachgebrauch geläufig. • Nichtkleinzellige Bronchialkarzinome, engl.: non-small cell lung cancer, abgekürzt NSCLC: –– Plattenepithelkarzinom (25–35 %) –– Adenokarzinom (40–50 %) –– Großzelliges Karzinom (10–15 %) –– Seltene Tumoren (5–10 %) cc Kleinzellige Bronchialkarzinome metastasie­ ren früher als die nichtkleinzelligen Karzinome und sprechen besser auf Chemound Strahlentherapie an.

40.4.2 Metastasierung Kleinzellige Karzinome • Sehr früh hämatogene Metastasierung in ver­ schiedene Organe: Knochen, Leber, Hirn, Lunge u. a. m.

Nichtkleinzellige Karzinome • Lymphatische Metastasierung in lokale und regionale Lymphknoten • Später: hämatogene Metastasierung (auf dem Blutweg) in andere Organe, häufig in Kno­ chen, Leber, Lunge, Hirn

40.4.3 Stadieneinteilung Kleinzellige Bronchialkarzinome Die Einteilung in die beiden Stadien „Limited Disease“ (begrenzte Erkrankung) und „Extensive Disease“ (ausgedehnte Erkrankung) ist gebräuch­ licher als die TNM-Klassifikation: • Limited Disease (LD): Tumor ist auf eine Thoraxseite beschränkt (30 % der Fälle) • Extensive Disease (ED): jede Tumoraus­ dehnung über die Definition von „Limited Di­ sease“ hinaus; bei Fernmetastasen immer Ein­ stufung als ED Nichtkleinzellige Karzinome • Einteilung gemäß TNM-Klassifikation (Abschn. 4.4)

40.5 Therapie kleinzelliger Karzinome 40.5.1 Übersicht • Bei Limited Disease Heilung in gewissen Fäl­ len mit Chemoradiotherapie möglich • Wegen der Tendenz zur frühen Metastasie­ rung ist Chemotherapie die wichtigste Therapieform: in der Regel rasche, bei einem Teil der Patienten (45–60 % bei LD, 20–30 % bei ED) vollständige Tumorrückbildung • Ohne Therapie mittleres Überleben 2–4 Monate Limited Disease • Nur im (seltenen) Stadium I: evtl. Operation, gefolgt von Chemoradiotherapie

40  Bronchialkarzinome (Lungenkrebs)

• Platinhaltige Kombinationschemotherapie und Strahlentherapie, gleichzeitig (am wirk­ samsten, allerdings mehr Toxizität) oder se­ quenziell • Bei Kontraindikation gegen Thorax­ bestrahlung nur Chemotherapie • Prophylaktische Schädelbestrahlung: redu­ ziertes Risiko eines ZNS-Rezidivs und bes­ sere Lebenserwartung • In der Regel Lebensverlängerung auf im Mit­ tel 18–24 Monate, aber nur 15–20 % der Pa­ tienten bleiben längerfristig krankheitsfrei Extensive Disease • Nach Möglichkeit platinhaltige Kombinations­ chemotherapie über 4–6 Zyklen in Kombina­ tion mit Immuntherapie • Stellenwert der prohylaktischen Ganzhirn­ bestrahlung derzeit unklar • Evtl. Strahlentherapie zur Symptomlinderung • Bei bronchialer Obstruktion lokale Therapien: Radiotherapie, endobronchiale Brachytherapie, Lasertherapie oder Einlage von Stents • Mittleres Überleben 8–12 Monate bei Kombinationschemotherapie

40.5.2 Chirurgie • Grundsätzlich keine Operation, da bei Diag­ nose praktisch immer schon metastasiert (Ausnahme u.  a. eventuell bei LD Stadium I mit zusätzlicher Chemoradiotherapie)

40.5.3 Strahlentherapie Limited Disease • Falls möglich, Strahlentherapie parallel zur Chemotherapie (Chemoradiotherapie), andern­ falls nach Abschluss der Chemotherapie • Insbesondere bei Vollremission nach Chemo­ therapie: prophylaktische Bestrahlung des Schädels wegen des hohen Risikos eines Rezi­ divs im Gehirn (bis zu 60 %) Extensive Disease • Bei gutem Ansprechen auf die Chemotherapie evtl. Radiotherapie des Primärtumors

445

Bei Rezidiv/Progression • Bei Tumorprogression unter Chemotherapie und Lokalrezidiv • Zur Linderung tumorbedingter Beschwerden (lokal oder durch Metastasen)

40.5.4 Medikamentöse Therapie Üblicherweise Kombinationschemotherapie (2 oder 3 Substanzen) über 4–6 Zyklen: z. B. Eto­ posid/Platin (EP, derzeitiger Standard), Cyclo­ phosphamid/Doxorubicin/Vincristin (CAV) Limited Disease • Therapie potenziell kurativ! • Chemotherapie möglichst in Kombination mit Strahlentherapie • Remissionsraten über 80  % (komplette Re­ missionen etwa 50 % bis zu 60 %) Extensive Disease • Chemotherapie ähnlich wie bei LD • Bis zu 80 % Remissionen (etwa 20–30 % voll­ ständig), aber Dauer meist begrenzt

Rezidiv • Bei Rezidiv mehr als 3 Monate nach Primär­ therapie: Wiederholung der Erstlinien-­ Chemotherapie • Bei primärer Resistenz oder Frührezidiv evtl. Zweitlinientherapie (Erfolge selten und meist nur von kurzer Dauer)

40.6 Therapie nichtkleinzelliger Karzinome 40.6.1 Übersicht • Wirkungsvollste Therapie ist die Operation. Nur bei 20–30 % der Patienten ist eine poten­ ziell kurative Operation möglich. • Bei Kontraindikation gegen Operation und bei Fehlen von Lymphknoten-Metastasen: poten­ ziell kurative Strahlentherapie • Bei örtlich fortgeschrittenen Tumoren: kombi­ nierte Chemo- und Strahlentherapie oder prä­

M. Pless

446

operative (neoadjuvante) Chemoradiotherapie mit nachfolgender Operation • Bei ausgedehntem Primärtumor und/oder Fernmetastasierung ohne Heilungsaussicht: palliative Chemo- oder Strahlentherapie • Bei Rezidiv oder Progression nach Erst­ therapie: palliative Chemo- oder Strahlen­ therapie; Resektion einzelner Metastasen; bei Obstruktion endobronchiale Therapie • Wegen generell unbefriedigender Ergebnisse Behandlung bevorzugt im Rahmen von Studien

40.6.2 Chirurgie Kurativ • Bei lokalisiertem Tumor alleinige Operation oder Operation mit adjuvanter oder ­neoadjuvanter medikamentöser Therapie, ab­ hängig von Tumorstadium • Häufigstes Verfahren: Lappenresektion (Lob­ ektomie) • Seltener: Segment- oder Keilresektion, Bilob­ ektomie, Pneumonektomie. Palliativ • Resektion des Primärtumors zur Vermeidung von Blutungen, Abszessbildung, Schmerzen etc. • Resektion einzelner Metastasen

40.6.3 Strahlentherapie Kurativ • Sehr hoch dosierte gezielte (sog. stereo­ taktische) Strahlentherapie, wenn der Tumor zwar örtlich begrenzt, aber eine Operation nicht möglich ist (schlechter Allgemein­ zustand, Begleiterkrankungen, keine Ein­ willigung zur Operation) • In Kombination mit gleichzeitiger Chemo­ therapie bei örtlich fortgeschrittenen, aber nicht metastasierten Tumoren Additiv • Nach unvollständiger oder nicht sicher voll­ ständiger operativer Tumorentfernung

Palliativ • Bei Rezidiv oder Metastasen: zur Linderung tumorbedingter Beschwerden und zur Ver­ meidung von Komplikationen • Als endobronchiale Brachytherapie zur Be­ seitigung einer Stenose der Luftwege • Stereotaktische Bestrahlung einzelner Hirn­ metastasen

40.6.4 Medikamentöse Therapie Die medikamentöse Therapie des nichtkleinzelli­ gen Karzinoms hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert: Zahlreiche Substanzen aus neuen Wirkstoffklassen haben sich als sehr wirksam erwiesen: • Zielgerichtete Therapien (Targeted Therapies, Abschn. 11.3): Sie hemmen gezielt Vorgänge in den Tumorzellen, die für ihr Wachstum nötig sind. In der Regel „kleine Moleküle“ wie Alectinib (Alecensa), Osimertinib (Tagrisso), Dabrafe­ nib (Tafinlar), u. a. m. Diese Medikamente wirken nur bei Tumoren, die bestimmte Mutationen aufweisen. • Immuncheckpointhemmer: Sie aktivieren das körpereigene Immunsystem gegen die Tumor­ zellen (Abschn. 11.4.1). Dazu gehören z.  B.  Atezolizumab (Tecen­ triq), Nivolumab (Opdivo), Pembrolizumab (Keytruda), Durvalumab (Imfinzi) oder Ipili­ mumab (Yervoy). Nach wie vor werden bei diesen Karzinomen Chemotherapeutika („klassische“ Zytostatika) eingesetzt, oft kombiniert mit den neueren Wirk­ stoffen. Beim nichtkleinzelligen Lungen­ karzinom wirksame Zytostatika sind Platinsalze (Cisplatin und Carboplatin), Taxane, Vinorelbin, Gemcitabin, Pemetrexed u. a. m. Neoadjuvant (präoperativ) • Im operablen Stadium IIIA • Kombinationschemotherapie mit Platin und Taxan, Gemcitabine oder Pemetrexed

40  Bronchialkarzinome (Lungenkrebs)

Adjuvant • Nach kompletter Resektion (R0): Ver­ besserung der Prognose im Stadium II und IIIA , Überlebensvorteil verglichen mit allei­ niger Operation 5–10 % nach 5 Jahren • Meistens mit Cisplatin und Vinorelbine Kurativ • In Kombination mit einer gleichzeitigen Radio­ therapie im inoperablen Stadium IIIB, Heilungs­ chance 15–20 %. Toxische Behandlung • Es gibt keine Standardchemotherapie. Meis­ tens wird ein Platinsalz, häufig kombiniert mit einem anderen Zytostatikum, eingesetzt (Eto­ posid, Pemetrexed, Paclitaxel, Vinorelbine). • Gemcitabine ist eine starker Radiosensitizer und sollte nicht gleichzeitig mit Radiotherapie gegeben werden! • Nach abgeschlossener Chemoradiotherapie bringt eine anschließende Gabe eines Im­ muncheckpointhemmers über 1 Jahr eine signifikante und relevante Prognosever­ besserung. • Bisher kein Stellenwert von Tyrosinkinase­ hemmern in kurativen Stadien nachgewiesen! Palliativ • Überwiegend Teilrückbildungen (in 20 bis über 40 %), median von 4–6 Monaten Dauer. Palliativer Vorteil gegenüber bester supporti­ ver Therapie und Lebensverlängerung • Zweierkombinationen mit Platin: bei Platten­ epithelkarzinomen Platin mit Gemcitabin oder Taxan (4–6 Zyklen). Bei Adenokarzinomen Cisplatin mit Pemetrexed (4 Zyklen), an­ schließend Erhaltungstherapie mit Pemetre­ xed • Bei fehlender Kontraindikation gleichzeitige Gabe eines Immuncheckpointhemmers • Bei Vorliegen einer Drivermutation (Abschn. 2.3.2) (EGFR-Mutation, EML4-ALK-Translo­ kation, ROS1-Mutation): primäre Therapie mit einem entsprechenden Tyrosinkinasehemmer (Abschn.  11.3.2, Abb. 11.2). Die Ansprech­ raten liegen bei 60  %, die Dauer des An­ sprechens bei ca. 10–12 Monaten. Lebensver­ längerung und deutliche Verbesserung der Lebensqualität.

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• Die beste Therapie bei Vorliegen einer ande­ ren Drivermutation (HER2, BRAF, MET) ist bislang unklar. • Bei Progression bei Tumor mit Driver­ mutation: erneute Biopsie und ggf. Therapie mit spezifischen, gegen das Resistenzgen ge­ richteten Tyrosinkinashemmern: z. B. Lorlati­ nib bei Alectinib-resistenter ALK-Mutation: hohe Ansprechraten und relativ lange Dauer des Ansprechens zu erwarten • Bei Progression nach einer platinhaltigen The­ rapie ohne Drivermutation und bei gutem All­ gemeinzustand evtl. Second-Line-Immun­ therapie (Nivolumab, Pembrolizumab), falls nicht schon in erster Linie gegeben • Allenfalls Chemotherapie (z.  B.  Mono­ therapie mit Docetaxel) • Sorgfältige Abwägung von Nutzen und Nebenwirkungen, Berücksichtigung des Patientenwunsches

40.7 Prognose Abhängig von Tumorart (SCLC oder NSCLC), Tumorstadium und Allgemeinzustand; insgesamt ungünstig. SCLC • Ohne Therapie medianes Überleben 2–4 Mo­ nate, mit Therapie 4- bis 5-mal so lang • Nur etwa 5 % der Patienten überleben 5 Jahre • Günstigste Prognose bei LD mit Vollremission durch multimodale Therapie: medianes Über­ leben 16–24 Monate, 2-Jahres-­ Überleben 40–50 %, „Heilung“ in 15–20 % NSCLC • 5-Jahres-Überleben: –– Stadium I nach vollständiger operativer Entfernung: 80–90 % –– Stadium II nach Operation (R0) und adju­ vanter Chemotherapie: 70–80 % –– Stadium IIIA mit Operation und adjuvan­ ter oder neoadjuvanter Chemotherapie: 50–60 % –– Stadium IIIB nach Chemoradiotherapie und Immuntherapie: 45–60 %

M. Pless

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• Medianes Überleben: Stadium IV: –– Mit supportiver Therapie alleine nur 4–6 Monate bei schlechterer Lebensqualität –– Mit palliativer Chemotherapie und Immun­ therapie ca. 12–24 Monate –– Bei Vorliegen einer Drivermutation >24– 60 Monate

40.8 Nachsorge Ziele • Erfassung von Behandlungskomplikationen und deren Linderung

• Früherfassung von Rezidiven und Zweit­ tumoren (in der Lunge bis zu 10 %): nur sinn­ voll, wenn eine Therapie noch möglich ist • Psychosoziale Betreuung

Untersuchungen • Kein allgemein anerkanntes Schema cc Kurativ behandelte Patienten müssen aufhören zu rauchen, sonst ist das Risiko eines Zweitkarzinoms erheblich.

Tumoren des Verdauungstrakts

41

Thomas Kroner

41.1 Ösophaguskarzinom (Speiseröhrenkrebs) 41.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • In Westeuropa etwa 4–5  Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Einwohner • Deutliche Zunahme in den letzten Jahren, wahrscheinlich wegen Zunahme von Übergewicht und damit verbundenem Reflux von Magensäure in die Speiseröhre • Häufiger im Alter, Altersgipfel bei 60 Jahren • Männer 3-mal häufiger betroffen als Frauen • Alkohol- und Nikotinabusus sowie Refluxkrankheit sind wichtige Risikofaktoren.

41.1.2 Symptome Symptome des unbehandelten Primärtumors • Schluckstörungen • Retrosternale Schmerzen • Gewichtsverlust, Mangelernährung

41.1.3 Diagnostik • Bei Verdacht auf Ösophaguskarzinom ist das Ziel der Abklärungen die Sicherung der Diagnose: –– Endoskopie mit Biopsie • Bei gesicherter Diagnose ist das Ziel der Abklärungen die Beurteilung der Operabilität (allgemein und lokal): –– Thorax- und Abdomen-CT, evtl. PET/CT –– Endosonografie des Ösophagus –– Bei Verdacht auf ösophagobronchiale Fistel: zusätzlich Bronchoskopie

41.1.4 Histologie und Metastasierung • In etwa 60  % der Fälle handelt es sich um Plattenepithelkarzinome, bei etwa 40  % um Adenokarzinome. • Metastasierung in lokoregionäre Lymphknoten, hämatogene Metastasierung vor allem in die Leber

41.1.5 Therapie

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected]

41.1.5.1 Übersicht • Wahl der Therapie abhängig von verschiedenen Faktoren: –– Lage des Tumors im Ösophagus

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_41

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T. Kroner

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• •





–– TNM-Stadium –– Histologie (Adenokarzinom  – Plattenepithelkarzinom) –– Allgemeinzustand des Patienten Eine Heilung wird durch eine chirurgische R0-Resektion angestrebt. Präoperative (neoadjuvante) Chemotherapie, meistens kombiniert mit Radiotherapie, v.  a. in lokal fortgeschrittenen Fällen Bei inoperablen oder metastasierten Tumoren kann eine palliative Chemo- und/oder Radiotherapie eingesetzt werden. Symptomatisch stehen zur Behandlung der Dysphagie auch die endoskopische Laserkoagulation oder die Stenteinlage zur Verfügung.

41.1.5.2 Chirurgie Bei operablen Tumoren wird eine komplette Tumorresektion (R0-Resektion) in kurativer Absicht angestrebt. Dies ist allerdings nur bei etwa der Hälfte aller Patienten möglich 41.1.5.3 Strahlentherapie • Die Strahlentherapie wird in der Regel mit einer Chemotherapie kombiniert. • Eine alleinige Strahlentherapie kann in palliativer Absicht bei symptomatischen Metastasen zum Einsatz kommen, auch als Brachytherapie (Abschn. 10.3.2) bei Schluckstörungen. 41.1.5.4 Medikamentöse Tumortherapie • Bei Therapie in kurativer Absicht wird die prä­ operative (neoadjuvante) Chemotherapie meistens mit einer Radiotherapie kombiniert. In der palliativen Situation häufiger nur Chemotherapie. • Chemotherapie i. d. R. als Kombination eines Platinderivats mit einem Taxan oder mit 5-­Fluorouracil. • Eventuell Immuntherapie mit Immuncheckpointhemmern (Abschn. 11.4.1).

41.1.6 Prognose • Sehr variabel in Abhängigkeit von Tumorstadium und Lokalisation

• 5-Jahres-Überleben zwischen ca.  65  % (Tumor lokalisiert, operabel) und ca. 3 % (metastasierend)

41.1.7 Nachsorge Ziele • Früherfassung von operierbaren Rezidiven nach Radikaloperation (selten) • Diätetische Betreuung • Erfassung und Behandlung von Komplikationen und unerwünschten Wirkungen der Therapie • Psychosoziale Betreuung Untersuchungen • Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema • Systematische Suche nach Rezidiven verbessert die Prognose nicht.

41.2 Magenkarzinom 41.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • In Westeuropa ca. 10 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Einwohner • Deutliche Abnahme der Erkrankungshäufigkeit in den letzten Jahrzehnten, wahrscheinlich in Zusammenhang mit veränderten Ernährungsgewohnheiten • Männer doppelt so hohes Erkrankungsrisiko im Vergleich zu Frauen

41.2.1.1 Risikofaktoren • Lebensgewohnheiten/Ernährung: –– Hoher Salzgehalt in der Nahrung (gepökelte Nahrungsmittel) –– Wenig Obst und Gemüse –– Rauchen • Medizinisch: –– Chronische Gastritis, Refluxkrankheit –– Infektion der Magenschleimhaut mit Helicobacter pylori • Erbliche Disposition

41  Tumoren des Verdauungstrakts

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41.2.2 Symptome

41.2.5 Therapie

Symptome des unbehandelten Primärtumors • Völlegefühl/Schmerz im Oberbauch, meist abhängig von Nahrungsaufnahme • Inappetenz • Gewichtsabnahme

41.2.5.1 Übersicht • Definitive Heilung nur bei lokalisiertem Tumor durch chirurgische Resektion möglich • Bei kurativer Absicht: Verbesserung der Heilungschancen durch prä- und postoperative Kombinationschemotherapie

41.2.3 Diagnostik

41.2.5.2 Chirurgie Kurativ • Meist totale Magenresektion (Gastrektomie) mit Entfernung der regionären Lymphknoten. Evtl. subtotale Magenresektion bei gut differenziertem Karzinom des Antrums und/oder bei alten Patienten • Operation mit kurativer Absicht nur bei einer Minderheit von Patienten möglich, da Tumor bei Diagnosestellung meist bereits fortgeschritten • Mögliche Folgen der totalen Gastrektomie: Dumping-Syndrom, Eisen- und Vitamin-­B12-­ Mangel, andere Mangelerscheinungen wegen Resorptionsstörungen; Mangel kann parenteral korrigiert werden.

• Bei Verdacht auf Magenkarzinom ist das Ziel der Abklärungen die Sicherung der Diagnose: –– Gastroskopie mit Biopsie • Bei gesicherter Diagnose ist das Ziel der Abklärungen die Beurteilung der Operabilität (allgemein und lokal) und der Ausschluss von Fernmetastasen (Bauchfell? Lunge? Leber?): –– Ultraschall oder Computertomografie des Abdomens –– Endoskopische Ultraschalluntersuchung des Magens (Beurteilung der Magenwand und der Lymphknoten) –– Evtl. präoperative Laparoskopie, evtl. PET/ CT –– Evtl. Tumormarker zur Verlaufsbeurteilung

41.2.4 Histologie und Metastasierung • Magenkarzinome sind fast ausschließlich Adenokarzinome. • Metastasierung in lokoregionäre Lymphknoten, hämatogene Metastasierung vor allem in Leber, Bauchfell (Peritoneum), Lunge • Bei ca.  5  % der bösartigen Magentumoren handelt es sich um Sarkome oder um maligne Non-Hodgkin-Lymphome, nicht um Karzinome. • Die malignen Lymphome des Magens (Kap.  43) unterscheiden sich wesentlich von den Magenkarzinomen. • Die Einteilung in genomische Subtypen (CIN, EBV, MSI u. a.) gewinnt an Bedeutung.

Palliativ • Palliative Entfernung des Primärtumors bei Blutung und/oder bei Behinderung der Magenpassage: –– Evtl. Umgehungsanastomose (Gastroenterostomie) –– Evtl. endoskopische Einlage einer Endoprothese (bei Kardiakarzinom)

41.2.5.3 Strahlentherapie Gelegentlich als palliative Maßnahme bei lokalisierten Fernmetastasen indiziert. 41.2.5.4 Medikamentöse Tumortherapie Allgemein • Gut dokumentierte Wirkung bei perioperativer (prä- und postoperativer) Anwendung

T. Kroner

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• Gut dokumentierte Wirkung in der palliativen Situation Perioperative Chemotherapie • Eine perioperative Chemotherapie verbessert bei operablen Magenkarzinomen die Langzeitprognose. • Bei lokal fortgeschrittenen, primär inopera­ blen Tumoren ermöglicht eine präoperative (neoadjuvante) Chemotherapie bei etwa 40 % der Patienten einen sekundären, evtl. kurativen chirurgischen Eingriff. • Anwendung meist als Kombinationschemotherapie, z. B. –– DCF (Docetaxel, Cisplatin, Fluorouracil) –– ECX (Epirubicin, Cisplatin, Capecitabin) –– FLOT (5-FU, Leucovorin, Oxaliplatin, Docetaxel)

Palliative medikamentöse Tumortherapie • Palliative medikamentöse Tumortherapie bei inoperablen Tumoren oder Rezidiven nach Operation oft sinnvoll, v. a. bei jüngeren Patienten • Als Chemotherapie (s. oben) oder kombiniert mit „gezielten Therapien“, z. B. Trastuzumab (Herceptin), oder Immuncheckpointhemmern, z. B. Pembrolizumab (Keytruda). • Remissionsraten 20–50  %, mittlere Remissionsdauer 8–14 Monate

41.2.6 Prognose • Abhängig vom Tumorstadium bei Operation • Nach radikaler Operation mit R0-Resektion bei Patienten ohne Lymphknotenmetastasen: Heilungschance ca.  50–80  %, mit Lymphknotenmetastasen ca. 20–40 %

41.2.7 Nachsorge Ziele • Früherfassung von operativ behandelbaren Rezidiven (selten) • Diätetische Betreuung

• Erfassung und Behandlung von Therapiekomplikationen, vorallem nach Magenresektion (s. oben) • Psychosoziale Betreuung

41.3 Pankreaskarzinom (Krebs der Bauchspeicheldrüse) 41.3.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • Etwa 10–15 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Einwohner • Männer etwas häufiger betroffen als Frauen (Verhältnis 1,5:1) • Bei Zigarettenrauchern 2- bis 3-mal häufiger als bei Nichtrauchern • Regelmäßiger Kaffeekonsum konnte als Risikofaktor nicht bestätigt werden.

41.3.2 Symptome • In der Regel keine Frühsymptome. Tumor deshalb bei Diagnosestellung oft bereits inoperabel. • Schmerzen im Ober- und Mittelbauch, oft mit Ausstrahlung gegen die Wirbelsäule • Appetit- und Gewichtsverlust • Verschlussikterus durch Kompression des Gallengangs • Rückenschmerzen bei Infiltration des Plexus coeliacus

41.3.3 Diagnostik • Bei Verdacht auf Pankreaskarzinom ist das Ziel der Diagnostik die Abklärung der Operabilität und nicht die Sicherung der Diagnose: Operable Tumoren werden in der Regel präoperativ nicht biopsiert. • Operable Tumoren: –– MRT oder CT Abdomen –– Evtl. Gastroduodenoskopie mit endoskopischer Ultraschalluntersuchung (EUS)

41  Tumoren des Verdauungstrakts

–– Evtl. ERCP (endoskopische retrograde Cholangio-Pankreatographie) –– Evtl. Laparoskopie • Bei inoperablen Tumoren ist das Ziel die Sicherung der Diagnose vor Chemo- oder Radiotherapie: –– Feinnadelbiopsie (evtl. aus Metastase), gesteuert durch Ultraschall, Computertomografie oder Laparoskopie

41.3.4 Histologie und Metastasierung • In über 80  % der Fälle handelt es sich um Adenokarzinome. • Metastasierung in lokoregionäre Lymphknoten, hämatogene Metastasierung vor allem in die Leber

41.3.5 Therapie 41.3.5.1 Übersicht • Definitive Heilung nur durch chirurgische R0-Resektion erreichbar • Bereits bei Diagnosestellung ist die Mehrzahl der Patienten nicht mehr radikal operabel. • Bei inoperablem Primärtumor sind nur palliative Maßnahmen möglich: Stenteinlagen, Chemotherapie, Radiotherapie, chirurgische Eingriffe („Umgehungsoperationen“). 41.3.5.2 Chirurgie Kurativ • In Abhängigkeit von Lokalisation und Ausdehnung des Tumors kommen verschiedene Methoden der Pankreatektomie zum Einsatz, häufig die Duodenopankreatektomie nach Whipple. • Eine kurative R0-Resektion ist allerdings nur bei etwa 5–15 % aller Patienten möglich. Palliativ • Bei Darmverschluss oder Verschluss der Gallenwege können Umgehungsoperationen (z.  B.  Gastroenterostomie, Choledochoenterostomie) oder Stenteinlagen hilfreich sein.

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41.3.5.3 Strahlentherapie • Das Pankreaskarzinom ist wenig strahlenempfindlich. • Einsatz palliativ zur Schmerzlinderung bei lokal fortgeschrittenem Tumor • Eventuell Einsatz neoadjuvant, kombiniert mit Chemotherapie 41.3.5.4 Chemotherapie Allgemein • Gut dokumentierte Wirkung in der adjuvanten und der palliativen Situation • Häufig eingesetzte Kombinationen: –– FOLFIRINOX (Calciumfolinat/5-Fluorouracil/Irinotecan/Oxaliplatin) –– Nab-Paclitaxel/Gemcitabin –– Gemcitabin/Capecitabin Adjuvante Chemotherapie • Eine adjuvante Chemotherapie während 6 Monaten verlängert das Gesamtüberleben nach R0- oder R1-Resektion.

Palliative Chemotherapie • Bei Rezidiv und bei metastasierenden oder lokal fortgeschrittenen Tumoren kommt eine palliative Chemotherapie infrage. • Erstlinienbehandlung mit Gemcitabin als Monotherapie oder mit einer Kombination (abhängig vom Allgemeinzustand des Patienten) • Remissionsraten um 20–30 %

41.3.6 Prognose • Abhängig vom Tumorstadium bei Operation • Nach R0-Resektion Heilungschance ca. 15–35 %

41.3.7 Nachsorge Ziele • Früherfassung von operierbaren Rezidiven nach Radikaloperation (selten) • Diätetische Betreuung, v. a. nach Pankreatektomie

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• Erfassung und Behandlung von Komplikationen und unerwünschten Wirkungen der Therapie • Psychosoziale Betreuung

41.4 Kolorektale Karzinome (Krebs von Dickdarm und Mastdarm) 41.4.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • Etwa 50 Neuerkrankungen jährlich pro 100.000 Einwohner • Nach Brustkrebs bei Frauen und Lungenkrebs bei Männern zweithäufigste Krebserkrankung • Männer etwas häufiger betroffen als Frauen • Alter wichtigster Risikofaktor: stetige Zunahme des Erkrankungsrisikos mit dem Lebensalter • Andere Risikofaktoren: –– Colitis ulcerosa –– Bestimmte Formen von Kolonpolypen –– Fleischreiche, ballaststoffarme Ernährung, Übergewicht, Mangel an körperlicher Aktivität, Alkohol –– Familiär gehäuftes Vorkommen: erbliche Disposition bei ca. 10 % der Patienten mit kolorektalem Karzinom

41.4.2 Symptome Symptome des unbehandelten Primärtumors • Blut- und Schleimbeimengung im Stuhl • Änderung der Stuhlgewohnheiten • Wechsel von Durchfall und Verstopfung bis zum Darmverschluss • Anämie

41.4.3 Diagnostik • Früherkennung –– Ziel ist die Entdeckung eines noch sym­ ptomlosen Tumors in einem heilbaren Stadium (Abschn. 6.3). –– Untersuchungen:

–– Okkultbluttest im Stuhl –– Koloskopie • Bei Verdacht auf Dickdarmkrebs: –– Ziel: Sicherung der Diagnose –– Untersuchungen: –– Rektum: digitale Untersuchung, Rektoskopie mit Biopsie –– Kolon: Koloskopie mit Biopsie • Bei gesicherter Diagnose: –– Ziel der Abklärungen ist die Beurteilung der Operabilität (allgemein und lokal) und der Ausschluss von Fernmetastasen (Leber?) –– Untersuchungen: –– CT Thorax/Abdomen –– Evtl. PET-CT –– Bei Rektumkarzinom: MRT, evtl. endoluminale Sonografie (Ultraschallsonde im Rektum) –– Tumormarker (CEA) zur Verlaufsbeurteilung

41.4.4 Histologie und Metastasierung • In etwa 95  % der Fälle handelt es sich um Adenokarzinome. • Metastasierung in lokoregionäre Lymphknoten, hämatogene Metastasierung vor allem in die Leber

41.4.5 Therapie 41.4.5.1 Übersicht • Definitive Heilung bei kolorektalen Karzinomen nur durch operative Resektion erreichbar, evtl. unterstützt durch adjuvante oder neoadjuvante Radio- und/oder Chemotherapie • Bei einzelnen Leber- oder Lungenmetastasen evtl. chirurgische Metastasenresektion in kurativer Absicht • Bei Lebermetastasen in palliativer Situation evtl. weitere Maßnahmen: SIRT (selektive interne Radiotherapie), TACE (transarterielle Chemoembolisation) oder RFA (Radiofrequenzablation)

41  Tumoren des Verdauungstrakts

• Bei inoperablem Primärtumor oder multiplen Metastasen palliative Maßnahmen: chirurgische Eingriffe, Radio- oder Chemotherapie

41.4.5.2 Chirurgie Kurativ • Kolonkarzinom: –– Eingriff abhängig von Lokalisation des Tumors: weite Resektion des Tumors (Kolonteilresektion), in der Regel mit Anastomose (kein definitiver künstlicher Darmausgang); Entfernung der lokoregionalen Lymphknoten –– Der Eingriff kann auch laparoskopisch durchgeführt werden. • Rektumkarzinom: –– Bei den meisten Rektumkarzinomen ist eine kontinenzerhaltende Operation möglich: anteriore Rektumresektion mit Anastomose (kein definitiver künstlicher Darmausgang), dazu meistens Anlage einer passageren, sog. protektiven (schützenden) Stomie bis zum sicheren Funktionieren der Anastomose –– Bei tiefem Sitz des Tumors evtl. Erhaltung des Schließmuskels unmöglich: abdominoperineale Rektumresektion mit definitivem Stoma –– In beiden Fällen wird eine totale mesorektale Exzision (TME) durchgeführt: Resektion des Rektums mit dem umgebenden Fett- und Bindegewebe –– Bei kleinen Tumoren gelegentlich transanale Resektion möglich • Metastasenresektion: –– Chirurgische Resektion von einzelnen Metastasen in Leber oder Lunge sinnvoll: kurative Wirkung bei Lebermetastasen in ca. 25 %, bei Lungenmetastasen in ca. 15% Palliativ • Bei inoperablem Primärtumor oder Lokalrezidiv: Wiederherstellung der Darmpassage durch: –– Laser- oder Elektrokoagulation –– Anlegen eines Enterostomas

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–– Endoskopische Einlage einer Endoprothese („Stent“).

41.4.5.3 Strahlentherapie (Neo-)Adjuvant • Rektumkarzinom: –– Bei lokal fortgeschrittenen Tumoren wird in der Regel eine präoperative (neoadjuvante) Bestrahlung durchgeführt, evtl. kombiniert mit einer Chemotherapie. –– Die präoperative Radiochemotherapie vermindert das Risiko eines Lokalrezidivs. Zudem erlaubt sie, v. a. bei fortgeschrittenen tiefsitzenden Tumoren, den operativen Eingriff kontinenzerhaltend auszuführen. Palliativ Eine palliative Bestrahlung wird v.  a. bei lokalisierten, inoperablen Rezidiven des Rektumkarzinoms im Bereich des kleinen Beckens durchgeführt, evtl. als Brachytherapie (Abschn. 10.3.2).

41.4.5.4 Chemotherapie Allgemein • Eine kurative Behandlung allein mit Chemotherapie ist nicht möglich. • Gebräuchliche Therapien: –– Capecitabin als Einzelsubstanz –– FOLFOX (Fluorouracil, Leucovorin, Oxaliplatin) –– CAPOX (Capecitabin, Oxaliplatin) Adjuvant • Rektumkarzinom: –– Meist postoperative (adjuvante) Chemotherapie über 3–6 Monate –– Bei lokal fortgeschrittenen Stadien evtl. zusätzlich präoperative Radiochemotherapie • Kolonkarzinom: –– Postoperative adjuvante Chemotherapie senkt, v.  a. bei Lymphknotenbefall, die Rezidivhäufigkeit und verlängert das Überleben. –– Beginn der adjuvanten Chemotherapie spätestens 8 Wochen postoperativ; Dauer 3–6 Monate

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Palliativ • Palliative Chemotherapie bei Nachweis von inoperablen Metastasen oft indiziert • Remissionsraten 20–40 % • Bei ausschließlicher Metastasierung in die Leber evtl. lokoregionale Chemotherapie durch die A.  hepatica, meist über ein implantiertes Kathetersystem. Dadurch etwas bessere lokale Remissionsraten als bei i. v.-Chemotherapie, verbunden allerdings mit höherer Komplikationsrate

41.4.7 Nachsorge

41.4.6 Prognose

Untersuchungen • Für die Erfassung von operablen Metastasen und Zweitkarzinomen werden regelmäßige endoskopische Kontrollen und Ultraschalluntersuchungen empfohlen.

• Abhängig von Tumorstadium und Differenzierungsgrad. Heilungschance 20–90 % bei operablen Tumoren • Abhängig von der Radikalität der Operation und der Erfahrung des Operateurs

Ziele • Früherfassung von operativ behandelbaren Rezidiven • Früherkennung von kolorektalen Zweittumoren • Erfassung von Behandlungskomplikationen, z. B. nach Rektumresektion • Bei Stomaträgern: Förderung und Unterstützung der selbstständigen Pflege • Psychosoziale Betreuung

Urologische Tumoren

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42.1 Prostatakarzinom 42.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • In Deutschland jährlich etwa 60.000 Neuerkrankungen • Bei Männern häufigste Krebserkrankung und dritthäufigste Krebstodesursache • Das Prostatakarzinom ist ein „Alterskrebs“: vor dem 50. Lebensjahr selten. Von 1000 35-jährigen Männern erkranken in den nächsten 10 Jahren weniger als einer, von 1000 75-jährigen Männern hingegen etwa 50. • Erbliche Veranlagung: Männer, deren Vater oder Bruder an einem Prostatakarzinom erkrankt sind, haben ein 2- bis 3-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko. • Ein normales Gewicht und ausreichende Bewegung könnten das Risiko verringern.

• Makrohämaturie (sichtbare Blutbeimengung im Urin) • Nierenversagen durch Harnstauung bei doppelseitiger Harnleiterinfiltration (bei fortgeschrittenem Tumor)

42.1.3 Diagnostik • Bei Verdacht auf Prostatakarzinom ist das Ziel der Abklärungen die Sicherung der Diagnose: –– Transrektale Ultraschalluntersuchung mit Biopsie • Bei gesicherter Diagnose ist das Ziel der Abklärungen die Beurteilung des Tumorstadiums und des Gradings (Abschn. 4.3) als Grundlage für die Therapiewahl: –– MRT des Beckens (Tumorgrösse? Lymphknotenmetastasen?) –– Skelettszintigrafie (Knochenmetastasen?)

42.1.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors

42.1.4 Histologie und Metastasierung

• In frühen Stadien keine Symptome • Evtl. Schwierigkeiten beim Wasserlösen wie bei der gutartigen Prostatahyperplasie

• Über 95 % der Tumoren sind Adenokarzinome. • Es werden 5  Differenzierungsgrade/ Wachstumsmuster nach Gleason unterschieden: Gleason-Muster 1 (gut differenziert) bis Gleason-­Muster 5 (sehr wenig differenziert). Zur Einstufung der Aggressivität des Tumors dient der Gleason-Score: Die Ziffern

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected]

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_42

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der beiden in den Proben am häufigsten vertretenen Gleason-Muster werden addiert (Ergebnis minimal 1 + 1 = 2, maximal 5 + 5 = 10); dabei steht in der „Summenformel“ das häufigste Gleason-Muster an erster Stelle (z.  B. 3 + 4 oder 4 + 3). • Lokoregionäre Metastasierung in Lymphknoten; Fernmetastasen vorwiegend in Skelett

Palliativ • Transurethrale Elektroresektion (TUR-P) zur Behebung von Harnabflussstörungen durch lokale Obstruktion • Bougierung (Aufdehnen) der Harnröhre bei postoperativer Striktur • Beidseitige Orchidektomie (Entfernung der Hoden) im Rahmen der Hormonentzugsbehandlung

42.1.5 Therapie

42.1.5.3 Strahlentherapie Kurativ • Als Alternative zur kurativen chirurgischen Behandlung: Bestrahlung der Prostata als Teletherapie oder Brachytherapie (Seeds-­ Implantation in die Prostata, Abschn. 10.3). Wie die radikale Prostatektomie führt auch die in kurativer Absicht durchgeführte Bestrahlung zu unerwünschten Wirkungen: Häufige Komplikationen sind akute Entzündungen der Schleimhäute von Enddarm (Proktitis) und Blase (Zystitis), die oft in chronische Formen übergehen. • Bei erhöhtem Rückfallrisiko adjuvant nach radikaler Prostatektomie, z.  B. bei Lymphknotenbefall

42.1.5.1 Übersicht • Definitive Heilung bei auf Prostata beschränktem Tumor durch chirurgische Resektion oder Bestrahlung möglich • Bei Überschreiten der Organgrenzen bzw. bei Vorliegen einer Metastasierung besteht lediglich eine palliative Behandlungsmöglichkeit: –– Lokale Resektion des Tumors und Ausschaltung der Testosteronwirkung (operativ oder medikamentös) oder Chemotherapie –– Bei Beschwerdefreiheit und begrenzter Lebenserwartung ggf. auch Abwarten und Beobachten („watchful waiting“): keine Behandlung bis zum Auftreten von Symptomen 42.1.5.2 Chirurgie Kurativ • Radikale Prostatektomie (RPE): vollständige Entfernung der Prostata samt Prostatakapsel und Samenblasen, evtl. kombiniert mit Entfernung der Lymphknoten. Der in der Prostata verlaufende Teil der Harnröhre wird mit­ entfernt. Die Blasenöffnung wird mit dem Harnröhrenstumpf wiedervereinigt und durch einen Blasenkatheter vorübergehend innerlich geschient. Der Eingriff wird heute meist roboterunterstützt laparoskopisch durchgeführt. Die RPE ist ein großer Eingriff und führt oft zu erheblichen postoperativen Funktionsstörungen: Urininkontinenz und erektile Dysfunktion sind häufige Folgen, ebenso Urethrastrikturen (Verengung der Harnröhre).

Palliativ • Bestrahlung schmerzhafter Knochenmetastasen

42.1.5.4 Medikamentöse Behandlung Kurativ • Evtl. zusätzlich zu Bestrahlung oder Operation: zeitlich begrenzte adjuvante Hormonentzugstherapie (Androgendeprivationstherapie, abgekürzt ADT) (Abschn. 11.5) Wie die kurative Bestrahlung und die radikale Prostatektomie führt auch ADT zu unerwünschten Wirkungen: Häufig sind Libidoverlust, erektile Dysfunktion, Gynäkomastie, Muskelabbau und Reduktion der Knochendichte. Palliativ • Hormonentzugstherapie (ADT) (Abschn. 11.5). Unerwünschte Wirkungen: s. oben

42  Urologische Tumoren

• Nach Versagen von ADT: –– Chemotherapie mit Docetaxel oder Cabazitaxel –– Evtl. „gezielte Therapie“ mit Olaparib bei Nachweis einer entsprechenden Mutation • Bei Knochenmetastasen (zur Vermeidung von Frakturen und zur Reduktion von Schmerzen) –– Bisphosphonate oder Denosumab –– Radionuklidtherapie mit Radium 223 (Alpharadin)

42.1.5.5 Aktives Beobachten Aktives Beobachten („Active Surveillance“, abgekürzt AS, auch als „Watchful Waiting“ oder „Wait and See“ bezeichnet) ist eine wichtige „therapeutische“ Option beim Prostatakarzinom. Prostatakarzinome wachsen oft sehr langsam. Bei vonseiten des Karzinoms symptomfreien Patienten kann deshalb die Einleitung einer Behandlung (durch Operation, Bestrahlung oder Hormonentzug) bis zum Auftreten von Symptomen aufgeschoben werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Tumor bei einer Vorsorgeuntersuchung einzig aufgrund eines erhöhten Werts von PSA (prostataspezifisches Antigen, Abschn. 7.6.2) diagnostiziert wurde. Einem jüngeren Patienten in gutem Allgemeinzustand wird in diesem Fall wahrscheinlich eine Operation in kurativer Absicht empfohlen. Einem älteren Patienten mit Begleiterkrankung, etwa einer Herzinsuffizienz, wird in Anbetracht seiner Lebenserwartung und der möglichen Komplikationen des Eingriffs wohl eher ein abwartendes Verhalten unter Kontrolle des PSA-Wertes vorgeschlagen: „Watchful Waiting“. Entscheidend ist auch hier der Wunsch des Patienten nach adäquater Information über Vor- und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten.

42.1.6 Prognose • Stadienabhängig • Nach kurativer Behandlung bei lokal begrenzter Erkrankung: 10-Jahres-Überlebensrate über 80 % • Bei lokal fortgeschrittener Erkrankung große Spannbreite: 10-Jahres-Überleben 35–75 %

459

• Bei palliativer Behandlung: 5-Jahres-­ Überleben je nach Art und Ausmaß der Metastasierung und Allgemeinzustand 10–40 %

42.1.7 Nachsorge • Keine allgemein akzeptierten evidenzbasierten Empfehlungen • Wichtigster Verlaufsparameter: prostataspezifisches Antigen (PSA) im Blut

Ziele • Früherfassung von behandelbaren Rezidiven nach kurativer Behandlung • Erfassung von Behandlungskomplikationen

42.2 Harnblasenkarzinom 42.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • Jährlich etwa 25  Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner • Etwa 3 % aller bösartigen Tumoren • Männer erkranken rund 3- bis 4-mal mal häufiger als Frauen • Stetige Zunahme mit dem Alter, 75 % der Erkrankungen nach dem 65. Lebensjahr

Wichtigste Risikofaktoren • Rauchen (aktiv und passiv) • Zytostatika (Cyclophosphamid, Ifosfamid) und Bestrahlung der Blasenregion

42.2.2 Symptome des unbehandelten Primärtumors • Schmerzlose Makrohämaturie (sichtbare Blutbeimengung im Urin) • Beschwerden können bis zu weit fortgeschrittenen Tumorstadien fehlen

460

42.2.3 Diagnostik Bei Verdacht auf Blasenkrebs • Zystoskopie (Blasenspiegelung) mit Biopsie aus verdächtigen Bezirken: entscheidende Untersuchung • Zytologische Untersuchung des Urins (Tumorzellen im Urin) • Ultraschall der Blase und der Nieren

Bei gesicherter Diagnose • Ziel ist die Festlegung des Tumorstadiums für die Therapieentscheidung: Bestimmung der lokalen Ausbreitung und Sicherung oder Ausschluss von Fernmetastasen

42.2.4 Histologie und Metastasierung

T. Kroner

Endoskop wird eine Elektroschlinge in die Blase eingeführt und der Tumor entfernt. Die Harnblase bleibt erhalten. Eventuell Wiederholung des Eingriffs nötig. • Als Rückfallprophylaxe werden im Anschluss an die TUR-B unter Umständen eine oder mehrere Blasenspülungen mit tumorwirksamen Medikamenten durchgeführt.

Muskelinvasives Blasenkarzinom • Bei Fehlen von Fernmetastasen ist ebenfalls die Heilung das Behandlungsziel – die Erfolgsaussichten sind jedoch deutlich geringer als beim nicht-muskelinvasiven Karzinom, vor allem bei Befall von Lymphknoten. Therapie der Wahl ist die radikale Zystektomie.

Radikale Zystektomie • Operative Entfernung der ganzen Harnblase mit den Lymphknoten des kleinen Beckens • Fast immer geht der Tumor vom Übergangssowie mit den unmittelbaren Nachbarorganen epithel (Urothel) der Blase aus: Urothel-­ (beim Mann Prostata und Samenblasen, bei der Karzinom Frau Uterus mit Eileitern und Ovarien sowie • 70 % der Tumoren sind bei der Diagnose auf Teile der vorderen Vaginalwand). Der Eingriff die oberste Schicht der Blasenwand beerfolgt offen oder roboterunterstützt laparoschränkt (nicht-muskelinvasives Blasenskopisch. Nach radikaler Zystektomie ist eine karzinom). Bei diesen oberflächlichen Tumodauerhafte künstliche Harnableitung nötig. ren kommt es nach Abtragung häufig zu einem Rückfall in der Blasenschleimhaut. Künstliche Harnableitung • 25 % der Tumoren sind bei Diagnose bereits • Es bestehen dazu verschiedene Möglichin tiefere Schichten der Blasenwand einkeiten. Welche gewählt wird, ist von vielen gewachsen (muskelinvasives BlasenFaktoren abhängig, u.  a. vom Allgemeinkarzinom). Bei diesen besteht das Risiko des zustand des Patienten. Meist kann der endEinwachsens in benachbarte Organe (Prostata, gültige Entscheid erst während der Operation Uterus, Vagina) und der Metastasierung in regetroffen werden. gionale Lymphknoten und andere Organe, v. a. Knochen, Leber und Lunge. Trockene oder kontinente Harnableitung • Im Körper wird bei der Operation ein neues Reservoir geschaffen. Der Urin wird darin ge42.2.5 Therapie speichert und von dort nach außen geleitet. –– Ersatzblase (Neoblase): Aus einem Stück 42.2.5.1 Chirurgie Darm wird eine neue Blase gebildet und Nicht-muskelinvasives Blasenkarzinom mit der Harnröhre verbunden. Die Harn• Ziel der Behandlung ist die definitive Heilung leiter werden an der anderen Seite der Neodes Patienten. blase wieder eingenäht. Urininkontinenz • Es wird eine transurethrale Resektion der tritt bei etwa 20 % der Patienten mit NeoBlase (TUR-B) durchgeführt: Durch ein blase auf, vor allem nachts.

42  Urologische Tumoren

–– Pouch (engl.: Tasche, Beutel): Oft kann die neue Blase nicht mit der Harnröhre verbunden werden, z.  B. wenn diese wegen Tumorbefalls entfernt werden musste. In diesem Fall wird das Darmstück in eine künstliche Öffnung in die Bauchhaut (Stoma) eingenäht. Die Pouch kann den Urin speichern, aber nicht ableiten. Zur Ableitung muss der Patient selbst mehrmals täglich einen Katheter durch das Stoma in die Pouch einführen und den Urin abfließen lassen. Nasse oder inkontinente Harnableitung • Der Urin wird kontinuierlich über eine künstliche Öffnung (Stoma) nach außen abgeleitet. –– Conduit (engl.: Rohrleitung): Ein etwa 15 cm langes Darmstück wird vom Darm abgetrennt und die Darmenden wieder miteinander verbunden. Die beiden Harnleiter werden in den abgetrennten Darmteil eingenäht, ein Ende dieses Darmteils wird verschlossen, das andere in eine künstliche Öffnung der Bauchdecke eingenäht (Stoma). Der Urin fließt in einen am Stoma befestigten Beutel. Wird das Conduit aus einem Dünndarmteil gebildet, spricht man von Ileum-Conduit, bei einem Conduit aus einem Dickdarmteil von Colon-­Conduit. –– Harnleiter-Haut-Fistel: Ein oder beide Harnleiter werden direkt in die Haut eingenäht. Der Urin wird in einem Stomabeutel aufgefangen. Bei allen künstlichen Harnableitungen sind Komplikationen leider häufig, so etwa aufsteigende Infekte, Bildung von Harnsteinen oder Hautprobleme im Bereich des Stomas.

42.2.5.2 Radiotherapie • Bei lokal begrenztem muskelinvasivem Blasenkrebs kann unter Umständen in kurativer Absicht anstelle der Zystektomie eine TUR-B durchgeführt werden, gefolgt von Radio- und Chemotherapie.

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• Als palliative Maßnahme wird die Radiotherapie eingesetzt bei nichtoperablem Blasenkarzinom, bei Rezidiven oder bei Knochenmetastasen.

42.2.5.3 Chemotherapie Kurativ • Eine neoadjuvante oder adjuvante Chemotherapie vor bzw. nach Durchführung der ­Zystektomie verbessert beim muskelinvasiven Blasenkarzinom die Prognose. Palliativ • Bei Metastasen kann mit einer Chemotherapie zeitlich begrenzt eine Tumorrückbildung erreicht werden. Medikamente • Standard ist die Kombination von Cisplatin und Gemcitabin. • Andere wirksame Medikamente: Taxane, Mitomycin, Vinca-Alkaloide, Checkpointhemmer

42.2.6 Prognose Nicht-muskelinvasives Blasenkarzinom • Tumorfreies Überleben nach 5 Jahren: 60–95 % • Rezidivhäufigkeit: 40–60 % Muskelinvasives Blasenkarzinom • Nach radikaler Zystektomie: –– Tumorfreies Überleben nach 10 Jahren: 50–65 % –– Bei Befall von Lymphknoten: 16 %

42.2.7 Nachsorge Ziele • Nach lokaler Therapie: Früherfassung behandelbarer Rezidive • Nach Zystektomie: Erfassung von Behandlungskomplikationen, lokalem Rezidiv und Metastasen

T. Kroner

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Untersuchungen • Nach TUR-B: regelmäßige Blasenspiegelungen • Nach Zystektomie: kein allgemein anerkanntes Schema für die Nachsorge

42.3 Nierenzellkarzinom (Hypernephrom) 42.3.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • In Deutschland jährlich etwa 15.000 Neuerkrankungen • Bösartige Nierentumore machen ungefähr 2–3 % aller Tumoren aus. • Häufiger bei Männern als bei Frauen (ca. 3:2): Jährlich erkranken etwa 15 von 100.000 Männern und 8 von 100.000 Frauen. • Altersgipfel zwischen dem 60. und dem 70. Lebensjahr • Wichtigste Risikofaktoren: –– Rauchen –– Ausgeprägtes Übergewicht –– Bluthochdruck –– Selten: im Rahmen von familiären Krebskrankheiten

42.3.2.2 Symptome durch Metastasen Mögliche Symptome: • Schmerzen und Spontanfrakturen bei Knochenmetastasen • Atemnot oder Brustschmerzen bei Lungenmetastasen

42.3.3 Diagnostik • Ultraschall, CT oder MRT des Abdomens (mit Kontrastmittel). Thorax-CT zum Ausschluss von Lungenmetastasen • Sicherung der Diagnose durch Biopsie (Stanzbiopsie perkutan)

42.3.4 Histologie und Metastasierung • 90  % der Nierenzellkarzinome sind Adenokarzinome. • In 20–30 % der Fälle liegen bei Diagnose bereits Metastasen vor, am häufigsten in Lunge, Skelett, Leber.

42.3.5 Therapie 42.3.2 Symptome 42.3.2.1 Symptome des unbehandelten Primärtumors • Überwiegend asymptomatisch (in über der Hälfte der Fälle zufällige Diagnose bei CT- oder Ultraschalluntersuchung aus anderen Gründen) • Klassische Trias (bei 10–15 % der Patienten): blutiger Urin (Hämaturie), Flankenschmerzen und tastbarer Tumor (Spätsymptome!) • In 30  % der Fälle paraneoplastische Symptome (Abschn.  3.2), u.  a. Hypertonie, Gewichtsverlust, Fieber, Anämie

42.3.5.1 Übersicht • Bei lokalisiertem Tumor operative Therapie in kurativer Absicht • Bei Metastasierung medikamentöse Therapie in palliativer Absicht 42.3.5.2 Chirurgie • Tumorentfernung (offen, laparoskopisch, roboterassistiert): nach Möglichkeit nierenerhaltende Operation (Nierenteilresektion, Teilnephrektomie) • Bei lokal fortgeschrittenen Tumoren vollständige Entfernung der tumortragenden Niere mit der umgebenden Fettkapsel

42  Urologische Tumoren

• Bei Patienten mit kleinen Tumoren und hohem Operationsrisiko evtl. minimalinvasive, lokal zerstörende Verfahren: Kryotherapie (Tumorzerstörung durch Kälte), hochfokussierter Ultraschall (HIFU) oder Radiofrequenztherapie (RFA)

42.3.5.3 Radiotherapie • Strahlentherapie bei Nierenzellkarzinom kaum wirksam • Evtl. palliative Strahlentherapie bei metastasenbedingten Beschwerden 42.3.5.4 Medikamentöse Therapie • Bei metastasierter Erkrankung wird eine systemische medikamentöse Therapie eingesetzt. • Wirksam sind Immuncheckpointinhibitoren (Abschn.  11.4) und zielgerichtete Therapien (Abschn. 11.3).

42.3.6 Prognose • Abhängig v. a. von der Größe und Ausdehnung des Nierentumors und weiteren Risikofaktoren

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• 5-Jahres-Überlebenszeit: –– Bei lokal begrenztem Tumor: 70–100 % –– Bei lokal fortgeschrittenem Tumor: 20–60 % –– Bei metastasierendem Tumor: medianes Überleben 8–43 Monate

42.3.7 Nachsorge Ziel • Früherfassung von behandelbaren Rezidiven nach kurativer Behandlung • Beurteilung der Nierenfunktion • Kein allgemein akzeptiertes Nachsorgeschema Untersuchungen • Bildgebende Untersuchungen: Ultraschall, CT von Thorax und Abdomen. • Laborkontrollen (Nierenwerte)

Lymphatische Tumoren (Lymphome und Myelom)

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Thomas Kroner

43.1 Übersicht Die lymphatischen Tumoren („lymphoproliferative Erkrankungen“) bilden eine große Gruppe von unterschiedlichen bösartigen Erkrankungen, die alle von Zellen des lymphatischen Systems ausgehen. Die verschiedenen Tumoren unterscheiden sich grundlegend in ihrer klinischen Präsentation, ihrer Therapie und Prognose. Dazu gehören: • Lymphatische Leukämien: Ihr Ursprung liegt im Knochenmark, die Tumorzellen werden ins Blut ausgeschwemmt. • Lymphome: Sie beginnen meist in Lymphknoten, können sich aber in allen Geweben manifestieren. Man unterscheidet Hodgkin-­ Lymphome und die etwas häufigeren Non-Hodgkin-Lymphome (NHL). Von den über 75 verschiedenen lymphatischen Tumoren werden in diesem Kapitel folgende vier beschrieben: • Hodgkin-Lymphom (Abschn. 43.2) • Non-Hodgkin-Lymphome: –– Follikuläres Lymphom (Abschn. 43.3) –– Diffus großzelliges Lymphom (Abschn. 43.4)

• Multiples Myelom: lymphatischer Tumor, der im Knochenmark beginnt, sich aber nur selten „leukämisch“, d. h. mit Ausschwemmung ins Blut manifestiert (Abschn. 43.5)

43.2 Hodgkin-Lymphom 43.2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • In Deutschland jährlich etwa 2500 Neuerkrankungen (ca.  2–3 pro 100.000 Einwohner) • Männer etwas häufiger betroffen als Frauen • Kann in jedem Lebensalter auftreten, gehäuft zwischen dem 20. und 30. und nach dem 60. Lebensjahr • Ursachen/Risikofaktoren nur teilweise geklärt: –– Bei einem Teil der Hodgkin-Lymphome spielen möglicherweise ­Ebstein-Barr-­Viren (EBV, Erreger der infektiösen Mononukleose) eine Rolle. –– Etwas erhöhtes Erkrankungsrisiko bei –– Störungen des Immunsystems, z.  B. bei HIV-Infekt –– Kindern und Geschwistern von Betroffenen –– langjähriger Raucheranamnese

T. Kroner (*) Winterthur, Schweiz email: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_43

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T. Kroner

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43.2.2 Symptome • Häufigstes Symptom ist eine schmerzlose Lymphknotenschwellung, meistens am Hals, seltener in der Axilla oder der Leiste. • Befall der Lymphknoten im Mediastinum führt gelegentlich zu Reizhusten, retrosternalem Druckgefühl, selten zu oberer Einflussstauung. • Allgemeinsymptome: –– Müdigkeit, Juckreiz am ganzen Körper, selten Schmerz im Bereich befallener Lymphknoten nach Alkoholgenuss („Alkoholschmerz“) –– Die folgenden Allgemeinsymptome werden als B-Symptome bezeichnet: Unerklärter Gewichtsverlust von >10 % in 6 Monaten Länger anhaltendes unerklärtes Fieber >38 °C Nachtschweiß (Wechsel des Schlafanzugs)

43.2.3 Diagnostik 43.2.3.1 Bei Verdacht auf Hodgkin-­ Lymphom • Entnahme eines betroffenen Lymphknotens zur histologischen und immunzytologischen Untersuchung 43.2.3.2 Nach gesicherter Diagnose Erfassung der Erkrankungsausbreitung (Staging) • Für die Planung der Therapie ist es nötig, die Tumorausbreitung exakt zu erfassen. Dazu steht als bildgebendes Verfahren das Ganzkörper-­PET/CT (Abschn.  7.3.4) im Vordergrund. Es erfasst mit hoher Treffsicherheit den Befall von Lymphknoten und anderen Organen, darunter vor allem einen möglichen lokalisierten Befall des Knochenmarks. • Neben der Rolle bei der Stadieneinteilung ist das PET wichtig für die Beurteilung des Therapieansprechens.

Beurteilung der Therapierbarkeit • Die Behandlungen sind belastend und vor allem für Herz und Lunge potentiell toxisch. Es werden deshalb vor Behandlungsbeginn ein EKG, eine Echokardiografie und Lungenfunktionsprüfungen durchgeführt.

Untersuchungen und Vorgehen im Hinblick auf die Familienplanung • Die Behandlung des Hodgkin-Lymphoms mit Chemo- und Radiotherapie führt häufig zur Schädigung der Keimdrüsen (Eierstöcke bzw. Hoden). Das Risiko der dadurch bedingten Infertilität hat für die häufig jungen Patienten mit nicht abgeschlossener Familienplanung und Kinderwunsch eine große Bedeutung. • Bei männlichen Patienten mit Kinderwunsch wird deshalb vor Therapiebeginn die Kryokonservierung von Sperma durchgeführt. • Bei Frauen kommen – je nach zu erwartender Toxizität  – verschiedene Methoden in ­Betracht: –– Schutz der Keimdrüsen („Ruhigstellung“ während der Chemotherapie durch hormonelle Maßnahmen) –– Kryokonservierung von befruchteten oder unbefruchteten Eizellen nach hormonaler Stimulation der Ovarien –– Kryokonservierung von operativ entnommenem Eierstockgewebe

43.2.4 Histologie • Das Hodgkin-Lymphom ist ein bösartiger Tumor des lymphatischen Systems, ausgehend von B-Lymphozyten (Abschn. 2.6.1). • 95  % sind sog. „klassische“ Hodgkin-­ Lymphome (cHL). Mehrere Untergruppen ohne prognostische Bedeutung (am häufigsten nodulär-sklerosierender Typ) • 5  % noduläres lymphozytenprädominantes Hodgkin-Lymphom (NLPHL), prognostisch günstiger

43  Lymphatische Tumoren (Lymphome und Myelom)

43.2.5 Ausbreitungsmuster, Stadien und Risikogruppen

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43.2.6 Therapie 43.2.6.1 Übersicht

• Im Gegensatz zu den Non-Hodgkin-­• Die Behandlung1 erfolgt nach Stadien (RisikoLymphomen breitet sich das Hodgkin-­ gruppen). Lymphom in voraussehbarer Weise aus. • Ersttherapie: • Anhand der anatomischen Ausbreitung erfolgt –– Die Behandlung erfolgt in allen Stadien die Einteilung in die Ann-Arbor-Stadien: mit kurativer Absicht. –– Beginn der Erkrankung in einer einzelnen –– Standard ist in allen Stadien eine Lymphknotenstation, meist zervikal oder Kombinationschemotherapie. supraklavikulär (Stadium I) → Ausbreitung –– Je nach Stadium und Ansprechen auf die auf weitere Lymphknoten auf der gleichen Chemotherapie erfolgt im Anschluss eine Seite des Zwerchfells (Stadium II) → BeRadiotherapie. fall von Lymphknoten auch auf der ande- • Therapie bei Rezidiv: ren Seite des Zwerchfells (Stadium III) → –– Im ersten Rezidiv meist erneute ChemoBefall von extralymphatischem Gewebe, therapie und nach Möglichkeit autologe z. B. Leber, Knochen (Stadium IV) Stammzelltransplantation • Für die Behandlung wird neben dem Ann-­ • Eine Reihe neuerer Medikamente (s. unten) Arbor-­ Stadium auch das Fehlen oder Vorsteht zur Verfügung. Ihre Stellung im handensein von weiteren Risikofaktoren beTherapieplan ist noch nicht festgelegt. rücksichtigt. Dazu gehören: –– B-Symptome (s. oben) 43.2.6.2 Frühes Stadium –– Hohe Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) • 2 Zyklen Chemotherapie nach dem ABVD-­ –– Befall von 3 und mehr Lymphknotenarealen Schema (Adriamycin [Doxorubicin], Bleo–– Großer Mediastinaltumor mycin, Vinblastin und Dacarbazin) –– Befall von nichtlymphatischen Organen • Im Anschluss an die Chemotherapie folgt eine • Daraus ergibt sich die Einteilung in Risikoniedrig dosierte Bestrahlung der beteiligten gruppen für die Therapie: Lymphknotenregionen (Involved Field [IF]). –– Frühes Stadium Ann-Arbor-Stadium I und II ohne Risiko- 43.2.6.3 Intermediäres Stadium faktoren • 4 Zyklen Chemotherapie: 2 Zyklen „eskalier–– Intermediäres (oder mittleres) Stadium tes“ (hochdosiertes) BEACOPPesk (Bleomycin, Ann-Arbor-Stadium I und II mit beEtoposid, Adriamycin, Cyclophosphamid, Onstimmten Risikofaktoren covin, Procarbazin, Prednison – eine sehr ag–– Fortgeschrittenes Stadium gressive Kombination) und zwei Zy­ klen Ann-Arbor-Stadium II mit bestimmten ABVD („2+2“) oder 4 Zyklen ABVD Risikofaktoren Ann-Arbor-Stadium III und IV mit oder ohne Risikofaktoren

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Behandlung des klassischen Hodgkin-Lymphoms (cHL). Das seltene noduläre lymphozytenprädominante Hodgkin-­Lymphom (NLPHL) wird in frühen Stadien weniger intensiv behandelt. 1 

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• Im Anschluss an die Chemotherapie erfolgt eine Bestrahlung der beteiligten Lymphknoten (Involved Site [IS] oder Involved Node [IN]). Bei gutem Ansprechen auf die Chemotherapie (im Kontroll-PET) wird auf die Bestrahlung verzichtet.

43.2.6.4 Fortgeschrittenes Stadium • Beginn mit Chemotherapie: 4–6 Zyklen BEACOPPesk oder BEACOPP oder ABVD.  Die Anzahl Zyklen ist abhängig vom Ansprechen des Tumors (PET) nach dem zweiten Zyklus. • Eine Radiotherapie erfolgt in der Regel nur bei Resttumor nach Abschluss der Chemotherapie. 43.2.6.5 Rezidiv • Frühe Rezidive (innerhalb von 3–12 Monaten nach Ersttherapie) haben eine ungünstigere Prognose als solche, die nach einem Jahr und später auftreten. • Behandlung abhängig u.  a. von Zeitintervall seit Erstbehandlung, Vorbehandlung, Alter und Allgemeinzustand des Patienten • Mögliche Behandlungen: –– Nochmalige Chemotherapie, evtl. gefolgt von autologer oder allogener Blutstammzelltransplantation (Kap. 12) –– Radiotherapie –– Behandlung mit neueren Medikamenten (s. unten) 43.2.6.6 Neuere Medikamente Verschiedene Medikamente haben ihre Wirksamkeit bei der Behandlung von Rezidiven bewiesen und werden nun auch in der Ersttherapie eingesetzt: • Brentuximab Vedotin (Adcetris): Kombination eines monoklonalen Antikörpers ­(Abschn. 11.3) mit einem Zytostatikum. Der Antikörper bindet an das Eiweiß CD-30 auf der Oberfläche der „Hodgkin-Zellen“. Das an den Antikörper gebundene Zytostatikum wird in der Tumorzelle freigesetzt und führt so zu einem zielgerichteten Zelltod. • Immuntherapie durch Checkpointhemmer (Abschn.  11.4), z.  B. mit Pembrolizumab (Keytruda)

43.2.7 Prognose • Das Hodgkin Lymphom gehört zu den bösartigen Tumorerkrankungen des Erwachsenen mit den höchsten Heilungsraten. Eine Heilung ist in allen Stadien möglich. • 5-Jahres-Überleben in frühen Stadien über 90 %, in späteren Stadien über 80 %

43.2.8 Nachsorge Ziele • Erfassung von Rezidiven • Erfassung von therapiebedingten Organschäden (Herz, Lunge, Schilddrüse, periphere Nerven, Keimdrüsen) • Erkennung von Zweittumoren als Therapiefolge

Untersuchungen • Klinische und apparative Untersuchungen in Hinblick auf die oben genannte Ziele, in Abhängigkeit von der durchgeführten Therapie • Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema

43.3 Follikuläres Lymphom 43.3.1 Überblick • Das follikuläre Lymphom ist eines der häufigsten Non-Hodgkin-Lymphome (Abschn. 43.1). • Oft längere Zeit asymptomatischer Verlauf mit langsamem Wachstum der befallenen Lymphknoten, gelegentlich mit spontaner vor­ übergehender Rückbildung • Heilung nur in lokalisierten Stadien möglich • Gutes Ansprechen auf medikamentöse Tumortherapien mit oft jahrelanger Tumorrückbildung • Im späteren Verlauf oft Übergang in ein bösartigeres Lymphom

43  Lymphatische Tumoren (Lymphome und Myelom)

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43.3.2 Epidemiologie und Risikofaktoren

43.3.5 Histologie und klinische Eigenschaften

• In Deutschland jährlich etwa 3100 Neuerkrankungen, d. h. 2–4 pro 100.000 Einwohner • Frauen etwas häufiger betroffen als Männer • Mittleres Erkrankungsalter: 60–65 Jahre • Risikofaktoren: –– Höheres Alter –– Rauchen (verdoppelt das Erkrankungsrisiko bei Frauen, aber erstaunlicherweise nicht bei Männern) –– Familiäre Belastung –– Belastung mit Insektiziden und Herbiziden: Risiko um das 3,5fache erhöht bei ­erheblicher beruflicher Exposition in der Landwirtschaft

• Tumor der B-Lymphozyten mit typischer Mutation (Translokation). Die Tumorzellen tragen das für die Therapie wichtige Antigen CD-20 auf ihrer Oberfläche • Frühe Dissemination in andere Lymphknoten und Knochenmark • Nach jahre- oder jahrzehntelangem relativ gutartigem Verlauf häufig Übergang in ein bösartigeres, aggressives Lymphom („maligne Transformation“), oft in DLCBL (Abschn. 43.4)

43.3.3 Symptome • Keine oder nur geringe Symptome • Lymphknotenvergrößerungen, meist schmerzlos • Evtl. Müdigkeit, Appetitlosigkeit • Selten Allgemeinsymptome wie Fieber, Gewichtsverlust oder Nachtschweiß

Hintergrundinformation Einige seltene Subtypen des follikulären Lymphoms (FL) unterscheiden sich vom „gewöhnlichen“ follikulären Lymphom: • FL, pädiatrischer Typ: Bei Kindern und jungen Erwachsenen. Lokalisiert (Halslymphknoten). Keine Dissemination, keine Transformation. •  FL, duodenaler Typ: Lokalisiert in Duodenum (Zwölffinger-­Darm) oder anderen Teilen des Magen-­ Darm-­ Trakts. Keine Dissemination, keine Transformation. • Primär kutanes FL: Auf die Haut beschränkt, häufig Kopf-/Halsbereich. Keine Dissemination, keine Transformation.

43.3.4 Diagnostik

43.3.6 Therapie

43.3.4.1 Bei Verdacht auf follikuläres Lymphom • Exzision eines befallenen Lymphknotens und histologische/immunhistochemische, evtl. weitere Untersuchungen

43.3.6.1 Ersttherapie Frühe Stadien • Als frühe Stadien gelten die Ann-Arbor-­ Stadien I, evtl. II, sofern kein großes Tumorvolumen („Bulk“) vorliegt (Abschn. 43.2.5). • Nur 10–15 % der Patienten sind bei Diagnose in einem frühen Stadium. • Behandlung mit Radiotherapie in kurativer Absicht, meist kombiniert mit Immuntherapie (s. unten) • Bei Risikofaktoren evtl. „Watch and Wait“ oder medikamentöse Therapie wie in späteren Stadien

43.3.4.2 Bei gesicherter Diagnose Ziel • Abschätzung der Behandlungsbedürftigkeit und evtl. Planung der Behandlung Vorgehen • Abhängig von geplanter Behandlung • Bildgebende Verfahren (Röntgen, Ultraschall, CT), evtl. Knochenmarkpunktion

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Spätere Stadien Chemo-Immuntherapie • Als spätere Stadien gelten die Ann-Arbor-­ • Kombination von Rituximab (R) mit BendaStadien III und IV sowie I und II mit großem mustin (R-Bendamustin) oder mit CHOP Tumorvolumen. (R-CHOP) • Bei fehlender Behandlungsindikation: „Watch and Wait“ (abwartendes Beobachten) 43.3.6.2 Therapie bei Rezidiv • Bei Behandlungsindikation: Chemo-­ (Rückfall) Immuntherapie (Kombination von Chemo- • Nach Ersttherapie in palliativer Absicht sind therapie mit einem Anti-CD20-Antikörper) Rückfälle die Regel. • Behandlung immer in palliativer Absicht • Sie können meist mit gutem Erfolg behandelt werden – bis zum nächsten Rückfall. „Watch and Wait“ • Wahl der Behandlung u. a. abhängig von Vor• Bei symptomfreien Patienten mit geringer therapie und Allgemeinzustand Tumorlast kann die Einleitung einer Therapie • Mögliche Substanzen (oft wieder in Kombinabis zum Auftreten von Symptomen auftion mit Rituximab): Idealisib (Zydelig, ein geschoben werden, unter Umständen um eiKinasehemmer), Lenalidomid (Revlimid, ein nige Jahre. Dies hat keinen Einfluss auf die „Imid“) u. a. m. Überlebenszeit der Patienten. • Hochdosistherapie mit autologem oder allo• Bei Verschlechterung von Laborwerten, z. B. des genem Stammzellersatz (Kap. 12) Hämoglobins, wird eine Behandlung eingeleitet, bevor entsprechende Symptome auftreten. Medikamentöse Therapie • Follikuläre Lymphome sprechen auf verschiedene medikamentöse Therapien gut an. • Standard ist die Kombination einer Immuntherapie mit einer Chemotherapie. Chemotherapie • Bendamustin: eine alkylierende Substanz mit guter Verträglichkeit • CHOP: Kombination von Cyclophosphamid, Doxorubicin, Vincristin und Prednison • Chlorambucil Immuntherapie • Antikörper gerichtet gegen das Antigen CD20 auf der Oberfläche von normalen Lymphozyten und den Zellen des FL • Medikamente: Rituximab (Mabthera u.  a.), Ofatumumab (Arzerra) und Obinutuzumab (Gazyvaro) • Zur Erhaltungstherapie oft als Einzelsubstanz eingesetzt • Unter der Behandlung erhöhtes Risiko von Infekten. Deshalb prophylaktische antibakterielle, evtl. auch antivirale Therapie

43.3.7 Prognose

• Einschätzung nach „Internationaler Prognostischer Index für follikuläre Lymphome“ (FLIPI) • Ungünstige Faktoren: Alter >60, Stadium III/ IV, Hb 4 befallene Lymphknotenregionen • Niedriges Risiko (0 oder 1 Faktor): 5-­Jahres-Überleben 95 % • Intermediäres Risiko (2  Faktoren): 5-­Jahres-Überleben 93 % • Hohes Risiko (≥3  Faktoren): 5-Jahres-­ Überleben 80 %

43.3.8 Nachsorge Ziele • Erfassung von Komplikationen und Spätfolgen der Therapie • Die Früherfassung von Rezidiven führt nicht zu einem Überlebensvorteil. Eine systematische Rezidivsuche mit apparativen Methoden ist deshalb nicht angezeigt.

43  Lymphatische Tumoren (Lymphome und Myelom)

Untersuchungen • Kein allgemein schema

anerkanntes

Nachsorge-

43.4 Diffuses großzelliges B-Zell-­ Lymphom (DLCBL) 43.4.1 Überblick • Das diffuse großzellige B-Zell Lymphom (engl. Diffuse Large Cell B-Cell Lymphoma, abgekürzt DLCBL) ist das häufigste Non-­ Hodgkin-­Lymphom (Abschn. 43.1). • Es handelt sich um einen aggressiven Tumor. –– Ohne Behandlung immer tödlicher Verlauf in wenigen Monaten –– Bei Behandlung mit kurativer Absicht Heilung einer Mehrzahl der Patienten

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• Müdigkeit, Appetitlosigkeit, gelegentlich Allgemeinsymptome (B-Symptome) wie Fieber, Gewichtsverlust oder Nachtschweiß

43.4.4 Diagnostik 43.4.4.1 Bei Verdacht auf Lymphom • Exzision eines befallenen Lymphknotens und histologische/immunhistochemische, evtl. weitere Untersuchungen 43.4.4.2 Bei gesicherter Diagnose Ziel • Stadieneinteilung (Staging) zur Planung der Behandlung

Vorgehen • Bildgebende Verfahren: Womöglich PET-CT (Abschn. 7.3.4), empfindlichste Methode zum Nachweis von Lymphom-Befall 43.4.2 Epidemiologie und • Die Behandlung des DLCBL führt häufig zur Risikofaktoren Schädigung der Keimdrüsen (Eierstöcke bzw. Hoden). Bei jungen Patienten mit Kinder• Mit etwa 30  % der Fälle häufigstes Non-­ wunsch sind deshalb zusätzliche Schritte nötig Hodgkin-­Lymphom (Abschn. 43.2.3). • In Deutschland jährlich etwa 4900 Neuerkrankungen, d. h. 7 pro 100.000 Einwohner • Männer etwas häufiger betroffen als 43.4.5 Histologie und klinische Frauen Eigenschaften • Erkrankungsgipfel zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr • Etwa 30  % der Patienten sind mehr als 75 • Tumor der B-Lymphozyten. Die Tumorzellen tragen das für die Therapie wichtige Antigen Jahre alt. CD-20 auf ihrer Oberfläche. • Risikofaktoren: • Frühe Streuung in andere Lymphknoten und –– Höheres Alter Knochenmark –– Familiäre Belastung –– Autoimmunerkrankungen mit Stimulation • Im Verlauf oft Befall von anderen Organen (extranodaler Befall), z. B. ZNS, Haut, Hoden der B-Zellen: Lupus erythematodes, Zölia• Gelegentlich bei Diagnose nur extranodaler kie Befall eines Organs: primär extranodales –– Berufliche Belastung mit Insektiziden und DLCBL, z. B. des Hodens Herbiziden • Anhand von typischen Mutationen und Genexpressionsmustern werden Untergruppen mit unterschiedlicher Prognose unterschieden: 43.4.3 Symptome –– Die Tumorzellen einiger Untergruppen tragen z.  B. kein CD20-Antigen, sie sind • Rasch wachsende Lymphknoten, meist „CD20-negativ“. schmerzlos

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–– 4–8  % der DLCBL werden als „High-­ • Evtl. CAR-T-Zell-Therapie (Abschn. 11.4.2), Grade B Cell Lymphoma“ in eine neuere Antikörper etc. Untergruppe mit ungünstiger Prognose ­ eingeteilt.

43.4.7 Prognose

43.4.6 Therapie

• Einschätzung nach Internationalem Prognostischem Index (IPI), mit mehreren Varianten 43.4.6.1 Überblick (R-IPI, aaIPI, NCCN-IPI) • Die Therapie wird in kurativer Absicht durch–– Ungünstige Faktoren: Alter >60, Allgeführt und möglichst unmittelbar nach Sigemeinzustand, höheres Ann-Arbor-Stacherung der Diagnose eingeleitet. dium, Befall extranodaler Organe, Labor• Standard ist die Kombination einer Immunwerte (LDH) therapie mit einer Chemotherapie: „Chemo-­ • Sehr gutes Risiko (R-IPI): 5-Jahres-Überleben Immuntherapie“. 93 % • Radiotherapie in gewissen Fällen im An- • Gutes Risiko (R-IPI): 5-Jahres-Überleben schluss an die Chemo-Immuntherapie 81 % • Schlechtes Risiko (R-IPI): 5-Jahres-­Überleben 43.4.6.2 Ersttherapie 61 % • 4–6 Zyklen Chemo-Immuntherapie mit R-CHOP: –– CHOP: Kombination von Cyclo- 43.4.8 Nachsorge phosphamid, Doxorubicin, Vincristin und Prednison Ziele –– R: Rituximab (Mabthera): Antikörper ge- • Erfassung von Komplikationen und Spätrichtet gegen das Antigen CD20 auf der folgen der Therapie Oberfläche von normalen Lymphozyten • Erfassung von Rezidiven und den Zellen des DLCBL • Bei großem Tumorvolumen bei Therapiebeginn („Bulk“) oder Restbefund im PET Untersuchungen nach Abschluss der Chemo-Immuntherapie: • Kein allgemein anerkanntes Nachsorgeschema anschließend lokale Radiotherapie • Die routinemäßige Durchführung von • Bei sehr alten Patienten oder solchen in Computertomografien oder PET/CTs wird schlechtem Allgemeinzustand statt R-CHOP nicht empfohlen. oft R-Bendamustin • Bei jungen Patienten mit „High-Grade“-Lymphom anstelle von CHOP evtl. aggressiveres Schema (R-CHOEP oder R-ACVBP), evtl. 43.5 Multiples Myelom anschließend Hochdosistherapie mit autoloDas Multiple Myelom wird oft nur als Myelom gem Stammzellersatz (Kap. 12) bezeichnet, gelegentlich auch als Plasmazytom.

43.4.6.3 Bei Rezidiv • Auch bei Rezidiv meist Behandlung in kurativer Absicht • Bei Patienten in gutem Allgemeinzustand: Hochdosistherapie mit autologer, unter Umständen auch allogener Stammzelltransplantation (Kap. 12)

43.5.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • Männer etwas häufiger betroffen als Frauen • Erkrankung des höheren Lebensalters:

43  Lymphatische Tumoren (Lymphome und Myelom)

–– Vor dem 45. Lebensjahr sehr selten –– Altersgipfel im 8. und 9. Lebensjahrzehnt • Risikofaktoren: –– Bei etwa 5  % der über 70-Jährigen lässt sich im Blut ein pathologisches Eiweiß (Gammaglobulin) nachweisen, meist als Zufallsbefund: "Monoklonale Gammopathie von unklarer Bedeutung" (MGUS): Eine MGUS macht keinerlei Symptome, erhöht aber das Risiko der Erkrankung an einem Multiplen Myelom (auf 15–50  % innerhalb von 20 Jahren). –– Familiäre Belastung –– Chronische Infekte (HIV, Hepatitis C) –– Starkes Übergewicht

43.5.2 Symptome • Meist schleichender Beginn mit „rheumatischen“ Beschwerden und Knochenschmerzen • Eventuell Spontanfrakturen • Evtl. Müdigkeit (bei Anämie)

43.5.3 Diagnostik 43.5.3.1 Bei Verdacht auf Multiples Myelom • Blutuntersuchung: Nachweis eines Paraproteins (M-Protein) • Knochenmarkpunktion: Nachweis der Tumorinfiltration 43.5.3.2 Bei gesicherter Diagnose Ziel • Abschätzung der Behandlungsbedürftigkeit und -fähigkeit Vorgehen • Bildgebende Verfahren (Ganzkörper-CT oder -MRI) zur Feststellung von Knochendefekten • Blutbild, Bestimmung der Immunglobuline, Nierenfunktion u. a. m.

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43.5.4 Histologie und klinische Eigenschaften • Bösartiger Tumor der Plasmazellen, d. h. von B-Lymphozyten, die Immunglobuline bilden • Die von den Tumorzellen produzierten Immunglobuline (Eiweiße) werden Paraproteine genannt, sie werden mit einer einfachen Labormethode (Eiweiß-Elektrophorese) im Blut nachgewiesen. • Die Vermehrung der bösartigen Plasmazellen führt im Knochenmark zu einer Verdrängung der normalen blutbildenden Zellen und dadurch zu einer Anämie (Mangel an roten Blutkörperchen), einer Leukopenie (Mangel an weißen Blutkörperchen) und einer Thrombopenie (Mangel an Blutplättchen) sowie zu einer Verminderung der normalen Plasmazellen und dadurch zu einem Mangel an Immunglobulinen (Antikörper). • Klinische Folgen sind Müdigkeit (Anämie), Infektanfälligkeit (Leukopenie, Antikörpermangel) und erhöhtes Blutungsrisiko (Thrombopenie). • Die Tumorzellen produzieren neben dem Paraprotein auch Botenstoffe (Zytokine), die den Abbau von Knochensubstanz fördern. In der Folge kommt es zu generalisierter Osteoporose und lokalisierter Knochenzerstörung (Osteolysen) mit Knochenschmerzen und Frakturen. • Das Paraproteinmolekül besteht aus sog. schweren und leichten Ketten. Die Ablagerung von Leichtketteneiweißen ­(„Bence-­Jones-­Proteine“) in den Nieren führt häufig zu Nierenversagen.

43.5.5 Therapie 43.5.5.1 Übersicht • Ziel der Behandlung ist eine möglichst langanhaltende Tumorrückbildung mit Kontrolle der myelombedingten Symptome. • Eine definitive Heilung ist aktuell bei etwa 15 % der Patienten möglich. • Die Diagnose eines Myeloms ist nicht unbedingt eine Indikation zur sofortigen Ein-

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leitung einer Therapie: Bei MGUS (Abschn. 43.5.1) und asymptomatischen Frühformen kann ohne Behandlung der weitere Verlauf beobachtet werden („Watch and Wait“). • Die Behandlung erfolgt medikamentös. –– Standard ist eine Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation. –– Falls dies wegen schlechten Allgemeinzustands oder Begleiterkrankungen nicht möglich ist: konventionell dosierte medikamentöse Behandlung • Als Osteoprotektion (Knochenschutz) gleichzeitig Behandlung mit einem Bisphoshonat, z.  B.  Zoledronat (Zometa), oder mit Denosumab (Prolia, Xgeva). Bei Frakturgefährdung zusätzlich evtl. palliative Radiotherapie, evtl. operative Stabilisierung (Osteosynthese).

43.5.5.2 Ersttherapie Bei Indikation zur Einleitung einer Therapie wird abgeklärt, ob eine Hochdosistherapie mit Stammzellersatz möglich ist oder nicht. Entsprechend unterscheiden sich die Therapieoptionen. Behandlung mit Hochdosischemotherapie und Stammzellersatz • Voraussetzung ist ein relativ guter Allgemeinzustand und intakte Organfunktionen (v.  a. Niere). Als obere Altersgrenze gilt das 70.–75. Lebensjahr. • Die Behandlung gliedert sich in 6 Phasen: Induktion (Einleitung)  – Stammzellsammlung  – Hochdosischemotherapie  – Stammzelltransplantation – Konsolidation – Erhaltungstherapie. Induktion • Für die Induktion stehen mehrere, zum Teil neue, Medikamente zur Verfügung, z. B.: –– Daratumumab (Darzelex, abgekürzt Dara), ein Antikörper gegen das CD38-Eiweiß auf der Oberfläche der Myelomzellen (Abschn. 11.3.2) –– Bortezomib (Velcade, abgekürzt V), ein Proteasomenhemmer

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–– Lenalidomid (Revlimid, abgekürzt R)), ein Imid –– Dexamethason (abgekürzt D), ein Kortikosteroid • Während mehrerer Wochen (4–6 Zyklen) werden 2–4 dieser Medikamente in Kombination verabreicht. Damit wird bei über 80 % der Patienten eine gute Tumorrückbildung erreicht. Die Kombinationen werden nach den Abkürzungen der beteiligten Medikamente bezeichnet, z. B. „VRD“ für Velcade, Revlimid und Dexamethason. Stammzellsammlung/Hochdosischemotherapie und Stammzelltransplantation (Kap. 12) • Für die Hochdosistherapie wird üblicherweise das Zytostatikum Melphalan gewählt. Die Transplantation wird als Einfach- oder als Doppel- (Tandem-)Transplantation ausgeführt. Bei der Tandemtransplantation erfolgt 4–6 Monate nach der ersten eine zweite Transplantation. Konsolidation • Bei Risikopatienten kann nach der Stammzelltransplantation eine Konsolidation (Sicherung) durch erneute Gabe von einigen Zyklen der Induktionstherapie erfolgen. Erhaltungstherapie • In der Regel erfolgt im Anschluss an die Stammzelltransplantation bzw. Konsolidation eine Erhaltungstherapie mit ­Revlimid. Behandlung ohne Hochdosischemotherapie und Stammzellersatz • Ist eine Hochdosistherapie mit Stammzellersatz nicht möglich (höheres Alter, schlechter Allgemeinzustand, Begleiterkrankungen), so erfolgt eine medikamentöse Therapie entsprechend der „Induktion“ vor einer Hochdosistherapie. Bei Ansprechen des Tumors wird die Behandlung in der Regel bis zur erneuten Progredienz weitergeführt.

43  Lymphatische Tumoren (Lymphome und Myelom)

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43.5.5.3 Rezidiv • Behandlung abhängig von Ersttherapie und Allgemeinzustand • Je nach Situation und Vorbehandlung werden verschiedene Medikamente, evtl. auch nochmals eine Hochdosistherapie mit Stammzellersatz eingesetzt.

• Überlebenszeit zwischen 30 und >60 Monaten • Heilung bei ca. 15 % der Patienten möglich

43.5.6 Prognose • Abschätzung der Prognose nach dem Revised International Staging System (ISS-R): Einteilung in drei Stadien (I–III), abhängig von Blut-Laborwerten und Zytogenetik des Tumors (Mutationen)

43.5.7 Nachsorge Ziele • Überwachung der Krankheitsaktivität • Erfassung krankheits- und therapiebedingter Komplikationen Untersuchungen • Kein allgemein anerkanntes ­Nachsorgeschema

Häufige Krebserkrankungen im Kindesalter

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Sabine Kroiss

Generell sind Krebserkrankungen im Kindesalter selten: Jährlich erkranken in Deutschland etwa 2200 Kinder und Jugendliche (unter 18 Jahren) an Krebs, d. h., die Inzidenz beträgt ca. 170 pro 1 Mio. Einwohner unter 18 Jahren. Im Kindesalter treten andere Tumorarten auf als im Erwachsenenalter. So machen Hirntumoren ca. 24 % aller bösartigen Tumoren im Kindesalter aus, bei Erwachsenen lediglich 1,5  %. Bei bösartigen soliden Tumoren außerhalb des ZNS (ca. 24 %) handelt es sich je etwa zur Hälfte um Sarkome (Weichteil- und Knochensarkome) bzw. um embryonale Tumore (z.  B.  Neuroblastom, Nephroblastom, Retinoblastom). Bei den Weichteilsarkomen kommen im Kindesalter typischerweise Rhabdomyosarkome vor, die im Gesicht-/ Schädelbereich lokalisiert sind, aber auch im Urogenitalbereich. Zu den Knochensarkomen zählen das Osteosarkom und das Ewing-Sarkom, die bei älteren Kindern und im Jugendalter vorkommen. Karzinome, die bei Erwachsenen den Hauptteil an Krebserkrankungen ausmachen, sind im Kindesund Jugendalter eine Rarität. Leukämien und Lymphome als Krebserkrankungen des blutbildenden Systems stellen zusammen 45 % aller Krebsdiagnosen im Kindesalter dar. Meist sind dies akute Leukämien; chronische Leukämieformen treten sehr selten auf. S. Kroiss (*) Onkologische Poliklinik, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz e-mail: [email protected]

Die Therapien von Krebserkrankungen im Kindesalter haben sich in den letzten Jahrzehnten dank großer internationaler Therapieoptimierungsstudien stetig weiterentwickelt, sodass heutzutage in den meisten Fällen eine Heilung realistisch angestrebt werden kann. Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Krebserkrankungen erfordert ein spezia­lisiertes multiprofessionelles Behandlungsteam, das vor allem in der intensiven Therapiephase ­Patienten und Familie umfassend betreut und unterstützt und so eine Durchführung der Therapien  – auch im ambulanten Setting  – ermöglicht (Kap. 37).

44.1 Akute lymphatische Leukämie (ALL) 44.1.1 Epidemiologie und Risikofaktoren • Häufigste Krebserkrankung im Kindesalter (ca. 30 %) • Jährlich 4,3 Erkrankungen pro 100.000 Kinder unter 15 Jahren • Häufigkeitsgipfel 2.–4. Lebensjahr • Jungen 1,3-mal häufiger betroffen als Mädchen • Vielfach erhöhtes Erkrankungsrisiko bei Down-Syndrom und anderen kongenitalen Erkrankungen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Heizmann, T. Kroner (Hrsg.), Ergotherapie in der Onkologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-64230-6_44

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S. Kroiss

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44.1.2 Symptome Symptomdauer wenige Tage bis einige Wochen, häufig unspezifisch: • Fieber oder subfebrile Temperaturen • Blaue Flecken, punktförmige Hautblutungen (Petechien) • Müdigkeit, Blässe, Schwindel • Lymphknotenschwellung • Knochenschmerzen

44.1.3 Diagnostik • Die Diagnostik sollte rasch in einem pädiatrischen Zentrum für onkologische Erkrankungen erfolgen: –– Differenzialblutbild –– Knochenmarkpunktion –– Lumbalpunktion • Neben der Morphologie spielen die Immunphänotypisierung sowie die Zyto- und Molekulargenetik (Kap. 7) eine zentrale Rolle. Sie sind Voraussetzung für eine adäquate Therapie und eine im Verlauf individualisierte Therapieanpassung. • Schmerzhafte Interventionen wie Knochenmarkpunktion und Lumbalpunktion werden beim Kind in Narkose durchgeführt. • Molekulargenetische Untersuchungen sind erforderlich für die Therapiestratifizierung nach Risikogruppen und für das Monitoring des Therapieansprechens (Bestimmung der minimalen Resterkrankung, abgekürzt MRD).

44.1.4 Klinische Eigenschaften • Diffuse Infiltration des Knochenmarks mit Ausschwemmung von Tumorzellen ins Blut und Verdrängung der normalen Knochenmarkszellen. Folgen: Anämie, Thrombopenie (Blutungen), Neutropenie (Infekte) • Vergrößerung von Milz und Leber (wegen Infiltration durch Tumorzellen) • Befall der Hirnhäute (Meningeosis), selten bereits bei Diagnosestellung, häufiger bei Rezi-

div. Symptome: Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, evtl. Krampfanfälle, evtl. Ausfall von Hirnnerven. Deswegen prophylaktische Behandlung (s. unten).

44.1.5 Therapie Die Therapie erfolgt in kurativer Absicht im Rahmen von internationalen Therapieoptimierungsstudien.

44.1.5.1 Chemotherapie • Systemische Polychemotherapie, gegliedert in: Induktionstherapie, Konsolidierung, Re-­ intensivierung und Erhaltungstherapie • Dauer total 2 Jahre, davon ca. 6 Monate intensive Therapie, auch mehrheitlich ambulant, anschließend Erhaltungschemotherapie mit wöchentlichen Kontrollen (Tabletten) • Die Therapieintensität richtet sich nach dem Risikoprofil. • Bestandteil der Therapie ist eine ZNS-­ gerichtete Therapie mit Lumbalpunktionen und Verabreichung von Chemotherapie in den Liquorraum (intrathekale Chemotherapie). 44.1.5.2 Strahlentherapie • In seltenen Fällen Schädelbestrahlung zur Prophylaxe von Rezidiven im ZNS • Heute zunehmend ersetzt durch intrathekale Chemotherapie (Begründung: Strahlentherapie mit mehr Spätfolgen verbunden) • Ganzkörperbestrahlung vor einer allfälligen Stammzelltransplantation als Konditionierung (Kap. 12) 44.1.5.3 Hämatopoetische Stammzelltransplantation • Therapieoption für einen kleinen Anteil von Patienten mit besonders ungünstiger Prognose

44.1.6 Prognose • Insgesamt gut mit 90  % Langzeitüberleben >15 Jahre

44  Häufige Krebserkrankungen im Kindesalter

44.1.7 Nachsorge Ziele • Früherkennung von Rezidiven • Früherkennung von Spätfolgen –– Nach Schädelbestrahlung neuropsychologische Defizite, Endokrinopathien und Übergewicht –– Osteoporose –– Zweittumoren –– Psychosoziale Folgen (auch im familiären Kontext)

44.2 Medulloblastom 44.2.1 Epidemiologie • Hirntumoren sind die häufigsten soliden Tumoren im Kindesalter: 1 von 1400 Kindern unter 18 Jahren ist betroffen, ca.  24  % aller Tumorerkrankungen im Kindesalter. • Medulloblastom häufigster maligner Hirntumor im Kindesalter: jährlich 85 Erkrankungen pro 1 Mio. Kinder • Häufigkeitsgipfel 2.–10. Lebensjahr • Jungen 2-mal häufiger betroffen als Mädchen

44.2.2 Symptome • Hirndruckzeichen: Kopfschmerzen, Übelkeit und morgendliches Nüchternerbrechen, Wesensveränderung, neu auftretendes Schielen, bei Säuglingen abnormes Kopfwachstum • Ataxie v. a. bei jungen Kindern

44.2.3 Diagnostik • MRT des Schädels • Liquordiagnostik intraoperativ und postoperativ • MRT des Spinalkanals zur Metastasensuche • Bei Verdacht auf Metastasierung ausgedehntes Staging

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44.2.4 Histologie und Metastasierung • Das Medulloblastom gehört zu den embryonalen Tumoren. Es geht typischerweise vom Kleinhirn aus. • Häufig Metastasen im Rückenmark, sehr selten Knochenmetastasen

44.2.5 Therapie Die Therapie erfolgt im Rahmen von internationalen Therapieoptimierungsstudien.

44.2.5.1 Chirurgie • Primäre Operation von größter Bedeutung • Ziel: vollständige Tumorentfernung, wo möglich ohne bleibende schwere neurologische Defizite • Etwa 20  % entwickeln postoperativ ein sog. Fossa-posterior-Syndrom mit passagerem zerebellärem Mutismus (Rückbildung innerhalb von Wochen/Monaten) → Die Patienten sind vorübergehend unfähig zu willkürlichen Lautäußerungen (reflektorische/emotionale Äußerungen ausgenommen). 44.2.5.2 Strahlentherapie • Kinder >4 Jahre: prophylaktische Bestrahlung des gesamten Liquorraums, d. h. Gehirn und Rückenmark, da Mikrometastasierung über Liquorwege häufig • Kinder