Alltagswerkstatt: Alltagsbefähigungspraktiken in der psychiatrischen Ergotherapie 9783839447925

An ethnography about the »workshop of everyday life« of psychiatric occupational therapy and the question of whether and

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Alltagswerkstatt: Alltagsbefähigungspraktiken in der psychiatrischen Ergotherapie
 9783839447925

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Vorstellung des Felds und erste Fragestellungen
3. Theoretische Zugänge und methodisches Vorgehen
4. Praxeografie des »Alltags«
5. Routinen ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung«
6. Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung«
7. Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung«
8. Fazit – Werkstatt neuer »Alltage«
Danksagung
Literatur

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Julie Sascia Mewes Alltagswerkstatt

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung | Band 25

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Beirat: Prof. Dr. Thomas Lemke, Prof. Dr. Paul Martin, Prof. Dr. Brigitte Nerlich, Prof. Dr. John Law, Prof. Dr. Regine Kollek, Prof. Dr. Allan Young

Julie Sascia Mewes, geb. 1983, forscht am Institut für Soziologie an der Technischen Universität Berlin. Die Europäische Ethnologin promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der ethnografischen Alltagsforschung, der Praxistheorie sowie den Science and Technology Studies.

Julie Sascia Mewes

Alltagswerkstatt Alltagsbefähigungspraktiken in der psychiatrischen Ergotherapie

Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung.

Zugleich Dissertationsschrift vom 23. Mai 2018 an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. GutachterInnen: Prof. Dr. Stefan Beck †, Prof. Dr. Jörg Niewöhner (HU Berlin) sowie Prof. Dr. Estrid Sørensen (Ruhr-Universität Bochum). Dekanin der Fakultät ist Prof. Dr. Gabriele Metzler.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4792-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4792-5 https://doi.org/10.14361/9783839447925 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.

Einleitung | 7

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Beunruhigende Werkstatt – Disconcertment als Ausgangspunkt | 7 »Was kann man auf der Station für den Alltag lernen?« | 10 In der Werkstatt forschen – Zugänge zum Feld | 13 Sprache ist (Be-)Handlung – Sprachliche Regelungen | 16 Übersicht der Kapitel im Einzelnen | 19

2.

Vorstellung des Felds und erste Fragestellungen | 23 Historischer Abriss der Ergotherapie in der Psychiatrie | 24 Zusammenfassung des historischen Abrisses über die deutsche Ergotherapie | 42 Ergotherapeutischer »Alltag« und erste Fragestellungen | 43 Überblick – Ausbildung und Beruf in Zahlen | 43 »Alltag(sfähigkeit)« als Fragestellung in der psychiatrischen Ergotherapie | 46 Zusammenfassung – Ergotherapeutischer »Alltag« | 55

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3.

Theoretische Zugänge und methodisches Vorgehen | 57

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

»Alltag« und »Praxis« als Forschungskategorien | 57 »Alltag« und »Praxis« in der Europäischen Ethnologie | 58 »Alltag« und »Praxis« – Routinen | 68 »Alltag« und »Praxis« – Materialität | 77 »Alltag« und »Praxis« – Produktivität | 81 Zusammenfassung – »Alltag« und »Praxis« | 84

4.

Praxeografie des »Alltags« | 89 Einleitung und Überblick | 89 Beispiele praxeografischer Forschungen | 94 Zusammenfassung des praxeografischen Forschungszugangs | 98 Zentrale Fragestellungen | 99

4.1 4.2 4.3 4.4

5.

Routinen ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 103

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Ausnahmezustand als Normalität in der Psychiatrie | 103 Routinen als Strukturierung und Automatisierung | 106 Zeit und Raum von Routinen | 116 Begrenzte Routinen | 121 Routinen – Zwischenergebnisse und Zusammenfassung | 124

Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 127 6.1 Ginkgo als Therapeutikum – Objekte und ihre Fähigkeiten | 128 6.2 Von Laub und elektronischen Schliessanlagen | 130 6.3 Von der Sozialstatistik über Objektbiografien zu den Material Culture Studies | 132 6.4 Speckstein und Kaffeemühle als material agents | 138 6.5 Ikonen als epistemische Objekte | 148 6.6 Ergotherapeutische Rezepte als Objekt-Arrangement | 152 6.7 Von der Zwiebel zur Kurve – practice-material arrangements | 155 6.8 Materialität – Zwischenergebnisse und Zusammenfassung | 164 6.

7.

Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 169

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8

Produktivität und Leistungsanforderung | 171 Logiken des Sorgens – logic of care | 173 Logic of care versus logic of choice | 174 Ergotherapeutisches Sorgen | 177 Autonomie und ergotherapeutisches Sorgen | 179 Ergotherapeutisches tinkering | 188 Ergotherapeutisches tinkering mit und durch Produktivität | 194 Produktivität – Zwischenergebnisse und Zusammenfassung | 201

8.

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 205

8.1 Fazit 1 | 206 8.2 Fazit 2 | 216 Danksagung | 237 Literatur | 241

1. Einleitung

1.1 BEUNRUHIGENDE WERKSTATT – DISCONCERTMENT ALS AUSGANGSPUNKT »Ich gehe von der Station aus durch die erste elektrische Stationstür in den Flur, der zur zweiten Tür dieser Art und schließlich den Fahrstühlen führt. Auf der linken Seite befindet sich eine Flügeltür, an der ein buntes Holzschild in runden Buchstaben darauf hinweist, dass sich hier die Ergotherapie befindet. Der Ergotherapieraum selbst ist ein etwa 40 m2 großer, lichtdurchfluteter Raum, in dessen Zentrum ein großer, rechteckiger Werktisch aus massivem Holz steht, um den herum sich zwölf Stühle gruppieren. Auf den Fensterbrettern reihen sich Topfpflanzen in unterschiedlichen Größen, Farben, und Formen aneinander. In einer Ecke steht eine große Staffelei. An einer Wand befinden sich mehrere große Holzschränke, in denen sich laut den bunten Pappschildern, die auf ihnen angebracht sind, »Spiele«, »Bastelbücher«, »Wolle«, »Papier«, »Mandalas«, »Seidenmalerei«, »Stifte«, »Pinsel« und »Perlen« befinden. Auf den Schränken türmen sich geflochtene Körbe aus Peddigrohr in unterschiedlichen Fertigungszuständen. Auf der anderen Seite des Raumes steht ein Metallregal, gefüllt mit Skulpturen aus Speckstein und Ton. Ich schaue auf Schildkröten, Bären und Pferde in unterschiedlichsten Größen, Formen und Farben. Im unteren Fach befinden sich zwei große Plastiktruhen, aus der einen lugen Rohspecksteine, aus der anderen ein großer Block Ton hervor. Wie in fast jedem anderen Raum in der Klinik gibt es auch hier ein großes Waschbecken, welches sich neben der Tür befindet. Dieses jedoch hat nur noch mittelbare Ähnlichkeit mit den anderen weißen, glänzenden, sterilen Wannen, neben den stets gefüllte Desinfektionsmittel-, Seifen- und Papierhandtuchspender auf der Station stehen. Die Emaille ist stumpf und voller bunter Farbspritzer. Im Becken stehen zwei mit Wasser gefüllte Gläser, in denen mehrere Pinsel auf irgendetwas zu warten scheinen. Zwei gipsverklebte Spachtel liegen auf der einen Ablagefläche, auf der anderen stapeln sich Papierhandtücher zu einem schiefen Turm. Auch auf dem Werktisch scheint niemand auf penible Ordnung zu achten: Ein paar Holzperlen liegen darauf, zwei Figuren eines Brettspiels, zwei halb ausgemalte Malvorlagen und

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eine zu Teilen aus dem Speckstein herausgearbeitete Schildkröte daneben. Das kunterbunte Sammelsurium erinnert an einen Werkraum in einer freien Kunstschule oder an den Klassenraum des Kunstunterrichts an einer Schule. Dass ich mich in einer Klinik befinde, vergesse ich in dem Moment. Verwundert gehe ich im Raum umher, vom Geruch von Holzleim, Holz und Tusche umgeben. Herr Lichter, der Ergotherapeut, ein dreißigjähriger Mann im Polohemd, Jeans und Sneakers, kommt herein, grinst breit und sagt: ›Ach hier steckst du. Eine ganz schöne Unordnung hier, nicht? Die Patienten sollen eigentlich ihre Sachen selbst aufräumen, das klappt aber eigentlich nie und manchmal bleibt es dann liegen.‹ Dabei lacht er und erzählt mir belustigt, dass seine Kollegin seine Unordnung nicht ausstehen könne, er aber finde, dass es ein wichtiger Teil seines therapeutischen Konzepts sei, den Patienten die Verantwortung für den Zustand ihres Arbeitsplatzes in der Werkstatt zu übertragen. Dann schaut er auf seine Uhr, bittet mich mit einer Armbewegung aus dem Raum, schließt diesen ab und sagt: ›Wenn du magst, kannst du mitkommen, gleich fängt die Morgenrunde an.‹« [Feldnotiz 05.03.2012]

Die ergotherapeutische Werkstatt, die ich im März 2012 während meiner dreiwöchigen Explorationsforschung in einer allgemeinpsychiatrischen Station eines regionalen Krankenhauses auf der Suche nach einer Forschungsfrage zum ersten Mal betreten hatte, wirkte auf mich zugleich anziehend und abstoßend, vor allem aber irritierend. Einerseits wunderte mich, wie sehr sich der Raum von den anderen klinischen Räumen um ihn herum unterschied: Das kunterbunte Chaos voller Bastel- und Werkmaterialien stand im krassen Gegensatz zu den sterilen und nur spärlich eingerichteten Zimmern, die abgesehen von farbigen Vorhängen meist – weiß in weiß gehalten – nur Krankenbetten und Nachttische zu enthalten schienen und sofort auf ihre Funktionalität als klinische Räume verwiesen.1 In der Werkstatt roch es nicht wie überall sonst in der Klinik nach Desinfektionsmitteln sondern nach Bastel- und Werkmaterialien. Die Ergotherapiewerkstatt wirkte wie aus Zeit und Raum gefallen. Er schien nicht in seine sterile und adrette Umgebung zu passen und der Gedanke, dass hier Therapie und kein Kunstunterricht stattfinden sollte, verwunderte mich, empfand ich den Raum doch als durch und durch ›unklinisch‹. »Wie soll dieser Ort therapeutisch sein und wie kommt der Alltag der Nutzerinnen2 ›in ihn hinein‹?«, fragte ich mich. Erst lange Zeit später stieß ich in meinen

1

Der Aufenthaltsraum ist ebenfalls gemütlicher eingerichtet als der Rest der Station, allerdings nicht in dem Maße wie die Ergotherapie, die darüber hinaus zu Teilen im Aufenthaltsraum stattfindet, da die Kücheninsel für die Koch- und Backgruppe dort stattfinden. (Vgl. 166)

2

Zur Verwendung des generischen Femininums, vgl. 16.

Einleitung | 9

Feldnotizen erneut auf diese Frage, und noch viel später wurde mir bewusst, dass sie die erste Forschungsfrage war, die mich und mein Feld, die stationäre psychiatrische Ergotherapie in zwei deutschen Kliniken, verband und über den weiteren Verlauf dieser Arbeit begleitete. Das unbestimmte Gefühl zwischen Verwunderung, Anziehung und Abstoßung zugleich, welches die Ergotherapie zu meinem Forschungsfeld werden ließ und mich bis heute mit ihr verbindet, lässt sich mit dem Konzept des disconcertment der australischen Ethnografin und Wissenschafts- und Technikforscherin Helen Verran fassen. Disconcertment, von Raasch und Sørensen als »Unruhe« übersetzt (Raasch und Sørensen 2014, 258f.), soll laut Verran aus Irritation beziehungsweise Verwunderung der Feldforscherin gegenüber Alltagshandlungen Forschungsfragen generieren, wie sie es in ihrer Monografie »Science and an African Logic« (2001) am Beispiel der Art und Weise, wie das metrische System in nigerianischen Klassenräumen unterrichtet wird, herausgearbeitet hat. (Verran 2001, 3) Sie beschreibt disconcertment als eine Strategie, um in komplexen Aushandlungssituationen zu verstehen, »how truths that these stories evoke, came to be«. (Verran 1999, 141) Verran bezieht sich hier insbesondere auf Praktiken, in denen zwei miteinander konkurrierende imaginaries, das heißt »sets of metaphors for thinking and enacting the world« (Law und Lin 2010, 141), den Blick und die Erklärungsmuster um Erfahrungen herum ordnen beziehungsweise prägen. Auch in der Psychiatrie schienen mir zumindest zwei imaginaries aufeinander zu stoßen: die mir vertrautere, sterile, geordnete und seriöse Medizin und die zusammengewürfelte und chaotisch wirkende Ergotherapie. Ein Vergleich beider Kosmologien soll an dieser Stelle nicht unternommen werden. Die Frage danach, wie in einem kreativen und aufs »amateurhafte Basteln und Werken ausgerichteten« und dadurch mitunter infantil wirkendem Raum ›ernsthafte‹ Therapie stattfinden soll und welche Inhalte diese hat, steht hingegen im Zentrum dieser Arbeit. Denn in den nächsten Tagen meiner Feldforschung kam ich zu meiner Verwunderung zu dem Schluss, dass sich die Ergotherapie bei vielen Nutzerinnen größter Beliebtheit zu erfreuen schien. Abgesehen von vereinzelter Kritik3 hörte ich bei keiner anderen Gruppenaktivität auf den von mir teilnehmend beobachteten Stationen je Sätze wie: »Ach schade, es ist schon vorbei?« oder »Können wir

3

Die Auswahl der empirischen Daten vermittelt diese positive Einstellung der Nutzerinnen der Ergotherapie gegenüber nicht durchweg. Meine Auswahl der hier verwendeten Daten zielte darauf ab, die »Alltagsbefähigungspraktiken« besser zu verstehen, welches sich meines Erachtens besonders gut aus der Analyse uneindeutiger, kritischer oder irritierender Situationen heraus verstehen lässt.

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nicht noch ein bisschen hier bleiben?«. Die Assoziationen eines Orts des Spielerischen und der fehlenden Ernsthaftigkeit schien viele Nutzerinnen nicht abzustoßen sondern anzuziehen, und zwar so sehr, dass die Ergotherapie mit Abstand die beliebteste Therapieform war und ist.4 Wie also lässt sich dieser große Unterschied in der Wahrnehmung der Ergotherapie, als nicht in die Klinik ›passender‹ Ort einerseits sowie als zuweilen begeistert aufgenommenes Refugium andererseits erklären? Was wird von den Nutzerinnen erwartet und wie sollen sie von der Ergotherapie profitieren und in welchem Zusammenhang steht hierbei der Alltag der Nutzerinnen?

1.2 »WAS KANN MAN AUF DER STATION FÜR DEN ALLTAG LERNEN?« »Die Morgenrunde findet dreimal wöchentlich eine halbe Stunde nach dem Frühstück im großen Aufenthaltsraum statt; alle Patientinnen der Station sind angehalten daran teilzunehmen. Diese wird im Wechsel vom behandelnden Oberarzt, einer der Krankenpflegerinnen oder dem Ergotherapeuten der Station, Herrn Lichter, angeleitet. Inhaltlich geht es darum, über das anstehende Therapieprogramm und andere Aktivitäten zu informieren, Fragen zu beantworten, Probleme zu klären sowie Lösungen für Konflikte unter den Nutzerinnen zu suchen. Wenn keine aktuellen Themen anstehen, wird ein Thema zur Diskussion gestellt, über das etwa eine halbe bis dreiviertel Stunde gesprochen wird. Heute geht Herr Lichter durch alle Patientinnenzimmer und erinnert an den baldigen Beginn der Morgenrunde. Einige Minuten später sitzt ein Großteil der Patientinnen mittlerweile auf einem der Stühle, die in einem großen Kreis stehen. Eine ebenfalls anwesende Krankenpflegerin notiert die Namen der Anwesenden, während Herr Lichter nach einer Vorstellungsrunde und einem sogenannten Blitzlicht, bei dem die Teilnehmerinnen berichten, wie es ihnen geht, das heutige Thema der Morgenrunde vorstellt. ›Was kann Alltagsgestaltung für ihre Gesundheit tun?‹, fragt er in die Runde. Er fügt hinzu: ›Die Koch- oder Backgruppe, die haben ja auch als Beispiel etwas mit Alltagsgestaltung zu tun.‹ Die Nutzerinnen schauen ihn fragend bis ratlos an, keine sagt etwas. Herr Lichter setzt erneut an: ›Was bedeutet Alltag für Sie?‹ ›Einkaufen‹, sagt nun eine der Patientinnen. ›Kann ich auch nicht mehr, es ist eine Frage der Zeit, dass es vorbeigeht‹, fährt ein anderer dazwischen, dabei nicht in die Runde, sondern auf den Boden schauend. ›Spazierengehen‹, ergänzt ein anderer Nutzer, nachdem der Ergotherapeut seine Frage wiederholt hat. Nach den

4

In einer Studie zur Effektivität der psychiatrischen Ergotherapie kommt der Psychiater Thomas Reuster zum gleichen Schluss (2006).

Einleitung | 11

beiden Wortmeldungen breitet sich erneut Stille aus und nach einiger Zeit fasst Herr Lichter zusammen: ›Einkaufen und Spazierengehen sind Dinge, die sich immer wiederholen. Wie wichtig ist dies für Sie?‹ Nun schaut er jeden der Anwesenden der Reihe nach an, diese nicken stumm. Eine Patientin merkt an, dass sie sich deshalb wünsche, einen Teil davon [des alten Alltags, Anm.: JSM] zurückzubekommen. Ihre Bitte verhallt im Raum. ›Und was kann man auf der Station für den Alltag lernen?‹, fragt Herr Lichter daraufhin. ›Tagesstruktur‹, sagt eine Patientin und schaut den Ergotherapeuten fragend an. Der nickt und lächelt ihr kurz zu, und bittet im Anschluss die Runde, Beispiele hierfür zusammenzutragen. Nacheinander wird ›regelmäßiges Aufstehen‹, ›Anziehen‹, ›Waschen‹, ›Arbeiten gehen‹, ›nach Hause kommen‹, ›Kochen‹ und ›Schlafengehen‹ von den Patientinnen genannt. ›Was macht das mit Ihnen?‹, fragt der Ergotherapeut in die Runde. ›Es gibt Sicherheit‹, beantwortet er seine eigene Frage, als nach etwa einer halben Minute niemand geantwortet hat und alle auf den Boden oder unverwandt aus dem Fenster schauen, und nickt bestimmt. ›Viele Menschen haben zum Beispiel Einschlafrituale. Ich schaue zum Beispiel noch Fernsehen bevor ich einschlafe, andere lesen ein Buch oder trinken eine heiße Milch. Struktur gibt Sicherheit und Orientierung.‹ Ein Nutzer gibt zu bedenken: ›Alltag hat aber auch etwas Schweres. Wenn man zum Beispiel aus dem Urlaub kommt, kann einen der Alltag leicht überfordern.‹ ›Das haben Sie gut gesagt‹, lobt der Ergotherapeut. ›Ich würde sagen, auch nach einer Krankheit ist es schwer, wieder in den Alltag zu kommen. Dafür ist die Ergotherapie da, um diesen Einstieg wieder zu erleichtern.‹ ›Was können Sie denn von der Station mit nach Hause nehmen?‹ fragt der Herr Lichter. ›Die Tagesstruktur‹, antwortet eine Nutzerin. ›Hier gibt es einen festen Tagesablauf, den kann ich mitnehmen.‹ ›Was können sie aus der Kochgruppe lernen?‹, fragt Herr Lichter nachdem niemand etwas ergänzen zu wollen scheint und beantwortet nach einem Moment der Stille seine eigene Frage mit: ›Dass Mahlzeiten wichtig sind.‹ Unvermittelt setzt eine Patientin an: ›Wenn man keine Arbeit hat, fühlt man sich minderwertig. Man ist nur wertvoll, wenn man Geld verdient und das wieder umsetzt. Sie brauchen einen nur als Käufer, nicht als Menschen‹, sagt sie mit fester Stimme doch gesenktem Blick. Ein paar Köpfe nicken stumm, doch die Mehrheit starrt in die Leere, aus dem Fenster oder zu Boden. Herr Lichter nickt und sagt in die Stille hinein: ›Ein ausgewogener Alltag ist wichtig.‹ Die Gruppe reagiert nur noch vereinzelt mit einem kurzen Nicken oder Lächeln. ›Der Sinn des Alltags ist es, mit Menschen in Kontakt zu treten‹, wagt Herr Lichter einen erneuten Versuch, doch ein Großteil der Gruppe scheint mit den Gedanken woanders zu sein, tritt weder nonverbal noch verbal in Kontakt zu ihm oder anderen. Nach einem Moment schließt Herr Lichter die Runde mit einem Hinweis auf die anschließende Ergotherapie mit der Feststellung: ›Alltag ist was ganz Wichtiges.‹« [Feldnotiz 02.04.2013]

12 | Alltagswerkstatt

Die Sequenz aus der Morgenrunde verweist darauf, wie wichtig der Begriff »Alltag«5 für ergotherapeutisches (Be-)Handeln ist und wie eng verwoben diese mit »Routinen« im Sinne fester zeitlich-räumlicher Tagestrukturen, »Materialität« und »Produktivität«, das heißt Objektumgang und -herstellung, ist. Herr Lichter umschreibt das zentrale Ziel der Ergotherapie, »Handlungsfähigkeit im Alltag« (Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2007) (wieder-)herzustellen, indem er sagt, dass diese dabei helfen soll, wieder in einen »Einstieg in den Alltag finden«. Eine vertiefende Analyse dieser Sequenz erfolgt im empirischen Teil dieser Arbeit (vgl. 68). Zunächst verwende ich sie als Verweis auf die Frage, wie die ergotherapeutischen »Alltagskönnerinnen«6 darauf hinarbeiten, ihre Nutzerinnen zu »Alltag« zu befähigen sowie auf die Rolle meines diesbezüglichen disconcertments. Denn »Alltag« wird von der Ergotherapie zu einer Fähigkeit erhoben, der nicht mehr allen barrierefrei zur Verfügung zu stehen scheint und von Expertinnen gelehrt werden muss. Zudem impliziert der von Herrn Lichter benutzte Begriff »Einstieg in den Alltag« eine alleinige Verortung von »Alltag« außerhalb der Klinik und wirft damit die Frage auf, ob es dementsprechend keinen für die Ergotherapie relevanten klinischen Alltag gibt und wie der »Alltag« den Nutzerinnen abhandenkommen konnte. Ich werde im Folgenden versuchen, ein besseres Verständnis für die ergotherapeutischen »Alltagsbefähigungspraktiken« anhand von ethnografischen Daten aus meiner Feldforschung in zwei deutschen Kliniken zu entwickeln.

5

Zur Unterscheidung von »Alltag« mit und ohne doppelte Anführungszeichen vgl. 57.

6

Eine verbreitete Selbstbezeichnung der Ergotherapie, wie es der Untertitel einer der auflagenstärksten Fachzeitschriften für die deutschsprachige Ergotherapie »Ergopraxis – Ergotherapie für Alltagskönner« suggeriert.

Einleitung | 13

1.3 IN DER WERKSTATT FORSCHEN – ZUGÄNGE ZUM FELD Im Zeitraum von mehr als drei Jahren (März 2012-April 2015) habe ich mich in mehreren mehrmonatigen Feldforschungsphasen (zusammengenommen etwas über zwölf Monate) dieser und weiterer Fragen durch praxeografische, teilnehmende Beobachtungen und ein Dutzend ergänzende praxistheoretische Interviews mit den Ergotherapeutinnen und Nutzerinnen vor Ort sowie zwei Fokusgruppeninterviews mit Nutzerinnen der Stationen genähert. Vertiefend darstellen werde ich den praxeografischen Ansatz der Arbeit im Kapitel Praxeografie des »Alltag« (vgl. 89ff.), dieser Abschnitt dient daher nur einem kurzen Einblick zu den methodischen Zugängen sowie den Feldern selbst sowie einigen hierfür relevanten Vorüberlegungen. Die in der Eingangssequenz vorgestellte Werkstatt Herrn Lichters sowie Herrn Zieglers Ergotherapieraum aus dem zweiten Forschungsfeld sind die hauptsächlichen Orte, an denen ich teilnehmende Beobachtungen während der an allen Wochentagen stattfindenden neunzigminütigen ergotherapeutischen Gruppenaktivitäten durchgeführt habe. Herr Lichter ist Ergotherapeut einer allgemeinpsychiatrischen Station, Herr Ziegler arbeitet auf einer gerontopsychiatrischen Station. Einmal wöchentlich findet in beiden Ergotherapien die Kochgruppe statt, in Herrn Lichters Fall zudem eine wöchentliche Backgruppe. Die Räume sind mit rund 40m2 etwa gleich groß und bieten ähnlich vielfältige Betätigungsmöglichkeiten an. Während Herrn Lichters Ergotherapiewerkstatt allerdings außerhalb der Station gelegen ist und daher vom Stationsalltag abgetrennt und nur während der Ergotherapieeinheiten verwendet wird, liegt Herrn Zieglers Ergotherapieraum mitten in der Station und ist zudem nur durch eine Glaswand vom Stationsflur getrennt. Die Koch- beziehungsweise Backgruppe führt Herr Lichter an der Kochinsel im großen Aufenthaltsraum auf der Station durch, während es am Arbeitsort Herrn Zieglers diese Möglichkeit nicht gibt und im Ergotherapieraum gebacken wird.7 Die zwei Stationen können je rund zwanzig Nutzerinnen aufnehmen, sind für die stationäre (geronto-)psychiatrische Versorgung der Einwohnerinnen ihres jeweiligen Bezirks beziehungsweise Kreises verantwortlich. Beide sind Teile von Kliniken, die mehrere andere medizinische Fachbereiche sowie eine Rettungsstation beherbergen. Behandelt werden Menschen verschiedenen Geschlechts, Alters

7

Beziehungsweise alles hierfür vorbereitet, der eigentliche Backvorgang findet dann in einem, den Nutzerinnen unzugänglichen Raum hinter dem Mitarbeiterinnenzimmer statt.

14 | Alltagswerkstatt

und Gesundheitszustands (also von akuter Krise bis zur Entlassung), die aufgrund unterschiedlichster Diagnosen und Beschwerden stationär aufgenommen wurden. Die Allgemeinpsychiatrie Herrn Lichters behandelt mit der Ausnahme von vornehmlich Suchtkranken, für die es eine Spezialstation gibt, Menschen mit allen psychiatrischen Störungsbildern, unter anderem Depressionen, psychotische oder bipolare Störungen, Belastungsstörungen, Angst-, Persönlichkeits-, Ess- und Borderline-Störungen aber auch und häufig Nutzerinnen mit mehreren Diagnosen zugleich. Als gerontopsychiatrische Station ist der Arbeitsort Herrn Zieglers hingegen auf psychiatrische Erkrankungen des Alters spezialisiert, das heißt neben den oben genannten Störungen leidet ein Großteil der Nutzerinnen unter demenziellen Erkrankungen sowie zusätzlich unter anderen altersbedingten körperlichen Gebrechen. Obwohl »Alltagsbefähigungspraktiken« ein wichtiger Teil ergotherapeutischen Handelns sind, bilden sie nicht die Gesamtheit ergotherapeutischen Tuns ab. Nicht nur deshalb ist die vorliegende Arbeit keine Berufsethnografie der Ergotherapie. Auch lege ich den Fokus nicht auf allein auf die Ergotherapeutinnen oder ihre Perspektive auf ihre professionelle Praxis. Vielmehr bemühe ich mich um eine konsequente Praxisperspektive, die Behandelnde, Behandelte und dabei zum Einsatz kommenden Objekte in die Analyse miteinbezieht. In der Beforschung von Praktiken und soziomateriellen Arrangements in der Psychiatrie sind zwei Aspekte stets mitzudenken: Die behandelten Nutzerinnen sind aufgrund einer, in den meisten Fällen schwerwiegenden und akuten psychiatrischen Beeinträchtigung auf der Station. Durch diese vulnerable Lebenssituation ist der Datenschutz besonders relevant. Deshalb sind alle Namen und Orte pseudonymisiert beziehungsweise anonymisiert worden. Auch die Beschreibung des Umfelds verbleibt so vage wie möglich. Zudem habe ich in jeder Behandlungssituation erneut das mündliche Einverständnis aller Anwesenden eingeholt und mich während meiner teilnehmenden Beobachtung in Achtung der Rückzugsräume der Nutzerinnen fast durchgängig auf die therapeutischen Räume, das heißt die ergotherapeutische Werkstatt, begrenzt.8 Abgesehen von der Forschungspraxis spielt die spezifische aktuelle Situation einer Gruppe der Forschungspartnerinnen auch für die Datenanalyse selbst eine große Rolle. In der vorangestellten Sequenz über die Morgenrunde wirken viele der Nutzerinnen wenig aktiv, unmotiviert bis apathisch. In vielen Fällen wird der

8

Eine Ausnahme stellt die Beobachtung und Analyse der Koch- und Backgruppe, dem »Stützpunkts« in dem die Dokumentation stattfindet (159) sowie Interviews mit Nutzerinnen auf ihren Zimmern dar.

Einleitung | 15

Klinikaufenthalt für die Anpassung oder Ansetzung von Psychopharmaka verwendet. Die Nutzerinnen stehen deshalb im Gegensatz zu Herrn Lichter, mir und den anderen Mitarbeiterinnen, unter dem Einfluss starker und oft sedierender Medikamente.9 Auch aufgrund des spezifischen Feldzugangs über die jeweilige Klinikleitung ist die vorliegende Arbeit »sehr ergotherapeutisch«, da ich durch den engen Kontakt mit den Behandelnden und vielzähligen Kooperationen mit Ergotherapeutinnen und Forscherinnen aus den Occupational Science (vgl. 44) in der interdisziplinären Lehre und im Rahmen von Publikationen10 deutlich mehr über ergotherapeutische Perspektiven weiß als über die Sicht der Nutzerinnen. Auf diese For-

9

Würde die konkrete Morgenrunde die gesamtdeutsche Statistik abbilden, würde zudem rund jede zehnte Nutzerin dieser Morgenrunde nicht freiwillig Teil des Gesprächs sein, da sie »untergebracht nach PsychKG« sind, das heißt aufgrund einer gerichtlichen Anordnung, basierend auf dem Psychisch Kranken Gesetz, gegen ihren Willen stationär behandelt werden. Das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG, §15, Absatz 2) sieht vor, dass eine psychisch erkrankte Person nur gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik »untergebracht werden [kann], wenn und solange durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit oder für besonders bedeutende Rechtsgüter Dritter besteht und diese Gefahr nicht anders abgewendet werden kann.« Diese Zwangsunterbringung erfolgt stets zeitlich begrenzt und muss spätestens nach 24 Stunden gerichtlich angeordnet worden sein. (Berliner Vorschrifteninformationssystem 2016) Verlässliche Statistiken zur Anzahl der Unterbringungen nach PsychKG gibt es nach wie vor nicht, groben Schätzungen zufolge werden bundesweit an zwischen zwei und acht Prozent der psychiatrisch stationär behandelten Patientinnen Zwangsbehandlungen durchgeführt, Zwangsbehandlungen wie Fixierungen oder Isolierungen betreffen sogar etwa jede zehnte Nutzerin.(Vgl. Henking and Bruns 2015, 25)

10 Während meiner Arbeit an dieser Studie habe ich zwei interdisziplinäre Seminare, teilweise in Kooperation mit der Professorin für Ergotherapie Silke Dennhardt, in der Studentinnen der Ergotherapie, Physiotherapie und Europäischen Ethnologie zusammen (und vor allem untereinander kennen-)lernten, durchgeführt. Zudem habe ich durch Vorträge auf ergotherapeutisch-betätigungswissenschaftlichen Fachkonferenzen und einen Beitrag für ein ergotherapeutisches Methodenhandbuch immer wieder versucht, meine Zwischenergebnisse zurück in die Praxis und Forschung zurückzuführen und im Rahmen eines Artikels für ein Fachjournal mit zwei Occupational Scientists meine Forschung auch für ihre Disziplin versucht fruchtbar zu machen. (Mewes, Elliot, und Lee 2017, Perkhofer et al. 2016)

16 | Alltagswerkstatt

schungsperspektive, die nicht unbedingt der klassischen Fokussierung und Solidarisierung auf die vermeintlich Schwächeren oder Subalternen im Feld entspricht, werde ich im Folgenden noch eingehen. (Vgl. 57ff.) Die vorliegende Arbeit versteht sich zudem auch als Anstoß und Beitrag für eine weitere ergotherapeutisch-betätigungswissenschaftliche Theorienbildung, zu den nach wie vor nur selten in den Blick genommenen »Alltagsbefähigungspraktiken« der Ergotherapie in Deutschland. Das in den Praktiken verankerte und produzierte ergotherapeutische Alltagsverständnis, wie also Betätigung ›in den Alltag kommt‹ und sich in ihm verorten lässt, ist bisher »kaum expliziert« und »nach wie vor untertheoretisiert«. (Marotzki 2004, 76) Ethnografie, Praxeografie und ethnologische Alltagskonzepte stellen meines Erachtens sinnvolle Methoden und Perspektiven dar, um diese Forschungslücke zu verkleinern. Doch mindestens genauso viel kann die Europäische Ethnologie von den gelebten wie konzipierten Alltagen und »Alltagsbefähigungspraktiken« der (psychiatrischen) Ergotherapie lernen, verweisen sie doch auf die soziomateriellen Voraussetzungen von »Alltag« als Praxis und erweitern so den Blick auf »Alltag«, der allzu oft schlicht als gegebener und voraussetzungsloser Handlungsraum menschlichen Daseins konstruiert wird. (Vgl. 68ff.) Diese doppelte Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist vor allem meinem größten Anliegen geschuldet, dass beide Disziplinen, Occupational Science (vgl. 44) beziehungsweise Ergotherapie und Europäische Ethnologie, die über so ähnliche Fragestellungen nachdenken doch – zumindest im deutschsprachigen Raum bisher nur selten im Kontakt zueinander stehen – sich ihrer Ähnlichkeiten bewusst werden, um von diesen Gemeinsamkeiten, wie ihren Unterschieden (!), zu lernen und profitieren.

1.4 SPRACHE IST (BE-)HANDLUNG – SPRACHLICHE REGELUNGEN Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die zusätzliche Formulierung der männlichen Form verzichtet. Ich möchte deshalb ausdrücklich darauf hinweisen, dass die ausschließliche Verwendung der weiblichen Form explizit als geschlechtsunabhängig verstanden werden soll. Das generische Femininum scheint sich hinsichtlich des Forschungsfeldes zudem besonders zu eignen, da etwa 85 Prozent der behandelnden Ergotherapeutinnen in Deutschland Frauen* sind. Insbesondere in dermaßen von asymmetrischen Machtverhältnissen durchzogenen und Feldern wie der Psychiatrie ist Sprache beziehungsweise eine angemessene Bezeichnung auch insbesondere der Behandelten relevant. Die Debatte über

Einleitung | 17

die ethisch ›richtige‹ Bezeichnung für Menschen, die wegen (psychiatrischer) Krisen oder Erkrankungen in stationärer Behandlung sind, wird seit einigen Jahren vielfältig und teilweise erbittert geführt. Sollten die Behandelten als Patientinnen, Nutzerinnen, Kundinnen, Erfahrene, Betroffene, Kranke oder Expertinnen in eigener Sache angesprochen werden?11 (Kloiber 2000) In der ergotherapeutischen Fachliteratur hat sich die Bezeichnung »Klient« beziehungsweise »Klientin« (lat. CLIENS: Anhänger, Schützling, Vasall, Höriger) in den letzten Jahren zunehmend gegenüber dem des »Patienten« beziehungsweise der »Patientin« (lat. PATIENS: erduldend, ertragend) durchgesetzt. Als Grund wird hierfür ein therapeutisches Verständnis von den Behandelten als aktive Therapiepartnerin und nicht als passive Hilfeempfängerin genannt. Während die Bezeichnung »Klientin« einen Menschen bezeichne, »der die professionellen Dienste anderer in Anspruch nimmt« und das Recht habe »Informationen zu verlangen und seine Meinung frei zu äußern« würde der Begriff »Patientin« für jemanden stehen, der Hilfe sucht und dem gesagt wird, was er zu tun hat …, an dem gehandelt wird«. (Herzberg 1990, 35 in:Sumsion 2002, 35-36, Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 200) Auch für die, in ihrer Disziplin sehr angesehene, kanadische Betätigungswissenschaftlerin Elizabeth Townsend spricht sich klar gegen die Bezeichnung »Patient« oder »Patientin« aus: »To start with, we might refer to persons, clients, residents, members, or some other active designation rather than call people patients or cases. We can respect and invite people to participate as active agents in shaping their own lives, even when we think people are too young, old, naive, or incompetent. People surprise us.« (Townsend 1998, 170)

Die niederländische Medizinanthropologin Annemarie Mol stellt sich die Frage nach den Konsequenzen dieser Übertragung neoliberaler Konzepte in die Gesundheitsversorgung. Der Begriff »Klientin« suggeriere, dass Patientinnen ihre Versorgung wie jede andere handelsübliche Dienstleistung käuflich erwerben würden. (Vgl. Mol 2008, 14) Doch, so fragt Mol, profitieren Patientinnen wirklich davon, in Klientinnen verwandelt zu werden? (Vgl. ebda.) Klientinnen würden als aktiver

11 »Expertin in eigener Sache« ist eine besonders in der (psychiatrischen) Selbsthilfebewegung beliebte Bezeichnung. (Vgl. Mewes 2012)

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als Patientinnen wahrgenommen werden12, die über ihre Behandlung allein entscheiden und das diesbezügliche Angebot durch ihre Nachfrage kontrollieren. Ihre Nachfrage würde nicht hinterfragt, schließlich sei der »Kunde König«. Doch die Verantwortung zu tragen, kann eine Last sein, zumal in der Ausnahmesituation einer akuten Erkrankung. (Vgl. Mol 2008, 16) Mol plädiert daher für die Rückeroberung des Begriffs Patientin. Hierfür solle es eine Bewegung, den patientism, der dem Feminismus nicht unähnlich sei, bilden. Es ginge nicht darum, möglichst genauso zu sein oder behandelt zu werden, wie eine Gesunde (Klientin oder Bürgerin), sondern möglichst achtsam und gleichberechtigt. »While citizenship is a way of celebrating autonomy, patientism is about exploring ways of shaping a good life.« (Mol 2008, 41)

Im Feld selbst ist hingegen sowohl durch die Behandelnden als auch als Selbstbezeichnung der Behandelten die Bezeichnung »Patient« beziehungsweise »Patientin« weiterhin am gebräuchlichsten (vgl. Townsend 1998, 177). Die einzigen Personen, die in meiner Anwesenheit von »Klient« beziehungsweise »Klientin« sprachen, waren zwei sich noch in Ausbildung befindlichen Praktikantinnen. Deshalb werde ich, wenn es um die Bezeichnung im Feld oder die möglichst wortgetreue Wiedergabe in den Feldnotizen das Wort »Patientin« verwenden, für alle anderen Fälle entweder generell von Nutzerinnen (der stationären Versorgung) oder Teilnehmerinnen (des jeweiligen ergotherapeutischen Gruppenangebots) schreiben. Der Begriff »Nutzerin«, eine Übertragung des vor allem in Großbritannien verwendeten »service user« soll den emanzipativen Anspruch und meinen Wunsch an eine machtsensible und egalitäre Psychiatrie und psychiatrische Ergotherapie unterstreichen. Meines Erachtens verschiebt die Bezeichnung »Nutzerin« den Fokus auf die Nutzung eines sich sowohl sozial wie auch material konstituierenden Angebots, im Gegensatz zur alleinigen Unterstreichung der sozialen Beziehung zwischen Ergotherapeutinnen und Klientinnen. Ob die Verwendung des Begriffs angemessen ist, mag die Leserin nach dem empirischen Teil dieser Abhandlung selbst entscheiden. Im historischen Überblick habe ich die jeweils gängigen oder aus meiner Sicht passendsten Bezeichnungen der jeweiligen Epoche verwendet.

12 Laut der deutschen Soziologin Stefanie Duttweiler ist beiden Begriffen hingegen gemeinsam, »dass sie die in ihnen gemeinten Rollen als passivisch auszeichnen: erduldend, hörig, bedürftig.« (Duttweiler 2007, 121)

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1.5 ÜBERSICHT DER KAPITEL IM EINZELNEN Die vorliegende Praxeografie zu den »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie erscheint zu einer Zeit, in der sich das Berufsfeld (und mit ihm das aller nicht-ärztlichen Gesundheitsfachberufe) in Deutschland in einem wichtigen Umbruch befindet. Rund hundert Jahre nachdem mit der weltweit ersten institutionalisierten Ausbildung von Ergotherapeutinnen begonnen wurde13 und mehr als zehn Jahre nach dem Aufbau der ersten grundständigen Studiengänge 14 für Ergotherapie werden momentan deutschlandweit stetig neue Studienstandorte ins Leben gerufen. Um die Spezifik der Ergotherapie in der Psychiatrie besser verstehen zu können, ist es wichtig auf die doppelte Stellung des Fachbereichs zu verweisen. Denn obwohl sie, ähnlich wie in anderen Gesundheitsberufen sowie der Medizin nicht zu den attraktivsten Fachbereichen für (zukünftige) Arbeitnehmerinnen gehört15, liegen die historischen Wurzeln der Ergotherapie in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Zudem ist sie einer der größten Fachbereiche innerhalb der Ergotherapie und in fast jeder deutschen psychiatrischen Einrichtung sind Ergotherapeutinnen tätig. Deshalb scheint sich eine Ethno- beziehungsweise Praxeografie ergotherapeutischer »Alltagsbefähigungspraktiken« in der Psychiatrie besonders anzubieten.

13 In Jahr 2017 fanden daher vielzählige Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Ergotherapie statt, insbesondere in den USA, von denen diese Institutionalisierung der Ausbildung ausging. (American Occupational Therapy Association 2017) 14 Laut Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen des deutschen Wissenschaftsrats bestünde ein Bedarf von 10 bis 20 Prozent akademisch ausgebildeten Fachkräften in diesem Bereich. (Deutscher Wissenschaftsrat 2012) Der Hochschulverbund für Gesundheitsfachberufe kritisiert dies als zu niedrig. Im Jahr 2016 wurde die Modellphase zur Etablierung der Studiengänge von Bundestag und – rat dennoch entgegen jeder Kritik um weitere vier Jahre verlängert. (van Laak 2017) 15 Für die Ergotherapie liegen hierzu meines Wissens keine Studien vor, es handelt sich also um eine Einschätzung der hierzu befragten Ergotherapeutinnen. In einer Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem Jahr 2014 gaben nur 3,6 Prozent der befragten Medizinstudentinnen an, nach ihrem Studium in der Psychiatrie oder Psychotherapie tätig werden zu wollen. Der Fachbereich gehörte hiermit mit der Augenheilkunde sowie der Dermatologie zu den unbeliebtesten. Über 40 Prozent sagten sogar, dass die Psychiatrie und Psychotherapie für sie »definitiv nicht in Frage« käme. (Jacob, Kopp, und Schultz 2014, 36-37)

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(1) Nach der Einleitung werde ich (2) anhand von ausgesuchten Strömungen in der historischen Entwicklung der psychiatrischen Ergotherapie versuchen, die »Alltagsbefähigungspraktiken« und hierin implizierenden Alltagsvorstellungen in den jeweiligen Epochen sowie die Entwicklung zur heutigen Berufspraxis nachzuzeichnen. Trotz der Fokussierung auf die Entwicklung in Deutschland wird hierbei deutlich, dass die Skizzierung einer ›deutschen Ergotherapie‹ wenig sinnvoll ist, handelt es sich doch um ein seit jeher genuin internationales sowie interdisziplinäres Berufsfeld. Im historischen Abriss werde ich das aus Frankreich und Großbritannien stammende moral treatment, die ursprünglich britische arts-and-crafts-Bewegung sowie das US-amerikanische habit training als maßgebliche Meilensteine zur Entwicklung des Berufsfelds definieren. Zudem werde ich die parallelen Entwicklungen in der Medizin, die sogenannte aktivere Krankenbehandlung des Psychiaters Hermann Simons sowie die Institutionalisierung der Ergotherapie in Deutschland nach 1945 zusammenfassend beschreiben. Einen besonderen Fokus werde ich hierbei auf die jeweiligen gesellschaftlichen Vorzeichen der Epoche und die Auswirkungen auf die Vorstellungen von »Alltag« und daraus resultierende therapeutische Konzepte legen. Die von mir entwickelten Kategorien »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« werden in diesem Teil bereits als wesentlich für ergotherapeutischen »Alltag« herausgearbeitet. Erst aus der historischen Verlaufsskizze formuliere ich erste Ansätze für die zentralen Fragestellungen aus dem Feld selbst. (3) Im dritten Kapitel werde ich diese Fragestellungen mithilfe eines Blicks auf die Diskurse der Alltags- und Praxisforschung aus meiner eigenen und angrenzenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen weiterentwickeln. Die Möglichkeiten und Grenzen von »Alltag« und »Praxis« als Forschungskategorien soll das nach wie vor klaffende Forschungsdesiderat der weitgehend impliziten »Alltagsbefähigungspraktiken« verdeutlichen und die Frage aufwerfen, was es für »Alltag« bedeutet, wenn dieser als an Fähigkeiten gebunden verstanden wird. Was passiert also mit »Alltag«, wenn man ihn plötzlich können muss? Nach diesem methodisch-theoretischen Überblick über den Forschungsstand zu »Alltag« und »Alltagsbefähigungspraktiken« in beiden Fachrichtungen werde ich im letzten Unterkapitel die zentralen Fragestellungen dieser Studie weiter konkretisieren können. Die im historischen Abriss vorgestellten »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« werde ich in diesem Abschnitt als analytische Forschungskategorien weiter ausarbeiten. (4) Warum mir eine Annäherung an die Frage nach den »Alltagsbefähigungspraktiken« am besten mit einem systematischen Blick auf eben diese Praktiken gelingen könnte, soll im vierten Kapitel zur Praxeografie des »Alltags«, das heißt

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zum praxeografischen Forschungszustand erläutert werden und anhand von Beispielen bisheriger praxeografischer Studien aus der Wissenschafts- und Technikforschung dargelegt werden. Durch die Fokussierung auf die drei analytischen Kategorien ist eine sehr besondere Auswahl von ethnografischen Daten entstanden. Einerseits stellt sie meiner Ansicht nach eine durchaus exemplarische Auswahl dar. Andererseits sind es aber oft die problematischen oder unsicheren Situationen von Verhandlungen oder Missverständnissen, in denen sich die diese besonders gut herausarbeiten lassen. (5) Im fünften (und ersten empirischen) Kapitel beschäftige ich mich mit »Routinen« als zentrale analytische Kategorie zur Beforschung der »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie. Routinisierung, die zu Teilen in diesem Kontext mit zeitlich-räumlicher Normalisierung gleichgesetzt werden kann, ist ein zentraler Aspekt stationärer psychiatrischer Behandlungsansätze. Die Psychiatrie wird hierbei als Ort konzeptualisiert, der einerseits von sehr starken Restriktionen von Raum und Zeit und Bemühungen, die Nutzerinnen in Routinen zu synchronisieren, geprägt ist. Andererseits bietet sie aber auch andere Routinen an, als sie in den außerklinischen Privatalltagen der Nutzerinnen dominieren und in der Ergotherapie als Therapie mit größtem Alltagsbezug nur selten explizit zur Sprache gebracht werden. Darüber hinaus werde ich die Frage nach der grundsätzlichen Erlernbarkeit von Routinen, insbesondere während der kurzen durchschnittlichen Aufenthaltsdauer der Nutzerinnen auf der Station, stellen sowie das Problem der Übertragbarkeit von Routinen von der Klinik in den Privatalltag aufwerfen. Hierfür werden Routinen als strukturierende und entlastende Automatismen fördernde Praktiken verstanden, deren Verortung, Zeitlichkeit sowie Grenzen näher beleuchtet werden. (6) Das sechste Kapitel widmet sich der zweiten analytischen Forschungskategorie »Materialität«. Objekte sind für die Ergotherapie sowohl als Therapiemittel (Werkzeug) als auch Therapieziel (im Sinne eines Produkts) von zentraler Bedeutung. Ich werde daher versuchen, die Praktiken der »Alltagsbefähigung« in der psychiatrischen Ergotherapie aus den hierbei eingesetzten und hergestellten Objekten selbst heraus zu verstehen und hierbei möglichst detaillierten Beschreibungen und Analysen zu verwenden. Hierbei kann ich auf einen vielfältigen und fundierten ethnologisch-sozialanthropologischen Diskurs aufbauen, für den »Materialität« seit jeher einen wichtigen Forschungsgegenstand darstellt. Anhand möglichst repräsentativer Studienbeispiele aus der Sozialstatistik, klassischen volkskundlich-sozialanthropologischen und objektbiografischen Ansätzen und den Material Culture Studies sowie neueren materialen Ansätzen soll die Entwicklung der

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Objektforschung in den letzten Dekaden nachgezeichnet werden um die menschlichen und materiellen Praktiken der »Alltagsbefähigung« in meinem Feld zusammen denken zu können. (7) Zum Abschluss des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit werde ich mich im siebten Kapitel mit dem spezifischen Verständnis von »Produktivität« und dieser als analytische Kategorie zur Beforschung der Alltagsbefähigung in der Ergotherapie beschäftigen und hierbei Ergotherapie als therapeutische Praxis, die sich weder als care noch cure verorten lässt, definieren. Hierfür werde ich die Spezifik ergotherapeutischen tinkerings erläutern, die die Nutzerinnen durch soziomaterielle Improvisationen zu einem autonomeren Alltag führen soll und hierbei auf ein besonderes Alltagsverständnis und die damit assoziierte »Produktivität« und »Leistungsanforderung« verweisen. (8.1) Da die vorliegende Arbeit zwar zunächst und vorrangig eine europäischethnologische Studie ist und dementsprechend Ergebnisse zu einem besseren Verständnis der zu den soziomateriellen Voraussetzungen der »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie leiste möchte, werden die zentralen Ergebnisse im achten Kapitel erneut zusammenfassend diskutiert werden. Hierbei wird es unter anderem darum gehen, die analytischen Forschungskategorien »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« zusammenzudenken und die Möglichkeiten ausloten, ob diesbezügliche Aussagen und Ergebnisse in andere, nicht-psychiatrische oder nicht-klinische Kontexte zu treffen. (8.2) Aufgrund der engen Kooperation mit den behandelnden Ergotherapeutinnen im und um das Feld sowie der noch jungen Disziplin der Occupational Science beziehungsweise Betätigungswissenschaften hoffe ich, dass zudem ergotherapeutisch-betätigungswissenschaftliche Leserinnen auf diese Studie stoßen werden und auf ihre Weise von meinem ›fremden‹ Blick profitieren werden. Für sie habe ich die, aus meiner Perspektive, für die Praxis sowie weitere Theorienbildung besonders relevanten Ergebnisse in einem gesonderten Ergebnisteil zusammengestellt. Ein ›Leseverbot‹ der jeweiligen anders ›disziplinierten‹ Abschnitte besteht selbstverständlich nicht – schließlich habe ich trotz einigem und nicht nur anfänglichen disconcertment gegenüber den materialen und sozialen Praktiken in der psychiatrischen Ergotherapie doch zahlreiche, fruchtbare und hoffentlich in der Zukunft weiter auszubauende Schnittstellen und ›Gedankenbrücken‹ zwischen Europäischer Ethnologie und Ergotherapie sowie vor allem ihrer Bezugswissenschaft, der Occupational Science entdecken können. Beide Disziplinen treibt doch vor allem die Frage danach um, wie Menschen »Alltag« und »Praxis« machen– und andersherum.

2. Vorstellung des Felds und erste Fragestellungen

Um mich den »Alltagsbefähigungspraktiken« und hierin implizierenden Alltagsvorstellungen in der psychiatrischen Ergotherapie zu nähern, werde ich zunächst die historische Entwicklung der psychiatrischen Ergotherapie in Deutschland anhand ausgesuchter zentraler Strömungen – dem moral treatment, der arts-andcrafts-Bewegung, dem habit training sowie der Verbindungen mit den parallelen Entwicklungen in der Medizin, der aktiveren Krankenbehandlung Hermann Simons sowie der Institutionalisierung der deutschen Ergotherapie nach 1945 – skizzieren sowie daraus resultierende implizite Alltagsvorstellungen und Behandlungsansätze zur Befähigung zu »Alltag« diskutieren. Dieser Abschnitt soll unterstreichen, dass einerseits die zentrale Annahme einer gesundheitsfördernden Wirkung von Betätigung und Arbeit auf den Alltag von psychisch erkrankten Menschen grundsätzlich seit der Antike Bestand behalten hat. Andererseits haben die gesellschaftlichen Vorzeichen jeder Epoche Auswirkungen auf die Vorstellungen von »Alltag« und als notwendig erachteten »Alltagsfähigkeiten«. Diese wiederum haben die jeweiligen therapeutischen Zugänge in den unterschiedlichen »Perfomanzbereichen« der Ergotherapie maßgeblich beeinflusst. Mit »Perfomanzbereichen« sind die Betätigungsfelder gemeint, die durch die psychische Erkrankung der Betroffenen von sich oder anderen als defizitär beurteilt werden und im Rahmen der ergotherapeutischen Behandlung gefördert (aber auch eingefordert) werden. Diese werden in »Produktivität«, »Selbstversorgung« und »Freizeit« eingeteilt. Der Fokus der Ergotherapie richtet sich also auf alle Lebensbereiche, in denen »ein Individuum in einer bestimmten räumlich-kulturell sozialen Umwelt aktiv beteiligt ist und durch diese Betätigung in Interaktion mit anderen tritt.« (Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 197) Davon abweichend konzentriere ich mich auf die analytischen Praxiskategorien »Produktivität«, »Routinen« und »Materialität«, da sie für die »Alltagsbefähigungspraktiken« von besonderer Bedeutung zu sein scheinen.

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Im Anschluss werde ich aus den Überlegungen zur historischen Entwicklung der Profession abzuleitende erste Fragestellungen zu den »Alltagsbefähigungspraktiken« in der heutigen psychiatrischen Ergotherapie formulieren um diese in der folgenden theoretischen wie methodischen Einführung mit Hilfe ausgewählter sozialwissenschaftlicher Ansätze aus der Alltags- und Praxisforschung zu erweitern. (S. 57ff.) Auf Grundlage des Forschungsstands zum Konzept »Alltag« und »Alltagsbefähigungspraktiken« in beiden Feldern werde ich im letzten Unterkapitel die zentralen Fragestellungen dieser Studie heraus entwickeln.

2.1 HISTORISCHER ABRISS DER ERGOTHERAPIE IN DER PSYCHIATRIE 2.1.1 Forschungsstand zur Geschichte der deutschen Ergotherapie Die Entwicklung der Ergotherapie ist eng mit der Psychiatrie verbunden und lässt sich hinsichtlich ihrer Methoden in zwei grundsätzliche Strömungen unterteilen: Unter dem Einsatz kreativer, handwerklicher, lebenspraktischer und kognitiv übender Tätigkeiten soll einerseits die Gesamtpersönlichkeit der Behandelten gefördert werden, welches als »Beschäftigungstherapie« bezeichnet wird. Die Beteiligung und Förderung psychisch Kranker im Rahmen von Arbeitsverrichtungen und berufsmäßigen Tätigkeiten wird unter dem Namen »Arbeitstherapie« zusammengefasst. (Vgl. Kubny-Lüke 2009, 9) Diese doppelte Schwerpunktsetzung ist mit inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Profession und der Außenwahrnehmung des Berufsbildes verbunden. Obwohl sich beide Strömungen in der Praxis oft vermischen, in der Arbeit an den Nutzerinnen also Methoden aus arbeits- wie beschäftigungstherapeutischen Traditionen zum Einsatz kommen und die offizielle Berufsbezeichnung »Arbeits- und Beschäftigungstherapie« im Jahr 1999 zur »Ergotherapie« zusammengeführt wurde und nunmehr seit fast zwei Dekaden von einem Berufsverband vertreten wird, gibt es nach wie vor Stimmen, beide Strömungen als voneinander unabhängige Berufsbilder zu behandeln. (Vgl. Marotzki 2004, 76 Fußnote 34) Zudem war und ist die deutsche Ergotherapie geprägt von einem Spannungsfeld zwischen einem Selbstverständnis als eigenständiger, sich nur interdisziplinär zu verortender therapeutischer Fachberuf und der nach wie vor verbreiteten (Außen-)Wahrnehmung als ein der Medizin zuarbeitender, weitgehend adjuvanter Hilfsberuf ohne eigene theoretische Konzepte. (Vgl. Reuster 2006, 5) Der Kampf um diesbezügliche Deutungshoheit wird neben den aktuellen berufspolitischen

Vorstellung des Felds und erste Fragestellungen | 25

Debatten im Zuge der fortschreitenden Akademisierung auch im Rahmen der bisher erfolgten historischen Aufarbeitung zu den Wurzeln, der Entstehung und Entwicklung der Profession geführt, die ich im Folgenden kurz nachzeichnen werde. Bislang wurde zur Geschichte des jungen Berufsfelds im deutschsprachigen Raum vergleichsweise wenig publiziert. (Marotzki 2004, 14, Reuster 2006, 20) Einige Lehrbücher zur Ergotherapie, wie die des Orthopäden und ehemals wichtigen Fürsprechers der Arbeitstherapie in der Deutschen Demokratischen Republik, Wolfgang Presber1 und des Onkologen Wilfried de Nève (Presber und de Nève 1997) sowie das von Praktikerinnen mitunter als »Bibel der Ergotherapie« bezeichnete Lehrbuch der Ergotherapeutin und ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Verbands der Ergotherapeuten Clara Scheepers-Assmus und anderen (Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006) enthalten jedoch historische Abschnitte. Dies trifft auch für die drei, in den letzten Jahren erschienenen wissenschaftliche Monografien über die deutsche Ergotherapie der Ergotherapeutin und Psychologin Ulrike Marotzki, der Erziehungs- und Gesundheitswissenschaftlerin Ursula Walkenhorst sowie des Psychiaters Thomas Reuster zu. (Walkenhorst 2007, Reuster 2006, Marotzki 2004) Die einzige Monografie, die sich bisher ausschließlich mit der Geschichte der Ergotherapie in Deutschland auseinandersetzt, ist ein im Auftrag des Berufsverbands Deutscher Verband der Ergotherapeuten (DVE) entstandener Band des Geschäftsführers des Diakonie-Kollegs Hannover2 Manfred Marquardt, der sich schwerpunktmäßig mit den berufspolitischen Perspektiven auf die (bundesrepublikanische) Entwicklung des Berufes zwischen 1954 und 2004 beschäftigt. (Marquardt 2004) Ulrike Marotzki, die im Jahr 2001 auf die erste Professur für Ergotherapie an einer deutschen Hochschule berufen wurde3, begründet diese lückenhafte histori-

1

Wolfgang Presber war seit 1980 Leiter des Rehabilitationszentrums Berlin-Buch, dem zentralen Forschungsinstitut des Fachbereichs in der DDR. Presber gilt zudem als zentrale Figur in der Erarbeitung von Grundlagen für die Ausbildung von Arbeitstherapeuten in der DDR.

2

Das Stephansstift Diakonie-Kolleg Hannover ist eine Bildungseinrichtung für Fach-

3

Seit 2001 gibt es einen ersten deutschen sechssemestrigen dualen Bachelor-Studien-

kräfte der Sozial- und Gesundheitsberufe. gang für die Berufe Ergotherapie/Physiotherapie und Logopädie an der Fachhochschule Hildesheim. Im Folgenden kamen weitere Studienangebote an der FH Osnabrück (2001) und Alice-Salomon-Hochschule in Berlin (2004) hinzu. (Marquardt 2004, 179180)

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sche Aufarbeitung damit, dass »die bisherige deutschen Ausbildung an Berufsfachschulen und die starke Praxisorientierung des Berufes […] für eine kritische und über historische Fakten hinausgehende reflexive Auseinandersetzung mit dem Beruf keinen Raum« gelassen habe. (Marotzki 2004, 15) In einem Abschnitt ihrer Monografie »Zwischen medizinischer Diagnose und Lebensweltorientierung – Eine Studie zum professionellen Arbeiten in der Ergotherapie« stellt sie diesen Chronologien eine sprachlich wie argumentativ präzise Analyse der Entwicklung ergotherapeutischer Therapiekonzeptionen entgegen, die »als Resultat eines geschichtlichen und geografischen Wanderungsprozesses einer Berufsidee zu verstehen sind.« (Marotzki 2004, 15) Im Gegensatz zu anderen, oft lokal gedachten bis deutschtümelnden Schriften, versteht sie die Ergotherapie als eine Disziplin, die durch zahlreiche Einflüsse aus der Medizin, der Gesellschaft und Kunst interdisziplinär sowie eine, oft durch einzelne Praktikerinnen vorangetriebene, internationale Ausrichtung geprägt sei. Diese vielfältigen Beeinflussungen standen in konstanter Wechselwirkung mit den therapeutischen Zielen und Praktiken, welche einen Einblick auf die jeweilig abzuleitenden impliziten Alltagskonzeptionen beziehungsweise als hierfür notwendig erachteten »Alltagsfähigkeiten« der Epoche zulässt. Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf die Entwicklung und den weiteren Verlauf der Forschungskategorien »Produktivität«, »Handwerk/Materialität« und »Routinen« und ihren impliziten Vorstellungen von »Alltag«, welches sowohl der Konkretisierung der Fragestellungen dienen soll als auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit den empirischen Daten zu den »Alltagsbefähigungspraktiken« ermöglicht. 2.1.2 Moral treatment – Produktivität als therapeutisches Mittel Die Idee, dass von der Anwendung der Beschäftigung und Arbeit als Behandlung von Kranken und Behinderten therapeutischer Nutzen hervorgeht, fand bereits in der Antike Verbreitung (Presber und de Nève 1997, 2, Marotzki 2004, 16). Von einer systematischen Auseinandersetzung und Ableitung therapeutischer Behandlungskonzepte kann aber erst deutlich später, im Rahmen des sogenannten moral treatments beziehungsweise der Moralischen Behandlung ausgegangen werden. (Vgl. ebda. Kielhofner 2009, 17) Im ausgehenden 18. Jahrhundert und beginnenden 19. Jahrhundert setzten sich u.a. die Mediziner4 Philippe Pinel (1745-1826) in

4

In dieser Zeit kann von ausschließlich männlichen Vertretern der akademischen Medizin ausgegangen werden.

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Frankreich und John Conolly (1794-1866) in England als psychiatrische Anstaltsleiter für die Beschäftigung beziehungsweise Arbeitstätigkeit der Insassinnen5 ein. Ihre zentralen Forderungen waren von den religiösen Überzeugungen der englischen Quäkerbewegung beeinflusst und sahen die Abschaffung von Zwangsbehandlungen und die Verbesserung der Lebensumstände der bisher oft mangelernährten und meist kontinuierlich angeketteten und in großen dunklen Räumen vegetierenden Insassinnen vor. (Vgl. Presber und de Nève 1997, 2, Reuster 2006, 22, Laws 2011, 3) Die humanistisch geprägte Moral-Treatment-Bewegung verband die Idee eines von Zwangsmitteln und körperlicher Züchtigung freien, auf Achtung beruhenden Umgang mit den Insassinnen von Irrenanstalten mit einem neuen medizinisch-psychiatrischen Verständnis von ›Irrsinn‹ oder ›Wahnsinn‹ als ein moralischer beziehungsweise charakterlicher und hiermit durch die ›richtige‹ Lebensführung und Produktivität beeinflussbare Störung der Seele. (Vgl. Kielhofner 2009, 17) Die Bewegung fand Verbreitung in Europa wie Nordamerika (vgl. Kielhofner 2009, 17) wird weitestgehend unisono als der zentrale historische Vorläufer der Profession der Ergotherapie (in Deutschland) beschrieben (vgl. Presber and de Nève 1997, 2, Reuster 2006, 22, Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 11, Walkenhorst 2007, 57). Das moral treatment markierte den Bruch mit dem vorrangigen Ziel der Verwahrung psychisch Kranker zur systematischen psychosozialen Versorgung. In etwa zeitgleich entstanden in mehreren europäischen Orten kleinere, meist familien- oder gemeindebetriebene Einrichtungen in ländlicher Umgebung, die Lebensverhältnisse boten, die im krassen Gegensatz zu den sonst verbreiteten, Gefängnissen nicht unähnlichen Großanstalten standen. (Vgl. Laws 2011, 3) So wurden im Rahmen der Bewegung, wie Ursula Walkenhorst es zusammenfasst, »erste Zusammenhänge zwischen Handlungen / Betätigungen und Gesundheit gesehen und in therapeutische Aktivitäten umgesetzt.« (Walkenhorst 2007, 57) Ulrike Marotzki konstatiert dass »Arbeit als Mittel der Therapie einerseits von krankhaften Ideen ablenken, andererseits die vorhandenen Energien in gesunde und sozial akzeptierte Bahnen lenken« sollte. (Marotzki 2004, 18) Der Begründer des moral treatments in Frankreich beschrieb »die streng durchgeführte mechanische Arbeit« als das »sicherste Mittel zur Erhaltung der Gesundheit, der Ordnung und der guten Sitten« in den Anstalten. (Pinel, zit. nach Harlfinger 1964 zitiert nach Reuster 2006, 24) Die Insassinnen wurden in Arbeiten des Anstaltsablaufs wie Gartenarbeiten oder das Kochen eingebunden, mancherorts

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Aufgrund der menschenunwürdigen Lebensumstände in den Anstalten dieser und darauffolgender Epochen erscheint mir die Terminologie »Insassinnen« hier treffender als die der »Patientinnen«.

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wurden umliegende Felder gepachtet, deren Bewirtschaftung zur Versorgung von Insassinnen wie dem Personal beitrug. (Vgl. Reuster 2006, 24) Der therapeutische Einsatz von Arbeit und deren weitgehende Gleichsetzung mit Produktivität und »Alltagsfähigkeit« war von Anfang an von Ambivalenzen geprägt: Im moral treatment wirkten die humanistischen Werte zur Achtung der Menschenwürde und normativ geprägten Vorstellungen einer sozial akzeptierten Lebensführung und ein damit verbundener Produktivitäts- und Leistungsanspruch zugleich. Zwischen im Wortsinn niedergelegten Ketten und durch die erwerbsarbeitsähnlichen Betätigungen und hiermit einhergehenden neu gewonnenen Handlungsspielräume und Möglichkeiten zur Partizipation für die Insassinnen innerhalb der Anstalt einerseits und der Forderung nach verwertbarer Arbeitskraft und Anpassungsleitung des Einzelnen an die Gemeinschaft andererseits. Die arbeitsund beschäftigungstherapeutischen Ansätze im Rahmen des moral treatments wird daher die Rolle eines ergotherapeutischen Prä-Paradigmas im Kuhn´schen Sinne gewertet und gilt bis heute als sehr einflussreiche Vorgängerin der Ergotherapie, verlor allerdings aufgrund des rasanten Wachstums der Asyle zu Großkrankenhäusern mit meist über 1000 Betten, Personal- und Materialmangel im praktischen Behandlungsalltag zunehmend an Bedeutung. (Vgl. Kielhofner 2009, 17) Das moral treatment verband zusammenfassend die Betonung auf Rationalität (als Erbe der Aufklärung), der aufblühenden kapitalistischen Logik des Eigeninteresses sowie der durch Prüderie und Selbstkontrolle geformten religiösen Ethik der Quäkerbewegung. Psychisch Kranke sollten diesem Verständnis nach als rationale Wesen behandelt werden und dazu aufgefordert werden, sich dementsprechend zu verhalten um ihre Erkrankung durch die Verhaltensänderung und gesteigerte Selbstdisziplin zu heilen. (Vgl. Laws 2011, 3)

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2.1.3 Arts-and-crafts-Bewegung – Materialität als therapeutisches Mittel Als relevante Vorläuferin der Ergotherapie wird die arts-and-crafts-Bewegung von deutschsprachigen Autorinnen bisher weitgehend ausgespart, obwohl sie, wie es von Marotzki herausgearbeitet wurde6, Mitte des 19. Jahrhunderts von Großbritannien ausgehend, in der ersten Professionalisierungsphase des Berufes in den Vereinigten Staaten von Amerika großen Anklang fand und wesentliche Ursache für die Aufnahme des Kunsthandwerks in das Methodenrepertoire der Ergotherapie war. (Marotzki 2004, 23) Der britische Kunsthistoriker und Sozialphilosoph John Ruskin (1819-1900), der an der Universität Oxford lehrte, gilt als Mitbegründer und wichtigster Theoretiker der arts-and-crafts-Bewegung. Der Schwerpunkt seiner Forschung lag in der Verbindung zwischen künstlerischer Formgebung in Malerei und Architektur und den sozialen Kontexten ihrer Entstehung. Als entschiedener Gegner der Industrialisierung und den Folgen von monotoner Fabrikarbeit für die Arbeiterinnen wurde er auf Basis der aus den von ihm analysierten Werken abgeleiteten Bedürfnisse der jeweiligen Gesellschaft sowie der Notwendigkeit sozialer Reformen zum wichtigen Impulsgeber. Er und seine Mitstreiterinnen versammelte Designerinnen, Architektinnen und Kunsthandwerkerinnen in Gesprächszirkeln. Zunächst ohne karitativen Aspekt entstanden daraus in den Vereinigten Staaten von Amerika zwischen 1895 und 1907 25 arts-and-crafts-Gesellschaften, die sich mit der Produktion individueller und ästhetisch ansprechender Güter mittels traditioneller handwerklicher Methoden in eigens hierfür organisierten Workshops beschäftigten. Die Bewegung hob traditionelle Produktions- und Lebensformen als Mittel zur menschlichen Selbstverwirklichung hervor und maß der ›authentischen Erfahrung‹ im direkten Kontakt mit hochwertigen Materialien und dem Herstellungsprozess mit möglichst einfachen Werkzeugen einen besonderen Wert zu. Aus diesen gutbürgerlichen Kreisen gingen sozial und karitativ Engagierte dazu über, die Ideen der Bewegung in eigene Angebote für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sowie kranke und behinderte Personen zu übertragen. (Vgl. Marotzki 2004, 23ff.)

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Der folgende Abschnitt zur Berufsentwicklung in den USA und England basiert vorrangig auf Marotzkis Monografie, da sie die einzige, mir bekannte Autorin ist, die diese Strömungen mit der Entwicklung der Profession in Deutschland in Bezug setzt. Auch in den anderen Abschnitten lässt sich die anteilig sehr hohe Bezugnahme auf die Autorin mit dem Fehlen anderer Quellen oder größerer Mängeln anderer Aufarbeitungsversuche begründen.

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Die Forderung nach Beschäftigung und Betätigung zur Milderung (psychischer) Leiden (oder sozialer Ausgrenzung) wird erstmalig um den Aspekt der heilenden Wirkung der haptischen Auseinandersetzung mit Materialien und dem kreativen Prozess der Herstellung von künstlerisch ansprechenden und nach Qualität und Handhabung ausgesuchten Objekten sowie eine arbeitspolitische Zielsetzung gegen die negativ beeinträchtigenden Aspekte monotoner und leistungsorientierter Lohnarbeit ergänzt. »Alltag« und »Alltagsfähigkeit« wurden nicht mehr mit einer Anpassung an die produktive Leistungsfähigkeit im Bereich der Erwerbsarbeit gleichgesetzt. Neben einer Stärkung des traditionellen Handwerks und einer Aufwertung der Tätigkeit durch die Verarbeitung qualitativ hochwertigerer Materialien und durchdachter Formgebung im Vergleich zu industriell hergestellten Produkten, stellte das Erlernen eines zur Kunst erhobenen traditionellen Handwerks auch eine Qualifizierung und mögliche zukünftige Einnahmequelle auf dem Arbeitsmarkt dar, zugleich aber eine angestrebte Anpassung an den vom Klassenhabitus der Philanthropinnen der arts-and-crafts-Bewegung geprägten ästhetischen Empfinden. Man versprach sich eine heilsame Wirkung vom Umgang mit den Ansprüchen der Behandelnden genügenden Materialien, die die manuelle Herstellung von Objekten generell beziehungsweise das (im Zuge der arts-andcrafts-Bewegung sozialromantisch verklärte) Kunsthandwerk im Speziellen zum Therapeutikum erklärte. Die arts-and-crafts-Bewegung war eine entscheidende Impulsgeberin für den weiteren Einsatz des Kunsthandwerks als therapeutisches Mittel in der Ergotherapie, der nach wie vor verbreitet ist und verweist zudem auf die hohe Relevanz der eingesetzten Therapiemittel als eingesetztes Mittel und Ziel der Ergotherapie. (Townsend, Polatajko, und Canadian Association of Occupational Therapists 2013, 175) Innerhalb der Anstaltspsychiatrie mussten die Vertreterinnen der arts-andcrafts-Bewegung sowohl in Nordamerika als auch Europa gegen die erneut in Mode gekommene Behandlung durch ganztägige Bettenruhe, im Rahmen derer sich selbst gegen die ›Arbeit‹ des Aufsetzens ihrer (vornehmlich weiblichen) Patientinnen ausgesprochen wurde, entgegenwirken. Die Gegnerinnen dieser ›Erholungskur‹ argumentierten, dass es nicht, wie angenommen die Arbeit selbst, sondern schlechte Arbeitsbedingungen waren, die psychische Erkrankungen begünstigten. Durch die Rückkehr zu traditionellem Handwerk wie der Korbflechterei oder der Keramik sollte auch die Arbeitsethik der Patientinnen gerettet werden, »both from the degrading practices of factory work and from the quiet despotism of bed-rest and, in doing so, to rescue the soul of the patient«. (Vgl. Laws 2011, 6)

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2.1.4 Habit training – Routinen als therapeutisches Mittel Das auf dem Prinzip der Ablenkung und Abwechslung gründende Konzepts des habit trainings wurde seit 1906 in ersten Kursen von der US-amerikanischen Sozialreformerin Julia Lathrop und dem Rabbi Emil Hirsch an der Chicago School of Civics and Philantropy im US-amerikanischen Chicago (Illinois) an psychiatrisches Klinikpflegepersonal vermittelt. (Vgl. Marotzki 2004, 31) Diese Weiterbildungen sind laut Marotzki als Antwort auf die menschenunwürdigen Umstände, die ihnen in psychiatrischen Anstalten bei einer Reise durch mehrere USStaaten begegnet waren, zu verstehen. (Friedland 2011, 26, Marotzki 2004, 31)7 Das habit training stützte sich ihr zufolge auf der Annahme, dass die Gesundheit der Patientinnen durch deren körperliche wie mentale Einbindung in einen »Rhythmus nützlicher, sinnvoller und entspannender Betätigung positiv zu beeinflussen ist.« (Marotzki 2004, 33) Es zielte auf die Wiederherstellung von Gewohnheiten beziehungsweise Routinen ab, schreibt Marotzki weiter, »die als die Voraussetzung für die Erfüllung gesellschaftlicher Anpassungserfordernisse einer Industriegesellschaft gesehen« wurden. (Marotzki 2004, 70) Mit Gewohnheiten waren in ihrer Lesart ein »gepflegtes Äußeres, die Einhaltung von Zeitvorgaben, die Einpassung in einem arbeitsteiligen Prozess und die für ein durch Arbeit geprägtes Leben angemessene Erholung« gemeint. (Ebda.) Krankheit wurde, ähnlich wie im Rahmen des moral treatments, gleichgesetzt mit der Unfähigkeit die geforderten Anpassungsleistungen an die gesellschaftliche Ordnung zu vollbringen, allerdings um zielgerichtete therapeutische Bemühungen zur Routinisierung, das heißt vor allem zeitlich getakteten, von Wiederholung geprägten Tagesstrukturierung der Patientinnenalltage ergänzt. (Vgl. ebda.) Erneut wurde die erwartete Anpassungsleistung auf die Patientinnen übertragen und ein normgerechtes Verhalten mit psychischer Gesundheit gleichgesetzt. Dennoch wurde im Rahmen des habit trainings erstmals, resümiert Marotzki »die individuelle Handlungsfähigkeit in den Blick« genommen (Marotzki 2004, 70). Diese »Handlungsfähigkeit im Alltag« wurde weitgehend mit der routinierten Ausübung von Betätigungen im Haushalt und Beruf gleichgesetzt und fokussierte stark auf den zeitlichen Aspekt (von außen) getakteter Tätigkeiten, das heißt den Routinen von »Alltag«.

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Die Datierung des Beginns des Berufsbildes der Ergotherapie erfolgt in den Quellen unterschiedlich. Presber und de Nève datieren die erste ergotherapeutische Ausbildung in Anlehnung an die o.g. Weiterbildungskurse bereits auf das Jahr 1906. (Vgl. Presber und de Nève 1997, 3)

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Der US-Schweizer Adolf Meyer8, zu seiner Zeit einer der bedeutendsten Vertreter der noch jungen nordamerikanischen Psychiatrie und wichtiger erster Theoretiker der Ergotherapie, stellte 1922 das erste strukturierte Modell der Ergotherapie vor. (Jerosch-Herold et al. 2013, 1, Kielhofner 2009, 19) Seine »Philosophy of Occupational Therapy« (1922) vermutete in der falschen oder fehlenden Nutzung von Zeit die Hauptursache für die Entstehung und Bestand psychiatrischer Erkrankungen und hob die zentrale Rolle von Anpassung an einen gesunden Rhythmus, von Betätigungen und »[t]he proper use of time in some helpful and gratifying activity« für die Verbesserung des Gesundheitszustandes hervor (Meyer 1922 [1977], 639). Der Wert von Arbeit und Betätigung liege Meyer zufolge in ihrer Fähigkeit, eine Zeitstruktur und die »natürliche Ordnung« täglich wiederkehrender Aktivitäten vorzugeben und Menschen die Möglichkeit zu geben, Interessen und Fähigkeiten zu entwickeln und Selbstbestätigung durch Betätigung und Leistung zu erhalten. (Vgl. Christiansen 2007, 70) Menschen seien kurzgefasst schlicht »occupational beings«, die ihre Körper und Seelen durch Betätigungen positiv wie negativ beeinflussen könnten und deren Gesundheitszustand eng verbunden mit ihren täglichen Routinen und der zeitlichen Organisation ihres Alltags sei. Routinen kontrollierten den Rhythmus und das Gleichgewicht des Lebens, würden aber zugleich erst in ihrer Durchführung stabilisiert. (Kielhofner 2009, 18) Patientinnen sollten daher in der Klinik mittels eines geordneten Tagesablaufs und einem Gleichgewicht aus Arbeit und Spiel, Ruhe und Schlaf wieder zu einem gesunden Lebensrhythmus finden und durch (leichte) körperliche Betätigung und Bestätigung durch die Herstellung eines Produkts positiv auf ihren Krankheitsverlauf einwirken. (Vgl. Meyer 1922 [1977], 641) In der Klinik galt die Anpassung

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Adolf Meyer wurde 1908 einer der ersten Professoren des erst zur letzten Jahrhundertwende aufkommenden medizinischen Fachgebiets der Psychiatrie in Nordamerika überhaupt und 1908 der erste Lehrstuhlinhaber der Psychiatrie an der John Hopkins Universität in Baltimore (Maryland, USA) (Christiansen 2007, 63). Ab 1913 leitete er die neue eröffnete Henry Phipps Psychiatric Clinic. Bis heute gilt Meyer als wichtige Gründungsfigur für die US-amerikanische Psychiatrie wie Occupational Therapy. Zur engen Verzahnung Meyers mit der Geschichte der Klinik und der Bedeutung beider für die Entwicklung der Disziplin. (Vgl. Lamb 2014) Die von ihm begründete Ergasiologie beziehungsweise Psychobiologie betont die Untrennbarkeit von physischer und psychischer Gesundheit. Besonderer Bedeutung wurde der »ergasias«, das heißt allen Betätigungen, der Patientinnen zugeschrieben, die sowohl zu Diagnose- als auch Therapiezwecken unter ständiger medizinischer Beobachtung standen und in der Klinik den Alltag entscheidend strukturierte. (Christiansen 2007, 65)

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der Patientinnen an die engmaschig durch eine Vielzahl von Aktivitäten strukturierte Klinikroutine als zentrale therapeutische Intervention. Im »occupation department«, einer, heutigen ergotherapeutischen Werkstätten nicht unähnlichen Bereich in der Klinik, gab es nach Geschlechtern getrennte Therapieeinheiten, in denen die Patientinnen auf Verschreibung gestalterisch-handwerklichen Betätigungen wie der Arbeit mit Ton, dem Zeichnen oder Malen, dem Buchbinden, Nähen oder der Lederbearbeitung und dem Korbflechten nachgingen. Für Meyer war Handwerk hier ein Werkzeug der Impulskontrolle und der erwarteten Zufriedenheit bei Fertigstellung eines Produkts dar, die die Anpassung der Patientinnen an den Klinikrhythmus im besonderen Maße förderte. (Vgl. Lamb 2014, 170) Hierbei wurde anhand des Umgangs mit den Materialien und den Fähigkeiten und der Ausdauer im Arbeitsprozess der aktuelle Gesundheitszustand abgeleitet. (Christiansen 2007, 72) Alle im Klinikalltag anstehenden Betätigungen, vom (eigenständigen) Anziehen bis zur Herstellung eines Korbes, verfolgten hierbei eine therapeutische Funktion: Bereitgestellte Aktivitäten boten den Patientinnen die Möglichkeiten, durch und mit körperlichen Betätigungen psychobiologische Anpassungsleistungen zu vollbringen und so ihre seelischen Beschwerden zu mindern. Betätigung war laut seiner Biografin Susan Lamb für Adolf Meyer stets darauf ausgerichtet, die Patientinnen von Versuchungen jeglicher Art abzulenken und nicht voll ausgelastete Betätigungsressourcen zu erkennen und auszuschöpfen. (Vgl. Lamb 2014, 172) Die noch junge Disziplin der Occupational Therapy verstand sich bereits damals vorrangig als Bereitstellerin einer Umgebung, in der die Patientinnen selbst an ihrer Gesundheit arbeiten könnten: »Occupational therapy was viewed as a carefully structured environment in which people could explore potentials and learn about effective and satisfying ways to participate in everyday life.« (Kielhofner 2009, 24)

2.1.5 Institutionalisierung der Occupational Therapy Eine institutionalisierte Form der ergotherapeutischen Ausbildung etablierte sich einige Jahre später ebenfalls in Chicago. Im Jahr 1917 wurde dort der erste Berufsverband weltweit, die Society for the Promotion of Occupational Therapy gegründet (1921 umbenannt in American Occupational Therapy Association).9

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Bereits zwei Jahre zuvor, im Jahr 1915, wurden erste regelmäßige Weiterbildungskurse, die sich vornehmlich an Krankenpflegerinnen und Sozialarbeiterinnen richteten, an der hierfür eingerichteten Henry B. Pavill School of Occupations in Kooperation mit der

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Die Begründerinnen der US-amerikanischen Occupational Therapy waren Angehörige unterschiedlichster Professionen, unter ihnen befanden sich Sozialarbeiterinnen, Krankenpflegerinnen, Handwerkslehrerinnen, Ärztinnen und Architektinnen. Trotz dieser vielfältigen professionellen Hintergründe und hierdurch zu begründenden starken Orientierung an den sozialen Kontexten, in denen ihre Patientinnen lebten, bei der Ausrichtung und Ausgestaltung ihrer therapeutischen Angebote, hebt Marotzki hervor, dass sich die Ergotherapie stets im Umfeld und in mehr oder weniger starker Verzahnung zur medizinischen Behandlung entwickelte. Die Medizin stellt daher einen wichtigen Einflussfaktor für die Gestaltung und Verbreitung ergotherapeutischer Behandlungsansätze dar. Zugleich war (und ist) diese enge Zusammenarbeit zwischen Medizin und Ergotherapie an den Patientinnen beziehungsweise Nutzerinnen durch eine hochgradig ambivalente Beziehung geprägt, dies- wie jenseits des Atlantiks. Diese Ambivalenz verstärkte sich in Marotzkis Lesart im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, als sich die Medizin vornehmlich der »Untersuchung und exakten Beschreibung isolierbarer kausaler Ursache-Wirkungszusammenhänge widmete und zunehmend einen bio-medizinischen Fokus einnahm.« (Zit. n. Marotzki 2004, 28, vgl. Kielhofner und Burke 1977). Seit den 1930er Jahren begann sich die Occupational Therapy in den USA zunächst verstärkt an den Methoden und Fachdisziplinen in der Medizin zu orientieren, da die große Anzahl von Kriegsinvalidinnen des Ersten Weltkriegs den Behandlungsbedarf rehabilitativer Ausrichtung erhöhte. (Vgl. Marotzki 2004, 35)10 Mit dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1917 wurden zunächst sechs, wenig später 200 zusätzliche ergotherapeutisch ausgebildete Kräfte als reconstruction aides in europäische Militärhospitäler versandt. (Vgl. ebda) Die vorrangig von Frauen ausgeübte Ergotherapie wurde primär durch männliche Ärzte delegiert ausgeführt. So wurden beispielswese Bildmaterial durch die (kriegstraumatisierten) Patientinnen hergestellt, welches dann von analytisch ausgebildeten Ärzten gedeutet wurde. (Marotzki 2004, 36) Zur gleichen Zeit konzentrierte sich, wie Marotzki es betont, die berufsinterne Spezialisierung auf die »wiederherzustellende Funktion motori-

Chicago School of Civics and Philanthropy durchgeführt. Diese Kurse waren vorrangig auf die Therapie psychiatrisch erkrankter Patientinnen ausgerichtet. (Loomis 1992) 10 Diese Ausrichtung als medizinischer Hilfsberuf wird auch durch die Akkreditierungsanstrengungen der drei zu diesem Zeitpunkt bestehenden ergotherapeutischen Ausbildungsstätte durch die American Medical Association verdeutlicht. (Vgl. Dunton, 1947 in Marotzki 2004, 36)

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scher, sensorischer, perzeptiver, emotionaler und kognitiver Art« der Patientinnen, zielte auf die Körperfunktions- und -strukturebene ab während die ablenkende Wirkung von Betätigung sowie der Einbezug des Alltags der Behandelten in den Hintergrund rückte. (Marotzki 2004, 36-37) Handwerklichen Techniken wurden, »wegen ihrer vielseitigen variierbaren und ausbaubaren Arbeitsvollzügen und der Adaptierbarkeit der Mittel, Werkzeuge und Rahmenbedingungen«, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. (Marotzki 2004, 42) Zur linear steigerbaren physischen oder psychischen Dosierung beziehungsweise Anforderung im Rahmen der Rehabilitation wurden unter anderem Handarbeiten, Stricken, Teppich-Knüpfen, Weben, Flechten sowie Lederarbeiten eingesetzt. (Vgl. Marotzki 2004, 40) Die dem habit training nachfolgenden und verstärkt theoriengeleiteten Ansätze zum »funktionellen Einsatz des Handwerks und anderer Betätigungen« sowie »funktionell orientierte therapeutische Konzepte« lassen sich laut Marotzki grundsätzlich als eine Funktionalisierung von Betätigung erster und zweiter Ordnung lesen. (Vgl. Marotzki 2004, 71ff.) Der oben beschriebene Einsatz von vorrangig handwerklichen Betätigungen sollte der »gezielten direkten Funktionsförderung« dienen, zielte also auf einzelne Funktionen wie die Fingerfertigkeit oder Konzentration zur Durchführung einer Tätigkeit ab und entspricht der ersten Ordnung. (Vgl, Marotzki 2004, 74) Die Funktionalisierung der zweiten Ordnung arbeitete theoriengeleiteter und nahm unter Berücksichtigung ergotherapeutischer Modelle die jeweilige medizinische Diagnose zum Ausgangspunkt um die individuelle Funktionsstörung zu behandeln (Vgl. Ebda.). Erste vergleichbare institutionalisierte, ergotherapeutische Ausbildungslehrgänge in Europa entstanden in den 1930er Jahren in Bristol (1930) sowie Kopenhagen (1935). Die Waliserin Elisabeth Casson hatte 1919 als erste Frau an der University of Bristol das Studium der Medizin abgeschlossen und war danach in einer psychiatrischen Anstalt als Psychiaterin tätig. Nach ihrem Besuch der Schulen für Ergotherapie in Chicago und Boston (Gründung 1918, heute Teil der Tufts University) beschloss Casson, das Konzept nach England zu übertragen und gründete im Jahr 1930 in starker konzeptioneller Anlehnung an die amerikanischen Vorbilder die Dorset House School of Occupational Therapy im englischen Bristol.11 In Kopenhagen wurde um 1935 eine erste Schule für Ergotherapie gegründet; 1938 entstand der dänische Berufsverband.12 Zusammenfassend lässt sich die Ergotherapie für die Zeit der Institutionalisierung als seit jeher stark interdisziplinär,

11 (Vgl. Elizabeth Casson Trust 2017) 12 Der dänische Ergotherapeutinnenverband datiert die Schulgründung nicht, sondern gibt nur ihr Gründungsjahr 1938 an. (Ergoterapeut Foreningen Danmark 2017) Bei

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karitativ ausgerichtete und sozialpolitisch informierte und agierende als auch international vernetzte und mehrheitlich von Frauen etablierte und eng mit feministischen Ideen verbundene Disziplin skizzieren. (Kelly 1996) 2.1.6 Der deutsche Sonderfall – Arbeitstherapie bis 1945 Obwohl arbeits- und beschäftigungstherapeutische Ansätze bereits seit dem 18. und 19. Jahrhundert auch in deutschen ›Irrenanstalten‹ Verwendung fanden und während des 1. Weltkrieges insbesondere auf die erneute »Arbeits- und Frontfähigkeit« der behandelten Soldaten hingewirkt hatte (Ankele 2015, 11), erhielt die Krankenarbeit beziehungsweise Arbeitstherapie erst in den 1920er Jahren durch den deutschen Psychiater Hermann Simon (1867-1947) mit seinem Konzept der »aktiveren Krankenbehandlung« eine wissenschaftliche Grundlage. 13 Simon wird daher teilweise nach wie vor als der »Vater der Ergotherapie« (in Deutschland) konstruiert. (Reuster 2006, 26, Walter 2002, 1047) In seinen Veröffentlichungen, die vom Fachkollegen Reuster gar als eine »Art Manifest der psychiatrischen Ergotherapie des 20. Jahrhunderts« definiert wird, verfasste Simon die erste kohärente Ausarbeitung und Zusammenfassung der psychiatrischen Arbeitstherapie und prägte diese über Jahrzehnte, die in der DDR stärker arbeitstherapeutisch ausgerichtete Profession sogar bis in die 1980er Jahre hinein. 14 (Vgl. Presber und de Nève 1997, 2, Reuster 2006, 26) Im Rahmen seiner aktiveren Krankenbehandlung hatte Simon in den 1920er Jahren als Anstaltsleiter zunächst im

Scheepers et. al., Walkenhorst sowie Presber & de Nève wird das Jahr 1935 genannt, allerdings ohne Quellennachweis. (Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 12, Presber und de Nève 1997, 4, Walkenhorst 2007, 57) 13 In der Behandlung Lungenkranker, insbesondere bei Tuberkulosepatientinnen, wurde bereits um die Jahrhundertwende von arbeitstherapeutischen Behandlungsansätzen berichtet. Presber und de Nève zitieren eine Statistik aus dem Jahr 1943, nach der von den 400 Lungenheilstätten knapp 50 über Abteilungen für Arbeitstherapie verfügten. (Presber und de Nève 1997, 7) 14 Auch im medizinischen Fachgebiet Psychiatrie galt und gilt Hermann Simon als wichtiger Vertreter des Fachs. Kliniken trugen seinen Namen, eine Straße in Gütersloh wurde nach ihm benannt und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde verlieh von 1971 bis 2009 den Hermann-Simon-Preis »für hervorragende wissenschaftliche Arbeiten oder besondere Verdienste auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie, Epidemiologie, Versorgungsforschung und rehabilitativen Psychiatrie«. (EB 2006)

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westfälischen Warstein, später in der neu errichteten Provinzialheilanstalt Gütersloh damit begonnen, die Patientinnen – angepasst an die attestierte individuelle Leistungsfähigkeit – konsequent in Tätigkeiten zur Instandhaltung und Versorgung der Klinik einzubeziehen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war für den Aufbau und Betrieb der Anstalt eine maximale Einbeziehung der Patientinnen aufgrund der grassierenden Personal- und Finanznot notwendig geworden. (Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 532) Diese radikale Abwendung von der zuvor nach wie vor verbreiteten Bettenbehandlung entstand also zunächst vorrangig aus ökonomischen Zwängen heraus. Simons Therapiekonzept verfolgte dabei weniger das Ziel, seine Patientinnen wieder auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten, sondern zielte auf deren Einsatz innerhalb der Anstalt ab. Der deutsche Sozialpsychiater Klaus Dörner begründet dies damit, dass Simon »als preußisch-konservativer Beamter die Absicht [verfolgte], die Anstalt Gütersloh möglichst ökonomisch autark zu betreiben, damit die psychisch Kranken den Steuerzahler möglichst kein Geld kosten sollten«. (Dörner 1996 zit. nach Scheepers et al. 2006, 532) Dieser, auf die ökonomische Leistungsfähigkeit reduzierte Wertmaßstab verschärfte sich bei Simon in den nächsten Jahren durch sein zunehmend (offen artikuliertes) biologistisches Menschenbild und seine sozialdarwinistische Weltanschauung »gegen die bevorzugte Verhätschelung alles Schwachen und Minderwertigen im Vergleich zu dem Tüchtigen und Gesunden« sowie seine Befürwortung der Zwangssterilisation psychisch Kranker im Rahmen der sogenannten Euthanasie.15 (Simon, Vortrag vom 22.10.1931, zitiert nach Walter 2002:1053) Die psychiatrische Arbeitstherapie bediente sich im nationalsozialistischen Terrorregime »[u]nter dem Einfluss behavioristischer, darwinistischer und rassistischer Annahmen […] des Einsatzes von Arbeit in Anstalten nicht nur als Anpassungsund Disziplinierungsinstrument, sondern unter dem pervertierten Motto »Arbeit macht frei« auch als Vernichtungsmaschinerie.« (Marotzki 2004, 21) Der hundertausendfache Mord an schutzbefohlenen Patientinnen stellt einen entscheidenden

15 Im Rahmen der sogenannten Aktion T4 wurden über 100 000 von psychischer Erkrankung betroffene Menschen durch das nationalsozialistische Terrorregime ermordet und über weitere 400 000 Menschen zwangssterilisiert. Die durch Simon systematisierte Ermittlung des Grades der Arbeitsfähigkeit wurde als Indikator für Gesundheit beziehungsweise ›Lebenstüchtigkeit‹ und unterstützte daher maßgeblich die Entscheidungen über die Deportation der psychisch Kranken in die Tötungs- beziehungsweise Sterilisationskliniken. (Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 532) Andere Quellen verzeichnen 270 000 Todesopfer. (Kampmann und Wenzel 2004, 204)

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Einschnitt für die weitere Entwicklung des Berufs dar, deren Aufarbeitung in den beiden deutschen Nachfolgestaaten jedoch unterschiedlich gehandhabt wurde. 2.1.7 Wege der Ergotherapie in BRD und DDR nach 1945 Während sich die Ergotherapie sowohl in den USA, Kanada, Großbritannien als auch Skandinavien bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als medizinunabhängige Profession etablierte und vor allem die nordamerikanische Ergotherapie auch heute noch durch eine deutlich intensivere und fest an Universitäten verankerte Lehr- und Forschungsaktivität geprägt ist (vgl. Marotzki 2004, 14-15) bleibt sie »in Deutschland bis nach Ende des 2. Weltkrieges eine genuin psychiatrische Behandlungsmethode, die im Rahmen der Anstalts- und Klinikbehandlung von Pflegekräften oder Angelernten durchgeführt und von Psychiatern verantwortet und auch proklamiert wurde.« (Reuster 2006, 26) Marquardt datiert im Namen des deutschen Berufsverbands den Beginn der Entwicklung der Ergotherapie als eigenständige Heilmaßnahme in Deutschland auf das Jahr 1946. Im niedersächsischen Bad Pyrmont wurde in der britischen Besatzungszone und späteren Bundesrepublik Deutschland unter Leitung des Britischen Roten Kreuzes in der Landeskrankenanstalt rund 2000 Kriegsverletzte behandelt. Im Frühjahr wurde eine britische, in Bristol ausgebildete Beschäftigungstherapeutin zum Aufbau einer eigenen Abteilung sowie eines ersten Lehrgangs in den niedersächsischen Ort versandt. (Vgl. Marquardt 2004, 12-13) In den nächsten drei Jahren wurden in der Landeskrankenanstalt 15 Beschäftigungstherapeutinnen, vornehmlich um dem Versorgungs- und Rehabilitationsbedarf der in der Orthopädie behandelten Kriegsinvalidinnen nachzukommen, ausgebildet. (Vgl. Marquardt 2004, 15) Das Verfahren um die Anerkennung als eigenständiges, von Masseurinnen und Krankengymnastinnen (heute Physiotherapie) abzugrenzendes Berufsbild zog sich über mehrere Jahre hin, erst 1953 wurde die Beschäftigungstherapie in der BRD staatlich anerkannt und die erste Schule für Beschäftigungstherapie im Hannoverschen Annastift gegründet. (Vgl. Marquardt 2004, 26-29) Zur konzeptionellen Ausgestaltung dieser Jahre und dessen Ursprung herrscht Uneinigkeit. Walkenhorst vermutet einen Import zuvor in den USA und Großbritannien entwickelter beschäftigungstherapeutischer Konzepte, die um einen, der frühen deutschen Arbeitstherapie zuzuschreibende Fokus auf die Funktionsverbesserung durch die Ausübung handwerklicher Tätigkeiten ergänzt worden seien. (Vgl. Walkenhorst 2007, 58-59) Marotzki widerspricht dieser Lesart und lokalisiert die Vermittlung funktional orientierter Therapieansätze an die erste Generation bundesrepublikanischer Berufskolleginnen in den Traditionen der zuvor über

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die USA nach Großbritannien migrierten Ansätze des habit trainings. (Vgl. Marotzki 2004, 44, Fußnote 14) In der Deutschen Demokratischen Republik fand dahingegen erst 1959 ein erster Weiterbildungslehrgang statt, der sich an bereits ausgebildete Krankenpflegerinnen oder Krankengymnastinnen richtete. Auch hier konnte auf importiertem ergotherapeutischen Wissen aufgebaut werden. Ursula Katzenstein war aus dem US-amerikanischen Exil nach Ost-Berlin zurückgekehrt, nachdem sie zuvor an der School of Education an der Universität von New York in Occupational Therapy ausgebildet worden war. (Ostow 1989) Durch die Teilung in BRD und DDR entwickelte sich das Fachgebiet über Jahrzehnte hinweg in beiden deutschen Staaten nahezu unabhängig voneinander. Während die bundesrepublikanische Arbeits- und Beschäftigungstherapie zunehmend auf die Erfahrungen der Kolleginnen aus angelsächsischen und skandinavischen Ländern aufbauen konnte, galten die Tätigen des Berufsfelds in der DDR spätestens seit dem Mauerbau 1961 als vom internationalen Fachdiskurs isoliert. Dies hatte, insbesondere aufgrund fehlender neurowissenschaftlicher beziehungsweise neurophysiologischer Erkenntnisse, Auswirkungen auf ihre Behandlungsmethoden. Obwohl die durch Ursula Katzenstein in den USA entwickelte Behandlungsmethoden in das Curriculum eingeflossen waren, gehen sowohl Presber und de Nève als auch Marquardt davon aus, dass die rein motorisch-funktionelle Arbeitstherapie wie vor dem Zweiten Weltkrieg (in etwa Hermann Simon’scher Prägung) weiterhin starken Einfluss auf die konzeptionelle Ausrichtung des Berufs gehabt hatte, was dazu führte, dass diese zunehmend als »Außenseitermethoden betrachtet wurden«. (Presber und de Nève 1997, 8, Marquardt 2004, 143) In der DDR setzte sich die Berufsbezeichnung »Arbeitstherapeut« durch, die Marquardt zufolge »ideologisch in das politische System der DDR [passte], in dem der Arbeit und Wiedereingliederung in die Arbeit eine besondere Rolle zukam«, das propagierte Recht auf Arbeit also auch eine Pflicht zur Arbeit beinhaltete, die Kranke nur zu einem gewissen Grad aussparte. (Marquardt 2004, 143-144, vgl. Gröschke 2011, 97) Die Frage nach der passenden Berufsbezeichnung war auch in der BRD ein Politikum. Während im englischsprachigen Raum vorrangig die Bezeichnung Occupational Therapy verwendet wird und obwohl beide Strömungen, beschäftigungs- wie arbeitstherapeutische Ansätze, das Berufsbild prägten, firmierte der Beruf in den ersten bundesrepublikanischen Ausbildungslehrgängen zunächst nur als »Beschäftigungstherapie«. Der Vorläufer des »Deutschen Verbands der Ergotherapeuten« hieß zunächst »Verband deutscher Beschäftigungstherapeuten«. (Vgl. Walkenhorst 2007, 58) In der Mitte der 1960er Jahre wurde die Integration der Bereiche Beschäftigungs- und Arbeitstherapie berufsintern diskutiert, welches

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1977 zu einer Veränderung des Berufsgesetzes und der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung führte und die Professionellen in der BRD nunmehr »Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten« genannt wurden. (Vgl. Walkenhorst 2007, 59) Bereits einige Jahre später, Anfang der 1980er Jahre, vertraten immer mehr bundesrepublikanische Interessenvertreterinnen die Ansicht, dass die Berufsbezeichnung »Beschäftigungs- und Arbeitstherapeut« durch die des »Ergotherapeuten« abgelöst werden sollte, um den missverständlichen deutschen Begriff zugunsten einer Anpassung an den internationalen Sprachgebrauch abzuschaffen. (Vgl. Marquardt 2004, 116)16 Die Berufsbezeichnung Ergotherapie – die in Deutschland im Jahr 1999 offiziell die »Arbeits- und Beschäftigungstherapie« ablöste und zusammenführte (Marquardt 2004, 151;162) – bezieht sich auf das griechische Wort ἔργον [érgon]17, welches sich »aus den griechischen Worten Ergon für Sichbewegen und Selbsttätigsein sowie Therapie für Krankenbehandlung« ableitet. (Presber und de Nève 1997, 1) Die Namensänderung zur Ergotherapie wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. Entweder wird sie, wie Reuster es betont, als Indikator für ein neues Selbstverständnis der Ergotherapie beziehungsweise als »Hinführung zu eigenverantwortlichem Handeln und Integration in den sozialen und beruflichen Alltag statt Ablenkung durch Beschäftigung« verstanden, oder sollte, in Walkenhorsts Lesart, die Dualität der medizinisch-funktionellen und sozialwissenschaftlich lebens-/arbeitsweltbezogenen Ausrichtung des Berufsbildes unterstreichen. (Reuster 2006, 36, Walkenhorst 2007, 62) Andere, unter ihnen Marotzki, sahen in den Diskussionen um die Umbenennung eine verpasste Chance, sich auch theoretisch mit den ergotherapeutischen Kernbegriffen Betätigung, Handlung, Beschäftigung, Arbeit/Beruf auseinanderzusetzen und begründen die Namensänderung mit dem

16 Auch die im Jahr 1952 gegründete World Federation of Occupational Therapy sprach sich für diese Bezeichnung aus. Im deutschsprachigen Ausland war diese Namensänderung bereits vollzogen worden. (Vgl. Marquardt 2004, 116). 17 Die Etymologie geht über den der Handlung, Tätigkeit oder Beschäftigung hinaus, beschreibt es die für das Objekt oder Subjekt zu erfüllende Funktion oder im Sinn der Nikomachischen Ethik Aristoteles’ als »die dem jeweiligen Ding eigentümliche Tätigkeit« (Jansen 2015, 97) oder »charakteristische Hervorbringung« (Stemmer 2005, 73), impliziert also auch eine gewisse Sinnhaftigkeit und Zweckgebundenheit dieser.

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vorrangigen Ziel den Beruf unter anderen Gesundheitsberufen besser zu platzieren und einer allgemeinen Imageverbesserung.18 (Vgl. Marotzki 2004, 76) Die Entwicklung der deutschen Ergotherapie war insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts eng mit dem jeweiligen politischen System und seinen Normvorstellungen gesunder, moralisch vertretbaren, politisch konformen, sozial ver- beziehungsweise zuträglichen Alltagskonzeptionen und dazugehörigen »Alltagsbefähigungspraktiken« verbunden. Die Umbenennung der Arbeits- wie Beschäftigungstherapie in Ergotherapie impliziert, unabhängig von den dahinterliegenden Motiven, eine definitorische Erweiterung der therapeutischen Zielvorgaben des Berufs. Ergotherapeutinnen sollen nicht mehr nur auf den Erhalt oder die Wiedergewinnung arbeits- oder beschäftigungsrelevanter Betätigungen hinarbeiten, sondern alle »Alltagsbetätigungen« der Patientinnen beziehungsweise Nutzerinnen behandeln. Dies wirft die Frage nach der Konzeptualisierung des Alltagsbegriffs sowie den hiermit verbundenen Fähigkeiten auf, welche bisher allerdings nicht hinreichend von der Ergotherapie selbst in den Blick genommen wurden. Mehrere Studien setzten sich mit der Selbstwahrnehmung von Ergotherapeutinnen auseinander. Diese nähmen sich zusammenfassend als »Alltagskoordinatorinnen« (everday life co-ordinator) wahr, deren Hauptaufgaben darin bestünden, auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzerinnen einzugehen, die Details des Alltagslebens hierbei mitzudenken und sie dazu zu befähigen, Entscheidungen zu treffen sowie ihre Autonomie zu fördern. (Björklund 1998, 167) Die Unabhängigkeit der Nutzerinnen vom Versorgungssystem wird als entscheidender Parameter der Heilung wahrgenommen und hierbei sowohl als grundsätzliches Ziel der Behandelnden (sowie der Behandelten) definiert. (Bonikowsky et al. 2012, 192) Zudem grenzten sie sich in ihrem Nutzerinnenbild von anderen Gesundheitsberufen ab, definieren sich selbst als weniger defizit- als ressourcenorientiert und gaben an, anstatt auf physischen wie psychischen Einschränkungen auf die Ermöglichung von Betätigung zu fokussieren. (Kinn und Aas 2009, 116-117) Diese Abgrenzung führe allerdings auch zu Frustration: Ergotherapeutinnen hätten oft das Gefühl, ihre therapeutische Arbeit rechtfertigen und/oder erklären zu müssen, dass es nicht (allein) um die Beschäftigung oder Unterhaltung der Nutzerinnen ginge. Zudem wurde das in der klinischen Versorgung vorherrschende medizinische Modell als nicht vereinbar mit der Arbeit von Ergotherapeutinnen verstanden. (Vgl. Duffy und Nolan 2005, 40)

18 Als diese These unterstützend könnte die fünf Jahre (1994) vollzogene Namensänderung der Krankengymnastik in Physiotherapie gewertet werden. (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 2017)

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2.2 ZUSAMMENFASSUNG DES HISTORISCHEN ABRISSES ÜBER DIE DEUTSCHE ERGOTHERAPIE Aus dem vorgestellten Abriss zur historischen Entwicklung der deutschen Ergotherapie ergeben sich zusammenfassend folgende, für die »Alltagsbefähigungspraktiken« der Profession relevante Aspekte: Im Rahmen des moral treatments wurde Betätigung und Arbeit erstmalig systematisch in die Behandlung psychisch erkrankter Menschen integriert. Die Vorstellung von »Alltag« und »Handlungsfähigkeit« der Bewegung war geprägt von der Idee, dass von psychischer Erkrankung Betroffene durch eine humane Behandlung und Anpassung ihrer, mit den sozialen Normen der Zeit übereinstimmenden Tagesabläufe und ein notwendiges Maß von Produktivität zu einer gesunden Lebensführung hingeführt werden können. Die arts-and-crafts-Bewegung hingegen betonte die pathologische Monotonie und einseitige körperliche wie mentale Belastung der Betroffenen im Zuge der veränderten Arbeitsbedingungen durch die einsetzende Industrialisierung. Durch eine Wiederbesinnung auf traditionelles Handwerk und den Einsatz von ästhetischen und hochwertigen Materialien sollten die »Alltage« an die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst werden, wodurch eine selbstheilende Wirkung einsetzen sollte. Sie rückte Objekte und Objekterstellung als Therapeutikum erstmals in den Vordergrund. »Alltag« wird hier als Raum für kreative Gestaltung, dem Wunsch nach hochwertiger Verarbeitung, Selbstverwirklichung durch die Herstellung ästhetisch Ansprechendem und auch als Anpassung an den bürgerlichen Geschmack gedeutet. Das habit training arbeitete, dem Therapieverständnis des moral treatments nicht unähnlich, erneut auf die Anpassung ihrer Patientinnen an die sozialen Normen und ökonomischen Leistungserfordernisse hin, setzte dies allerdings konzeptionell differenzierter und an die individuellen Bedürfnisse angepasster sowie funktionellen Konzepten folgend um. »Alltag« wurde hier als soziale Angleichung des Individuums an die routinierten Betätigungsabläufe und die Ausgewogenheit zwischen Phasen der Erholung und Arbeit gelesen und darauf ausgerichtet. Nach der pervertierten Verbindung des starken Produktivitäts- und Leistungsanspruchs Simons mit den nationalsozialistischen, biologistischen und sozialdarwinistischen Ideologien und deren fatalen Konsequenzen formierte sich die deutsch-deutsche Arbeits- und Beschäftigungstherapie der Nachkriegszeit in den folgenden Jahrzehnten unter Zuhilfenahme von importierten Konzepten aus den USA beziehungsweise Großbritannien neu.

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»Alltagsbefähigung« im Sinne einer Befähigung der Behandelten, ihr Leben in Haushalt und Beruf durch sinnvolle, strukturierende und zweckorientierte Betätigungen zu gestalten und durch Tätigsein gesundheitsfördernd auf ihre Erkrankung einzuwirken, ist seit jeher zentrales Ziel und im Wesentlichen der Inhalt ergotherapeutischen Handelns und Behandelns. Der historische Abriss konnte verdeutlichen, wie durch in den jeweiligen Epochen dominierenden gesellschaftliche Normen und Werte das zentrale Behandlungsziel »Handlungsfähigkeit« wiederherzustellen unterschiedlich angestrebt wurde und andere Schwerpunkte für die Therapie gesetzt wurden. Die drei Kategorien »Produktivität«, »Handwerk« beziehungsweise »Materialität« und »Routinen« prägen, wenn auch unter anderen Vorzeichen, nach wie vor die Ergotherapie, welches ich im nachgestellten Abschnitt näher beleuchten werde.

2.3 ERGOTHERAPEUTISCHER »ALLTAG« UND ERSTE FRAGESTELLUNGEN Im Folgenden werde ich nach einer kurzen Einführung zur Ausbildung und dem Beruf der Ergotherapie in Deutschland in Zahlen, die hauptsächlich in der Psychiatrie eingesetzten ergotherapeutischen Methoden und hierbei implizierten Alltagsvorstellungen umreißen, um das Forschungsdesiderat zum Alltagsbegriff zunächst aus der ergotherapeutischen Perspektive heraus skizzieren zu können. Im nächsten Kapitel werde ich die daraus entwickelten ersten Fragestellungen mit bisherigen Ansätzen aus der sozialwissenschaftlichen theoretischen wie methodischen Zugängen der Alltags- und Praxisforschung verbinden um auf den empirischen Teil der Arbeit hinleiten zu können.

2.4 ÜBERBLICK – AUSBILDUNG UND BERUF IN ZAHLEN Insgesamt waren laut der Gesundheitsberichtserstattung des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2014 rund 58 000 Ergotherapeutinnen im deutschen Gesundheitswesen beschäftigt, 49 000 davon, also rund 85 Prozent Frauen*. (Statistisches Bundesamt 2016a, 11) Die Ergotherapie ist, wie die meisten Berufsfelder im deutschen Gesundheitswesen, sowie auch die internationale Ergotherapieforschung

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und Occupational Science19 nach wie vor ausgesprochen weiblich. (Vgl. Marotzki und Reichel 2007, 7, Hocking 2011, 56) Ergotherapeutinnen20 arbeiten vorrangig in Krankenhäusern und Kliniken, in Gesundheitszentren, in sozialen Einrichtungen und Heimen, in Praxen für Ergotherapie sowie in pädagogischen Einrichtungen wie Sonderschulen und Frühförderzentren. (Bundesagentur für Bundesagentur für Arbeit 2016a) Die Berufsausbildung beinhaltet in Deutschland eine dreijährige, bundesweit einheitlich geregelte schulische Ausbildung an Berufsfachschulen, zusätzliche Praxiseinheiten in Form von mehrwöchigen Praktika in unterschiedlichen Fachbereichen und endet

19 Occupational Science (Betätigungswissenschaften) ist ein, Ende der 1980er Jahre in den USA entstandenes, bisher vorrangig im auch ergotherapeutisch forschungsstarken Norden Amerikas sowie dem Vereinigten Königreich, Australien und Neuseeland vertretenes interdisziplinäres Forschungsfeld, welches die gesundheits- und sozialwissenschaftliche Beforschung von Betätigung und seine Bedeutung für das Individuum, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zum Ziel hat, also über die Beforschung ergotherapeutischer Praktiken und Modellentwicklung (Ergotherapieforschung) hinaus reicht und dort über eigenständige Graduiertenprogramme und Forschungseinrichtungen verfügt. (Vgl. u.a. Rudman et al. 2008, 135) Das wichtigste internationale Fachjournal der Occupational Science ist das Journal of Occupational Science, welches seit 1993 verlegt wird. (Townsend, Polatajko, und Canadian Association of Occupational Therapists 2013, 67) Die Betätigungswissenschaftlerin Ann Wilcock definiert die Occupational Science folgendermaßen: »›Occupational science‹ may, therefore, be defined as the systematic study of all aspects of the relationship between humans and occupations, occupation encompassing people`s goal-directed use of time, energy, interest and attention in work, leisure, family, culture, self-care and rest activities.« (Wilcock 1991, 297) 20 Laut Statistischem Bundesamt waren im Jahr 2014 in der »nichtärztlichen Therapie und Heilkunde« insgesamt 381 000 Personen beschäftigt, 302 000 unter ihnen, also rund 80 Prozent weiblich. (Deutsches Statistisches Bundesamt 2016b) Nichtärztliche Therapie und Heilkunde umfassen die Berufe der Ergo-, Physio-, Sprach-, Musik- und Kunsttherapie, Ernährungs- und Diättherapie der Homöopathie und Heilkunde sowie in diesem Bereich tätige Führungskräfte. (Bundesagentur für Bundesagentur für Arbeit 2011, 144145) In der Medizin lag der Frauenanteil 2006 bei rund 40%, wobei bereits 63% der Studierenden weiblich waren (Hibbeler und Korzilius 2008), die Gesundheitsversorgung wird also in Zukunft noch mehrheitlicher durch Frauen getragen werden als bisher.

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mit einem Staatsexamen. (Ebda.) Aufgrund des zunehmenden Bedarfs von ergotherapeutischen Fachkräften mit akademischer Ausbildung21 sowie eigenständiger ergotherapeutischer Theorienbildung wurden in den letzten Jahren an mehreren öffentlichen und privaten Hochschulen drei- bis vierjährige Bachelor- sowie vereinzelt Masterstudiengänge eingeführt, welche neben den praktischen auch wissenschaftliche Grundlagen vermitteln sollen. (Bundesagentur für Arbeit 2016b, Reuster 2011, 1067)22 An das Examen schließt im Regelfall eine mehrjährige Fachausbildung im Rahmen von Fortbildungen im jeweiligen Arbeitsgebiet an. Laut Deutschem Verband der Ergotherapeuten e.V. gliedert sich die Ergotherapie in zwölf Fachbereiche auf.23 Neben der besonderen Bedeutung der Psychiatrie für die historische Entwicklung der Ergotherapie ist dieser medizinisch-therapeutischen Fachbereich – neben der Neurologie – derjenige, in der auch der Anzahl nach am meisten Ergotherapeutinnen beschäftigt sind. (Vgl. Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2015, 1) Innerhalb der klinischen psychiatrischen Versorgung wird die Ergotherapie »im zeitlichen Umfang in aller Regel von keiner anderen therapeutischen Maßnahme übertroffen.« (Reuster 2006, 43)24

21 Siehe Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen des Wissenschaftsrats. (Deutscher Wissenschaftsrat 2012) 22 Im Jahr 2009 wurde im Rahmen einer Modellklausel die Möglichkeit zur dualen Qualifizierung geschaffen, so dass einige Studiengänge sowohl mit dem Hochschulgrad Bachelor of Science als auch der Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung »Ergotherapeut/in« abschließen. (Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2012) Es ist momentan an gut einem Dutzend Studienstandorten in Deutschland möglich, Ergotherapie grundständig zu studieren nimmt man die Angebote privater und öffentlicher Träger zusammen. (Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2017b) 23 Arbeit und Rehabilitation, Geriatrie, Neurologie, Orthopädie/ Traumatologie/ Rheumatologie/ Handtherapie, Pädiatrie, Prävention und Gesundheitsförderung, Psychiatrie, Schulbasierte Ergotherapie, Gemeinwesenorientierte Ergotherapie, Kardiologie, Onkologie sowie die Palliativversorgung, (Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2017a) 24 Trotz ihrer institutionellen Verankerung in nahezu jeder deutschen Klinik ist sie, insbesondere aus medizinischer Sicht, nicht unumstritten. Der Psychiater Thomas Reuster fasst diesbezügliche Bedenken mit folgender Überlegung zusammen: »Unterhält sie die Kranken mit Tätigkeiten von Hobbycharakter (Häfner 2000) oder leistet sie einen effektiven Beitrag zur Therapie? Vermutlich tut sie beides – wobei Ersteres keineswegs anspruchslos wäre. Diese Fragen sind nicht eindeutig geklärt.« (Reuster 2011, 1066) (Häfner 2000, 73)

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Die Nutzerinnen sollen durch kreative oder handwerkliche Tätigkeiten (Kubny-Lüke 2009, 11) und der Wiederherstellung von Grundarbeitsfähigkeiten sowie psychosozialen Kompetenzen (vgl. ebda, 12) ein höheres Maß an »Handlungsfähigkeit im Alltag« (Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2007) und Beruf ermöglicht werden. Die Ergotherapie ist darauf ausgerichtet, durch zweckmäßige und bedeutungsvolle Betätigung die Gesundheit und das Wohlbefinden zu fördern. (Vgl. Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 197) Im folgenden Abschnitt folgen Überlegungen dazu, mit welchem Alltagsbegriff und Verständnis der für Alltag notwendig erachteten Fähigkeiten zur Durchführung von Betätigungen die heutige Ergotherapie operiert und welche ersten Fragestellungen ich hierdurch ableiten kann.

2.5 »ALLTAG(SFÄHIGKEIT)« ALS FRAGESTELLUNG IN DER PSYCHIATRISCHEN ERGOTHERAPIE »Ergotherapie begleitet, unterstützt und befähigt Menschen, die in ihren alltäglichen Fähigkeiten eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. Diesen Menschen soll es ermöglicht werden, für sie bedeutungsvolle Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer Umwelt durchführen zu können. Ziel der Ergotherapie ist es, Betätigung zu erreichen. Gleichzeitig wird Betätigung als therapeutisches Medium eingesetzt.« (Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2003, zit. n. Miesen 2004, 157 zit. n. Marotzki 2005, 45)

Diese Selbstbeschreibung des Deutschen Verbands der Ergotherapeuten definiert »Selbstversorgung«, »Produktivität« und »Freizeit« als die zentralen »Performanzbereiche« der deutschen Ergotherapie.25 Die Zielvorgabe vermehrter Produktivität wird, wenn auch unter geänderten Vorzeichen einer nunmehr von den Nutzerinnen selbst zu erfolgenden Bedeutungszuschreibung nach wie vor hervorgehoben. Die im Rahmen des habit trainings fokussierte Routinisierung findet sich nur mit der Unterteilung in die drei Bereiche wieder, die eine zeitliche Taktung

25 Vgl. 23.

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und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen produktiven und entspannenden Tageszeiten nahzulegen scheint. Der Aspekt des gesundheitsfördernden, handwerklich-kreativen Materialumgangs wird hingegen nicht aufgegriffen, wobei der Einsatz von kreativen und handwerklichen Therapiemitteln nach wie vor eine maßgebliche Behandlungsmethode der Ergotherapie darstellt. Während der Alltagsbegriff nicht näher expliziert wird, wird betont, dass alltagsrelevante Betätigungen sowohl Ziel als auch Mittel der Ergotherapie sind beziehungsweise sein sollen. Die kanadische Betätigungswissenschaftlerin Karen W. Hammell unterzieht den drei ergotherapeutischen »Performanzbereichen« »Selbstversorgung«, »Produktivität« und »Freizeit« in einem ungewöhnlich breit rezipierten Artikel einer kritischen Analyse. (Hammell 2009b) Zunächst insistiert sie, dass die Theorien der Ergotherapie kulturell spezifisch, klassen-gebunden, ableistisch26 (beziehungsweise mentalistisch im psychiatrischen Kontext) und nicht evidenzbasiert seien. Zudem hebt sie den weit verbreiteten Glaube daran, dass alle Betätigungen in eines der Raster »Selbstversorgung«, »Produktivität« oder »Freizeit« passten, als besonders problematisch im Sinne einer vereinfachten, normativen und ungenügend mit den subjektiven Erfahrungen der Nutzerinnen verknüpften Kategorisierung hervor.27 (Hammell, 2009a) Nähert man sich Betätigungen allerdings von der Erfahrungsebene aus, rückt die zentrale Motivation des »In-Beziehung-Tretens« sowie der Fürsorge für andere in den Vordergrund, die in den klassischen drei Kategorien nicht auftauchen. Zudem entspräche eine stets mögliche Unterteilung zwischen »Produktivität« und »Freizeit« nur der Lebenswirklichkeit einer kleinen, privilegierten (im globalen Norden lebenden) Minderheit der Weltbevölkerung. In der Ergotherapie verwendete Betätigungskonzepte würden fast ausnahmslos von Menschen, die der (weißen) Mittelschicht angehören und in urbanen Regionen englischsprachiger Nationen lebten einbeziehen. Hinzu komme, dass die Theorien über einen positiven Zusammenhang zwischen Betätigung und Wohlbefinden zwar schlüssig seien, bisher

26 Ableismus ist der Hamburger Soziologin Marianne Pieper zufolge »eine, wie selbstverständlich vorhandene, wirkmächtige Struktur von Überzeugungen, Bildern, Praktiken, baulichen Strukturen, Werkzeugen und Institutionen, die bestimmte Fähigkeiten (maximal leistungsfähig zu sein) als fragelose Norm unterstellt. Menschen, die vermeintlich oder tatsächlich nicht dieser Norm entsprechen, werden als ›Abweichung‹ oder unter dem Aspekt des Mangels betrachtet, statt sie als Ausdruck menschlicher Vielfalt zu sehen«. (Schär 2014) 27 Hammell gibt als Beispiele für Betätigungen, die in keiner der Kategorien passen würden, das Gebet oder die Meditation, die Fürsorge gegenüber Kindern oder Zuneigung, Liebe und Sex an. (Hammell 2009a, 9)

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dennoch nicht hinreichend empirisch belegt werden konnten. (Vgl. Hammell 2009b, 107, 2009a, 2011, 30) Den Wert, den Ergotherapeutinnen der Autonomie der Nutzerinnen zuschrieben und die damit einhergehende Schwerpunktsetzung auf möglichst produktive, ökonomisch zuträgliche anstatt ehrenamtlicher Betätigungen sowie der Fokus auf konsumorientierte Arten der Freizeitgestaltung spiegelte, laut Hammell, spezifische moralische Vorstellungen (von »Alltag«) wider. (Vgl. Hammell 2009b, 108) Der Fokus auf die Autonomie und Individualität von Nutzerinnen ergotherapeutischer Angebote legitimiert in Hammells Perspektive die individualistische Ideologie. Sie verweist darauf, dass: »by denigrating dependence and interdependence, occupational therapists deny the legitimacy of needing help, of preferring to be helped, or of accepting help. […] Regrettably, through our preoccupation with independence in self-care activities, our profession has actively colluded with the promotion of this toxic ideology.« (Hammell 2016, 284)

Anstatt auf die Errichtung eines Hilfenetzwerks von Angehörigen oder Freundinnen zielt die Ergotherapie auf den Erhalt größtmöglicher Unabhängigkeit im Alltag der Nutzerinnen ab. Mit »Handlungsfähigkeit im Alltag« ist also vorrangig autonomes Handeln unter Berücksichtigung individueller Bedürfnisse gemeint. Die für die berufliche Praxis der Ergotherapie zentralen Begriffe »Betätigung«, »Handlung«, »Handeln« und »Handlungsfähigkeit« basieren allerdings laut Marotzki innerhalb der Disziplin auf einem »bisher kaum explizierten Alltagsverständnis.« (2004, 76)28 Dies ist insofern verwunderlich, als dass dieses Verständnis so eng verknüpft mit dem maßgeblichen Behandlungsziel »Handlungsfähigkeit im Alltag« (wieder-)herzustellen ist, beziehungsweise den Handlungsraum für die wieder zu erwerbenden Fähigkeiten darstellt. Wie kann die Ergotherapie in der Praxis mit dieser (vermeintlichen) definitorischen Lücke »alltagstherapeutisch« agieren? In der psychiatrischen Ergotherapie sind vor allem kompetenz-, ausdruckszentrierte und interaktionelle Methoden gebräuchlich. (Vgl. Scheiber 1989, 213ff., in Marotzki und Reichel 2007, 25) Kompetenzzentrierte Methoden beziehen sich

28 Marotzki begründet dies mit dem anhaltenden Akademisierungsprozess der deutschen Ergotherapie und Wandlungsprozess von einem rein praktischen ausgerichteten Berufsfeld zu einer genuin interdisziplinär sozialwissenschaftlich wie medizinisch informierten Disziplin in dessen Vordergrund die von handlungstheoretischen Bezugswissenschaften wie der Psychologie, Philosophie und Soziologie unabhängige, eigenständige ergotherapeutische Theorienbildung stünde. (Vgl. ebda.)

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auf körperfunktionelle Übungen durch die Nutzung »lebenspraktischer, handwerklicher und/oder arbeitsbezogener Medien zur Übung bestimmter Tätigkeiten«. Durch den Einsatz dieser sollen Nutzerinnen in ihrer »Orientierung und Selbsteinschätzung (Introspektion)« gestärkt werden sowie »lernen, einen Bezug zur Realität herzustellen.« Im Rahmen der Herstellung eines Produkts erreichte Erfolgserlebnisse wird zudem eine Stabilisierung sowie Stärkung des Selbstvertrauens angestrebt. (Vgl. DVE 2015)29 Die ausdruckszentrierte Methode konzentriert sich auf die Ermöglichung, über kreativ-gestalterisches Tun Wege für die Nutzerinnen zu finden, Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle insbesondere nonverbal, aber auch verbal zum Ausdruck zu bringen. (Vgl. DVE 2015) Die ausdruckszentrierte Methode ist aktozentrisch, das heißt der Gestaltungsprozess und nicht so sehr das hergestellte Produkt steht im Vordergrund zu einem angestrebten besserem Selbstverständnis und Einblick in die persönlichen Reaktions- und Verhaltensweisen. (Vgl. DVE 2015)30 Neben den akto- und produktozentrischen Ansätzen zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit in den »Performanzbereichen« »Selbstversorgung«, »Produktivität« und »Freizeit« ist die interaktionelle Methode auf die die Förderung von sozialen Kompetenzen und Beziehungsfähigkeiten, Selbst- und Fremdwahrneh-

29 Hierbei werden vorrangig handwerkliche Tätigkeiten wie (in den von mir beforschten Ergotherapien) das Schreinern von Vogelhäusern oder die Arbeit mit Speckstein über den Modelleisenbau zu Gartenarbeiten im klinikeigenen Garten eingesetzt sowie an den (vermeintlichen) Privathaushalten der Nutzerinnen orientierte Tätigkeiten wie Einkaufstrainings im nahegelegenen Supermarkt, Kochen oder Backen. 30 Die im Rahmen der ausdruckszentrierten Methoden betonte Selbstreflexion und Veränderung individuell in biografisch bedingten Reaktionsmustern der Nutzerinnen wurden in den von mir beforschten Ergotherapien vermehrt in Form von gestalterischen Angeboten wie dem Nähen, Stricken, der Seidenmalerei, dem Zeichnen oder Malen ohne oder mit Vorlage oder der Arbeit mit Ton, beziehungsweise durch Tätigkeiten die eher in den Bereich »Freizeit« einzuordnen sind, praktiziert. Produkto- und aktozentrische Ansätze sind aber letztlich nicht nach den jeweiligen Tätigkeiten (Werken, Basteln oder Kochen) zu unterscheiden, sondern gehen in den meisten Fällen ineinander über. Auch über vermeintlich zweckgebundene Holzarbeiten lassen sich beispielsweise mit den Nutzerinnen über ihre Betätigung reflektieren.

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mung, Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit sowie dem situationsgerechten Verhalten in prozessorientierten Gruppenangeboten ausgerichtet. (Vgl. DVE 2015) 31 Das Alleinstellungsmerkmal der Ergotherapie stellt die betätigungsorientierte Ausrichtung auf die Wiederherstellung von »Alltagsfähigkeiten« ihrer Nutzerinnen und den besonderen Fokus auf deren individuelle Lebenswelten dar (Vgl. Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 199).32 Die individuellen, sozialen und biografischen Aspekte der Behandelten rücken dabei in den Vordergrund des ergotherapeutischen Interesses und der Therapie: »Die ordnende Struktur von Betätigungen und ihre Einbettung in übergeordnete soziale Ablaufstrukturen in Form von tradierten, erwartbaren, sozialen und biographischen Ereignissen hat ihre Kraft [im Zuge der Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung] für den Einzelnen verloren und befindet sich in Auflösung.« (Marotzki 2004, 70-71)

Insbesondere bei lebens- und arbeitsweltbezogenen Konzeptionen der Ergotherapie sollten daher Marotzki zufolge enger mit den Vorstellungen und Wünschen sowie der individuellen Lebenssituation der Nutzerinnen verknüpfte Behandlungsmethoden zum Einsatz kommen. »hierbei sind kreative Lösungen gefordert, die meist in Konflikt mit gängigen Schablonen geregelter Tagesabläufe von Institutionen liegen und sie liegen jenseits von rein kreativen Lösungen im Sinne kunsthandwerklich kreativ-gestalterischer Angebote.« (Marotzki 2004, 71) »Alltag« wird in der Ergotherapie implizit als Handlungsraum für Betätigungen konzeptualisiert der, an den individuellen Wünschen und Vorstellungen der Nutzerinnen ausgerichtet, durch sie gestaltet werden soll. Hierbei wird besonderer Wert auf die gestalterisch-kreative Angebote sowie deren Reflexion, den Abbau von emotionalen, funktionellen wie kognitiven Defiziten zur Herstellung eines Produkts sowie die Förderung der sozialen Kompetenzen der Nutzerinnen gelegt. Diese dreifache Zielvorgabe konzeptualisiert »Alltagsbefähigung« als Ermöglichung der Einzelnen, sich ihre soziale Lebenswelt in zufriedenstellender Interaktion mit anderen, möglichst autonom, selbstreflektiert und den individuellen

31 Zudem sind kognitive Leistungstrainings zur Förderung von Konzentrations- und Merkfähigkeit meist im Rahmen computergestützter Therapieverfahren vielerorts Teil des ergotherapeutischen Behandlungsspektrums. 32 Das Alleinstellungsmerkmal der Ergotherapie auf die lebensweltlichen Betätigungen der Behandlung der Nutzerinnen hat sich auch in einer Art Abgrenzungsprozess zu anderen Berufsgruppen und ihrer Spezialisierung auf körperfunktionsorientierte Behandlungsansätze wie der Physiotherapie entwickelt.

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Vorstellungen und Wünschen angepasst zu gestalten, versteht »Alltag« also zunächst primär als Handlungsraum für Betätigungen jeglicher Art. »Alltag« als Denk- und Handlungsraum wird in der deutschsprachigen Literatur der benachbarten Disziplin Psychiatrie allerdings auch in seiner Tendenz, Raum und Zeit allumfassend für sich einzunehmen, definiert, die seine Grenzen und die hierfür notwendigen Handlungskompetenzen verschwimmen lassen. Er scheint gleichzeitig überall und nirgendwo zu sein. »Alltag« ist ein Begriff, der sich dem Psychiater Thomas Reuster in seinem Beitrag »Alltag und Krankheit« zufolge: »zwischen den Polen Fest und Katastrophe als ein temporal und modal aufgespanntes Netz [bewegt]. In seinen Maschen sind zeitliche und Handlungs-Strukturen zu wiederholten und (wieder)erkennbaren Mustern verknüpft. Die Regelmäßigkeit dominiert; wo sie endet, wird sie nur unterbrochen. Das Netz soll seiner Funktion wegen regelmäßig geknüpft sein: es soll tragen und nicht verunsichern.« (Reuster 2008, 213)

Tägliche Routinen und Handlungsabläufe schaffen ihm zufolge ein regelmäßiges, sicheres Geflecht der Selbstverständlichkeiten. Psychische Erkrankungen lassen diese Selbstverständlichkeit allerdings schwinden, alltägliche Handlungen sind nicht mehr zu bewältigen. Innerhalb der psychiatrischen Ergotherapie wird Alltagsgestaltung beziehungsweise die Handlungsfähigkeit im Alltag daher trotz oder wegen seiner Flüchtig- wie Grenzenlosigkeit zur zentralen therapeutischen Zielvorgabe. Für Reuster stellt es gar das Ziel aller medizinisch-therapeutischen Praktiken dar, Nutzerinnen die Wiederteilnahme am Alltag zu ermöglichen, schließlich »war selbstverständliche Teilnahme am Alltag der Zustand, aus dem der Kranke durch den Eintritt der Krankheit herausgeglitten ist; er bleibt die prinzipielle Messlatte von Heilung (status quo ante).« (Reuster 2008, 217)

Mit der Gleichsetzung von »Alltag« mit einem all-umspannenden Netz lässt sich diese Zielvorgabe nur schwer begrenzen, verweist aber insbesondere auf die Selbstverständlichkeit, die Konnotation des unhinterfragten »von-Jeher-Dagewesenen« von »Alltag« und die Fragen, wie die angestrebte Partizipation wieder ›verselbstverständlicht‹ oder impliziert werden kann und welche Betätigungen hierbei gemeint sind. Zudem stellt sich die Frage, wann Alltag nicht ist, scheint er trotz seiner Allgegenwärtigkeit (psychiatrisch) Erkrankten abgesprochen zu werden beziehungsweise mit einer Hürde der Tauglichkeit nur einigen (im vollen Maße) zugänglich zu sein.

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Gelten Nutzerinnen ferner als nicht mehr »alltagsfähig« und »Alltag« zugleich als universaler Handlungsraum allen Tuns, muss in therapeutischen Einrichtungen und insbesondere der stationären psychiatrischen Versorgung zwangsweise alles was geschieht, jederzeit therapeutische Züge annehmen beziehungsweise unter therapeutischen Gesichtspunkten gedeutet werden, dient es doch der Therapie der »Alltagsfähigkeit«. In einem Kapitel zum Inszenierungscharakter des Alltags in der Psychiatrie verdeutlicht der deutsche Psychiater und qualitativ arbeitende Psychotherapieforscher Klaus Brücher in seinem im Jahr 2005 erschienenem Buch »Therapeutische Räume – Zur Theorie und Praxis psychotherapeutischer Interaktion« (Brücher 2005), dies als »Expansion des Therapeutischen.« (Brücher 2005, 153, vgl. auch Klausner 2015: 28ff.) Diese Funktionalisierung »breche« den Alltag: »Er verliert potentiell – nämlich immer dann, wenn die Alltagsinszenierung einsetzt – seinen genuinen Charakter, das Allergeläufigste zu sein, das gleichwohl ganz undurchschaut ist, und wird stattdessen in seinen Abläufen und Regeln expliziert. Über allem steht als Direktive, zu zeigen, wie es faktisch gemacht wird beziehungsweise wie es zu machen ist« konstatiert Brücher daher. (Brücher 2005, 154-155)

»Alltag« wird in seiner Lesart in psychiatrischen Räumen stetig inszeniert, verliert so aber seine banale Vertrautheit und seinen auf weitgehend impliziten Routinen und Abläufen beruhende Quintessenz. Die Inszenierung unterliege der »der Figur des ›als ob‹«. Verhaltensweisen und Gegenstände werden über ihre unmittelbare Bedeutung hinaus, gleichsam ein Bühnenstück, in dem das ›gesunde‹ Leben beziehungsweise ›wie es zu machen ist‹ simuliert wird, und verweise so auf die »Zwitterstellung« zwischen »Alltag« und »Therapie« in der psychiatrischen Versorgung, die zugleich als Veralltäglichung der Therapie als auch Therapisierung des Alltags zu denken sei. (Ebda.) Obwohl sich Brücher vornehmlich auf die (Gesprächs-)Psychotherapie bezieht und Reuster in diesem Artikel auf die Psychiatrie als Ganzes und sich die ergotherapeutische Perspektive auf »Alltag« davon unterscheiden könnte, sind in der stationären Psychiatrie behandelnde Ergotherapeutinnen Teil dieser Inszenierung zur ›richtigen‹ Alltagsführung beziehungsweise beziehen sich sogar in deutlich stärkerem Maße auf ihre therapeutische Zielsetzung der Behandlung von »Alltagen«. In ihrer institutionellen Ethnografie nordamerikanischer psychiatrischer Einrichtungen »Good Intentions OverRuled – A Critique of Empowerment in the

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Routine of Organization of Mental Health Services« aus dem Jahr 1998 beschäftigt sich die Kanadierin Elizabeth Townsend33 mit den institutionellen Bedingungen von empowerment34 psychiatrischer Nutzerinnen im Rahmen ergotherapeutischer Behandlungen. Für die sozialanthropologische Betrachtung von »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie sind hierbei vorrangig ihre Überlegungen zur Simulation des Alltags relevant. Zentral ist für sie die Fragestellung, wie Nutzerinnen trotz ihres durch Abhängigkeit geprägten Nutzerinnenstatus und der durch Hierarchien beschaffenen Beziehung zwischen Behandelten und Behandelnden und dem Spannungsverhältnis zwischen Gruppenaktivitäten und individualisierten Behandlungsansätzen ›empowered‹ werden, also in die Lage eines selbstreflektierten und autonomen Alltagslebens versetzt werden können. Ihre Analyse ergotherapeutischer Angebote in psychiatrischen Tageskliniken zielte darauf ab »to see how people are learning, through simulations and real experiences, to live with or change life with a mental health problem.« (Townsend 1998, 89) Sie beschreibt hierbei das Spannungsverhältnis, in dem sich Ergotherapeutinnen befänden: Während ergotherapeutische Theorien und Praxismodelle darauf ausgerichtet sind, Menschen mit psychischen Problemen dazu zu befähigen, ein möglichst erfülltes Leben zu leben, trennen sie diese Menschen in ihren therapeutischen Angeboten vom ›echten Leben‹ (real life) und vertrauen darauf, dass sich im Rahmen von Angeboten ›simulierter Erfahrungen‹ (simulated experiences)35 Lerneffekte für die Privatalltage ihrer Behandelten ergeben, obwohl sie ihren individuellen Alltagen nur in Maßen ähneln. (Vgl. Townsend 1998b, 97)

33 Elizabeth Townsend gehört neben der US-Amerikanerin Cheryl Mattingly zu den international angesehensten Forscherinnen im Feld der ethnografischen Beforschung der Ergotherapie. (Gillette und Mattingly 1987, Mattingly, Spencer, und Krefting 1993, Mattingly und Fleming 1994, Mattingly 1998a, b, Townsend 1998, Polatajko et al. 2007, Townsend, Langille, und Ripley 2003) 34 Townsend definiert den Begriff wie folgt: »Empowerment depends on people becoming conscious of the invisible ways in which power is organized and embedded in everyday life. Critical reflection on power enables people, individually and collectively, to map a path for transforming their dependence into empowerment.« (Townsend 1998, 90) 35 Townsend unterscheidet hierbei einerseits zwischen reflektierenden, ausdruckszentrierten und kreativitätsfördernden Aktivitäten (›simulierend‹) wie Theater- oder Gesprächsgruppen mit psychoedukativen Anteilen und Aktivitäten des täglichen Lebens wie Kochen oder Backen (›echt‹). Durch ihre Betonung auf die Simulation von Raum und Zeit in der (tages-)klinischen Behandlung generell verschwimmt aber diese Unterscheidung zwischen ›echten‹ und ›simulierenden‹ Aktivitäten immer wieder. In einem

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Townsend verweist am Beispiel einer Kochgruppe auf die Transferprobleme, die sich hierdurch ergeben können. Die Nutzerinnen lernten in der Tagesklinik auf vollwertige, gesunde Ernährung zu achten und in der vollausgestatteten Küche der Tagesklinik zuzubereiten. Die Wahrscheinlichkeit sei allerdings sehr hoch, dass sie in ihren Privatalltagen ein niedriges Budget für ihre Ernährung zur Verfügung stünde und der Erwerb gesunder Zutaten und deren Zubereitung ›im echten Leben‹ außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten läge. (Vgl. Townsend 1998, 106-107) Menschen begäben sich Townsend zufolge aufgrund von Schwierigkeiten in oder mit ihren Alltagen in psychiatrische Versorgung und rechtfertigt hiermit deren temporäre Simulation: »Given that real life presents some complex and hard-to-solve problems, there is value in at least temporarily simulating real life in a protected, safe environment with sympathetic group members and professionals.« (Townsend 1998, 97-98) 36

Unabhängig von der Notwendigkeit der psychiatrischen Station als temporären Schutzraum, wirft dies die Frage auf, wie psychiatrische Nutzerinnen, die aufgrund ihrer Erkrankung als nicht mehr ›alltagsfähig‹ gelten, in ergotherapeutischen Werk-, Back-, Koch- oder Handwerksgruppen zu Alltag befähigt werden sollen und inwiefern der (vermeintliche) Inszenierungscharakter hierbei relevant

gesonderten Artikel zu der Abwägung zwischen simulierten und echten Aktivitäten beschreibt sie Simulationen ähnlich uneindeutig. Es bleibt unklar, ob sich um eine Imitierung des Raums, der Zeit oder der Handlung handelt: »Simulations represent real life in segments, re-cre-ations, or segregated locations.« (Townsend 1996, 116) 36 Neben der Kritik an der grenzenlosen und hiermit in alle Lebensbereiche der Behandelten eingreifenden therapeutischen Interventionen in der Psychiatrie und dem problematischen bis unmöglichen Transfer von klinischen in private Alltage des dort ›Gekonnten‹ gilt es daher, die mögliche Schutzfunktion des Simulations- beziehungsweise Inszenierungscharakters hervorzuheben. Die widersprüchlichen Vorstellungen von Psychiatriealltag als grenzenlos übergriffigen und »Alltag« in einer an bürgerliche Ideale angepassten psychiatrischen Disziplinierungsraum einerseits sowie der Deutung als notwendigen, zeitlich-begrenzten Schutzraum andererseits wurde insbesondere in der Sozialpsychiatrie der 1970er Jahren während der Psychiatriereformen in vielen europäischen Ländern vielfach diskutiert. (Basaglia et al. 1975)

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ist. Wie also befähigen die ergotherapeutischen »Alltagskönnerinnen«37 ihre Nutzerinnen in der Praxis in einem stationären Behandlungsort – einem als nicht ›alltäglich‹ verstandenen Raum – zu Alltag, wie gehen Praktikerinnen mit der Vorstellung des zugleich räumlich wie zeitlich ausufernd bis unbegrenzten »Alltags« um und wie können bisherige Ansätze aus der Alltags- und Praxisforschung das Verständnis dieser »Alltagsbefähigungspraktiken« sinnvoll ergänzen?

2.6 ZUSAMMENFASSUNG – ERGOTHERAPEUTISCHER »ALLTAG« Die psychiatrische Ergotherapie zielt auf die (Wieder-)Herstellung von »Handlungsfähigkeit im Alltag« in den drei »Perfomanzbereichen« »Produktivität«, »Freizeit« und »Selbstversorgung« ab, ohne dabei jedoch mit einem explizierten Alltagsbegriff zu arbeiten. Die drei »Performanzbereiche« wurden von Forscherinnen aus den Betätigungswissenschaften, der Bezugswissenschaft der Ergotherapie, als kulturspezifisch, ableistisch, neo-liberal und auf eine weiße Mittelschicht des globalen Nordens ausgerichtet kritisiert. Zudem würde ein zu starker Fokus auf die Autonomie und Individualität der Nutzerinnen gelegt, welches sich mit der Idee des In-Beziehung-Tretens mit der sozialen Umwelt nur schwerlich vereinbaren lasse. Kompetenz-, ausdrucks- und kreativ-gestalterische Ansätze legen hierbei unterschiedliche Fokusse, in den von mir teilnehmend beobachteten Ergotherapien jedoch ließen sich die drei Therapiekonzepte nur schwer auseinanderhalten, da sie meist zeitgleich in die jeweilige Behandlung einflossen. »Alltag« ist kein explizierter Begriff in der Ergotherapie, implizit wird er allerdings als Handlungsraum für Betätigungen konzeptualisiert, zu den die Nutzerinnen durch (1) gestalterisch-kreative Angebote sowie deren Reflexion, (2) den Abbau von emotionalen, funktionellen wie kognitiven Defiziten zur Herstellung eines Produkts (3) sowie der Förderung ihrer sozialen Kompetenzen ›Zugang‹ erhalten sollen. Interessant ist hierbei der scheinbare Gegensatz eines in der Psychiatrie verbreiteten Konzept von »Alltag« als unhinterfragtes, überall und ›Von-Jeher-Dagewesenes‹ welches durch Routinisierung und Selbstverständlichkeiten Sicherheit schaffe und der zumindest implizierten Absprache von »Alltagsfähigkeit« und hiermit unbehinderten Zugang zu »Alltag« der Nutzerinnen. Zugleich

37 Wie bereits erwähnt handelt es sich hierbei um eine verbreitete Selbstbezeichnung der Ergotherapie, wie es der Untertitel einer der auflagenstärksten Fachzeitschriften für die deutschsprachige Ergotherapie »Ergopraxis« suggeriert.

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wirft dies die Frage auf, wie durch Simulation in einem klinischen Umfeld »Alltag« für das außerstationäre ›echte Leben‹ erlernt werden soll beziehungsweise wie der Transfer von in der Klinik (wieder-)erlangter »Alltagsfähigkeit« gelingen soll. Die fehlende Explikation von »Alltag« ist kein Alleinstellungsmerkmal der Ergotherapie, selbst die mitunter als empirische »Alltagsforschung« firmierende Europäische Ethnologie kommt ohne kanonisierte Definition aus. An einem Ort, an dem »Alltagsfähigkeit« (wieder-)hergestellt werden soll macht diese definitorische Lücke die Frage jedoch nicht obsolet sondern umso dringender. Zudem verweist sie auf die Notwendigkeit, »Alltag« und »Alltagsbefähigung« in den konkreten, in-situ Praktiken der psychiatrischen Ergotherapie beziehungsweise ihren Umgang mit dieser Definitionslücke zu suchen, welches ich im folgenden Kapitel zu den theoretischen und methodischen Überlegungen ausarbeiten werde. Zunächst einmal lassen sich einige implizite Alltagsvorstellungen der psychiatrischen Ergotherapie zusammenfassen: »Alltag« wird als explizit nicht klinischer Raum verstanden, für den emotionale, funktionelle sowie kognitive Fähigkeiten notwendig sind. Im folgenden Abschnitt werde ich die sozialwissenschaftlichen Forschungsstände zu den drei, von mir herausgearbeiteten Kernbereiche ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« »Produktivität«, »Routinen« und »Materialität« aufarbeiten und die Möglichkeiten und Grenzen von »Alltag« und »Praxis« als Forschungskategorien ausloten.

3. Theoretische Zugänge und methodisches Vorgehen

3.1 »ALLTAG« UND »PRAXIS« ALS FORSCHUNGSKATEGORIEN Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen von »Alltag« und »Praxis« als Forschungskategorien. Hierfür werde ich bisherige Ansätze aus der Europäischen Ethnologie und dem breiteren sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs vorstellen sowie das Forschungsdesiderat hinsichtlich der weitgehend impliziten »Alltagsbefähigungspraktiken« verdeutlichen und die im historischen Abriss als zentral herausgearbeiteten Betätigungsbereiche »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« als analytische Kategorien darstellen. Das Wort Alltag taucht in der vorliegenden Arbeit rund neunhundertmal auf, bezeichnet dabei aber nicht immer ein und dasselbe, weshalb ich mich zu einer sichtbaren Differenzierung entschieden habe. Tabelle 1: Alltag und »Alltag« Alltag

»Alltag«

Lebens- und Erfahrungsort

Analytische Kategorie / Therapeutisches Konzept

Quelle: Eigene Darstellung

Als Bezeichnung für eine allgemeine, nicht näher durch Definitionen gesetzte Lebens- und Erfahrungswelt verwende ich Alltag ohne Anführungszeichen. Darüber hinaus tritt »Alltag« als analytische Forschungskategorie sowie als Begriff der Akteurinnen im Feld auf, als normative Projektionsfläche der Ergotherapeutinnen wie Nutzerinnen im Sinne einer angestrebten oder anzustrebenden Lebensführung

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(vgl. 46). Wenn daher nicht der Handlungsraum Alltag, sondern die hiermit verbundenen Vorstellungen, Begriffe, Konzepte oder Definitionsansätze oder »Alltag« als analytische Kategorie gemeint sind und dies nicht weitergehend sprachlich kenntlich gemacht wurde, markiere ich diese im Text mit doppelten Anführungszeichen. Ich differenziere aber implizierte ergotherapeutische Konzipierungen und die analytische Forschungskategorie untereinander nicht zusätzlich visuell, da in den meisten Fällen im Kontext deutlich wird, welche gemeint ist oder aber eine scharfe analytische Trennung gar nicht gewünscht ist.

3.2 »ALLTAG« UND »PRAXIS« IN DER EUROPÄISCHEN ETHNOLOGIE »In many ways we could claim that sociology and anthropology were founded by a resolute determination to explain everyday life. Certainly there are practices that are common to both (ethnography, for instance) that seem to be designed primarily to attend to everyday life.« (Highmore 2012b, 7) »As ethnologists we like to see ourselves as masters of the study of the everyday, but we still know surprisingly little about how this machinery works. One could argue that everyday life remains the black box of ethnology. Our understanding is still piecemeal and fragmented – a thought I find comforting – and there is still much to be discovered (to stay with a favourite ethnological metaphor).« (Löfgren 2014, 81)

Im Selbstverständnis der Europäischen Ethnologie wird »Alltag« als zentraler Forschungsgegenstand angesehen; seine Beobachtung und Befragung gelten als fester Bestandteil der Disziplin. (Greverus 1987, Kaschuba 2006, Jeggle 1978). Neben »Kultur« gilt »Alltag« als ein das Fach konstituierender, vereinheitlichender wie identitätsstiftender Schlüsselbegriff. (Vgl. Schmidt-Lauber 2010, 47, vgl.

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Lipp 1993, 1) Er hat Eingang in zahlreiche (deutschsprachige) Publikationen gefunden, so dass die Disziplin »sich selbst – unter anderem – als eine vergleichende Wissenschaft des Alltagslebens in der Moderne« beschreibt (Beck 2004, 1). Der Alltagsbegriff »benennt zunächst Gegenstand und Blickrichtung des Faches« und wurde in sehr »unterschiedlichen Facetten und Feldern aufgezeigt sowie als analytische Kategorie operationalisiert.« (Schmidt-Lauber 2010, 46) Während die deutsche Ethnologin Carola Lipp die 1980er Jahre als eine Zeit der »Hochkonjunktur der Alltagsforschung« in Deutschland hervorhebt, diagnostiziert sie, dass »der Glanz des Alltags [in den 1990er Jahren] im Schwinden begriffen« war, da die darum kreisenden Diskurse als festgefahren und ohne innovative Schlagkraft erschienen. (Lipp 1993, 1) Dies erklärt sie damit, dass »[e]in Problem wie auch eine Qualität des Begriffes Alltag […] gerade in seinem vielfältigen Gebrauch [liegt]. Denn trotz aller theoretischen Definitionsversuche bleibt der Begriff bis heute merkwürdig diffus und schillernd, wobei die unhinterfragte Vertrautheit, die er suggeriert, leicht dazu verführt, Alltag mit alltäglichen und damit reduktiven Deutungsroutinen zu erklären.« (Lipp 1993, 2)

Doch gerade diese »fehlende wissenschaftliche Strenge des Konzepts ›Alltag‹« könnte sich laut dem deutschen Europäischen Ethnologen Stefan Beck als überaus fruchtbar erweisen, weshalb sich die Fächer Volkskunde und Europäische Ethnologie ihm zufolge in den letzten Jahrzehnten zur Recht wenig von der theoretischen Unterbestimmung des Begriffs irritieren ließen. (Beck 2004, 3) Die in Österreich lehrende Ethnologin Brigitta Schmidt-Lauber unterstreicht hingegen die Notwendigkeit einer konzeptuellen Schärfung des Alltagsbegriffes, die Definition seines theoretischen Referenzrahmens um Alltagsforschung als »kulturtheoretisch inspirierte Empirie anzulegen.« (Schmidt-Lauber 2010, 56) Sie betont, dass insbesondere aus den »unreflektierten Selbstverständlichkeiten des täglichen Trotts« bisher nur selten methodologische Anregungen gezogen wurden. (Schmidt-Lauber 2010, 57) Zudem biete sich der Alltagsbegriff als intra- wie interdisziplinäre »Klammer« im Sinne eines Verständigungsbegriffs und geteiltem Forschungsfeld zugleich an. (Vgl. Ebda.) Schmidt-Lauber bezieht sich hierbei auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Geschichts-, Sozial-, Kultur und Politikwissenschaften. Doch auch für eine ethnografische Annäherung an die »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie, einem hochgradig ›alltagsaffinen‹ Feld, bietet sich

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»Alltag« als verbindende Blickrichtung an und es verwundert, dass Kooperationen dieser Art im deutschsprachigen Raum bisher noch nicht stattgefunden haben. 1 Die Auseinandersetzung mit »Alltag« ist sowohl in der Europäischen Ethnologie wie der Ergotherapie zentral und eignet sich als interdisziplinäre ›Klammer‹ auch und gerade weil »Alltag« sich in beiden Disziplinen bisher erfolgreich gegen eine allzu starre Begriffsdefinitionen verweigert hat. Trotz dieses Potentials als epistemologische ›Klammer‹ zwischen mehreren Disziplinen wurde Alltagsforschung häufig als markierendes Alleinstellungsmerkmal der qualitativ forschenden Sozialwissenschaften beziehungsweise der Volkskunde und (Europäischen) Ethnologie interpretiert. In der Lesart des schwedischen Europäischen Ethnologen Orvar Löfgren kam die Beforschung von »Alltag« insbesondere in den 1960er Jahren im internationalen sozialwissenschaftlichen Diskurs gar einer Forschungsideologie (research ideology) gleich. (Vgl. Löfgren 2015, 323) Alltagsforschung fand, als kritische Alternative zum sozialwissenschaftlichen Mainstream der Nachkriegszeit, weite Verbreitung und wurde methodisch wie diskursiv als Gegenstück zur Eliten-, Intellektuellen- sowie Expertinnenforschung konstruiert. (Vgl. Löfgren 2015, 323) Neben dem Fokus auf »ordinary people« wurde zuvor weitgehend vernachlässigten Routinen und Gewohnheiten neue Aufmerksamkeit zuteil. (Vgl. Löfgren 2015, 323) Während sich vor allem die Europäische Ethnologie gern als herausragende Alltagsforschung stilisiere, habe sie Löfgren zufolge bisher erstaunlich wenig, zudem fragmentarisches und unsystematisches Wissen über die »Black Box Alltag« gesammelt. (Vgl. Löfgren 2014, 77) »Alltag« oder »Alltagswelt« würden häufig schlicht als Indikatoren für einen bestimmten Forschungsstil beziehungsweise den Gebrauch ethnografischer Methoden und der disziplinären Zugehörigkeit zu den Ethnowissenschaften betrachtet, die als Schlagwörter im Titel oder den key words

1

Im nordamerikanischen Raum, wo die Occupational Therapy bereits deutlich länger als akademische Disziplin etabliert ist und mit der Occupational Science eine Vielzahl an Forschungsaktivitäten an der Schnittstelle zwischen (angewandten) Sozialwissenschaften und Ergotherapie verfügt, gibt es bereits sozialanthropologisch-betätigungswissenschaftliche Forschungskooperationen. Diese werden u.a. von der im Jahr 2007 ins Leben gerufenen Special Interest Group der Sektion National Association for the Practice of Anthropology der American Anthropological Association für Occupational Therapy and Occupational Science gebündelt und koordiniert. (National Association for the Practice of Anthropology 2017)

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eine besondere Nähe zu oder Solidarität mit dem (sozial benachteiligten oder ausgegrenzten) Forschungsfeld suggerierten.2 Diese Ansätze entzögen sich einer theoretischen Auseinandersetzung mit »Alltag« jedoch weitgehend und betonten so implizit dessen gleichzeitige Überwie Unterkomplexität. Löfgren liest die zunehmende Selbstwahrnehmung der Europäischen Ethnologie als Alltagswissenschaft als Beispiel dafür, wie »Alltag« insbesondere in den 1960er Jahren symbolisch wie ideologisch aufgeladen wurde (vgl. Löfgren 2015, 323): »As European ethnologists in the 1960s oriented their research toward modern industrial society rather than vanishing peasant traditions, the basic concept of folk culture was exchanged for the study of the everyday and ›the ordinary people.‹ These new concepts not only signaled a break with earlier generations but also worked as a boundary marker against neighboring disciplines. Ethnologists studied everyday life with a qualitative perspective unlike sociologists and historians; the concept of every-day life was used to show that the ethnological interest in society was not concerned with formal institutions and macrostructures. In reality, the concept was thus not about the contrast between everyday and noneveryday phenomena, but a way of stressing a research interest focusing on neglected groups, activities, and spheres.« (Löfgren 2015, 324)

Diese Fokussierung auf sozial ausgegrenzte oder benachteiligte Gruppen oder Handlungen führte Löfgren darauf zurück, dass »[s]ome activities and people easily came to be seen as more everyday than others.« (Löfgren 2015, 325) Auffällig ist, dass nach wie vor großes Interesse der ethnografischen Alltagsforschung an

2

Die britische Sozial- und Medienanthropologin Sarah Pink kommt in ihrem Überblick über bisherige theoretische Ansätze von »Alltag« auch für die internationalen Soziologie wie Anthropologie zu dem Fazit, dass während »Alltag« oder »Alltagswelt« in vielzähligen Buch- oder Aufsatztiteln auftauche, der Begriff als gegebene Kategorie konzeptualisiert wird, zu denen eine theoretische Auseinandersetzung keine Mühe wert ist: »For many contemporary anthropologists and sociologists, everyday life is a given; it is not a neglected domain of practice that needs to be brought to the fore, or a category that needs to be defined. Rather it is part of the substantive focus that they seek to understand when they research other people’s lives and develop their analyses in relation to alternative theoretical paradigms.« (Pink 2012, 7) (Vgl. auch Amelang 2014, 38)

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den sogenannten »unteren Sozial- und Bildungsschichten« oder »popularen Kulturen« auch im deutschsprachigen Raum vorherrscht. (Vgl. Warneken 2006, 11)3 In dieser Perspektive wird »Alltag« zu einem Phänomen degradiert, das nur in bestimmten sozialen Sphären zu finden ist, so als gäbe es keinen »Alltag« in Laboren, Kliniken, Golfclubs oder Parlamenten. Mit dieser Hervorhebung vermeintlich ›alltäglicherer‹, authentischerer oder besonderer Aufmerksamkeit bedürfender Forschungsfelder und Ausgrenzung aller anderen »Alltage« wurde allerdings laut Löfgren die Chance vertan, den interessantesten Aspekt von »Alltag« herauszuarbeiten: Seine von Personen, Raum und Zeit unbegrenzte Allgegenwärtigkeit. (Löfgren 2015, 325) Die deutsche Kulturanthropologin Katrin Amelang legte im Jahr 2014 mit »Transplantierte Alltage – Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation« eine Ethnografie zu den Praktiken der Veralltäglichung und Normalisierung von »Alltag« für Menschen nach einer Lebertransplantation vor. »Alltag« wird in ihrer Lesart durch von medizinisch-therapeutisch Behandelnden und Organtransplantierten von der Konnotation des Selbstverständlichen oder Banalen gelöst und »zu einem Problem, das erarbeitet und tagtäglich gemanagt werden muss.« (Amelang 2014, 6) Durch die Transplantation in Krise geratene Alltage visualisieren in Amelangs Lesart auch »was in weniger ›exotischen‹ der weniger ›extremen‹ Alltagen oft verborgen und unbemerkt bleibt. Es geht also darum, nicht allein ein Phänomen im Alltag zu erforschen, sondern Alltag selbst in den Blick zu nehmen. Der Alltag nach einer Lebertransplantation gilt dann als

3

Diese Studie versteht sich nicht als ›populare‹ Studie im Sinne Warnekens. Aufgrund der höheren Prävalenz von psychischen Erkrankungen in sozial sowie ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen sowie der nach wie vor starken Stigmatisierung psychisch kranker Menschen in Ausbildung und Arbeit (sog. Non-Starter sowie DriftHypothese, vgl. Dörner et al. 2002, 171) liegt allerdings die Vermutung nahe, dass es Unterschiede in der sozialen Herkunft, dem Status sowie den Bildungsbiografien zwischen Ergotherapeutinnen und Nutzerinnen gibt. Die australische Betätigungswissenschaftlerin und Herausgeberin des Journals of Occupational Science, Clare Hocking beschäftigte sich damit, wie Betätigungswissenschaftlerinnen, die überproportional oft kaukasisch und weiblich sind und der Mittelschicht angehören, unvoreingenommene Antworten zur Lebens- und Erlebenswelt anderer Gruppen finden könnten. (Hocking 2011) Für den deutschsprachigen Raum gibt es meines Wissens keine diesbezüglichen Studien.

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konfrontativer Extremfall, der es erlaubt, die Selbstverständlichkeit von Alltag, die vermeintlichen Gewissheiten des Alltags und einen Begriff von Alltag als unproblematisch Gegebenes zu hinterfragen.« (Amelang 2014, 7)

Dies beinhalte allerdings auch die Notwendigkeit von »Alltag« sich in Beziehung zum »Nicht-Alltag« zu setzen. In ihrer Lesart erschlössen sich »Alltägliches« und »Nicht-Alltägliches« erst in ihrer Gegenüberstellung, seien also in gewisser Hinsicht nicht voneinander abzukoppeln und würden dadurch erst erzeugt. (Vgl. Amelang 2014, 37-38) Amelangs analytischer Fokus liegt auf der »Verschränkung von Klinik und Alltag« sowie der Rekonfiguration von »Alltag« unter neuen, posttransplantierten Bedingungen.4 (Amelang 2014, 40) Diese Neugestaltung, wie sie in ähnlicher Form auch von Nutzerinnen psychiatrischer Fachbereiche erwartet wird, macht »Alltag« in gewisser Weise erst sichtbar. So kann die Patientinnen nach einer die Selbstverständlichkeit des »Alltags« verunsichernde Krankheit, unabhängig davon ob sie physisch oder psychisch ist, »[w]eder in den alten Alltag noch in die alte Normalität […] einfach zurückgekehr[en].« (Amelang 2014, 4041) Nicht-Events (vgl. auch 75) werden zum Inhalt und Ziel der Therapie. Obwohl ihre Analyse auf die Herstellung von Alltag und Normalität abzielt, sieht Amelang von einer präzisen Definition von »Alltag« ab und möchte anstatt dessen »mit einer empirisch fundierten Vielheit, die verunsichert, befragt und anregt« zum Diskurs beitragen. Hierfür nutzt sie die Vielfalt und Vieldeutigkeit sowie die Unschärfe des Alltagsbegriffs, um »ihn für die Analyse bewusst offen und widersprüchlich [zu] halte[n].« So sei es möglich, »die Bandbreite vielfältiger Thematisierungen, Dimensionen und Produktionen von Alltag abstecken« zu können. (Amelang 2014, 43) Denn »[j]ede Erforschung von Alltag gibt immer nur einen spezifischen Einblick in das, was ihn ausmacht, ja ausmachen könnte.« (Amelang 2014, 239) »Unbezweifelt bleibt, dass eine Blickrichtung auf, mit und durch Alltag Erkenntnispotential hat. Die Hinwendung zu den schweigsamen, unsichtbaren oder als unaufregend geltenen Seiten des Sozialen gibt einen Einblick hierin, wie soziale Beziehungen und Differenzen in alltäglichen Selbstverständlichkeiten und Routinen überhaupt als das Normale oder Gegebene etabliert werden.« (Amelang 2014, 239)

4

Gemeint sind unter anderem andere Ernährungsgewohnheiten oder körperliche Ertüchtigung, die von den Patientinnen nach einer Transplantation erwartet werden.

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Sie unterstreicht, dass die Ambivalenz der Alltäglichkeit klinischer Räume, für die unterschiedlichen Akteurinnen höchst unterschiedliches symbolisierten. Während es für die Praktikerinnen ihren Arbeitsort darstellt, dürfte es für einige Langzeitnutzerinnen (oder immer in die Behandlung wiederkehrende von der Psychiatrie als ›Drehtürpatientinnen‹ bezeichnete) sogar als ›zweites Zuhause‹ wahrgenommen werden. Für andere Nutzerinnen und deren Angehörige bleibe die Klinik ein »Ausnahmeort, an dem Ängste und Hoffnungen, Leben und Tod eng beieinanderliegen.« (Amelang 2014, 48) Das Krankenhaus symbolisiere für die letzte Gruppe also einen essentiellen »Nicht-Alltag«, in der die Betroffenen nur Patientinnen sind und sein dürfen. (Vgl. Amelang 2014, 49) Anhand ihrer ethnografischen Beobachtungen aus einer Rehabilitationsklinik für Posttransplantierte schließt sie, dass die an ein Hotel erinnernde Ausstattung, die geregelten Mahlzeiten und eng getakteten, Erwerbsarbeit nicht unähnlichen Therapiepläne nicht an »Alltag« erinnerten. Sie fragt sich daher, »[i]nwiefern simulieren einzelne Therapiebereiche der Reha-Klinik Alltag?« und »was hat die therapeutisch unterstützte Arbeit an der Gesundheit mit Alltag zu tun?« (Amelang 2014, 85) Obwohl sich Amelang hier der Deutung Felskis und anderen von »Alltag« als vornehmlich in vertrauter Umgebung stattzufindend anzuschließen scheint und wie der Psychologe Brücher und die Betätigungswissenschaftlerin Townsend auf den Simulationscharakter klinischer »Alltagspraktiken« verweist, tut sie dies aus einer anderen Perspektive heraus. Ihr geht es nicht um eine Beurteilung der therapeutischen Wirkung vermeintlich weniger authentischer Praktiken in ›simulierten‹ Situationen oder die Frage, ob sich Handlungen für den Alltag nur im (außerklinischen) Alltag lernen lassen, sondern darum, welche Aussagen sich über »Alltag« anhand dieser klinischen »Gebrauchsanweisung für Alltag« treffen lassen können. (Amelang 2014, 118) Amelang verbleibt hierbei in ihrem Verständnis von »Alltag« als außerklinisch zu verorten und stellt Klinik und Alltag in gewisser Hinsicht als gegensätzlich zueinander wie einander ausschließend dar, obwohl sie auch darauf hinweist, dass sowohl der Arbeitsalltag der Mitarbeiterinnen in der Klinik stattfindet und Nutzerinnen häufig monatelang in der Klinik verbleiben, sich daher auch für sie ein ›Klinikalltag‹ einstellt. Sie beschreibt den Genesungsprozess der Organtransplantierten als Weg zu »weniger Klinik, mehr Alltag« und diagnostiziert eine »Expansion der klinischen Intervention in Alltage«, welches meines Erachtens eine grundsätzliche Konstruktion der Begriffe »Alltag« und »Klinik« als einander ausschließende Gegenspieler illustriert. (Amelang 2014, 232-233) Diese Sicht teile ich insofern nicht, als dass es sich um den »Alltag« einer stationären Allgemeinpsychiatrie meines Erachtens um einen, wenn auch extremen oder schlicht ungewöhnlichen Alltag handelt.

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Die Vermutung liegt nahe, dass diese Unterteilung von »Nicht-Alltag« in der »Klinik« und »Alltag« in Privatwohnungen strenggenommen den ›Alltagsauschluss‹ sämtlicher Institutionen betreffen würde, in denen Menschen längere Zeit außerhalb ihres Wohnorts verbringen. Inhaftierte, Soldatinnen und Nonnen, Hotelgäste wie Bewohnerinnen von Asylbewerberinnen oder anderen Notunterkünften, Internatsschülerinnen bis hin zu Seefahrerinnen hätten dieser Logik folgend keinen Alltag. In der Klinik sind Behandelte und Behandelnde meist über Wochen hinweg, Tag-um-Tag durch den gleichen Ort, Zeit und Handlungsabläufe miteinander verbunden. Ich glaube nicht, dass »Alltag« mit der Hürde einer zu erreichenden Fähigkeit oder Begrenzung an einen heimischen Ort verbunden ist oder sein sollte.5 Im Feld der Krankenhausethnografien machen die australischen Gesundheitswissenschaftlerinnen Debbi Long und Cynthia Hunter sowie der niederländische Medizinanthropologe Sjaak van der Geest zwei, einander gegensätzliche Verortungen von »Alltag« innerhalb der Klinik aus. (Long, Hunter, und van der Geest 2008) Einerseits würde die Klinik als ›exotische Insel‹ gedeutet, die ihre Bewohnerinnen vom ›Festland‹ des normalen Lebens abschneide. (Vgl. Coser 1962, 34) Diese Lesart wurde andererseits in gewisser Hinsicht auf den Kopf gestellt mit der Perspektive von der Klinik als von äußeren Normen und Werten der Außenwelt infiltrierter und geformter Ort. (Zaman 2005) Das Krankenhaus würde so außerhalb von »Alltag« stattfinden (hospital-as-island) oder wäre vollkommen von ihm durchzogen (hospital-as-culturally-embedded). (Long, Hunter, und van der Geest 2008, 72) Long, Hunter und van der Geest hingegen plädieren für den Begriff des ›Zwischenraums‹, der Nutzerinnen aus ihrem Alltag herausreißt, um im Anschluss diagnostiziert, medikamentös behandelt und anderweitig therapiert (und gegebenenfalls operiert) zu werden. Klinikalltag würde so für viele Nutzerinnen den (unfreiwilligen) Übertritt von ihrer früheren Identität als Gesunde zu einem neuen Selbstbild als (aktuell oder langfristig) Kranke bedeuten.6 (Long,

5

Entgegen Amelangs Arbeit ist diese Studie nicht so stark fokussiert auf Patientinnen, das heißt von einer der beiden beforschten Gruppen, den Ergotherapeutinnen, würde man aus ihrer Perspektive mitunter dem gesamten Berufsleben die Alltäglichkeit aberkennen.

6

»Hospitals are ultimately liminal spaces, where people are removed from their day to day lives, taken into a betwixt and between space of being diagnosed, treated, operated upon, medicated, cleansed etc.. For many people, hospitals are places in which their previous identities as a healthy person, as a mobile person, as an immobile person, are stripped bare. New identities, such as a cancer survivor, a more mobile person with a

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Hunter, und van der Geest 2008, 73) Diese Transformation sowie die mit dem Ausbruch einer Erkrankung verbundenen Ängste um die eigene Gesundheit verwandeln die Klinik in einen Ort, an dem bange Fragen und die umfassende Bedeutung von Gesundheit deutlich drängender zu Tage treten als im routinierten Alltag. Deshalb resümieren die Autorinnen, dass das Klinikleben eine Verdichtung und Intensivierung des Lebens – oder in meiner Perspektive: einen extremen Alltag – darstelle. (Long, Hunter, und van der Geest 2008, 74) Amelangs Interviewpartnerinnen gaben den Wunsch an, zu einem möglichst ›normalen‹ Alltag zurückzufinden und nach und allmählich mit »der Transplantation an Vertrautes und Gewöhntes anknüpfen zu können. So wollen sie nach einer existentiellen Krise wieder ein ›normales‹ Leben führen können. Doch den wenigsten von ihnen ist es gesundheitlich wie sozial möglich, ungebrochen so weiterzuleben wie vor der Lebererkrankung. Ihre Position ist eine zwischen Krankheit und Gesundheit.« (Amelang 2014, 231-232) Hiermit verschiebt die Autorin den von Long u.a. in der Klinik selbst vermuteten Zwischenraum in das poststationäre Leben der Lebertransplantierten. Amelang konstatiert in Hinblick auf die nach einer Transplantation meist lebenslang notwendigen Medikamenteneinnahme und mehr oder weniger enger medizinischer Betreuung, dass das »Dazwischen« zwischen Krankheit und Gesundheit »selbst zum normalen Alltag gemacht wird.« (Amelang 2014, 232) Sie schließt daraus, dass sich »Alltag« in der Posttransplantationsbehandlung als »zwischen Altem und Neuen vermittelnde, auf Kontinuität und Stabilität zielende Herstellungsleistung begreifen« lasse. »Alltag« würde so zu einem »Mittel, das es (uns) ermöglicht, mit der Krisenhaftigkeit wie Endlichkeit unseres Lebens umzugehen.« (Amelang 2014, 242) Dieser analytische Fokus auf vermeintlich fehlende Grenzen und Grenzziehungen von »Alltag« wurde bisher nur selten in den Blick genommen. Für eine theoretische Auseinandersetzung mit den zeitlichen, räumlichen und soziomaterialen Voraussetzungen von Alltagshandeln verschiebt sich zunächst allerdings der analytische Fokus weg von den Akteurinnen in Richtung der Praktiken und hierbei produzierten Bedeutungszuschreibungen der Akteurinnen. Praktiken werden nach dem deutschen Soziologen Andreas Reckwitz in Hinsicht auf ihre »›implizite‹, ›informelle‹ Logik der Praxis und Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen und ›Können‹; eine ›Materialität‹ sozialer Praktiken in ihrer Abhängigkeit von Körpern und Artefakten; schließlich ein Spannungsfeld von Routinisiertheit und systematisch begründbarer Unberechenbarkeit von Praktiken« in den Blick genommen. (Reckwitz 2003, 282) Aus Reckwitz’ Sicht stellen

new hip, a rehabilitated person with one less limb are forged.« (Long, Hunter, und van der Geest 2008, 73)

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praxistheoretische oder praxeologische Ansätze, auf die er sich bezieht, mehr als nur eine Weiterführung eines von jeher genuinen Interesses der Sozialwissenschaften an sozialen Praktiken dar, sondern modifizieren im Vergleich zu klassischen Handlungstheorien nicht nur das Verständnis von Handeln, sondern im gleichen Maße vom Sozialen7 und dessen Verortung. (Reckwitz 2003, 282) Er unterstreicht, dass es sich bei den von ihm vorgestellten Theorieprogrammen und Forschungsansätzen nicht um ein einheitliches Gebilde, sondern um eine Art praxeologische ›Theorienfamilie‹ oder vielfältigen ›Ideenpool‹ handle.8

7

Für zweckorientierte Handlungstheorien ist das Soziale als ein Produkt von der Vielfalt an Entscheidungen, die mit subjektiver Rationalität ausgestattete Akteurinnen interessengeleitet treffen, die sich in ›übersubjektive‹ Produkte wie Marktpreise, Vertragsnormen oder Ressourcenverteilungsmuster subsumieren lassen. (Vgl. Reckwitz 2003, 285) Normorientierte Handlungstheorien haben bereits stärkere Gemeinsamkeiten zur praxistheoretischen Definition des Sozialen, verstehen sie dieses doch nicht als das Ergebnis individueller Handlungen, sondern verweisen auf normative Regeln, welche Handlungen überhaupt erst ermöglichen (oder verhindern). Soziale Erwartungen und Rollen, in denen sich die Akteurinnen bewegen, werden so zu einem Rahmen, in dessen Konsens sich potenziell widersprechende Handlungen minimiert werden und Handlungsfähigkeit entsteht. (Vgl. Reckwitz 2003, 286) Sozialkonstruktivistische Theorien, die in den 1970er Jahren Verbreitung fanden, problematisieren hingegen nicht mehr so stark die Handlungskoordinationsprobleme der Akteurinnen welches über Normen eingegrenzt werden soll oder wird. Sie setzten mit ihrer Frage bei den Akteurinnen und ihrer subjektiven Wahrnehmung zur sozialen Ordnung an, die sie erst in den Zustand von Handlungsfähigkeit bringe. Den symbolisch-sinnhaften Regeln, welche »die Zuschreibung von Bedeutungen gegenüber Gegenständen in der Welt und ihr ›Verstehen‹ regulieren«, wird in diesen Ansätzen in der Lesart von Reckwitz besondere Beachtung geschenkt. (Reckwitz 2003, 287) Soziale Handlungen werden in dieser Perspektive durch »kollektiv geteilte Wissensordnungen, Symbolsysteme, kulturelle Codes, Sinnhorizonte« und der Summe dieser sinngebenden und symbolischen Ordnungen gesucht. Anstatt dem Ort des Sozialen ist die »Frage nach dem Ort des Kulturellen, des SinnhaftSymbolischen« im Sinne von Rabinow und Sullivan (1979) sowie Wuthnow et al. (1984) zentral. (Reckwitz 2003, 287)

8

Neben den soziologischen grand theories Bourdieus und Giddens‹ und einflussreichen sozialphilosophischen Beiträgen Wittgensteins (Wittgenstein 1969), Anleihen aus Heideggers Analysen zum ›Dasein‹ beziehungsweise ›In-der-Welt-Sein‹ (Heidegger 1927 [2006]) sowie den materialen Arbeiten aus der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967), post-marxistischen Ansätzen aus den cultural studies zur Formulierung einer ›Alltags-

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Auf diese ›Theorienfamilie‹ werde ich in den folgenden Abschnitten daher in Verbindung mit alltagstheoretischen Ansätzen unter den Gesichtspunkten »Routinen«, »Handwerk« beziehungsweise »Materialität« sowie »Produktivität« näher eingehen, deren Zentralität für die »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie ich bereits im historischen wie theoretischen Abriss aus Sicht der Profession selbst herausgearbeitet habe und die Grundlage für den empirischen Teil der Studie bilden wird.

3.3 »ALLTAG« UND »PRAXIS« – ROUTINEN »Despite their importance in accounting for how we spend time, until recently, most research on repetitive behaviors has focused on recurring patterns of behavior that are destructive, antisocial, or unhealthy. These include physical addictions (e.g., smoking, alcoholism, or drug use) as well as psychological addictions (e.g., gambling, eating, or excessive engagement), or preoccupation (e.g., with computer games).« (Christiansen und Townsend 2010, 10)

Das Einüben von Routinen beziehungsweise routinisierten Handlungsabläufen, »a more or less self-actuating disposition or tendency to engage in a previously adopted or acquired form of action« (Camic 1986, 1044) für die Bewältigung des »Alltags« ist ein wichtiger Bestandteil ergotherapeutischer Praktiken, weshalb insbesondere der Aspekt des Hinarbeitens auf praktische oder inkorporierte »Alltagsfähigkeiten« hervorzuheben ist, als auch die »kontinuierliche Mischung von Routine und Reflexion« (Hörning 2001, 162-163), die »Alltagspraktiken« innewohnen. Unabhängig von der Komplexität der Praktiken – »vom Zähneputzen bis zur Führung eines Unternehmens« – sind »Alltagshandlungen« laut Reckwitz stets

soziologie‹ (de Certeau 1988) mit einem Fokus auf sub- und popkulturelle Alltagpraktiken und den Gender Studies zur Performanz von Geschlechtsidentitäten (Butler 1993) hebt Reckwitz die post-humanistischen Artefakt-Theorien aus der Wissenschafts- und Technikforschung hervor, auf die später noch ausführlicher eingegangen werden wird (Latour 1995 [1991]). (Vgl. Reckwitz 2003, 282)

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Ausdruck von hierfür vorausgesetzten praktischen Wissensformen. (Reckwitz 2003, 291) Besondere Zuwendung erfährt im Rahmen einiger praxistheoretischer Zugänge implizite, also nicht explizierte oder gar explizierbare Wissensarten, die durch einen Blick auf formulierte Regeln oder Normen nicht nur unzureichend, sondern schlicht nicht zu verstehen sind. Außerdem wird die Situierung von Wissen in den Praktiken selbst betont. Das heißt, Wissen findet nur in der Praxis selbst, während also ›gewusst wird‹, statt. Durch diese Situierung von Praktiken wird der konstante Aushandlungsprozess zweier Merkmale von Handlung besonders deutlich: Der der Routine und der Reflexion bedürfenden Unberechenbarkeit. Während sich Praktiken im Alltag durch ihre kontinuierliche Wiederholung auszuzeichnen scheinen, bieten sie aufgrund ihrer Stetigkeit vielzählige Möglichkeiten für deren Misslingen, Neuinterpretation und potenziellen Konfliktbehaftung. Denn obwohl, wie Reckwitz es hervorhebt, »[e]inmal vermitteltes und inkorporiertes praktisches Wissen dazu [tendiert], von den Akteuren immer wieder eingesetzt zu werden und repetitive Muster der Praxis hervorzubringen«, sind diese durch ihr implizites Wesen »voraussetzungsvollere Gebilde« (Reckwitz 2003, 294) als anzunehmen. Die hierdurch bedingte interpretative wie methodische Unbestimmtheit und Ungewissheit sei Wesensmerkmal, beziehungsweise »›Logik der Praxis‹ […], die diese Offenheit und Veränderbarkeit herbeiführt und die den in der Praxis situierten Akteur dazu zwingt (und es ihm ermöglicht), ebenso ›skillfully‹ wie im Routinemodus mit ihnen umzugehen.«9 (Reckwitz 2003, 294) Der Modus der Kontinuität, also die Fülle von repetitiven und routinisierten Handlungsabläufen, wird von einigen Autorinnen als wesentliches Merkmal des »Alltags« hervorgehoben: »The temporality of the everyday, I suggest, is that of repetition, the spatial ordering of the everyday is anchored in a sense of home and the characteristic mode of experiencing the everyday is that of habit.« (Felski 2000, 18)

Die in den USA forschende und lehrende Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Rita Felski führt in ihrem Aufsatz »The Invention of Everyday Life« drei Kernaspekte des »Alltäglichen« an: Den der zeitlichen Wiederholung, der (fehlenden) Räumlichkeit und (gleichzeitigen) Verknüpfung zum Vertrauten, Heimatlichen oder des ›Zuhauses‹ und der ihm anhaftende Erfahrungsmodus der Gewöhnlichkeit, Habitualisierung beziehungsweise Routine. Durch diese Verbindung von »Alltag« und den hierin ausgeführten Handlungen mit dem scheinbar stets verfügbaren und

9

Zu Bourdieus praxistheoretischen Grundlagen vgl. 91.

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somit als selbstverständlich Wahrgenommenen (vgl. Felski 2000, 22) wird Felski zufolge vorausgesetzt, dass Routinen im Alltag nicht nur eine Handlung beschrieben. Darüber hinaus seien sie Ausdruck einer Haltung und würden oft halb-automatisiert, abgelenkt oder gar unfreiwillig durchgeführt.10 Die Temporalität des Alltagslebens und seine intuitive räumliche Verortung in private Räume basierten auf der Assoziation des Begriffs mit Vertrautheit oder Geborgenheit (familiarity). (Vgl. Felski 2000, 26) Diese drei, ineinander greifenden Konzeptualisierungen von »Alltag« als selbstverständliches, da immerwährendes, vorrangig im Privaten zu verortendes und stark durch Routinen geprägtes Tätigkeitsfeld interpretiert Alltagshandlungen zunächst und im Gegenteil zu Giddens,11 Beck, Hörning und Reckwitz als mehr

10 Diese Definition von »Alltagshandlungen« als halb-automatisiert und notwendiger Weise implizit begründet sie in Anlehnung an die ungarische marxistische Philosophin Ágnes Heller damit, dass: »We would simply not be able to survive in the multiplicity of everyday demands and everyday activities if all of them required intentive thinking [...] Disengagement is an indispendable precondition for […] continued activity«. (Heller 1984, 129, zit. n. Felski 2000, 27) 11 Der britische Soziologe Anthony Giddens unterstrich in seinen Publikationen die Bedeutsamkeit praktischen Wissens für die Bewältigung alltäglicher Routinen und erarbeitete, auf den Ergebnissen der mikrosoziologischen Studien aus der Ethnomethodologie wie dem symbolischen Interaktionismus aufbauend, eine Sozialtheorie der Strukturation des sozialen Alltags, welche grundlegende »Konzepte des Wesens menschlichen sozialen Handelns und des menschlichen Akteurs« für die empirische Forschung zugänglich machen sollte. (Giddens 1992, 32) Reckwitz unterstreicht in seiner Rezeption die akteurtheoretische »Überwindung des Dualismus von Struktur und Handeln«, dessen zentrale Konzepte die »des ›praktischen Bewusstseins‹ und der sozialen ›RaumZeit-Bindung‹ durch Praktiken« seien. (Reckwitz 2003, 283) Diese soziale Raum-ZeitBindung ist als Notwendigkeit, »Handlungsweisen und Gepflogenheiten über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg ständig« auszuführen, in dessen Rahmen sich die Akteurinnen »durch soziale Einübung oder Erfahrung im fortlaufenden Handlungsvollzug eingelebt« haben. (Hörning 2001, 162) Giddens verweist Beck zufolge auf die Dualität der Strukturierung und ergänzt die bisherigen funktionalistischen oder strukturalistischen Handlungstheorien, deren Augenmerk auf den externen regulierenden oder begrenzenden Handlungser- oder entmöglichungen liegt und somit vor der eigentlichen Handlung zu verorten sind, um eine Perspektive, in der auf die praxisimmanente Reproduktion und potentiellen Transformation dieser Strukturen hingewiesen wird. (Vgl. Beck 1997, 330) So werden Handlungen in diesem Ansatz als weitgehend nicht inten-

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oder minder voraussetzungslose Prozesse. Die Betonung auf intuitive und implizite Betätigungen scheint nahezulegen, dass »Alltag« schlicht gegeben, allen stets verfügbar ist und demnach keiner spezifischen Befähigung oder (Selbst-)Reflexion bedarf. Die ergotherapeutischen »Alltagsbefähigungspraktiken« mit und von psychiatrischen Nutzerinnen stünde somit gleich vor mehreren Herausforderungen: Wenn funktionierender »Alltag«12 keine Handlungsfähigkeit benötigen würde, wäre eine dahingehende Therapie schlicht obsolet.13 Außerdem sind therapeutische Behandlungsansätze zur »Alltagsbefähigung« innerhalb der Klinik schlicht ›fehl am Platz‹, setzt man die Verortung von Alltag als grundsätzlich im Privaten beziehungsweise den Privathaushalten der Nutzerinnen

dierte, im besonderen Maße affirmierende und stabilisierende Handlungsarten verstanden. (Vgl. Beck 1997, 330) Diese fehlende Intention zur Bestätigung und Stabilisierung von Strukturen bedeute allerdings nicht, dass routinisierte Tätigkeiten »gedankenlos«, unwissentlich oder unlogisch ausgeführt werden. Vielmehr seien praktische Interaktionen als stete Anpassungsleistung mit der materialen und sozialen Umwelt und kontinuierliche Verfeinerung dieser Routinen zu verstehen, die nicht notwendigerweise von den Akteurinnen selbst reflektiert oder verbal expliziert sein müssen. Zugleich haben die Routinen aber einen wichtigen Anteil an der Aufrechterhaltung von Selbst-Sicherheit und -Bewusstsein. (Vgl. Beck 1997, 330) So bestand einer der Hauptkritikpunkte an funktionalistischen und strukturalistischen Konzepte für Giddens in Becks Lesart in dessen Tendenz, »das menschliche Verhalten als ein Ergebnis von Kräften zu betrachten, welche die Handelnden weder kontrollieren noch verstehen« können. (Giddens 1992, 29, zit. n. Beck 1997, 304) 12 Die Unterscheidung zwischen »Alltag« und »funktionierenden Alltag« ist hier relevant. Während es in der Klinik meines Erachtens einen, wenn auch extremen »Alltag« gibt und grundsätzlich alle einen Zugang zu Alltag haben, beziehungsweise es ein Leben ohne Alltag gar nicht geben kann, gibt es bestimmte Fähigkeiten, um einen funktionierenden »Alltag« zu führen. 13 Während meiner Feldforschung wurde sowohl durch Mitarbeiterinnen anderer Professionen als auch Nutzerinnen wiederholt Bedenken geäußert, ›wie Alltag zu erlernen sei‹ und ›was man dafür schon bräuchte‹. Auch auf die Frage, was sie in der Ergotherapie gelernt hätten, folgte in keinem Fall ein Exkurs zu ihrer verbesserten Fähigkeit, ihren Alltag intuitiv in Tätigkeiten zur Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit zu gestalten, sondern verblieben auf der Ebene der Beschreibung erlernter handwerklicher oder künstlerischer Fähigkeiten wie der Specksteinbearbeitung.

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voraus.14 Diese Diskussion wurde in ähnlichem Gewand bereits im letzten Abschnitt zum Simulations- oder Inszenierungscharakter der psychiatrischen stationären Ergotherapie angeschnitten (vgl. 53), steht allerdings im Gegensatz zur Deutung von »Alltag« als unbegrenzbaren, allgegenwärtigen ›Raum‹. Die vermeintlich fehlende Authentizität von »Alltagspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie und soll im empirischen Teil der Arbeit weiter ausgeführt werden. Mit der Art und Weise, wie Alltagshandlungen ausgeführt werden, hat sich u.a. der britische Kultur- und Kunstwissenschaftler Ben Highmore beschäftigt. (Highmore 2004, 2012a, 2011, 2012b) Er charakterisiert Alltagshandlungen, ähnlich wie Felski als automatisierte, abgelenkte Tätigkeiten, verweist aber auf die zusätzliche Dimension, dass diese meist parallel ausgeführt werden würden: »Distraction and inattention often characterizes a routine consciousness that might be described as diffuse. I wash, clean and cook, while also dreaming, reminiscing and worrying.« (Highmore 2004, 311)

Diese Gleichzeitigkeit von ›state of minds‹ im Sinne von emotionalen und kognitiven Auseinandersetzungen und ›states of action‹ verdeutlicht die Mehrdimensionalität von »Alltagspraktiken« einerseits (vgl. ebda.) und ist andererseits ein Argument für eine multiperspektivische methodische Herangehensweise zu ihrer Beforschung im Zuge detaillierter Beobachtungen und Analysen der ›states of actions‹ der »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie. In »Homework: Routine, social aesthetics and the ambiguity of everyday life« (2004) beschreibt Highmore die gefühlte Gleichzeitigkeit von Routinen als befriedigend und langweilig, leicht von der Hand gehend und nur unter großem Kraftaufwand veränderbar. In seiner Lesart ist es das, was die Auseinandersetzung mit »Alltag« so interessant mache: »The habits and routines of everyday life suggest an arena marked by tenacity; routines and habits hold on to us and we hold on to them, oftentimes unwittingly and sometimes unwillingly. Routines and habits can be hard to acquire and harder still to break.« (Highmore 2004, 311)

14 Die Frage nach dem angemessenen Behandlungsort ist ein Argument, welches neben der erwarteten Kostenersparnis insbesondere bei bisherigen Modellprojekten einer psychiatrischen Akutbehandlung im häuslichen Umfeld (Home-Treatment) angeführt wird. Eine flächendeckende ambulante Behandlung dieser Art gibt es allerdings bisher nicht. (Aktionsbündnis seelische Gesundheit 2017, Gühne et al. 2011)

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»Alltag« ist Highmore zufolge genauso durch Kontinuität, stete Wiederholung, und damit einhergehende Gewöhnung und Banalität geprägt, wie durch eine Beharrlichkeit oder Starre einmal etablierter Routinen. Die häufigen Brüche im Alltag fordern die Akteurinnen zu einer Flexibilität in der Ausführung ihrer Routinen heraus, welches allerdings aufgrund der wenig reflektierenden Art und Weise der Ausführung der meisten Alltagshandlungen besonders schwierig erscheint. Werden die »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie als Etablierung beziehungsweise Veränderung von Routinen verstanden, illustriert dies die große Herausforderung, vor der sich Behandelte und Behandelnde gestellt sehen und legt Bedenken nahe, ob der Bruch mit einmal verfestigten Routinen, egal ob sie gesundheitsfördernd oder schädlich sind, überhaupt beziehungsweise innerhalb einer zeitlich durch den Krankenhausaufenthalt begrenzten Therapie möglich ist. Zugleich ist »Alltag« Highmore zufolge allerdings von kleinen Unterbrechungen und Einbrüchen geprägt, die zu flexiblen und kreativen Handeln auffordert und die Spezifität von »Alltagshandlungen« unterstreichen. Während ein Großteil der ausgeübten Tätigkeiten im Alltag also als Nicht-Events15 im Sinne eines starren Gebildes von automatisierten, eintönigen Handlungsabläufen gelten, sind diese zugleich von graduellen bis dramatischen Veränderungen geprägt: Das morgendliche gedankenversunkene Zähneputzen ist nur so lange langweilige »Alltagshandlung« und ›Meditation‹ über die daraufhin abzuarbeitende Besorgungsliste, bis ein simpler Anruf die Handlung unterbricht oder die schleudernde Waschmaschine daneben mit einem Wasserschaden gar die tägliche Routine gänzlich vergessen lässt. Um dieser, im Beispiel versinnbildlichten Doppeldeutigkeit von mal eintönigem und banalen und von kleineren und größeren ›Dramen‹ oder ›Ohnmachten‹ geprägten »Alltag« gerecht zu werden, schlägt Highmore vor, den Mustern von Assoziationen, seinen Verbindungen und Unterbrechungen im »Alltag« selbst nachzugehen. (Vgl. Highmore 2011, 2)16

15 In seiner im Jahr 2011 erschienenen Monografie »Ordinary Lifes – Studies in the Everyday« knüpft Highmore an diesen Gedanken an, indem er »Alltag« als Akkumulierung kleiner Dinge beziehungsweise Handlungen, die eine größere, doch schwer zu fassende größere Einheit oder ›große Sache‹ definiert. Seine Forschungsfrage zielt daher darauf ab, inwieweit es möglich ist, sich mit diesen alltäglichen Routinen, die er als »NichtEvents« fasst, auseinanderzusetzen ohne sie schlicht in »Events« umzudeuten und so die spezifische hiermit einhergehende Erfahrung des Beiläufigen zu verraten. (Vgl. Ebda. sowie ›Nicht-Events‹ bei Löfgren & Ehn, 2010 Kapitel 4) 16 In Bezug auf den französischen Soziologen und Kulturphilosophen Michel de Certeau, der mit seinem im Jahr 1980 im französischen Original erschienenen Werk zur »Kunst

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Die ›simulierten‹ Alltage in der stationären psychiatrischen Ergotherapie scheinen zunächst ungestört von solchen Unvorhersehbarkeiten zu sein und daher die anderswo notwendige Flexibilität nicht mit vermitteln zu können. Der Klinikalltag ist eng getaktet in Mahl- und Therapiezeiten und vom Alltag außerhalb abgeschirmt. Dennoch kam es während meiner Forschung immer wieder zu Situationen, die Flexibilität von den Behandelnden wie Behandelten einforderte. So müssen Nutzerinnen flexibel auf die oft eigensinnigen Verhaltensweisen ihrer MitNutzerinnen reagieren, die mal verbal aggressiv, mal nackt oder laut schreiend über den Stationsflur laufen. Eine Kochgruppe musste umdisponieren, da die am Tag zuvor eingekauften Lebensmittel von einer Nutzerin während der Nacht komplett für ein Mitternachtsmahl aufgebraucht wurden. Obwohl es also andere Arten der Unterbrechungen sind, fordert die Psychiatrie ein großes Maß an Flexibilität von allen Beteiligten. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde der Beforschung von »Alltag« auch in den Ethnowissenschaften ein erneutes Interesse entgegengebracht, die mit dem Ziel verbunden waren, neue analytisch-theoretische wie methodische Zugänge zu den non-diskursiven Dimensionen sozialen Lebens zu entwickeln. (Löfgren 2015, 325) Insbesondere die Frage danach, wie Routinen und Gewohnheiten erlernt werden und wie sie in einer Art und Weise internalisiert werden, dass sie zu impliziten Wissensformen werden, hat viele Forscherinnen umgetrieben (vgl. Ehn & Löfgren 2010, 71ff.). Als Grund für dieses neue Interesse nennt der schwedische Europäische Ethnologe Orvar Löfgren, dass Routinen trotz ihrer scheinbaren Irrelevanz oder Unsichtbarkeit oft Schauplatz von Verhandlungen um Macht, Freiheit und Kontrolle seien. Durch ethnografische Methoden sei es ihm zufolge möglich, die Vorannahme von Routinen als bloße Aneinanderreihung gleicher Handlungsabläufe zu destabilisieren und anstatt dessen die minimalen Veränderungen (microchanges) die das Potential hätten, Routinen zu transformieren, in den Blick zu nehmen. (Löfgren 2015, 325, Highmore 2011, Pink 2012) Diese Routinentransformation in extremen »Alltagen« fällt allerdings in meinem Feld deutlich größer aus insofern, als dass es sich nicht um graduelle kaum bemerkbare Änderungen

des Handelns« (Certeau, 1988) eine einflussreiche soziologische Theorie des Alltagslebens und des Verbraucherverhaltens vorlegte, spricht sich Highmore für eine Beschäftigung von singulären Phänomenen, um Aussagen über größere Zusammenhänge treffen zu können, die allerdings eine Hinwendung zu einem Beschreibungs- und Analysemodus erfordere, der sich mehr mit der Organisation oder Orchestrierung von Praktiken und ihren Bedeutungen auseinandersetzt als nur mit Bedeutungszuschreibungen. (Vgl. Highmore 2011, 2)

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handelt, sondern um den Versuch einer mitunter radikalen Verschiebung von krankheitsbedingt verschwundenen oder krankmachenden Routinen. Die schwedischen Europäischen Ethnologen Orvar Löfgren und Billy Ehn legen mit »the secret world of doing nothing« eine Ethnografie der Nicht-Events vor, die sich mit dem beschäftigt, was Menschen tun, wenn sie vermeintlich ›nichts tun‹, wenn sie warten, im Haushalt tätig sind oder Tagträumen. (Ehn und Löfgren 2010) Ihr Fokus liegt dabei weniger auf übergeordneten Strukturen, sondern zielt ab auf das »subtle knowledge of everyday skills and shared competences and understandings«. (Ehn und Löfgren 2010). Routinen, als ›Nicht-Events‹ konzeptualisiert, wurden Löfgren und Ehn zufolge zumeist entweder als stützendes, zusammenhaltendes Korsett oder – diametral hierzu – als kulturelle Zwangsjacke beschrieben. (Vgl. Ehn und Löfgren 2010, 80;120) Die Autoren heben, wie bereits Heller und Felski, die entlastende Wirkung hervor, die Routinen haben können, bewahrten sie den oder die Handelnden davor, bei jeder aufkommenden neuen Handlung erneut aktiv entscheiden zu müssen. So schützen Routinen vor täglichen Neuabwägungen darüber, ob zuerst der linke oder der rechte Schuh angezogen werden sollte, ob das Frühstücksei besser gebraten, gekocht oder gerührt werden sollte. (Vgl. Ehn und Löfgren 2010, 113) Sie verweisen hierbei auf die unreflektiertes Tun als Kernmerkmal von Routinen, die erst in Absenz17 als notwendig oder sinnvoll bedacht werden können. Zudem sind gleichbleibende und erwartbare Handlungsabläufe eine wichtige Voraussetzung von Sozialität, das heißt Routinen sind kollektive, normalisierende Pfade und weit mehr als persönliche Handlungsweisen. (Vgl. Ehn und Löfgren 2010, 120) Ehn und Löfgren arbeiten unter anderem das sogenannte Burnout-Symptom als Beispiel eines Bruchs mit Routinen (durch eine Erkrankung) heraus. (Vgl. Ehn und Löfgren 2010, 115) Die hierfür befragten Betroffenen beschrieben, wie sich ihre Erwerbsarbeit einen zunehmend großen Raum einzunehmen schien, bis sie als nicht mehr zu bewältigen wahrgenommen wurde und zu längeren Krankheitsausfällen führte: »The flow of everyday life had turned into friction, order into chaos, and it became obvious how important the autopilot had been in dealing with work and home. Now they were at home, with all the time in the world on their hands, but life did not work in the domestic

17 Veränderte Lebensumstände wie eine Scheidung, der Auszug der Kinder, der Zusammenzug eines Paares oder die Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern stellten eine vergleichsweise radikale Umstrukturierung zuvor routinisierter Alltagshandlungen dar, die die Bedeutung von Routinen meist erst in der Retrospektive verdeutlichen. (Vgl. ebda.)

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area as it normally would have. Many everyday routines had become Herculean tasks. ›It could be a full day´s work just to take a shower and wash my hair,‹ one woman said. They had to make decisions about even the most trivial acts that had earlier been handled by the autopilot: ›I remember staring at a flowerpot for hours, trying to make up my mind if I should water it or not. ‹« (Ehn und Löfgren 2010, 116-117)

Zugespitzt formuliert ist das Fehlen des ›Autopiloten‹ das zentrale Merkmal psychischer Erkrankungen. Ergotherapeutische Zielvorgabe sollte es dann sein, die automatische Steuerungsanlage erneut in Gang zu setzen und mit den richtigen Abläufen für einen gesunden Alltag zu programmieren.18 Die deutsche Europäische Ethnologin Martina Klausner unterstreicht in ihrer im Jahr 2015 erschienen Monografie »Choreografien psychiatrischer Praxis – Eine ethnografische Studie zum Alltag in der Psychiatrie«, dass während (psychischer) Krisenerfahrungen die Art und Weise, wie Routinen die Bewältigung des alltäglichen Leben ermöglichen, den Betroffenen nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung steht und durch engmaschige Taktung im stationären Alltag die Zeitstrukturen eines ›gewöhnlichen‹ Alltags wieder erlangt werden soll. (Vgl. Klausner 2015, 264) So könne der Alltag wieder impliziert werden, in den Hintergrund rücken und selbstverständlich werden, die Fremdbestimmung durch die Erkrankung vermindert und dadurch Kreativität, Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit ermöglicht werden. (Vgl. Klausner 2015, 265) Ich teile die Auffassung, dass die stationäre Psychiatrie einen, den Privatalltagen ähnlichen Alltag zu simulieren vermag nicht, welches ich im empirischen Teil der Arbeit weiter ausführen werde. (Vgl. 103ff, 127ff, 169ff.)

18 Als weiteres Beispiel für einen Bruch mit Routinen ziehen Löfgren und Ehm das des kollektiven, staatlichen Zusammenbruchs durch bewaffnete Auseinandersetzungen beziehungsweise (para-)militärische Belagerung heran. (Maček 2000) Der Zusammenbruch jeglicher Infrastrukturen wie Gas- oder Wasserleitungen und die Versorgung mit Elektrizität führt in radikaler Art und Weise vor, wie zuvor alltägliche Routinen nahtlose, über den Tag verteilte Rhythmen produziert hatten. Die Zerschlagung dieser Routinen wurde als strategisches Kriegsmittel der Angreiferinnen genutzt, um die Zivilbevölkerung zu demoralisieren und in die ›Knie zu zwingen.‹ (Ehn und Löfgren 2010, 118-119) Löfgren und Ehm folgern daraus, dass Routinen ein Grundelement des Lebens sind. (Vgl. Ehn und Löfgren 2010, 120)

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3.4 »ALLTAG« UND »PRAXIS« – MATERIALITÄT Wie es im Abschnitt zur arts-and-crafts-Bewegung und der daraus entstandenen Entwicklung des Kunsthandwerks als Therapeutikum dargelegt wurde, wird der Herstellung von Objekten in der psychiatrischen Ergotherapie wesentlicher Nutzen zur »Alltagsbefähigung« beigemessen. Den Umgang mit Objekten oder Technologien versteht Beck in seiner im Jahr 1997 erschienenen Monografie zum »Umgang mit Technik« »als die zwischen den extremen Polen von Routine und Kreativität liegenden, alltäglichen Handlungsmuster der Nutzer technischer Artefakte.« (Vgl. Beck 1997, 294-295) Er konzeptualisiert Technik und Technologie hierbei als Sozialität in zweifacher Hinsicht regulierend und formend: »einerseits als sozio-kulturell geformte sachliche Ausstattung der Industriemoderne, anderseits als formender Faktor des Alltagslebens.« (Beck 1997, 294)19 In seinem im Jahr 2001 erschienenen Monografie »Experten des Alltags – Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens« setzt sich Karl H. Hörning, deutscher Soziologe mit einem Schwerpunkt auf die Soziologie des Alltags sowie Kultur- und Techniksoziologie, mit den fortlaufenden alltäglichen Praktiken des (technischen) Ding- beziehungsweise Objektumgangs und dem praktischen Wissen und Können, welches die Nutzerinnen dabei erlangen, auseinander. (Vgl. Hörning 2001, 10). Er nimmt dabei die Unbestimmtheiten der Alltagspraxis und die gleichsam irritierenden wie routinisierenden Wirkungen des Technikumgangs in den Blick. Er versucht hierbei, Praxis nicht nur als auf Erwerbsarbeit bezogene Produktion oder Bearbeitung von Dingen und Artefakten20 zu verstehen, sondern erweitert das Verständnis darauf, dass es »ein praktisches Wissen [erfordert], das sich in einem Alltag voller Ungenauigkeiten un[d] Unerwartbarkeiten bewährt.« (Hörning 2001, 31)

19 Neben der materialen Beschaffenheit, die er als Kontext beziehungsweise Objektpotentiale fasst, konfigurierten die Objekte in Form von weichen, diskursiven Ko-Texten, die Beck als Gebrauchsanweisungen oder Gebrauchswertanweisungen liest, ihre Nutzerinnen. (Vgl. Beck, 1997 Ebda.) Darüber hinaus verweist Beck auf die Notwendigkeit, (technische) Artefakte als Tat-Sachen zu verstehen und in ihren Nutzungskomplexen und –figurationen zu beforschen und die Handlungsmöglichkeiten der Nutzerinnen hierbei in den Fokus zu legen. (Vgl. Beck, 1997 Ebda.) 20 Für Hörning sind technische Dinge »›Artefakte‹, also von Menschen ersonnene und (›künstlich‹) hergestellte Gebilde. Der Artefakt-Begriff betont die hergestellte Technik, die aufgrund einer Vielzahl von technischen, ökonomischen, sozialen und anderen Bedingungen« realisiert. (Hörning 2001, 71)

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»Alltag« stellt sich für Hörning als »ein begriffliches, wenn auch recht unscharfes Konstrukt dar, das den Soziologen anweist, von den sozialen Konventionen, Relevanzen und Deutungsschemata auszugehen, die ihren Ausdruck im sozialen Geflecht fortlaufender Handlungspraktiken und –prozeduren finden.« (Hörning 2001, 32) Hierbei ginge es ihm nicht um eine Addition von Lebens- und Tätigkeitsbereichen wie Privatsphäre, Freizeit, Haushalt oder Konsum, »sondern darum, die Teilnehmer- und Praxisperspektive der Handelnden stark zu machen.« (Hörning 2001, 32) Für Hörning ist »Alltag« eine »Kurzformel für eine theoretisch-kategoriale Entscheidung« und zielt hierbei darauf ab, »die soziale Praxis des einzelnen, sein übliches, manchmal auch sperriges Tun, sein wechselseitiges Handeln mit anderen und die ständig ablaufenden Prozesse gemeinsamer Sinnkonstitution in den Mittelpunkt zu stellen.« (Hörning 2001, 33) Hörning betont, dass je höher das technische Entwicklungsniveau einer Gesellschaft sei, desto weniger seien deterministische Thesen angebracht, die Technik und Technikumgang als von gesellschaftlich-kulturellem Wandel unabhängige Größen konzeptualisiere. (Vgl. Hörning 2001, 67) Vielmehr seien Dinge »mindestens Mittel wie auch Mittler von Gesellschaft und Kultur zugleich.« (Ebda.) Allerdings lehnt er die »Dingmetaphysik«, die Gegenstände als verselbstständigte Apparate verstehen oder gar die Menschenähnlichkeit von Maschinen nahelegen, ab. (Hörning 2001, 69) Aus einer Praxisperspektive heraus werde, so Hörnings Folgerung, allerdings die »krasse Gegenüberstellung von sozialen und dingbezogenen Handeln obsolet«, da sich menschliches Handeln an, um und mit Dingen stets in sozialen wie kulturell eingebetteten Lebenswelten ereigne. (Ebda.) Die französischen beziehungsweise britischen Soziologen und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour und Andrew Pickering haben im Sinne einer ›symmetrischen Anthropologie‹ (Latour 2007, 2001, 1993) und eines offensiven Post-Humanismus (Pickering 1995, 2001) gefordert, Objekten innerhalb von Praktiken einen gleichberechtigten Status gegenüber den menschlichen Akteurinnen zuzuschreiben. So soll Reckwitz zufolge »der ontologische Dualismus zwischen einer humanen und einer natürlichen Welt aufgelöst werden, so dass auch die Dinge als eigenmächtige nicht-humane ›Aktanten‹ interpretiert werden.« (Reckwitz 2003, 298) Demgegenüber stehen andere Varianten der Praxistheorie gegenüber – etwa im Werk des in den USA lehrenden Sozialtheoretikers Theodore Schatzki (2001, 2005, 2010) oder Hörnings (2001) – »die zwar auch die konstitutive Bedeutung von Artefakten für die Form einer Praktik betonen, aber ›asymmetrisch‹ die Artefakte als Objekte des Gebrauchs durch menschliche Subjekte interpretieren.« (Reckwitz 2003, 298)

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Dieser breit geführten Diskussion über die vermeintliche Eigenmächtigkeit oder Übermacht technischer Dinge wird aufgrund des low- bis no-tech Forschungsfeld der psychiatrischen Ergotherapie keine weitere Beachtung geschenkt werden. Für die »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie ist die von Hörning und anderen so betonte Verzahnung materialen und sozialen Handelns allerdings mindestens genauso relevant. Als Mittel und Mittler von Gesellschaft und Kultur agierende Objekte werden in der Therapie gezielt als Therapeutikum eingesetzt, die verwendeten Materialien und Werkzeuge erhalten hierdurch eine weit über ihre Funktion außerhalb der Klinik reichende, emanzipative aber auch doppelt regulative Wirkmächtigkeit im Sinne Becks, die ich im empirischen Kapitel zur »Materialität der Ergotherapie« (vgl. 127 ff.) anhand des empirischen Materials näher darlegen werde. Theodore Schatzki, der im Jahr 2001 in einem Sammelband mit der Wissenschafts- und Techniksoziologin Karin Knorr-Cetina und dem Philosophen Eike von Savigny einen practice turn in der Sozialtheorie ausrief (Schatzki, KnorrCetina, und von Savigny 2001), definiert Praktiken als »open-ended spatial-temporal manifolds of actions«, betont also sowohl die zeitlich wie räumlich fehlende Abgrenzbarkeit von Praktiken, ihre notwendige Situierung als auch ihre inhaltliche Mannigfaltigkeit. (Schatzki 2005, 471) Er zielt auf die Ausarbeitung einer Forschungsperspektive ab, die Praktiken als vorbereitende, disponierende und einbettende »material arrangements« wahrund ernstnimmt. (Mewes, Elliot, und Lee 2017, 130, Schatzki 2010) Diese Forschungsperspektive behandelt soziale Phänomene als Nexus von menschlichen Praktiken und materialen Arrangements. Hierbei hebt er die Verknüpfung von Menschen und Dingen in Praktiken hervor, in der Materialität als ein Teil von Sozialität verstanden wird, die sich zwischen Praktiken, Technologien und Materialität befindet und die Frage nach den Verbindungen zwischen Praktiken und materialen Arrangements aufwirft. (Schatzki 2010, 123) Mit materialen Arrangements sind bei Schatzki miteinander verbundene (physikalische) materiale Einheiten gemeint, die Praktiken ermöglichten.21 In dieser Lesart wäre es möglich, menschliche Sozialität als in Praktiken und Materialität verwoben wahrzunehmen: »Human coexistence is inherently tied, not just to practices, but also to material arrangements. Indeed, social life, as indicated, always transpires as part of a mesh of practices and arrangements: practices are carried on amid and determinative of, while also dependent on

21 Diese ließen sich in vier Typen unterscheiden: Menschen, Artefakte, Organismen und die natürliche Umwelt (things of nature). (Schatzki 2010, 129)

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and altered by, material arrangements. I call the practice-arrangement nexuses, as inherently part of which human coexistence transpires, sites of the social.« (Schatzki 2010, 130)

Diese gegenseitige Konstituierung von Praktiken in und mit Materialität zu ›Sites of the Social‹ sind in Institutionen wie der stationären Psychiatrie, in der ein (oft unfreiwilliger) Aufenthalt insbesondere für die Nutzerinnen mit starken zeitlichen und räumlichen Restriktionen verbunden ist, von beträchtlicher Bedeutung. Elektrische Türen bestimmen über Ein- und Ausgang, der Stationsalltag ist eng getaktet durch therapeutische und medizinische Behandlungseinheiten, regelmäßige Mahlzeiten und einzuhaltende Schlaf- beziehungsweise Ruhezeiten. Im Rahmen der ergotherapeutischen Behandlung soll durch Arrangements wie der Koch- oder Backgruppe die Fähigkeit, den außerklinischen Alltag wieder zu ›können‹, erlangt werden und versuchen diesen hierfür in gewisser Weise nachzubilden. Ergotherapeutische Objektherstellung findet also nicht in beliebigen, sondern in eigens, auf außerklinische Alltage verweisenden Räumen statt. Zudem bietet sich der Begriff des Arrangements auch hinsichtlich der Ergotherapie als gruppentherapeutisches Angebot an, welches das Arrangement zwischen Dingen und Menschen um die soziale Interaktion der Nutzerinnen untereinander erweitert und die Komplexität handwerklicher beziehungsweise aller materialen Herstellungspraktiken in der psychiatrischen Ergotherapie sowohl verdeutlicht als auch analytisch besser fassbar werden lässt. »Praxis« taucht Schatzki zufolge im Sozialen nie im Singular auf, sondern setzt sich stets aus miteinander verflochtenen, aufeinander aufbauenden, routinisierten Praktiken beziehungsweise »nexus of doings and sayings« zusammen. (Schatzki zit. n. Reckwitz 2003, 288-289) Der durch die Ergotherapeutinnen angestrebte Wissenserwerb zu den »Alltagspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie richtet sich auf das Innere der Nutzerinnen. Inkorporierte, aber durch psychiatrische Störungsbilder nicht mehr ohne Einschränkung abrufbare »Alltagsfähigkeiten« sollen erneut routinisiert, inkorporiert und somit ›impliziert‹ (im Sinne eines Implizit-Machens) werden. Während der Körper in den meisten Praxistheorien überhaupt nicht aufträte, (Joas 1992, 245) werden Praktiken von mir als inkorporierte Handlungen verstanden, die eine gewisse Kompetenz im Sinne des bestimmten, routinierten und gekonnten Körpereinsatzes erfordern, also sowohl das Wissen um die Ausführung einer Handlung als auch deren Performativität. Dieses Wissen wird als körperlich-leiblich gebunden betont, welches »häufig gar nicht mit einer Explizierungsfähigkeit oder Explizierungsbedürftigkeit dieses Wissens einhergeht.« (Reckwitz 2003, 289)

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Der Einsatz von Objekten beziehungsweise deren Herstellung und das therapeutische Arrangement verweisen auf die soziomaterialen Voraussetzungen und Praktiken zur (Wieder-)herstellung von »Alltagsfähigkeit« in der psychiatrischen Ergotherapie. Trotz der vielzähligen, bisherigen Forschungsansätze hat sich weder der ergotherapeutische noch der sozialwissenschaftliche Diskurs bisher hinreichend damit auseinandergesetzt, wie sich »Alltagsfähigkeit« und »Objektherstellung« in der ergotherapeutischen Behandlung psychisch erkrankter Menschen gegenseitig bedingen, welche Formen der Inkorporierung und damit einhergehenden ›Implizierung‹ des Erlernten hierfür notwendig sind und welche Implikationen dies für ein praxistheoretisch informiertes Verständnis von »Alltag« und »Praxis« hat. Neben dem Herstellungsprozess eines Objekts steht der produktive Aspekt dieser Handlung im Vordergrund ergotherapeutischer Bemühungen, da Produktivität als für die, für die Ergotherapie so wichtige Autonomie als wesentlich wahrgenommen wird und als einer der drei ergotherapeutischen »Performanzbereiche« definiert wird. Der folgende Abschnitt wird sich daher mit dem zweiten hier fokussierten ergotherapeutischen Betätigungsfeld, dem der »Produktivität«, beschäftigen.

3.5 »ALLTAG« UND »PRAXIS« – PRODUKTIVITÄT In der Soziologie wurde »Alltag« einerseits als vertraute Welt konzipiert, deren Eigenlogiken es zu erforschen galt, (vgl. z.B. Schütz und Luckmann 1975) andererseits als von Machtstrukturen durchzogener Raum verstanden, dessen Zwänge (ideologie-)kritisch beleuchtet werden sollten. (Lefebvre 1987 [frz. 1958]). Der französische Soziologe Henri Lefebvre situiert »Alltag« deshalb an der Schnittstelle von zwei Formen der Wiederholung und verweist damit zunächst auf seine doppelte Zeitlichkeit. (Vgl. Felski 2000, 18) Während »Alltag« zunächst von natürlichen Zyklen von Tag-Nacht-Rhythmus sowie stetem jahreszeitlichen Wandel und dem Ausgleich von Aktivität und Erholung, Verlangen und Befriedigung sowie Leben und Tod geprägt sei, beinhalte die zweite Ebene des Repetitiven monotone Verrichtungen im Rahmen von Erwerbsarbeit22 und die Ausrichtung auf Konsumverhalten in kapitalistischen Systemen, die er als hochproblematisch und

22 Diese Betonung auf die monotonen Aspekte von Erwerbsarbeit wurde in den letzten Jahren durch Überlegungen ergänzt, die zunehmende Verunsicherungen und Unzuverlässigkeit im Sinne von immer kürzeren Arbeitsverträgen und der Forderung größtmöglicher Flexibilität an die Arbeitnehmerinnen vermehrt in den Blick nehmen. (Vgl. Sälzer 2000, in: Amelang, 2014, 342)

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pathologisierend deutete. (Vgl. Lefebvre und Levich 1987, 10) In seiner marxistischen Lesart hebt er positive wie negative Aspekte von »Alltag« hervor. Er wird sowohl als ›natürlich‹, ›ursprünglich‹ gerahmter Lebensort als auch durch die kapitalistische, produktionsorientierte Logik des Arbeitsmarktes deformierter wie deformierender Zwangsapparat konzeptualisiert. Während ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf die Bereiche der »Alltagsbefähigungspraktiken« außerhalb des ersten oder zweiten Arbeitsmarktes konzentriere, betont die psychiatrische Ergotherapie im Rahmen des produktozentrischen Ansatzes die Relevanz von Produktivität auch hinsichtlich von Tätigkeiten fernab der Erwerbsarbeit. Eine sich zunehmend durch Erwerbsarbeit definierende Gesellschaft (vgl. Schmidt 2010, 128) in der »Arbeit als ›Grundbedürfnis‹ des Menschen« gilt (Reichert 2002, 177) übt einen nicht zu vermeidenden Einfluss auf die therapeutischen Zielvorgaben in der Behandlung derjenigen aus, die durch psychische Beeinträchtigungen nicht, zeitweilig nicht mehr oder nie mehr arbeitsfähig sind beziehungsweise als arbeitsfähig gelten. Einer Erwerbsarbeit nachzugehen wird zum gesellschaftlichen Auftrag und Voraussetzung, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu gelten. Um die Zielvorgabe der Ergotherapie an die Nutzerinnen zu erreichen, als autonomes Individuum produktiv und routinisiert im Alltag agieren zu können, scheint eine Anstellung notwendig. Dies scheint jedoch insbesondere in strukturschwachen Regionen für die meisten Nutzerinnen in weiter Ferne zu stehen. Für die Arbeitssoziologie ist die Verbindung von Produktivität und Erwerbsarbeit eine zentrale Forschungsfrage, schließlich ist Produktivität eine wichtige Komponente von Arbeit, die von Fritz Böhle, Arbeitssoziologe und Mit-Herausgeber des Handbuchs Arbeitssoziologie aus dem Jahr 2010, als »Herstellung eines Ergebnisses/Produkts, das nach Vollzug des Handelns von Bestand ist« definiert wird. (Böhle 2010, 153). Neben den körperlich und mental belastenden Aspekten von Produktivität sowie der insbesondere die Erwerbsarbeit prägenden Fremdbestimmung beinhalte »Arbeit als instrumentelles Handeln […] die Möglichkeit der Selbstentfaltung und Befriedigung von Bedürfnissen im und durch den Vollzug des Handelns selbst (und nicht nur durch sein Ergebnis), und zugleich wird damit auch der Anspruch auf ein selbstbestimmtes und autonomes Handeln verbunden.« (Böhle 2010,153) Der Arbeitssoziologe Gert Schmidt konstatiert im selben Band: »Arbeit integriert und dissoziiert mit Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen – mit Arbeit verknüpft sind individuelle Befriedigung und Entfaltung sowie befreiende Gemeinschaftserfahrung, aber auch Bedrohung, Gefährdung und Knechtschaft.« (Schmidt 2010, 128) Produktivität, als vornehmliches Ziel und Inhalt von Erwerbsarbeit, kann, in den Worten des deutschen Arbeitssoziologen und

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Mit-Herausgebers des Sammelbands G. Günter Voß, auch hinsichtlich der Auffälligkeit gelesen werden, »dass fast alle Vorstellungen von Arbeit durch Ambivalenzen gekennzeichnet sind: Arbeit belastet das menschliche Leben und bereichert es zugleich, ja sie wird oft als Grundlage für eine erhoffte Befreiung aus Mühsal und Elend, wenn nicht gar als Feld der schöpferischen Selbstentfaltung des Menschen gesehen.« (Voß 2010, 27) Diese schöpferische Selbstentfaltung wird allerdings von einigen Autorinnen als vornehmlich der Selbstoptimierung der Produzentinnen dienende Belastung kritisiert. Erwerbsarbeit wird dabei nicht nur zunehmend als Zielvorgabe, sondern schlicht als notwendiges Wesensmerkmal des Menschen verstanden. Arbeit (und Produktion) scheinen also »zur Schlüsselkategorie für die Selbstzuschreibungen von Gesellschaften und der Mensch als arbeitendes Wesen zur zentralen anthropologischen Figur geworden zu sein.« (Bröckling und Horn 2002, 7) In seinem im Jahr 2000 auf Deutsch erschienenen Artikel »Das Regieren von unternehmerischen Individuen« beschäftigt sich der britische Soziologe Nikolas Rose mit Praktiken der Selbstoptimierung, die mit der Vorstellung des Unternehmertums23 eines sich durch Produktivität selbstoptimierenden Individuums einhergehen und weit über den Bereich der Erwerbsarbeit hinausreichen. Er beschreibt, wie das »Therapiewesen«24 in fortgeschrittenen liberalen Gesellschaften hierbei die Verantwortung zur möglichst hohen Produktivität von Arbeitgeberinnen zu – nehmerinnen verschiebe. Lebensqualität und der ›richtige‹ Lebensstil würden als Optionen dargestellt, die das Individuum nur zu ergreifen habe. Wer dies (aufgrund von Krankheit) nicht allein könne, habe die Möglichkeit, sich Hilfe von Expertinnen im Therapiewesen zu suchen. (Rose 2000, 16) »Alltag« und »Alltagsfähigkeit« wird von diesem Therapiewesen Rose zufolge als eine »Abfolge bewältigbarer Probleme dargestellt, die man verstehen und durch technische Anpassung in Bezug auf die Normen eines autonomen Selbst, das Selbstbestimmung und Glück anstrebt, lösen muss. Das Therapiewesen hat geistige und körperliche Arbeit in eine

23 Das Unternehmertum verlagert sich in Roses Lesart auf das Individuum, welches zum unternehmerischen Selbst wird. Rose meint damit ein Konglomerat von Normen zur Alltagsbewältigung, in dessen Rahmen es »Tatkraft, Initiative, Ehrgeiz, Berechnung und persönliche Verantwortung« zu zeigen habe und hierbei »ein Unternehmen aus seinem Leben« mache sowie »die Maximierung seines Humankapitals« anstreben solle. welches weit über die Sphären der Erwerbsarbeit hinausgeht.(Rose 2000) 24 Gemeint sind hier alle Formen von Psychotherapien und Psychoanalyse und deren Einfluss auf den öffentlichen Diskurs.

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Frage persönlicher Erfüllung und psychischer Identität verwandelt. Die Arbeitsbeziehung wird weniger aufgrund der Entlohnung wichtig, als wegen der Subjektivität, die sie vermittelt oder verweigert.« (Rose 2000, 16)

Anstatt den steigenden Anspruch der Produktivität, innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt, als gesellschaftliches Problem zu deuten, auf mögliche Überlastungen zu prüfen und Schritte zur Entlastung dieser einzuleiten, verspräche ›die Therapie‹ eine Antwort auf (fast) jedes Problem. Hierfür müsse die Einzelne die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen und einsehen, dass er oder sie an sich ›arbeiten‹ müsse: »Die Therapie bietet an, uns von unseren psychischen Fesseln zu befreien. Wir können unternehmerisch werden, Kontrolle über unsere Karrieren übernehmen, uns in ÜberfliegerInnen verwandeln, Höchstleistungen erzielen und uns erfüllen – nicht trotz, sondern durch die Arbeit.« (Rose 2000, 16)

So muss sich die Ergotherapie die Frage gefallen lassen, ob eine angestrebte Befähigung zu einer Anpassung an die leistungsorientierten und zur steten Selbstoptimierung auffordernden (Arbeits-)Märkte und ähnlicher Tendenzen in allen anderen Lebensbereichen im Interesse ihrer Nutzerinnen ist oder sein kann. Die ergotherapeutische Zielvorgabe, auf die »Produktivität« der Nutzerinnen hinzuarbeiten, verweist auf einen Balanceakt zwischen gesundheitsfördernder und überlastender Betätigung sowie zwischen intrinsischer Motivation wie externen Zwängen beziehungsweise dem bereits inkorporierten, aber nicht weniger schädlichen Ideal der konstanten »Verbesserung des Selbst«. Es stellt sich zudem die Frage, wie mit diesem Balanceakt zwischen der Ermöglichung von Selbstentfaltung und (gegebenenfalls durch die Erkrankung nicht mehr möglicher) Anpassungsleistung an zunehmend entgrenzte Leistungsorientierung in der therapeutischen Praxis umgegangen wird.

3.6 ZUSAMMENFASSUNG – »ALLTAG« UND »PRAXIS« Als analytische Kategorien bieten sich »Alltag« und »Praxis« für die Beforschung der »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie als interdisziplinäre Klammer zwischen den gleichermaßen ›alltags-‹ und ›praxisaffinen‹ Feldern Europäischer Ethnologie wie Ergotherapie an. »Alltag« hat sich bisher allzu starren Definitionen entzogen, gilt zugleich als über- wie unterkomplex und

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›allgegenwärtig‹, dennoch lassen sich einige zentrale Merkmale aus dem vorherigen Abschnitt für eine weitere Beschäftigung mit den »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie formulieren. Während sich die ethnologische Alltagsforschung lange vorrangig durch ihr besonderes Interesse an Arbeiterinnenmilieus und denen anderer benachteiligter oder von Ausgrenzung bedrohter Gruppen vom akademischen Mainstream abzusetzen suchte, fehlt es nach wie vor an theoretischen Auseinandersetzung mit den menschlichen und materialen Voraussetzungen von »Alltagshandeln«. Für die »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie sind der Wiedererwerb oder die Umgestaltung von Routinen in den »Alltagen« der Nutzerinnen ein wesentlicher Indikator für den Behandlungserfolg. Konzepte von »Alltag« verweisen entweder auf seine zeitlich-räumliche Unbegrenzbarkeit oder die temporale Kontinuität einerseits sowie die ideelle Verknüpfung zum Vertrauten, Heimatlichen oder des ›Zuhauses‹ andererseits. Dennoch wird der grundsätzlichen Annahme eines fehlenden »Alltags« in der Klinik widersprochen. Rund ein Drittel aller Erwachsenen im Laufe ihres Lebens von psychischer Krankheit betroffen, es handelt sich daher nicht um ein Randphänomen. (Gühne et al. 2015) Der »Alltag« der Nutzerinnen in stationärer Behandlung wird daher als extrem oder ungewöhnlich, doch als ein in vielerlei Hinsicht exemplarisches Beispiel von »Alltag« konzeptualisiert. Routinen als wiederholte, halb-automatisierte Handlungen ohne tiefere Reflexionsebene erscheinen zunächst selbstverständlich und banal. Die notwendige Implizierung von Routinehandlungen im »Alltag« verweisen allerdings auf die Komplexität und Schwierigkeit, Routinen zu erlernen oder zu verändern. Neben der Feststellung, dass es sich bei »Alltaghandlungen« daher um voraussetzungsvolle Gebilde handelt, die Ausführung von Routinen also ein beträchtliches Maß von, meist impliziten, Wissensformen bedarf, sind »Alltagshandlungen« durch ein konstantes Spannungsfeld zwischen Routinen und notwendiger Transformation im Sinne von micro- oder eben auch macro-changes geprägt. Durch kontinuierliche Wiederholung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass »Alltagshandlungen« durch Unerwartetes oder Misslingendes gestört oder unterbrochen werden und eine Neuinterpretation oder einen neuen Handlungsansatz erfordern. Die Etablierung beziehungsweise Veränderung von Routinen im Rahmen der »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie ist aufgrund des impliziten Charakters des praktischen »Alltagswissens« eine große Herausforderung für Behandelte und Behandelnde. Außerdem sind Routinen durch Mehrdimensionalität geprägt, das heißt meist sind hierbei die Ausführung mehrerer Tätigkeiten zugleich gemeint, welche eine ebenfalls mehrdimensionale methodische Herangehensweise einfordert.

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Der Umgang und die Herstellung von Objekten sind seit jeher integraler Bestandteil in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Objektumgang zeichnet sich ebenso durch routinierte, stete Behandlungsabläufe als auch notwendige Flexibilität und Toleranz gegenüber Abweichungen, Ungenauigkeiten und Unerwartbarkeiten aus. Zudem sind Objekte immer zugleich kulturelle und gesellschaftliche Mittel und Mittler (vgl. Hörning 2001, 31), das heißt der Umgang mit ihnen verweist im besonderen Maße auf außerklinische Alltage. Materielle Arrangements im Sinne Schatzkis disponieren und betten Praktiken ein und verweben sie menschliche Sozialität und Materialität zu einem untrennbaren Nexus. Obwohl insbesondere in der Wissenschafts- und Technikforschung viele Forscherinnen die Frage nach den materialen Voraussetzungen des ›Sozialen‹ umgetrieben hat, haben sich weder ergotherapeutische, betätigungswissenschaftliche noch sozialwissenschaftliche Ansätze bisher hinreichend damit auseinandergesetzt, wie »Alltagsfähigkeit« und »Objektherstellung« in der ergotherapeutischen Behandlung psychisch erkrankter Menschen in Verbindung zueinander stehen, welche Formen der Inkorporierung und damit einhergehenden ›Implizierung‹ des Erlernten hierfür notwendig sind und welche Implikationen dies für ein praxistheoretisch informiertes Verständnis von »Alltag« und »Praxis« haben kann. Die ergotherapeutische Zielvorgabe, die »Produktivität« ihrer Nutzerinnen zu fördern, verweist auf die zunehmende Ambivalenz der Bedeutung von Produktion, die in der Literatur sowohl als Möglichkeit der Selbstverwirklichung und dem Streben nach Autonomie als auch den Zwängen zunehmender Leistungsanforderungen innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt konzeptualisiert wird. »Produktivität« im Alltag zeichnet sich durch diese ambivalente Lesart, mal als ›natürlicher‹ oder ›ursprünglich‹ gerahmter Lebensort, mal als durch die kapitalistische, produktionsorientierte Logik des Arbeitsmarktes deformierter wie deformierender Zwangsapparat aus. Psychiatrische Nutzerinnen, die häufig von mit der Erkrankung einhergehender (Langzeit-)Arbeitslosigkeit betroffen sind, sehen sich mit dem zunehmenden Leistungsanspruch der Gesellschaft konfrontiert, die Erwerbsarbeit zum Grundbedürfnis sowie zur Grundvoraussetzung für den Bürgerinnenstatus zugleich erhoben hat. Dies übt einen nicht zu vermeidenden Einfluss auf die therapeutischen Zielvorgaben in der Ergotherapie aus. Erwerbsarbeit wird, obwohl es häufig ein nicht mehr zu erreichender Zustand ist, zur ersehnten Projektionsfläche des ›gesunden Lebens‹ erhoben. Dies ist zugleich mit dem Anspruch des ›Therapiewesens‹ verbunden, für die eigene Leistungsfähigkeit Sorge zu tragen, und der Vorstellung, dass ›die Therapie‹ jedes Problem lösen könnte. Die Betroffenen, bei denen sich die gewünschte

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Besserung nicht einstellt, gelten in dieser Lesart schlicht als faul oder unwillig. Diese mindestens doppelt wirkende Stigmatisierung der Nutzerinnen als ›NichtBürgerinnen‹ sowie ›Unwillige‹ verstärkt sich noch, wenn in der Ergotherapie nicht hinreichend darüber reflektiert wird. Diese muss sich jedoch fragen, inwiefern ihre Zielvorgabe, die Nutzerinnen zu mehr »Produktivität« hinzuführen, unter diesen Voraussetzungen in deren Interesse sein kann und ob die zunehmend grenzenlose Leistungsorientierung nicht (stärker) hinterfragt werden sollte. Psychische Erkrankungen lassen die versichernden und normalisierenden Aspekte von Alltag für die Betroffenen schwinden. Psychiatrische Nutzerinnen gelten (den Behandelnden) in ihrer Handlungsfähigkeit im »Alltag« eingeschränkt oder als hiervon bedroht. Im weiteren Verlauf wird die Frage nach den Auswirkungen der nur impliziten Alltagsvorstellung als ›routinierter‹ Tagesablauf für die Behandlung und Herstellung von »Alltagsfähigkeit«, die Verortung von »Alltag« im unmittelbaren Lebensumfeld und damit den Privathaushalten der Nutzerinnen erneut aufgegriffen werden. Ich verstehe »Alltag« zunächst als Forschungskategorie als räumlich wie zeitlich nicht begrenzbarer Handlungsraum, der durch repetitive Routinen geprägt ist beziehungsweise diese von seinen Akteurinnen erwartet. Der Umgang mit Materialität wird in meinem Feld als ergotherapeutisch wirksam verstanden, der die Nutzerinnen zu einem autonomen, vor allem aber produktiven Alltag befähigen soll. Im Forschungsfeld psychiatrische Ergotherapie tritt »Alltag«, auch weil er nicht in den Privathaushalten sondern in einer Institution stattfindet, zudem als therapeutisches Konzept beziehungsweise als eine, für die Nutzerinnen in der Zukunft zu erreichende, Zielvorgabe auf. Als Forschungskategorie bietet sich »Alltag« und die hiermit verbundenen »Alltagsfähigkeiten«, die an den von mir konzeptualisierten Forschungskategorien »Produktivität«, »Routinen« sowie »Materialität« in der psychiatrischen Ergotherapie besonders gut an, deren enge Verzahnung zur Ergotherapie ich sowohl im historischen Überblick als auch den theoretischen Überlegungen versucht habe darzulegen. »Alltag« wird in diesem spezifischen Setting vom Selbstverständlichen zum erstrebenswerten (Normal-)Zustand erhoben und verweist so deutlicher als anderswo auf die »Unalltäglichkeit« des Begriffs. (Elias 1978) Wie können oder müssen implizite Vorstellungen über »Alltag« sowie die hiermit verbundenen Fähigkeiten in diesem spezifischen Kontext expliziert werden und welche Schlussfolgerungen für eine theoretische Auseinandersetzung mit »Alltag« und »Alltagsfähigkeit« erlaubt dies? Während sich die Ergotherapie als »Alltagsfähigkeit« ermöglichender Fachberuf versteht, ist es fraglich, ob in der stationären Akutbehandlung von »Alltag«

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im Sinne eines steten, routinierten, privaten und sicheren bis banalen Tag-um-Tag überhaupt die Rede sein kann beziehungsweise ob ein solch extremer Alltag ein Lernort für ›normale‹ »Alltage« sein kann. So findet sich die Betonung auf Stetigkeit im Sinne zeitlicher Wiederholung bei vielen Alltagstheoretikerinnen, gleich welcher Disziplin oder ›Schule‹ sie angehören, wieder. Allein durch die Aufenthaltsdauer der Nutzerinnen ist Ergotherapie zeitlich begrenzt und findet zudem nicht in den gewohnten Privathaushalten statt. Für die fehlende räumliche Verortbarkeit von »Alltag« ist bei den hier beforschten klinischen »Alltagen« durch die elektronischen Stationstüren gesorgt, wirft allerdings die Frage auf, ob sich die Suche nach Alltag in räumlich (für die Nutzerinnen) begrenzten Institutionen gezwungenermaßen als sinnlos herausstellt. Auch die vielfache Verknüpfung mit dem Eingespielten, Vertrautem und hierdurch Sicherheit Gebenden mit »Alltag« scheint in den sehr verschiedenen Abläufen im Krankenhausalltag nur mittelbar vorhanden. Diese Studie kann und will daher nur einen räumlich wie zeitlich begrenzten und in vielerlei ungewöhnlichen beziehungsweise ›unalltäglichen‹ Ausschnitt des Konstrukts »Alltag« beziehungsweise »Alltagsfähigkeit« darstellen. Die Studie versucht die von der Europäischen Ethnologie bisher selten in den Blick genommenen ungewöhnlichen »Alltage« in der psychiatrischen Ergotherapie (zu der im deutschsprachigen Raum bisher keine größeren ethnografischen Arbeiten veröffentlicht wurden) fernab von gewohnten Routinen aus ihren konkreten »Alltagsbefähigungspraktiken«, die als Bruch mit vorherigen oder nicht mehr vorhandenen Routinen verstanden werden, heraus zu analysieren. Im Folgenden schließt ein methodischer Abriss zu praxistheoretischen Zugängen an, um die in-situ Praktiken der Ergotherapie und den hierbei zwischen Behandelnden und Behandelten verhandelten Vorstellungen von »Alltag« und »Alltagsfähigkeit« in den Blick nehmen zu können.

4. Praxeografie des »Alltags«

4.1 EINLEITUNG UND ÜBERBLICK Die Ethnografie ist mit der teilnehmenden Beobachtung und weiteren Methoden der Feldforschung eine zentrale Sammlung qualitativ-empirischer Datenerhebungsmethoden zur Erforschung sozialer Lebenswelten. Zugleich wird das Ergebnis der Forschung, der im Anschluss entstehende Text, als Ethnografie bezeichnet (Schmidt-Lauber 2007). Hierbei ist der stetige »Empirie-Theorie-Nexus« ethnografischen Arbeitens von Bedeutsamkeit. (Knecht 2012, 245) Mit diesem Nexus ist die Verknüpfung von Empirie und Theorie über den gesamten Forschungsprozess gemeint. Empirische Datenerhebung und –analyse ist immer von theoretischen Vorannahmen geleitet, zugleich stellen ethnografische Daten die wichtigsten »Theoriegeneratoren« dar, da analytische Konzepte und Theorien aus ihnen heraus entwickelt werden, brauchbare Theorie also immer »Empirie-geladen« sind. (Vgl. Hirschauer 2008, in: Knecht 2012, 249) Die Ethnografie dient der »empirische[n] Erforschung sozialer Lebenswelten, sozialer Praktiken und institutioneller Verfahren. Sie richtet ihr Augenmerk auf die Welt, die man in einem Feld antrifft: ihre sozialen Praktiken, Artefakte, Mythen und andere Formen des Glaubens. Im Zentrum dieser Forschung steht die teilnehmende Beobachtung.« (Breidenstein et al. 2013)1 Die Praxeografie, die ich im Folgenden Absatz einführen werde, baut auf der Arbeit eines der einflussreichsten und am meisten rezipierten Soziologen des 20. Jahrhunderts, den Franzosen Pierre Bourdieu, auf. Sein »Entwurf einer Theorie der Praxis« ist ein Plädoyer für einen alternativen praxistheoretischen Ansatz in der Ethnologie und wird weiterhin stark rezipiert. (Bourdieu 1976) Bisherige Theorien aus der strukturalistischen wie symbolischen Anthropologie kritisierte Bourdieu für deren Fehlannahme, »die von der Wissenschaft konstruierten Objekte wie

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Der erste Abschnitt gleicht einem bereits veröffentlichten Kapitel zur Ethnografie in den Gesundheitsfachberufen. (Vgl. Mewes 2016)

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›Kultur‹, ›Struktur‹, ›soziale Klassen‹, ›Produktionsweisen‹ und so weiter wie autonome Realitäten« und damit als beobachtbare Kategorien zu behandeln. (Bourdieu 1976, 159) Somit würde in der Lesart Becks eine ›wirkliche‹ Theorie der Praxis verhindert. (Beck 1997,164) Um die konstanten, sich daraus ergebenden Übersetzungsfehler zu verhindern, war es das Ziel Bourdieus, eine Theorie der Praxis zu entwerfen, »die die Praxis als Praxis konstituiert«. (Ebda., 143) Der Fokus in Bourdieus Theorie liegt auf der Beziehung zwischen Dispositionen einer Handlung sowie der konkreten Situation, dem Habitat, das soziale Feld oder die Praxiswelt, in der diese abläuft. (Ebda., 183) Zentralen Stellenwert hat das Spannungsfeld zwischen dem konkreten Ereignis beziehungsweise den sich situativ ergebenden Handlungsoptionen, sowie den durch den Habitus hervorgebrachten Handlungsdispositionen, die nur gemeinsam gedacht die Handlungsumstände, in der die Handelnden agieren (können), formen. Akteurinnen würden so durch ihren Habitus als strukturierender Mechanismus »unvorhergesehen und fortwährend neuen Situationen entgegentreten« und durch diese »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix« »unendlich differenzierte Aufgaben zu erfüllen.« (Bourdieu 1976, 165;169) Diese doppelte Schwerpunktsetzung auf Handlungsdisposition wie –situation erscheint zunächst ein sinnvolles und ergiebiges Instrumentarium zur Beforschung von »Alltagsbefähigungspraktiken« zu sein. Wie es allerdings auch von Beck kritisiert wird, wird der Situativität dieser dialektischen Beziehung von Disposition und Ereignis von Bourdieu weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der »Verfeinerung und Präzisierung des Habitus-Konzeptes.«2 Da der Fokus dieser Arbeit auf einem besseren Verständnis von den »Alltagsbefähigungspraktiken« der psychiatrischen Ergotherapie in den konkreten Handlungssituationen liegt sind die praxistheoretischen Ansätze Bourdieus ohne reformulierte oder rekonfigurierte Beobachtungs- und Analysekategorien in Hinblick

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Habitus wird dabei als Klassenhabitus konzipiert, als die von einer Population, die den gleichen objektiven (Klassen-)Bedingungen unterworfen ist, geteilten dauerhaften Dispositionen. Damit wendet Bourdieu das Praxiskonzept hin auf ein Instrumentarium zur Analyse der (Klassen-)Ordnung von Praxisformen. Der Klassenhabitus erhält hierdurch »den Charakter einer ›generativen Grammatik‹ der Praxen von Lebensstilgruppen« (Beck 1997, 319) oder baut, in Reckwitz Worten vorrangig strukturalistisch auf den Begriffen »des Habitus, des sozialen Feldes, des praktischen Sinns und der Inkorporiertheit von Wissen auf« beziehungsweise nach Hörning »eine Art Handlungsgrammatik, die den stillschweigenden, regelmäßigen Vollzug der Praxis betreibt.« (Vgl. Bourdieu 1976, 1982, 1987; Hörning 2001, 167; Reckwitz 2003, 282)

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auf die situierten, räumlich-zeitlich gebundenen Praktiken weniger hilfreich. Menschen in psychischen Krisen würden in dieser Lesart zur Handlungsunfähigkeit verdammt, solange sie sich nicht mehr ihrem jeweiligen, durch ihr Habitat vorwie eingeschriebenen Habitus entsprechend verhalten können. Anfang der 1980er Jahre setzt in den Ethnowissenschaften allerdings eine Phase ein, in der sich die Aufmerksamkeit in Auseinandersetzung mit praxistheoretischen Ansätzen auf die von Instabilität und ermöglichenden wie verhindernden Aspekte von Praxis und ihre unbedingte Situierung richtet. (Vgl. Beck 1997, 322-323) In ihrem Beitrag zur »Ethnographischen Praxis im Feld der Wissenschafts-, Medizin- und Technikanthropologie« im Einführungsband zur sozialanthropologischen Wissenschafts- und Technikforschung (Knecht in: Beck, Niewöhner, und Sørensen 2012) stellt die deutsche Ethnologin Michi Knecht eine spezifische Forschungsperspektive vor, der auf der Arbeit des französischen Soziologen und Ethnologen Pierre Bourdieu aufbauenden Praxeografie, und versucht hierbei das damit einhergehende »neue Verständnis ethnographischen Arbeitens als praxisorientierte, relationale, vergleichende, an Heterogenität interessierte und sich selbst als offenen Prozess begreifende Forschung« zu verdeutlichen. (Knecht 2012, 248) Obwohl sich, wie bereits betont, alle ethnografischen Ansätze für das Wie von Alltagen in konkreten Situationen interessieren, rücken praxeografische Ansätze vom vornehmlichen Interesse auf Akteurinnen oder Gruppen ab und stellen die Handlungskonstellationen in das Zentrum ihres Forschungsinteresses. (Vgl. Knecht 2012, 249) In Feldern ergotherapeutischer Wissensproduktion werden, wie in anderen der Wissenschafts-, Medizin- und Technikforschung, die hiermit verknüpften methodischen Herausforderungen besonders sichtbar. Knecht zufolge beträfen diese Veränderungstendenzen vorrangig »das Verhältnis von Forschenden und Erforschten, die Temporalitäten ethnographischer Wissensproduktion, sowie die Feld- und Gegenstandskonstruktion.« (Knecht 2012, 250) Knecht beschreibt Ethnografie hierbei als »eine spezifische Form der Wissensproduktion im Modus der Begegnung.« (Knecht 2012, 250) Diese Begegnung meint das Zusammentreffen unterschiedlicher Wissenswelten und Weltanschauungen, die im Verlauf der Forschung sichtbar gemacht und analysiert werden. (Vgl. Knecht 2012, 250) Die Beschäftigung mit Materialitäten, Dingen und Körpern sind Grundlagen der Europäischen Ethnologie beziehungsweise den Ethnowissenschaften, für die in den Feldern der Wissenschaft, Medizin und Gesundheitswesen sowie Technik besonders zentral. Knecht führt hierfür zwei Gründe an: Einerseits ließen »sich die hier erforschten Prozesse und Phänomene nicht mehr ausschließlich als ›Kulturphänomene‹ bestimmen, die von der ›Natur‹ klar abgegrenzt wären. Vielmehr befasst sich

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die Technik-, Medizin- oder Wissensanthropologie häufig mit heterogenen Konstellationen, in denen Menschen, Materialitäten, Körperlichkeiten und Infrastrukturen interagieren. Ihr Gegenstand ist dann nicht mehr ›Kultur‹, sondern ›NaturenKulturen‹, wie es Bruno Latour formuliert. (Latour 1995 [1991]) Für die lange gültige Arbeitsteilung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften hat das weitreichende Konsequenzen. Methodisch stellt sich die Frage, welche Werkzeuge und Forschungspraktiken notwendig sind, um jenseits einer angenommenen Binarität von ›Naturen‹ und ›Kulturen‹ das Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Akteure, Stoffe und Infrastrukturen als Prozesse und Beziehungen zu untersuchen.« (Knecht 2012, 256)

Praxeografische Forschungsansätze als Unter- oder Spezialform der Ethnografie werden Knecht zufolge andererseits von Autorinnen aus dem Umfeld der (Post-) Akteur-Netzwerk Theorie3 als »eine Beschreibungspraxis von Wirklichkeit, die auf Verben fokussiert und das unabschließbare ›Gemacht-Sein‹ von Prozessen und Ordnungen betont.« (Knecht 2012, 250) Vor allem die niederländische Medizinanthropologin Annemarie Mol (Mol 2002) und der britische Soziologe John Law (2004) betonen, wie »attention to practice reveals networks of collaboration that destabilize those theoretical constructs […] that rest on claims of autonomous reason.« (Edwards, Harvey & Wade 2007: 6 zit. n. Knecht 2012, 250) Um die Kollaborateurinnen dieses Netzwerks auszumachen, wird der Forschungsfokus auf die Verwobenheit unterschiedlicher Praktiken und Involvierung der Forschenden darin gelegt. Annemarie Mol unterstreicht das, sobald Praktiken in den Vordergrund gerückt werden würden »[t]here is no longer a single, passive object in

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Die Akteur[sic!] -Netzwerk-Theorie (ANT) ist eine sozialwissenschaftlich-sozialanthropologische theoretische Strömung, die den Fokus auf die situativ geformten, definierten und voneinander untrennbaren Interaktionen zwischen Akteurinnen und soziomateriellen Netzwerken (und deren Handlungsträgerschaft) legt. Besonders relevant ist hierbei die gleichwertige, »symmetrische« Beforschung von menschlichen und nichtmenschlichen Phänomenen als »relationale Hybride« unter Verwendung der gleichen Methoden und gleichem Vokabular. (Mathar 2012, 173, Latour 2007) Insbesondere die als zu statisch empfundene Netzwerk-Metapher steht allerdings, besonders unter Praxisforscherinnen, unter zunehmender Kritik. Die neue Schwerpunktsetzung und Konzeption von Wissen und Technologie als erst in Alltagspraxen entstehende, heterogene Praxen im Rahmen von Post-ANT-Ansätzen sind aus einer ethnologischen (und meines Erachtens mindestens genauso sehr aus einer betätigungswissenschaftlichen) Forschungsperspektive sehr naheliegend, die Praxeografie bietet als daraus abgeleitete Methode besonders gut an und wird zunehmend eingesetzt. (Sørensen 2012, 327)

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the middle waiting to be seen from the point of view of a seemingly endless series of perspectives«. (Mol 2002, 5) Aus einer praxeologischen Perspektive werden Phänomene daher, in Knechts Worten, »als an spezifische Praxen gebundene Entitäten verstanden. Phänomene sind damit nicht singuläre Phänomene, die nur durch verschiedene Perspektiven mannigfaltig erscheinen. Sie sind vielmehr multipel, das heißt sie sind so und nur so, wie sie in der jeweiligen Praxis produziert werden.« (Knecht 2012, 258) Die Anerkennung des multiplen Charakters von Praktiken verschiebt sich im Unterschied zu klassischen Ethnografien, die einzelne Akteurinnengruppen zum Gegenstand empirischer Untersuchungen gemacht haben, in Richtung eines vermehrten Interesses an den prozesshaften und in Interaktion entstehenden Ordnungen beziehungsweise Handlungskonstellationen, sowie den hierbei beteiligten Akteurinnen, Infrastrukturen, Diskursen und Objekten und ihren gegenseitigen Beziehungen und Handlungsbeeinflussungen. (Vgl. Knecht 2012, 258- 259) Für die Ethnowissenschaften hebt Beck folgende Aspekte praxistheoretischer Ansätze für eine »Refokussierung der Forschungsperspektive« hervor: Zunächst ermögliche es der konstitutive Situationsbezug des Handelns, sowohl kontigente wie nicht-kontigente Faktoren zu erfassen. Die insbesondere für Alltagshandeln charakteristischen Routinisierungen würden entmarginalisiert und zu gleichwertigen Handlungen erklärt werden. So kann dank der weitergefassten Begriffsdefinitionen, die über regulierendes und normreguliertes wie zwangsweise rationales und intendiertes Handeln hinausgeht, deren Vielfalt besser herausarbeitet werden. Zudem wäre es im Rahmen praxistheoretischer Ansätze möglich, die biografischen und inkorporierten Aspekte des Handelns wieder in den Blick zu nehmen. (Vgl. Beck 1997, 338-339) Außerhalb der interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung sind praxeografische Forschungsansätze weniger bekannt und werden auch innerhalb dieser nicht immer trennscharf von ethnografischen Methoden unterschieden. Dies führt Knecht auf die Gemeinsamkeiten in ihren zentralen Anliegen zurück. Beide fokussieren auf die Beschreibung »oraler, habitualisierter und performativer Praktiken«, sind also an den sonst selten dokumentierten, »nicht-verbalisierten oder nicht verbalisierbaren und unsagbar gemachten sozialen Zusammenhängen« von alltäglichen Praktiken interessiert. (Vgl. Hirschauer 2006; Warneken 2006: 345f. in: Knecht 2012, 260) Außerdem sind ethnografische wie praxeografische Ansätze auf »die Anerkennung einer mehrfachen Relationalität ethnologischer Wissensproduktion« bedacht. (Vgl. Strathern 1999, 13–26, zit. n. Knecht 2012, 260) Diese mehrfache Relationalität bezieht sich auf die Notwendigkeit des InBeziehungs-Tretens mit den Akteurinnen und Gegenständen des Forschungsfeldes, der inhaltlichen Ausrichtung auf Beziehungen, Interaktionen und Relationen

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sowie die notwendige Reflexion der Forscherin über die Relationen mit dem Feld und den verwendeten beziehungsweise erarbeiteten analytischen Konzepten über den gesamten Forschungsprozess.(Vgl. Knecht 2012, 260-261) Auf den hierdurch entstehenden ›Kreislauf‹ von empirischer Datenerhebung, Auswertung und Anpassung der Datenerhebungsmethoden und analytischen Konzepte oder theoretischen Begründungen im Modus der Begegnung wird in Knechts Übersetzung von Marilyn Strathern, britischer Sozialanthropologin, wie folgt verwiesen: »Ethnologinnen und Ethnologen lassen sich auf eine partizipatorische Übung ein, die Material zu Tage fördert, für das die analytischen Protokolle oder theoretischen Begründungen häufig erst after the fact fabriziert werden.« (Strathern 2004, 5-6, Übersetzung Knecht in:Knecht 2012, 262)

4.2 BEISPIELE PRAXEOGRAFISCHER FORSCHUNGEN Als Beispiel praxeografischer Forschungszugänge zieht Michi Knecht die Monografie »Making Parents – The Ontological Choreography of Reproductive Technologies« von Charis Thompson heran, die sich mit Fertilitätskliniken in den USA und deren Normalisierungspraxen auseinandersetzt. (2005) Forschungsgegenstand sind in Thompsons Ansatz nicht mehr die unterschiedlichen Akteurinnen ihres Feldes, Ärztinnen, Nutzerinnen oder Klinikpersonal oder das Kollektiv beziehungsweise die Beziehungen der unterschiedlichen Akteurinnengruppen, sondern eine »sozial-natürliche Konstellation« und ihren »ontologischen Choreographien« (Thompson 2005, 8-11, 286, in Knecht, 262). Der Fokus von Thompsons Forschung liegt auf den Relationen von Frauenkörpern und weiblichen Selbstverständnissen, Hormonen, Instrumenten, die technisch-assistierte Befruchtung ermöglichen und so »die sozio-natürliche Herstellung ›legitimer Eltern‹« ermögliche. (Knecht 2012, 262) Ihr Konzept der »ontologischen Choreographie« (Thompson 2005, 8-11, 203204) wird von Knecht als die »komplexen Praktiken des Passförmig-Machens, der Koordination, Interaktion und des Zusammenspiels zwischen Objekten und Akteuren, die normalerweise unterschiedlichen ontologischen Sphären (der Sphäre der Natur, der Sphäre der Gesellschaft oder des Selbst) zugeordnet, in der Praxis der Reproduktionstechnologie aber neu zusammengefügt werden und dadurch neue ontologische Ordnungen generieren.« (Knecht 2012, 264) Dies ist mit einer Verschiebung der Aufmerksamkeit von menschlichen Akteurinnen zu allen Beteiligten an einer Situation verbunden: Menschen, klinische Daten, Operationskittel und Pipetten. Für Thompson konstituieren sich »Normalisierungsprozesse, aber auch die Subjektivität und Handlungsfähigkeit der Akteure, […] in diesen

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heterogenen Gefügen aus einer Serie von bürokratischen, diskursiven, medizinischen, ökonomischen und ethischen Praktiken heraus.« (Knecht 2012, 264) Für den Fokus dieser Arbeit auf das zeitlich durch eine, meist eineinhalbstündige ergotherapeutische Behandlungseinheit begrenzte ›Geschehen‹ sowie ein besseres Verständnis der vom restlichen, klinischen Alltag losgelösten »Alltagsbefähigungspraktiken« scheint die auf längere Zeitabschnitte sowie eine Fokussierung auf die infrastrukturelle Einbettung von Praktiken weniger geeignet. Dennoch verweist es in ähnlicher Art und Weise wie der im Kapitel Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« vorgestellte Ansatz praxis-materialer Arrangements von Theodore Schatzki auf die Notwendigkeit, Praxis als Zusammenkunft multipler Entitäten zu verstehen und dahingehend zu analysieren. Annemarie Mol beschäftigt sich in ihrer ebenfalls praxeografisch 4 ausgerichteten Monografie »The Body Multiple – Ontology in Practice” (Mol 2002) mit den Praxen der Arteriosklerose am Beispiel zweier niederländischer Kliniken. Die Diagnose Arteriosklerose ist Mol zufolge eine fluide Technologie 5, insofern als

4

Mol spricht von ›Praxiography‹, im deutschen Sprachraum hat sich, in Anlehnung an Bourdieus Praxeologie jedoch der Begriff der Praxeografie weitgehend durchgesetzt, weshalb ich hier nur diese Schreibweise verwende.

5

Mol und Marianne De Laet führen in ihrer Studie zur Wasserhandpumpe (2000), die in weiten Teilen Zimbabwes zum Einsatz kommt, den Begriff der Fluidität ein. Die Wasserpumpe wird von einer lokalen Firma produziert und sorgt für eine eigene Wasserzufuhr in zum Teil abgelegenen Orten des Landes. Die sogenannte Buschpumpe pumpt Grundwasser ans Tageslicht, so dass dieses überdurchschnittlich wenig mit Coli-Bakterien verseucht ist. Die Konstrukteurinnen legten besonderen Wert darauf, dass die Pumpe möglichst einfach und robust im Design und der Handhabung ist, so dass sie kaputte Teile leicht ersetzt werden können. Außerdem ist es nicht immer notwendig, dass diese Teile zur ursprünglichen Pumpe gehören, so dass sich die vielen tausend Pumpen im Land zwar ähneln, gleichzeitig aber auch lokal differieren. Um die Buschpumpe zu verstehen, gilt es also sowohl Tabellen mit dem Anteil von Coli-Bakterien zu lesen; den Umgang der Dorfbewohnerinnen mit ihrer neuen Bewohnerin – der Pumpe – zu beforschen; die vielfältigen Bezüge der beteiligten Personen einzubeziehen als auch den symbolischen Wert, den die Pumpe als konkretes Werkzeug zur Selbsthilfe in den Gemeinden spielen mag, mitzudenken. Objekte, Menschen und ihre Interaktionen bilden so ein nicht voneinander trennbares und nur ungenügend extrahiert analysierbares Gewebe. Erst dadurch wird deutlich, wie die Buschpumpe nicht nur für die Wasserversorgung zuständig ist, sondern maßgeblich an der sozialen Interaktion zwischen menschlichen Akteurinnen aus der Produktionsfirma, dem Gesundheitsamt, der Dorfgemeinde und zwei Forscherinnen aus den Niederlanden beteiligt ist. Mol und De Laet

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dass sie sich, wie die Orte, Apparate, therapeutische Objekte, Patientinnen, medizinisches Personal und Diagnosen, in denen sie sich äußert, in der Praxis im stetigen Wandel befindet. (de Laet und Mol 2000) Arteriosklerose sei folgerichtig stets eine multiple, vielerorts und zeitlich instabile Krankheit wie Beobachtungskategorie, die dementsprechend klassische Objekt-Subjekt-Dichotomien zu überwinden versucht und Objekten in ihrer Anwendung, ihrer Bestimmung und Definition folgt. (Vgl. Mol 2002, 32) Objekte seien hierbei stets »enacted«. (Mol 2002, 41) Diese enactments sind allerdings stets lokal und temporär gebunden, die ›Identität‹ der Objekte also fragil und wandelbar und weisen multiple Verbindungen zueinander auf. (Vgl. ebda, 43, 149ff.) Aus praxeografischer Sicht werden Objekte nicht nur als Bedeutungsträger oder zu beschreibende Einheit verstanden, sondern folgt diesen in ihrer praktischen Anwendung, die zum Ausgangspunkt weiterer Theorienbildung werden soll. (Vgl. Mol 2002,152) Zunächst müssten praxeografisch Forschende laut Mol die vielfältigen Verknüpfungen jeder Aktivität anerkennen und alle gleichermaßen ernst nehmen. Ihre Forschung wäre deshalb zu gleichen Teilen eine Forschung über die Krankheit als auch die mit ihr verbundenen medizinischen Praktiken, da beide nicht getrennt voneinander gedacht werden könnten. Am Beispiel eines Arztgesprächs verdeutlicht sie diese Verknüpfungen: Behandelnde und Behandelte müssten über Kommunikationsfähigkeiten verfügen, um eine Diagnose zu erstellen. Für diese sind aber die Blutwerte und die Maschine, die sie misst, elementar. Statistiken zur Verbreitung und erfolgsversprechenden Behandlung der Erkrankung fließen ebenso in die weitere Therapie ein. (Vgl. Mol 2002, 156-157) Der praxeografische Ansatz erlaube und fordere hiermit zugleich ein, Objekte und Handlungen aller Art sowie ihre Verknüpfungen in die Analyse mit ein zu beziehen. (Vgl. Mol 2002, 158) Zudem habe ich Praxisinterviews durchgeführt. Unter praxistheoretischen Interviews verstehe ich nach Mol eine Fokussierung der Fragen auf Situationen und Aktivitäten anstatt der Meinungen oder Empfindungen der Befragten. Hierdurch sollen die Interviews als eine Art »Verlängerung der teilnehmenden Beobachtungen« verwendet werden können. (Vgl. Mol 2008, 9) Da der Fokus allerdings auf den von mir erhobenen Beobachtungsdaten selbst liegt, wird den Interviewdaten an dieser Stelle nur vergleichsweise wenig Platz eingeräumt. 6

definieren die Buschpumpe folgerichtig als fluide Technologie, die in der Lage ist, sich geschmeidig an soziale Kontexte und materiale Voraussetzungen anzupassen. 6

Eine weitere Publikation zu den erhobenen Interviewdaten und praxistheoretischen Interviews als Methode in der Gesundheitsforschung ist in Planung.

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Einen weiteren wichtigen Aspekt zur ethnografischen Beforschung von ergotherapeutischen Alltagspraktiken in psychiatrischen Institutionen stellt die doppelte Zielsetzung zur »Veralltäglichung« von Stationsleben wie (Praktiken der) Nutzerinnen dar. Beck, Knecht u.a. verdeutlichen in »Erweiterte Fallstudien zu Verwandtschaft und Reproduktionstechnologien« (Beck et al. 2011) wie »Prozesse der Veralltäglichung, der Routinisierung und Entzauberung des Außergewöhnlichen im alltäglichen Umgang mit reproduktionsmedizinischen Optionen ebenso wie die Anpassung rechtlicher und ethischer Regulationen oder die Entwicklung medizinischer und technischer Standards als Ergebnis von Normalisierungspraxen« analysierbar werden. (Beck et al. 2011, 27) Sie beschreiben zunächst, wie standardisierte Behandlungsabläufe wie –verläufe der In-Vitro-Fertilisation für die Paare, die sich hierdurch ihren Kinderwunsch erfüllen wollen, Eigendynamiken ergeben, die ihre Alltage durch neue Routinen und körperlich wie emotional invasive Zumutungen der Reproduktionstechnologien verändern und wie sie hierauf reagieren, zugleich aber durch allmähliche Umdeutung und reflexiven Neuordnung von Verwandtschaftspraktiken legitimiert werden. (Vgl. Beck et al. 2011, 45) Hierfür entwickeln sie aus ihrer ethnografischen Empirie zu den Praktiken des Verwandtschaft-Machens mit Reproduktionstechnologien heraus einen – wenn auch tentativen – »systematisch prozesshaften Normalisierungsbegriff«. (Beck et al. 2011, 34) Ein praxistheoretisch erweiterter und systematisierter Normalisierungsbegriff müsste ihnen zufolge empirisch feingliedrig und auf Heterogenität und Ambivalenzen der Prozesse achten sowie »soziale, narrativ-diskursive und materiell-körperliche Dimensionen aufeinander beziehen und die Spezifik von Normalisierungsprozessen in unterschiedlichen Lebensbereichen angemessen berücksichtigen.« (Beck et al. 2011, 34-35) Zugleich betonen sie, dass Normalisierung »ein stets prekärer, unabgeschlossener Prozess« sei, der stetige Arbeit und Achtsamkeit beziehungsweise Routinisierung und (emotionale) Stabilisierung in soziomaterialen Alltagspraktiken im Sinne einer Veralltäglichung erfordere. (Vgl. Beck et al. 2011, 45) Die psychiatrische stationäre Versorgung gleicht den »Privatalltagen« durch räumliche Restriktionen ›geschlossener‹ Stationen, vergleichsweise starke zeitliche Reglementierung starrer Tagesabläufe sowie stetige Beobachtung und Bewertung durch Behandelnde nur wenig. Durch diese fehlende »Alltäglichkeit« psychiatrischer Versorgungseinrichtungen einerseits und dem mitunter ungewöhnlichen und nur eingeschränkt bis nicht nachzuvollziehenden Verhaltensweisen von Menschen in psychischen Krisen könnte argumentiert werden, dass in dieser Studie also der Versuch unternommen wird, in einem sehr ›unalltäglichen‹ Ort nach »Alltagspraktiken« und den hiermit verbundenen Fähigkeiten zu suchen.

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Auch wenn ich dieser Perspektive widerspreche und »Alltag« zunächst, kurzgefasst, als von Menschen ausgeführte, sich wiederholende, vorrangig implizite in soziomateriale Arrangements eingebettete Praktiken verstehe, findet in Alltagen in psychiatrischen Institutionen in gewisser Hinsicht eine Verschiebung der Normalität statt. Durch psychische Krisen ausgelöste eigensinnigen Verhaltensweisen der Nutzerinnen und zeitlich-räumliche Restriktionen geschlossener Institutionen doppelt ungewöhnliche Alltage werden durch eine räumliche wie praktische »Veralltäglichung« im Sinne Knechts et al. des Stationsalltags innerhalb der Ergotherapie konterkariert. In der Werkstatt, beim sogenannten »Alltagstraining« – zum Beispiel durch die Ergotherapeutinnen angeleitete Einkäufe im nahe gelegenen Supermarkt oder in der Stationsküche – soll, durch möglichst ›alltagsnahe‹ Tätigkeiten, ein Ausgleich vom passiven und vorstrukturierten Behandlungsalltag für die Nutzerinnen geschaffen werden, in dem sie, wie es von den Ergotherapeutinnen meines Felds immer wieder betont wurde »normal behandelt werden« und »normal verhalten können«. Zugleich bedeutet dies nicht, dass die geschaffenen Freiräume eine ›Therapiepause‹ darstellen, denn alles, was in der psychiatrischen Ergotherapie passiert, ist auf die Hinführung zu einem imaginierten, zukünftigen außerstationären »Alltag« ausgerichtet. »Veralltäglichungspraktiken« werden daher in der psychiatrischen Ergotherapie als die angestrebte Normalisierung der Erfahrungen in der stationären, (oftmals unfreiwilligen) Unterbringung als Patientin auf einer psychiatrischen Station verstanden und als Normalisierung des Handelns der Nutzerinnen selbst, die auf ein Leben ›draußen‹ hinarbeiten. »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie können daher als zweifache Zielsetzung zur »Veralltäglichung« verstanden werden. Während Knecht et al. Normalisierungspraktiken vorrangig durch Prozesse der »Entzauberung des Außergewöhnlichen« und veränderte rechtliche wie ethische Regulationen erklären, erscheint »Veralltäglichung« kein Nebenprodukt, sondern aktiv angestrebtes Ziel der Ergotherapie zu sein.

4.3 ZUSAMMENFASSUNG DES PRAXEOGRAFISCHEN FORSCHUNGSZUGANGS Ein praxeografischer Forschungszugang wurde gewählt, da er besonders geeignet für eine Untersuchung der »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie zu sein scheint. Die von anderen Ansätzen marginalisierten Routinen, die so charakteristisch für »Alltagspraktiken« sind, können als gleichwertige wenn auch nicht gleichartige Handlungen in den Blick genommen werden.

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Der Ansatz zu den ontologischen Choreographien von Charis Thompson verweist ähnlich stark wie die praxis-materialen Arrangements Theodore Schatzkis auf die Notwendigkeit, Praxis als Zusammenkunft multipler Entitäten, Subjekten wie Objekten, zu verstehen und dahingehend zu analysieren. Wie es Annemarie Mol verdeutlicht, werden Objekte aus praxeografischer Sicht nicht nur als Bedeutungsträger oder zu beschreibende Einheit untersucht, sondern folgt diesen in ihrer praktischen Anwendung, die zum Ausgangspunkt weiterer Theorienbildung werden soll. Der praxeografische Ansatz erlaube und fordere hiermit zugleich eine Analyse aller Beteiligten, Subjekte, Objekte und Handlungen aller Art sowie ihre Verknüpfungen mit ein zu beziehen. »Veralltäglichungspraktiken« werden in der psychiatrischen Ergotherapie sowohl als die angestrebte Normalisierung der Erfahrungen des (häufig unfreiwilligen) ›Nutzerinnen-Seins‹ in der stationären Psychiatrie verstanden als auch als Zielsetzung der Normalisierung des Handelns der Nutzerinnen als »Einstieg in den Alltag« selbst.

4.4 ZENTRALE FRAGESTELLUNGEN Im Folgenden soll auf Grundlage des theoretischen wie methodischen Überblicks eine Reformulierung und Spezifizierung der zentralen Fragestellungen meiner hier vorliegenden Studie erfolgen. Während die psychiatrische Ergotherapie über breites praktisches Wissen zur allgemeinen gesundheitsfördernden Funktion von Betätigung verfügt und sich im historischen Verlauf von einem medizinischen Hilfsberuf zu einer international gut vernetzen wie genuin interdisziplinär informierten Profession entwickelt hat, fehlt es an explizierten Alltagsbegriffen (beziehungsweise an Begründungen, warum eine definitorische Lücke von Vorteil ist). »Alltag« habe ich auf Grundlage der ergotherapeutischen Definitionen hier zunächst als Forschungskategorie als räumlich wie zeitlich nicht begrenzbarer Handlungsraum verstanden, der durch repetitive Routinen geprägt ist beziehungsweise diese von seinen Akteurinnen erwartet. Ein autonomer, vor allem aber produktiver »Alltag« ist hierbei zentrale Zielvorgabe und Messlatte der Heilung. Im Forschungsfeld psychiatrische Ergotherapie ist »Alltag« insofern doppelt vorhanden, als dass einerseits die Institution einen eigenen, wenn auch ungewöhnlichen Alltag bereithält, andererseits der private »Alltag außerhalb als stete Projektionsfläche beziehungsweise als eine, für die Nutzerinnen in der Zukunft zu erreichende Zielvorgabe und erstrebenswerter (Normal-)Zustand mitgedacht wird und so deutlicher als anderswo so auf die ›Unalltäglichkeit‹ des Begriffs verweist.

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In der Literatur wird auf die schwierige bis unmögliche zeitlich-räumliche Begrenzung von »Alltag« einerseits verwiesen und die zentrale Zielvorgabe aller medizinisch-therapeutischen Praktiken andererseits, »Alltag« und »Alltagsfähigkeit« im Sinne der selbstverständlichen Wiederteilnahme in allen Bereichen des Lebens die Messlatte von Heilung (status quo ante). Neben der für die Ergotherapie zentralen Handlungsbefähigung der »Produktivität« und »Routinen« ihrer Nutzerinnen ist die Bedeutung des (Kunst-)Handwerks und die Herstellung von Objekten als Therapeutikum insbesondere für das Angebot im Fachbereich der Psychiatrie hervorzuheben. Für die ergotherapeutische Praxis in der stationären Versorgung ist zur Behandlung und Verbesserung der »Handlungsfähigkeit« in den »Performanzbereichen« des Alltags auch die räumlich-zeitliche Situierung der Therapie zur »Alltagsbefähigung« relevant. Deshalb hat sich die Disziplin beziehungsweise ihre Bezugswissenschaft Occupational Science u.a. mit den Unterschieden zwischen ›echten‹ und ›simulierten‹ Praktiken sowie dem Inszenierungs- oder Simulationscharakter vom Alltag innerhalb der Klinik auseinandergesetzt. Im empirischen Teil soll daher u.a. der Frage nachgegangen werden, wie die Behandelnden in der psychiatrischen Egotherapie mit dem in vieler Hinsicht so ›unalltäglichen‹ institutionellen Rahmenbedingungen der von starken räumlichen wie zeitlichen Restriktionen einer ›geschlossenen‹ stationären Versorgung umgehen. Im Abriss zu bisherigen Ansätzen aus der Alltags- und Praxisforschung habe ich die drei Kategorien »Produktivität«, »Routinen« und »Handwerk/Materialität« erneut aufgegriffen und den Versuch unternommen, das ergotherapeutische Verständnis von »Alltagsbefähigungspraktiken« sinnvoll zu ergänzen. »Produktivität« wird in der Literatur sowohl als Möglichkeit der Selbstverwirklichung und dem Streben nach Autonomie als auch den Zwängen zunehmender Leistungsanforderungen innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt beschrieben. Dies wirft die Frage auf, wie die Balance zwischen beiden Polen in der Praxis der psychiatrischen Ergotherapie hergestellt wird und welche Schlussfolgerungen sich hierfür für die zentrale Fragestellung ableiten lassen. Materialität ist seit jeher wichtiger Bestandteil in der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Obwohl sich insbesondere in der Wissenschafts- und Technikforschung viele Forscherinnen mit der Frage nach den materialen Voraussetzungen des ›Sozialen‹ beschäftigten, haben sich weder ergotherapeutische noch sozialwissenschaftliche Diskurse bisher zu genüge damit auseinandergesetzt, wie »Alltagsfähigkeit« und »Objektherstellung« in der ergotherapeutischen Behandlung psychisch erkrankter Menschen in Verbindung zueinander stehen, welche

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Formen der ›Implizierung‹ des Erlernten hierfür notwendig sind und welche Implikationen dies für ein praxistheoretisch informiertes Verständnis von »Alltag« und »Praxis« haben kann. Für die »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie sind der Wiedererwerb oder die Umgestaltung von Routinen in den »Alltagen« der Nutzerinnen ein wesentlicher Indikator für den Behandlungserfolg. Konzepte von »Alltag« verweisen entweder auf seine zeitlich-räumliche Unbegrenzbarkeit oder die temporale Kontinuität der »Alltagshandlungen« sowie die parallele, ideelle Verknüpfung zum Vertrauten, Heimatlichen oder des ›Zuhauses‹. Die notwendige ›Implizierung‹ von Routinen als halb-automatisierte Handlungen im Alltag verweisen auf die Komplexität und Schwierigkeit dieses Versuchs. Die Etablierung beziehungsweise Veränderung von Routinen ist aufgrund des impliziten Charakters des praktischen »Alltagswissens« eine große Herausforderung für Behandelte und Behandelnde. Meine Studie versucht, die von der Europäischen Ethnologie bisher selten in den Blick genommenen, ungewöhnlichen oder extremen »Alltage« in der psychiatrischen Ergotherapie fernab von Routinen aus ihren konkreten »Alltagsbefähigungspraktiken« empirisch zu erörtern, die als Bruch mit vorherigen oder nicht mehr vorhandenen Routinen verstanden werden. »Alltag« wird zunächst, kurzgefasst, als Anzahl von Menschen ausgeführten, immanent repetitiven und dazu vorrangig impliziten Praktiken verstanden, die in zeitlich-räumlich ungebundenen doch notwendigerweise situierten soziomaterialen Arrangements produziert werden und konstant stabilisiert werden müssen. Meine Studie basiert auf fünf Arbeitshypothesen: 1. Alltag ist geprägt von impliziten Wissenspraktiken und Routinen. 2. In der psychiatrischen ergotherapeutischen Versorgung gilt »Alltag« als Anzahl (wieder-)erlernbarer Fähigkeiten. 3. Diese Fähigkeiten sollen durch die Einübung als ›alltäglich‹ geltender Routinen und der Produktion von (kunst-)handwerklich kreativen Objekten in der ergotherapeutischen Werkstatt beziehungsweise im Rahmen therapeutischer Gruppenaktivitäten zur Selbstversorgung oder Freizeit (wieder-)erlernt werden. 4. Hierbei werden ko-therapeutisch wirkende Materialien beziehungsweise Therapiemittel genutzt. 5. In der psychiatrischen Ergotherapie entstehen dadurch sehr spezifische Alltagsund Wissenspraktiken, die »Alltag«, als selbstverständlichen Erfahrungs- und Lebensort verstanden, konterkarieren.

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Welche impliziten Alltagsvorstellungen sind in die ergotherapeutische Behandlung durch ihre räumlichen, materialen und sozialen Arrangements ›eingeschrieben‹ und wie sinnvoll und möglich ist es, diese zu explizieren beziehungsweise inwieweit lassen sich diese für eine weitergehende Analyse zu den sozialen wie materialen Voraussetzungen von Alltag fruchtbar machen? Welche Voraussetzungen müssen die Nutzerinnen erfüllen, um in den, im folgenden Abschnitt vertiefend beschriebenen, drei ergotherapeutischen Perfomanzbereichen Produktivität, Selbstversorgung und Freizeit sowie dem übergeordneten Ziel gesellschaftlicher Partizipation als ›alltagsfähig‹ zu gelten? Im anschließenden empirischen Teil der Studie werde ich entlang der drei von mir als besonders zentral herausgearbeiteten Betätigungsfelder »Produktivität«, »Materialität« und »Routinen« auf praxisimmanente Alltagsvorstellungen und »Alltagsbefähigungspraktiken« eingehen, um sie im Weiteren für eine weitergehende Analyse und Theorienbildung zugänglich zu machen.

5. Routinen ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung«

5.1 AUSNAHMEZUSTAND ALS NORMALITÄT IN DER PSYCHIATRIE »Nach der ergotherapeutischen Kochgruppe, die wie stets im großen Aufenthaltsraum auf der allgemeinpsychiatrischen Station stattgefunden hat, sitzt Herr Lichter mit den zuvor am Kochen beteiligten Klientinnen um einen Tisch herum und beginnt, den Hackbraten auf seinem Teller zu zerschneiden. Plötzlich ertönt lautes Geschrei von der anderen Seite des Raumes. Ich werfe einen kurzen Blick in die Richtung und sehe Herrn Meier, einen erst vor kurzem auf die Station aufgenommenen Patienten. Herr Meier geht von Platz zu Platz, auf denen andere Nutzerinnen der Station bereits die Plastiktabletts mit dem Mittagessen aus der Klinikküche abgestellt haben. Während er die beschrifteten Papierstreifen auf der Suche nach dem Tablett mit seinem Namen liest, meckert er lautstark vor sich hin, die aus ihm heraussprudelnden Wörter sind für mich jedoch nicht in einen Zusammenhang zu bringen, verheißen allerdings schlechte Laune. Er gestikuliert dabei wild mit den Armen, ballt seine Faust in die Höhe und droht der Luft um ihn herum. Plötzlich greift er zu dem Katheter, der aus seinem Pullover lugt und leert den darin enthaltenen Urin mit einem Schwung auf ein Esstablett eines anderen Patienten, der sich noch nicht im Raum befindet. Herr Lichter steht auf, geht zu Herrn Meier und redet in ruhigem Ton auf ihn ein. Nach einem kurzen, für mich unverständlichen Gespräch, in dem Herr Lichter leise, Herr Meier in weiterhin lauter Tonlage miteinander sprechen, nimmt Herr Lichter den Arm des Mannes und führt ihn aus dem Raum. Alle anderen Anwesenden blicken auf ihre Teller und beschäftigen sich still mit ihrem Mittagessen, auch ich drehe mich um und esse schweigend weiter. Ich ekle mich weder noch bin ich verwundert über Herrn Meiers Verhalten. Das Thema wird nicht noch einmal aufgegriffen. Auf der Heimfahrt im Zug frage ich mich, wie ich mich so schnell an derartige Ausnahmesituationen gewöhnen konnte.« [Feldnotiz 18.11.2012]

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Das Kapitel beschäftigt sich, eng am empirischen Material, multiperspektivisch mit Routinen als lernbare Handlung in der psychiatrischen Ergotherapie: Nach einem zur entlastenden Wirkung von Routinen als Strukturgeberinnen beziehungsweise Automatismen folgt im zweiten Abschnitt »Zeit und Raum von Routinen« eine Reflexion zur notwendigen Verortung und möglichen Problemen beim Transfer von Routinen von Ort zu Ort sowie ihre mehrfache Zeitlichkeit. Darauf folgt im dritten Abschnitt »Begrenzte Routinen« eine Auseinandersetzung damit, wie Routinen, die sich zumeist durch ihre fehlende Verbalisierung oder gar Verbalisierbarkeit auszeichnen, in der psychiatrischen Ergotherapie vermittelt werden können und der Frage danach wo die Grenzen der Routinisierung des »Alltags« liegen und wie mit einem Übermaß von Routinisierung in der psychiatrischen Ergotherapie umgegangen wird. Die stationäre Psychiatrie stellt einen Raum dar, in dem Ausnahmesituationen wie die in der Sequenz beschriebene an der Tagesordnung sind. Die Nutzerinnen werden in den meisten Fällen wegen einer akuten psychischen Krise auf der Station behandelt, nicht immer erfolgt diese Behandlung freiwillig, nicht alle können die Station (ohne Begleitung) verlassen.1 Viele Nutzerinnen fallen in ihrem Verhalten aus dem Rahmen des ›Normalen‹. Einige reden laut, mit sich selbst oder gar nicht, andere waschen sich im Übermaß oder nie. Gerade zu Beginn der Behandlung verlassen viele Nutzerinnen ihr Zimmer nur selten und sind bis tief in die Nacht wach. Die von der Klinik vorgegebene Zeiteinteilung auf der Station ist, wie bereits erwähnt, sehr eng getaktet. Gemeinsame Weck-, Frühstücks- und Frühsportzeiten, eine Uhrzeit zur Medikamenteneinnahme und zur Blutabnahme, die GesprächsMorgenrunde, Therapiezeiten, Mittag- und Abendessen wie auch die Ruhezeiten folgen einem genauen Plan, der von den Mitarbeiterinnen meist penibel befolgt wird. Von den Nutzerinnen wird erwartet, sich nach eigenem Vermögen diesem ›Zeitkorsett‹ möglichst gut anzupassen, ohne Aufforderung zu den Mahlzeiten und Therapien zu erscheinen und vor allem die Nachtruhe einzuhalten. Die Synchronisation mit dem Klinikalltag wird als wichtiger Behandlungserfolg und Schritt auf dem Weg zur Besserung gewertet. Es ist zu vermuten, dass sich der Stationsalltag von den privaten Alltagen der Nutzerinnen unter anderem durch diese enge Taktung stark unterscheidet. Viele Nutzerinnen beziehen entweder bereits Rente oder sind spätestens seit Beginn ihrer Erkrankung ohne Anstellung. Auch die enge Taktung des restlichen Tagesablaufs mit regelmäßigen Terminen (Ergo- und Physiotherapie, Arzttermine, Gesprächspsychotherapie, Entspannungsgruppen, Einzel- und Gruppengespräche mit Angehörigen, etc.) ist für

1

Zum PsychKG vgl. 15.

Routinen ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 105

die meisten Nutzerinnen vermutlich ungewohnt. Zudem sind sie auf der Station selten allein: Die Nutzerinnen schlafen meist in Zwei- bis Vierbettzimmern, Mahlzeiten und ein Großteil der Therapien finden in Gruppen statt. Die Nutzerinnen sind daher mit vielen neuen und oft ungewöhnlichen Menschen und deutlich intensiverer sozialer Interaktion konfrontiert, was teilweise als Überforderung und zusätzlicher Stress wahrgenommen wird. Zudem unterscheiden sich die Orte, in denen die Routinen durchgeführt werden sollen: Anstatt den individuell gestalteten Privaträumen, die die Nutzerinnen auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet haben, sind die Stationsräume auf die klinischen Abläufe optimiert. Die Mahlzeiten werden, abgesehen von der jeweils einmal wöchentlich stattfindenden Koch- beziehungsweise Backgruppe, von Mitarbeiterinnen in der klinikeigenen Großküche vorbereitet und bereits vorportioniert ausgegeben. Neben der Essenszubereitung entfallen auch andere, gewichtige Teile täglicher Routinen: Es muss weder eingekauft, geputzt noch gewaschen werden. Keine Briefe oder Zeitungen kommen an, keine E-Mails können beziehungsweise müssen gelesen werden. Der Fernseher im kleinen Gemeinschaftsraum wird nur selten angeschaltet. Wie »unter einer Käseglocke« fühlte sie sich auf der Station, kommentiert dies eine Nutzerin, die bereits einige Wochen auf der Station ist und das Gefühl hat, den Kontakt zur »wirklichen Welt« allmählich zu verlieren. Die Psychiatrie ist der Gegenentwurf zu den alltäglichen Routinen außerhalb der Institution – sowohl hinsichtlich der individuellen Freiheit, sich den Alltag individuell zu gestalten (und frei darin zu bewegen), als auch des zeitlichen Ablaufs und der Räume. Martina Klausner kommt in ihrer, ebenfalls auf teilnehmenden Beobachtungen in der stationären Psychiatrie basierenden Monografie zum gegensätzlichen Ergebnis. Sie argumentiert, dass sich die klinischen Abläufe möglichst dicht an ›normalen‹ Tagesabläufen orientierten und die Nutzerinnen mit einer »Ersatzlandkarte« eines ›normalen‹ Rhythmus versorge. Von den Behandelnden würde das Einfügen dieses Rhythmus auch als Therapieziel festgesetzt, welches die Nutzerinnen zu einer ›normalen‹ und sozialen Alltagsführung befähigen solle. (Klausner 2015, 264 ff.) Ich hingegen glaube nicht, dass es für das Ausstellen dieser »Ersatzlandkarte« genügend Ähnlichkeiten zwischen außerklinischem und klinischem Alltag gibt. Dies liegt neben veränderten zeitlichen Abläufen, anderen beteiligten Personen und den Räumen der Ausführung vor allem an der Handlungsfreiheit und –fähigkeit der Nutzerinnen, welche während des Aufenthalts meines Erachtens von der Erkrankung sowie der Institution Psychiatrie selbst in erheblichem Maße eingeschränkt werden. Zudem wurde von den in meinem Feld Behandelnden wie Behandelten vor allem die ›Unalltäglichkeit‹ und ›Ausnahmesituation‹ auf der Station betont, was verwundert, da sowohl die von Klausner als auch

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von mir beforschten Stationen mit ähnlichen, sozialpsychiatrischen Konzepten arbeiten. In diesem Kapitel stelle ich einen zentralen Aspekt der Zielsetzung der psychiatrischen Ergotherapie – die Einübung, den Wiedergewinn oder den Erhalt von Routinen – vor. Aufgrund der einleitenden Sequenz sowie nachfolgenden Überlegungen stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage, wie an einem derart aus den außerklinischen Takten und Gewohnheiten ›gefallenem‹ Ort wie einer psychiatrischen Station Routinen für den Alltag ›draußen‹ gelernt werden sollen. Die Auswahl des empirischen Materials für dieses Kapitel ist mir schwergefallen. Nur selten schien über Routinen gesprochen zu werden. Dies ist auffällig, betrachtet man die Fokussierung auf Routinen als eine der drei zentralen Zielvorgaben der Ergotherapie und die ausführliche Auseinandersetzung mit Routinen in der ergotherapeutischen und betätigungswissenschaftlichen Literatur. (Z.B. Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006) Wie kann es also sein, dass Routinen derart zentral für die Ergotherapie sind, doch nur selten in den konkreten Behandlungssituationen thematisiert werden? Die US-amerikanische Medizinsoziologin Kathy Charmaz vermutet, dass: »[t]he language of habit is silent. How does one articulate the taken-for-granted? Until their habits are challenged, people with illnesses do not think about them.« (Charmaz 2002, 31S) Zudem verweist sie auf den intensiven Eingriff in die Persönlichkeit der Nutzerinnen, die jeder Versuch von Routinenveränderungen darstelle. Ergotherapeutinnen, die die Routinen der Nutzerinnen zu verändern versuchten, testeten die Grenzen der Selbstkonzepte dieser aus und versuchten das, was sie ausmache, zu verändern. (Vgl. Charmaz 2002, 40S)

5.2 ROUTINEN ALS STRUKTURIERUNG UND AUTOMATISIERUNG »Die Morgenrunde findet dreimal wöchentlich eine halbe Stunde nach dem Frühstück im großen Aufenthaltsraum statt; alle Patientinnen der Station sind angehalten daran teilzunehmen. Diese wird im Wechsel vom behandelnden Oberarzt, einer der Krankenpflegerinnen oder dem Ergotherapeuten der Station, Herrn Lichter, angeleitet. Inhaltlich geht es darum, über das anstehende Therapieprogramm und andere Aktivitäten zu informieren, Fragen zu beantworten und Probleme zu klären sowie Lösungen für Konflikte unter den Nutzerinnen zu suchen. Wenn keine aktuellen Themen anstehen wird ein Thema zur Diskussion gestellt, über das etwa eine halbe bis dreiviertel Stunde gesprochen wird. Heute geht Herr Lichter durch alle Patientinnenzimmer und erinnert an den baldigen Beginn der Morgenrunde. Einige Minuten später sitzt ein Großteil der Patientinnen mittlerweile auf

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einem der Stühle, die in einem großen Kreis stehen. Eine ebenfalls anwesende Krankenpflegerin notiert die Namen der Anwesenden während Herr Lichter nach einer Vorstellungsrunde und einem sogenannten Blitzlicht, bei dem die Teilnehmerinnen berichten, wie es ihnen geht, das heutige Thema der Morgenrunde vorstellt. ›Was kann Alltagsgestaltung für ihre Gesundheit tun?‹, fragt er in die Runde. Er fügt hinzu: ›Die Koch- oder Backgruppe, die haben ja auch als Beispiel etwas mit Alltagsgestaltung zu tun.‹ Die Nutzerinnen schauen ihn fragend bis ratlos an, keiner sagt etwas. Herr Lichter setzt erneut an: ›Was bedeutet Alltag für Sie?‹ ›Einkaufen‹, sagt nun eine der Patientinnen. ›Kann ich auch nicht mehr, es ist eine Frage der Zeit, dass es vorbeigeht‹, fährt ein anderer dazwischen, dabei nicht in die Runde, sondern auf den Boden schauend. ›Spazierengehen‹, ergänzt ein anderer Nutzer, nachdem der Ergotherapeut seine Frage wiederholt hat. Nach den beiden Wortmeldungen breitet sich erneut Stille aus und nach einiger Zeit fasst Herr Lichter zusammen: ›Einkaufen und Spazierengehen sind Dinge, die sich immer wiederholen. Wie wichtig ist dies für Sie?‹ Nun schaut er jeden der Anwesenden der Reihe nach an, diese nicken stumm. Eine Patientin merkt an, dass sie sich deshalb wünsche, einen Teil davon zurückzubekommen. Ihre Bitte verhallt im Raum. ›Und was kann man auf der Station für den Alltag lernen?‹, fragt Herr Lichter daraufhin. ›Tagesstruktur‹, sagt eine Patientin und schaut den Ergotherapeuten fragend an. Der nickt und lächelt ihr kurz zu, und bittet im Anschluss die Runde, Beispiele hierfür zusammenzutragen. Nacheinander wird ›regelmäßiges Aufstehen‹, ›Anziehen‹, ›Waschen‹, ›Arbeiten gehen‹, ›nach Hause kommen‹, ›Kochen‹ und ›Schlafengehen‹ von den Patientinnen genannt. ›Was macht das mit Ihnen?‹, fragt der Ergotherapeut in die Runde. ›Es gibt Sicherheit‹, beantwortet er seine eigene Frage, als nach etwa einer halben Minute niemand geantwortet hat und alle auf den Boden oder unverwandt aus dem Fenster schauen, und nickt bestimmt. ›Viele Menschen haben zum Beispiel Einschlafrituale. Ich schaue zum Beispiel noch Fernsehen bevor ich einschlafe, andere lesen ein Buch oder trinken eine heiße Milch. Struktur gibt Sicherheit und Orientierung.‹ Ein Nutzer gibt zu bedenken: ›Alltag hat aber auch etwas Schweres. Wenn man zum Beispiel aus dem Urlaub kommt, kann einen der Alltag leicht überfordern.‹ ›Das haben Sie gut gesagt‹, lobt der Ergotherapeut. ›Ich würde sagen, auch nach einer Krankheit ist es schwer, wieder in den Alltag zu kommen. Dafür ist die Ergotherapie da, um diesen Einstieg wieder zu erleichtern.‹ ›Was können Sie denn von der Station mit nach Hause nehmen?‹, fragt der Herr Lichter. ›Die Tagesstruktur‹, antwortet eine Nutzerin. ›Hier gibt es einen festen Tagesablauf, den kann ich mitnehmen.‹ ›Was können sie aus der Kochgruppe lernen?‹, fragt Herr Lichter nachdem niemand etwas ergänzen zu wollen scheint und beantwortet nach einem Moment der Stille seine eigene Frage mit: ›Dass Mahlzeiten wichtig sind.‹ Unvermittelt setzt eine Patientin an: ›Wenn man keine Arbeit hat, fühlt man sich minderwertig. Man ist nur wertvoll, wenn man Geld verdient und das wieder umsetzt. Sie brauchen einen nur als Käufer,

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nicht als Menschen‹, sagt sie mit fester Stimme doch gesenktem Blick. Ein paar Köpfe nicken stumm, doch die Mehrheit starrt in die Leere, aus dem Fenster oder zu Boden. Herr Lichter nickt und sagt in die Stille hinein: ›Ein ausgewogener Alltag ist wichtig.‹ Die Gruppe reagiert nur noch vereinzelt mit einem kurzen Nicken oder Lächeln. ›Der Sinn des Alltags ist es, mit Menschen in Kontakt zu treten‹, wagt Herr Lichter einen erneuten Versuch, doch ein Großteil der Gruppe scheint mit den Gedanken woanders zu sein, tritt weder nonverbal noch verbal in Kontakt zu ihm oder anderen. Nach einem Moment schließt Herr Lichter die Runde mit einem Hinweis auf die anschließende Ergotherapie mit der Feststellung: ›Alltag ist was ganz Wichtiges.‹« [Feldnotiz 02.04.2013]

Obwohl die Morgenrunde an diesem Tag zäh verlief, ist es erstaunlich, wie viele der in der Literatur als zentral erachteten Aspekte vom Zusammenspiel von »Alltag« und Routinen in der Gruppe zusammengetragen wurden, zugleich aber wie sehr dieser Fokus von dem Ergotherapeuten selbst gelegt wurde. Nach der offenen Fragestellung, was Alltag für die Nutzerinnen bedeute, schränkt der Ergotherapeut das Thema bereits in seinem ersten zusammenfassenden Kommentar ein und bezieht sich auf den Modus der Wiederholung beziehungsweise der Routinen, die beide genannten Alltagshandlungen »Einkaufen« wie »Spazierengehen« bestimme. Auffällig sind hierbei die ungewöhnlichen Fragestellungen in der gruppentherapeutischen Morgenrunde der stationären Psychiatrie. Über die Bedeutung von »Alltag« wird außerhalb der Psychiatrie (und Forschung) nur selten reflektiert, eine Auseinandersetzung hiermit stellt zudem eines der im vorherigen Kapitel aufgestellten Hypothesen auf den Kopf, indem ich den impliziten Charakter des ›unsagbaren Alltags‹ und der meisten Alltagshandlungen herausstellte. Zudem wird »Alltag« von Herrn Lichter als explizite Fähigkeit konzeptualisiert, die (wieder)erlernt werden müsse. Eine Nutzerin wünscht sich einen Teil ihrer vorherigen Routinen zurück, ihr Wunsch verhallt jedoch im Raum. Direkt im Anschluss nennt eine Nutzerin ein vielgenanntes, doch selten mit Inhalt gefülltes Schlagwort, »Tagestruktur«. In den wöchentlichen Behandlungskonferenzen2, in der die Nutzerinnen im Einzelgespräch mit mehreren und im Idealfall allen Berufsgruppen vertretenen Mitarbeiterinnen, teilweise unter Einschluss von Angehörigen, über die Inhalte und Ziele der weiteren Behandlung für die nächste Woche sprechen, fällt das Wort »Tagesstruktur« sehr häufig. In den meisten Fällen wird den Nutzerinnen ein Fehlen dieser attestiert und darauf hingewirkt, dass sie das Einüben von »Tagesstruktur« als Ziel ihrer Zeit auf der Station übernehmen mögen. In der Egotherapie wird das Wort allerdings selten bis gar nicht benutzt und auch sonst scheint

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Zur Analyse der Behandlungskonferenzen vgl. (Klausner 2015, 278 ff.).

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»Tagesstruktur« eine Fähigkeit zu sein, die sich nebenbei und ohne Explizierung im Stationsalltag ergibt. Dennoch wird »Alltag« hier direkt mit einer Strukturierung der Zeit, sich wiederholenden Tätigkeiten und routinierten Handlungsabläufen verknüpft. Regelmäßigkeit im Tagesablauf und den Handlungen, die ihn ausfüllen, gäben dem Ergotherapeuten zufolge »Sicherheit und Orientierung« und verweist hierbei auf die Stärkung von Routinen für »Alltag«. Ein wesentliches Merkmal von »Alltag« ist laut Hörning seine »kontinuierliche Mischung von Routine und Reflexion«. (2001, 162-163) Routinen sind für die Ergotherapie als Voraussetzung für einen gesunden Alltag und werden als Form der Anpassungsleistung an die gesellschaftliche Ordnung verstanden. (Vgl. 103) Eines der Hauptziele der Behandlung ist daher die Anpassung an einen gesunden Rhythmus und die Eröffnung von Möglichkeiten für effektive und zufriedenstellende Wege der Partizipation im Alltag. (Vgl. Kielhofner 2009, 24) Interessant ist, dass sowohl in der im Überblick vorgestellten Literatur als auch in der beschriebenen Sequenz der gleiche Einwand genannt wird: Alltagsroutinen bergen auch Überforderungsmomente. Dies ist besonders dann gegeben, wenn der gewohnte Alltag ›gebrochen‹ wird, also durch eine Erkrankung oder (damit verbundene) Arbeitslosigkeit Routinen entfallen, die vorher Struktur und Sicherheit geschaffen haben. Aufgrund der Struktur, die Routinen bereithalten, wird der Verlust von Routinen oft als schmerzhafte und stressbehaftete Erfahrung wahrgenommen und wird mit Stimmungsschwankungen, niedrigerem Selbstbewusstsein oder Schlafstörungen in Verbindung gesetzt.3 (Vgl. Reich und Williams 2003, 55, Christiansen und Townsend 2010, 12) Bevor von den Nutzerinnen gefordert wird, ihre »Alltagsfähigkeit« in der Ergotherapie wiederzuerlangen, ist es in vielen Fällen zu einem doppelten Bruch dieses Alltags gekommen. Durch die psychische Krise hervorgerufene ungewöhnliche Alltage und gebrochene Routinen, Rhythmen und Strukturen treffen in der Klinik auf einen mindestens genauso von der Norm abweichenden Klinikalltag, indem wiederum ein imaginierter, außerstationärer und gesunder »Alltag« erlernt werden soll. Während in Routinen eingebettete Handlungsabläufe ohne vorherige Reflexion und Entscheidungen durchgeführt werden können, verschwinden nach

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Obwohl Routinen einen zentralen Aspekt für die Ausgestaltung von Alltagen darstellen, wurden sie bis vor wenigen Jahren vor allem unter dem Gesichtspunkt gesundheitsschädigender Verhaltensweisen wie physischen Abhängigkeiten (wie z.B. Alkoholismus oder Drogenkonsum) oder psychischen Süchten (z.B. Computerspiele) untersucht. (Christiansen und Townsend 2010, 10)

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einem derartigen Bruch auch die hiermit einhergehenden Automatismen. Aus ergotherapeutischer Perspektive stellen Gewohnheiten und Routinen 4 einen »tragenden Pfeiler menschlicher Betätigung [im Alltag] dar.« (Scheepers, StedingAlbrecht, und Jehn 2006, 336) Dies scheint bereits ein hinreichend schwieriges Unterfangen zu sein, hinzu kommt allerdings, dass die hiermit verbundene hohe individuelle Reflexionsleistung in einer Gruppentherapie mit bis zu zwölf Nutzerinnen und dementsprechend begrenzter Zeit des Ergotherapeutinnen für jede seiner Behandelten stattfinden soll. In »The Invention of Everyday Life« führt Felski, wie bereits im vorangegangenen Kapitel erörtert, drei Kernaspekte des »Alltäglichen« an, die für die empirische Auseinandersetzung mit Routinen in der Ergotherapie relevant sind: Den Aspekt der zeitlichen Wiederholung, der (fehlenden) Räumlichkeit und (gleichzeitigen) Verknüpfung zum Vertrauten, Heimatlichen oder des ›Zuhauses‹ und der ihm anhaftende Erfahrungsmodus der Gewöhnlichkeit, Habitualisierung beziehungsweise Routine. Routinen wären daher weniger als Handlungen denn als Ausdruck einer Haltung zu verstehen und würden oft halb-automatisiert, abgelenkt oder gar unfreiwillig durchgeführt werden. (Vgl. Felski 2000, 26) Viele Alltagshandlungen – von der Fahrt zur Arbeit bis zum Zähneputzen – werden durch über die Zeit entwickelte Automatismen durchgeführt. (Lally und Gardner 2013, S137). Andere, nur mit einem hohen Maß an Konzentration durchzuführende Tätigkeiten, wie das Verfassen eines wissenschaftlichen Artikels, bestünden nach der nordamerikanischen Betätigungswissenschaftlerin Florence Clark mindestens zu Teilen aus solchen Automatismen: Nach einer eleganten Formulierung suchend denkt die Autorin nicht mehr über das motorische Tippen nach, ihre Sitzhaltung reflektiert sie selten. Ein Großteil von Alltagshandlungen besteht also zumindest aus einer Kombination von reflektierten, willentlichen sowie automatisierten Handlungen (Vgl. Clark 2000, 125S, zur Parallelität in der Ausübung von Routinen vgl. auch Highmore 2004, 311), die so leicht von der Hand zu gehen scheinen, dass sie nicht als Handlungen als solche wahrgenommen werden. Diesen Automatismen wird in der Ergotherapie sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie es die nächste Sequenz illustriert.

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Im Kapitel wird nicht zwischen Gewohnheiten (habits) und Routinen (routines) unterschieden, da dies in der Literatur nicht immer scharf getrennt wird und für die hier beschriebenen und analysierten Handlungsabläufe meines Erachtens auch nicht relevant ist. Während Gewohnheiten kleinteilige Aktivitäten (wie das Trinken des Kaffees aus einer bestimmten Tasse) darstellen, ist mit Routinen der gesamte Handlungsablauf (z.B. des Frühstücks) gemeint.

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»Frau Grün, eine um die siebzigjährige Frau, wurde vor einigen Wochen von ihrem Ehemann in die Klinik gebracht. Frau Grün hatte bis zur ›Wende‹5 in einem der großen landwirtschaftlichen Betriebe in der Region gearbeitet, die in den 1990er Jahren nach und nach geschlossen wurden und weite Teile der Bevölkerung erwerbs- und perspektivlos zurückließen. Seitdem ist sie Hausfrau, seit einiger Zeit, so berichtet es Herr Grün, plagten sie jedoch starke Verlustängste. Diese bezögen sich vor allem auf finanzielle Sorgen und die Angst zu Verarmen, eine laut ihm unbegründete Befürchtung. Sonst würde sie sich immer mehr zurückziehen, den Kontakt zu anderen soweit wie möglich meiden; auch mit ihm spräche sie nur wenig. Auf der Station verbringt sie viel Zeit allein, redet sehr wenig und sitzt oft ganz für sich im großen Aufenthaltsraum und starrt über Stunden ohne die kleinste Bewegung in die Leere. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und der ausbleibenden Besserung ihres Gesundheitszustandes ist die Klinik momentan bemüht, einen Platz im Pflegeheim für Frau Grün zu finden. An der Ergotherapie nimmt sie nur teil, wenn Herr Lichter oder eine andere Mitarbeiterin sie direkt zur Werkstatt oder Therapieküche begleiten und sie sitzt dort solange unbeweglich bis ihr der Ergotherapeut eine Betätigung zugeteilt hat. Für die heutige Backgruppe ist die gemeinsame Herstellung eines Apfelkuchens geplant. Während die Teilnehmerinnen bereits die Zutaten für den Teig in einer großen Schlüssel vermengen und Äpfel schälen, sitzt Frau Grün an einem der Esstische und starrt mal auf die Tischplatte, mal vor sich in die Leere. In unregelmäßigen Abständen sagt sie dazu in empörten bis verzweifelten Tonfall: ›Das ganze Geld ist weg‹, ohne ihre Worte an jemanden der Anwesenden direkt zu richten. Herr Lichter kommt an ihren Tisch und fordert sie dazu auf, ihn an die Kochinsel zu begleiten um Äpfel zu schälen. Sie schaut ihn an und sagt mit unbewegter Miene: ›Ich habe kein Konto mehr!‹ Der Ergotherapeut entgegnet: ›Dann können Sie ja trotzdem Äpfel schälen.‹ Sie antwortet: ›Das ganze Geld ist weg‹ und schaut ihn dabei mit traurig verzerrtem Gesichtsausdruck an. Herr Lichter schaut sie ernst an und sagt: ›Ich kann Ihnen sagen, dass ich glaube, dass es das nicht ist.‹ Sie blickt ihn kurz erstaunt an, richtet ihren Blick dann aber wieder von ihm weg in den Raum. ›Lassen Sie uns Äpfel schälen‹, sagt Herr Lichter erneut und macht einen kleinen Schritt in die Richtung der Kochinsel, der Äpfel und Schälmesser. Doch die Patientin bleibt unbewegt und mit nun leerem Blick sitzen. Der Ergotherapeut nimmt nun selbst ein Brett und ein Schälmesser in die Hand und bringt es zu Frau Grün an den Tisch und legt es direkt vor sie. Ohne den Blick von dem Punkt in der Leere, in die sie zu starren scheint, zu nehmen, greift sie zum Messer und sitzt für einige Momente, das Messer in der rechten, zur Faust geballten Hand, unbewegt da. Erst als ihr Herr Lichter drei Äpfel auf ihr Schneidebrett legt, wendet sie ihren Blick zum Schneidebrett und fängt mit erst abgehackten dann zunehmend fließenden Bewegungen an, die Äpfel zu

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Gemeint ist die deutsch-deutsche Wiedervereinigung 1989.

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schälen und in kleine Stücke zu schneiden. Nachdem die drei Äpfel zerkleinert sind, blickt sie hoch und schaut Herrn Lichter unverwandt an: ›Äpfel!‹« [Feldnotiz 11.10.2012]

Frau Grün sitzt den Großteil des Tages gedankenverloren in einer Ecke des Gemeinschaftsraumes und starrt in die Leere. Sie wirkt dabei so, als wäre sie nicht wirklich anwesend, sucht niemals den Kontakt zu anderen Nutzerinnen und reagiert nur selten auf Ansprache. Doch sobald der Ergotherapeut ein Messer und die Äpfel in ihre Reichweite legt, beginnt sie unvermittelt und mit zunehmend flüssigen Bewegungen Äpfel zu schälen. In diesem Moment scheint es so, als ob ihre Ängste in den Hintergrund getreten sind und sie das Äpfelschälen ablenkt. Frau Grün schält vor allem Äpfel, es scheint kein Platz für Sorgen zu sein, zumindest verbalisiert sie ihre Ängste um ihre finanzielle Situation nicht mehr, starrt nicht mehr in die Leere und ist durch die Betätigung Teil der Kochgruppe. Die routinierten Bewegungsabläufe kann sie hierbei automatisch wieder abrufen, ohne Energie aufwenden zu müssen, darüber nachzudenken. Zugleich scheint ihr die Aktivität gut zu tun. Sie wird in dieser Backgruppe noch mehrfach um Äpfelnachschub bitten und traurig schauen, wenn alle Äpfel geschält und zerkleinert sind. Die ergotherapeutische Intervention konzentriert sich in diesem Fall auf die erzielte Ablenkung und kurzfristige Entlastung durch die Durchführung einer automatisierten Handlung. Die finanziellen Sorgen Frau Grüns werden, abgesehen von einer kurzen Einschätzung des Ergotherapeuten, er glaube nicht, dass es sich um ein reales Problem handle, nicht weiter mit ihr reflektiert. Die Routine des Apfelschälens wird vorrangig zur Ablenkung von Sorgen genutzt, die Struktur und Entlastung geben und Frau Grün handlungsfähiger machen soll. In einem der ersten Feedbackgespräche, die meist in der Mittagspause oder en passant auf der gemeinsamen Wegstrecke des Heimwegs stattfanden, hebt Herr Lichter die Ablenkung der Nutzerinnen von ihren »Gedankenschleifen« durch eine Tätigkeit, die sie »auf andere Gedanken« brächte, als zentral hervor. Für ihn wäre es wichtig, sie aus »ihrem eigenen Kopf heraus« zu bekommen. Die Nutzerinnen sollen – auch im Gegensatz zur restlichen stationären psychiatrischen Behandlung – durch einen möglichst ›normalen‹, das heißt in diesem Fall krankheitsunspezifischen, Umgang aus der »Psychospirale« herausgebracht werden und sich in der Ergotherapie möglichst kontrafaktisch zu ihrer Erkrankung verhalten können. So wäre es für ihn ein möglicher Behandlungserfolg, wenn eine ältere Frau, die seit 20 Jahren nicht mehr gestrickt habe durch die Ergotherapie wieder damit beginnen würde und dies auch nach der Behandlung fortsetze. Der Aspekt der Entlastung von automatisierten Routinen ist hier vorrangig durch die Ablenkung von der ›Psychospirale‹ wirksam.

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In den Betätigungswissenschaften werden vier Vorteile von Gewohnheiten beziehungsweise Routinen hervorgehoben: (1) Sie befähigen die ausführende Person zu besseren Leistungen, da sie sich sehr wenig auf die eigentliche Tätigkeit konzentrieren müssen, was Energien für die konkrete Ausarbeitung lässt. (2) Durch diese Entlastung stellt sich weniger Erschöpfung ein. (3) Es ermöglicht Handelnden, sich auf das Unvorhersehbare zu fokussieren und darauf zu reagieren. (4) Sie ermöglichen es dem Handelnden, Tätigkeiten auszuführen, ohne sich die Fähigkeiten erneut aneignen zu müssen. (Clark 2000, 129S, Gillette 1998) Für Frau Grün ist diese Form der Entlastung hingegen nicht notwendig, da sie in der stationären Psychiatrie deutlich weniger »Alltagsbelastungen« ausgesetzt ist als außerhalb der Institution. Sie braucht keine automatisierten Handlungsabläufe um vom Alltag entlastet zu werden. Das Apfelschälen dient für sie nur der Ablenkung, mehr noch, der Konzentration von ihren Sorgen hin zu der Bewegung. Durch den kontrollierten Rahmen der ergotherapeutischen Kochgruppe ist mit größeren Unvorhersehbarkeiten nicht zu rechnen und das mühelose Schälen ist nur ein Indikator dafür, dass sie die inkorporierten Fähigkeiten weiterhin abrufen kann. Das Ausmaß der Automatisierung von Routinen ist für den Ergotherapeuten ein Indikator für den aktuellen Gesundheitszustand der Nutzerin. In ihrer Patientinnenakte wird er später vermerken, dass ihre »Automatismen abrufbar« sind. Neben der ablenkenden Wirkung, die automatisierte Bewegungsabläufe für die Alltagsbewältigung haben, werden sie also auch als Indikator für die Handlungsfähigkeit der Nutzerinnen verwendet, das heißt je nachdem wie routiniert eine Person sich verhält, wird sie als mehr oder weniger erkrankt wahrgenommen und dementsprechend diagnostiziert. Insbesondere von Frauen wird hierbei von den Ergotherapeutinnen erwartet, Bewegungsabläufe wie das Schälen oder Schneiden von Obst und Gemüse zunehmend in flüssigen, wie von selbst ablaufenden Handgriffen durchzuführen, welches insbesondere bei demenziellen Erkrankungen als wichtiger Indikator für das Ausmaß der Beschwerden gilt. Dies möchte ich anhand der folgenden Sequenz verdeutlichen: »Ich sitze direkt neben Frau Lauber, einer sehr vergesslichen, fahrigen und manchmal verwirrten Patientin. Sie kommt einige Minuten zu spät in die heutige Malgruppe. Ihr Kopf ist feuerrot und in ihren Augen schimmern einige Tränen. Sie setzt sich direkt neben mich und beginnt unwillkürlich zu weinen. Immer wieder berichtet sie von dem Ereignis, welches sie so aufgeregt hat. Sie wendet sich zunächst an die ganze Gruppe, dann an mich, ich schaue wiederum Herrn Ziegler an, der nach ein paar Sekunden zu ihr kommt, sich neben sie setzt und versucht ein beruhigendes Gespräch mit ihr zu führen. Doch auch er kapituliert nach ein paar Minuten. Er erklärt ihr das er sie nicht verstehe in ruhigem Ton, sagt ihr, dass er

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leider nicht wisse, worüber sie gerade spreche. Sie scheint dies wiederum nicht zu verstehen, die Wörter sprudeln aus ihrem Mund. Der Name ihres Ehemannes fällt immer wieder, sonst sind die Sätze stark fragmentiert. Der Ergotherapeut sagt ihr ein paar beruhigende Worte, steht langsam auf und sagt ihr, sie könne die Zeit hier nutzen, wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen und an ihrem Mandala weiter zu zeichnen. Dann richtet er sein Wort an einen anderen Patienten. Sie holt sich das Mandala, sucht erst in der falschen (beschrifteten) Schublade, die richtige Schublade wird ihr von Herrn Ziegler gezeigt. Sie findet ihre Zeichnung und setzt sich mit dieser in der Hand hin. Ich warte kurz, dann sage ich ihr, dass sie ja bestimmt wisse, dass sich die Buntstifte in einer Kiste auf der anderen Seite des Raumes befänden. Sie schaut mich an, steht wieder auf und holt sich so viele Buntstifte, wie in ihre Hand passen. Sie beginnt zu zeichnen, dabei immer wieder schluchzend. Ich schaue auf die Farbkomposition ihres Bildes. Während alle bisherigen Felder symmetrisch und bunt ausgemalt wurden, gelingt ihr dies heute nicht. Sie hat zu Beginn einmal zu einem blauen Stift gegriffen und malt nun nach einem, ihr offensichtlich bekannten Schema die Felder aus, das Papier, nach jedem ausgemalten Feld ein wenig weiter im Kreis drehend. Als es, diesem Schema folgend, zu einer erneuten Farbwahl kommen müsste, stockt sie kurz, schaut auf den Stift, malt dann eine weitere Runde ganz in blau. Erst bei der dritten Runde stockt sie erneut, ich greife ein und frage sie, ob sie vielleicht eine andere Farbe wählen wolle. Ich wähle ein kräftiges Orange und lege ihr den Stift in die Hand. Sie malt bis zum Rest der Stunde aus, und muss von mir mehrmals dazu aufgefordert werden, nun zum Mittagessen zu gehen.« [Feldnotiz 13.01.2015]

Frau Lauber kommt äußerst aufgebracht in die Ergotherapie. Herr Ziegler findet mit Worten keinen Zugang zu ihr, da sie sich aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr immer verständlich machen kann. Sobald sie allerdings mit dem Ausmalen des Mandalas6 beginnt, fängt sie kontinuierlich und mittels einer erlernten Ausmaltechnik (die des Blattwendens um immer aus dem gleichen Winkel ausmalen zu können) an, die immer gleichen Bewegungsabläufe auszuführen. Auch hier wird Ablenkung durch routinierte beziehungsweise automatisierte Bewegungsabläufe therapeutisch eingesetzt. Routinen wird vor allem eine entlastende Wirkung zugeschrieben, denn »Wiederholung organisiert und ökonomisiert psycho-physische Leistungen«. Sie werden »automatisiert, unbewusst oder halbbewusst« durchgeführt, was »im täglichen Leben Sicherheit und Verlässlichkeit schaff[t];

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Mandalas sind Malvorlagen mit geometrischen, fernöstlich inspirierten Mustern, denen eine beruhigende Wirkung nachgesagt wird und die sich während meiner teilnehmenden Beobachtungen sowohl in der Allgemeinpsychiatrie als auch Gerontopsychiatrie größter Beliebtheit erfreuten.

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psycho-physisch entlaste[t] und Energien freisetz[t]; die Aufmerksamkeit für andere Tätigkeiten freig[ibt].« (Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 335) Routinen vereinfachen daher alltägliche Abläufe, bewahren die ›Routinierten‹ vor der Flut an Entscheidungen und stellen Stabilität, Behaglichkeit und Struktur zur Verfügung. (Vgl. Shove 2010, 102 in:Tienoven, Glorieux, und Minnen 2017, 5) Neben der erhofften Ablenkung sagt die Art und Weise, wie Frau Lauber das Mandala ausmalt etwas über ihren aktuellen Gesundheitszustand beziehungsweise ihr »Funktionsniveau« aus.7 Mit dem ausbleibenden Farbwechsel nach einer vollständigen Drehung des Bildes wird deutlich, dass es ihr aufgrund ihrer Erkrankung (momentan) unmöglich ist, flexibel auf die Anforderung der Entscheidung für einen neuen Stift zu reagieren beziehungsweise dem Handlungsmuster des Farbwechsels zu einem bestimmten Zeitpunkt zu folgen. Routinen scheinen nicht so bedingungslose beziehungsweise banale Handlungsabläufe zu sein, wie häufig dargestellt. Die Durchführung von Routinen beinhaltet immer auch ein Maß an Flexibilität und Entscheidungsfähigkeit, die Struktur gibt aber ebenso einfordert. Kann diese Struktur eines Bewegungsablaufes beziehungsweise der Bewegungskombinationen von den Akteurinnen nicht aufrechterhalten werden, fallen auch die Routinen in sich zusammen. Routinen erfordern daher konstante Anstrengung. Wie hierbei Objekte als Therapeutikum eingesetzt werden, werde ich im Kapitel zur Materialität der psychiatrischen Ergotherapie (Vgl. 127 ff.) weiter ausführen. Doch was kann Frau Lauber durch das Mandalamalen für ihren Alltag lernen? Es könnte argumentiert werden, dass die strukturierte Bewegung des Ausmalens sich auch auf andere Alltagshandlungen übertragen ließe und die entlastende Wirkung routinierter Bewegungen unabhängig von der konkreten Tätigkeit eintreten könnte. Frau Laubers Tätigkeit scheint allerdings vorrangig der Ablenkung zu dienen und es ist nicht ersichtlich, welche konkreten »Alltagsfähigkeiten« sie erlernen soll und wie die Tätigkeit des Ausmalens hierbei hilfreich sein soll. Zusammenfassend sind Routinen und Automatismen ein wichtiger Motor für die Strukturierung und Ordnung von Alltagen, die Sicherheit und Geborgenheit

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Diese Sequenz hat an meinem vorletzten Tag der teilnehmenden Beobachtung stattgefunden und war für mich ein Zeichen, diese nun endgültig abschließen zu können, da sich meine Einschätzung zum »Funktionsniveau« der Nutzerin mit dem des Ergotherapeuten deckte, ich also zumindest in Ansätzen durch die ›ergotherapeutische Brille‹ zu schauen gelernt hatte. Obwohl ich also zumindest zeitweise in einer ähnlichen Logik auf die Nutzerinnen schauen konnte, war mein Verhalten genuin »untherapeutisch« in dem Sinn, als dass eine Ergotherapeutin die Nutzerin auf jeden Fall zu einer Reflexion über ihre Ausmaltechnik angeleitet hätte oder aber nicht in dieser Form interveniert hätte.

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vermitteln und werden in der psychiatrischen Ergotherapie auch als Indikator für das aktuelle »Funktionsniveau« verwendet. Die Neustrukturierung von »Alltagen« in einem nur unzureichend auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Patientinnen angepassten gruppentherapeutischen Angebot ist allerdings eine große Herausforderung. Einen wichtigen Aspekt spielen hierbei auch die Faktoren Zeit und Raum der Behandlung, auf die ich im folgenden Abschnitt eingehen möchte.

5.3 ZEIT UND RAUM VON ROUTINEN 5.3.1 Routinen und Raum Laut einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2006, die auf Tagebucheinträgen von Versuchspersonen basiert, werden etwa 45 % von Handlungen im Alltag stets am gleichen Ort ausgeführt. (Neal, Wood, und Quinn 2006, 198) In der betätigungswissenschaftlichen Literatur wird daher darauf verwiesen, dass sich Routinen nicht von individuellen Alltagsorten der Nutzerinnen übertragen oder ›dekontextualisieren‹ ließen. (Yerxa 2002, 105S) Routinen scheinen also bis zu einem gewissen Grad ortsgebunden zu sein. Dies stellt die behandelnden Ergotherapeutinnen vor mindestens zwei Probleme: Sie können die nur in den täglichen inkorporierten Routinen an anderen Orten nur schwer vermitteln und wissen zudem nur sehr wenig über die Alltage der Nutzerinnen, können sich also nur schwer auf ihre individuellen Bedürfnisse einstellen. (Vgl. Yerxa 2002, 106S) Dies wird durch die gruppentherapeutische Behandlung in den beforschten Kliniken noch verschärft, eine Ausrichtung des Angebots auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzerinnen ist bei einer Gruppengröße von mindestens fünf, zumeist jedoch zwischen acht und zwölf Nutzerinnen schlicht nicht zu leisten. Außerdem wirkt der jeweilige Handlungsort als wichtiger Trigger für die Ausübung einer Routine. Raum und Routine können so laut dem Forscherinnenteam rund um die britische Neuropsychiaterin Karen Ersche zu einer Art Einheit verschmelzen. (Vgl. Ersche et al. 2017, 73, bei Kindern: McNamara und Humphry 2008, 151) Durch diese Verschmelzung ist es schwer, einmal inkorporierte Routinen zu verändern, abzulegen oder neue zu integrieren, da die alten Routinen in den jeweiligen Situationen oder zum jeweiligen Zeitpunkt erneut ›getriggert‹ werden. Außerdem erscheint es nahezu unmöglich, neue Routinen am anderen Ort einzuüben, da sie nicht mit dem notwendigen Trigger verbunden werden können. Gescheiterte Versuche der Änderung von Routinen sind deshalb nicht unbedingt

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ein Zeichen von fehlender Willenskraft oder unzureichendem Wissen über die (gesundheitliche) Verbesserung, die die neue Routine darstellen würde, sondern vorrangig Ausdruck der Stärke der Einbettung der vorherigen Routine in den Alltag. Routinen bringen uns dazu, das zu tun, was wir schon immer getan haben, zuweilen entgegen unserer Intention. (Vgl. Neal, Wood, und Quinn 2006, 201202) Zugleich muss es möglich sein, Routinen zu verändern, wäre doch keinerlei Innovation ohne deren Transformation möglich. Improvisation und Kreativität sind also genauso in Routinen eingeschrieben (Glaveanu 2012, 1) wie ihre Dauerhaftigkeit und ihre Widerspenstigkeit gegen Veränderungen. Erst eine erfahrene Handwerkerin, die ihre Koordination perfektioniert hat, wird in der Lage sein, neue kreative Lösungsansätze in ihrer Beschäftigung zu finden. (Sennett 2008, 176 in: Glaveanu 2012, 5) Routinen müssen dabei flexibel genug gehalten werden, um auf abrupte – graduelle wie dramatische – Veränderungen reagieren zu können. (Löfgren 2015, 325, Highmore 2011, Pink 2012) Diese Routinentransformation in extremen Alltagen, wie denen von Menschen in akuten psychiatrischen Krisen, ist allerdings nicht nur graduell, sondern stellt den Versuch einer mitunter radikalen Verschiebung von krankheitsbedingt verschwundenen oder krankmachenden Routinen in Richtung neuer, gesunder Routinen dar. Langzeitstudien zu den Routinenveränderungen ehemaliger Nutzerinnen psychiatrischer Einrichtungen gibt es bisher für den deutschsprachigen Raum nicht, weshalb keine Aussagen dazu getroffen können, ob ergotherapeutische Interventionen die Routinen der Nutzerinnen langfristig (positiv) beeinflussen können. 5.3.2 Routinen und Zeitlichkeit Neben der grundsätzlichen Schwierigkeit, Routinen von Ort zu Ort zu ›transportieren‹, sind unterschiedliche Zeiten ein weiterer wichtiger Aspekt. Routinen bilden eine Struktur, innerhalb dessen sich Alltage rhythmisieren, und können daher als Strategien zur Bewältigung von temporalen wie sozialen Anforderungen gelesen werden. (Vgl. Tienoven, Glorieux, und Minnen 2017, 14) Temporalität stellt einen wichtigen Mechanismus zur Stabilisierung von Routinen dar, kurz gefasst lässt sich die Beziehung zwischen beiden als interrelational beschreiben; das heißt Temporalitäten prägen Routinen, Routinen prägen Temporalitäten. (Southerton 2013, 345) Routinen lassen außerdem Voraussagen darüber zu, was eine Person als nächstes tun wird, und in welcher Reihenfolge dies geschehen wird. Sie werden so zu einer Art Mechanismus eines geordneten Lebens (Clark 2000, 128S)

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und rhythmisieren und verorten »Alltag«, wie ich es in der folgenden Sequenz darlege: »In der heutigen Malgruppe sitzen bereits einige Patientinnen um den großen Werktisch herum und sind mit dem Ausmalen der vor Ihnen liegenden Mandalas vertieft, während Frau Friese neben dem Tisch steht. Sie verlegt ihr Körpergewicht unruhig von einem Bein aufs andere und beginnt in hastigen Schritten von einer Seite des Raums zur anderen zu laufen. Frau Friese ist heute zum ersten Mal in der Ergotherapie und wirkt äußerst aufgeregt, ihr Blick schwenkt nervös im Raum umher, direkten Blickkontakt vermeidet sie jedoch. Herr Lichter, der sie heute auch zum ersten Mal sieht8, fragt sie, was sie tun wolle, doch sie schüttelt nur mit dem Kopf und schaut verängstigt zu Boden. Dann bietet er ihr an zu malen, zu stricken, Perlenketten herzustellen oder ein Kratzbild zu bearbeiten, doch Frau Friese entgegnet mit klagender Stimme: ›Das kann ich nicht, ich kann nicht sitzen.‹ ›Dann können Sie die Blumen gießen‹, schlägt Herr Lichter vor und schaut auf die Fensterbank, auf der einige Topfpflanzen nebst einer Gießkanne stehen. Sie nickt kurz und läuft zur Gießkanne, greift sie sich und füllt daraufhin Wasser im Waschbecken ein. Danach geht sie zurück zur Fensterbank und beginnt sie vorsichtig zu gießen, sagt dabei aber: ›Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Ich habe die Pflanzen bestimmt nicht richtig gegossen, vielleicht zu viel oder zu wenig Wasser genommen.‹ ›Wenn es ein bisschen zu viel oder zu wenig Wasser war ist das nicht schlimm, die Pflanzen sind das gewohnt, ich gieße sie auch nicht sehr regelmäßig‹ erwidert Herr Lichter. Frau Friese nickt wieder kurz, bleibt aber weiterhin, nun unbeweglich stehen als würde sie auf etwas warten. Nach etwa einer Minute sagt sie in den Raum: ›Ich kann nicht mehr, ich bin zu aufgeregt‹, und verlässt ihn in Richtung Station. Herr Lichter geht ihr hinterher, bleibt aber am Türrahmen stehen und schaut ihr hinterher bis sich die, an diesem Tag (wie den meisten anderen Tagen), geschlossene Stationstür hinter ihr schließt. In den kommenden Wochen wird Frau Friese nie länger als einige Minuten in der Ergotherapie sein, sich jedoch mit Hingabe um die Pflanzen kümmern, sie nach und nach nicht nur wässern sondern auch düngen, stutzen und teilweise sogar umtopfen, so dass diese nach ihrer Entlassung so gut wie nie zuvor aussehen werden. Obwohl sie sonst jeglichen Kontakt

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Weder Herr Lichter noch ich wissen etwas über die Gründe, die Frau Friese auf die Station geführt haben. In den meisten Fällen kennen die Ergotherapeutinnen die Diagnosen und Vorgeschichten neuer Nutzerinnen nicht, wenn sie zum ersten Mal teilnehmen. Sie spielen also für die Herausarbeitung der therapeutischen Zielvorgaben keine Rolle, weshalb ich mich entschieden habe, sie, auch wenn sie mir bekannt sind, nicht zu nennen, sondern nur behandelte Symptome zu nennen, da die Diagnosen für die »Alltagsbefähigungspraktiken« der Ergotherapie schlicht nicht (sehr) relevant zu sein scheinen.

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zu anderen Patientinnen und Mitarbeiterinnen meidet, gelingt es zunächst Herrn Lichter, später auch einer anderen Patientin, sie in Gespräche über die Blumen zu verwickeln, in denen sie sich als Expertin herausstellt.« [Feldnotiz 09.03.2012]

Frau Friese ist am beschriebenen Tag zum ersten Mal in der Ergotherapie und so nervös, dass sie sich nicht vorstellen kann, irgendeine Bastel- oder Werkarbeit aufzunehmen. Als sie der Ergotherapeut jedoch mit dem Blumengießen betreut, tastet sie sich durch dadurch an eine simple und schnelle Alltagsroutine heran, die sie trotz ihrer Unfähigkeit, sich länger unter Menschen aufzuhalten, an der Ergotherapie teilhaben und Verantwortung übernehmen lässt. Ihre Ängstlichkeit, dabei etwas falsch zu machen, wird von Herrn Lichter abgelenkt. Die Ergotherapie bietet auch in anderen Bereichen Freiraum für ›Fehler‹. Es ließe sich also argumentieren, dass es Frau Friese gelingt, durch das regelmäßige Blumengießen und die Pflege der Pflanzen zu einer Routine zu finden, die sie in diesem Kontext in die Umgebung anderer Menschen bringt und sogar zu sonst von ihr gemiedenen Gesprächen verwickeln lässt. Die Pflanzenpflege bildet so eine zeitlich wie räumlich feststehende Struktur für Frau Friese, bei der sie sich auf ihre Stärken als Expertin besinnen kann und positives Feedback dafür erhält. Doch diese Struktur lässt sich nicht auf ihren privaten Haushalt übertragen. Sie wird zuhause nicht durch das Blumengießen in Kontakt zu anderen kommen und das positive Feedback wird ausbleiben. Aus der Perspektive der Nutzerinnen wird, einer Studie der US-amerikanischen Medizinanthropologin Kathy Charmaz zufolge, die ergotherapeutische Behandlung oft als losgelöst von ihrem außerklinischen Alltag wahrgenommen. Ebenso wie die akute Krise, die sie in die Klinik führte, sind die Zeit im Krankenhaus und die dort stattfindenden Therapien kein Teil ihres Alltags. Die »Klinikzeit« wird vielmehr als eine Übergangszeit oder Wartezeit gedeutet, als Zeit außerhalb des ›echten‹ Lebens. (Vgl. Charmaz 2002, 39S) So scheitern die neuen Routinen, selbst wenn sie in der kurzen Zeit des Klinikaufenthalts etabliert werden konnten, nicht erst beim Transfer von der Klinik in den Privathaushalt, dieser Versuch wird erst gar nicht unternommen, da die Nutzerinnen keinen Bezug zur Ergotherapie und ihrem Alltag ziehen. Dennoch gibt es eine Form der doppelten Zeitlichkeit in der Ergotherapie. Alles was in der Ergotherapie geschieht, ist auf den zukünftigen außerstationären Alltag gerichtet. Alles passiert als Simulation für eine gesunde Zukunft zuhause. Von den Nutzerinnen wird erwartet, die in der Klinik eingeübten Routinen nach ihrem Aufenthalt eigenständig in ihre Alltage zu integrieren, was nicht nur aufgrund der unterschiedlichen zeitlich-räumlichen Arrangements, sondern auch dem grundsätzlichen Verständnis vieler Nutzerinnen der Ergotherapie als von ihrem

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Alltag separierte »Klinikzeit« problematisch ist. Dies wirft die Frage auf, ob eine Übertragung von im Rahmen der stationären Behandlung Gelerntem in die persönlichen Privatzeiten der Nutzerinnen überhaupt möglich ist. Hinzu kommt, dass Routinen per se, einmal etabliert, sehr stabil und daher nur schwer wieder zu verändern oder gar komplett zu brechen sind. (Ersche et al. 2017, 73) Eine niederländische Studie kommt bezüglich der Übertragbarkeit von Klinik zu Privatleben zu ähnlichen Ergebnissen: Die Gesundheitswissenschaftlerin Rita Struhkamp konzeptualisiert in ihrer Forschung zur Zielsetzung und dem Anstreben von Behandlungszeilen in der physiologischen Rehabilitation von Patientinnen mit Rückenmarksverletzungen beziehungsweise Multipler Sklerose »Ziele« als strukturierendes Kernkonzept in der Gesundheitsarbeit. (Struhkamp 2004, 131) Die beforschten Zielsetzungsvereinbarungen werden laut der Autorin von drei Spannungen begleitet, die sich interessanterweise nahezu nahtlos auf die ergotherapeutischen Behandlungsvereinbarungen in der Psychiatrie übertragen lassen und sehr ähnliche Problematiken in den Vordergrund rücken. So wären die Ziele der physiologischen Rehabilitation auf in der (außerstationären) Zukunft gerichtet, was zu Interessenkonflikten zwischen Handlungen in und für die Gegenwart sowie auf die Zukunft ausgerichtete Tätigkeiten führen kann. Neben der fehlenden zeitlichen Synchronisierung werden Tätigkeiten in anderen räumlichen wie sozialen Kontexten angezielt als denen des Behandlungszentrums. Außerdem sind laut den Autorinnen die Ziele zwischen Patientinnen und Behandelnden nicht immer deckungsgleich, weshalb die aktive Teilnahme der Patientinnen nicht immer gegeben ist. (Struhkamp 2004, 131) Neben der notwendigen Translation von Routinen von einem zeitlich-räumlichen Kontext in einen anderen braucht die Transformation von Routinen Zeit. Eine britische Studie aus dem Fachbereich public health beziehungsweise Epidemiologie aus dem Jahr 2010 basiert auf einer Untersuchung der Versuche von rund 100 Studienteilnehmerinnen, eine neue Routine in ihren Alltag zu integrieren. Sie gab den benötigten Zeitraum für die Integration einer neuen Routine bis zur Automatisierung mit durchschnittlich 66 Tagen an (mit einer berichteten Bandbreite von 18 bis 254 Tagen). (Lally und Gardner 2013, S141, Lally et al. 2010) Selbst wenn man also von der Problematik des Transfers einer neuen Routine in den außerstationären Alltag absehen würde, fehlte bei einer durchschnittlichen Verweildauer in der stationären Psychiatrie von 22,7 Tagen (Wissenschaftlicher Dienst der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie 2017) schlicht die Zeit, für die Entwicklung von Routinen und deren dauerhafte Einbindung in die Alltage der Betroffenen.

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5.4 BEGRENZTE ROUTINEN 5.4.1 Unsagbare Routinen »Während des Morgenspaziergangs läuft Herr Winter für sich allein in gehörigem Abstand zur Gruppe voran beziehungsweise dieser hinterher. Er ist seit einigen Wochen auf der Station und leidet unter starker Vergesslichkeit und zeitweiliger Orientierungslosigkeit. Als besonders belastend wird von seiner Lebensgefährtin allerdings seine, erst mit der Erkrankung auftauchende, verbale wie physische Gewalttätigkeit erlebt. Auf der Station fällt er jedoch nur als besonders streitlustig auf, handgreiflich ist er bisher nicht geworden. Herr Winter ist gern anderer Meinung. Versucht man ihn in ein Gespräch zu verwickeln, wird dies meist mit einem Pöbelschwall kommentiert. Als ich während des Spaziergangs ein Auto als ›schön‹ bezeichne, welches er zuvor als wir daran vorbeiliefen mit glänzenden Augen ansah, findet er es schrecklich und hebt eine andere, ›bessere‹ Automarke hervor. Als eine Patientin über das grau-nasse Wetter schimpft, findet er es wunderbar. Wir laufen in Richtung des Hauptgebäudes, als der Ergotherapeut Herr Ziegler durch ein paar schnellere Schritte auf der gleichen Höhe wie Herr Winter läuft. Dieser lässt es geschehen und sie laufen zunächst schweigend nebeneinander. Unvermittelt fragt Herr Winter: ›Auf welcher Verrücktheitsskala bin ich gerade?‹ Herr Ziegler schaut ihn an, hebt die Arme und deutet einen gewissen Abstand an, verkleinert und vergrößert ihn mehrmals und sagt: ›Ich weiß nicht, auf welcher Skala Sie das sehen, vielleicht eine Fünf?‹ ›Eine Fünf?!‹, gibt Herr Winter in gespielt empörten Ton zurück, doch kein Lachen oder eine Erklärung folgt, die Frage steht also weiterhin im Raum. Herr Ziegler erwidert: ›Dann vielleicht eine Vier?‹ ›Eine Vier ist ok‹, sagt Herr Winter, im nun wieder ruhigen Ton. ›Und wie lange dauert es noch, bis ich auf Null bin?‹, fragt er. Herr Ziegler zeigt auf einen vorbeifahrenden Krankentransport und sagt ihm: ›Schauen Sie mal da.‹ Herr Winter schaut in Richtung des Fingerzeigs, die Frage scheint vergessen. […] Wieder auf der Station angekommen zerstreuen sich die Nutzerinnen auf ihre Zimmer. Wir gehen zurück in den Ergotherapieraum und ziehen unsere Mäntel aus. In diesem Moment kommt Herr Winter durch die Tür. ›Herr Ziegler, auf welcher Verrücktheitsskala bin ich gerade?‹, fragt er den Ergotherapeuten, der gerade an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. Dieser entgegnet: ›Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Fragen Sie doch mal Ihren Psychiater.‹ Herr Winter nickt nun knapp, dreht sich um und schließt die Tür hinter sich. Einige Sekunden später geht Herr Ziegler zur Tür und schließt sie von innen ab.« [Feldnotiz 19.12.2014]

In dieser Sequenz geht es nicht vorrangig um Routinen. Dennoch lese ich Herrn Winters Frage nach einer Klassifikation innerhalb der ›Verrücktheitsskala‹ als einen Wunsch nach Strukturierung und (Ein-)Ordnung seiner eigenen Erfahrungen.

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Er scheint seine Erkrankung als massiven Autonomieverlust wahrzunehmen, den er sich durch ein gesteigertes Bedürfnis, anderer Meinung zu sein, ein Stück weit zurück erkämpft. Auch die Einordnung seiner Erkrankung in eine Skala ist ein Versuch, diese fassbarer zu machen und damit mehr als zuvor zu ›beherrschen‹. Dass er zunächst den Ergotherapeuten um eine Einschätzung bittet, ihn dann aber korrigiert, scheint diese Deutung zu bestätigen. Zudem möchte er seine Erfahrung mit der Frage wann er wieder ›auf Null‹ wäre in einen zeitlichen Rahmen fassen. Obwohl Herr Winter leicht abzulenken ist und der Verweis auf ein vorbeifahrendes Transportfahrzeug ihn zunächst von seinen Gedanken abbringt, scheint ihn die Frage nach der Struktur seiner Erkrankung genug zu verfolgen um zu einem späteren Zeitpunkt erneut auf den Ergotherapeuten zuzugehen. Die Ablenkung Herr Winters verfolgt einen konträren Zweck als die Ablenkung Frau Grüns. Während sie durch Apfelschälen für den Zeitraum der Ergotherapie von ihren quälenden Sorgen abgelenkt werden soll, beendet Herr Ziegler das Gespräch mit Herrn Winter durch die Ablenkung auf einen Krankenwagen und scheint dem Wunsch des Nutzers nach einer Einordnung seiner Erfahrung nur wenig Bedeutung beziehungsweise therapeutischen Mehrwert beizumessen. Während sich Herr Winters Bitte nach der Einordnung seiner verunsichernden Erkrankung in eine Verrücktheitsskala also als ausdrücklichen Wunsch nach mehr Struktur lesen lässt, gibt es auch Krankheitsbilder, die sich durch ein deutlich übersteigertes Maß an Struktur und Routinen auszeichnen. Wie also reagiert die Ergotherapie darauf, wenn die Grenzen der aus ihrer Sicht Routinen überschritten werden? 5.4.2 Grenzen der Routinen 9 »Herr Mommsen und Herr Schubert haben sich in der einleitenden Besprechung darüber, was die einzelnen Patienten während der eineinhalbstündigen Therapieeinheit tun wollen, auf ein gemeinsames Kartenspiel geeinigt. Herr Schubert ist Anfang Zwanzig, stets sehr freundlich und höflich und neben dem Oberarzt die einzige Person auf der Station, die immer ein gebügeltes Hemd trägt. Herr Schubert fällt außerdem durch seine sehr gerade Haltung und meist peinlich genau parallel zueinanderstehenden Arme und Beine auf. Gegenstände, die er benutzt, liegen auch im genauen rechten Winkel vor ihm auf dem Tisch. Er greift nach dem noch originalverpackten Kartenspiel, entfernt vorsichtig die Folie und legt

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Die Sequenz und Teile der Analyse sind Teil eines bereits veröffentlichten Beitrags zur Ethnografie für ein wissenschaftliches Methodenhandbuch für nicht-ärztliche Gesundheitsfachberufe. (Mewes 2016)

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diese ordentlich zusammen, bevor er sie in den Mülleimer bringt. Dann zieht er die Spielanleitung aus der Packung. In den nächsten Minuten beschäftigt er sich sehr eingehend mit der Anleitung. Ich wundere mich darüber, da ich bisher davon ausgegangen bin, dass das Kartenspiel so weit verbreitet sei, dass der Spielablauf allgemein bekannt sei. Sein Blick ist dabei starr und sehr angestrengt und ohne erkennbare Lesebewegungen der Augen auf die Gebrauchsanweisung gerichtet. Der Ergotherapeut, Herr Lichter, geht währenddessen im Raum herum und spricht mit anderen Nutzerinnen über ihre jeweiligen Tätigkeiten. Dann bemerkt er Herrn Schuberts Erstarrung und fragt ihn über den großen gemeinsamen Arbeitstisch hinweg: ›Was macht die Anleitung gerade mit Ihnen?‹ Herr Schubert schaut auf und entgegnet: ›Sie lenkt mich vom Spiel ab.‹ Er klingt dabei, als würde er den Satz mit einem Fragezeichen beenden. Herr Lichter nickt, woraufhin der junge Mann die Anleitung beiseitelegt, ordentlich faltet und in der Packung verstaut und in nun entschiedenem Ton sagt: ›Die Regeldetails werden im Anschluss besprochen‹ während er die Karten mischt und verteilt. […] [Die beiden spielen bis zur Abschlussrunde, zeitweise gemeinsam mit dem Ergotherapeuten.] Nacheinander berichten alle Nutzerinnen von ihren Tätigkeiten innerhalb der Ergotherapie, wie sie sich dabei fühlten und was sie glauben, damit erreicht zu haben. Herr Schubert merkt an, dass er immer alles richtig machen wolle, alle Regeln befolgen wolle. Dies habe auch etwas Zwanghaftes, fügt er hinzu und schaut in die Richtung des Ergotherapeuten und erneut klingt es eher so, als habe er eine Frage gestellt und keine Aussage gemacht. Dieser schaut ihn lächelnd an und nickt erneut.« [Feldnotiz 10.10.2012]

Die Sequenz verdeutlicht, wie alltägliche Freizeitbeschäftigungen durch die Einführungs- und Abschlussrunde und kontinuierliche verbale und nonverbale Interventionen und Aufforderung zur Selbstreflexion eine ergotherapeutische Rahmung erhalten, so wie in diesem Beispiel das Kartenspiel vom Hobby zum Aushandlungsort über die Bedeutung von Alltagsfähigkeit und Routinen transformiert wird. Bereits durch die Vorbesprechung wird eine Anzahl von Menschen in einem Raum in eine Therapiegruppe verwandelt. Das Kartenspiel hat nun die Rolle des Wegbegleiters in Richtung des individuellen therapeutischen Ziels der Nutzerinnen. Sobald Herr Lichter die Vertiefung des Nutzers in die Anleitung als zu intensiv wahrzunehmen scheint, greift er mittels einer Frage ein. Anstatt jedoch zu fragen, wie es ihm in diesem Moment gehe oder Unterstützung beim Regelverständnis anzubieten, legt die ungewöhnliche Formulierung, »was die Anleitung mit ihm mache« (und nicht er mit der Anleitung), eine schädliche Macht der Spielanleitung über Herrn Schubert und einen Überfluss an Ordnung nahe. Zugleich verdeutlicht sie eine Definition von Alltagsfähigkeit als spezifischen Umgang mit Objekten:

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Von gesunden Akteurinnen wird erwartet, etwas mit Dingen zu machen, nicht andersherum. Herr Schubert reagiert, indem er mit einer Suggestivfrage die Deutungshoheit über die Situation an den Ergotherapeuten übergibt. Überspitzt formuliert ersetzt Herr Lichter das Regelwerk des Kartenspiels, auf das Herr Schubert so fixiert ist, mit seiner Führung. Das Nicken des Ergotherapeuten verstärkt diese Deutungsmöglichkeit. Auch sein anschließender Befund, es sei besser, die Spielregeln während des Spielens zu verhandeln, wird von Herrn Lichter im wahrsten Sinne des Wortes ›abgenickt‹. Als der Nutzer dem Therapeuten während der Abschlussrunde eine Sicht auf die Situation als von etwas Zwanghaftem beeinflusst anbietet, wird er (für seine »Krankheitseinsicht«?) mit einem Nicken und Lächeln belohnt. Die Selbstreflexion über seinen Umgang mit Routinen wird in diesem Beispiel von Herrn Lichter als Kompetenz der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Vorbereitungs- und Handlungszeit und dem »gesunden« Umgang mit Dingen und Routinen gedeutet. Die Neugestaltung von Routinen in der psychiatrischen Ergotherapie stellt zusammenfassend einen nur schwer zu realisierenden Balanceakt dar. Während sich einige Erkrankungsbilder durch ein Verschwimmen jeglicher Strukturen auszeichnen und einige Nutzerinnen dem durch das Einfordern von Klassifikationen wie die der ›Verrücktheitsskala‹ zu entgegnen versuchen, zeigen andere Krankheiten sich in Symptomen, die die Nutzerinnen durch das Einhalten von zu vielen Strukturen handlungsunfähig im Alltag macht.

5.5 ROUTINEN – ZWISCHENERGEBNISSE UND ZUSAMMENFASSUNG Zusammenfassend lassen sich die Routinisierung in der psychiatrischen Ergotherapie als Versuch lesen, in einer ungewöhnlichen, den privaten Alltagen oft sehr unähnlichen Umgebung, wie der durch starke zeitliche wie räumliche Restriktionen geprägten stationären Psychiatrie, durch Simulation auf einen außerklinischen, autonome(re)n und gesünderen »Alltag« hinzuarbeiten. Routinen werden hierbei vorrangig als »Alltag« strukturierend und ordnend konzeptualisiert, deren meist automatisierte Durchführung entlasten und Sicherheit vermitteln soll. Doch Routinen sind nicht voraussetzungslos, sondern fordern eine angemessene räumliche und zeitliche Einbettung sowie die Fähigkeit ein, innerhalb der vorgegebenen Struktur flexibel auf Unvorhergesehenes zu reagieren und so autonom wie möglich Entscheidungen treffen zu können. Der Erhalt oder Wiederaufbau von Routinen als die Autonomie der Nutzerinnen stärkender ergo-

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therapeutischer Behandlungsfokus steht im krassen Gegensatz zu den starken zeitlichen wie räumlichen Restriktionen einer psychiatrischen Klinik sowie den konkreten therapeutischen Interventionen, was die Frage aufwirft, ob sich in einem derart restriktiven Ort ein ›autonomer Alltag‹ überhaupt erlernen lässt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Umgestaltung von Routinen zur Vergrößerung von Autonomie im Alltag erstrebenswert ist. Die zeitlich-räumliche Strukturierung und routinemäßige Ausübung bestimmter Handlungsabläufe sind individuellen Bedürfnissen angepasst und zugleich Ausdruck von Persönlichkeit, das heißt ihre Umgestaltung stellt einen erheblichen Eingriff in die Selbstwahrnehmung der Nutzerinnen dar. Gerade da bisher nur weniges zu den Langzeitverläufen von Routinen und dem Erfolg der Ergotherapie in der nachhaltigen Routinenveränderung bekannt ist, liegt die Frage nahe, ob und wie dieser starke Eingriff überhaupt und gerade im ›Namen‹ der Autonomie zu rechtfertigen ist. Neben dem durch zeitlich-räumliche Restriktionen sowie ethischen Bedenken zumindest zweifelhaftem Erfolg von Routinenveränderungen, klang im auf Routinen bezogenen Abschnitt des theoretischen Kapitels bereits die Fülle von Tätigkeiten an, die sich als Routinen bezeichnen lassen. Von der richtigen Reihenfolge, die Schuhe anzuziehen, bis zur geraden Sitzhaltung ist eine Ergotherapie, die alle diese Tätigkeiten versucht gleichmäßig in die Therapie einfließen zu lassen, nicht denkbar. Doch über die Auswahl der vermittelten Routinen lernen wir in der Praxis nur wenig, es bleibt unklar, warum manche Tätigkeiten von den behandelnden Ergotherapeutinnen als alltags- oder routinenäher wahrgenommen zu werden scheinen und angeboten werden und andere nicht. Obwohl die Einübung von Routinen beziehungsweise deren (Re-)Aktivierung eine zentrale Zielvorgabe der psychiatrischen Ergotherapie darstellt, scheinen die mit Routinen assoziierten Handlungen in der Therapie selbst vorrangig der unmittelbaren Ablenkung (und allenfalls hierdurch entstehenden kurzfristigen psychischen Entlastung) zu dienen und weniger auf die zukünftigen ›Alltage‹ außerhalb der Klinik gerichtet zu sein. Dieser Verweis auf den außerstationären »Alltag« lässt die hiermit verbundene Konzeption zu dem einer Imaginationsfläche oder Wunsch werden, »Alltag« so wie er erlernt werden soll, ist in dieser Lesart in der Klinik nie, sondern wird stets beziehungsweise soll erst werden. Insbesondere für zeitlich wie räumlich gebundene (Alltags-)Routinen ist diese stete Futur problematisch; zukünftige Routinen lassen sich schlicht nicht im extremen beziehungsweise ungewöhnlichen Alltag der Klinik erlernen und ohne Transferleistung auf den außerstationären Alltag übertragen. Die starke Verknüpfung von Routinen mit dem Gefühl der Vertrautheit oder Geborgenheit ist zudem eng mit dem Zuhause der Nutzerinnen verbunden. Inwieweit Routinen unabhängig von ihrem ›Heimatort‹ daher diese Gefühle auslösen können, ist fraglich.

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Zudem lassen sich grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit der dauerhaften Aufnahme oder Änderung von Routinen im Rahmen der stationären psychiatrischen Versorgung anbringen: Routinen sind per se, einmal etabliert, sehr stabil und daher nur schwer wieder zu verändern oder gar komplett zu brechen. Für eine nachhaltige Etablierung einer Routine fehlt es schlicht an Zeit, dauert diese laut einer britischen Studie rund 66 Tage, der durchschnittliche Klinikaufenthalt in der deutschen Psychiatrie hingegen nur rund 23. (Lally und Gardner 2013, S141, Lally et al. 2010, Wissenschaftlicher Dienst der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie 2017) Die stationäre psychiatrische Ergotherapie vermag daher meines Erachtens nach nur Impulse setzen, die zum Wohl der Nutzerinnen in einer ambulanten Weiterbehandlung ausgebaut werden sollten. Von einer systematischen ambulanten Nachbetreuung kann aber insbesondere außerhalb der Großstädte nach wie vor nicht die Rede sein. Dies kann unter Umständen dafür verantwortlich sein, dass der Transfer von der Klinik in den Privathaushalt von den Behandlerinnen nur selten thematisiert und von den Nutzerinnen gar nicht erst als Zielvorgabe der Ergotherapie definiert wird. Nutzerinnen nehmen ihren Klinikaufenthalt als von ihrem privaten Alltag separierte ›Klinikzeit‹ wahr, das heißt der Versuch eines Routinentransfers wird nach dem Klinikaufenthalt meist gar nicht angestrebt.

6. Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung«

»Während des Morgenspaziergangs führt der Ergotherapeut Herr Ziegler eine Nutzerin namens Frau Martinus am Arm, die an diesem Tag sehr schwach auf den Beinen ist. Es ist bereits Dezember, doch ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, so dass der begrünte Innenhof der Klinik in die unterschiedlichsten Rot- und Brauntöne getaucht ist. Herr Ziegler spricht mit ihr über den Jahreswechsel und zeigt dabei in regelmäßigen Abständen auf unterschiedliche Pflanzen auf dem Krankengelände. Als sie am letzten noch vielblättrigen Baum vorbeikommen fragt er sie, um welchen Baum es sich hierbei handle. Als sie sagt, dass sie es nicht wisse, erklärt er ihr, dass es ein Ginkgobaum sei. Goethe hätte über den Ginkgo mal geschrieben und einen Baum im Botanischen Garten von Jena gepflanzt, der dort immer noch stehe. Die Blätter hätten eine besondere Form sagt er, hebt dabei das Blatt auf und legt es ihr in die Hand. Frau Martinus streicht über das Blatt in ihrer Hand, umschließt es sacht und behält es während des restlichen Spaziergangs in ihrer Hand.« (Feldnotiz Version 1 12/2014) »An diesem ungewöhnlich milden Dezembertag steht der Ginkgobaum mit seinen vielen, noch in mildes Gelb getauchten Blättern im Innenhof der Klinik. Die anderen Bäume, Sträucher und Büsche sind zu Teilen bereits kahl oder in die unterschiedlichsten Rot- und Brauntöne getaucht. Die ungewöhnliche Form der Blätter erinnert an ein Miniaturformat eines Palmwedels, ein kurzer Stiel, der in einen breiten, zweigliedrigen Fächer übergeht. Als die Gruppe des Morgenspaziergangs an dem Weg vorbeikommt, zieht eines der Ginkgoblätter die Aufmerksamkeit des Ergotherapeuten auf sich. Das Blatt veranlasst ihm zu einem Gespräch mit einer Nutzerin, die er während des Spaziergangs am Arm führt, und er hebt es auf und legt es ihr, über einen berühmten Ginkgobaum im Botanischen Garten Jenas sprechend, in die Hand. Das Blatt passt genau in die Handfläche der Nutzerin und sie streicht mit einem Finger darüber, wobei sie kurz den Arm des Ergotherapeuten los lässt, und umschließt es danach sacht mit ihrer Hand bevor sie den Spaziergang fortführen.« (Feldnotiz Version 2 12/2014)

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6.1 GINKGO ALS THERAPEUTIKUM – OBJ EKTE UND IHRE FÄHIGKEITEN 1 Die zwei Versionen einer im Dezember 2014 entstandenen Feldnotiz beschreiben die gleiche Situation aus unterschiedlichen Perspektiven heraus. Je nachdem, welche der ›Akteurinnen‹ in den Fokus der Feldnotiz gerückt wird, eröffnet dies unterschiedliche theoretische wie analytische Zugänge. In der ersten Feldnotiz liegt der Schwerpunkt auf der sozialen Interaktion zwischen dem Ergotherapeuten und der Nutzerin Frau Martinus sowie auf der Erzählung über den ›Goethe-Ginkgo‹. Das Ginkgoblatt wird innerhalb dieses Narrativs zu einer Art Souvenir des Morgenspaziergangs beziehungsweise zum Erinnerungsstück an die Anekdote über einen naturverbundenen Dichter und der Unvergänglichkeit bildungsbürgerlicher Ideale des Weimaraner Klassizismus.2 Dem Blatt wird in der Beschreibung so allenfalls die Bedeutung einer Metapher zugestanden, seine physische Präsenz oder Materialität hingegen wird zur Nebensächlichkeit. Die zweite Feldnotiz hingegen nimmt das Ginkgoblatt zum Ausgangspunkt der Beschreibung. Der Baum3 hat das Blatt bereits abgeworfen, dennoch wird es aufgrund seiner leuchtend gelben Farbe und ungewöhnlichen Form entdeckt, aufgehoben und überreicht, bestaunt, betastet und mitgenommen. Durch die Lage und das Aussehen des Blattes ermöglicht es eine jahreszeitliche und räumliche Orientierung, zwei zentrale Aspekte im Rahmen der Behandlung von dementiellen Erkrankungen4,aufgrund welcher Frau Martinus in der Klinik behandelt wird.

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Die vorangestellten Sequenzen sowie der gesamte folgende Abschnitt entspricht zu Teilen einem von der Autorin im Juni 2016 gehaltenen Vortrag auf der »European Network of Occupational Therapy in Higher Education«- Konferenz an der National University of Ireland (Galway).

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Herr Ziegler bezieht sich auf das Gedicht »Gingo biloba« aus dem Spätwerk von Johann Wolfgang von Goethe, der den Ginkgo aufgrund der Form der Blätter als Symbol der Freundschaft deutet. (Ginkgo Museum Weimar 2017) Ob der Dichter (im Botanischen Garten Jenas) einen Ginkgobaum gepflanzt hat, ist nicht überliefert.

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Der Ginkgobaum ist ein ursprünglich aus China stammender, sommergrüner Zierbaum, der seit dem 16. Jahrhundert verstärkt nach Europa importiert wird. Den Blättern werden neben ihrer außergewöhnlichen Form stimmungsaufhellende und gedächtnisstärkende Wirkungen nachgesagt, weshalb eine Vielzahl von Drogerieprodukten mit Ginkgo angeboten wird.

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(Vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. 2017)

Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 129

»In der Ergotherapie geht es neben der Beziehung eines Menschen zu sich selbst, um die Bezüge des Menschen zu der ihn umgebenden Umwelt. Hierbei ist es die Beziehung zu Dingen (mit denen er zu tun hat, hantiert, die er begreift oder zu begreifen versucht), Personen […] und sozialen Systemen […] relevant.« (Kayser 1999, 20)

Aus ergotherapeutischer Perspektive erfüllen Objekte in dreierlei Hinsicht ergotherapeutische Zwecke. Erstens dienen sie der Befunderhebung. Anhand des Produktionsprozesses sowie dem Produkt selbst ist es möglich, über den psychischen Gesundheitszustand der Nutzerinnen Aussagen zu treffen. Zugleich sind Objekte das zentrale Mittel der Ergotherapie, zugleich ist die Beschäftigung mit ihnen das Ziel der Therapie. (Vgl. Scheepers, Steding-Albrecht, und Jehn 2006, 90) Die Wahl des sogenannten ergotherapeutischen Mittels, also des Objekts, dessen Produktion zur medizinischen Indikation passt, ist laut dem Berliner Rahmenplan integraler Bestandteil der Ergotherapie-Ausbildung (Senatsverwaltung für Gesundheit 2003). In der ergotherapeutischen Literatur finden sich zudem Materialvorschläge für konkrete Beschwerden.5 In der deutschen Ergotherapie gab es bis Anfang der 2000er Jahre durchaus eine elaborierte und meist psychoanalytisch informierte »Mittelkunde«, die eingesetzten Materialien bestimmte ›therapeutische Kräfte‹ zuschrieb; Ton galt beispielsweise als das kreative Potenzial weckend, formbar und daher eher weiblich, Speckstein hingegen als widerständig, Kraft und Ausdauer beanspruchend und männlich konnotiert. (Kayser 1999) In den letzten Jahren hat sich die Ergotherapie von diesen (teilweise fragwürdigen) Interpretationen gelöst und fokussiert auf die Interaktion zwischen Therapeutin und Nutzerin. Wie ich es im historischen Abriss im Abschnitt zur arts-and-crafts-Bewegung

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Über das Malen heißt es beim deutschen Ergotherapeuten Bernhard Roggmann beispielsweise »[f]ür den psychischen Bereich bietet das Malen viel. Viel an gezielten Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch viele Möglichkeiten von Hemmnissen, weil ähnlich wie beim Formen das Bild sehr viel von der Gedankenwelt preisgibt, selbst wenn es nur scheinbar unbedeutende abstrakte Farbzusammenstellung sind. Jeder Farbauftrag verlangt eine Entscheidung seitens des Patienten, und oft mag er sich dessen bewusst sein oder befürchten, dass eine Deutung dieser Äußerungen stattfinden kann. Zunächst aber steht im Vordergrund die Aufgabe, eine leere Fläche mit eigenen Vorstellungen und durch Handlung auszufüllen. Schon die Entscheidung, diese Aufgabe machen zu wollen, kann eine Hürde darstellen, die die emotionale Kraft des Patienten verlangt. Später als bei anderen Techniken erfährt der Patient Grenzen, so daß sich Kreativität entfalten kann, allerdings besteht darin auch die Gefahr der Verstärkung von Psychosen, so daß der Therapeut seine Aufmerksamkeit von pathologischen Gegebenheiten nicht abwenden sollte.« (Roggmann 1990, 66)

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dargelegt habe, war und ist die Vorstellung der heilenden Wirkung der haptischen Auseinandersetzung mit Materialien und dem kreativen Prozess der Herstellung von ausgesuchten Objekten ein wichtiger Aspekt ergotherapeutischen Handelns. Der Fokus liegt auf der Herstellung eines Objekts, weniger auf nicht produktiven Freizeitaktivitäten wie dem gemeinsamen Ballsport oder ähnlichem. Dieser produktozentrische Ansatz grenzt sich unter anderem von der, auf die körperlichen Funktionen abzielenden Physiotherapie ab. Daneben sind finanzielle und organisatorische Aspekte für die Auswahl der in der Ergotherapie hergestellten Objekte relevant, Bastelmaterialien sind schlicht kostengünstiger als Tablets und Laptops. Im folgenden Kapitel unternehme ich den Versuch, Praktiken der »Alltagsbefähigung« in der psychiatrischen Ergotherapie aus ihren Objekten heraus zu beschreiben und zu analysieren. Der Unterschied der Beschreibungen durch eine Verlagerung des Fokus’ vom Menschen beziehungsweise menschlicher Praxis auf eine Beschreibung, die von dem jeweiligen, ernannten (Forschungs-)Objekt ausgeht, wurde im direkten Vergleich beider Feldnotizenversionen zum Ginkgoblatt unterstrichen. Zunächst erfolgt zur Einführung eine kurze theoretische Einordnung in den ethnologisch-sozialanthropologischen Diskurs anhand möglichst repräsentativer Studienbeispiele. Diese sind der Sozialstatistik, klassischen volkskundlich-sozialanthropologischen und objektbiografischen Ansätzen und den MaterialCulture Studies zuzurechnen. Diese werden in einem weiteren Schritt mit neueren materialen Ansätzen zur material agency, epistemischen Objekten nach Rheinberger sowie dem practice-material arrangement nach Schatzki verknüpft. Diese Einordnung soll zum Kernargument dieses Kapitels hinführen: Anhand ethnografischer Beschreibungen, die menschliche und materielle Praktiken der »Alltagsbefähigung« zusammen denken und aus den beteiligten (Forschungs-)Objekten selbst heraus entwickelt werden, kann ein vielschichtigeres Verständnis gewonnen werden bezüglich der hier zentralen Fragestellung nach der Übersetzung der ergotherapeutischen Zielvorgabe »Handlungsfähigkeit im Alltag« in die Praxis.

6.2 VON LAUB UND ELEKTRONISCHEN SCHLIESSANLAGEN Wenn, wie in den einleitenden Feldnotizen, selbst Laub als relevantes Objekt für ergotherapeutische Praktiken zur »Alltagsbefähigung« erachtet wird, stellt sich die Frage nach den Grenzen der Definition eines Forschungsobjekts. Überspitzt formuliert könnte man sich fragen, ob nun neben Blättern, Harken und Rasenmähern selbst die elektrische Schiebetür und der Fahrstuhl zu Wort kommen sollen,

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wenn soziale Interaktionen auf dem Klinikgelände und im Gebäude oder in anderen Bürohäusern analysiert werden sollen. (Hirschauer 1999, Latour und Johnson 1988) Auf den ersten Blick scheint eine vom Objekt ausgehende Beschreibung exzentrisch bis absurd. Dieser Perspektivenwechsel wird allerdings dann bedeutsam, wenn elektronische Türen als Teil von Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz von in der Psychiatrie »untergebrachten«6 Nutzerinnen durch elektronische Schließmechanismen ergänzt werden: Wenn das zentrale Objekt nur als Beiwerk gilt, dass lassen sich die hiermit verbundenen sozialen Interaktionen nur unzureichend beschreiben und analysieren. Wenn eine mehr inkludierende als exkludierende Tür und ein raum-zeitlichorientierendes Blatt gleichermaßen Forschungsobjekte sein dürfen, wirft dies die Frage auf, ob und wie sich Technologien und nur sehr mittelbar menschengemachte Objekte wie ein Blatt in Hinblick auf ihre Relevanz für ergotherapeutische Praktiken zur »Alltagsbefähigung« unterscheiden. Da sich die vorliegende Arbeit in der sozialanthropologischen Wissenschafts- und Technikforschung verortet, wäre zu vermuten, dass es sich im übertragenden Sinne beim Forschungsobjekt um keine, bereits in die Jahre gekommene Haustür (vgl. Latour 1996) sondern das neuste Modell einer elektronischen Schliessanlage7 handeln sollte. Um auf dieses methodisch-theoretische Wagnis hinzuleiten, soll zunächst eine kurze Einbettung in den breiteren ethnologisch-sozialanthropologischen Diskurs zur Beforschung von Dingen, Artefakten, Sachen oder Objekten anhand exemplarischer Studien erfolgen. Die Reihenfolge ergibt sich chronologisch aus dem Erscheinungsjahr. Hierbei werde ich keine sprachliche Trennung der unterschiedlichen Begriffe vornehmen, und zumeist von Objekten im Sinne von Gegenständen in der Herstellung oder Verwendung beziehungsweise von Materialität als Oberbegriff für die Gesamtheit aller gegenständlichen Voraussetzungen eines Raumes oder einer Handlung sprechen. Im englischsprachigen Raum hat sich die Unterteilung von thing (als allgemeinster Oberbegriff), object (der die affektiven Bezüge verdeutlichen soll und oft in Bezug auf Objekt-Subjekt-Beziehungen gedacht wird), artefact (bei dem die Betonung auf der Herstellung liegt) und goods (den Konsum und allgemeine ökonomische Dimensionen hervorhebend) durchgesetzt. (Pearce 1992) Im deutschsprachigen Raum schlägt der Volkskundler und Kulturwissenschaftler Gottfried Korff vor, von »Sachen« zu sprechen, wenn es um deren Gebrauchswert geht, von

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Unterbringung nach PsychKG, vgl. 15.

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Zu den zeitlich-räumlichen Arrangements beziehungsweise »klinischen Choreografien« psychiatrischer Kliniken am Beispiel ›offener‹ Stationstüren in einer geschlossenen psychiatrischen Station. (Vgl. Klausner 2015, 39)

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»Dingen«, wenn der symbolische Mehrwert diskutiert werden soll, und nur bei einer Fokussierung auf die psychologische Beziehung von »Objekten«. (Korff 2005, Ludwig 2011) Für meine Arbeit würden sich nach diesen Definitionen zur Beschreibung der materiellen sowohl die Begriffe »Sachen« (Gebrauch), »Dinge« (Symbolik), »Artefakte« (Herstellung) als auch »Objekte« (Affektive Beziehung) anbieten. Ich gehe allerdings davon aus, dass in der Praxis all diese Ebenen einander bedingen und derart miteinander verwoben sind, dass sie sich nicht voneinander trennen lassen. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, stets von »Objekten« zu sprechen, ohne damit die affektive Bedeutungsebene als relevanter als die anderen zu betrachten. Ich schließe hiermit explizit auch die anderen genannten Ebenen ein.

6.3 VON DER SOZIALSTATISTIK ÜBER OBJ EKTBIOGRAFIEN ZU DEN MATERIAL CULTURE STUDIES In den Sozialwissenschaften wie der Soziologie, im Besonderen allerdings in der Sozial- und Kulturanthropologie, stellt Materialität einen wichtigen Forschungsgegenstand dar. (Passoth 2012) Bereits in den klassischen Ethnografien spielten Objekte eine wichtige Rolle als Studien-Objekt und dienten dort als Beleg für die historische Entwicklung der jeweiligen Kultur. (Vgl. z.B. Lévi-Strauss 2004) Im Rahmen der sogenannten »kulturhistorischen Methode« wurden Verbreitungskarten angelegt und für die Bestimmung von Diffusionswegen verwendet. (Vgl. Hahn 2005, 64) Die deutschsprachige Sachkulturforschung betrachtete und analysierte Objekte bisher vorrangig auf zwei Arten: Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen der sogenannten Sozialstatistik einerseits und neueren objektbiografischen Ansätzen andererseits. Die Sozialstatistik beschäftigte mit der Inventur von Haushalten, zählte und beschrieb alle Gegenstände, die in einem Hausstand vorhanden waren. (Schnapper-Arndt 1912, 388ff. zit. n. Depner 2015, 18) Obwohl der deutsche Ethnologe Thomas K. Schippers argumentierte, dass man diese Form des »Sachen Sammelns« kaum als Geisteswissenschaft bezeichnen könne (Schippers 2004 zit. n. Depner 2015, 22), erhob die Sozialstatistik Gegenstände des täglichen Bedarfs in den Stand eines sammlungswürdigen Forschungsobjekts und ließ, botanischen Taxonomien nicht unähnlich, Kategorisierungen und systematische Vergleiche zu, ohne allerdings deren Funktion große Beachtung zu schenken.

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Erst in den 1950er Jahren kam die Sozialstatistik langsam aus der Mode. Es wurde damit begonnen »Dinge zu denken«. (Vgl. Scharfe 1983,14 zit. n. Depner 2015, 22) Obwohl Objekte, auch in Anlehnung an frühe sozial- und kulturanthropologische Ethnografien, zum relevanten Forschungsobjekt erhoben worden waren, lag der Schwerpunkt volkskundlich-ethnologischer ›Dingforschung‹ nach wie vor auf Fragestellungen zur Verbreitung und Beschreibung von Objekten. Ein gutes Beispiel für diesen Fokus bietet der »Adventskranz« des deutschen Volkskundlers und Germanisten Hermann Bausinger (1991 [1970]). Der Adventskranz wird im gleichnamigen Artikel hinsichtlich seiner historischen wie geografischen Verbreitung und den diesbezüglichen gesellschaftlichen Bedingungen untersucht. Zunächst skizziert der Autor die Herkunft der Tradition eines aus Tannenzweigen bestehenden, meist zum Kranz geflochtenen Gebildes, auf dem Kerzen den jeweiligen Adventstag anzeigen. Im Folgenden setzt sich der Autor anhand einer Literaturrecherche und eigener empirischer Nachforschungen mit der geografischen Verbreitung und den Nutzerinnen seines Forschungsobjektes auseinander. So kann er anhand von Befragungen und Kartierungen belegen, dass es sich zunächst um einen ausschließlich protestantischen Brauch gehandelt habe, der erst nach und nach von den katholischen Nachbarinnen übernommen worden war. Zudem analysiert er die unterschiedlichen Formen und Bindungsarten der Adventskränze. Wie der Adventskranz allerdings in der Praxis am Brauch beteiligt war, erläutert er nicht. Er wird so zur Dekoration einer Erzählung, in der seine Verbreitung und Entstehung beschrieben wird. In diesem Sinne könnte hier eine Erzählung über die ersten Importe von Ginkgosamen durch die niederländische Seefahrt und die wachsende Beliebtheit des ursprünglich aus China kommenden Baumes stehen. Anhand von Befragungen wäre es möglich, eine Kartierung zur Verbreitung des Ginkgos zu erstellen und der Frage nachzugehen, warum sich ein vornehmlich zur Zierde genutzter Baum solcher Beliebtheit erfreut. Ginkgobäumen würde hierbei allerdings nicht viel mehr als der »Charakter kultureller Prothesen« zugeschrieben werden (vgl. Scharfe 1983, 285 zit. n. Depner 2015, 19). Im Rahmen sogenannter objektbiografischer Ansätze, die auf den, in den USA lehrenden, Sozialanthropologen Igor Kopytoff zurückgehen, wird Objekten eine eigene Biografie zugedacht. (Kopytoff 1986) Im Idealfall würde laut der deutschen Ethnologin Anamaria Depner hierdurch »die Geschichte der Gegenstände und die ihrer Eigentümer miteinander in Verbindung gebracht und in ihrer kulturellen Einbettung betrachtet« werden können (Depner 2015, 18). Im Rahmen objektbiografischer Forschungen sollte den Gebrauchswegen von Objekten nachgespürt werden, um Verbindungen zwischen ihren jeweiligen Nutzerinnen besser verstehen zu können. (Kopytoff, 1986) Der Beginn der Biografie des Ginkgoblattes könnte auf den Zeitpunkt datiert werden, in dem der Baum das Blatt abwirft

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und es so in Laub verwandelt. Mit der Übergabe des Ginkgoblattes von Herrn Ziegler an Frau Martinus wird es zu einem Geschenk umgedeutet, weshalb der zukünftige Umgang mit dem Blatt ein Indikator für die therapeutische Beziehung beider sein könnte. Auch hier wird allerdings der Konjunktiv bemüht, da keine diesbezügliche Verbleibstudie durchgeführt wurde. Obwohl dieser Ansatz eine konsequentere Verbindung zwischen Objektumgang und sozialer Interaktion anstrebt, fehlt es auch hier ›am Ding selbst‹, nämlich der Optik, Haptik, dem Geruch, dem Gewicht, der Farbe, der Beschaffenheit, der Größe, etc. – kurz: der materiellen Beschaffenheit – der untersuchten Gegenstände. Nur ein Jahr später erschien die Studie »Material Culture und Mass Consumption« des britischen Sozialanthropologen Daniel Miller. (1987) Dieser gilt als einer der führenden Theoretiker der neueren Material Culture Studies. In seinen ethnografischen Studien beschäftigt er sich mit der Rolle materieller Güter und des Konsums für die Identität bestimmter Gruppen innerhalb der von ihm untersuchten Gesellschaften. Die wohl bekannteste Studie Millers ist »Coca Cola – a black sweet drink from Trinidad«. Die Zuckerbrause gilt als eines der erfolgreichsten US-Importprodukte und wurde daher häufig als ›Meta-Symbol‹ des Kapitalismus beziehungsweise Imperialismus gedeutet. (Miller 1998, 170) Dieser Deutung widerspricht Miller insofern, als dass sich anhand der Geschichte der Einführung des Getränks auf Trinidad nachzeichnen lässt, wie sehr der Erfolg des Produkts von der Einbettung in die lokalen Kontexte abhängig war. In seiner Studie liegt der Fokus auf der lokalen sozialen Einbettung der Marke. Er beschäftigt sich auf drei Ebenen mit dem Phänomen: das US-amerikanische Unternehmen als Instrument von Dominanz und Homogenisierung außerhalb der USA, den lokalen Produktionsbedingungen und den lokalen Konsumformen in Trinidad. Auf der Karibikinsel wurde das Getränk erst dann zu einem Erfolg, als es sowohl geschmacklich an die lokalen Gewohnheiten angepasst als auch durch lokale Franchiseunternehmen vor Ort produziert wurde, Coca-Cola also in vielerlei Hinsicht zu einem ›lokalen Getränk‹ geworden war. Den Fokus legt Miller auf die sozialen Bedingungen, die Coca-Cola zu einem trinidadischen Getränk werden ließen. Die Studie ist ein hervorragendes Beispiel für eine, vom Objekt ausgehende Studie die die Verbindungen und Interrelationen von Dingen, Menschen, Orten und Praktiken miteinander zu verknüpfen und gemeinsam zu denken weiß. Objektbiografische Ansätze suchen nach Verknüpfungen zwischen Akteurinnen, die durch die zeitlich aufeinander folgende Nutzung eines Objekts entstehen, beschreiben also den chronologischen Verlauf der Objektnutzung und analysieren diesen. Im Gegensatz hierzu weisen Beispiele aus den Material Culture Studies eine Vielschichtigkeit von geografischen, materiellen wie sozialen Bezügen der

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jeweiligen Forschungsobjekte auf. Das konkrete Objekt, die Flasche, das Glas oder die Cola selbst sind allerdings nicht Teil der Untersuchung und auch auf die praktische Nutzung – den Verzehr – wird nur am Rande eingegangen. Im Rahmen des material turn, der in den letzten beiden Jahrzehnten die interdisziplinäre Objektforschung entscheidend prägte, veränderte sich die Perspektive auf Objekte erneut und nimmt deren materielle Beschaffenheit auf eine neue Art und Weise ernst. Die (Europäische) Ethnologie, die (Kunst-)Geschichte, die Archäologie und Museumswissenschaft forschten nun nicht nur zum Objekt als Symbol, sondern interessierten sich zunehmend für die Bedeutung der Beschaffenheit des Objekts selbst, oder wie es der deutsche Historiker Karl Schlögel treffend zusammenfasste: »Wir sind durch alle kulturellen Vermittlungen hindurch daran erinnert worden, dass nicht alles Zeichen, Symbol, Simulacrum, Text ist, sondern Stoff, Materie, Baumaterial, von dem man erschlagen werden kann.« (Schlögel 2004, 262 in Depner 2015, 19-20)

Dieser Materie wird in der Studie des britischen Sozialanthropologen Adam Reed »›Smuk is king‹– the Action of Cigarettes in a Papua New Guinea Prison« (2007) besondere Beachtung geschenkt. In seiner ethnografischen Studie beschreibt er die Zigarette als essentielles Objekt in einem Gefängnis in Papua-Neuguinea, welches als Konsumgut, Währung und sozialer Kitt gleichermaßen genutzt wird und so eine eigene Handlungsfähigkeit oder agency entfaltet. (Reed 2007, 32) Zigaretten dienen dort zunächst als Kommunikationswerkzeug, welches Aussagen über den sozialen Status und die Gruppenzugehörigkeit des Inhaftierten zulassen. Gleichermaßen ist die Zigarette in Reeds Lesart als »the dominant actor in prison« an der Entstehung und Stabilisierung dieser sozialen Beziehungen beteiligt. (Reed 2007, 36) Bereits die erste Zigarette, die ein Inhaftierter raucht, entscheidet über seine soziale Zugehörigkeit. Mitglieder einer Gruppe werden als Initiationsritus zum gemeinsamen Zigarettenkonsum in eine Zelle eingeladen. Danach gilt er als »Rauchpartner« (»wantok«), wie die direkte Übersetzung von Gang- oder Gruppenmitgliedern lautet. (Vgl. Reed 2007, 36-37) Darüber hinaus dienen Zigaretten als Währung, die stabiler und wertvoller als Geld ist, weswegen sie als Hauptzahlungsmittel innerhalb des Gefängnisses verwendet werden. Der Autor weist darauf hin, dass die Zigarette durch diese vielfältigen Nutzungsvarianten so stark mit Bedeutung aufgeladen wird, dass sie selbst zu einem Teil der Produktion dieser Bedeutung wird. (Vgl. Reed 2007, 42) Zigaretten haben als Konsumobjekt, anders als Geldscheine, einen über das Materielle hinausgehenden Wert. Der Titel des Artikels lautet »smuk is king«, dieses Zitat eines Inhaftierten wird vom Autoren ernstgenommen, denn »[a]s smokers, inmates learn to love cigarettes because they

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kill their memory and therefore change their state of mind« (Reed 2007, 35) und verweist auf die mystische Bedeutung der Zigarette als mit einer Seele belebter Gegenstand. (Ebda.,41) Reed entfaltet dabei seine Analyse aus dem Objekt heraus und nimmt seine materielle Beschaffenheit, Nutzungsarten und seine Sozialität beeinflussende Entität ernst. Für eine Forschungsperspektive, die nicht nur die Existenz, sondern die materielle Beschaffenheit des Forschungsobjekts konsequent mitdenkt, lohnt sich auch ein Blick in eine Nachbardisziplin, die archäologische Anthropologie. Die in den USA lehrende Anthropologin Tanya Chiykowski legt mit »Animacy of the Everyday, Materiality, Bundling and the Production of Quotidian Ceramics« (2015) eine Studie über das Töpfereihandwerk aus dem Norden Mexikos vor. Sie bezieht sich auf das Konzept der Objektbiografien von Kopytoff (1986), verlegt den Beginn der Biografie dabei allerdings auf den Herstellungsprozess, welches das Objekt und dessen Materialität in den Vordergrund rücken soll. Sie hebt insbesondere die Außergewöhnlichkeit des Materials hervor, da Ton während der Produktion von Töpferware spätestens durch das Brennen seine ursprünglichen stofflichen Eigenschaften ändert und das Produkt im Nachhinein nicht wieder in seinen vorherigen Zustand zurückversetzt werden kann. (Vgl. Chiykowski 2015, 80) Chiykowski liest diesen Herstellungsprozess daher als eine Handlung, in dem Produkt und Produzentin zu einem Bündel (bundle, vgl. z.B. Ingold 2013) verschmelzen. Die Keramik wird nur zu einem Objekt, wenn sich die Eigenschaften des Rohmaterials (Ton), das Handwerk der Töpferin und die hiermit verbundenen sozialen Beziehungen (Brauchtum und Konsum) miteinander verbinden. (Vgl. Chiykowski 2015, 85) Zudem seien der Autorin zufolge die mythischen Überzeugungen in das Material eingeschrieben. Ton gilt als Körper der Grandmother Clay, der besondere Kräfte zugeschrieben werden: »The spirit of the clay is present before the pot is formed. Through the forming, firing, and use of a vessel, this spirit is given its voice through the pot. Each stage built on the spirit is captured in the step before. From the raw material that is the flesh of Grandmother Clay through the cry of the pot when it is broken, potters work with this abstracted agency and shape it into solid form.« (Chiykowski 2015, 95-96)

Die Autorin verwendet hier den Begriff der abstracted agency, theoretisiert ihn aber an dieser Stelle nicht weiter. Dennoch ist ihre Studie ein gutes Beispiel dafür, wie die konsequente Einbeziehung der materiellen Beschaffenheit von Objekten den Blick die weitreichenden Verzweigungen und Verflechtungen von Materialität und Mensch in der Praxis sichtbar werden lässt.

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Die materielle Seite der agency bleibt bei Chiykowski abstrakt. Im Gegensatz dazu erhält Materialität bei dem bereits einigen Jahren zuvor erschienenen Konzept der material agency, das dem britischen Sozialanthropologen Alfred Gell zugeschrieben wird, einen zentralen Stellenwert. Gell definierte zunächst sämtliche Praxis, die ordnet oder Handlung beeinflusst, als agency: »Doing is theorized as agency, as a process involving indexes and effects« (Gell 1998, ix). Diese agency gehe allerdings nicht nur von Menschen zu Dingen aus, sondern auch durch menschliches Zutun in die Dinge hinein und könne im Rückschluss genauso von Dingen (wieder) herausgehen. (Vgl. Gell 1998, 18) In der zweiten, objektzentrierten Feldnotizenversion hat das Ginkgoblatt mittels seiner Farbe, Form und Textur und dem Ort, an dem es sich befand, der Nutzerin eine Orientierungshilfe zu Raum (außerhalb eines Gebäudes) und Zeit (Spätherbst/warmer Winter) angezeigt und sie materiell erfahrbar gemacht. Damit hatte es einen aktiven Anteil an der ergotherapeutischen Situierung des Morgenspaziergangs. Diese material agency des Ginkgoblattes wird erst durch eine detaillierte Beschreibung und Analyse sichtbar und besonders deutlich im direkten Vergleich zu klassischen, auf die soziale Interaktion fokussierenden Beschreibungen. Im Folgenden werde das Konzept der material agency ergotherapeutischer Objekte weitergehend erläutern und für eine Analyse fruchtbar machen. Objekten werden in den vorgestellten Ansätzen und Studien unterschiedliche Bedeutungen, insbesondere bezüglich ihrer Handlungsträgerschaft oder agency zugemessen. Während im Rahmen kulturhistorischer Verbreitungskarten sowie sozialstatistischer Ansätze die Dokumentation von Objekten als Repräsentation des »Alltags« der Besitzerinnen im Vordergrund stand, sollten durch objektbiografische Ansätze die Verbindung zwischen der Geschichte zwischen Objekt und ihrer Eigentümerinnen analysiert werden. Hierdurch erweiterten sie die Sicht auf Objekte als Repräsentanten einer wie auch immer gearteten Kultur um die zeitliche Dimension und suchen nach den hierdurch entstehenden Verknüpfungen zwischen Akteurinnen. Erst durch die ersten Vertreterinnen der Material Culture Studies wurde die Vielfalt der geografischen, materiellen wie sozialen Bezüge des jeweiligen Forschungsobjektes mitgedacht, Objekte als Mittler sozialer Interaktion verstanden. Die materiale Beschaffenheit sowie die konkreten Praktiken der Objekte standen allerdings nach wie vor nicht im Zentrum der Analyse. Erst mit dem material turn wurden Forschungsansätze einflussreicher, die Materialität der Objekte selbst wahr- und ernstnahmen, welche über den bloßen symbolischen oder repräsentativen Wert hinauswiesen. In Studien aus einer großen Bandbreite von Disziplinen werden Objekte immer häufiger in den Vordergrund des Interesses gerückt, sie werden als Handlung und soziale Interaktion nicht nur

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fördernd, sondern als diese bedingend konzipiert, Objekte daher mit einer eigenen agency besehen. Im folgenden Abschnitt werde ich anhand empirischer Daten weitere neuere Ansätze zur material agency einführen, und diese mit den Überlegungen Rheinbergers zu epistemischen Objekten sowie dem practice-material arrangement Schatzkis verknüpfen. Die vorgestellten Ansätze unterscheiden sich unter anderem dadurch, dass sie Objekten eine andere Form und ein anderes Maß von agency zugestehen. Ich vertrete hierbei keinen offensiven Post-Humanismus (vgl. 78), wie er von vielen praxistheoretischen und von Post-ANT-Ansätzen inspirierten Forscherinnen (vgl. 92) verfochten wird. Die konstitutive und agentielle Bedeutung von Objekten für die »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie kann einerseits nicht genug betont werden. Andererseits eignet sich eine radikal symmetrische Forschungsperspektive, die alle Subjekt-Objekttrennungen aufzulösen sucht, meines Erachtens nicht dazu, ein empirisch-theoretisch fundiertes Verständnis zur Soziomaterialität der »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie zu entwickeln, welches auch im interdisziplinären Dialog als Grundlage dienen kann.

6.4 SPECKSTEIN UND KAFFEEMÜHLE ALS MATERIAL AGENTS 8 Im Jahr 2008 erschienen der Sammelband »Material Agency – Towards a NonAnthropocentric Approach«. Darin beschäftigt sich der in Großbritannien lehrende Archäologe und Mitherausgeber Lambros Malafouris mit dem Töpferhandwerk und der Frage, welche Arten der material agency hierbei in die Analyse einbezogen werden müssten. (Malafouris 2008) Er bezieht sich hierbei explizit auf ein Handwerk, welches nach wie vor einen zentralen Stellenwert in der deutschsprachigen psychiatrischen Ergotherapie einnimmt. (Winkelmann 2009) Deshalb erscheint seine Interpretation als besonders gut übertragbar auf ergotherapeutisches Handeln. Besonders interessiert Malafouris dabei, wer in dem Zusammenspiel zwischen Töpferin und Ton der Akteur ist und wie sich daraus ein Konzept der material agency ableiten lasse:

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Teile des folgenden Abschnitts wurden bereits in Form eines Vortrags auf der Konferenz der European Association of the Study of Science and Technology (2016) veröffentlicht.

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»If human agency is then material agency is, there is no way that human and material agencies can be disentangled. Or else, while agency and intentionality may not be the properties of things, they are not properties of humans either: they are the properties of material engagement, that is, of the grey zone where brain, body and culture conflate.« (Malafouris 2008, 22 Hervorhebung wie im Original)

Auch unabhängig davon, ob das jeweilige (Forschungs-)Objekt als mit einer agency versehen verstanden würde oder nicht, gäbe es Malafouris zufolge eine Grauzone, in der menschliche Psyche und Physis mit Kultur verschmelze. Er bezieht sich hierbei auf die Akteur[sic!]-Netzwerk-Theorie, die seit den 1980er Jahren unter anderem mit ihrer Forderung der symmetrischen Beforschung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteurinnen beziehungsweise Aktantinnen (so der Latour’sche Neologismus für nicht-menschliche ›Beteiligte‹) einige Bekanntheit im breiteren sozialwissenschaftlichem Diskurs erlangte und bis heute vor allem in der soziologischen Beforschung größerer Institutionen, Infrastrukturen oder Ökologien breit rezipiert wird. (vgl. z.B. Latour 2007, für den deutschsprachigen Raum Belliger und Krieger 2006, mit einem Schwerpunkt auf sozialanthropologische Perspektiven Beck, Niewöhner, und Sørensen 2012) Das Töpferhandwerk ist Malafouris zufolge ein besonders geeignetes Beispiel, da die Verschmelzung von Händen und Ton in Verbindung mit der konstanten Bewegung der Töpferdrehscheibe hier besonders bedeutsam sei. Der Autor verwendet dabei die Analogie des Tanzes9 zwischen gleichberechtigten Partnerinnen. Die Formung des Tons zu einer Keramik ist eine kollaborative Praxis zwischen Töpferin, Ton und Drehbewegung, die zu einem konstanten taktilen und klar zu erkennenden dynamischen Spannungsverhältnis führe, in der mal die menschliche Akteurin zur Verlängerung des Objekts Ton werde, mal das Objekt zur Verlängerung der Töpferin. (Vgl. Malafouris 2008, 34) Malafouris zieht daraus den

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Analogien zum Tanz beziehungsweise zur Choreografie finden sich in der Wissenschafts- und Technikforschung auch im Werk Charis Thompson (2005) wieder, die soziomaterielle Arrangements am Beispiel einer Fruchtbarkeitsklinik als »ontologische Choreografien« fasst. Wie Malafouris liegt ihr analytischer Fokus auf dem Spannungsverhältnis zwischen Flexibilität und Ordnung in Herstellungspraktiken. Die deutsche Europäische Ethnologin Martina Klausner (2015) hingegen versteht das Konzept der Choreografien übertragen auf ihr Feld »vor allem als zeitlich-räumliche Arrangements, die der Ordnung sowohl der Arbeitsabläufe als auch der therapeutischen Aufgaben dienen; sie bündeln und koordinieren eine Vielzahl an Routinen und Akteuren und bilden damit das unsichtbare Gerüst, das ein Zusammenleben und Zusammenarbeiten auf einer akut psychiatrischen Station ermöglicht.« (Klausner 2015, 40)

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Schluss, dass agency weder im Besitz der menschlichen noch nicht-menschlichen Akteurinnen sei, sondern erst in ihrem Zusammenspiel entstehe. (Vgl. ebda.) Ähnlich wie bei einem Tanz sei diese agency stets in Bewegung, welches zwischen den Beteiligten eine physische, interaktive und temporär begrenzte Spannung entstehen ließe. (Vgl. Malafouris 2008, 35) Es stellt sich die Frage, wie ein solcher Tanz in der ergotherapeutischen Werkstatt aussehen könnte, gilt doch zu bedenken, dass hier eine zusätzliche agency, nämlich die »Handlungsfähigkeit im Alltag« erzielt werden soll: »In einem der offenen Metallregale befindet sich eine Plastiktruhe, in der mehrere unbehandelte, rohe Specksteine liegen. Ihre Größe schwankt zwischen einem etwa 30 cm großen Quader und mehreren Rohsteinen, die mehr oder weniger bequem auf einer Handfläche Platz finden. Sowohl die Truhe als auch ihr Inhalt sind in Staub gehüllt, momentan liegen in der Truhe milchig weiße sowie roséfarbene Rohsteine. Nimmt man einen der Rohsteine heraus, befreit ihn mit einem Tuch oder mit der Hand vom Staub und poliert ihn ein wenig, beginnt das weiche Material sofort ›speckig‹ zu glänzen. Bei zu viel Druck mit einem Werkzeug wie einer Säge, Feile, Raspel oder sogar dem Fingernagel brechen leicht Stücke aus dem Rohstein heraus. Im gleichen Regal weiter oben stehen mehrere kleine Skulpturen, die dort abgestellt oder vergessen, der Ergotherapie geschenkt oder wortlos überlassen wurden und nun als Anschauungsmaterial für neue Skulpturen dienen, bis sie abgeholt werden oder das Regal überfüllt ist und sie von Herrn Lichter und seinem Kollegen in einer ›Aufräumaktion‹ entsorgt werden. Im Trend scheinen aufgrund der bisherigen Sammlung Schildkrötenfiguren zu sein. Herr Gaupert arbeitet allerdings seit zwei Tagen an einem sogenannten Handschmeichler. Als Ziel formulierte der Patient die Herstellung einer Kugel. In den letzten beiden Ergotherapie-Einheiten ist bereits ein weißer, grob quadratischer Stein in der Größe eines Tennisballs in seinen Händen unter Zuhilfenahme einer groben Raspel sowie mehrerer unterschiedlich großer und grober Feilen entstanden. Diesen Quader stellt er nun an seinen heutigen Arbeitsplatz auf einen der beiden Gruppentische, breitet als Unterlage zwei Doppelseiten einer alten Tageszeitung auf dem Tisch aus, füllt ein altes Einmachglas mit Wasser und stellt es neben einen Stapel von Einmalhandtüchern, die im Folgenden dafür verwendet werden, den Rohstein nach jedem Schleif- beziehungsweise Feilprozess abzustauben und zu polieren. Eine alte Geschirrschublade voller unterschiedlich großer und grober Feilen stellt Herr Lichter zeitgleich aus dem unteren Regalboden auf den Tisch. Nach etwa einer halben Stunde eines Kreislaufs des Feilens, Abstaubens und Polierens ist aus dem groben Quader unter den Händen Herr Gauperts ein abgerundeter Speckstein geworden. Währenddessen sitzen Herr Lichter und ich daneben und unterhalten uns mit ihm über seinen Klinikaufenthalt. ›Ich bin so überehrgeizig‹, merkt er an, als die Rundung zum wiederholten Male noch nicht seiner Vorstellung von einer Kugel zu entsprechen scheint

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und er erneut an einer bestimmten Rundung feilt, abstaubt und poliert und die Größe der Kugel zunehmend schwindet. Er würde nicht am Ball bleiben, entgegnet Herr Gaupert, den Blick dabei gesenkt auf den kugeligen Speckstein in seiner Hand. Er hätte zu viel Angst und mache sich Sorgen um seine berufliche Zukunft, schließlich sei er bereits zum vierten Mal ›auf Entzug‹, ergänzt er in hastigen Sätzen. Das empfinde er nicht so, sagt Herr Lichter.« [Feldnotiz 23.11.2012]

In der Feldnotiz lege ich den Fokus auf den Herstellungsprozess von Rohspeckstein in eine Specksteinkugel beziehungsweise einen Handschmeichler, der in der Ergotherapie aus Rohmaterial hergestellt wird. Speckstein ist aus geologischer Perspektive kein Stein sondern ein Mineral, das auch Talkstein genannt wird.10 Insofern ist die Bezeichnung als Stein irreleitend, da sich das Material bereits mit minimaler Druckeinwirkung bearbeiten lässt und durch zu starken Druck leicht zerbricht. Es erfordert daher ein ziemlich genau einzugrenzendes, ›richtiges‹ Maß an Druck und darüber hinaus genügend Abstraktionsvermögen, um die Zielform durch ausschließliche Wegnahme herauszuarbeiten. In der Ergotherapie wird Speckstein als Material zur Verfügung gestellt aus dem Skulpturen für die heimische Vitrine oder sogenannte Handschmeichler hergestellt werden. Der Duden definiert einen Handschmeichler einen kleinen glatten »Gegenstand besonders in Form einer Kugel oder einer Kette aus kleinen Kugeln, den man in der Hand hin und her bewegt beziehungsweise durch die Hand gleiten lässt«11 Zahlreiche Objekte könnten also Handschmeichler sein, ein vom Meer rund geschliffener Stein, Qigong- beziehungsweise Klangkugeln, Rosenkränze oder Komboloi 12. Der Handschmeichler definiert sich zunächst nicht über seine Machart oder darüber, aus welchem Material er besteht. Im Vordergrund steht neben einem gewissen Gewicht seine Funktion als glatter Gegenstand, dessen Berührung eine beruhigende oder entspannende Wirkung nachgesagt wird. Wird Malafouris’ Metapher des Tanzes erneut bemüht, wäre es für eine ethnografische Studie nicht nur von Interesse, wer mit wem (Tänzer/Objekt 1 und Tänzer/Subjekt 2) zu welcher Musik (Material) tanzt und ob die mehr oder minder

10 Naturrohsteine dürfen seit einigen Jahren aufgrund gesetzlicher Bestimmungen nicht mehr verwendet werden, da sie einen nicht unbeträchtlichen Anteil Asbest enthalten und als gesundheitsschädigend gelten. In der psychiatrischen Ergotherapie Herrn Lichts werden deshalb in Laboren hergestellte Rohsteine verwendet. 11 (Duden Onlinewörterbuch 2017) 12 Ein Komboloi ist eine im östlichen Mittelmeerraum, insbesondere Griechenland, verbreitete Perlenkette, gefertigt aus unterschiedlichen Materialien, die man als Spielzeug oder Meditationshilfe durch die Finger gleiten lässt.

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synchronen Bewegungsabläufe danach als Walzer oder Tango (Produkt) bezeichnet werden. Wenn sich Tänzer1 (Speckstein) und Tänzer 2 (Herr Gaupert) an einem neu zu kreierendem Tanz (Handschmeichler13) wagen, ist das geneigte Publikum vorrangig an den Bewegungsabläufen beider Tänzer und der weiteren Karriere des Duos interessiert. Mit anderen Worten geht es hier um die Frage: Wie lässt sich die angestrebte »Alltagsbefähigung« von Herrn Gaupert in der Praxis denken? Im Herstellungsprozess schienen der Speckstein und die Hände des Rohsteins miteinander zu verschmelzen, so dass sich, wie es auch Malafouris festhält, keine klare Trennung zwischen der menschlichen und materialen Beteiligung ausmachen lässt. Während es Malafouris aber zunächst darum geht, die Verflechtung von Körper, Geist und Kultur in jeglichem Objektumgang des Menschen zu analysieren, soll hier die Spezifik des ergotherapeutischen Kontextes weiter herausgearbeitet werden. Herr Gauperts Specksteinbearbeitung als eine soziomaterielle Kooperation im Produktionsprozess eines Kulturguts zu beschreiben würde der Beteiligung des Ergotherapeuten sowie der Ortsspezifik in einer psychiatrischen Werkgruppe nicht Genüge tun. Herr Gaupert sitzt nicht in seinem Hobbykeller und schleift an einem Handschmeichler, sondern befindet sich als Nutzer der allgemeinpsychiatrischen Station eines Krankenhauses zum vierten Mal im stationär begleiteten Alkohol- und Drogenentzug. Auch ohne seine individuelle Leidensgeschichte zu kennen, ist davon auszugehen, dass er unter einer oder mehreren Entzugserscheinungen wie Kopf- und Gliederschmerzen, Nervosität und innerer Unruhe, Schlaflosigkeit und Angstgefühlen oder der Verkennung der Realität bis hin zu Halluzinationen leidet. (Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie 2016) Trotzdem legt der Ergotherapeut Herr Lichter Herr Gaupert keine vorgefertigte Kugel in die Hand, damit sich dieser beruhigen möge. Herr Gaupert verarbeitet als Nutzer der ergotherapeutischen Werkgruppe ein Stück bereitgelegten Specksteins mit bereitgestellten Werkzeugen zunächst zu einem Rohsteinquader und danach zu einem kugelförmigen Handschmeichler. Die routinierte Art, mit der Herr Gaupert seinen Arbeitsplatz einrichtet und im weiteren Verlauf ohne größeres Zutun des Ergotherapeuten an der Herstellung der Kugel arbeitet unterstreicht seine Aussage, bereits mehrfach Nutzer einer stationären Einrichtung ge-

13 Das wäre allerdings ein schrecklicher Name für einen Tanz.

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wesen zu sein. Während die Mehrzahl von Specksteinstücken in mehr oder weniger simple Schildkrötenformen gebracht wird14 soll unter Herrn Gauperts Händen eine möglichst runde und glatte Kugel aus dem brüchigen Material entstehen. Im Verlauf der ergotherapeutischen Einheit schwindet so stetig die Größe des Specksteins, aufgrund der schleifenden Bewegungen und seines hohen Anspruchs zugleich. Die Sequenz setzt zu einem Zeitpunkt ein, zu dem der Speckstein bereits eine quadratische Form erhalten, Herr Gaupert also bereits seit mehreren Stunden gefeilt, geschliffen und poliert hatte. Seine Wahrnehmung, nicht genug »am Ball« zu bleiben, erscheint in Anbetracht seiner mehrstündigen Bemühungen und dem Specksteinball in seiner Hand daher fast absurd. Herr Lichter greift dies auf und ›korrigiert die Wahrnehmung‹, wie die Ergotherapie es nennt, und grenzt den zukunftsängstlichen Blick auf seine ersten Tage nach der Entlassung und mögliche Anlaufstellen außerhalb der Klinik. In der Sequenz behält der Ergotherapeut so das letzte Wort bezüglich der ›richtigen‹ Wahrnehmung, hat also entscheidenden Anteil an der Deutung beziehungsweise Übertragung des Herstellungsprozesses auf Herrn Gauperts gesundheitliche Beeinträchtigungen. Im Unterschied zu Malafouris’ Verweis auf die mitlaufenden Effekte von einer nicht näher spezifizierten Kultur sind es hier die ergotherapeutische Rahmung (Bestimmung von Ort und Zeit, Materialausgabe) und Handlungsinterpretation (Wahrnehmungskorrektur), die die Situation entscheidend situieren. Der Speckstein ermöglicht durch seine materiellen Eigenschaften die Produktion einer Specksteinkugel nur dann, wenn Herr Gaupert ›am Ball bleibt‹, Herr Lichter greift die vom Nutzer zugeschriebene Bedeutung seiner Tätigkeit auf und verweist auf Bezüge zu größeren Handlungs- und Denkmustern aus Herrn Gauperts Krankheitsverlauf. Anhand einer anderen Sequenz soll der Fokus detaillierter auf die Fähigkeiten gelegt werden, die Ergotherapienutzerinnen im Umgang mit Objekten üben oder erlangen, wofür die Arbeiten des britischen Sozialanthropologen Tim Ingold zum enskilment herangezogen werden. »Die ergotherapeutische Werkstatt ist ein großer Raum, der durch eine Glastür von der Mitte des Stationsflurs der gerontopsychiatrischen Station erreichbar ist. Um den großen Gruppentisch in der Mitte des Raumes finden bis zu zwölf Menschen Platz. Im Raum stehen nahezu an die Decke reichende Wandschränke, die den angebrachten Schildchen zufolge Stifte, Farben, Papier, alte Zeitungen für die Erstellung von Collagen, Materialien für Seidenmalerei, Spiele und Weiteres enthalten. Ein Regal in einer der vier Ecken ist gefüllt mit

14 Schildkrötenpanzer, -gliedmaßen und -köpfe verzeihen leichte, ›natürliche‹ Unregelmäßigkeiten.

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Büchern und mehreren Kisten voller CDs. In einer anderen Ecke steht eine leere Staffelei. Auf dem Fensterbrett sind unter anderem zwei alte, leicht verstaubte Schreibmaschinen abgelegt worden. Direkt am Eingang befindet sich eine kleine Werkbank, auf der Hölzer unterschiedlicher Holzarten, Größen und Formen stehen. In einer Box unter der Bank befinden sich mehrere Handsägen und eine elektrische Säge. An beiden Stirnseiten des Raumes befinden sich Waschbecken, eines wird für das Auswaschen benutzter Pinsel und die Handreinigung von groben Farbresten auf Fingern und mitunter Kleidung verwendet. Neben dem anderen hingegen stapeln sich Einmalhandtücher, mehrere Desinfektionsmittel und ein Wasserkocher, auf dem darüber angebrachten Einbauschrank verbirgt sich ein Fach mit einer Sammlung von Packungen mit unterschiedlichen Teesorten, eine Blechdose, in dem gemahlener Kaffee gelagert wird nebst einer Packung Kaffeebohnen und einer alten Handkaffeemühle. Die Kaffeemühle besteht aus einem hölzernen Kasten mit einer aufgesetzten Mühle aus Stahl. Der Ergotherapeut Herr Ziegler bittet Herrn Leandros um Hilfe beim Mahlen von Kaffeebohnen, die er kürzlich geschenkt bekommen habe. Als dieser zustimmt, gibt er ihm die Mühle mit Verweis auf ihre ungewöhnlich gute Qualität und Seltenheit vorsichtig in die Hand nachdem er sie mit geübten Handgriffen abgestaubt und mit Kaffeebohnen befüllt hat. Herr Leandros dreht und wendet sie nun ebenfalls vorsichtig und betrachtet sie dabei von allen Seiten und greift mit der Hand zur Kurbel und versucht an ihr zu drehen. Doch die Kurbel rührt sich nicht. Er legt die Mühle eng an seinen Bauch, um einen besseren Winkel für seine Drehbemühungen zu erhalten, doch die Kurbel kreist zunächst nur in abgehakten und stotternden bis kreischenden Bewegungen. Erst einige Minuten später windet sich die Kurbel zügig und stetig unter Herrn Leandros’ Drehbewegungen.« [Feldnotiz 11.12.2014]

Die Feldnotiz vermittelt einen kleinen Einblick in die Vielzahl von Objekten (oder therapeutischen Mitteln), die sich in dieser und vielen anderen ergotherapeutischen Werkstätten befinden: Neben Einrichtungen wie dem Gruppentisch als zentralem Versammlungspunkt15 und den beiden Waschbecken mit unterschiedlichen Funktionen für die Einhaltung hygienischer Standards in einer Klinik 16 befinden sich Regalmeter voller Materialien und Werkzeuge zum Basteln und Werken sowie Gesellschaftsspiele, Schreibmaschinen, Bücher und einer Kaffeemühle. An dieser Stelle wurde die Kaffeemühle in das Zentrum der Beschreibung gesetzt. Auf diese Weise hoffe ich theoretisch-empirische Erkenntnisse darüber abzuleiten

15 Die Medizinsoziologie, -anthropologie und –geschichte hat sich bereits eingehend mit dem Einfluss oder Wechselwirkungen von der Einrichtung klinischer Räume beschäftigt, für die Psychiatrie vgl. z.B. (Brücher 2005, Klausner 2015, Ankele 2009) 16 Zur Trennung von Dingen nach Sauberkeit und Schmutz vergleiche die klassische anthropologische Studie der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas. (Douglas 1966)

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können, wie handelsübliche Objekte die Nutzerinnen in der Ergotherapie (in diesem Fall Herrn Leandros) zu Alltag befähigen beziehungsweise darauf hinwirken sollen. Der britische Sozialanthropologe Tim Ingold beschäftigt sich seit langem aus einer Forschungsperspektive aus den Material Culture Studies und der Environmental Anthropology heraus mit dem (humanen) enskilment während des Umgangs mit Objekten. Dabei zieht er vielseitige Beispiele aus der Kunst, Architektur, Archäologie und Anthropologie heran, um sich mit der Verflechtung von materieller agency mit enskilment zu nähern: »Since agency calls for skill, and since skill arises through development, it follows that the process of development is a sine qua non for the exercise of agency. To attribute agency to objects that do not grow or develop that consequently embody no skill and whose movement is not therefore coupled to their perception, is ludicrous.« (Ingold 2008, 215)

Im dem Aufsatz geht es ihm vorrangig um eine Auseinandersetzung mit der Akteur[sic!] -Netzwerk-Theorie. Deren Forderung nach einer symmetrischen Beforschung von »Natürlichem« und »Kultürlichen« beziehungsweise aller menschlichen, tierischen oder dinglichen Akteurinnen (oder Aktantinnen) und ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit bezüglich der materiellen agency für ein Verständnis von Netzwerken jeder Art hält er für lächerlich. Der Netzwerkmetapher hält er den Begriff des Bündels (bundle) oder Geflechts (meshwork) entgegen; letzteres vermutet die Essenz einer Handlung im Spannungsfeld zwischen Körper und Wahrnehmung. Damit legt Ingold den Fokus also auf die Bewegung beziehungsweise Entwicklung, die Handlungsträgerschaft bedinge (Ingold 2008, 212). Der Begriff des Geflechts taucht immer wieder in den Werken Ingolds auf. Bereits in seiner Essaysammlung »The Perception of the Environment« (2000) argumentiert er für ein Umdenken von Herstellungsprozessen als alleinig vom Menschen ausgehenden Prozess. Anstatt dessen plädiert er für die organische und die scharfe Trennlinie von Objekten und Subjekten auflösende Sichtweise des Flechtens (weaving), deren Produkte dann eben als Geflechte oder Flechtwerke zu verstehen seien. Er hebt dabei die notwendige, durch Erfahrung der zielgerichteten Bewegungsabläufe entstehende Qualifizierung (enskilment) der Produzentinnen hervor. (Vgl. Ingold 2000, 342) Am Beispiel des Korbflechtens beschreibt er das Zusammenspiel von sich durch Wiederholung inkorporierenden Bewegungsabläufen und traditionell überlieferter Muster. Die Idee des Korbes müsse in der Korbflechterin bereits vor Beginn des Flechtens existieren, das Produkt würde jedoch erst durch ihre ineinander verwobenen Bewegungen entstehen. (Vgl. Ingold 2000, 343) Die Mühle fordert

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Herrn Leandros die Inkorporation einer steten, regelmäßig getakteten Drehbewegung bei gleichmäßiger Druckausübung sowie des genauen Maßes an Kraftaufwand ab, um den Mahlvorgang einzuleiten und wird so zu einer Art psychomotorischem Trainingsgerät, befähigt Herrn Leandros also in der Handlung zu der Handlung. Nur durch die materielle Beschaffenheit, Form und Funktion der Kaffeemühle sowie der Einübung kontinuierlicher Bewegungsabläufe durch Herrn Leandros entsteht im Zusammenspiel beider gemahlener Kaffee. 17 Während in Ingolds Beispiel auf Traditionen in Formgebung und Musterung als Ausgangspunkt der Handlung verwiesen wird, stößt Herr Zieglers Bitte um Hilfe hier die Interaktion von Herrn Leandros mit der Kaffeemühle an. Ähnlich wie in der Situation aus den Eingangssequenzen, in der er das Ginkgoblatt mit einem, wenn nicht dem bekanntesten Dichter deutscher Sprache verknüpft und so vom Laub in den Stand eines begehrenswerten Objekts erhoben wird, preist der Ergotherapeut die Qualitäten der Kaffeemühle in den höchsten Tönen an und unterstreicht den hohen zugeschriebenen Wert auch in der vorsichtigen Handhabung des Geräts. Während der teilnehmenden Beobachtungen in verschiedenen ergotherapeutischer Feldern hörte ich zahlreiche und vielfältigste Geschichten oder Anekdoten dieser Art: Die jeweiligen Objekte wurden dabei personenunabhängig fast durchgängig als von außergewöhnlich hoher Qualität, als besonders gut in der Handhabung oder als hervorragend geeignet für die jeweilig auszuübende Aktivität beschrieben und dementsprechend behandelt. Die Handhabung der Kaffeemühle von solcher Qualität wäre Herrn Ziegler zufolge selten geworden und das Mahlen mit ihr daher eine Art Privileg. Zugleich ist eine Kaffeemühle kein klassisches Objekt, welches Herr Leandros mit seinem Aufenthalt in der Klinik in Verbindung bringen dürfte (und soll): Die Kaffeemühle steht nicht neben den Bastelmaterialien, sondern in einem verschlossenen Schrank. Zunächst holt Herr Ziegler die Packung mit Kaffeebohnen hervor, deutet so die Notwendigkeit des Mahlens an und bittet Herrn Leandros um Hilfe. Die Kaffeemühle zu bedienen wird in diesem Narrativ zu einer alltäglichen Handlung stilisiert, bei der Nutzerinnen den behandelnden Ergotherapeutinnen behilflich sein könnten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, das nicht therapeutischen, sondern kulinarischen Nutzen besitzt.

17 Ingolds enskilment bezieht sich nicht auf die Nutzung von Maschinen, sondern auf den Herstellungsprozess (insbesondere von Kunsthandwerk). Da aber unter den Händen Herrn Leandros ebenfalls ein Produkt entsteht und ich argumentiere, dass auch die Nutzung einer Kaffeemühle einer Fähigkeit bedarf, halte ich den Begriff enskilment hier ebenfalls für passend.

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Nutzerinnen um Hilfe zu bitten ist ein häufiger ›Kniff‹ ergotherapeutisch Tätiger. Je nach Deutung macht sich Herr Ziegler entweder den pragmatischen Umgang Herrn Leandros’ zunutze, der nur Dinge zu tun wollen scheint, die einen (über eine Therapie hinausgehenden) Nutzen haben. Herr Leandros malt nicht, backt nicht und singt nicht, ist aber gern bereit, bei klassisch männlich besetzten Tätigkeiten mit einem klar ersichtlichen Ziel aktiv zu werden. Oder aber Herr Ziegler verwendet sein Wissen, um Herrn Leandros’ Wunsch, behilflich zu sein nutzbar zu machen, indem er vorgibt, Hilfe beim Mahlen zu brauchen. Auf bisherige Angebote durch Herrn Ziegler oder anderen Mitarbeiterinnen der Station reagierte Herr Leandros bisher stets mit einem höflichen aber bestimmten »Nein«. Er erscheint regelmäßig zur Ergotherapie, verbringt die meiste Zeit jedoch damit, Zeitung zu lesen und redet nur selten. Doch Herr Leandros hilft gern da, wo Not am Mann ist.18 Objekte sind also stets auch als Ausgangspunkt für diese ergotherapeutischen Narrative zu denken: Mit ihnen wird auf mögliche Tätigkeiten hingewiesen und sie ermöglichen durch die Nutzung die Einübung von Bewegungs- und Handlungsabläufen. Was auf den ersten Blick wie eine zufällige Sammlung von Gegenständen zum Zeitvertreib wirkt, birgt auf den zweiten vielfältige, aber mit Bedacht ausgewählte Übungsobjekte, die von (den jeweiligen) Ergotherapeutinnen (für die Mehrheit der Nutzerinnen der jeweiligen Station) als alltagsrelevant erachtet werden. Ohne Herrn Zieglers Überzeugungskraft hätte Herr Leandros die Kaffeemühle wahrscheinlich keines Blickes gewürdigt. Herr Leandros und die Kaffeemühle waren jedoch die gemeinsamen Produzenten des gemahlenen Kaffees. Deshalb wird argumentiert, dass das enskilment durch drei Beteiligte beeinflusst wird: Der Ergotherapeut leitet die Handlung ein und kontextualisiert sie auf, an den Nutzer angepasste, spezifische Art und Weise als alltägliche, privilegierte Handlung. Nur die Bewegungen von Kaffeemühle und Herr Leandros’ sind sicht-

18 Ergotherapeutisches Handeln ist ein regelrechtes Schlachtfeld von Aushandlungen rund ums Thema Genderperformance und Vorstellungen über altersgerechte Objekte: Schlager- statt Technomusik, eine Handmahlgerät statt vollautomatischer Kaffeemaschine. Die durch die Objekte symbolisierten Vorurteile darüber, wie ein altersgerechter Objektumgang auszusehen habe, wurde während der teilnehmenden Beobachtungen gerade von jüngeren Nutzerinnen mehrfach kritisiert. Damit könne sie nichts anfangen, sagt so eine Nutzerin und schaut missmutig die Musikauswahl an. Ob man das Radio anschalten könne um was Frischeres zu hören? Die Entscheidung, ein manuelles Handmahlgerät und kein Smartphone, keine Stricknadel zu verwenden, vermittelt Wertvorstellungen, Vorannahmen und Stereotype über Alter und Geschlecht der Nutzerinnen.

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bar im Mahlprozess, verweben sich in der Ingold’schen Terminologie miteinander. Doch das ergotherapeutische Narrativ ist als Initiationspunkt ebenso Teil dieses Gewebes und so auch des Prozesses des enskilments Herrn Leandros’. In dieser Lesart bedingen sich materielle und humane agency im ein Zusammenspiel von Idee (beziehungsweise Ideengeber), Materialität und Herstellerin stets. In der psychiatrischen Ergotherapie mag besonders gut sichtbar werden, wie Ergotherapeutinnen als Mittelwählende und Prozessbegleiterinnen eine Funktion des Ideengebenden einnehmen, sich in diesem Setting also eine Trias von Handlungsträgerschaften beziehungsweise agencies ergibt und die Verwobenheit in der (ergotherapeutischen) Praxis mehr als eine Akteurin beinhält. Die in der Ergotherapie verwendeten und hergestellten Objekte entfalten dabei eine ko-therapeutische Handlungsträgerschaft. Welche Erkenntnisse hierbei über »Alltag« und »Alltagsfähigkeit« durch den Objektumgang erlangt werden soll, soll anhand der folgenden Sequenz und anschließenden Analyse weiter ausgeführt werden.

6.5 IKONEN ALS EPISTEMISCHE OBJ EKTE »Während der letzten Wochen vor Weihnachten wurden in der Ergotherapie sogenannte ›Ikonen‹ hergestellt, die an einem Stand beim jährlich stattfindenden Wintermarkt auf dem Klinikgelände zum Verkauf19 angeboten werden sollen. Hierfür besorgt Herr Ziegler eine nicht mehr benötigte Holzpalette und zersägt sie mit einer elektrischen Holzsäge in kleine, rechteckige Teile von der Größe einer Zigarettenschachtel. Diese Holzrechtecke sind Ausgangspunkt für eine Abfolge einzelner Arbeitsschritte: Sie müssen glatt geschliffen, danach mit einer dunklen Holzglasur glasiert werden. Als nächstes werden Zeitungsausschnitte und in der Ergotherapie entstandene Zeichnungen auf das Holz geklebt und zum Abschluss wird das Bild durch eine Lasur mit dem Holz erneut auf eine Art und Weise verbunden, die die Illusion eines antiken Ikonenbildes erzeugen soll. Die Bilder werden hierbei von den Nutzerinnen ausgewählt und neben religiösen Abbildungen finden sich auch Naturdarstellungen oder Bildausschnitte von Autos, Flugzeugen, berühmten Persönlichkeiten oder Modefotografien. Die heutige Werkgruppe findet bereits im Januar und damit nach Weihnachten und zugehörigen Markt statt, doch die Ikonenproduktion erfolgt ganzjährig beziehungsweise so lange, wie Nutzerinnen Interesse an ihrer Fertigung äußern. In Vorbereitung auf die Werk-

19 Die Einnahmen fließen in die bessere Ausstattung der Ergotherapie, bei einem Stückpreis von 0,50€ bis 1€ ist der finanzielle Gewinn aber in Bezug zu den tatsächlichen Materialkosten vernachlässigbar.

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gruppe wurden daher zwei ›Produktionsstationen‹ aufgebaut. Ein kleiner Stapel von hölzernen Rechtecken nebst Schleifpapier auf der einen Tischseite, Unterlagen aus alten Zeitungen für das Lackieren der geschliffenen Hölzer auf der anderen. Herr Rosental kommt erst einige Minuten später herein und wird von Herrn Ziegler begrüßt mit den Worten: ›Der Retter der Ikonenbilder kommt herein.‹ Dieser wirkt nicht sehr begeistert, schaut mit ernstem Blick zu Boden und schüttelt leicht den Kopf, lässt sich aber eine Schürze in die Hand geben und bindet sich diese um. […] Da Herr Rosental lieber lasiert, sitzt Frau Bader neben ihm und schleift Holzrechtecken. Eine gute Stunde geht das so, die Holzrechtecken wandern von Hand zu Hand, während um sie herum andere Zeichnungen und gemalte Bilder entstehen oder Zeitungen gelesen werden. Zum Abschluss der Werkgruppe setzt sich Herr Ziegler neben Herrn Rosental und scheint darauf zu warten, dass er, wie die anderen heutigen Nutzerinnen, über seine Tätigkeit sprechen kann, was daran gut oder ›nicht so gut‹ war; und was er gegebenenfalls als Nächstes tun wollen würde. Herr Rosental flucht über die Ikonenbilder, sie gefielen ihm nicht und er verstehe nicht, warum er das machen solle. Herr Ziegler sagt: ›Das ist schwierig für einen so perfekten Menschen wie Sie, dass die Ikonen noch unfertig sind, oder?‹ Herr Rosental senkt den Kopf und sagt leise: ›Ja.‹« [Feldnotiz 08.01.2015]

Der Umwandlung eines unbehandelten Holzstücks zu einem (verkäuflichen) Heiligenbild wird ein therapeutischer Wert in der Alltagsbefähigung Herr Rosentals beigemessen, das heißt vom Umgang mit dem Objekt soll der Nutzer etwas über sich und den »Alltag« lernen. Das ergotherapeutische Objekt »Ikone« könnte daher im Sinne des liechtensteiner Wissenschaftshistorikers Hans-Jörg Rheinberger als epistemisches Ding verstanden werden. (Z.B. Rheinberger 2015, 2001) Epistemische Dinge stünden »im Zentrum des Forschungsprozesses, des Vorgangs wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung« und würden zu einem »Platzhalter des jeweilig noch nicht Gewussten«. (Rheinberger 2015, 147) Rheinberger verdeutlicht in seiner im Jahr 2001 erschienenen Monografie »Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas«20 am Beispiel klassischer naturwissenschaftlicher Forschungspraxis mit einem Fokus auf das Experiment als epistemische Praxis, wie Objekte zunächst als »technische Dinge« zum Wissenserwerb gebaut würden, im weiteren Verlauf diesen Prozess aber auch Erkenntnis konstituierten und darüber hinaus auf bisher Nicht-Gewusstes verweisen würden. (Vgl. Rheinberger 2015,

20 Die englischsprachige Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Toward a History of Epistemic Things« beim Universitätsverlag der Universität Stanford. (Rheinberger 1997)

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147) Episteme könnten daher sowohl ideell im Sinne eines Forschungsgegenstands als auch materiell als Forschungswerkzeuge sein. Das Verhältnis von Gegenständen wissenschaftlichen Wissens und den Werkzeugen ihrer Bearbeitung ist für Rheinberger dabei kein bloß äußerliches und instrumentelles, sondern ein konstitutives. (Vgl. Ebda., 148) Technische und epistemische Objekte bedingen und formen einander über den gesamten Erkenntnisprozess. (Vgl. Rheinberger 2001, 27-28, Hall 2014, 229) Er bezieht sich auf die (Molekular-)Biologie, unterstreicht aber nicht nur deren Materialität, sondern auch die Übertragbarkeit seiner Überlegungen auf alle empirisch ausgerichteten Wissenschaften. Ich gehe noch einen Schritt weiter und bezeichne auch in der Ergotherapie auf die »Alltagsbefähigung« der Nutzerinnen ausgerichtete Objekte als epistemisch in dem Sinn, als dass es sich in der Zielsetzung um eine individuelle, nicht zu Gänze verbalisierbare Befähigung zu einem, wie auch immer gearteten, Alltag handelt, in der Praxis dem ›forschenden Lernen‹ in der Wissenschaft deshalb nicht unähnlich ist. In der »Ikonenwerkstatt« entsteht durch Kombination und Variation »Alltag« als epistemisches Objekt, mit dem die Nutzerinnen diesen neu denken und handeln können sollen. Genauso wenig, wie sich »Alltagsfähigkeit« hierbei durch die bloße Widerlegung oder Bestätigung zuvor gemachter Hypothesen herstellen lässt, kann »Alltag« nie zu Gänze verstanden werden, da sich die soziomaterialen Voraussetzungen wie daraus folgende epistemologische Schlüsse in stetem Wandel befinden. Ergotherapeutische Objekte wie die Ikonen in der Herstellung verweisen nicht nur auf »Alltag« als epistemisches Objekt, sondern erweitern und transformieren seine Bedeutung. Rheinberger legt dar, dass der Forschungsalltag vielmehr von Improvisation und Zufall sowie einem produktiven Umgang mit Nichtwissen als von geplanten und kontrollierten Abläufen geprägt ist. Herr Rosental, der wegen einer depressiven Erkrankung in der Klinik behandelt wird, ist kein Freund der ›Ikonenmalerei‹, die Bearbeitung des Holzes ist für den pensionierten Geschäftsmann eine unliebsame Beschäftigung, der er keinen Nutzen beimisst und dessen Produkt er geringschätzt. Herr Zieglers Frage, ob ihm die Arbeit am Objekt deshalb nicht gefalle, da er ein »perfekter Mensch« sei, der mit Unfertigem nicht umgehen könne, verweist auf eine andere Funktion oder angestrebte Alltagsbefähigung der Objektherstellung in der Ergotherapie. Der Ergotherapeut diagnostiziert Herrn Rosental ein ungesundes Maß an Perfektionismus, die fehlende Fähigkeit, sich in die Kette der einzelnen Arbeitsschritte einzuordnen und deutet den Unmut Herr Rosentals als Schwierigkeit, sich an das Kollektiv der Arbeitsgruppe anzupassen–und nicht als Ablehnung des Produkts oder dessen Herstellung. Das epistemische Objekt der Ikone verweist also neben »Alltag« in seiner Funktion als Trainingsgerät auch auf den aktuellen Gesundheitszustand des

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Nutzers, wird also auch zur Diagnostik eingesetzt, welches ich in den folgenden Abschnitten noch weiter ausführen werde. Dennoch bietet dieser Ausblick der Diagnostikobjekte eine weitere Parallele zu den epistemischen Objekten im Sinne Rheinbergers, verweisen sie doch auf neue Erkenntnisse im Experimentalsystem beziehungsweise der ergotherapeutischen »Alltagsbefähigung«. Insofern in der Ergotherapie die angestrebte angeleitete Selbsterkenntnis Herr Rosental in Richtung eines produktiven, geregelten »Alltags« sowie die Einschätzung der Ergotherapeutinnen um den aktuellen Gesundheitszustand der Nutzerinnen im Vordergrund steht, handelt es sich dabei jedoch um andere Formen des neuen Wissens. Während Rheinberger vorrangig gegen ein Verständnis (natur)wissenschaftlicher Experimente als rationale und kontrollierte Praktiken arbeitet, wirken die Episteme der Ergotherapie innerhalb experimenteller emotionaler und nur bis zu einem gewissen Maße kontrollier- beziehungsweise vorhersehbarer Rahmenbedingungen. Das Experimentalsystem Ergotherapie verweist zusammenfassend durch den ›Versuchsaufbau‹ der Ikonenwerkstatt auf eine spezifische Definition des epistemischen Objekts »Alltag«, und erweitert Erkenntnisse über diesen, weshalb eine Übertragung Rheinbergers Ansatz dennoch sinnvoll erscheint. Der Versuchsaufbau wird als von Arbeitsteilung im Kollektiv, von angestrebter Produktivität und von Verwertbarkeit der Produkte strukturiert dargestellt. Die Nutzerinnen sollen sich in diese Arbeitsteilung einpassen, ihre einzelnen Produktionsschritte sollen so ineinander übergehen, dass zusammengenommen ein Produkt hergestellt wird. Erst, wenn ein Holzstück alle Hände der einzelnen Produzentinnen durchlaufen hat, entsteht ein fertiges Produkt von materiellem (wie spirituellem) 21 Wert. In der Ergotherapie kommen nicht nur viele Nutzerinnen mit den unterschiedlichsten Beschwerden zusammen, die eingesetzten ergotherapeutischen Objekte sind mindestens genauso vielfältig. Wie »Objekt-Arrangements« in den Blick genommen werden, wie ich es in der nächsten Feldnotiz darlegen werde.

21 Diese Feldnotiz ist in einem konfessionsgebundenen Krankenhaus entstanden. Die Produktion von ›Ikonen‹ wäre in anderen, öffentlichen Krankenhaus eher ungewöhnlich. In einer religiösen Institution entstehen auch durch die Materialauswahl sehr unterschiedliche »Alltage«, auf die ich aber aufgrund des Fokus auf Praxis und nicht auf Institutionen an dieser Stelle nicht näher eingehen werde. Es ist zudem sehr symbolträchtig, psychiatrische Nutzerinnen aus einem Abfallprodukt wie einer Holzpalette eine anmutige bis verehrungswürdige Ikone herstellen zu lassen.

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6.6 ERGOTHERAPEUTISCHE REZEPTE ALS OBJ EKT - ARRANGEMENT »In der heutigen, wöchentlich stattfindenden Backgruppe sollen »Schwarz-Weiß Plätzchen« gebacken werden. Dafür liegt nun, kurz vor dem Beginn der heutigen neunzigminütigen Therapieeinheit, eine eigens hierfür angepasste Backanleitung auf dem Tisch, basierend auf einem (kostenlos im Internet aufrufbaren). Rezept aus der ›Versuchsküche‹ eines großen Backmittelherstellers Im Originalrezept befindet sich neben einer Zutatenliste eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Herstellung des ›Knetteigs‹ und deren anschließende Halbierung und Trennung in einen hellen Teig und einen durch Kakao eingefärbten dunklen Teig. Danach sieht die Anleitung eine Entscheidung nach Belieben vor, der zufolge der (helle und dunkle) Teig zu einem Schneckenmuster oder Schachbrettmuster oder zu Talern verarbeitet werden. Diese drei Musterungsvorschläge auf Basis der jeweiligen beiden Teigteile werden im Weiteren bis auf Zentimeterangaben detailliert beschrieben. In der Vorbereitung für die Backgruppe liegt die Anleitung für die Besprechung zwischen dem Ergotherapeuten Herrn Ziegler und seinen beiden derzeitigen Praktikantinnen der Ergotherapie, Frau Bader und Frau Arthur,22 ausgedruckt auf dem großen Gruppentisch. Herr Ziegler erläutert, dass sich ›Schwarz-Weiß-Gebäck‹ für die Backgruppe anböte, da alle das Rezept kennen würden. Außerdem soll eine der ›fitten‹ Patientinnen23 die Verantwortung für das Rezept übernehmen. Dieses solle deshalb noch »rentnergerecht«, also einige Schriftgrößen größer, ausgedruckt werden. Eine der beiden zukünftigen Ergotherapeutinnen schreibt am Computerarbeitsplatz, der sich in einer Ecke des Ergotherapieraums befindet und mit einem eigenen Drucker ausgestattet ist, das Rezept um. Währenddessen kauft die andere Praktikantin fehlende Zutaten in einem nahen gelegenen Supermarkt ein. Die Backanleitung wird im Raum ausgedruckt und kurz bevor die Backgruppe beginnt auf dem großen Gruppentisch in der Mitte des Raumes bereitgelegt. In besonders großer und breiter Schrift werden sowohl die Zutaten aufgelistet als auch die Zubereitung von der Herstellung eines Teiges bis zur Verteilung auf dem Backblech. Sobald der Teig fertig ist, sollen die Backenden ›den Teig halbieren, eine Hälfte mit 30g Kakaopulver, 2 EL Milch und 30g Zucker zu einer Hälfte dazu geben und erneut vermischen. Beide Teigsorten zu länglichen Schlangen formen.‹ Im Anschluss sieht das Rezept vor, dass die ›Rollen‹ aufeinandergelegt werden um sie danach ›in das Tiefkühlfach für 22 Frau Bader und Frau Arthur† sind als Schülerpraktikantinnen für einen vier- bis sechswöchigen Zeitraum an vier Tagen in der Woche auf der Station und befinden sich im 2. beziehungsweise 3. Lehrjahr ihrer Ausbildung an einer staatlichen Schule für Ergotherapie (Stand 11/2014). 23 Hier spricht er nur von den weiblichen Patientinnen. Er verwendet das generische Maskulinum nur dann nicht, wenn es um Tätigkeiten rund um Küche und Haushalt geht.

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10min‹ zu legen, um sie abkühlen zu lassen. Diese sollen danach in kleine Schieben geschnitten und die so entstandenen ›Plätzchenrohlinge‹ auf dem Backblech verteilt werden, um sie in den Ofen zu schieben und zu backen. Während der Backgruppe übernehmen zwei Nutzerinnen die Verantwortung der Backanleitung und teilen den anderen Nutzerinnen Aufgaben zur Herstellung der beiden Teige zu. Das Rezept wird während des gesamten Verlaufs immer wieder von den beiden zu Rate gezogen, jeder Arbeitsschritt vorgelesen und mit dem Papierbogen in der Hand darüber beraten, wer diesen übernehmen soll. Dabei verlassen Nutzerinnen nach oder während sie rühren, kneten oder rollen den Raum. Die begonnene Tätigkeit wird von neu Hinzugekommenen übernommen, bis sich nach der Hälfte der Zeit nur noch die beiden Rezeptverantwortlichen und drei zeitungslesende Patienten im Raum befinden und sie die Backbleche mit den beiden Praktikantinnen befüllen.« [Feldnotiz 19.11.2014]

Ein aus dem Internet heruntergeladenes Backrezept wird von den Behandelnden aufgrund seines vermeintlich allgemeinen Bekanntheitsgrades ausgewählt. Auf Basis dieses Rezepts tippen die Ergotherapiepraktikantinnen eine größere und vereinfachte, »rentnergerechte« Version auf dem im Ergotherapieraum befindlichen PC ab und drucken diese am dortigen Drucker aus. Die Schrift ist dadurch für die Nutzerinnen zu entziffern und die einzelnen Arbeitsschritte leichter nachzuverfolgen sowie zu koordinieren. In der Einweisung Herrn Zieglers verdeutlicht er den therapeutischen Nutzen der Verantwortung, die die Nutzerinnen mit der Koordination der Backgruppe übernehmen, welche zugleich als Anhaltspunkt dafür dienen soll, wie »fit« Nutzerinnen sind. Die ›fitness‹ bezieht sich hierbei auf die Fähigkeit zur praktischen Umsetzung der Backanleitung und die soziale Verständigung untereinander, um gemeinsam ein Produkt herzustellen. Die Anpassung des Rezepts verwandelt es in ein vielschichtiges Therapieobjekt, das im Rahmen der Backgruppe sowohl ko-therapeutische als auch ko-diagnostische Funktionen einnehmen kann und vermeintlich alleinig zur Beschäftigung oder der Herstellung dienendes Plätzchenbacken entscheidend mitbestimmt. Das Rezept erfüllt hierbei nicht nur den Sinn, die Backenden in die Lage versetzen, die richtigen Mengenangaben zu vermischen oder die am darauffolgenden Tag stattfindende Stations-Kaffeerunde mit Schwarz-Weiß-Gebäck zu erfreuen. Aus ergotherapeutischer Sicht wird dem Erfolgserlebnis, ein Produkt herzustellen, bereits eine therapeutische Wirkung beigemessen. Darüber hinaus befähigt es die Nutzerinnen ohne größeres ergotherapeutisches Zutun zum Gruppenbacken und trägt so zur Ermöglichung der Koordination maßgeblich bei. Beide Koordinatorinnen reichen sich das Rezept im Verlauf immer wieder gegenseitig zu, halten sich an Blatt wie Anweisungen fest und wirken so selbst koordinierend.

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Das für die Ergotherapie vereinfachte Rezept hat darüber hinaus zahlreiche Auswirkungen auf die soziale Interaktion der Nutzerinnen über das Backen und sowie den gesamten Herstellungsprozess des Produkts. In gewisser Hinsicht ›backt‹ das Rezept also sehr aktiv mit an sozialer wie materialen Voraussetzungen zum erfolgreichen Abschluss der Kochgruppe. Deshalb lässt sich das Backrezept meines Erachtens als device-Arrangement im Sinne der britischen Soziologinnen John Law und Evelyn Ruppert verstehen. Diese plädieren in ihrem Artikel »The Social Life of Methods: Devices« (2013) für eine Sicht auf devices als materiell und sozial zugleich. Sie verwenden hierbei eine weit gefasste Definition von devices als angewandte Methoden, Verfahren oder Abläufe als auch technischer Geräte; »[D]evices assemble and arrange the world in specific social and material patterns.« (Law und Ruppert 2013, 230) Während alle devices, in ihrem Beispiel der britische Zensus sowie das Atomkraftwerk Fukushima, teleologisch – also zielgerichtet – agierten, prägten die meisten device-Arrangements (also eine Sammlung mehrerer, ineinander verzahnter devices) implizite bis unintendierte Produkte mindestens genauso wie die ursprünglich angestrebten. Arrangements würden sich durch ihre Heterogenität und Multiplizität, Inkohärenz und Inkonsistenz auszeichnen (Law und Ruppert 2013, 231233) Während das Backrezept also durchaus auch als epistemisches Objekt gelten möge, erscheint hier die sowohl materiale sowie soziale Koordinationsfunktion im Vordergrund zu stehen. Das Backrezept vereinfacht den Prozess des Backens, macht ihn rentner- beziehungsweise nutzerinnengerecht. Die ergotherapeutische Anleitung kann so größtenteils entfallen, was dafür sorgt, dass die Einschätzung der kognitiven wie sozialen Fähigkeiten der Nutzerinnen noch stärker in den Fokus rückt und rücken kann als generell in allen ergotherapeutischen Einheiten. Diese Einschätzung beziehungsweise stetige Diagnosetätigkeit ist ein zentraler Bestandteil ergotherapeutischen Wirkens und hat maßgeblichen Anteil an der Arbeit des gesamten multiprofessionellen Teams. Nach jeder Ergotherapieeinheit verfassen sie eine individuelle Kurzdiagnostik für alle Teilnehmerinnen, welche im Anschluss für alle Mitarbeiterinnen der Station einsehbar ist und in den wöchentlichen Teambesprechungen als Grundlage für die weitere stationäre Behandlung dient. Die ko-diagnostischen Aspekte des Backrezepts liegen daher vornehmlich in der Ermöglichung der Behandelnden, die Koordination Gruppenprozess sowohl weitgehend auf die Nutzerinnen zu übertragen als auch ihre Interaktionen in diesem zu beobachten und für ihre Kolleginnen in Nutzerinnenakte festzuhalten. Im Folgenden soll diesen Nutzerinnenakten und ihren Arrangements näher nachgegangen werden.

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6.7 VON DER ZWIEBEL ZUR KURVE – PRACTICE-MATERIAL ARRANGEMENTS 24 »Pat nimmt an den Therapien teil. Beim Kochen ist er so sehr in Gedanken gefangen, dass es ihm nicht möglich ist, eine Handlung von Anfang bis Ende durchzuführen. Er wirkt sehr gedrückt.« [Patientenakte Herr Adler, 10.05.2013]

Das vorangestellte Zitat ist der Eintrag des Ergotherapeuten Herrn Lichter in die sogenannte »Kurve« des bereits seit mehreren Monaten auf der Station behandelten Nutzers Herr Adler bezüglich einer zuvor stattgefundenen Backgruppe, auf deren Verlauf ich im Folgenden ausführlicher eingehen werde. Im sogenannten ›Stützpunkt‹ (ausführlicher s.u.) befinden sich vier große Plastikordner, in denen sich jeweils einzeln abgeheftete und nach Zimmern sortierte »Kurven« abgeheftet sind. In dieser sogenannten Kurve, den Patientenakten, befinden sich Kontaktinformationen der Nutzerinnen und deren Angehörigen, sämtliche Befunde über medizinische Untersuchungen wie Blutuntersuchungen und EKGs 25, alle einzunehmenden Medikamente nebst Dosis und notwendigen Therapien, die aktuelle(n) Diagnose(n) sowie täglich aktualisierte Kommentare und Einschätzungen der Mitarbeiterinnen über die jeweiligen Nutzerinnen. Während sich der Begriff »Kurve« vermutlich auf die Diagramme zur Visualisierung von regelmäßig ermittelten Körperfunktionen bezieht, sind alle Mitarbeiterinnen des multiprofessionellen Teams in der Psychiatrie dazu angehalten, sämtliche Informationen zu den jeweiligen Nutzerinnen, die für den weiteren Behandlungsverlauf als sinnvoll erachtet werden, in diesen Dossiers zu dokumentieren und zu sammeln. Während des stationären Aufenthalts werden die Kurven zweimal wöchentlich während der Teambesprechungen diskutiert und bei Bedarf von den Eintragenden mündlich oder schriftlich ergänzt und als Grundlage für zukünftige Behandlungsschritte verwendet. Während sich die Mitarbeiterinnen aus der Pflege sowie die Ärztinnen auf

24 Teile des folgenden Abschnitts wurden bereits in einem Artikel verwendet. (Mewes, Elliot, und Lee 2017) 25 Das Elektrokardiogramm (EKG) dient zur Aufzeichnung der Summe der elektrischen Aktivitäten aller Herzmuskelfasern.

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Einträge zu medizinischen Daten sowie dem emotionalen Zustand der Nutzerinnen26 fokussiert, dokumentiert der behandelnde Ergotherapeut Herr Lichter nach jeder Ergotherapie in kurzen Sätzen, ob die Nutzerinnen während seines Rundgangs durch die Zimmer zur Teilnahme »motiviert« werden konnten oder »verweigerten«. Über die teilnehmenden Nutzerinnen schreibt er eine Kurzeinschätzung von zwei bis drei Sätzen. Diese enthält Angaben zur Länge und Konstanz der Teilnahme, der sozialen Interaktion mit Mit-Nutzerinnen und des Umgangs mit den durchzuführenden Handlungen in der Ergotherapie. So wird die Quintessenz ergotherapeutischer Zielvorgaben auf knappe Weise skizziert: Soziale und emotionale Stabilisierung durch »bedeutungsvolle Tätigkeiten«. In den Teambesprechungen sind die Kurven Ausgangspunkt für die gemeinsame Einschätzung des psychischen Gesundheitszustands der Nutzerinnen. »Am Tag zuvor wurde in der Teambesprechung über Herrn Adler gesprochen. Eine Krankenschwester fragt, was er eigentlich habe. Der Oberarzt blickt in die Akte, schüttelt den Kopf und sagt: ›Ich weiß es nicht. Ich weiß auch langsam nicht mehr, wie wir ihm helfen können. Vielleicht sollten wir überlegen, ihn in einer anderen Psychiatrie oder einem Pflegeheim unterzubringen, von unserem Angebot scheint er nicht zu profitieren.‹27 Auch Herr Lichter stöhnt, während er den Akteneintrag vornimmt und konstatiert: ›Ohne Worte‹, in Richtung des dabeistehenden Krankenpflegers. Dieser pflichtet ihm bei: ›Was will man da noch schreiben?!‹ Zeitgleich steht Herr Adler auf der anderen Seite der Glaswand und beobachtet das Geschehen mit starrem Blick und ernsten Gesichtsausdruck, wird aber von den beiden Männern weitestgehend ignoriert, indem sie Blickkontakt meiden beziehungsweise ihm den Rücken zukehren. Ich sitze neben Herrn Lichter und blicke zwischen den drei Männern umher. Als der Ergotherapeut ansetzt zu schreiben, klopft Herr Adler an die Glaswand. Herr Lichter bleibt mit dem Blick auf der Kurve und beendet den Eintrag, während Herr Adler an die Tür des Stützpunktes geht und erneut klopft. Der Pfleger öffnet ihm die Tür und er fragt, was hier denn aufgeschrieben werde. Der Ergotherapeut bittet ihn herein und erklärt: ›Wir schreiben nicht positiv oder negativ, sondern nur, wie es

26 Wofür es im Stützpunkt eine Liste mit Formulierungsvorschlägen für die psychische Verfassung gibt. 27 Herr Adler† verbringt bereits mehrere Monate auf der Station. Einige Wochen nach der besagten Teambesprechung und einem gescheiterten Versuch, ihn in eine andere Einrichtung zu überweisen, begeht er Suizid.

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Ihnen geht. Ich kann Ihnen auch sagen, was wir geschrieben haben.‹ Dann liest er die Passage in der Kurve wortgetreu vor. Herr Adler nickt kurz und verlässt daraufhin den Stützpunkt.«28 [Feldnotiz 10.05.2013]

Die Kurve ist in vielerlei Hinsicht ein eigenartiges oder aus der Art geschlagenes ergotherapeutisches Objekt. Es wird nicht von den Nutzerinnen hergestellt und hat daher nur mittelbar Einfluss auf deren angestrebte »Alltagsbefähigung«. Als zentrales Kommunikationswerkzeug zwischen den Behandelnden und als Sammlung der täglichen Einschätzungen ist diese Mittelbarkeit jedoch maßgeblich an deren Zusammenarbeit und zur Diagnoseerstellung während und zum Abschluss der stationären Aufenthalte der Nutzerinnen beteiligt. Als Grundlage der Verhandlungen beeinflusst sie so die weiteren Behandlungsschritte. Zunächst einmal möchte ich darlegen, wie Herr Lichter zu diesem Kurveneintrag gekommen ist: »Herr Lichter betritt mit dem Rezept für die heutige Kochgruppe wedelnd den großen, hellgelb gestrichenen Aufenthaltsraum, in dem sich eine große Kochinsel befindet, in der die wöchentlichen Back- und Kochgruppen stattfinden. In der anderen Hand hält er mehrere Messer, die nur für die Kochgruppe genutzt werden und sonst für die Nutzerinnen unzugänglich in den Personalräumen aufbewahrt werden. Frau Elser, die sich in der gestrigen Vorbesprechung die Herstellung eines Gulascheintopfes gewünscht hatte, wird von Herrn Lichter zur Rezeptbeauftragten ernannt. Er drückt ihr das von ihm zuvor in einer Onlinerezeptdatenbank recherchierte und in seinem Büro ausgedruckte Rezept in die Hand. Nach und nach liest sie die Zutaten vor, während Herr Lichter die acht anwesenden Nutzerinnen mit den beschriebenen Arbeitsschritten betraut. Die Nutzerinnen verteilen sich mit ihren Materialien auf die Tische oder beginnen, an der Kochinsel stehend, zu schälen oder zu schneiden. Zu Herrn Adler, der zuvor von Herrn Lichter im Flur der Station auf den Beginn der Kochgruppe aufmerksam gemacht wurde und nun neben den anderen Nutzerinnen um die Kochinsel herumsteht, sagt er: ›Herr Adler, die Zwiebeln sind jetzt Ihre Aufgabe.‹ Frau Elser stellt ein Schneidebrett vor Herrn Adler auf den Tisch und gibt ihm ein Messer in die Hand. Ein Netz voller Zwiebeln liegt bereits in einem großen Korb vor ihm. Er legt seinen Handballen mit dem Messer in der Hand auf dem Schneidebrett ab und schaut über Minuten hinweg unbewegt die Zwiebeln an, wirft einen Blick zu den anderen Gruppenteilnehmerinnen, doch niemand erwidert diesen. Er dreht sich um und verlässt den Raum. Herr

28 Diese Form des Eingreifens in die Dokumentationspraktiken der Behandelnden kommt nur selten vor und wird an dieser Stelle vorrangig angebracht, um einen kleinen Einblick in die Problematik dieser Dokumentationspraktiken zu geben: Aus Nutzerinnensicht ist keine Transparenz über den Inhalt ihrer Kurven gewährleistet.

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Lichter folgt ihm nach einem Moment und taucht etwa eine Minute später wieder mit Herrn Adler auf. Frau Rammerts Karotten sind bereits geschält, sie nimmt das Messer vom Schneidebrett Herrn Adlers und greift zum Netz, in dem sich die Zwiebeln befinden. Herr Lichter greift ein: ›Nein, die Zwiebeln sind Herrn Adlers Aufgabe.‹ An Herrn Adler gerichtet ergänzt er ruhig aber bestimmt: ›Sie haben etwas angefangen, das machen Sie jetzt auch zu Ende!‹ Herr Adler steht also wieder vor dem Korb voller Zwiebeln und dem auf dem Brett abgelegten Messer. Als Herr Lichter der Situation gerade seinen Rücken zukehrt und mit anderen Nutzerinnen spricht, holt Frau Rammert eine Zwiebel aus dem Netz und legt sie auf das Schneidebrett. Herr Adler beobachtet das, starrt danach aber weiterhin unbewegt die einzelne Zwiebel an. Nach einigen Minuten dreht er sich erneut um und verlässt den Raum, dieses Mal in deutlich hastigerem Schritt. Doch Herr Lichter scheint darauf geachtet zu haben und geht mit schnellen Schritten hinterher. Dieses Mal führt Herr Lichter Herrn Adler am Arm zurück in den Raum, der sich nur widerwillig führen lässt und ihm stumm seinen Arm mit einem Ruck entzieht, sobald sie vor der Kochinsel angekommen sind. Herr Lichter drückt dem Patienten zunächst die Zwiebel, danach das Messer in die Hand und sagt knapp: ›Schneiden.‹ Herr Adler fängt an die Zwiebel zu häuten und schneidet in langsamen Bewegungen und – an seinem Gesicht deutlich erkennbarer – Unlust an ihr herum. Kurz darauf versucht er erneut zu gehen, der Ergotherapeut dünstet gerade Paprikaschoten an. Ohne einen Blick in seine Richtung zu werfen, ruft er ihm hinterher: ›Herr Adler, die Zwiebeln!‹ Doch dieser ist bereits auf dem Stationsflur verschwunden.« [Feldnotiz 10.05.2013]

Die Kochgruppe als Teil der psychiatrischen Ergotherapie kann in diesem Kontext als Beispiel für ein »practice-material arrangement« nach dem US-amerikanischen Sozialtheoretiker Theodore Schatzki verstanden werden. Hiermit meint der Autor die Art und Weise, wie Praktiken und Materialität einander derart disponieren, bedingen, dass sie als das grundlegende Arrangement (fast) jeder sozialen Situation gedacht werden müssen, da »practices are carried on amid and determinative of, while also dependent on and altered by, material arrangements.« (Schatzki 2010, 130). Soziale Phänomene werden in dieser Forschungsperspektive als ineinander verwobener Nexus menschlicher Praktiken und materialer Arrangements verstanden, in der Materialität als ein Teil von Sozialität verstanden wird (Schatzki 2010, 123). Mit materialen Arrangements sind bei Schatzki Verbindungen miteinander verbundener verdinglichter Einheiten gemeint, die Praktiken erst ermöglichten. So wird jegliche menschliche Existenz von materialen Arrangements abhängig, die Schatzki als »Sites of the Social« beschreibt (Schatzki 2010, 130). Diese gegenseitige Konstituierung von Praktiken in und mit Materialität ist in Institutionen

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wie der stationären Psychiatrie, in der ein (oft unfreiwilliger) Aufenthalt mit starken zeitlichen und räumlichen Restriktionen für die Nutzerinnen verbunden ist, von beträchtlicher Bedeutung.29 Elektrische Türen bestimmen über Ein- und Ausgang, der Stationsalltag ist eng getaktet durch therapeutische und medizinische Behandlungseinheiten, regelmäßige Mahlzeiten und einzuhaltende Schlaf- beziehungsweise Ruhezeiten. Für Herrn Adler öffnen sich die elektronischen Türen nicht. Auch darüber hinaus sind seine Aufenthalte sehr stark reglementiert, es ist genau definiert, wo er sich zu welchem Zeitpunkt aufhalten kann und soll. Er und die anderen Nutzerinnen sind dazu angehalten, jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit aufzustehen, ihr Frühstück im dafür vorgesehenen Aufenthaltsraum einzunehmen und an allen in ihrem Therapieplan für sie anstehenden Therapieangeboten30 teilzunehmen. Auch das Mittagessen wird dort verzehrt. Den Rest des Tages soll Herr Adler möglichst im großen Aufenthaltsraum verbringen, sich spätestens einige Stunden nach dem erneut gemeinsam einzunehmenden Abendessen aber in sein Zimmer begeben, um zu schlafen oder sich zumindest ruhig zu verhalten. Obwohl es also ein zentrales Ziel psychiatrisch-ergotherapeutischer Bemühungen ist, die Nutzerinnen zu einem autonomen »Alltag« zu befähigen, ist der vorgelebte Klinikalltag außerordentlich restriktiv. Zwei ›Objektarrangements‹ der psychiatrischen Station grenzen sie von den anderen Stationen der Klinik ab. Während der Großteil der Station diesbezüglich nicht von anderen Abteilungen zu unterscheiden ist31 – abgesehen selbstverständlich von den bereits sehr oft in den Blick genommenen elektrischen Türen – stellen sowohl der sogenannte »Stützpunkt« als auch der Aufenthaltsraum Alleinstellungsmerkmale dar. Der »Stützpunkt«, andernorts auch als »Kanzel« oder »Empfang« bezeichnet, ist ein zu beiden Seiten des Flurs verglaster Raum. Tagsüber ist fast durchgängig

29 Diese zeitlich-räumlichen Restriktionen werden spätestens seit den ersten großen Ethnografien in psychiatrischen Anstalten und vor allem in der Sozialpsychiatrie selbst sehr breit diskutiert. (Basaglia et al. 1975, Goffman 1961) 30 Jede Nutzerin erhält zu Beginn des Klinikaufenthalts einen individuellen Therapieplan, der unter Absprache von den Ärztinnen erstellt wird. 31 Die ebenfalls in den von mir beforschten Kliniken nur in Psychiatrie und Psychosomatik befindliche Ergotherapie ist nicht direkt auf der Station sondern befindet sich hinter der ersten Sicherheitstür in einem, von der zweiten elektronischen Tür abgeschirmten Bereich. Für neurologische Nutzerinnen findet die ergotherapeutische Behandlung in ihren Zimmern statt.

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mindestens eine Pflegekraft im Stützpunkt zu sehen. Auf dem großen Schreibtisch, der in Richtung des Flures zeigt und von dem man, mit Unterstützung eines strategisch angebrachten Spiegels, sowohl den Eingangsbereich als auch in den Aufenthaltsraum sehen kann, liegen die Patientenkurven. Neben der für den Stationsablauf so zentralen Dokumentation werden von diesem Schreibtisch aus die elektrischen Türen per Knopf geöffnet, werden am Computer Materialien, Medikamente und Mahlzeiten für die Nutzerinnen bestellt, steht das Stationstelefon und liegen die Dienstpläne der Mitarbeiterinnen aus. Die Bezeichnung »Stützpunkt« im Sinne eines zentralen Ausgangs- und Versorgungspunktes ist sehr treffend. Obwohl es sich um einen zentralen Koordinationsort der Station handelt, ist er für die Nutzerinnen in der Regel nicht betretbar. In der Glaswand zwischen Behandelnden und Behandelten manifestieren sich stärker als anderswo die Hierarchien zwischen beiden Statusgruppen, die Bezeichnung als »Stützpunkt« verweist auf einen Ort, den es sonst vor allem beim Militär gibt. Jede Station hat einen solchen Stützpunkt, nur hier ist dieser Bereich jedoch vollverglast und werden von dort aus die Türen kontrolliert, was mir von Herrn Lichter mit der Notwendigkeit erklärt wird, sich regelmäßig vor gewalttätigen Nutzerinnen in Sicherheit bringen zu müssen. Der Stützpunkt wird in der Regel ausschließlich von Mitarbeiterinnen betreten, die beiden Glastüren lassen sich nur mit einem Schlüssel öffnen und der Aufenthalts- und Teambesprechungsraum der Mitarbeiterinnen sowie der Medikamentenaufbewahrungsraum sind nur hierüber zugänglich. Die Nutzerinnen begeben sich zur Medikamentenausgabe und bei der Suche nach einer Mitarbeiterin an eine der beiden Türen des Stützpunkts. Der Tagesraum liegt auf der anderen Seite des Flurs und ist ebenfalls an dieser Seite verglast, das heißt, alles, was sich dort zuträgt, steht unter nahezu konstanter Beobachtung aus dem Stützpunkt. Während der Stützpunkt vom Flur aus gesehen wie eine unzugängliche Trutzburg wirken mag – ein Eindruck, der durch das Material Glas noch verstärkt wird – stellt der Tagesraum in gewisser Hinsicht den Gegenentwurf hierzu dar. In ihm befinden sich rund ein Dutzend Tische aus hellem Holz mit jeweils vier passenden Stühlen, an den Wänden hängen, vermutlich in der Ergotherapie hergestellte, Gemälde und Bastelarbeiten sowie eine große Korkplatte, an der sich für die Station betreffende Neuigkeiten, die Nutzerinnendienstpläne32 und von der Pflege als interessant empfundene Zeitungsartikel und Programmhinweise befinden. Gelbe Vorhänge und mehrere Topfpflanzen machen den Raum gemütlich. Solch einen

32 Jede Nutzerin ist dazu angehalten, sich regelmäßig zu einem »Dienst« zu verpflichten, wie der Mithilfe beim Saubermachen nach den Mahlzeiten, der Essensausgabe oder dem Blumengießen.

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einladenden Raum sucht man in den anderen medizinischen Fachabteilungen (mit Ausnahme der Pädiatrie) vergebens. In der Mitte des Raumes befindet sich eine große Kücheninsel, die auf den ersten Blick so wirkt, als ob sie in einen Privathaushalt gehören würde. Patientinnen anderer Stationen sollen sich nicht »wie Zuhause« fühlen, eine Vorbereitung auf die Routinetätigkeiten von »Alltag« ist nicht Teil der therapeutischen Zielvorgaben. Die Kücheninsel verweist auf die normalisierten und routinisierten Praktiken des poststationären Alltags, fungiert also als eine Art ›Bühne‹ auf der »Alltag« simuliert werden soll, um so auf den ›richtigen‹ Alltag vorbereitet zu werden. (Brücher 2005, Townsend 1998) Ergotherapie findet also nicht in beliebigen, sondern in eigens auf außerklinische Alltage verweisenden Räumen statt. Im Rahmen der ergotherapeutischen Behandlung soll durch Arrangements wie der Koch- oder Backgruppe die Fähigkeit, den außerklinischen Alltag wieder zu ›können‹, erlangt werden, indem sie diesen in gewisser Weise nachbilden. Die Kücheninsel hält alle notwendigen Utensilien einer Küche bereit, mit Ausnahme scharfer Gegenstände wie Messer oder Reiben. Auch dies wird mit Sicherheitsbedenken durch den Ergotherapeuten erklärt. Messer als wohl wichtigste Werkzeuge der Nahrungsmittelverarbeitung sind nur während der wöchentlich stattfindenden Kochgruppe Teil des materialen Arrangements der Kücheninsel. Obwohl die Kücheninsel der Küche eines Privathaushalts also sehr ähnlich sieht, ist sie abgesehen von rund zwei Stunden in der Woche in ihrer Funktion als Küche ohne Nutzen. Herr Adler wird an diesem Tag gebeten, Zwiebel zu schneiden, und erhält hierfür ein mehr oder weniger scharfes Obstmesser. Aufgrund des Risikos der Selbst- oder Fremdgefährdung werden die Messer (und andere scharfe Küchengeräte) über den Rest der Woche im Stützpunkt verwahrt. Vor und nach jeder Kochgruppe zählt Herr Lichter die Messer. Die Nutzerinnen witzeln regelmäßig darüber, dass ihnen der Umgang mit Messern nicht zuzutrauen sei. Einige Mitarbeiterinnen äußerten bezüglich der Messerausgabe Bedenken und sahen ihre Sicherheit sowie die Sicherheit der Nutzerinnen in Gefahr. Wegen dieser Restriktionen kann der Umgang mit Messern als eine Form des Privilegs angesehen werden, als ein Zeichen des Vertrauens des Ergotherapeuten in die Nutzerinnen. Obwohl es sich bei den Messern um ungewöhnlich stumpfe und kleine Exemplare handelt, tragen sie im Arrangement der Kochgruppe dazu bei, den sonst von vielfältigen Sicherheitsbedenken geprägten Umgang zwischen Nutzerinnen und Ergotherapeuten zu normalisieren. Das Zwiebelschneiden wird hier als kollektive soziale Aktivität gedacht und soll Herrn Adler und die anderen Nutzerinnen dazu befähigen, diese Alltagshandlung künftig in ähnlichen außerstationären Arrangements zu wiederholen. Ähnlich wie in der Ikonenwerkstatt oder der Backgruppe soll in mehreren Arbeitsschritten

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ein gemeinsames Produkt entstehen. Herr Lichter scheint sehr bedacht darauf zu sein, dass Herr Adler die ihm zugedachte Tätigkeit zu einem erfolgreichen Abschluss bringt. Obwohl der Nutzer mehrfach versucht, sich der Situation zu entziehen, holt ihn Herr Lichter immer wieder zurück und bietet ihm dann auch keine andere Tätigkeit an, sondern besteht darauf, dass er das Zwiebelschneiden beendet. Der Nutzer entzieht sich zunächst erneut, taucht aber am kommenden Tag wieder in der Ergotherapie auf. Aufgrund der spezifischen Art der teilnehmenden Beobachtung und der deutlich engeren Zusammenarbeit mit den jeweiligen Behandelnden als den Behandelten kann ich über die Perspektive Herrn Adlers nur Vermutungen anstellen. Er wird unter anderem wegen eines starken Waschzwangs behandelt, was die Verarbeitung von Lebensmitteln erschwert. Zudem fällt es ihm generell sehr schwer, sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren, sodass er in anderen Situationen oft mehrere Projekte zugleich beginnt und nur selten eins davon beendet. Im Umgang mit anderen Nutzerinnen ist er scheu, aber sucht dennoch die Nähe zu anderen. Aus der Perspektive des Ergotherapeuten Herrn Lichter war es für Herrn Adler wichtig, sich von seinen quälenden Selbstvorwürfen abzulenken: »Weil ich wollte halt irgendwie versuchen, ihn so ein Stück weit auf andere Gedanken zu bringen, was nicht so ganz fruchtbar geklappt hat. […] Und das war, in dem Moment war er so in Gedanken und so mit seinem – inneren Wahn da beschäftigt, dass da kein Platz mehr für persönliches Feedback war. […] Und er hat gar keine Möglichkeit gehabt, irgendwie, auf die Zwiebeln aufzupassen, weil er es gar nicht so lange ausgehalten hat, dann dabei zu sein. Und dann raus musste.« [Reflexionsgespräch Herr Lichter, 10.05.2013]

Dennoch wird Herr Adlers Objektumgang zum Auslöser für die Einschätzung des Ergotherapeuten in der Kurve, dass es ihm unmöglich sei, eine Handlung abzuschließen. Das Objekt wird hierbei allerdings ausgespart. Für den Oberarzt wie das Pflegepersonal ist es irrelevant, dass Herr Adler keine Zwiebeln geschnitten hat oder sich nicht mit dem Ausmalen eines Mandalas beschäftigte. Allenfalls bei stark abweichendem Umgang mit einem Objekt (Nutzerin isst Stift) oder einem ungewöhnlich starken persönlichen Bezug zu diesem (Nutzerin hat Angst vor Pinseln) finden diese Eingang in die Akte. Objekt-Subjekt-Interaktionen werden hier in eine Sprache übersetzt, die alleinig Handlungs- und Subjekt-Subjekt-Interaktionen ausführen, der Durchführung eines wie auch immer gearteten Werks sowie der sozialen Interaktion zu Mit-Nutzerinnen wie Behandelnden. Ein besonderer Fokus liegt beim ergotherapeutischen Blick hingegen auf der Beziehungsgestaltung der Nutzerinnen untereinander, ein

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Aspekt, der zwischen Nutzerinnen und Ergotherapeutinnen nur selten zur Sprache kommt, sondern der Einschätzung letzterer obliegt. Die Kurve wird durch diese Verkürzung und Übertragung der Objekt-SubjektInteraktionen der Nutzerinnen in eine für das multiprofessionelle Team relevante Sprache zum zentralen Diagnostikobjekt.33 Dieser Abschnitt soll erstens die enge Verzahnung von kurzen und auf den ersten Blick banalen Tätigkeiten (wie dem Zwiebelschneiden) mit längeren Arbeiten an und mit Objekten darstellen, die von deutlich mehr Akteurinnen erbracht werden. Diese Verzahnung verweist zweitens darauf, dass sich ein Blick auf die vielzählig ineinandergreifenden und sich gegenseitig bedingenden Objektarrangements lohnt, um psychiatrisch-ergotherapeutische Praktiken der Alltagsbefähigung besser zu verstehen. Ich habe bereits die grundsätzlich dreifache Objektnutzung der Ergotherapie skizziert, in denen Objekte beziehungsweise deren Umgang mit diesen zur Befunderhebung verwendet werden. Zudem werden sie oder die Beschäftigung mit diesen sowohl als Therapiemittel oder -werkzeug als auch als Therapieziel verstanden werden. (Betätigung als Mittel und Ziel vgl. 46 & Objekte als Mittel und Ziel vgl. 30) In der Kochgruppe soll durch Betätigung und Objekteinsatz ein Mittagessen entstehen, die Nutzerinnen hierbei beispielsweise von ihren Sorgen abgelenkt werden, die notwendige Konzentration oder Ausdauer hierfür zurückgewinnen und generell zur Zubereitung eines Gerichts (wieder-)befähigt werden. Diese Fähigkeiten sollen eine in der außerklinischen Zukunft beherrschte »Alltagsfähigkeit« ermöglichen. Neben diesen beiden Betätigungsfunktionen in Gegenwart und Zukunft sowie dem Anteil der Objekte als Mittel und Ziel (d.h. das erwartete Produkt), dient die Kochgruppe – spezifischer das Zwiebelschneiden – auch der Inszenierung, um den Ergotherapeutinnen dazu zu verhelfen, den aktuellen Gesundheitszustand der Nutzerinnen einzuschätzen. Die Zwiebel wird so doppelt epistemisch im Sinne Rheinbergers: die Nutzerinnen sollen etwas über »Alltag« lernen, während die Ergotherapeutinnen die Nutzerinnen und deren aktuelle Beschwerden besser einschätzen können. Während die meisten anderen Berufsgruppen in der Psychiatrie ihre Therapie auf die Angaben der Nutzerinnen stützen müssen, erfolgt diese Einschätzung nur selten

33 Hervorzuheben ist, dass sich in der Kurve kein narrative reasoning (Mattingly 1998b) wiederfindet, das möglichst größere Lebenszusammenhänge der Nutzerinnen berücksichtigt. Ein solcher Einbezug größerer Lebenskontexte gilt dabei als der Ergotherapie im besonderen Maße zugeschriebenes Attribut. Allenfalls in den Teambesprechungen wurden entsprechende Argumente gelegentlich ausgetauscht.

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in Absprache mit den Nutzerinnen, sondern durch Beobachtung ihres Objektumgangs. Beispielsweise bezieht sich die Angabe zum Schweregrad einer depressiven Verstimmung für die Psychotherapeutinnen fast ausschließlich auf die Einschätzung der Betroffenen basieren; dagegen beruht ergotherapeutisches Diagnostizieren auf der kontinuierlichen Beobachtung der Nutzerinnen im Umgang mit Objekten und Personen über den gesamten Verlauf der Ergotherapieeinheit. Die Praxis der Kochgruppe beinhaltet daher mindestens drei Logiken zugleich. Diese Vielfalt erscheint einerseits banal: viele Alltagshandlungen verfolgen mehr als ein Ziel und haben mehr als eine Sinnebene. Dennoch wurde dies bisher von Praxistheoretikerinnen nur selten in den Blick genommen. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass die erst in ihrem konkreten enactment erfolgende Determination oder ›Identität‹ von Objekten eine gewisse diesbezügliche Eindeutigkeit einfordert, wenn sie zugleich als lokal gebunden, interrelational und stets temporär verstanden werden soll. (Mol 2002, 41) Unter anderen ist es die niederländische Sozial- und Praxisphilosophin Annemarie Mol, die für eine Perspektive auf die Fluidität von Objekten argumentiert: Die Zwiebel kann in dieser Sichtweise zu einem Zeitpunkt eine Zutat und zu einem anderen ein Therapiewerkzeug oder ein Diagnostikobjekt sein. Diese Objektdimensionen sind durch Handlungen miteinander verbunden, aber niemals ist die Zwiebel alles zum gleichen Zeitpunkt. (Vgl. 96f.) Ich argumentiere allerdings für fluide Objekte und die Gleichzeitigkeit ihrer Multiplizität. Ich will hierbei die Mehrdeutigkeit unterstreichen, nicht nur über einen zeitlichen Verlauf hinweg, sondern zur gleichen Zeit: Die Zwiebel wird in einem Arrangement wie der Kochgruppe zugleich zum Bestandteil eines Kochrezepts als auch ergotherapeutischen Therapie- und Diagnoseobjekt und verweist damit auf die Komplexität einer vornehmlich so simplen und banalen Praxis wie dem Zwiebelschneiden.

6.8 MATERIALITÄT – ZWISCHENERGEBNISSE UND ZUSAMMENFASSUNG Das vorliegende Kapitel ist zunächst als Versuch zu lesen, Materialität und sich hierdurch konstituierende Praktiken der Alltagsbefähigung ernst zu nehmen und mitzudenken. Obwohl die ergotherapeutische Mittelwahl nach wie vor Teil der ergotherapeutischen Ausbildung ist, gibt es bislang nur wenige Erkenntnisse über die konkrete Interaktion von Mittel und Nutzerin in der Praxis. Obwohl die Beforschung von Objekten seit jeher elementarer Bestandteil volkskundlicher beziehungsweise europäisch ethnologischer Forschungsansätze ist, hat erst im Rahmen neuerer Ansätze wie den Material Culture Studies ein Paradigmenwechsel in

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Richtung einer Perspektive stattgefunden, die Objekte in ihrer materialen Beschaffenheit, ihrer konkreten Optik, Haptik, Farbe, Beschaffenheit, Größe, ihrem Geruch, etc. ernstnimmt. Ergotherapeutische Objekterstellung, verstanden als Tanz von menschlicher mit materieller Handlungsträgerschaft, legt den Blick für die enge Verbindung oder gar Trias zwischen Nutzerin, Ergotherapeut und Objekt frei. Die Herstellung von Objekten wie die eines Handschmeichlers fordern von den Produzentinnen einen sehr spezifischen Objektumgang ein: Dazu gehören sowohl Geduld und Präzision sowie ein gewisses Maß an Feinmotorik. Daneben werden im Herstellungsprozess noch weitere, für »Privatalltage« relevantere Handlungsabläufe oder »Alltagsfähigkeiten« offenbar. also jene Schwierigkeiten oder Herausforderungen, die die Nutzerinnen unabhängig von der jeweiligen Tätigkeit in ihrem »Alltag« einschränken. Das Objekt wird so zu einem Indiz etwa für Probleme, eine Handlung von Anfang bis Ende durchzuführen oder d weil nicht das »richtige« Maß an Perfektionismus oder Konzentration dabei eingesetzt wird. Die ergotherapeutische Intervention und Handlungsträgerschaft besteht hierbei vorrangig in der Anleitung zur Selbstreflexion und Korrektur von durch psychiatrische Erkrankungen ›verschobenen‹ Wahrnehmungen. Der ergotherapeutische Tanz vollzieht sich daher im Gegensatz zu dem von Malafouris beschriebenem nicht zwischen zwei Tanzpartnern, vielmehr sind drei Parteien beteiligt. Der Tanz beinhaltet immer eine Form des enskilments, wie es von Ingold beschrieben wurde: Während Objekt (in der Herstellung) und Nutzerin aufeinander einwirken, sodass aus dem Objekt ein anderes entsteht und die Nutzerin im besten Fall sowohl ein neues Handwerk als auch die Möglichkeit der Übertragung auf andere Handlungen beiträgt, ist die Ergotherapeutin konzipierend, begleitend und anleitend, im weitesten Sinne also choreografierend involviert.34 Die zweite Handlungsträgerschaft ergotherapeutischer Objekte als auf »Alltag« verweisend (und nicht nur implizit auf die hierfür fehlenden Fähigkeiten) lassen sich mit dem Konzept des epistemischen Objekts nach Rheinberger fassen. Durch stetige Kombination, Improvisation und Variation im Umgang mit epistemischen Objekten entsteht in der psychiatrischen Ergotherapie eine Form von »Alltag«. So sollen die Nutzerinnen Alltag neu denken lernen und in ihm handeln können. Der Alltag befindet sich erstens jedoch wie die soziomateriellen Arrangements inner- und außerhalb der Klinik in stetem Wandel. Zweitens haben die

34 Im zweiten Beispiel wurde der Selbstreflexion weniger Raum eingeräumt, was mit der spezifischen und weit fortgeschrittenen dementiellen Erkrankung Herr Leandros’ zu begründen ist

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Objekte durch die Mitwirkung an »Alltag« zudem konstituierenden Charakter, erweitern und transformieren seine Bedeutung. In ihrer Funktion als Indikator für die implizierten Vorstellungen von »Alltag« verweisen die Objekte und der Umgang mit ihnen einen erstaunlich starken Fokus auf die soziale Interaktion der Nutzerinnen untereinander und einem Verständnis von »Alltag« als kollektive Produktionsstätte. Die Nutzerinnen sollen sich möglichst kooperativ und konstruktiv in diese Arbeitsteilung einpassen, ihre einzelnen Produktionsschritte sollen so ineinander übergehen, dass ein kollektives Produkt hergestellt wird. Als zentral erachte ich zudem die spezifischen Objektarrangements der stationären Psychiatrie. Der Stützpunkt und der Aufenthaltsraum könnten als Handlung konstituierende Arrangements gegensätzlicher nicht sein und sind in dieser Form in der Klinik auch (fast) nur im Fachbereich der Psychiatrie zu finden. Den Stützpunkt interpretiere ich hierbei als eine Architektur der konstanten Beobachtung und Kontrolle. Von ihm aus wird entschieden, wer die Station betreten oder verlassen darf35, werden alle Gebrauchsgüter bestellt und Medikamente verteilt. Obwohl es ein anderes Design hat, liegen Assoziationen zu Orten der Überwachung wie denen eines Gefängnisses nicht so fern, wie sie es in einer modernen vielleicht Sozialpsychiatrie sein sollten. Im Stützpunkt verdinglicht sich die »Überklinik« als konstant auf Distinktion und Observation angewiesenes psychiatrisches Regime. Der Aufenthaltstraum mit seiner warmen Farbgebung weckt Assoziationen mit dem »Zuhause« und ist somit als dezidiert nicht-klinischer Ort eine Art Gegenentwurf zum Stützpunkt. Während klinische Räume sonst vor allem weiß, steril und minimalistischfunktionell sind, ist der Aufenthaltsraum bunt und lädt mit seinen vielen Sitzgelegenheiten zum Verweilen ein. Er verweist damit auf eine spezifisch- psychiatrische therapeutische Zielvorgabe, denn der Aufenthaltsraum ist nicht weniger funktionsorientiert als andere Klinikarrangements, insofern er der Simulation eines autonomen und nach den individuellen Bedürfnissen ausgerichteten (Privat)Alltags dient. Die krasse Gegensätzlichkeit zwischen Stützpunkt und Aufenthaltsraum als maximal klinischer beziehungsweise nicht-klinischer Ort ist erstaunlich – zugleich bedingen diese Eigenschaften einander aber auch. Die ergotherapeutische Praxis ist zudem durch die enge Verwobenheit unterschiedlichster Objekte geprägt, deren soziomaterielle Praktiken ineinandergreifen und aufeinander aufbauen, und die sowohl im zeitlichen Verlauf wie in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche enactments oder Arrangements darstellen. Die Tatsache,

35 Die Mitarbeiterinnen haben einen Schlüssel, genaugenommen wird also über den Einund Ausgang der Nutzerinnen sowie externer Personen entschieden.

Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 167

dass mehrere Arrangements in die ergotherapeutische Praxis involviert sind, unterstreicht die Multiplizität ergotherapeutischer soziomaterieller Arrangements.

7. Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung«

»Herr Rosental beschäftigt sich während der heutigen Ergotherapie mit der Fertigstellung einer Malvorlage. Er sticht aus der Gruppe der Patientinnen durch seine stets qualitativ hochwertige Kleidung – ein gebügeltes Hemd nebst passender Anzughose – sowie seine distinguierte Sprache heraus. Vor seiner Pensionierung war er Geschäftsführer einer Bank. Dies ist sein erster Krankenhausaufenthalt in einer psychiatrischen Station, er ist bereits seit mehreren Wochen auf der Station ohne dass sich sein Zustand bisher deutlich verbessert hat. In der Abschlussrunde setzt sich Frau Bader, eine der Ergotherapiepraktikantinnen, auf den Nachbarstuhl und fragt ihn leise: ›Wie geht es Ihnen jetzt, Herr Rosental?‹ Dieser senkt seinen Blick auf das ausgemalte Bild vor ihm und murmelt: ›Das ist doch albern hier, das Ausmalen.‹ Ich sitze ihm gegenüber und er schaut mich dabei an, ich bemühe mich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck, stimme ihm aber insgeheim zu. 1 ›Das Zeichnen soll Ihre Konzentration fördern. Und das ist eines der Ziele, die wir mit Ihnen vereinbart haben‹, erwidert Frau Bader. Herr Rosental nickt kurz und sagt dann: ›Ja. Aber ich kann doch eh nichts mehr.‹ Frau Bader antwortet: ›Genau wegen dieses Gefühls arbeiten wir hier ja daran, dass Sie das wieder üben können. Ihre Depressionen halten Sie davon ab. Daran arbeiten wir hier.‹ Das Gespräch verläuft im Sande und einige Minuten später endet

1

Mir drängte sich die Frage auf, warum keine Tätigkeit gefunden wurde, die seinen Fähigkeiten mehr entspricht und diese fördert, anstatt eine für ihn sinnlose Tätigkeit ausüben zu müssen. Mit der vom Ergotherapeuten getroffenen Materialauswahl wird ein Bild vom Alltag älterer Nutzerinnen gezeichnet, in dem ihre Produktivität nur noch darin zu bestehen scheint, möglichst kostengünstig und leise beschäftigt zu sein, ohne jedoch zwingend sinnvoll oder sinngebend sein zu müssen.

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die Therapieeinheit und die Patientinnen gehen in den Raum auf der anderen Seite des Flurs, in dem bereits die Ausgabe des Mittagessens begonnen hat.«2 [Feldnotiz 12.12.2014]

Im folgenden Kapitel werde ich versuchen, die enge Verknüpfung zwischen »Alltagsbefähigungspraktiken« und der Zielsetzung »Produktivität« in der psychiatrischen Ergotherapie nachzuzeichnen. Die Sequenz stammt aus der Malgruppe einer gerontopsychiatrischen Ergotherapie und ist dem folgenden Kapitel zur Produktivität als ergotherapeutische Zielvorgabe vorangestellt, da es die grundsätzliche Problematik dieses »Performanzbereiches« aufzeigt. Wie ich es in der Skizze zur Entwicklung der Ergotherapie in Deutschland sowie dem nachfolgenden Kapitel zur methodisch-theoretischen Perspektive der vorliegenden Arbeit verdeutlicht habe, ist »Produktivität« eine der drei zentralen Kategorien der Ergotherapie. Allerdings wird Produktivität hierbei als Umgang mit beziehungsweise Herstellung eines Produkts3 definiert und nicht ausschließlich oder gar vorrangig im marktwirtschaftlichen Sinne einer ökonomischen Wertsteigerung im Rahmen von Erwerbsarbeit. Die Sequenz verweist auf die Frage, welche Art der Produktivität dann gemeint ist und von wem diese im ergotherapeutischen Prozess als solche bestimmt wird und welche Alltagsvorstellungen hierbei deutlich werden. Zunächst werde ich einen kurzen Überblick über die Diskussion über die Verbindung zwischen ergotherapeutischer Produktivität und Leistungsanforderung geben. Danach werde ich den Carepraxisbegriff der niederländischen Sozialphilosophin Annemarie Mol einführen und dabei argumentieren, dass sich die Ergotherapie weder als klassische Care- noch Curepraxis definieren lässt, sondern in Methoden und Zielen quer zu diesen steht. Im darauffolgenden Abschnitt setze ich mich mit dem Begriff der »Alltagsbefähigung« auseinander, in der ich ergotherapeutisches tinkering anhand von empirischen Daten näher zu beleuchten versuche.

2

Der folgende Eintrag in die Patientenakte Herrn Rosentals liest sich wie eine Erfolgsgeschichte und verdeutlicht den großen Unterschied in der Wahrnehmung der Situation durch die dokumentierende Ergotherapeutin Frau Bader und den Nutzer (sowie der Ethnologin): »Herr R. äußerte Bedenken bei der Zielsetzung für kommende Woche. Er spricht seine depressive Verstimmung an. Erneute Transparenzmachung der Therapieziele lassen ihn die Therapieinhalte für kommende Woche besser annehmen.« [Patientenakte Herr Rosental, 12.12.2014]

3

Allerdings sind die in der Ergotherapie hergestellten Produkte meines Erachtens in den meisten Fällen vorrangig Nebenprodukte des therapeutischen Prozesses, die darüber hinaus (nach dem Abschluss ihrer Herstellung) zumeist einige Monate in einem Regal verstauben, bevor sie von den Ergotherapeutinnen entsorgt werden.

Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 171

In der Zusammenfassung sollen die Kernpunkte ergotherapeutischen tinkerings erneut aufgegriffen und in Bezug zur »Alltagsbefähigung« gesetzt werden.

7.1 PRODUKTIVITÄT UND LEISTUNGSANFORDERUNG »Occupation refers to groups of activities and tasks of everyday life, named, organized, and given value and meaning by individuals and a culture. Occupation is everything people do to occupy themselves, including looking after themselves (self-care), enjoying life (leisure), and contributing to the social and economic fabric of their communities (productivity).« (Townsend und CAOT 1997, 34)

Wie es der kanadische Berufsverband der Ergotherapie mit einer neueren Definition von Betätigung hervorhebt, gelten die drei zentralen »Performanzbereiche« »Selbstversorgung«4, »Freizeit« und »Produktivität« in der Ergotherapie als alle Alltagsbetätigungen hinreichend bezeichnend beziehungsweise umfassend. »Hinter dieser Ordnung steht [laut Marotzki] die Annahme, dass sowohl ein individuell ausgeglichenes Verhältnis zwischen Betätigungen der verschiedenen Bereiche als auch Routinen und Gewohnheiten für den Menschen unverzichtbar seien und eine gesundheitsförderliche Wirkung haben.« (Marotzki 2004, 78)

Produktive Betätigungen sind in der Ergotherapie sowohl Mittel beziehungsweise Therapiewerkzeug als auch Therapieziel und werden als bedeutungsvoller Aspekt des »Alltags« verstanden. Die kanadische Forscherin für Occupational Science Karen Hammell betont den positiven Beitrag von Erwerbsarbeit für den Selbstwert, Selbsterfüllung und Stolz sowie die finanzielle Sicherheit. Dennoch sei eine fair bezahlte, bedeutungsvolle und sinnvolle Tätigkeit eher ein Distinktionsmerkmal der Elite als breiten Bevölkerungsschichten zugänglich. (Vgl. Hammell 2009a, 8) Die verbreitete Annahme, dass sich Produktivität beziehungsweise Betätigung, Gesundheit und Wohlbefinden gegenseitig bedingen, sei zudem nicht

4

»Self Care« kann sowohl mit Selbstsorge als auch Selbstversorgung übersetzt werden. In der Ergotherapie ist »Selbstversorgung« gebräuchlicher. (DVE 2003 zit. n. Miesen 2004, 157 zit. n. Marotzki 2004, 45)

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hinreichend belegt; aus der Perspektive der kritischen Disability Studies sei der hiermit verbundene Maßstab an ein produktives Selbst eher schädlich. (Hammell 2009a, 11) Betätigungen sind in Hammells Sicht daher in der Tat stets bedeutungsvoll, allerdings könnten sie auch für Langeweile, Erniedrigung oder Frustration stehen. (Vgl. Hammell 2009a, 8-9) Zudem seien Betätigungen nicht neutral, sondern würden stets als Verhandlungsorte um Macht genutzt werden. (Vgl. auch Löfgren 2015, 50f; 325, Highmore 2011, Pink 2012) Insbesondere der Begriff »Produktivität« ist laut den nordamerikanischen Juristinnen Dianne Pothier und Richard Devlin (2006) ausnahmslos ableistisch.5 (Devlin und Pothier 2006, 18) Behinderungen (wie chronische Erkrankungen) würden hierbei als »Schicksalsschlag« oder »Unglück« konzeptualisiert, eine fehlende Adaption an gesellschaftliche Körper- oder Geistesnormen als unvereinbar mit dem Status als Bürgerin oder gar Person, diese würden mitunter als Bürde für die Gesellschaft wahrgenommen werden. (Vgl. Devlin und Pothier 2006, 2, McWade 2015, 252) Diejenigen, die nicht im klassischen Sinn und/oder Maß produktiv sind, gelten als dem vollen Bürgerinnenstatus nicht (mehr) würdig. (Vgl. Devlin und Pothier 2006, 17) Hinzu kommt, dass die Verantwortung über das Maß an Lebensqualität und die hiermit verbundene Gesundheit in neoliberalen Gesellschaften auf die Betroffenen selbst übertragen werde. (Z.B. Rose 2000, 16) Die Betroffenen sind dazu angehalten »to enter into the process of his or her own self-governance through processes of endless self-examination, self-care and self-improvement«. (Petersen 1997, 194, zit. n., McWade 2015, 252) Wie es die norwegische STS-Forscherin Ingunn Moser herausarbeitet, ist dieser Versuch der (vollständigen und kontinuierlichen) Adaption an den Normalzustand allerdings zum Scheitern verurteilt, denn körperlich (und seelisch) »[d]isabled people will always be constituted in contrast to the norm.« (Moser 2000, 236) Insbesondere aus den Disability Studies mehrt sich daher die Kritik an der ableistischen Zielvorgabe »Produktivität«, da sie nicht von allen Nutzerinnen gleichermaßen erreicht werden kann und der dahingehend aussichtslose Versuch sogar schädlich für die Selbst- und Fremdwahrnehmung als autonome und aktive Bürgerinnen sei.

5

Ableismus vgl.26

Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 173

7.2 LOGIKEN DES SORGENS – LOGIC OF CARE Die niederländische Medizinanthropologin und Praxisphilosophin Annemarie Mol argumentiert in ihrer Monografie »The Logic of Care – Health and the Problem of Patient Choice« für ein neues, praxisbasiertes Verständnis des Sorgens (»care«). (2008) Hierfür löst sich die Autorin zunächst von der im wissenschaftlichen Diskurs oft vorgenommenen Unterteilung von »care«6 und »cure«. Care, sowohl im Sinne entgegengebrachter Empathie oder Fürsorge als auch des Sorgetragens beziehungsweise Versorgens, wird mit Tätigkeiten wie Waschen, Füttern oder Wund- sowie generell der körperlichen Grundversorgung assoziiert. Cure wird hingegen mit der Möglichkeit der Heilung verbunden und als Eingriff in den Krankheitsverlauf verstanden.7 (De Valck et al. 2001) Eine wichtige Unterscheidung stellt die Zeitlichkeit von Care- und Curepraktiken dar; während Curepraktiken meist einmalige oder punktuelle Interventionen darstellen, grenzen sich Carepraktiken hiervon durch ihre Kontinuität ab. Die in den USA beziehungsweise Israel lehrenden Professorinnen für Ergotherapie und Occupational Science Dalia Sachs und Deborah R. Labovitz kommen zu dem Schluss, dass die Konzepte von »care« und »cure« gegensätzlich zueinander stünden. Während cure der Handlungsraum der Medizin und somit ein nach wie vor von Männern dominiertem Berufsfeld wäre, würde care mit allen anderen, meist von Frauen ausgeübten pflegerischen Berufen in der Klinik assoziiert. Während Curepraktiken mit einem hohen sozialen Status verbunden würden, wäre der Wert, dem Carepraktiken beigemessen würde, vergleichsweise gering. (Vgl. Sachs und Labovitz 1994, 998) Einige Forscherinnen gehen sogar einen Schritt

6

Die nordamerikanischen Politikwissenschaftlerinnen Berenice Fisher und Joan Tronto legen in ihrem Kapitel »Toward a Feminist Theory of Caring« eine allgemeine und seitdem vielzitierte Definition zu care vor. Care sei für sie eine spezifische Aktivität, die alles beinhalte, was zur Instandhaltung, Fortsetzung und Reparatur ›unserer Welt‹ beitrage. (Fisher und Tronto 1990) Hierbei versuchten wir, ergänzen Maria Puig de la Bellacasa und Joanna Latimer aus der Soziologie, unsere Körper, unser Selbst und unsere Umwelt zu einem komplexen und lebenserhaltenen Netz zusammenzuflechten. (Latimer und Puig de la Bellacasa 2013, 40)

7

Der US-amerikanische Medizinanthropologe Matthew Wolf-Meyer unterscheidet hingegen zwischen cure und remedy: »First, cures offer one-time resolution of symptoms; with the benefit of a cure, medical treatment is no longer needed. For example, many acute illnesses, like bacterial infections, can be cured with antibiotics. remedies, in contrast, offer temporary, situational relief of symptoms; they are often most apparent in the domain of medical concerns labeled as disabilities.« (Wolf-Meyer 2014, 146)

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weiter und sprechen von einer Wahrnehmung von Carepraktiken als eine Art Verlängerung von in Privathaushalten zu großen Teilen von Frauen ausgeübter Pflege und weniger als reguläre Erwerbsarbeit, wodurch care die Expertise eines Berufsfeld entzogen werde. (Vgl. Jones et al. 1998, 62, Latimer 2014, 540, Abel und Nelson 1990) Bezogen auf den kurativen Charakter ließe sich Mol zufolge die Unterscheidung von care und cure allerdings nicht aufrechterhalten. So stelle die Versorgung einer Wunde einen wichtigen Schritt zu deren Heilung dar, wäre also zugleich cure und care. Noch weniger sinnvoll ist diese Unterteilung bei chronischen Krankheitsverläufen, in der das Behandlungsziel nicht die Genesung, sondern eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenszufriedenheit darstellt. (Mol 2008, 19, Gordon 2003)8 Diese Unterteilung zwischen Care- und Curepraktiken wäre zudem mit einem praxisorientierten Blick nicht sinnvoll, vermischen sich beide Praktiken sowohl situativ wie auch unabhängig von den jeweiligen Professionen. Ergotherapeutische Interventionen lassen sich durch diese klassische Zweiteilung in Care- und Curepraktiken dementsprechend nur unzureichend beschreiben und analysieren. Am Beispiel der für die Ergotherapie so zentralen »Produktivität« werde ich darlegen, dass die ergotherapeutische Behandlung der Befähigung zur autonomen Alltagsgestaltung der Nutzerinnen dient, die allerdings sehr unterschiedlich zu erreichen versucht wird.

7.3 LOG IC OF CARE VERSUS LOGIC OF CHOICE In ihrer, auf ethnografischer Forschung zu den Praktiken von Patientinnen, Kranken- und Gesundheitspflegerinnen und Ärztinnen eines niederländischen Versorgungszentrums für Diabetes basierenden Studie arbeitet Mol die Spezifik der logic of care durch einen Vergleich mit der logic of choice heraus. Die stark an der marktwirtschaftlichen Maxime der ›freien‹ Entscheidung ausgerichtete logic of choice konzeptualisiert ›gute Versorgung‹ als die Möglichkeit für Patientinnen, als Konsumentinnen zu agieren und sich unabhängig und individuell für das geeignetste Versorgungsprodukt zu entscheiden.

8

Bereits 1860 widersprach Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Krankenpflege, der Wahrnehmung der Medizin als nicht kurativ, allerdings mit einer anderen Begründung: »It is often thought that medicine is the curative process. It is no such thing; … nature alone cures. … And what [true] nursing has to do … is to put the patient in the best condition for nature to act upon him.« (Nightingale 1860)

Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 175

Das Ideal der unbedingten Wahlfreiheit wäre allerdings, so argumentiert Mol, nur in Situationen sinnvoll, in denen Menschen in der Lage seien, unabhängige und sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Patientinnen in einem Koma könnten ihre Entscheidungen beispielsweise nicht frei treffen und/oder äußern. Ähnliches dürfte zumindest in einigen Fällen und zeitweise für Menschen in akuten psychiatrischen Krisen gelten.9 Obwohl es sich hierbei auch in der Klinik um Ausnahmesituationen handelt und dies keine Begründung sein sollte, Patientinnen ihre Entscheidungsfähigkeit gänzlich abzusprechen, scheint weniger die möglichst autonome Wahl als vielmehr der Sorgebedarf und das Ausmaß der erteilten Fürsorge relevant. (Vgl. Mol 2008, 6) Die logic of care konstruiert die Patientinnen zudem als aktive Subjekte und zentrale Mitgestalterinnen ihrer Gesundheit. (Vgl. Mol 2008, 18) »The active patient that the logic of care tries to make of us is a flexible, resilient actor who, by caring, strives after as much health as her disease allows. What the results of the joint activities of a care team turn out to be is uncertain. Diseases are unpredictable. The art of care, therefore, is to act without seeking to control. To persist while letting go.« (Mol 2008, 28)

Mol verweist hierbei auf die Prozesshaftigkeit und Verteilung des Sorgens. Zunächst würde es sich, im Gegensatz zur logic of choice, nicht um eine klar zeitlich begrenzte oder preislich zu taxierende Dienstleistung handeln, sondern um einen interaktiven Prozess. (Vgl. Mol 2008, 18) »Gutes Sorgen« zeichnete sich daher durch eine gelassene, anhaltende aber nachsichtige Bemühung um eine Verbesserung oder zumindest den Erhalt der Situation der Patientinnen aus. (Mol 2008, 20) Sorgen würde Raum für das Nicht-(Mehr)-Mögliche machen und die Zerbrechlichkeit beziehungsweise Vulnerabilität der Patientinnen als Teil ihres Lebens ernst nehmen. Sorgende würden ihre Patientinnen zudem im Gegensatz zu Profit orientierten Unternehmen nicht verlassen, wenn sich keine Besserung einstelle. (Vgl. Mol 2008, 22) »Within the logic of care, by contrast, people who seek help are called ›patients‹ for good reasons: they suffer. Patients have a disease that they did not choose to have. But this does

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Obwohl insbesondere Vertreterinnen der Sozialpsychiatrie autonome Entscheidungen als menschliche Grundfähigkeit konzeptualisieren und deshalb fordern, die Patientinnen zu jedem Zeitpunkt aktiv in die Entscheidungen über ihre Behandlung miteinzubeziehen und shared decision making seit einigen Jahren eine vielfach diskutierte Zielvorgabe der Psychiatrie generell ist .(Dörner, Plog, und Teller 2002, Slade 2017)

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not imply that the logic of care makes patients passive. Instead, care activities move between doctors, nurses, machines, drugs, needles and so on, while patients have to do a lot as well. They have to eat and drink, inject, measure and/or engage in exercise. They care.« (Mol 2008, 28)

In Carepraktiken sind Patientinnen aktive Mitgestalterinnen im Prozess ihrer Behandlung. Patientinnen als Kundinnen einer Dienstleistung zu definieren, bildet die Gesundheitsversorgung nur unzureichend ab und untergräbt laut Mol das für Patientinnen zentrale Bedürfnis nach Fürsorge. Insbesondere in ländlichen Regionen gibt es zudem häufig keine Alternative zur Standardversorgung und/oder ist mit enormen, nicht von den gesetzlichen Krankenkassen gedeckten Kosten verbunden, eine Wahl ist also nicht oder nur unzureichend gegeben. Die notwendige Fürsorge jedoch mit Passivität gleichzusetzen sei jedoch fehlleitend, Versorgung käme nie ohne die aktive Mitgestaltung der Behandelten sowie ein nachsichtiges aber kontinuierliches Austesten des (noch) Möglichen aus. Gemeinsam mit Ingunn Moser und Jeannette Pols führt Annemarie Mol diesen Gedanken in einem Sammelband zu »Care in Practice – On Tinkering in Clinics, Homes and Farms« (2010) weiter aus. Sie heben hervor, dass Sorgen stets von Patientinnen und Behandelnden zugleich ausgeführte Praktiken seien. (Vgl. Mol, Moser, und Pols 2010, 9) Beide arbeiteten kleinteilig und improvisierend am gleichen Ziel, was die Autorinnen als tinkering bezeichnen. Aus dieser praxisorientierten Perspektive sollten die Nutzerinnen des Gesundheitssystems keine Subjekte, sondern aktiv Handelnde ihres Heilungsprozesses sein, der in der Ergotherapie im besonders hohem Maß forciert werden sollte um möglichst früh auf einen autonomen Alltag in der außerstationären Zukunft hinzuarbeiten. In meinen empirischen Daten wird diese Idealvorstellung der stets selbstbestimmten und aktiven Nutzerinnen nicht immer umgesetzt, welches, wie ich es versuchen werde darzulegen, allerdings auch in Zusammenhang mit der Spezifik ergotherapeutischpsychiatrischer Zielvorgaben steht.10 Kann beispielswiese von einer Nutzerin, die sich momentan aufgrund einer akuten Psychose oder schweren depressiven Erkrankung auf der Station behandeln lässt, erwartet werden, sich jederzeit in die Behandlung einzubringen und sämtliche Entscheidungen mitzutragen oder ist diese Forderung von aktiver Mit-

10 Dies ist kein spezifisch ergotherapeutisches Phänomen, die anderen Berufsgruppen sind in der stationären Psychiatrie mit der Problematik des Abwägens zwischen möglichst bester Versorgung und dem Wunsch, die Patientinnen in alle Entscheidungen zu inkludieren, konfrontiert. Vgl. Fußnote oben.

Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« | 177

gestaltung »um jeden Preis« nicht kontraproduktiv? Im Folgenden werde ich argumentieren, warum ich ergotherapeutische Interventionen mit dem Ziel der »Alltagsbefähigung« und möglichst autonomer Alltagsgestaltung dennoch als Form des tinkering auffasse. Voranstellen möchte ich allerdings einen kurzen Abschnitt über ergotherapeutisches Sorgen als Stimulus zur Selbstsorge.

7.4 ERGOTHERAPEUTISCHES SORGEN 7.4.1 Wahlmöglichkeiten und ergotherapeutisches Sorgen »›Sie waren noch gar nicht in der Ergotherapie?‹, fragt Herr Lichter den neuen Patienten Herrn Mann, der mitten im Raum steht und etwas verloren auf mich wirkt. Als der Nutzer mit einem leichten Kopfschütteln verneint, bietet ihm der Ergotherapeut mit einer Armbewegung einen Stuhl am großen, in der Mitte der Werkstatt platzierten Arbeitstisch an und erklärt: ›Das ist hier eine Zeit für Sie. Hier können Sie vielleicht auf andere Gedanken kommen. Es geht darum, dass man etwas findet, was einem Spaß macht und was man dann gegebenenfalls auch weiterverfolgen kann. Außerdem hat man ja ein Erfolgserlebnis, wenn man etwas geschaffen oder sich künstlerisch betätigt hat.‹ Herr Mann schaut sich den Inhalt der drei großen Materialschränke an, während Herr Lichter hinzufügt: ›Sie können die Zeit für sich gestalten, ob Sie etwas mit anderen tun wollen oder lieber etwas für sich selbst machen wollen, ist Ihnen überlassen. Alles ist in Ordnung.‹« [Feldnotiz 13.05.2013]

Die Eingangsszene entspricht einem Ablauf, wie ich ihn viele Male in ähnlicher Form in der ersten Behandlungseinheit der jeweiligen Nutzerin in allen beobachteten Ergotherapien mitverfolgen konnte. Die Ergotherapie wird hierbei von den behandelnden Ergotherapeutinnen als ein Raum der Möglichkeiten und größtmöglicher Autonomie konzeptualisiert, im dem zu Betätigung motiviert und befähigt werden soll, die im Anschluss an die klinische Behandlung in die privaten Alltage überführt werden soll. Der behandelnde Ergotherapeut stellt die Ergotherapie hier im Sinne von Annemarie Mols logic of choice als erstrebenswertes, individuell zugeschnittenes Produkt für die Nutzerinnen vor. In der Erklärung, was in der Ergotherapie erreicht werden soll, rückt Herr Lichter die Ablenkung von Sorgen und Unterhaltung durch eine Betätigung in den Vordergrund. Weniger relevant scheint für den Behandelnden zu sein, um welche konkrete Betätigung oder welches hergestellte Produkt es sich handelt, »alles ist erlaubt«, die Wahl läge bei Herrn Mann.

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Diese Konzeptualisierung der Ergotherapie als Raum der Wahlfreiheit ist weit verbreitet, entspricht aber bei einer Vielzahl der Nutzerinnen nicht meinen Beobachtungen. Zunächst einmal ermöglicht die ergotherapeutische Werkstatt räumlich und materiell zwar viele, aber dennoch begrenzte Möglichkeiten der Auswahl zwischen Bastel- oder Werkarbeiten. Würde Herr Mann Bratsche spielen, Zigaretten rauchen oder im Internet recherchieren wollen, stünden ihm weder Musikinstrument, Rauchwaren noch Computer zur Verfügung und es entspräche zudem nicht der Zielvorgabe einer Herstellung eines materiell erfahrbaren Produkts. Zudem werden die meisten Nutzerinnen gerade zu Beginn ihres Klinikaufenthalts in Richtung einer bestimmten Betätigung motiviert beziehungsweise gelenkt. Die Wahlfreiheit wird also nicht in dem Maße umgesetzt, wie es von Herrn Lichter suggeriert wird, vieles oder gar alles mag »in Ordnung« sein, möglich ist es allerdings nicht. In der Beschreibung zum Nutzen der Ergotherapie vereint der Ergotherapeut produkto- wie aktozentrische Ansätze (vgl. 49f.), sowohl die ablenkende, kreative und unterhaltende Tätigkeit als auch das erwartete Erfolgserlebnis des Nutzers bei Fertigstellung des Produkts werden vom ihm hervorgehoben. Ob Herr Mann mit anderen Nutzerinnen zusammenarbeiten möchte oder lieber alleine tätig ist, ist ihm überlassen. Diese Zielvorgabe unterscheidet sich entscheidend von der sonst so stark auf die Nutzerinnen als soziale Akteurinnen zentrierten Psychiatrie. (Vgl. Klausner 2015). Im Zentrum steht die Beschäftigung mit einer Tätigkeit, die ein wie auch immer geartetes Produkt hervorbringt. Inhalt der therapeutischen Intervention ist also die Motivierung und Anleitung zu Produktivität im Sinne einer kontinuierlichen, sinngebenden und mit einem Erfolgserlebnis verbundenen Herstellung eines Produkts. Ergotherapeutisches Sorgen bedeutet also vorrangig die Motivation zu Betätigung beziehungsweise Produktivität, von der ein therapeutischer Nutzen erwartet wird. Durch die freie Materialwahl und die Ausrichtung auf etwas, was »Spaß« bereitet, wird in der Eingangssequenz der Zielsetzung zur Produktivität die markwirtschaftliche Prägung genommen und auf die Betätigung selbst verlagert. Wenn der Maßstab die eigene Ablenkung, Beschäftigung und Unterhaltung ist, könnte argumentiert werden, dass sich die Ergotherapie weniger an der zunehmend entgrenzten gesellschaftlichen Leistungsorientierung (Rose 2000) orientiert oder auf eine diesbezügliche Anpassungsleistung hinwirkt, sondern anstelle dessen das Individuum und seine Bedürfnisse ins Zentrum der therapeutischen Praxis stellt. Da hierbei »Arbeit am Produkt« allerdings zeitgleich auch »Arbeit am Selbst« bedeutet, in der die Nutzerinnen im Sinne von Roses »unternehmerischen Selbst« dazu angehalten werden, sich aktiv an ihrem Genesungsprozess zu beteiligen,

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sorgt ergotherapeutische »Produktivität« dafür, dass die Ergotherapie in einem konstanten Balanceakt zwischen der Ermöglichung von Selbstentfaltung und (gegebenenfalls nicht mehr möglicher) Anpassungsleistung an zunehmend entgrenzte Leistungsorientierung in der therapeutischen Praxis stattfindet. (Rose 2000, 16) Herr Mann soll und kann entscheiden, was ihn am besten ablenkt, Freude bereitet oder welche Betätigung er in seinen künftigen heimischen Alltag integrieren möchte ohne einer marktwirtschaftlichen Logik folgen zu müssen. »Handlungsfähigkeit im Alltag« wiederherzustellen bedeutet in dieser Situation zunächst, die eigenen Bedürfnisse zu artikulieren und diesen dann unter mehr oder weniger enger Begleitung durch die Ergotherapeutinnen bis zur Herstellung eines Produkts nachzugehen. Die Verantwortung für den Heilungsprozess wird hierbei von Anfang an soweit möglich auf die Nutzerinnen übertragen. In den folgenden Sequenzen werde ich allerdings sehr andere Logiken ergotherapeutisches Sorgens nachzeichnen. Als Erstes möchte ich allerdings ein Beispiel anführen, wie Nutzerinnen ergotherapeutische Logiken des Sorgens konzipieren.

7.5 AUTONOMIE UND ERGOTHERAPEUTISCHES SORGEN »Während der warmen Jahreszeiten wird die Ergotherapie mindestens einmal wöchentlich in den klinikeigenen Therapiegarten verlegt. An einem abgelegenen Ende des Klinikgeländes befinden sich zwei große Hochbeete nebst Teich, der in diesem Sommer vergrößert und mit einer Brücke versehen werden soll. Nachdem die Teilnehmerinnen an diesem sonnigen und ungewöhnlich warmen Maitag eines der Hochbeete mit viel Engagement vom Unkraut befreit haben und es für die letzten 20 Minuten der heutigen Ergotherapie nichts mehr zu tun zu geben scheint, beraten sie sich untereinander, ob es notwendig sei, das Beet zu gießen. Herr Grotius stützt sich auf den Spaten und gibt mit Blick auf das Beet zu bedenken: ›Da ist doch noch gar nichts angepflanzt.‹ Herr Schmidt schaut in den wolkenbedeckten Himmel und ergänzt: ›Es wird heute Nachmittag bestimmt noch regnen.‹ Doch Herr Adler ist währenddessen bereits mit einem Eimer zum Wasserhahn geschlendert, hat diesen gefüllt und läuft nun schnurstracks an den anderen vorbei, murmelt: ›Ist doch egal, das ist hier Beschäftigungstherapie!‹ und schüttet das Wasser in einem riesigen Schwall über das Beet. Die anderen Teilnehmerinnen schauen erst irritiert, dann fragend, schauen sich an, fangen dann schallend an zu lachen. Frau Rembach sagt schmunzelnd: ›Das ist Ergotherapie.‹« [Feldnotiz 21.05.2013]

Während die erste Sequenz die Sicht des Ergotherapeuten auf das Ziel der Ergotherapie als produkt- und ausdrucksorientierten Lernprozess widerspiegelt, stellt

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Herr Adler die Gartentherapie als ziellosen Zeitvertreib dar. Als die anderen Nutzerinnen sich noch über das Für und Wider des Gießens beraten und hierbei auch ›nach außen‹, also auf ihre bisherigen Erfahrungen beziehungsweise ihr Wissen um die bisherige Nicht-Bepflanzung des Beetes oder die Wettervorhersage orientieren, untergräbt Herr Adler diese Überlegungen und disqualifiziert die Gartentherapie als Beschäftigungstherapie. Ergotherapeutisches Sorgen scheint in Herrn Adlers Perspektive nur der Ablenkung der Nutzerinnen für den Zeitraum der Therapie zu dienen, er spricht ihr jegliche, über den Moment hinausreichende Zielsetzung oder einen sonstigen tieferen Sinn ab. Herr Adler11 ist im letzten Jahr aus einer Stelle als leitender Angestellter in Pension gegangen und seitdem laut seiner Lebensgefährtin nicht mehr derselbe. Zuvor war er in seinem großen Freundes- und Bekanntenkreis und als engagiertes Mitglied des örtlichen Kegelvereins als lebenslustiger Mann bekannt, der besonders für seine Schlagfertigkeit, seinen Tatendrang und Witz geschätzt wurde. Er ist bereits seit einigen Wochen auf der Station und, trotz seines teilweise skurrilen Verhaltens12, beliebt und geschätzt bei den anderen Nutzerinnen. Im praxisorientierten Feedbackinterview wirkt Herr Lichter verärgert, der das Gespräch zwischen den Teilnehmerinnen stumm und mit leicht in Falten gelegter Stirn verfolgt hatte, als ich ihn nach dem spezifischen Sinn der Gartentherapie frage: »Beschäftigungstherapie war es vor zwanzig Jahren. […] Das [die Gartentherapie] ist einfach außerhalb der Klinik. Und damit [ist es] schon mal ein ganz anderes Setting. Das heißt hier, also bei mir – der Ergoraum ist ja nur ein paar Meter weiter weg, dann ist es ein geschlossener Raum. Das heißt die Leute fühlen sich draußen wahrscheinlich noch ein Stückchen freier als bei mir, als bei mir hier im Raum. […] Weil viele, wo wir hier im [ländlichen] Raum sind, gibt ja doch einigermaßen viele, die auch einen Garten zu Hause haben. […].. Weil das sind alles Sachen, Unkraut jäten, Teich anlegen, sich absprechen, wer trägt den Eimer da rüber, wer jätet da das Unkraut. Was macht der, was macht die? Das sind alles Sachen, die sehr alltagsrelevant sind, glaube ich. Und noch einen größeren Alltagsbezug haben als manch andere Sachen vielleicht. […]

11 Vgl. 155. 12 Z.B. leidet er unter unterschiedlichen Ängsten und Zwängen, die es ihm zeitweise unmöglich machen, Teile des Bodens des Stationsflures zu betreten und sich für einige Tage nur an die Wand gedrückt seitwärts den Flur entlang oder springend vorwärts bewegte. Ein anderes Beispiel ist, dass es ihm unmöglich ist, sich in der Kochgruppe einzubringen ohne seine Hände zuvor mit fast kochendem Wasser immer und immer wieder zu desinfizieren weshalb Nutzerinnen und Behandelnde ihn stets aufmerksam fürsorglich beobachten sobald er sich einem Waschbecken nähert.

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Das fand ich sehr spannend, was die andere Patientin gesagt hat beim letzten Mal […]: ›Machen Sie das jedes Jahr mit den Patienten, Herr Lichter? Das heißt, was wir jetzt hier aufbauen, das wird dann wieder kaputt gemacht und dann wieder aufgebaut?‹ Und da hab ich gesagt: ›Ne, was Sie jetzt hier machen, das bleibt.‹ Und das finde ich auch wichtig. Das es was ist, das die Patienten sehen, das es was ist, was bleibt, und was vielleicht in zwei Jahren noch da steht oder in drei Jahren. Oder wie auch immer, dass sie einfach auch so etwas mitgestalten. Und vielleicht ist ja dann in fünf Jahren ein Patient, von denen die wir jetzt auf Station haben, wieder in der Klinik wegen was Anderem oder geht hier spazieren, und sieht dann sein Beet und erinnert sich dann auch daran, ach Mensch, das habe ich gemacht als es mir so schlecht ging.« [Interview mit Herrn Lichter, 21.05.2013]

Herr Lichter betont, für wie zentral er das Erfolgserlebnis bei der Herstellung eines Produkts erachtet, welches im besten Fall über Jahre nach dem eigentlichen Klinikaufenthalt anhalten soll. Zudem sollen die Nutzerinnen sich an ihren Klinikaufenthalt erinnern und ihren damaligen mit dem aktuellen (verbesserten) Gesundheitszustand vergleichen können. Nicht ganz deutlich wird meines Erachtens, warum sich der Ergotherapeut einen therapeutischen Sinn davon erhofft, dass die Nutzerinnen im Nachhinein in die Klinik zurückkehren sollen und ihr Werk betrachten und dieses – überspitzt formuliert – als Mahnmal der Erkrankung erhalten bleibt. Es ließe sich allerdings argumentieren, dass der dauerhafte Erhalt einmal Geschaffenes den Wert des Geleisteten und deren Sinnhaftigkeit unterstreicht sowie die Erinnerung der Nutzerinnen auf ihre Zeit als Teil der Gruppe sowie die Leistung aus der Krise herausgefunden zu haben, gemeint ist. Herr Lichter hebt außerdem das höhere Maß an (gefühlter) Autonomie außerhalb des Klinikgebäudes hervor und konzeptualisiert den Klinikgarten als Ort größerer Freiheit und eines höheren Alltagsbezugs als die ergotherapeutische Werkstatt. Interessant ist, dass er diesen Alltagsbezug für die Betätigungen in der Gartentherapie als äußerst relevant betrachtet, die handwerklichen oder künstlerischen Betätigungen in der Ergotherapie innerhalb der Klinik hingegen diesen Anspruch nur mittelbar durch seine Erwartung der zukünftigen Nutzung des Produkts beziehungsweise im Rahmen der Koch- und Backgruppen zu verfolgen scheinen. Eine möglichst autonome, produktive Nutzerin, die einer sinnvollen Tätigkeit nachgeht und ein Produkt von Bestand herstellt, wird von Herrn Lichter als Ideal konzeptualisiert.13

13 Im Vergleich zur Ergotherapie in der Werkstatt sind die Nutzerinnen in der Gartentherapie deutlich mehr auf Absprachen untereinander angewiesen, in der jede ihr eigenes

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Die meisten Nutzerinnen gaben an, auch zuhause einen eigenen Garten zu haben, insofern scheint diese Einschätzung Herrn Lichter von dem größeren Alltagsbezug als die Seidenmalerei oder Kratzbilder-Bearbeitung naheliegend zu sein und ist wichtiger Aspekt ergotherapeutischer Sinnkonstruktion. Der außerklinische »Alltag« wird hierbei zunächst als Raum der Wahlfreiheit und räumlichen Unabhängigkeit verstanden, der Absprachen mit anderen und Produktivität erfordert und im Rahmen der Ergotherapie so weit wie möglich simuliert werden soll, um »alltagsnah« zu sein. Wie kommt es allerdings zur diametral hierzu stehenden Einschätzung Herrn Adlers? Der Ausbruch aus den sinnvollen Betätigungen sowie die Umdeutung der Ergotherapie als Zeitvertreib können meines Erachtens in gewisser Sicht auch als Zeichen für ein Streben nach mehr Autonomie gelesen werden.14 Während des eng getakteten Klinikalltags bleibt nicht viel Raum für autonome Entscheidungen der Nutzerinnen. Es gibt eine zentrale Zeit zum Aufstehen, zur Einnahme der Mahlzeiten, der Therapiezeiten, der Beschäftigung wie der Ruhe. Innerhalb dieses ›Zeitkorsetts‹ (104) verfügen die Nutzerinnen über kleinere Wahlmöglichkeiten, doch Entscheidungen für ineffizientes oder sinnloses Tun beinhalten diese nicht. Wenn sich Herr Adler dazu entscheidet, ein leeres Beet zu wässern, ist dies nicht nur eine Rebellion gegen die als sinnlos erachtete Ergotherapie, sondern könnte sich auch gegen das gesamte therapeutische Regime auf der Station richten. Die kanadische Professorin für Occupational Science Elizabeth Townsend betont u.a. in ihrer Studie »Good Intentions OverRuled« (1998), dass sich die zentrale therapeutische Zielvorgabe, die Behandelten zu autonomer Partizipation in ihrem Alltag (wieder) zu befähigen und Carepraktiken zwei komplett unterschiedliche und einander ausschließende Konzepte des Sorgens darstellen. Anstatt abhängige Rezipientinnen zu versorgen, sollten Ergotherapeutinnen Prozesse oder Infrastrukturen so auf die Behandelten anpassen, dass diese dies in Zukunft eigenständig könnten. Townsend fasst den Gegensatz zwischen Akteurinnen und Hilfsempfängerinnen in einem Satz wie folgt zusammen:

Werk verfolgt. Mit »autonom« ist daher nicht allein handelnd, sondern weitgehend von ergotherapeutischen Anweisungen selbstbestimmt gemeint. 14 Eine nicht sehr abwegige Deutung, vergleicht man andere Feldnotizen, in denen Herr Adler auftaucht. Vgl. 155ff.

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»To enable participation is to work with people, to unleash human resources in the interests of empowerment; to be a caregiver is to offer charity to or for people who remain dependent.« (Townsend 1998, 3)15

Townsend kommt in ihrer Studie zu dem Schluss, dass sich die Care- und Befähigungspraktiken in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung gegenseitig behinderten und Ergotherapeutinnen mit ihren Zielvorgaben gegen die Routinen der Institutionen nur schwer ankämen. Durch Carepraktiken würde ein ›Profil der Abhängigkeit‹ geschaffen, die Nutzerinnen in Fälle oder ewige Patientinnen verwandle und durch hierarchische Entscheidungen geprägt sei und Menschen auf eine Art und Weise beschütze, dass ihre Fähigkeit zur Partizipation geschwächt werde. (Vgl. Townsend 1998, 159-167) Dies wirft jedoch die Frage auf, welche Form des enablements hier gemeint sein könnte. Welche »(Alltags-)Fähigkeiten« werden bei der Herstellung eines Seidenschals oder der Bewässerung eines Gartens erlernt beziehungsweise trainiert und wie tragen diese Betätigungen zu einer gesteigerten Autonomie der Nutzerinnen bei? Im Jahr 1997 hat die Canadian Association of Occupational Therapy eine aktualisierte Definition der Ergotherapie veröffentlicht, in der enablement 16 als die neue, zentrale Kernkompetenz ergotherapeutischen Handelns gewertet wird:

15 Während medizinische Versorgung in Kanada (für Bürgerinnen des Landes) grundsätzlich kostenfrei ist, gilt in Deutschland seit 2009 Versicherungspflicht, das heißt, dass keine Nutzerin in Deutschland von Wohltätigkeit abhängig sein müsste. Sieht man von den nach wie vor rund 80.000 Nicht-Versicherten ab, verstehe ich das Argument der Autorin zunächst als Gegenüberstellung zweier grundsätzlich unterschiedlicher Idealvorstellungen: Medizinische Behandlung als kontinuierliche Hilfestellung oder als Hilfe zur Selbsthilfe mit dem Ziel, die Nutzerinnen mit den Fähigkeiten auszustatten, sich autonom und möglichst ohne weitere Hilfestellungen von außen in ihrem Alltag bewegen können. (Deutsche Ärztezeitung Online 2016) 16 »The word enablement is often used interchangeably with empowerment, with empowerment characterized by dictionaries as a process of bestowing power, allowing, enabling, authorizing, permitting, and giving ability to someone who is, apparently, deficient in both power and abilities. On this basis, empowerment, like enablement, can be viewed as an expression – or assertion – of unequal power, and both words are carefully avoided by critical scholars. Despite evident problems of language, however, the fundamental idea underlying empowerment is an idea that resonates with the values and mandate of occupational therapists: the aspiration to enrich the abilities and opportunities of people to engage and participate in the valued occupations of their everyday lives.« (Hammell 2016, 282)

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»Occupational therapy is the art and science of enabling engagement in everyday living, through occupation; of enabling people to perform the occupations that foster health and well-being; and of enabling a just and inclusive society so that all people may participate to their potential in the daily occupations of life.« (Townsend und CAOT 1997, 2)

Im Gegensatz zu klassischen Carepraktiken im Sinne Townsends sind ergotherapeutische Betätigungen enger an Alltagsbetätigungen und die Aktivität und in gewissem Maße auch Autonomie oder Wahlfreiheit der Nutzerinnen ausgerichtet.17 Nur selten erfahren die Nutzerinnen allerdings etwas über den tieferen Sinn der Betätigung, über den Erwerb von Fähigkeiten oder die Möglichkeiten, diesen in ihren Privatalltag zu überführen. Zudem wird über Praktiken zur Wiedererlangung von Autonomie mit den Nutzerinnen nur äußerst selten gesprochen. Deshalb wirkt es an vielen Stellen so, als ob die Nutzerinnen dazu angehalten sind, die Ergotherapie »intuitiv« zu verstehen beziehungsweise das Wissen um die Ziele der Behandlung von den Nutzerinnen nicht erwartet wird, da dies für den Behandlungserfolg nicht maßgeblich zu sein scheint. Es ist auffällig, dass die Nutzerinnen, mit denen ich in ethnografischen Interviews über ihre Erfolge in der Ergotherapie gesprochen habe, meist handwerkliche Fertigkeiten angaben, sie nun stricken könnten oder wüssten, wie man mit dem Material Seide umgehe oder einen Korb flechte, doch wenig über die Bezüge zu ihrem Alltag. Auch darauf angesprochen gaben sie an, dass sie beispielsweise ein Hobby gefunden hätten, eine gesteigerte Produktivität oder gesünderen Bezug zu Routinen bemerkte niemand an sich. Insofern scheint die Zielvorgabe der »Alltagsbefähigung« wie die gesteigerte Autonomie für die Nutzerinnen nicht ersichtlich zu sein. Dass eine Befähigung zur Autonomie in vielen Fällen keine gleichberechtigte Interaktion in der Ergotherapie nach sich ziehen muss, sollen die folgenden Sequenzen aus der Geriatrie aufzeigen:

17 Ergotherapeutische Befähigungspraktiken stehen nicht nur im Kontrast zu Carepraktiken, sondern vergrößern zudem die theoretische Distanz zwischen medizinischen und ergotherapeutischen Modellen. Während medizinische Modelle nach wie vor defizitorientiert sind und die Funktionsfähigkeit des Behandelten in den Vordergrund stellen, sind neuere Klassifikationssysteme (wie das International Classification of Functioning, Disability and Health (WHO, 2001) Modell) auf Partizipation und weniger auf Funktion ausgerichtet. (Townsend, Polatajko, and Canadian Association of Occupational Therapists 2013, 179)

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»Gegen halb elf kommt eine junge Frau mit ihrer Mutter herein, die Patientin auf der gerontopsychiatrischen Station ist. Frau Yildiz ist in ihren Sechzigern, erst seit einigen Tagen auf der Station und verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Frau Yildiz scheint kaum oder kein Deutsch zu sprechen, so dass ihre Tochter während der Ergotherapie übersetzt. Beide setzen sich an den großen gemeinsamen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes und unterhalten sich leise auf Türkisch miteinander bis der Ergotherapeut Herr Ziegler an ihren Platz kommt und sie begrüßt. Er lächelt Frau Yildiz kurz zu, wendet sich dann an ihre Tochter und fragt sie: ›Was hat Ihre Mutter denn gerne gemacht?‹ ›Sie hat gestickt, das war das Einzige, was sie gern gemacht hat. Aber das kann sie nicht mehr wegen der zitternden Hände.‹ Dabei schaut sie, wie zur Beweisführung, auf die in diesem Moment sehr stark zitternden Hände ihrer Mutter. Herr Ziegler holt aus einem der Materialschränke eine Rolle Knete, legt sie vor die Patientin und sagt der Angehörigen, Frau Yildiz solle versuchen, die Knete zu rollen. Als diese nach der Übersetzung der Anweisung nichts macht, nimmt er die Rolle und lässt sie langsam mit einer Hand nach vorn und zurück gleiten. Die Patientin versucht es nun einige Male, Herr Ziegler spricht in der Zwischenzeit mit einem anderen Patienten. Nach einigen Minuten schaut er wieder zu der Patientin. Diese hat aufgehört zu rollen und sitzt unbeweglich am Tisch. Er schaut die Tochter fragend an, diese erwidert, dass die Knete zu hart wäre und es zu schwer für die Mutter wäre und sie jetzt gehen würden. Herr Ziegler bittet um einen kleinen Moment Geduld und sucht mittels einer kleinen Leiter in den oberen Regalböden nach einem anderen Stück Knete. Er findet eins und legt dieses vor sie auf den Tisch. Erneut versucht sie es, hört aber nach rund einer Minute erneut auf. ›Das kann sie nicht‹, sagt die Tochter, ›Das ist zu schwer für sie.‹ Herr Ziegler setzt sich neben Frau Yildiz, nimmt die Knetrolle erneut in die Hand und rollt nun mit beiden Händen nach vorn und wieder zurück. Er schaut erst sie an, dann die daneben sitzende Tochter. ›Es geht nicht darum, Druck auszulösen, sondern um die Erhaltung von der Beweglichkeit.‹ Er richtet seinen Blick auf die Knetrolle und rollt sie mit beiden Händen auf dem Tisch zunächst von sich weg, danach in Richtung seines Körpers, seine Finger werden dadurch gestreckt. Mit Blick auf seine eigenen Hände erläutert er: ›Das hält die Beweglichkeit aufrecht.‹ Die Tochter übersetzt, beide nicken. Die Patientin versucht es erneut, nun mit beiden Händen, während Herr Ziegler seine Aufmerksamkeit wieder auf einen anderen Patienten richtet. Nach einigen Minuten, die die beiden Frauen leise redend miteinander verbringen, richtet die Tochter das Wort an den Ergotherapeuten: ›Wir unterbrechen jetzt. Sie will ins Bett.‹ Dieser entgegnet ihr mit hochgezogenen Augenbrauen: ›Tagsüber ins Bett zu gehen ist aber nicht gut, dann kann sie nachts nicht schlafen, das bringt den Tagesrhythmus durcheinander.‹ Die Tochter widerspricht: ›Sie will sich hinlegen. Sie legt sich immer hin, wenn sie so zittert.‹ Herr Ziegler antwortet: ›Aber nicht tagsüber.‹ Die Tochter nickt knapp: ›Wir setzen

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uns im Zimmer auf die Stühle, dann nicht ins Bett.‹ Dann stützt sie ihre Mutter beim Aufstehen und die beiden gehen Richtung Ausgang. Herr Ziegler folgt ihnen und sagt ihnen zum Abschied, als sie im Türrahmen stehen: ›Sagen Sie ihr ›Es ist schön, dass Sie es versucht haben. Ich würde mich freuen, wenn Sie nächste Woche wiederkommen würden.‹« [Feldnotiz 02.01.2015]

Auch zwischen Frau Yildiz und Herr Ziegler findet ein Erstgespräch statt, indem wir wenig von der Nutzerin erfahren. Frau Yildiz wird nicht nach ihren Einschränkungen und Zielen gefragt, obwohl dies durch die Übersetzung ihrer Tochter möglich gewesen wäre. Sie berichtet, dass Frau Yildiz früher gern gestickt hätte, dies aber momentan aufgrund ihrer zitternden Hände nicht mehr möglich sei. Die Sequenz ist ein Beispiel dafür, wie Zielvereinbarungen für die Ergotherapie oftmals indirekt, nonverbal und wie in diesem Fall und viel zu oft überhaupt nicht stattfinden, die behandelnden Ergotherapeutinnen nur anhand von Informationen Dritter oder durch eigene Beobachtung ermitteln, welche Betätigungen zur »Alltagsbefähigung« der jeweiligen Nutzerin beitragen könnten. Die Nutzerin erfährt erst nach längerer Zeit etwas über die Ziele ihrer Behandlung, hat also auch im weiteren Verlauf keinen Einfluss auf die Entscheidung. Dies ist ein möglicher Grund für ihre mehrmaligen Versuche, die Ergotherapie frühzeitig zu verlassen. Herrn Zieglers Materialwahl scheint von einer Art allgemeinem Plausibilitätsgedanken »Beweglichkeit ermöglicht Alltagsbetätigungen« sowie dem angestrebten status quo ante (Reuster 2008, 217) geschuldet zu sein, das heißt wenn Frau Yildiz zuvor gern strickte und dies vermutlich aufgrund ihrer zitternden Hände nicht mehr kann, sollte es Ziel der Ergotherapie sein, ihr erneut das Stricken zu ermöglichen.18 Dieses Ziel wird, da der Ergotherapeut nicht mit der aktiven Kooperation von Frau Yildiz zu rechnen scheint, ohne ihren (anfänglichen) Impuls angeleitet. Die Nutzerin scheint in diesem Moment als passive, abhängige Nicht-Akteurin konzeptualisiert zu werden, welches der klassischen Subjekt-Orientierung von Carepraktiken entspricht. (Weicht 2010, 210) Die Behandlung Frau Yildiz’ scheint wenig auf ihre individuellen Wünsche und Ziele einzugehen beziehungsweise diesen, als sie auf ihr Zimmer möchte, konkret zu widersprechen. Gleichzeitig dient die Übung der Verbesserung ihrer Bewegungsfreiheit und die soziale Interaktion soll ihre Ängste hiervor abbauen, zielt daher langfristig auf ein höheres Maß von Selbstbestimmung und Autonomie in ihrem Alltag ab. Während Frau Yildiz in der Sequenz nicht als autonome Nut-

18 Auch seine normative Vorstellung über die adäquate Zeitgestaltung überträgt er ohne Diskussion auf die Nutzerin.

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zerin konzeptualisiert wird, soll ihre Autonomie langfristig aufgebaut beziehungsweise gestärkt werden, was in gewisser Hinsicht zwei unterschiedlichen Handlungsmustern oder Modi zu folgen scheint. Die niederländische Philosophin und Medizinanthropologin Jeannette Pols hat sich mit der Problematik sich gegenseitig beeinflussender und teilweise gegeneinander auswirkender »modes of doing good« in der stationären Psychiatrie beschäftigt und am Beispiel von Pflegepraktiken und neuen gesetzlichen Bestimmungen (sowie im Rahmen von Zwangsbehandlungen als auch zur Stärkung von Nutzerinnenrechten) analysiert. (2003) Diese Modi werden von der Autorin als ein Muster von Idealen, Behandlungsprozessen beziehungsweise -routinen und dem Wissen darum, wie ›good care‹ zu gestalten ist, beschrieben. (Pols 2003, 320) An mehreren ethnografischen Sequenzen aus ihrer Feldforschung in zwei stationären Psychiatrien in den Niederlanden verdeutlicht sie, wie juristische und (ver)sorgende Modi eigene Werte, Wissenspraktiken und Prozesse hervorbringen, die im klinischen Alltag stets neu verhandelt werden müssen.19 (Pols 2003, 340) Während ergotherapeutische Praxis insbesondere im Sinne der sogenannten »Klientenzentrierung« die gemeinsame Erarbeitung von Zielen sowie unbedingte Selbstbestimmung der Nutzerin vorsieht (Sumsion 2002), kann das Behandlungsziel, Frau Yildiz’ Bewegungsfreiheit zu verbessern, nicht mit ihrem Wunsch nach sozialem Rückzug beziehungsweise Bettruhe in Einklang gebracht werden. Dennoch zielt die Wiederherstellung ihrer Bewegungsfähigkeit durch das Knetrollen auf eine größere Autonomie in ihrem zukünftigen Alltag außerhalb der Klinik ab. Dies verweist auf ein Alltagsverständnis, in dem Bewegungsfähigkeit als Maßstab für die Fähigkeit zur Partizipation und Erlangung von Autonomie konzeptualisiert und zugleich das Erreichen des (ergotherapeutischen) Therapieziels in dieser Situation über die Erarbeitung einer selbstbestimmten Entscheidung der Nutzerin zu stellen scheint. Dennoch ist die Art und Weise, wie Herr Ziegler der Nutzerin im weiteren Verlauf zunächst die von ihm ausgewählten Materialien anreicht, in einem weiteren Schritt demonstriert, wie dieses Material zu nutzen sei und ihre Nutzung nach einer Weile korrigiert, diese Betätigung kontinuierlich durch kleine Interaktionen begleitet, ihr sonst immer wieder Raum zum autonomen Materialumgang lässt

19 So wurden Nutzerinnen, die sich aufgrund von Ängsten beziehungsweise Wahnvorstellungen länger nicht wuschen zwar dazu angehalten, sich mehr mit ihrer Körperhygiene auseinander zu setzen, aber im Sinne ihres Rechts auf Selbstbestimmung nicht dazu gezwungen, obwohl es sowohl hygienische als auch soziale Risiken für sie beinhaltete.

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nicht typisch für die Ergotherapie und verweist auf den kleinteiligen, experimentellen Charakter ergotherapeutischer Interventionen, die ich im Folgenden als tinkering fassen werde.

7.6 ERGOTHERAPEUTISCHES TINKERING »Professional care is not a matter of separating out elements, fixing them, and putting them to use in a linear manner. It is a matter of tinkering, of doctoring, if I dare to reclaim that word from the negative connotations it has acquired and give a positive appreciation to the creative calibrating of elements that make up a situation, until they somehow fit – and work. Doctoring requires a sensitivity to sensible compromising.« (Mol 2006, 410-411)

Tinkering, im klinischen Kontext auch doctoring20, ist ein in der Wissenschaftsund Technikforschung weit verbreiteter Begriff, der laut eines Wörterbuchs für »to repair, adjust, or work with something in an unskilled or experimental manner« steht (Merriam Webster). Die in den Niederlanden tätigen Forscherinnen aus

20 In der STS-Literatur wird der Begriff »tinkering« im Sinne von Herumtüfteln oder Herumbasteln analog zum klinikbezogenen »doctoring« verwendet. (Vgl. Mol, Moser, und Pols 2010) Annemarie Mol, Ingunn Moser und Jeannette Pols spüren Carepraktiken in so diversen Feldern wie Kliniken, landwirtschaftlichen Betrieben und Schlachthöfen nach. Care wird von ihnen als Form des konstanten Herumbastelns oder Tüftelns (tinkering) verstanden und als Analysekategorie zur Beforschung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie der, sonst häufig als der Gegenpol von care verstandenen, Verbindung zwischen Menschen und Technologien. (Mol et al., 2010) Neben der zeitlichen Unbegrenztheit des Sorgens fokussieren sie auf die Vielfältigkeit von mit Sorgen verbundenen Tätigkeiten. Sorgen könnte sich in kleinen, oft nonverbalen, Gesten wie einer Hand auf der Schulter, gemeinsamem Teetrinken oder small talk doch genauso durch eine laut in einer Ecke des Raums rumorenden Maschine ausdrücken. (Vgl. Mol et al. 2010, 10) (Struhkamp et al. 2009, 57) Warum es, abgesehen von der Rehabilitation des Wortes »verarzten« wie von Mol im Eingangszitat erwähnt, einen gesonderten Begriff für die klinischen Praktiken geben sollte, hat sich mir nicht erschlossen.

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der Medizinanthropologie, beziehungsweise den Gesundheitswissenschaften Rita Struhkamp und Tsjalling Swierstra untersuchen gemeinsam mit Annemarie Mol klinische Versorgung im Rahmen physiologischer Rehabilitationspraktiken in Relation zu (Patientinnen-)Autonomie. Sie argumentieren für ein alternatives Verständnis von Versorgung als multiple, heterogene und flexible Praxis des ›Verarztens‹ (doctoring) zwischen Patientinnen und Behandelnden. (Struhkamp, Mol, und Swierstra 2009) Mit doctoring ist ein konstantes, kleinteiliges und vielseitiges Bemühen gemeint, ein klinisch situiertes tinkering also. Die Rehabilitation der von für ihre Studie beforschten, neurologischen Patientinnen zielte nicht auf eine meist unmögliche vollständige Heilung ab, sondern strebte eine Funktionsverbesserung an. Die (versehrten) Körper und ihre Umgebung sollen in einer Art und Weise aufeinander abgestimmt werden bis ein erträglicher bis zufriedenstellender Alltag (wieder) ermöglicht wird. (Vgl. Struhkamp, Mol, und Swierstra 2009, 57) Autonomie ist dann kein starren Definitionen unterliegender Zustand mehr, sondern etwas auf die unterschiedlichen Bedürfnisse Anzupassendes, tinkering also vorrangig eine Form der Anpassung an außerklinischen »Alltag«. (Vgl. Struhkamp, Mol, und Swierstra 2009, 71) Der Begriff tinkering wird zudem oft als Beschreibung für den spezifischen Produktionsprozess in sogenannten FabLabs oder MakerSpaces verwendet. Die sogenannte maker-Bewegung, die in ihren grundsätzlichen Zielen21 erstaunliche Ähnlichkeiten zur arts-and-crafts-Bewegung aufweist, ist ein loser internationaler Zusammenschluss, der es Privatpersonen in offenen Werkstätten (beziehungsweise ›Fabrikationslaboren‹) ermöglicht, Einzelstücke mit bereitgestellten neueren industriellen Produktionsmitteln (wie 3D-Druckern) herzustellen. »With tinkering the goal is to build it, identify what doesn’t work, and refine it again and again, as you quickly narrow in on a feasible prototype, not a finished design. The terms used in industry to describe this process, which is used early in the design process, is ›fail early and often.‹ Tinkering is the solution to ›analysis paralysis‹, where a designer gets stuck thinking about a problem, and fails to actually design and build it«. (Sigel 2017)

Tinkering wird hierbei als Herstellung von einem Prototyp (das heißt nicht von einem ›perfekten‹, marktreifen Produkt) durch ein trial-and-error-Verfahren und

21 Ich beziehe mich hierbei auf den Fokus aufs Selbstmachen beziehungsweise DIY (do it yourself) sowie die Forderung nach Zugängen für breite Bevölkerungsschichten zu Produktionsmitteln qualitativ hochwertiger Einzelstücke im Gegensatz zum passiven Konsum von minderwertigen Massenprodukten.

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konstantes Improvisieren verstanden. Im Gegensatz zum doctoring (oder klinischen tinkering) soll hier also nicht vorrangig etwas ›Kaputtgegangenes‹ repariert beziehungsweise ›verarztet‹ werden, sondern durch ›handfestes‹ Tüfteln in einer Werkstatt etwas Neues geschaffen werden, dessen Funktionalität oder Alltagstauglichkeit im Mittelpunkt steht. Die US-amerikanische Professorin für Ergotherapie Holly A. Cohen und Mitbegründerin des DIYAbility, einer Organisation die ein FabLab speziell für Menschen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen in New York betreibt, bezeichnete Ergotherapeutinnen während eines TEDtalks gar als die »original makers« (Cohen 2016). Ergotherapeutisches tinkering stellt einen Versuch dar, durch kontinuierliches Tüfteln am (imaginierten) Alltag der Nutzerinnen und kleinteilige aber kontinuierliche Hilfestellungen eine zukünftige, möglichst autonome Alltagsführung zu gewährleisten, wird aber nicht unbedingt im Modus der Gleichberechtigung durchgeführt, der bei Mol und anderen in den Vordergrund gerückt wird. »Frau Grün22 sitzt unschlüssig am großen Werktisch und sagt: ›Ich weiß nicht, was ich tun kann.‹ Herr Lichter schlägt ihr vor, einen Seidenschal zu bemalen. ›Da denken die Leute immer ›Oh Gott‹ aber eigentlich ist es relativ leicht‹, sagt er und legt ihr einen bereits bemalten Seidenschal in die Hand. ›Ich bin relativ unbedarft darin‹, gibt Frau Grün zu bedenken. ›Da muss man nicht begabt für sein‹, versichert der Ergotherapeut und holt einen ungefärbten Seidenschal und Pinsel und legt sie vor sie auf den Werktisch. Als Frau Grün mit weit aufgerissenen Augen entsetzt den Schal anstarrt, sagt Herr Lichter leise und ruhig: ›Es geht nur darum, dass Sie sich ein paar Farben aussuchen.‹ Frau Grün schüttelt den Kopf und starrt dann an einen nicht näher bezeichneten Punkt am anderen Ende des Raums, ihre starre, leicht gebeugte Körperhaltung und die nach wie vor weit aufgerissenen Augen lassen dabei eine starke Anspannung vermuten. Herr Lichter legt zwei Bastelbücher über Seidenmalereitechniken vor sie auf den Tisch und erklärt, dass sie so schon einmal sehen könne, was möglich sei. Während Herr Lichter nun nacheinander den anderen Nutzerinnen im Raum Materialien ausgibt oder sie bei der Auswahl oder Durchführung eines Werks berät, blättert sie in einem der Bücher, ohne den einzelnen Seiten mit den beschriebenen Färbe- und Maltechniken allerdings mehr als ein paar Sekunden Aufmerksamkeit zu schenken. ›So. Jetzt legen wir mal los‹, sagt der Ergotherapeut einige Minuten später und fragt sie nach ihren Lieblingsfarben. Nacheinander zählt sie im abgehakten Tonfall drei Farben auf, Herr Lichter sucht parallel die richtigen Farbtöpfe aus dem Materialschrank heraus und stellt sie auf den Tisch. Dann gibt er ihr einen Bindfaden in die Hand und sie beginnt unter seiner

22 Zur Vorgeschichte von Frau Grün vgl. 111.

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Anleitung Knoten in den Seidenschal zu knüpfen, damit beim späteren Färben ein Muster entsteht. Immer wieder bricht sie unvermittelt ab und beginnt erneut mit besorgtem Gesichtsausdruck in die Leere zu starren, manchmal schüttelt sie hierbei besorgt den Kopf. Herr Lichter, der durch die Werkstatt läuft und anderen Teilnehmerinnen mit Tipps zum richtigen Materialumgang berät oder mit Handgriffen bei ihrem Werk unterstützt, kommt zu ihrem Platz und legt ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Er schaut auf das geknotete Seidentuch und rät ihr, nun mit dem Färben zu beginnen. Ihre Augenlider zucken einen Moment flimmernd, als wäre sie gerade aufgewacht, dann schraubt sie mit mechanischen Griffen langsam den ersten Farbtopf auf.« [Feldnotiz 13.05.2013]

Die Interaktion zwischen Frau Grün und Herrn Lichter ist exemplarisch für den Ablauf einer ergotherapeutischen Behandlung hinsichtlich der kleinteiligen, intervallartigen und experimentierenden Art der Intervention. Frau Grün fällt es durch ihren aktuellen Gesundheitszustand schwer, Entscheidungen zu treffen und sich über einen längeren Zeitraum auf eine Betätigung zu konzentrieren. Dadurch, dass Herr Lichter an diesem Tag noch rund ein Dutzend anderer Nutzerinnen behandelt und die ergotherapeutische Zielvorgabe, möglichst autonome Nutzerinnen zugleich zu produzieren, sind die ergotherapeutischen Interventionen in Form von Hilfe bei der Materialauswahl und -umgang relativ kurzgehalten, erfolgen aber konstant im gleichen zeitlichen Rhythmus. Auch Frau Grün entscheidet sich nicht aktiv für die Seidenmalerei, sondern wird von Herrn Lichter dazu aufgefordert, fordert diese Wahl durch ihn aber auch aktiv ein. Nachdem alle Nutzerinnen die Materialien für ihre Betätigung vor sich liegen haben, steht Herr Lichter an einem der Tischenden und schaut den Nutzerinnen der Reihe nach über die Schulter und gibt, wenn nötig, Hilfestellung oder Ratschläge zum jeweiligen Werk und wiederholt dies danach mehrfach, so dass die Nutzerinnen im Schnitt alle zehn Minuten nach ihrem Befinden beziehungsweise Fortschritt ihres Werks gefragt werden. Erst nach ungefähr einer halben Stunde setzt er sich auf einen der freien Stühle und führt Einzelgespräche mit Teilnehmerinnen oder leitet ein Gruppengespräch an. Frau Grün, die nach einem gewissen Zeitraum in der Betätigung ›stecken‹ zu bleiben scheint, wird in konstanten Abständen vom Ergotherapeuten an diese ›erinnert‹. Dies ist ein wichtiger Aspekt dieses ergotherapeutischen tinkerings im Sinne einer kontinuierlichen, kleinteiligen und graduellen Anpassung der Intervention an die aktuelle Leistungsfähigkeit der Nutzerinnen. Nutzerinnen sind generell dazu angehalten, sich ihre Betätigung selbst auszuwählen und die Materialien hierfür selbst aus den Schränken zusammenzusuchen und den Arbeitsplatz nach der Ergotherapie so zu verlassen, wie sie ihn vorgefunden haben. Doch Frau Grün

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scheint damit heute überfordert zu sein. Herr Lichter schlägt deshalb die Seidenmalerei als Betätigung vor, die vergleichsweise niedrigschwellig nur wenige unkomplizierte Handlungsabläufe erfordert und schnell zu einem Ergebnis führt. Erst gibt er ihr eine Bastelanleitung zur Hand, damit sie sich über die einzelnen Schritte informieren und möglichst eigenständig durchführen kann. Erst als sie keine Anstalten macht, die Anleitung zu studieren oder das Material zu holen, bringt er ihr dieses und leitet danach die einzelnen Arbeitsschritte an. Im Verlauf der Therapieeinheit sorgt er immer wieder dafür, dass sich Frau Grün von ihren Gedanken löst und sich wieder mit dem Seidentuch beschäftigt. Auffällig ist, dass die Materialauswahl (der Ergotherapeutinnen) vielfach auf tradierte Geschlechterrollen zurückzugreifen scheint. Kurzgefasst wurden Frauen in allen teilnehmend beobachteten Ergotherapien unabhängig von ihren früheren beruflichen Tätigkeiten oder Freizeitaktivitäten übermäßig häufig dazu aufgefordert, klassisch weiblich konnotierten Bastelarbeiten wie der Seidenmalerei, der Aquarellmalerei, dem Stricken oder der Herstellung von Schmuck nachzugehen. Männern hingegen wurde in den meisten Fällen zu einer Holzarbeit, dem Schnitzen oder der Mitarbeit an der stationseigenen Modelleisenbahn geraten. Selbst Malen wurde in der Ergotherapie zur geschlechtsspezifisch auszuübenden Tätigkeit erhoben; während Frauen sehr oft Mandalas, Malvorlagen mit geometrischen Mustern, ausmalten, beschäftigten sich viele der Männer mit Kratzbildern, bei der nach Vorlage bestimmte Stellen einer Metallplatte bearbeitet werden, damit dahinter liegende Bilder von Autos, Wölfen oder Motorrädern mit einem stumpfen Messer heraus ›gekratzt‹ um sie sichtbar werden zu lassen.23 Obwohl Frau Grün als ehemalige Mitarbeiterin in einem landwirtschaftlichen Betrieb vermutlich während ihres Berufslebens häufig handwerklichen, ›groben‹ Tätigkeiten nachgegangen ist und es in der ergotherapeutischen Werkstatt die Möglichkeit der Ausübung vielzähliger Holzarbeiten gibt, wird sie zu einer ›femininen‹, wenig fordernden Kreativarbeit motiviert. In einem im direkten Anschluss geführten praxisorientierten Interview erklärt Herr Lichter die Materialauswahl und das Ziel der Produktherstellung wie folgt: »Wenn ich jetzt an meine alten Patientinnen [denke], meine alten depressiven Patientinnen, die sagen: ›Ich kann nicht mehr gucken. Ich kann nicht mehr stehen. Ich kann nicht mehr sitzen. Ich kann gar nichts mehr. Ich kann überhaupt nichts mehr.‹

23 Siehe auch die Verwunderung, die der Ergotherapeut ausdrückt, als ein männlicher Nutzer Mandalas malt. Derselbe Nutzer hat zuvor über mehrere Therapieeinheiten Kratzbilder bearbeitet, ohne dass dies für Herrn Lichter ein Grund zur Verwunderung war. (Vgl. 194 ff.)

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Und selbst wenn ich dann sage: ›Ja, ich bin ja dabei, wir können das auch gemeinsam machen‹, die sich das dann immer noch nicht zutrauen aber dann durch das anfangen, vielleicht auch mit viel Anleitung und sie mitkriegen, dass sie es dann doch hinkriegen, so einen Seidenschal zu bemalen und den denn auch zu bügeln. Und dann im Endeffekt was Schönes für sich hergestellt haben, was sie vielleicht sogar im Alltag dann auch tragen, das ist ein Erfolgserlebnis, das krieg erst mal mit einem Depressiven so hin. […] Und bums hab’ ich ein Erfolgserlebnis und werde doch, und kriege doch das Gefühl, dass ich doch in der Lage bin, noch etwas zu machen. Dass ich nicht irgendwie gar nichts mehr kann, dass ich zu nichts mehr nutze bin, dass ich alles nur falsch mache, dieses Gefühl oder dieser Gedanke wird dadurch ein Stück weit korrigiert. Das hat’s mit der Seidenmalerei auf sich.« [Interview 13.05.2013]

Für den Ergotherapeuten steht der Seidenschal für ein im Alltag verwendbares Objekt, dessen eigenständige Herstellung ein Erfolgserlebnis für die Nutzerinnen bereithält und ihre Selbstwahrnehmung als »produktiv« zu korrigieren und als eine Art Souvenir mit in die privaten Alltage mitgenommen werden soll. Über Frau Grüns Einschätzung zur Produktivität der Herstellung eines Seidenschals wissen wir nichts, auch nicht, ob sie die Herstellung als einen persönlichen Erfolg wertet oder ob sie ihn nach ihrem Klinikaufenthalt jemals wieder benutzt hat. Interessant ist allerdings sowohl die ergotherapeutische Idee der »Wahrnehmungskorrektur« als auch das artikulierte Verständnis von »Produktivität«. Denn die Korrektur der Eigeneinschätzung ihrer Leistungsfähigkeit scheint nicht verbalisiert werden zu müssen, sondern sich allein in der Betätigung selbst zu manifestieren. Zudem äußert Frau Grün zwar Bedenken zu ihrer Fähigkeit, einen Seidenschal herzustellen, sagt aber nichts zu ihrer generellen Leistungsfähigkeit. Die Herstellung eines Seidenschals (und der meisten anderen in der Ergotherapie hergestellten Produkte) würde in einer marktwirtschaftlich orientierten Perspektive nicht als Form der Produktivität wahrgenommen werden. Die Produktivität der Nutzerinnen muss diesen Maßstab demnach nicht (mehr) erfüllen. Dennoch schätzt Herr Lichter die Herstellung eines schönen Produkts als therapeutisch wertvoll ein, dessen Wert vor allem darin liegt, dass das Selbstvertrauen der Produzentinnen gestärkt werde. Während Annemarie Mol jegliche Gleichsetzung von Patientinnen mit Klientinnen oder Kundinnen eines marktwirtschaftlich orientierten Systems ablehnt und sich so gegen jegliche Vermischung von Gesundheitsfürsorge und Marktwirtschaft ausspricht, wurde die hierbei ablaufende Gleichsetzung von Produktivität und Selbstwert während meiner Beobachtungen nur selten offen

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kritisiert,24 obwohl die konsequente Nicht-Teilnahme einiger Nutzerinnen oder das (demonstrative?) Zurücklassen des hergestellten Produkts in der Ergotherapie eventuell als eine solche Kritik gelesen werden könnte. Zusammenfassend wird Frau Grün durch die Materialwahl des Ergotherapeuten jedoch nicht mehr als (ökonomisch) produktive Frau wahrgenommen, die für ihren Alltag benötigten Fähigkeiten nur noch mit ihrer Beschäftigung oder der Herstellung schöngeistiger Produkte verbunden. Der Versuch einer Leistungssteigerung Frau Grüns an einen marktwirtschaftlich leistungsorientierten Alltag findet nicht statt, welches meines Erachtens nicht nur mit ihrem höheren Alter, sondern einem anderen Verständnis von Produktivität in der Ergotherapie zusammenhängt. Im folgenden Abschnitt werde ich zwei unterschiedliche Arten des tinkerings mit und durch Produktivität, in der diese als Hoffnung der Nutzerinnen sowie als Problem in der psychiatrischen Ergotherapie enacted wird, vorstellen und analysieren.

7.7 ERGOTHERAPEUTISCHES TINKERING MIT UND DURCH PRODUKTIVITÄT 7.7.1 Produktivität als Hoffnung »Herr Lichter setzt sich an den großen Werktisch, an dem drei Nutzerinnen sitzen und Mandalas ausmalen. Er schaut zu Herrn Schmuckert herüber, der ebenfalls mit einem Buntstift die Malvorlage schraffiert und fragt verwundert: ›Herr Schmuckert, Sie malen Mandalas?‹ Herr Schmuckert ist ein etwas über fünfzigjähriger Mann, der in den letzten Wochen viel Zeit in der Werkstatt auf der anderen Seite des Flures verbracht hat, wo vor allem die männlichen Patienten mit viel handwerklichem Geschick eine zimmergroße Miniatureisenbahnlandschaft aufbauen. Er stammt aus der Region und war vor Beginn seiner Erkrankung als Gabelstapelfahrer für ein großes Möbelhaus beschäftigt. ›Alles andere ist mir zu viel‹, sagt dieser, woraufhin Herr Lichter von einem Rasenmäher spricht, den er gern für den Therapiegarten, der sich in einer ruhigen Ecke des Klinikgeländes befindet, kaufen würde. Als dieser nickt, ergänzt Herr Lichter: ›Unsere Türen stehen immer offen, auch nach Ihrer Entlassung.‹ Frau Meier erzählt, wie der Rest der Anwesenden den Stift dabei nicht von ihrer Malvorlage nehmend: ›Ich habe auch einen großen Garten und seit dem Tod meiner Mutter muss ich mich sogar um zwei Gärten kümmern. Früher hatten wir sogar eine eigene Taubenzucht.‹

24 Eine Ausnahme stellt Herr Adler zur Gartentherapie sowie Frau Arnolds Einschätzung der Ergotherapie als nicht fordernd genug (s.o.) dar.

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›Das ist eine große Verantwortung, die Sie da hatten‹, kommentiert dies Herr Lichter und als sie nichts erwidert fragt er: ›Was ist sonst gut daran, eine Betätigung zu haben?‹ Er ist der Einzige, der keinen Stift in der Hand hält, alle malen entweder aus oder schreiben Feldnotizen. ›Arbeit ist schön, weil man da ein bisschen unter Leute kommt‹, sagt Frau Schindler und die anderen Anwesenden nicken, den Blick auf ihre Mandalas. Der Ergotherapeut berichtet daraufhin, dass man zum Beispiel im ›Hafen‹, einem ambulanten arbeitstherapeutischen Projekt im Ort, arbeiten könnte und schaut Herrn Schmuckert an, dessen Entlassung in den nächsten Tagen ansteht. ›Da gibt es auch kein Geld‹, sagt dieser und schüttelt missbilligend mit dem Kopf. ›Früher war ich Gabelstapelfahrer, mein Sohn macht das immer noch‹, fügt er hinzu. ›Sie könnten doch wie Frau Schindler mit einer 400€-Stelle anfangen, sie arbeitet hier bei einem Sicherheitsdienst in der Nähe‹, schlägt Herr Lichter vor. Dann fragt er Frau Schindler, wie es dort sei, sie berichtet davon, dass sie ein bis zwei Stunden täglich arbeite, die Türen und Fenster schließe und schaue, ob im Haus alles in Ordnung sei. ›Das ist nichts für mich, da kommt ja auch nichts bei rum‹, murrt Herr Schmuckert. ›Ich will wieder eine richtige Arbeit‹, sagt er dann ohne viel Nachdruck in der Stimme. Herr Lichter gibt zu bedenken: ›Dann hat man aber eine Aufgabe. Und das Beispiel von Frau Schindler habe ich nur genannt, damit Sie sehen, was möglich ist.‹ Als der Ergotherapeut und ich nach dem Abschluss der Ergotherapie noch kurz beisammen stehen, sagt Herr Lichter etwas resigniert: ›Das die immer Mandalas malen müssen. Ich würde gern andere Dinge mit ihnen machen, aber wenn einer der Patienten mit Mandalas anfängt, wollen alle anderen auch nur ausmalen.‹« [Feldnotiz 09.03.2012]

Die Sequenz beschreibt eine vergleichsweise gesprächsintensive Ergotherapieeinheit. Während die Nutzerinnen sich mit dem Ausmalen einer Malvorlage beschäftigt sind, initiiert Herr Lichter eine Unterhaltung über die Beschäftigungsperspektiven eines kurz vor der Entlassung stehenden Nutzers. Die spezifische Art der Gesprächsführung des Ergotherapeuten wird hier als ergotherapeutisches tinkering konzeptualisiert, welches den Wunsch nach Produktivität der Nutzerinnen durch kleinteilige Interventionen in bestimmte Bahnen zu lenken versucht. Dennoch stellt sich die Frage, ob und wieweit Herr Schmuckert und die anderen Nutzerinnen als selbstbestimmte und aktiv Handelnde verstanden werden können, da Herr Lichter derjenige zu sein scheint, der sowohl das Ziel, den Inhalt als auch die Bewertung des Diskussionsinhalts zu bestimmen scheint. Das Gespräch unterstreicht, wie jede Interaktion in der Ergotherapie therapeutische Qualität erhalten kann. Erwachsene würden untereinander generell schlicht nicht fragen, was gut daran sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder einander erklären, dass Arbeit zunächst eine sinnbringende Aufgabe sei.

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Doch Herr Schmuckert hat sich für das Mandala entschieden und der Gesprächsinhalt kreist bereits um seine Zeit nach der Behandlung, einen Zeitpunkt also, in dem Herr Lichter nicht mehr sein Ergotherapeut sein wird, die Entscheidung ob und wie er sich um eine Stelle bemüht, verbleibt daher beim Nutzer. Obwohl sich Herr Lichters und Herr Zieglers Arten der Entscheidungsfindung über die Gestaltung der Ergotherapie in den beiden Sequenzen daher stark voneinander unterscheiden, streben beide die langfristige Vergrößerung der Autonomie ihrer Nutzerinnen in ihren Privatalltagen an. Ergotherapeutisches tinkering wird daher weniger als symmetrischer Aushandlungsprozess gleichberechtigter Partnerinnen verstanden, sondern als Form der sozialen wie materiellen Justierung (vgl. Mol 2006, 407) und kleinteiligen anpassenden Improvisation von (noch vorhandenen oder zu erreichenden) Fähigkeiten und Chancen für einen in der Zukunft liegenden autonomen Alltag. Herr Lichter gibt zunächst das Thema vor und leitet das Gespräch im folgenden Verlauf durch gezielte Nachfragen und (Wahrnehmungs-) Korrekturen in ergotherapeutische Pfade. Er nutzt das Beispiel von Frau Schindlers Anstellung in einem Sicherheitsdienst um Herrn Schmuckert zu verdeutlichen, »was möglich sei«. Obwohl sie angibt, besonders die Möglichkeit des zwischenmenschlichen Kontakts, den ihr die Arbeit gebe, zu schätzen, hebt Herr Lichter die »Aufgabe« hervor, die eine Anstellung ihm zufolge besonders erstrebenswert mache. In der strukturschwachen Region, in der die Klinik sich befindet, ist es für länger aus dem Berufsleben ausgeschiedene psychisch Kranke nahezu unmöglich, eine reguläre Erwerbsarbeit anzutreten. (Bühring 2014, Bundesagentur für Arbeit 2017) Das Gespräch über die geringfügige Beschäftigung scheint also für Herrn Lichter vor allem den Zweck zu erfüllen, Herrn Schmuckerts realitätsferne Vorstellungen über den Ersten Arbeitsmarkt zu korrigieren und ihn in eine Form der Betätigung zu bringen. Nachdem dieser das Angebot, im »Hafen«, dem ambulanten Arbeitstherapieprojekt der Klinik, tätig zu werden, rigoros ablehnt, nutzt der Ergotherapeut das Beispiel Frau Schindlers, um über die Vorteile einer Teilzeitbeschäftigung zu sprechen. Der tiefere Sinn von Erwerbsarbeit wird von Herrn Lichter und Herrn Schmuckert unterschiedlich definiert. Während sich Herr Schmuckert vor allem für die finanzielle Entlohnung zu interessieren scheint, also Arbeit suche, bei der was »rumkomme«, konzentriert sich Herr Lichter in seiner Argumentation vor allem auf die Betätigung selbst. Dieses Verständnis von Produktivität verweist erneut auf einen akto- und produktozentrischen Ansatz, der die Herstellung eines Produkts vor allem mit einem Erfolgserlebnis verbindet und daraus sowie aus der Betätigung selbst eine heilsame Wirkung ableitet. Die anderen Berufsgruppen in

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der Psychiatrie teilen diese Fokussierung auf die Produktivität nicht, sondern fetischisieren das Soziale geradezu. In der bereits erwähnten Ethnografie »Choreographien psychiatrischer Praxis – Eine ethnografische Studie zum Alltag in der Psychiatrie« beschäftigt sich Martina Klausner damit, wie das Behandlungsteam einer sozialpsychiatrischen25 »Klinik spezifisches Wissen und einen zeitlich-räumlichen Rahmen bereithält, um Menschen in akuten psychischen Krisen wieder in möglichst »normale« Alltage zu überführen.« (Klausner 2015, 307) Klausners Studie setzt daher bei einer ähnlichen Fragestellung zu den »Alltagsbefähigungspraktiken« in der stationären Psychiatrie an, die sie als Choreografien im Sinne der nordamerikanischen Anthropologin und Professorin für Gender Studies Charis Thompson (vgl. 94f.) fasst. Sie legt eine empirisch fundierte Analyse des institutionellen Stationsablaufs im Sinne eines zeitlich-räumlichen Arrangements der Station als Ganzes und den ermöglichten ›Pfaden‹, die sozialpsychiatrische Choreografien den Nutzerinnen für ihre poststationären Alltage aufzeigen, vor, ohne dabei jedoch die Spezifika der einzelnen Berufsgruppen herauszuarbeiten. Die Autorin beschreibt die Station als »›Laboratorium des Sozialen‹, in dem unter regulierten Bedingungen an der Gestaltung sozialer Beziehungen und einer Routinisierung des Alltags gearbeitet wird.« (Klausner 2015, 251) Während sich diese Beschreibung zu Teilen auf die ergotherapeutischen Bereiche der von mir teilnehmend beobachteten Stationen problemlos übertragen ließe, ist der ›Versuchsaufbau‹ im ergotherapeutischen ›Laboratorium‹ nicht vorrangig auf das Soziale im Sinne der Förderung von zwischenmenschlicher Interaktion und die Anpassung an sozial akzeptiertes Verhalten gerichtet. Obwohl die Förderung der sozialen Interaktion und Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten der Nutzerinnen auch in der Ergotherapie relevant ist, richtet sich die Wiederherstellung von »Handlungsfähigkeit im Alltag« auf etwas Anderes.

25 Die Kliniken, in denen ich meine teilnehmende Beobachtung durchgeführt habe, verstehen sich ebenfalls als sozialpsychiatrisch. Für die Ergotherapie ist diese für den medizinischen Fachbereich sehr wichtige Verortung der therapeutischen Ausrichtung allerdings nicht so relevant wie für andere. In einem informellen Gespräch wurde mit so von einer Ergotherapeutin gesagt, dass die psychiatrische Ergotherapie in gewisser Hinsicht stets sozialpsychiatrisch sei. Die Re-Integration ins soziale Leben außerhalb der Klinik wäre für dieses Berufsfeld immer schon zentral gewesen, weshalb ein Klinikwechsel oder Wandel der therapeutischen Ausrichtung für die Ergotherapie mit deutlich weniger Änderungen im konkreten Behandlungsalltag verbunden sei als beispielsweise für die Pflege oder die Medizin.

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Das Äquivalent vom sozialpsychiatrischen »Soziallabor« wäre meines Erachtens daher die ergotherapeutische Werkstatt. 26 Die »Werkstatt« im Sinne eines Ortes der Objektherstellung sowie der handwerklichen wie gestalterischen Produktion und Kreativität, deutet »Alltag« und die hiermit verbundenen Fähigkeiten deutlich materieller und manueller – ›handfester‹ – als die Gesprächstherapien und ärztlichen Behandlungsgespräche, auf die sich Klausner in ihrer Analyse vorrangig bezieht. Die soziale Interaktion der Nutzerinnen wird nicht nur während ihres Klinikaufenthalts gefördert, sondern soll durch die möglichst starke Einbindung von Angehörigen (und, wenn nötig, Institutionen wie dem sozialpsychiatrischen Dienst oder gemeindepsychiatrischen Einrichtungen) im außerklinischen Lebensumfeld ein Netzwerk der Sorge um die Nutzerinnen entstehen lassen. Klausner verwendet hierfür den von den in den USA lehrenden Anthropologinnen Veena Das und Ranendra Das gesetzten Begriff »Ecologies of Care«. (Das und Das 2006, 2007) Gemeint ist die soziale, medizinische und politische Verknüpfung vom (ambulanten) professionellen Versorgungssystem, lokalen Politiken sowie helfenden Familienangehörigen und Freundinnen. Die Ergotherapie strebt auch eine Umgestaltung des Lebensumfelds an, bezieht sich hierbei allerdings stärker auf die Betätigungsebene sowie den Umgang mit Objekten. In Herr Schmuckerts Fall sorgt die strukturschwache Region, in der er lebt, dafür, dass es nach seinem längeren krankheitsbedingten Ausfall schwierig bis unmöglich erscheint, wieder auf dem Ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das von Herrn Lichter angestrebte tinkering betrifft also vorrangig Herrn Schmuckerts Vorstellung davon, was »möglich ist«, denn im Gegensatz zur Ergotherapie, in der wie in der ersten Sequenz dieses Kapitels »alles möglich« ist, gilt dies für den außerklinischen Alltag nicht mehr. Genesen wird so zu einer Anpassung der Erwartungen an die nun geringeren Chancen im Berufsleben im Sinne einer »Wahrnehmungskorrektur«. Die erwartete Justierung ist also weniger im Verhalten oder der Produktivität des Nutzers zu suchen, sondern in seiner Wahrnehmung von seiner zukünftigen Partizipation am Erwerbsleben. Der Alltag von psychisch Erkrankten wird hier entgegen der stets hervorgehobenen Zielvorgabe zur Befähigung zu einem autonomen und zufriedenstellenden Leben als mit starken Einschränkungen verbunden definiert, von einem status quo ante kann daher nicht

26 Werkstatt oder Werkraum sind auch häufig die Eigenbezeichnungen der Ergotherapieräume. In Anbetracht der meist von den Ergotherapeutinnen angebotenen Back- und Kochgruppen sollte die Stations- beziehungsweise Klinikküche zur Zubereitung von Nahrungsmitteln um die Nutzerinnen in ihren Möglichkeiten zur Selbstversorgung zu unterstützen, ebenfalls genannt werden.

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mehr die Rede sein. (Vgl. auch durch Krankheit veränderte Alltage bei Amelang, 62ff.) 7.7.2 Produktivität als Problem »Die heutige Werkgruppe fällt in die letzten Tage vor Beginn der Adventszeit. Auf dem großen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes liegen Bücher mit weihnachtlichen Bastelanleitungen, mehrere Packungen Lametta, Anhänger in Form von Miniaturgeschenkpaketen, Schneemännern und Sternen, in rot und grün gehaltene Pfeifenreiniger, Draht und Kerzen und anderes Bastelmaterial. In einer Ecke des Raumes liegt ein Berg von Tannenzweigen nebst etlichen Styroporringen, die als Grundlage für Adventskränze gedacht sind. Die meisten Teilnehmerinnen sitzen bereits am Tisch, die Materialien für ihre heutige Arbeit vor sich liegend. Herr Lichter setzt an, die Eingangsrunde einzuleiten, in der alle Teilnehmerinnen davon berichten, was sie heute tun wollen und was sie hiermit erreichen möchten, als Frau Arnold stürmischen Schrittes den Raum betritt. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, als sie schnurstracks und scheinbar ohne die anderen Menschen im Raum wahrzunehmen, in Richtung der Tannenzweige läuft, einen Zweig nach dem anderen aus dem Berg herauszieht und in ihrer Armbeuge stapelt. ›Frau Arnold, schön, dass Sie da sind. Sie wollen heute einen Adventskranz herstellen?‹, sagt der Ergotherapeut in ihre Richtung, während sich die anderen Teilnehmerinnen vielsagende Blicke zuwerfen und sich dann in ihre Tätigkeiten vertiefen. ›Ich mache den schönsten Adventskranz, den die Station je gesehen hat!‹, entgegnet diese und lässt die Zweige fallen um nach einem, dem größten der Styroporringe zu greifen. Dann stellt sie diesen auf einem Stuhl mitten im Raum ab. Frau Arnold beginnt mit hastigen Bewegungen, die Tannenzweige um den Ring herum zu drapieren. Herr Lichter fragt sie, ob sie sich nicht lieber an den Tisch zu den anderen setzen möchte, doch Frau Arnold schüttelt nur widerwillig den Kopf und stapelt in ausladenden Bewegungen weitere Zweige auf den Stuhl. Als er ihr eine Spule mit Draht reichen möchte, um die Zweige am Ring zu befestigen, lehnt sie auch diesen ab, steht aber auf, um zum Tisch zu gehen. Von dort nimmt sie nacheinander mehrere bereitgestellte Materialien vom Tisch von Lametta bis Pfeifenreiniger und schmückt ihren Kranz damit. Herr Lichter wendet sich einer anderen Teilnehmerin zu und bespricht die Vorgehensweise zur Herstellung einer Weihnachtskarte mit ihr, während Frau Arnold einen Blumenkegel aus Plastik im Regal für Patientinnenarbeiten entdeckt hat, ihn an sich nimmt und in seine Einzelteile zerlegt. Die einzelnen Blumen verteilt sie nun auf ihrem, bereits reich geschmückten Kranz. Unschlüssig, ob ihr Verhalten ein Eingreifen erfordert, schaue ich mich um, aber Herr Lichter ist beschäftigt und die anderen Teilnehmerinnen scheinen ungewöhnlich vertieft in ihre Arbeit zu sein.

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Als Herr Lichter den abgepflückten Blumenkegel neben Frau Arnolds Adventskranz entdeckt, legt er seine Stirn für einen Moment in tiefe Falten und holt tief Luft, atmet langsam und gepresst aus und sagt dann mit betont ruhiger Stimme zu Frau Arnold: ›Da reden wir gleich noch einmal drüber.‹ Frau Arnold ignoriert dies, sagt in die Runde, dass es nun nichts mehr zu tun gäbe für sie und verlässt in eiligen Schritten die Werkstatt. Herr Lichter blickt ihr kopfschüttelnd hinterher, geht langsam in den Flur, sieht ihr nach und achtet darauf, dass sie die Ergotherapie in Richtung Station und nicht zum Ausgang verlässt und kommt erst zurück in den Raum nachdem das Geräusch der sich schließenden elektrischen Tür zu hören war.« [Feldnotiz 26.11.2012]

Am gleichen Nachmittag findet ein Interview zwischen Frau Arnold und mir statt. Sie ist eine kleine, drahtige Mittvierzigerin, Mutter zweier nahezu erwachsener Kinder und war vor dem Beginn ihrer Erkrankung als Wissenschaftlerin tätig. Seit einigen Jahren ist sie eine sogenannte »Drehtürpatientin«, verbringt also mehrmals im Jahr durchschnittlich einige Wochen in Behandlung auf der Station. Ich hatte sie vor einer Woche gebeten, mir etwas über ihre Sicht zur Ergotherapie zu erzählen, um mir so bei meiner Forschung über diese zu helfen.27 Auf meine Bitte, mir zu sagen, was die Ergotherapie für sie bedeute, antwortet sie, für sie stünde die Arbeit im Vordergrund. Sie fügt hinzu: »Die Arbeit und die Erlösung. Die Erlösung vom Alltag geht in die Arbeit. Und die Arbeit ist der Schlüssel für mein Gehirn. Arbeiten. Mein Gehirn arbeitet den ganzen Tag, durch Arbeit wird man wieder frei. Man kann dort in der Ergotherapie seine Wünsche und alles was man will, erfüllen, in dem man so ein Gesteck oder so was – wie ich heute gemacht habe. Man darf dabei sich nicht bremsen lassen, weil das sind meine Gedanken, die ich dort verwirkliche in der Arbeit.« [Interview P2, 26.11.2012]

Frau Arnold verdeutlicht, dass ihr die Ablenkung durch Betätigung helfe, ihre Gedanken zu ordnen und sich kreativ auszudrücken. Dennoch nimmt sie nur unregelmäßig an der Ergotherapie teil. Als ich sie frage, ob sie das Gefühl habe, vom ergotherapeutischen Angebot profitieren zu können, verneint sie dies und ergänzt knapp: »Zu niedrig. Mein Niveau ist höher.« Als ich sie bitte, dies zu näher zu erläutern erzählt sie, dass sie bereits seit mehr als 15 Jahren »von der Krankheit verfolgt« werde und bereits mit allem, was es in der Ergotherapie gäbe, gearbeitet

27 Frau Arnold hat mir während des Gesprächs ihr Einverständnis zur anonymisierten Veröffentlichung gegeben. Das Gespräch findet in ihrem Patientinnenzimmer im Anschluss an die Werkgruppe statt. Frau Arnold wirkt an diesem Tag sehr agitiert und zerfahren, weshalb ich das Interview nach einigen Minuten abbreche.

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zu habe. Ich bitte sie daraufhin, mir von ihrem Alltag zu erzählen. Sie betont, der sei »schön«, da sie ihn sich »selbst einrichte« und sie tun könne, wozu sie Lust habe. Ich frage sie, was sie glaube, was man für Alltag können müsse und was für sie eine alltagsfähige Person ausmache, woraufhin sie zunächst nur knapp sagt, dass diese Person alles könne. Nach kurzem Überlegen ergänzt sie, dass mögliche körperliche Einschränkungen am Alltag hindern könnten. Die Ergotherapie würde daher anderen Patientinnen auf der Station helfen: »Da sind die wieder in ihrer Welt. Also in ihrer Arbeitswelt. So rundum alles Arbeit.« [Interview P2, 26.11.2012] Frau Arnold kommt mit einer klaren Vorstellung in die Ergotherapie, wie sie die Zeit dort nutzen möchte. Sie holt sich ihre Materialien eigenständig und lehnt mehrere Kontaktversuche Herrn Lichters ab und besteht darauf, nicht am gemeinsamen Werktisch zu arbeiten. In ihrer Reflexion schwankt Frau Arnold. Einerseits glaube sie, dass ihr die Ergotherapie helfe, sich kreativ auszudrücken, frei und »erlöst« zu fühlen, andererseits sei das Niveau für sie als erfahrende Nutzerin zu niedrig, so dass sie nichts mehr Neues lernen könne. Besonders betont Frau Arnold die produktozentrischen Aspekte und die arbeitstherapeutische Ausrichtung der Ergotherapie und dass sie diese als wichtiges Werkzeug für ihre Selbstentfaltung wahrnimmt. In gewisser Hinsicht verweist ihre Rebellion gegen die Routinen der Ergotherapie allerdings darauf, dass Selbstbestimmung nicht nur ein Mittel für, sondern auch gegen ergotherapeutisches tinkering sein kann. Obwohl in dieser Sequenz jegliche Form des ergotherapeutischen tinkering scheiterte, Herr Lichters Versuch, sie in den gruppentherapeutischen Ablauf einzupassen und eine Reflexion über ihren Produktionsprozess durch ihr vorzeitiges Verlassen der Ergotherapie nicht stattfand, scheint die Möglichkeit, sich durch die Herstellung eines Produkts vom Stationsalltag abzulenken und kreativ auszudrücken für sie einen heilsamen Effekt zu haben.

7.8 PRODUKTIVITÄT – ZWISCHENERGEBNISSE UND ZUSAMMENFASSUNG Im vorangegangenen Kapitel wollte ich verdeutlichen, dass sich die Ergotherapie nicht mit klassischen Definitionen von Care- und Curepraktiken oder einem in der Praxis entstehenden Hybrid der beiden Ansätze fassen lässt und in Methoden und Zielen quer zu diesen steht und eine dritte Form des Sorgens in der Psychiatrie darstellt. Weder pflegerische noch medizinisch-pharmazeutische Therapien ste-

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hen dabei im Fokus, ergotherapeutisches Sorgen zielt vorrangig auf die Aktivierung der Nutzerinnen ab, um ihnen möglichst autonome Betätigung im zukünftigen außerklinischen Alltag zu ermöglichen. Zudem folgt ergotherapeutisches Sorgen weder einer logic of choice noch logic of care im Sinne Mols stringent. Insbesondere hinsichtlich einen der zentralen »Performanzbereiche« »Produktivität« im Alltag zu fördern, sind in der Psychiatrie tätige Ergotherapeutinnen mit mehreren, sich teilweise widersprechenden Therapiezielen konfrontiert. Einerseits sollen Nutzerinnen möglichst selbstbestimmt und auf ihre individuellen Bedürfnisse angepasst zu einer autonomen Alltagsgestaltung befähigt werden. Obwohl auf diesen Aspekt sowohl in den Gesprächen mit den Ergotherapeutinnen als auch in der Fachliteratur sehr viel Wert daraufgelegt wurde und wird, sind es in der Praxis häufig die Therapeutinnen selbst, die die Betätigung auswählen und den Prozess steuern. Andererseits findet die Therapie in einer zeitlich-räumlich stark restriktiven Umgebung statt, die Nutzerinnen sind aufgrund ihrer psychischen Beschwerden nicht immer zu einer aktiven und autonomen Mitarbeit fähig. Zudem stellt sich meines Erachtens nach wie vor die grundsätzlich die Frage, inwieweit »Produktivität« in einer von zunehmend entgrenzter Leistungsorientierung geprägten Gesellschaft ein Ziel ist oder sein soll. Der Fokus auf die Produktivität der Nutzerinnen wird von einigen Forscherinnen aus den Occupational Science und Disability Studies darüber hinaus dafür kritisiert, dass es in einer nicht zu erreichenden und demnach nur mit dem Gefühl des Scheiterns verbundenen Bemühung resultiere. Kurioserweise verschiebt sich allerdings die Definition von Produktivität durch die angebotenen und durchgeführten Betätigungen dermaßen, dass dies nur noch sehr begrenzt der Fall sein dürfte. Während die Herstellung eines Seidenschals oder das Gießen eines unbepflanzten Blumenbeetes schwerlich als produktiv im klassisch marktorientierten Sinne gelten würde, ist es deutlich mehr Nutzerinnen möglich, dieser sehr eigenen Vorstellung von Produktivität zu entsprechen. Da das übergeordnete Ziel der Ergotherapie jedoch die (Wieder-)Befähigung zur »Handlungsfähigkeit im Alltag« der Nutzerinnen ist, liegt die Frage nahe, welche Formen des enablements durch diese Betätigungen erreicht werden können. Vielleicht ist es daher wenig verwunderlich, dass dieser Aspekt von Ergotherapeutinnen und Nutzerinnen so unterschiedlich wahrgenommen zu werden scheint. Während die Ergotherapeutinnen die Sinnhaftigkeit von (individuell bedeutsamer) Betätigung hervorheben, unterstreichen die Nutzerinnen ihre Sicht auf die Ergotherapie als sinnlosen Zeitvertreib oder zumindest als nicht von nachhaltiger Bedeutung. Dies verweist darauf, dass ergotherapeutisches Sorgen eng an Alltagsbetätigungen und die Aktivität und in gewissem Maße auch Autonomie

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oder Wahlfreiheit der Nutzerinnen ausgerichtet ist, dieses auf die Zukunft ausgerichtete, nachhaltige Ziel allerdings mit den Nutzerinnen nur selten reflektiert wird. Dafür ist es sehr relevant die Arbeitsbedingungen der psychiatrischen Ergotherapie in der Regelversorgung mitzudenken, denn neben Frau Yildiz und Frau Grün, Herrn Schmuckert und Herrn Adler nehmen an der jeweiligen Ergotherapie mindestens fünf bis zehn andere Nutzerinnen teil.28 Im Rahmen eines gruppentherapeutischen Angebots dieser Größe sind regelmäßige, individuelle ergotherapeutische Zielvereinbarungen mit den Nutzerinnen schlicht nicht möglich. Dennoch stellt sich die Frage, ob von den Nutzerinnen daher eine Art »intuitives Verständnis« vom Sinn und Ziel der Ergotherapie erwartet wird, oder ob es als für den Behandlungserfolg nicht maßgeblich wahrgenommen wird, dass die Nutzerinnen immer wissen, dass an ihrer »Alltagsbefähigung« bearbeitet werden soll. Zudem ist in diesem Abschnitt die Bedeutung von »Alltag« und Befähigung nicht weniger problematisch, lassen sie doch den Alltag ›draußen‹ weitgehend außen vor. Während entweder an der Selbstwahrnehmung der Nutzerinnen als produktive Gestalterinnen oder ihren Fähigkeiten hierzu gearbeitet wurde, diese in ihrer Wahrnehmung des außerklinischen Alltags korrigiert wurden oder in ihren Fähigkeiten selbst an die Anforderungen eines imaginierten »Alltags« angepasst werden sollten, blieben es stets die Nutzerinnen selbst, nicht die Alltage im Sinne des heimischen Wohn- und Betätigungsfelds, die es zu verändern galt. 29 Die Alltage der Nutzerinnen außerhalb der Institution verbleiben daher schemenhaft. Die Art der Betätigungen, die in der Ergotherapie angeboten werden, lässt allerdings einen radikalen Bruch mit Gewohntem vermuten: Wissenschaftlerinnen flechten Adventskränze und ehemalige landwirtschaftliche Mitarbeiterinnen beschäftigen sich mit Seidenmalerei. Wenn durch diese Betätigungen zu Alltag befähigt wird, verweist dies auf sehr andere »Alltage«, die nicht nur eine andere Definition von Produktivität beinhalten. Anstatt zum status quo ante hinzuarbeiten, werden hier

28 Eigentlich ist die Teilnehmerinnenzahl für die Ergotherapie auf sechs Nutzerinnen pro Einheit begrenzt, wird aber in allen von mir teilnehmend beobachteten Kliniken aus Kosten- und Personalengpässen konstant überschritten, da sonst die Versorgung aller Nutzerinnen nicht gewährleistet wäre. 29 Von einer systematischen Auseinandersetzung mit den Lebenswirklichkeiten der Nutzerinnen kann unter diesen Umständen (das heißt vor allem dem Arbeitspensum der Ergotherapeutinnen) nicht gesprochen werden. Die psychiatrische Akutbehandlung im häuslichen Umfeld (z.B. home treatment) ist nach wie vor nur im Rahmen von Pilotprojekten und nur einer geringen Anzahl von Nutzerinnen zugänglich und auch die ambulante Versorgung durch Ergotherapeutinnen sieht in der Regel keine Hausbesuche vor. (Aktionsbündnis seelische Gesundheit 2017, Gühne et al. 2011)

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neue »Alltage« konstruiert, bei denen eine Erwerbstätigkeit als Wissenschaftlerin nicht mehr im Rahmen des Möglichen zu sein scheint und in der Produktivität eher mit Beschäftigung in der Freizeit gleichzusetzen ist. Die Hinführung zu Produktivität ist nicht auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet und die angebotenen Betätigungen haben nur selten direkte Bezüge zu den Alltagen der Nutzerinnen vor ihrem Klinikaufenthalt. Befähigung zur Produktivität im Alltag meint hier also zunächst eine Bedeutungsverschiebung hin zu einem weniger aussichts- und chancenreichen »Alltag«. Ergotherapeutisches tinkering ist hierbei zwar ausgerichtet auf die Herstellung von nach wie vor möglichst autonomer Alltagsführung durch kontinuierliches Ausprobieren und Ausjustieren und kleinteilige aber kontinuierliche Hilfestellungen im Umgang mit dem Material durch die jeweilige Ergotherapeutin, wird aber nicht unbedingt im Modus der Gleichberechtigung durchgeführt. Ergotherapeutisches tinkering ist daher weniger als symmetrischer Aushandlungsprozess gleichberechtigter Partnerinnen zu verstehen, sondern als Form der sozialen wie materialen Justierung (vgl. Mol 2006, 407) und kleinteiligen, anpassenden Improvisation von (noch vorhandenen oder zu erreichenden) Fähigkeiten und ist dabei weniger auf die verbale Verhandlung zwischen Behandelnden und Behandelten als auf die materiale Auseinandersetzung zwischen Nutzerinnen und Objekten ausgerichtet.30 Zusammenfassend zeichnet sich ergotherapeutisches tinkering daher durch den vorsichtigen, experimentierenden Versuch der Ergotherapeutinnen aus, Nutzerinnen und Therapieobjekte in eine gesundheitsfördernde Produktion für einen ›neuen‹ Alltag zu bringen.

30 Auch bei Mol et al. basiert tinkering nicht zwingend auf einer verbalen Übereinkunft: »Though ›negotiation‹ is not quite the right term, as it calls up verbal argumentation. In practice, however, seeking a compromise between different ›goods‹ does not necessarily depend on talk, but can also be a matter of practical tinkering, of attentive experimentation.« (Mol, Moser, und Pols 2010, 13)

8. Fazit – Werkstatt neuer »Alltage«

Im folgenden Fazit werde ich die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zu den »Alltagbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie zusammenfassend darstellen. Gemäß der doppelten Ausrichtung dieser Arbeit richtet sich der erste Teil vornehmlich an die Europäische Ethnologie, der zweite an Ergotherapeutinnen aus Forschung und Praxis sowie ihre Bezugswissenschaft, die Occupational Science. Der erste Teil des Fazits ist ein Plädoyer für eine theoretische Perspektive, die zur Entmarginalisierung von Alltag als exklusiven Handlungs- und Lebensraum beiträgt und »Alltag« als den Nutzerinnen der Psychiatrie temporär abhandengekommen konzeptualisiert beziehungsweise außerhalb dessen die in der Psychiatrie Tätigen in dieser Lesart arbeiten sollen. Im ersten Abschnitt arbeite ich auf eine Reflexion hin, die danach fragt, inwieweit die ergotherapeutische Werkstatt ›neue Alltage‹ herstellt, das heißt danach, wie eine empirisch-analytische Annäherung an die ergotherapeutischen »Alltagsbefähigungspraktiken« zur theoretischen Auseinandersetzung in der Europäischen Ethnologie/Sozialanthropologie über »Alltag« beitragen kann. Hierzu werde ich zuerst die zentralen Ergebnisse der Kapitel zu den Routinen sowie der Materialität und Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« zusammenfassend darstellen und in Bezug zueinander setzen. In den Abschnitten zu den »Alltagsverortungen« und der »Alltagsautonomie« arbeite ich mein Plädoyer für einen »Alltag für alle« weiter aus und verweise erneut auf die multiplen Logiken der Praxis ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung«. Der zweite Teil zielt, ohne als Fachfremde den Anspruch erheben zu wollen oder können, eine Praxisanleitung zu verfassen, darauf ab, zu einer vertiefenden Diskussion und Reflexion über ergotherapeutischen »Alltag« aus der Praxis und Forschung selbst anzuregen, indem ich die drei zentralen empirisch-theoretischen Kategorien »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« erneut aufgreife.

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Beide Teile des Fazits zusammen genommen verweisen auf, in der Auseinandersetzung mit den »Alltagsbefähigungspraktiken der psychiatrischen Ergotherapie« aufgekommene Forschungsdesiderate und ist ein erneutes Plädoyer für eine diesbezüglich engere Zusammenarbeit zwischen Europäischer Ethnologie und Occupational Science in der Zukunft.

8.1 FAZIT 1 Im diesem Abschnitt werde ich als Fazit, welches sich vornehmlich an die Europäische Ethnologie und andere Sozialwissenschaften richtet, versuchen, die empirisch-theoretischen Kategorien »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« erneut aufzugreifen, um danach Überlegungen dazu anknüpfen zu können, ob und inwiefern die Ergotherapie eine Werkstatt ›neuer Alltage‹ darstellt. Die Wiederbefähigung routinierter Alltagshandlungen wird von den Ergotherapeutinnen in meinem Feld vorrangig mit der Strukturierung und Ordnung von Alltag assoziiert, wie ich es im Kapitel zu den Routinen ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« (vgl. 103) darzulegen versucht habe. In der Praxis der stationären Therapie steht allerdings weniger die Tagestrukturierung als entlastende und emotional stabilisierende Tätigkeiten im Vordergrund. Automatismen, das heißt rhythmische, sich wiederholende und weitestgehend ›gedankenverloren‹ ausführbare Handlungsabläufe wie das Ausmalen von Malvorlagen (113ff.), das Apfelschälen (111ff.) oder Kaffeemahlen (138ff.) werden vielfach ergotherapeutisch eingesetzt. Sie sind in der Kommunikation zwischen Nutzerinnen und Ergotherapeutinnen allerdings selten Thema oder Grundlage einer weitergehenden Reflexion über etwaige Zusammenhänge zwischen Tätigkeit und psychischer Belastung, die Grund für den Klinikaufenthalt war. Die Explizierung impliziter Tätigkeiten zu deren Befähigung scheint daher in diesem Fall nicht zwingend notwendig zu sein. Es handelt sich um eine Art des learning by doing, ohne dass dieser Umstand den Lernenden allerdings immer bewusst zu sein scheint. Die hierzu befragten Nutzerinnen wissen in den meisten Fällen nicht, dass die Ergotherapie einen über den Zeitvertreib hinausgehendes Ziel hat und ihrer Weiter- beziehungsweise Wiederqualifizierung dienen soll. Bemüht man die Metapher der ergotherapeutischen »Alltagsbefähigung« als Ausstellung einer »Ersatzlandkarte« für den Alltag erneut (vgl. 105), werden in der Ergotherapie keine Karten ausgegeben. Die ›Wege‹ werden ganz praktisch immer wieder ›abgelaufen‹, mit dem Ziel, dass die Nutzerinnen einen Orientierungssinn entwickeln. Problematisch ist dabei jedoch, dass ›das Territorium Alltag‹ sehr weitläufig ist, die Ergotherapeutinnen ihren Nutzerinnen also im Rahmen

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der eineinhalbstündigen Therapieeinheit und auch über den Verlauf der Therapie nur einen kleinen Teil des ›Geländes‹ erschließen können. Beim Alltag (Handlungsraum) und »Alltag« (Konzept) innerhalb und außerhalb der Klinik handelt es sich zudem um andere ›Territorien‹, wie ich es im Abschnitt »Alltagsverortungen« näher ausführen werde. Des Weiteren habe ich argumentiert, dass der Einsatz routinierter Bewegungsabläufe primär auf die Ablenkung und Entlastung (zum Beispiel von quälenden Gedanken oder Ängsten) abzielt. Routinen in der stationären psychiatrischen Ergotherapie sind daher nur mittelbar auf deren Implementierung im Leben der Nutzerinnen nach ihrem Krankenhausaufenthalt gerichtet. Dies mag zu Teilen in meiner Datenauswahl begründet sein, dennoch bleiben Routinen zumeist eine stumme Kategorie. Die charakteristischen soziomateriellen Arrangements der psychiatrischen Ergotherapie bedingen und beeinflussen ihre »Alltagsbefähigungspraktiken«. Sie wirken dabei in unterschiedlichen Maßstäben. Auf die materielle Spezifik psychiatrisch-ergotherapeutischer Räume das heißt der Inneneinrichtung und -architektur und einem vergleichsweise großen Betrachtungsausschnitt habe ich bereits in der Einleitung (7ff.) aufmerksam gemacht. Die ›beunruhigend‹ bunte und unsortierte ergotherapeutische Werkstatt stand im krassen Gegensatz zur sterilen und minimalistisch gehaltenen Station und ganzen Klinik. Im Kapitel zur Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« (127ff.) habe ich zwei weitere zentrale soziomaterielle Arrangements, den Stützpunkt sowie den Aufenthaltsraum (159ff.) gegenübergestellt und in Relation gesetzt, die ich als die psychiatrische Station besonders kennzeichnend betrachte. Ergotherapeutische Räume sollen eine Alltagsnähe suggerieren und das Gefühl von Gemütlichkeit vermitteln. Diesen erwünschten Import von »Alltag« in die Klinik wird im besonderen Maße mit den eingesetzten therapeutischen Objekten beabsichtigt. Die Technikferne der nach wie vor stark auf (kunst-)handwerkliche Betätigung fokussierten psychiatrischen Ergotherapie vermittelt einen »Alltag« der in eine vergangene Zeit zu gehören scheint. Verfechterinnen des Handwerks in der psychiatrischen Ergotherapie stellen allerdings weniger die Alltagsnähe, sondern den Bedarf und hohen Nutzen für die Förderung der Feinmotorik in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Die spezifische Haptik der handwerklich-gestalterischer Betätigungen fördere und fordere unter anderem Geduld und Präzision. Die Auswahl wird weniger mit der Alltagsnähe im Sinne der Häufigkeit begründet, also ob Nutzerinnen in ihren Privatalltagen öfter mit Holz hantieren oder auf dem Bildschirm ihres Mobiltelefons navigieren. Vielmehr tauchen dort neben der Anpassung des Materials an die zu behandelnden physiologischen Bewegungsabläufe sehr ähnliche Erklärungsmuster

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auf, wie sie die arts-and-crafts-Bewegung bereits verwendete. (29) Im Abschnitt zu dieser Bewegung habe ich unter anderem auf die politisch bis sozialromantische Verklärung des Objektumgangs durch die arts-and-crafts-Bewegung verwiesen. Vielleicht manifestiert sich in der Technikferne der heutigen stationär-psychiatrischen Ergotherapie also neben fehlenden finanziellen Ressourcen von Klinikseite zur Modernisierung des Fachbereichs auch ein normativ geprägtes Konzept von »Alltag«, in dem der Umgang mit technischen Geräten als unproduktiv oder schädlich für die Nutzerinnen wahrgenommen wird und dazu führt, dass diese im Alltag der Werkstatt nahezu unsichtbar werden. Zudem könnte die Tendenz zum Handwerk in der Psychiatrie mit dem ergotherapeutischen »Dreiklang«, also der Relation zwischen Nutzerinnen, Ergotherapeutinnen und eingesetzten Therapieobjekten in Verbindung stehen. Auf der Ebene der Interaktion zwischen Menschen und Objekten argumentierte ich für eine soziomaterielle Trias, da ein theoretisch-empirischer Blick zweier Beteiligter die Vielschichtigkeit der Handlungsebenen und -logiken der Ergotherapie meines Erachtens nicht im hinreichenden Maße erfassen und abbilden kann. Zwischen Ergotherapeutinnen, Nutzerinnen und hergestelltem Objekt in der »Therapie des Alltags« entsteht daher eine Form des enskilments im Sinne Ingolds. In meiner Analyse konnte ich allerdings verdeutlichen, dass in der Ergotherapie die Anzahl von zwei (Produzentin/Produkt) auf drei (Produzentin/Produkt/Therapeutin) Beteiligte erweitert wird und darüber hinaus nicht nur die Aneignung des Herstellungsprozesses selbst, sondern eine übergeordnete »Handlungsfähigkeit im Alltag« durch die Ergotherapie in den Produktionsprozess impliziert wird. Hinzu kommt, dass die erreichenden Therapieziele der Nutzerinnen in der Regel plural sind, also zeitgleich auf mehrere gesundheitliche Verbesserungen hingearbeitet wird. Im Kapitel zur Produktivität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« (169ff.) habe ich dargelegt, dass sich neben der Einübung von Routinen ein Fokus auf Produktivität im Sinne der Produktion eines physischen Objekts ausmachen lässt. Die Art und Weise, wie die Arbeitsschritte der Nutzerinnen in den soziomateriellen Arrangements der Ergotherapie zusammenkommen und synchronisiert werden, legen Assoziationen an die Produktionsabläufe des Taylorismus, im Sinne einer kleinteiligen Arbeitsteilung mit fest abgesteckten Arbeitsaufgaben und Produzentinnen ohne Überblick über den gesamten Produktionsprozess, nahe. Allerdings konzentrieren sich die Ergotherapeutinnen meines Feldes in ähnlich starker Gewichtung auf die soziale Interaktion zwischen den Nutzerinnen. Das Grundbedürfnis nach Sozialität ist das wohl stärkste Argument für die Durchführung der Ergotherapie in der Gruppe und wird insbesondere von Ergotherapeutinnen sozialpsychiatrisch geprägter Einrichtungen als wichtig erachtet. Dennoch

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 209

verweisen die »gelebten« gruppentherapeutischen Angebote auf einen Alltagsbegriff, der »Alltag« als kollektiven Produktionsprozess konzipiert und die soziale Interaktion zwischen den Nutzerinnen nur selten, wie Konflikten untereinander, zur Sprache kommen lässt. Abschluss- oder Reflexionsrunden fallen insbesondere nach Gruppenangeboten häufig aus oder verbleiben bei Nachfragen zu den individuellen Erfolgen und weiteren Plänen der Nutzerinnen. In den Überlegungen dieses Abschnitts legte ich dar, dass die Betätigungen in der psychiatrischen Ergotherapie weitgehend impliziten »Alltagsbefähigungspraktiken« dienen sollen. Diese werden meines Erachtens allerdings nicht zeitweilig expliziert, sondern verbleiben impliziert im Sinne eines learning by doings oder einer praktischen Geländeerkundung zur Orientierung ohne Landkarte. Diese »Ersatzlandkarte« für ein so großes Gebiet wie den »Alltag« kann es schlicht nicht geben, beziehungsweise würde sie ähnlich wie ein Globus einen derart großen Maßstab haben, dass sich mit ihr in der Praxis nur schwerlich von Ort zu Ort navigieren ließe. Die Soziomaterialität der ergotherapeutischen Werkstatt repräsentiert nicht nur einen bunten Gegenentwurf zur sterilen Klinik, sondern verweist insbesondere für jüngere Nutzerinnen auf ihnen nur mittelbar bekannte traditionelle oder vergangene »Alltage«. Der Einsatz vornehmlich (kunst-)handwerklicher Therapieobjekte weckt Assoziationen mit der arts-and-crafts- und neueren DIY-Bewegung zugleich, ihre Anhängerinnen argumentieren allerdings auf Basis der Behandlung von physiologischen Körperfunktionseinschränkungen und nicht mit der möglichst großen Nähe zu den Alltagen der Nutzerinnen. In dieser Logik verfolgt die Ergotherapie nicht mehr das Ziel einer möglichst detailgetreuen Simulation, sondern arbeitet auf die Schaffung eines utopischen Gegenentwurfs zum außerklinischen Alltag hin. Diese Alltagsutopie wird gebrochen durch die Art und Weise der Koordination von Produktionsprozessen insbesondere im Rahmen von Gruppenformaten, die ebenfalls auf vergangene »Alltage«, allerdings aus dem Repertoire der politischen Opposition zu verweisen scheinen. Obwohl »Produktivität« nicht vornehmlich auf die politisch-ökonomische Ebene anspielt, sondern schlicht auf den Modus der Herstellung eines Produkts bezogen ist, scheinen möglichst passgenaue, aufeinander abgestimmte kollektive Produktionsketten dennoch in einigen Therapieangeboten der Ergotherapie beabsichtigt. Obwohl diese Gleichsetzung eines funktionierenden »Alltags« mit einem reibungslosen Arbeitsablauf in den beforschten Ergotherapien immer wieder gebrochen wird und sich auch als Integrationsbemühung an die Gegebenheiten lesen

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lässt, spiegelt es wider, innerhalb welchem stark politischen Spannungsfeld »Alltag« in der psychiatrischen Ergotherapie positioniert werden muss. Dieser Positionierung oder Verortung von »Alltag« widme ich mich im nächsten Abschnitt. 8.1.1 Alltagsverortungen »Alltag« wird bisher häufig im Heimischen oder familiär Vertrauten verortet. Zugleich wird aber auf seine räumliche Unbegrenzbarkeit und Allgegenwärtigkeit verwiesen, die ihn erst zu einer interessanten analytischen Forschungskategorie werden lässt. (Löfgren 2015, Felski 2000) Forscherinnen des klinischen »Alltags« unterstreichen dessen Spezifik, die sich mit einer vom Festland abgeschnittenen »Insel« vergleichen lässt (Long, Hunter, und van der Geest 2008), heben den extremen oder ungewöhnlichen Alltag von Menschen in gesundheitlichen Krisen hervor (Amelang 2014) oder konzeptualisieren die Klinik als Ort, in dem Alltag durch zeitweilige Explikation simuliert wird um eine wegweisende »Ersatzlandkarte« für den außerklinischen Alltag aushändigen zu können. (Klausner 2015) Wie ich es versucht habe darzulegen, teile ich die Auffassung nicht, dass die für die Alltagssimulation notwendige Ähnlichkeit zwischen Psychiatrie und außerklinischem Lebensumfeld der Nutzerinnen besteht. Die Unterschiede eines von starken zeitlich-räumlichen Restriktionen der Klinik zu einem in dieser Hinsicht autonomen und weniger getaktetem Alltag außerhalb, sind meines Erachtens schlicht zu groß und eine ›Karte des Alltags‹ zudem ein nicht umzusetzendes Projekt. 1 Dennoch teile ich das von Europäischen Ethnologinnen wie Orvar Löfgren und anderen formulierte Plädoyer, »Alltag« als analytische Kategorie als allgegenwärtig wahrzunehmen, und dementsprechend auch keine Unterteilungen zwischen alltäglichen und nicht-alltäglichen Orten, Zeiten oder Menschen zu unternehmen. (Löfgren 2015, vgl. auch 101) Auf das Forschungsfeld psychiatrische Ergotherapie übertragen folgt daraus, dass der stationär-psychiatrische Alltag zwar ungewöhnlich bis extrem wirkt oder wirken mag und für Behandelnde wie Behandelte Krisensituationen darstellen, Alltag aber dadurch nicht zum »Nicht-Alltag« oder Gegenspieler vom ›Alltag der gesunden Anderen‹ wird. Neben dieser grundsätzlichen Kritik an einer zu engen Definition von »Alltag« aus den Reihen der Sozialwissenschaften wie Psychiatrie

1

Eine Ausnahme stellen hierbei Nutzerinnen dar, deren Alltage auch außerhalb der Klinik durch Institutionen wie Pflege- oder Seniorenheimen oder Therapeutischen Wohngemeinschaften geprägt wird.

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 211

habe ich in der vorliegenden Arbeit dargelegt, dass der Alltagsbegriff der ergotherapeutischen Praktiken diese Sicht oftmals teilt. Klinik wird als per se nicht-alltäglicher Raum definiert, »aus dem herausgefunden werden muss« und im dem es, obwohl er »so normal wie möglich gestaltet werden soll«, schlicht keinen Alltag gibt. Obwohl es sich für die einzelnen Nutzerinnen stationärer psychiatrischer Versorgung um akute Krisensituationen handelt und es sich um auf der individuellen Ebene ungewöhnliche Alltage handeln möge, verweist die so intensive Beschäftigung im Rahmen der psychiatrisch-ergotherapeutischen Behandlung meines Erachtens auf die umfangreiche Präsenz von »Alltag«. Ich verstehe den Alltag der Nutzerinnen in stationärer Behandlung daher im Gegensatz zum Usus vieler bisheriger Krankenhausethnografien sogar als exemplarisches Beispiel. Die Unterscheidung von Alltag und »Alltag« (101f) – das heißt dem therapeutischen Konzept oder ergotherapeutischen Alltagbegriff einerseits und der Bezeichnung des menschlichen Lebens- und Handlungsraums andererseits – wird in der psychiatrischen Ergotherapie allerdings nicht klar gezogen. Meines Erachtens zielen »Alltagsbefähigungspraktiken« in der psychiatrischen Ergotherapie daher weniger auf eine Befähigung und Motivation zu ihrem Alltagsbegriff und zu weiten Teilen impliziten Therapiekonzepts »Alltag« ab und auch nicht so sehr auf den lebensweltlichen Privatalltag der Nutzerinnen. Während in der Literatur insbesondere die Stetigkeit und fehlende zeitliche Begrenzung von »Alltag« hervorgehoben wird, wird dieser in der impliziten Konzipierung durch die behandelnden Ergotherapeutinnen in der Psychiatrie zumeist in die Zukunft verlagert. Wird von »Alltag« gesprochen, war damit während meiner Anwesenheit fast nie der Tagesablauf in der Klinik gemeint, sondern neben dem vergangenen Lebensweg der Nutzerinnen vor ihrer Ersterkrankung beziehungsweise vor der ersten oder aktuellen stationären Behandlung vorrangig der zukünftige »Alltag«. Auf diese Projektionsfläche »Alltag« sollen die Nutzerinnen hinarbeiten. »Alltag« ist diesem Verständnis nach in der Ergotherapie nie, sondern soll nur immer sein; die Alltagswerkstatt wird als, dem Produkt »Alltag« vorgelagerten, vor-alltäglicher Ort verstanden. Dies ist einerseits nicht verwunderlich, da die ergotherapeutische Alltagswerkstatt der ›Produktion‹ oder ›Reparatur‹ schlussendlich eben jenes ›Produkts‹ dient. Doch dadurch, dass die Zeit des Klinikaufenthalts als ›unalltäglich‹ und vom ›eigentlichen‹ »Alltag« abgekoppelte »Klinikzeit« konzipiert wird (vgl. Charmaz 2002) wird dieser erst zu etwas Exklusivem. Die Nutzerinnen und ihre Lebenswelten sind nicht nur als Menschen mit psychischen Störungen und, den Querschnitt der Bevölkerung hinsichtlich ihres Alters, Geschlechts, geografischer wie sozialer Herkunft spiegelnde Gruppe ›alltäglich‹ im Sinne von durchschnittlich oder ›normal‹. Wichtiger ist allerdings, dass

212 | Alltagswerkstatt

weder Erkrankungen noch therapeutische Interventionen ihnen den Alltag wegnehmen können, da er zu ihnen (wie allen anderen auch) gehört. Alltag kann den Nutzerinnen dementsprechend nicht abhandenkommen, im Rückkehrschluss allerdings auch nicht (wieder-)gegeben werden. Der Privatalltag der Nutzerinnen vor dem Klinikaufenthalt wirkt dabei wie eine ausgeblendete und zu vergessende Zeitspanne von ergotherapeutischem »Alltag«. Die psychischen Beschwerden die einen Klinikaufenthalt der Nutzerinnen notwendig gemacht haben, verbleiben in der Ergotherapie weitgehend unthematisiert.2 Sprechen die Nutzerinnen ihren Alltag vor der Klinik an, reagierten die Ergotherapeutinnen in den meisten Fällen mit einem sofortigen Themenwechsel oder gingen kurz auf akute Sorgen oder Ängste ein, lenkten das Gespräch aber mittelfristig wieder auf das aktuelle oder anstehende Projekt in der Werkstatt oder ergotherapeutisch genutzten Ort. Dies begründet sich in der Arbeitsteilung der unterschiedlichen zusammenkommenden Mitarbeitergruppen in der stationären psychiatrischen Behandlung und dadurch, dass traumatische Erlebnisse, die die Nutzerinnen aus ihrem Alltag ›mitbringen‹ in der Regel Thema in Gesprächspsychotherapien oder während Krisengesprächen durch die jeweiligen Bezugspflegerinnen sind. Die psychiatrische Ergotherapie agiert, wie jede andere Berufsgruppe in der Psychiatrie nicht im luftleeren Raum, sondern ist sowohl in ein Behandlungsteam sowie in eine klinische Infrastruktur und Gesellschaft eingebettet, die durch meinen Forschungsfokus auf detaillierte und kleinteilige Interaktion in der soziomateriellen Trias in den ergotherapeutischen Behandlungspraktiken zwischen Behandelnden, Behandelten und Objekten an dieser Stelle nur schemenhaft verbleiben können. Dennoch stützt diese Ausklammerung vorklinischer Alltage meine These. Die Ergotherapeutinnen verorten ihre Therapie vor einen erst herzustellenden Alltag der Nutzerinnen insofern, als dass im Sinne eines Bruchs mit dem »alten Alltag« ein »Neustart« ermöglicht werden soll. Obwohl der Zusammenhang zwischen meiner Schwerpunktsetzung auf die Behandlungspraktiken und ergotherapeutischen Konzepte und unterrepräsentierten Stimme der Nutzerinnen im vornehmlich empirischen Teil dieser Arbeit nicht von der Hand zu weisen ist, wirft die Intervention in Richtung eines Neustarts die Frage danach auf, welche Implikationen ein, den ›alten‹

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Aufgrund des Fokus auf die Alltagsbefähigungspraktiken in der Allgemeinpsychiatrie kann den häufigen Bezügen zur Kindheit oder Erinnerung in sogenannten Erinnerungsgesprächsrunden der geriatrischen Ergotherapie keine weitere Beachtung geschenkt werden obwohl sie eine interessante weitere Perspektive für zukünftige Forschungsvorhaben darstellen könnte.

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 213

Alltag der Nutzerinnen ausklammernde Perspektive auf den »Alltag« als therapeutische Kategorie auf die Autonomie der Nutzerinnen hat. 8.1.2 Alltagsautonomie Eng verknüpft mit meinem auf den Forschungsergebnissen meiner Beschäftigung mit den »Alltagsbefähigungspraktiken« basierenden Plädoyer für eine theoretische wie praktische Auseinandersetzung, die den Alltag aller ernst nimmt und respektiert kurz: nach einem »Alltag für alle« ist die Frage nach der Autonomie der Nutzerinnen während der ergotherapeutischen Behandlung. Die Ergotherapie ist sehr bedacht auf die Autonomie der Nutzerinnen, sowohl im Sinne einer »klientenzentrierten« therapeutischen Haltung (Sumsion 2002), sowie als maßgebliches Therapieziel der Ergotherapie. Die Forderung danach ist nahezu Konsens in der ergotherapeutisch-betätigungswissenschaftlichen Praxis und Forschung, nur vereinzelt wird Kritik an der Idee von Autonomie als Qualitätsmerkmal der Behandlung laut. (Hammell 2016) Ob die zeitlich-räumlich starken Restriktionen der stationären Psychiatrie stets einen derart großen Eingriff in die Autonomie der Nutzerinnen darstellen, dass eine ›Therapie des Alltags‹ im Modus der Selbstbestimmung in dieser Umgebung per se nicht gelingen kann, sei dahingestellt. Wichtiger finde ich den Zweifel darüber, ob es so etwas wie einen ›autonomen‹ Alltag überhaupt geben kann und darüber hinaus für Menschen als grundsätzlich soziale Wesen überhaupt erstrebenswert ist. Zudem könnte argumentiert werden, dass ähnlich wie das Verständnis von Ergotherapie von »Alltag« als vor dem eigentlichen Alltag gelegen die Behandlung in der stationären Psychiatrie auch grundsätzlich vor der Autonomie verortet werden muss. Denn obwohl eine möglichst auf die Selbstbestimmung der Nutzerinnen ausgerichtete Ergotherapie der Idealvorstellung aller Involvierten entspricht, würde dies viele der in den Sequenzen beschriebenen, in diesem Moment durch ihre Erkrankung bestimmte Nutzerinnen von einer Behandlung ausschließen. Sie würden schlicht nicht als autonom genug für eine Teilnahme an der Ergotherapie gelten.3

3

In seltenen Fällen, insbesondere bei selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten, werden Nutzerinnen von der Teilnahme an der Ergotherapie ausgeschlossen. Dies ist allerdings erstens selten und tut zweitens meiner Argumentation keinen Abbruch, da die Frage nach autonomen Nutzerinnen nur mittelbar in Zusammenhang mit Selbst- und Fremdgefährdung steht.

214 | Alltagswerkstatt

Alle von mir teilnehmend beobachteten Ergotherapeutinnen haben den Wunsch und Anspruch nach einer auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Nutzerinnen angepassten Therapie geäußert. In der Praxis sind es trotzdem meist sie selbst, die die Betätigung auswählen und den Prozess steuern. Dieses Ziel widerspricht meines Erachtens einer mehrheitlich in gruppentherapeutischen Angeboten verwirklichten Ergotherapie, in der selbst erfahrenste Ergotherapeutinnen nur in Ansätzen »klientenzentriert« arbeiten können. Hinsichtlich des Ziels, Nutzerinnen psychiatrischer stationärer Behandlung eine zukünftig autonome Alltagsführung zu ermöglichen, gibt es einige grundsätzliche Aspekte zu bedenken: Wie ich in der vorliegenden Arbeit argumentiert habe, stellen psychiatrische Erkrankungen, deren Krankheitswert einen stationären Klinikaufenthalt notwendig werden lässt, »Brüche« in den Alltagen der Nutzerinnen dar, eine »Rückkehr«4 in den gewohnten Alltag wird zumindest bei langfristig und schwerwiegenden Erkrankten als nicht mehr möglich konzeptualisiert. Außerdem können sich die Zielsetzungen von Ergotherapeutinnen und Nutzerinnen über das im Rahmen der Therapie zu bearbeitende Problem durchaus unterscheiden. So ist fraglich, wie eine Zusammenarbeit in Richtung eines autonomen Alltags gelingen kann, wenn die Nutzerinnen »Autonomie« beispielsweise mit vermehrtem Alkohol- oder Drogenkonsum assoziieren (Pols, Althoff, und Bransen 2017) oder, die für die Ergotherapie zentrale Betätigung von den Nutzerinnen als für ihr Leben irrelevant erachtet wird. Zudem konnte ich darlegen, dass der Inhalt und die Ziele der Ergotherapie von vielen Nutzerinnen anders bis gegenteilig wahrgenommen werden als von den Ergotherapeutinnen. Hierbei ist die zweite große analytische Kategorie »Praxis« relevant, auf deren Logiken ich im Folgenden näher eingehen möchte. 8.1.3 Logiken der Praxis Das ergotherapeutische Verständnis gegenüber dem Inhalt und Ziel ihrer professionellen Praxis lässt sich, wie ich es bereits erwähnt habe, mit der Selbstbeschreibung des Berufsverbands »Deutscher Verband der Ergotherapeuten« zusammenfassen, laut der Betätigung, sowohl Ziel als auch therapeutisches Medium (oder Mittel) der Ergotherapie ist. (46) Diese weit verbreitete Definition nimmt die Behandlung allerdings nur von den Nutzerinnen oder ihren Handlungen oder Bestre-

4

Rückkehr ist streng genommen nicht der richtige Ausdruck, da ich Alltag nicht als etwas konzipiere, das abhandenkommen kann.

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 215

bungen aus wahr. Diese sollen je nach Lesart Betätigungen oder die hierbei hergestellten oder verwendeten Objekte5 als Mittel, im Sinne eines Therapiewerkzeugs oder Lerngegenstands, einsetzen um auf ihr Ziel, Betätigung im Sinne einer »aktiven« und »autonomen« Lebensführung, hinzuarbeiten. Diese Perspektive schenkt der Betätigung der Ergotherapeutinnen selbst nur wenig Beachtung. Die Ergotherapie wäre aber ohne stete Diagnosepraktiken im Sinne der Beobachtung, Erfragung und Dokumentation der aktuellen Beschwerden der Nutzerinnen nicht denkbar. In dieser Lesart wird die Anwesenheit der Behandelnden allerdings zumindest auf der Handlungsebene ausgeblendet. Selbstverständlich setzt sich die Ergotherapie und ihre Bezugswissenschaften mit der sozialen Interaktion zwischen Nutzerinnen und Ergotherapeutinnen auseinander, in einen nach wie vor wenig elaborierten Praxis- oder Betätigungsbegriff (vgl. 16f) hat sie allerdings bisher nicht resultiert. Ebenfalls wenig systematisierend beachtet wird den Mitteln selbst, und deren Mittlerrolle und Anteil an Betätigung, das materielle Arrangement, durch das sich die ergotherapeutische Behandlung konstituiert, das Mittel als Mittel zur Betätigung vergessen. All diese (und weitere) Handlungsebenen oder Logiken »laufen« während der ergotherapeutischen Praktiken der »Alltagsbefähigung« »mit«. Dies ist nichts spezifisch Ergotherapeutisches; komplexe Praktiken sind immanent multipel, mehrdeutig oder vielschichtig. Der Verweis auf die Pluralität von Logiken wird daher weder als neue Erkenntnis angeführt noch als umfassende Aufzählung, sondern dient als Diskussionsgrundlage für eines der zentralen Ergebnisse der vorliegenden Studie: Die Logiken, innerhalb derer die Ergotherapeutinnen und Nutzerinnen beim Ablauf und zum Ziel der Behandlung agieren, haben vergleichsweise wenig Berührungspunkte und die soziomateriellen Aspekte ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« werden hinsichtlich ihrer determinierenden Wirkung auf diese viel zu selten systematisch und korrelativ zu oben genannten in den Blick genommen. Die fehlenden Berührungspunkte zwischen Logiken, innerhalb denen die Nutzerinnen beziehungsweise die Ergotherapeutinnen agieren, scheinen charakteristisch für die von mir teilnehmend beobachteten Therapieeinheiten, wenn nicht dieses Behandlungsformats generell zu sein. Die Nutzerinnen interpretieren das Therapieangebot daher zumeist6 einfach, das heißt die jeweilige Betätigung dient in

5

Die in der Ergotherapie wiederum als Mittel bezeichnet werden.

6

Ausnahmen bilden beispielsweise die nicht kleine Gruppe von Nutzerinnen, die selbst sozialen Berufen tätig sind oder waren und diejenigen, die bereits über längerfristige anderweitige Erfahrungen mit der Ergotherapie in anderen Institutionen verfügen.

216 | Alltagswerkstatt

ihren Augen nur der Betätigung selbst oder der Herstellung eines Produkts, nicht aber einem übergeordneten Ziel der »Alltagsbefähigung«. Tabelle 2: Schematisierte und verkürzte Darstellung der Logiken der Praxis Ergotherapeutinnen

Nutzerinnen

Praxis (Auswahl) Betätigung zur Diagnostik Mittel als Mittel Betätigung als Mittel

Betätigung als Mittel Betätigung als Ziel Betätigung als Ziel Betätigung als Betätigung Produktherstellung

Betätigung als Betätigung Produktherstellung

Quelle: Eigene Darstellung

Diese charakteristischen, fehlenden Berührungspunkte sowie seine Implikationen für die Interaktion zwischen Behandelten und Behandelnden werde ich im Fazit für die Ergotherapie erneut aufgreifen. Eine eingehende Analyse zur Summe und Relationen der Logiken der Praxis gibt es bisher noch nicht und könnte einen interessanten Ansatz für weitere Forschung in praxistheoretisch interessierter Europäischer Ethnologie wie der besonderen Maße an Praxis interessierten Occupational Science darstellen.7

8.2 FAZIT 2 Die Ergotherapie hat das Ziel, aktuelle oder langfristige emotionale, psychische oder psychosomatische Funktionsdefizite der Nutzerinnen in den jeweiligen oder allen »Performanzbereichen« des Alltags auszugleichen. Vor diesem Hintergrund

7

Praxistheoretische Ansätze finden allerdings erst Eingang in die Occupational Science und Ergotherapieforschung.

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 217

habe ich in der vorliegenden Arbeit das Behandlungsziel »Handlungsfähigkeit im Alltag« aus einer praxeografischen Perspektive untersucht. Dabei habe ich drei analytische Kategorien herausgearbeitet, um die Ebenen der »Alltagsbefähigungspraktiken« und die in den Praktiken implizierten Konzepte von »Alltag« besser zu verstehen. Meine Forschungskategorien »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« grenzen sich trotz sprachlicher Überschneidungen deutlich von den ergotherapeutischen »Performanzbereichen« »Produktivität«, »Selbstversorgung« und »Freizeit« ab. Die »Performanzbereiche« können somit als der ergotherapeutische Versuch einer Verortung von »Alltag« beziehungsweise »Praxis« verstanden werden, in denen sich alle Bereiche, in denen Betätigung im Alltag stattfindet, wiederfinden lassen sollen. Das Konzept der »Performanzbereiche« stellt somit eine Konkretisierung der ergotherapeutischen Schwerpunktsetzung auf »Betätigung als Ziel« bei der Arbeit mit den Nutzerinnen dar. Der Blick auf »Praxis« und »Alltag« richtet sich im ergotherapeutischen Diskurs allerdings fast durchgängig auf die Nutzerinnen, deren Defizite und/oder Ressourcen sowie ihren Lebenswelten. Die Ergotherapeutinnen und die den ergotherapeutischen Prozess situierenden und daran beteiligten Objekte, spart diese Herangehensweise weitgehend aus. Das vielfältige Geschehen auf dem Weg zur »Alltagsbefähigung«, die Interaktion zwischen Behandelnden und Behandelten sowie der eingesetzten und Handlung determinierenden Objekte, wurde bisher nur selten von Praktikerinnen wie Forscherinnen aus den »Ergowissenschaften« erforscht und diskutiert. Meine Forschungskategorien nehmen dementgegen eine Perspektive der »Draufsicht« mit einem Fokus auf »Praxis« ein. Diese Form der praxistheoretischen Blickrichtung setzt weder die Gruppe der Ergotherapeutinnen noch die der Nutzerinnen oder einzelner Gruppenmitglieder in den Forschungsfokus. Vielmehr verlagere ich die Praktiken aller Akteurinnen sowie das – ihnen vorausgehende und sie beeinflussende – soziomaterielle Arrangement in den Mittelpunkt der Betrachtung, in die ich durch eine praxeografische teilnehmende Beobachtung tiefergehende Einblicke gewinnen konnte. In der ergotherapeutischen Behandlung generell und insbesondere im Rahmen psychiatrischer Angebote stellt die Einübung und Verinnerlichung von Routinen einen wichtigen Aspekt dar. Routinierte Abläufe, das bedeutet automatisierte, rhythmische und sich wiederholende Bewegungen, sollen den Nutzerinnen zu mehr Sicherheit und Struktur in ihrem Alltag verhelfen. Nahezu alle Alltagshandlungen, sind Routinen und basieren auf regelmäßiger Wiederholung und Inkorporierung, ›gedankenloser‹ Ausführbarkeit, welche dabei hochgradig implizit bleiben. (Reckwitz 2003) Dies verweist auf die hohe Relevanz von Routinen für die ergotherapeutische »Alltagsbefähigung« und wirft die Frage nach der ›richtigen‹

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Art der Vermittlung auf. Während andere Forscherinnen die Notwendigkeit einer zeitweiligen Explizierung generell impliziter Alltagshandlungen attestierten (Klausner 2015, 264 ff., Ehn and Löfgren 2010, 100f), argumentiere ich, basierend auf meinen Überlegungen und Datensätzen aus der ergotherapeutischen »Alltagswerkstatt«, das dies nicht der Fall ist. Im empirischen Kapitel zu den Routinen ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« (vgl. 103) lege ich dar, dass die gemeinsame Reflexion über routinierte Abläufe innerhalb der Ergotherapie nur sehr selten Teil der Kommunikation zwischen Ergotherapeutinnen und Nutzerinnen ist. Auf der diskursiven Ebene wird die übergeordnete Logik selten umgesetzt, welche die Durchführung von routinierten Tätigkeiten zur langfristigen Integration von Betätigung in die Alltagroutinen notwendig macht. Von den Nutzerinnen scheint daher aus Sicht der Ergotherapie erwartet zu werden, dass sie sich »Alltag« im Rahmen des sprachlich weitestgehend unreflektierten routinisierenden learning by doing8 in der Ergotherapie selbstständig aneignen und intuitiv den Mehrgewinn der Routinen verstehen Die Crux der Vermittlung hochgradig implizierter Alltagspraktiken lässt sich anhand eines gängigen Beispiels erläutern. Fahrradfahren zu lernen ist durch eine rein theoretische Heranführung nicht möglich, kein Vortrag übers Pedaltreten und richtiges Bremsen kann die Übung auf dem Sattel ersetzen. Ähnlich verhält es sich mit der (Wieder-)Befähigung zu routinierten Bewegungsabläufen. Nur in der konkreten Ausführung können diese zu Gänze (wieder-)erworben werden. Allerdings habe ich dargelegt, dass »Routinen« in der Ergotherapiewerkstatt eine stumme Kategorie verbleiben, über die mit anderen Mitarbeiterinnen oder der Ethnologin in Teamsitzungen und Mittagspausen gesprochen, aber höchst selten mit den Nutzerinnen selbst geredet wird. Zieht man erneut den Fahrradvergleich heran, könnte man argumentieren, dass die Nutzerinnen der psychiatrischen Ergotherapie durchaus in die Pedale treten können, ihnen also mittels vielfältiger Betätigungen die Möglichkeit zur Übung von Routinen gegeben wird. Sie scheinen dabei aber nicht immer zu wissen, dass es sich bei diesen Tätigkeiten um die Nutzung eines Fortbewegungsmittels beziehungsweise einer »Übung für Alltag« handelt. Fragt man die Nutzerinnen, wissen sie in den meisten Fällen nicht, dass die Ergotherapie ein Ziel hat, welches ihrer »Handlungsfähigkeit im Alltag« dienen soll. Deshalb scheinen die Nutzerinnen in den meisten Fällen nicht zu glauben,

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Dies ist keine Bezugnahme auf das pädagogische Konzept, welches stark vom Pädagogen und Sozialphilosophen John Dewey geprägt wurde, obwohl der Einbezug der Arbeiten von Dewey und anderen Denkerinnen des Pragmatismus sicherlich einen Mehrgewinn für die Auseinandersetzung mit ergotherapeutischen Praktiken darstellt und bereits an anderer Stelle erfolgt ist. (Marotzki 2004)

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dass die Ergotherapie ein, über den Zeitvertreib oder dem Erlernen einer konkreten (kunst)handwerklichen Betätigung hinausgehenden Zweck erfüllt oder etwas mit ihrer »Handlungsfähigkeit« zu tun hat. Die ergotherapeutische Werkstatt ist in diesem übertragenden Sinn eine Lernstätte fürs Fahrradfahren, von der Nutzerinnen aber nicht wissen, dass sie zum Pedaltreten in die Werkstatt kommen. Diese fehlende oder ungenügende Vermittlung ergotherapeutischer Expertise ist meines Erachtens ein wesentlicher Aspekt nicht nur für die langfristige Wirksamkeit der Therapie, sondern auch für die Außenwahrnehmung des Fachberufs. Dem Argument, dass das Wissen der Nutzerinnen nicht maßgeblich für den Therapieerfolg sei, solange sie nach oder trotz der Erkrankung wieder in einem »autonomen« und »sinngebenden« Alltag finden, widerspreche ich nachdrücklich. Auch in diesbezüglich anspruchsvollen Fachbereichen wie der Psychiatrie müssen Wege gefunden werden, um die Nutzerinnen darüber zu informieren, was an ihnen therapiert und wie dies gemeinsam in die Praxis übersetzt werden soll. Dieser Aufklärung wird in den von mir beforschten Ergotherapien bis zu einem gewissen Grad in anderen Behandlungsformaten Raum gegeben, wie während multiprofessionell durchgeführter Behandlungskonferenzen oder (vereinzelt stattfindender) ergotherapeutischer Einzelgespräche. Diese Angebote finden allerdings, erstens, im Schnitt einmal wöchentlich oder seltener und somit durchschnittlich zweimal pro Klinikaufenthalt der jeweiligen Nutzerin statt. Zweitens, sind es keine systematisierenden Aufklärungsgespräche im Sinne einer »Psychoedukation«9 (genauer »Alltagsedukation«). Diese bieten den Nutzerinnen daher nur wenig Möglichkeit für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit »Alltag«, seiner Vermittlung und Konzipierung sowie der Bedeutung seiner »Routinen«, wie ich es im Kapitel zur ergotherapeutischen »Alltagsbefähigung« dieser dargelegt habe. (103) So konnte ich zeigen, dass routinierte Bewegungsabläufe in der Ergotherapie vorrangig auf die Ablenkung und Entlastung abzielen und deshalb in diesem spezifischen Behandlungssetting vor allem eine kurzfristige Milderung zu bewirken scheinen. Die langfristigen Effekte im Sinne einer Umgestaltung von Alltag oder gar Produktion »neuer Alltage« im Sinne einer Lebenswandelumgestaltung der Nutzerinnen findet nicht statt – trotz der sichernden und strukturierenden Aspekte die das (Wieder-)Erlernen von Routinen mit sich bringen kann.

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Die Psychoedukation soll über das Störungsbild beziehungsweise daraus resultierende Einschränkung, deren mögliche Verlaufsformen, über die Möglichkeiten der Behandlung aufklären und »die Compliance bei der Behandlung und Rückfallvorbeugung [...] fördern.« (Robert-Koch-Institut 2010, 37)

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Im Kapitel zur Materialität ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« (127ff.) habe ich mich mit Objekten beschäftigt, als dritte Gruppe der an der Ergotherapie »Beteiligten« beschäftigt. Dabei stand die Verbindung und gegenseitige Determinierung von sozialer wie materieller Interaktion im Zentrum meines Interesses. Radikal posthumanistische Ansätze habe ich für diese Arbeit im Sinne der Lesund Nachvollziehbarkeit (und Relevanz) für eine interdisziplinäre Leserinnenschaft verworfen. Die »Alltagsbefähigungspraktiken« der psychiatrischen Ergotherapie werden durch spezifische soziomaterielle Arrangements determiniert und in die Praxis umgesetzt. Ich habe die Soziomaterialität der Ergotherapiewerkstatt hierbei in unterschiedlichen Maßstäben untersucht. Angefangen vom großen Maßstab mit der »Werkstatt« als Gegenentwurf zur sterilen und minimalistisch eingerichteten »Station«, über einen kleineren Maßstab mit Blick auf zwei für die psychiatrische Station zentrale Orte, den »Stützpunkt« sowie den »Aufenthaltsraum« (159ff.) bis hin zur detaillierten Beschreibung der Interaktion auf der individuellen SubjektObjekt-Ebene zwischen der jeweiligen Nutzerin und ihrem Therapieobjekt konnte ich zeigen, dass die Ergotherapie sich größere und kleinere Objekte zu eigen macht, um eine diametral zum Rest der »klinischen« Umgebung stehende »Alltagsnähe« zu suggerieren.10 Die große Vielfalt der eingesetzten Objekte ist sehr auffällig, selbst vom Blatt gefallene Blätter werden durch Ergotherapeutinnen zum Therapiewerkzeug. Obwohl also grundsätzlich jedes Objekt zum Ergotherapieobjekt werden kann, wird in den meisten Fällen darauf geachtet, dass die verwendeten Objekte besonders »alltagsnah« sind, also den Objekten in den Privathaushalten der Nutzerinnen ähneln (sollen). Sehr auffällig ist der nach wie vor starke Fokus auf handwerkliche und gestalterische Betätigungen, die so oder so ähnlich bereits vor dem Einsetzen der Digitalisierung zum Einsatz hätten kommen können. In der Werkstatt soll ein möglichst hohes Maß an materieller Alltagsnähe geschaffen werden. Die Nutzerinnen sollen sich weniger wie im Krankenhaus, sondern »beinahe wie zuhause« fühlen. Das, aus der Zeit gefallene soziomaterielle Arrangement der Ergotherapie hat allerdings gerade für Nutzerinnen, für die die Digitalisierung Teil ihres Alltags ist, nur geringe Ähnlichkeit mit ihrem privaten Umfeld, weshalb man überspitzt formuliert argumentieren könnte, dass hier auf einen vergangenen »Alltag« hingearbeitet wird.

10 Den Prozess der ergotherapeutischen Mittelwahl systematisierend zu vergleichen war nicht der Fokus dieser sozialwissenschaftlichen Arbeit.

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 221

Sieht man von dem aktuellen Trend zur Rückkehr alter Handwerkstechniken (heute auch unter »do it yourself« oder »making« firmierend) ab, werden hierzulande höchst selten Specksteine oder Ton verarbeitet, Körbe geflochten oder Bilder außerhalb von Lerneinrichtungen ausgemalt. Die nahezu durchgängige Absenz von digitalen Medien in der Ergotherapie (zumindest in der Allgemeinpsychiatrie11) steht meines Erachtens im Widerspruch zum Ziel, möglichst große »Alltagsnähe« zu schaffen. Insbesondere bei Nutzerinnen allgemeinpsychiatrischer Institutionen, in denen alle Altersgruppen des Erwachsenenalters behandelt werden, ist davon auszugehen, dass ihre Privatalltage weniger von Peddigrohr und Mandalas und vielmehr von der Bedienung einer Tastatur, dem Umgang mit Schlagbohrern oder einer elektronischen Küchenwaage geprägt sind. In anderen Ergotherapien im ambulanten wie stationären Bereich und insbesondere außerpsychiatrischen Fachbereichen, wie der Neurologie oder Orthopädie, gehört der Einsatz digitaler Therapiemittel vermehrt zum Standard. Die dort tätigen Ergotherapeutinnen behandeln allerdings Nutzerinnen mit anderen Störungsbildern und verfolgen daher die Integration in den »Alltag« von einem anderen Ausgangspunkt aus. Auch im Rahmen von Ausbildung und Studium werden zukünftige Ergotherapeutinnen dazu angehalten, individuell auf die jeweiligen Nutzerinnen zugeschnittene Angebote zu entwickeln, was in den nächsten Jahren zum vermehrten Einsatz von Alltagsgegenständen wie Smartphones, Computern oder Tablets auch in traditionellen low-tech-Fachbereichen wie der Psychiatrie führt und führen wird. Es gibt bisher nach meinem Kenntnisstand keine validen Daten hierzu. Dennoch bilden die Objekte in den Werkstätten von Herrn Ziegler und Herrn Lichter zum Zeitpunkt der Entstehung meiner Studie nach wie vor ein Bild der Ergotherapie ab, wie sie derart in vielen deutschen psychiatrischen oder gerontopsychiatrischen Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen zu finden sind. Diese Technikferne hat meines Erachtens insbesondere in der Allgemeinpsychiatrie viel mit dem Konzept von »Alltag« beziehungsweise der Vorstellung darüber zu tun, wie der »Alltag« der Nutzerinnen ist. Denn beide Ergotherapeuten besitzen ein Smartphone einer neueren Generation und sind technisch zumindest so versiert, dass ihnen der Umgang mit den in der Klinik eingesetzten digitalen Medien keine Probleme zu bereiten scheint. Der Stand der Digitalisierung im ergotherapeutischen Arbeitsalltags ist also viel höher als der Anteil eingesetzter Therapieobjekte, die nicht no-bis-low-tech sind. Diese fast vollständig ausbleibende Digitalisierung lässt sich mit fehlenden finanziellen Mitteln zur Modernisierung der

11 Die Geriatrie ist in dieser Hinsicht besonders, da sie auf andere Alltage hinarbeitet als die Allgemeinpsychiatrie, die Soziomaterialität der Geriatrie ist dementsprechend ›seniorengerechter‹.

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Werkstatt von Klinikseite erklären. Hinzu kommt meines Erachtens die Annahme der Ergotherapeutinnen, die Nutzerinnen seien wenig technikaffin oder »Technik« sei per se unproduktiv oder schädlich für psychiatrisch Erkrankte. Die Digitalisierung, anderswo von nahezu penetrant umfassender Präsenz, verbleibt in der ergotherapeutischen »Alltagswerkstatt« bis auf Ausnahmen unsichtbar. Deutlich verbreiteter ist in den von mir teilnehmend beobachteten Ergotherapien hingegen die Herstellung von no- bis low-tech-Produkten. Behandelnde, Behandelte und hergestellte Objekte gehen für den Zeitraum der Herstellung eine Allianz ein, um (1) neben dem materiellen Produkt, sei es ein auszumalendes Mandala oder ein zu flechtender Korb, auch (2) übergeordnete Funktionen wie Koordinations-, Konzentrations- oder Ausdauerfähigkeit zu erproben. Hierbei sind die Handlungsfähigkeiten der drei Beteiligten nicht mehr voneinander zu trennen. Die Metapher des Tanzes bietet sich für diese enge Verbindung an. Beim Paartanz entsteht erst durch die Bewegung des Duos eine als Tanz zu klassifizierende Formation von Körpern. (Vgl. Malafouris 2013).Übertragen auf die Ergotherapie findet ein Tanz im Rahmen der ergotherapeutischen Produktion statt. Behandelte, Behandelnde und das jeweilig hergestellte Objekt bilden hierbei eine soziomaterielle Trias, in dem sich die Handlungsträgerschaften der Beteiligten untrennbar miteinander verweben. Als »Produkt« dieser Trias wird sowohl das hergestellte Objekt als auch eine verbesserte »Handlungsfähigkeit« im Sinne einer ergotherapeutischen »Funktionalisierung« oder »Praxis« erster und zweiter Ordnung (35) angestrebt. Für die »Ergowissenschaften« ist meines Erachtens eine praxistheoretisch-praxeografische Perspektive auf »Praxis« fruchtbar, die nicht zwei, sondern multiple »Ordnungen« in den Blick nimmt, welches ich im Abschnitt zu den »Logiken der Praxis« weiter ausführen werde. Zunächst werde ich aber auf die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von »Produktivität« als Forschungskategorie sowie deren Implikationen für forschende oder praktizierende Ergotherapeutinnen und andere eingehen. Durch meine Forschungskategorie »Produktivität« (169ff.) habe ich im 7. Kapitel die in der Ergotherapie zur »Alltagsbefähigung« eingesetzten Herstellungsprozesse von Produkten oder Objekten12 analysiert. Im Zentrum stand dabei weder eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit der Leistungsgesellschaft noch eine mit rein arbeitstherapeutischen Einrichtungen. Vielmehr konnte ich darlegen, wie wichtig die Produktion physischer Objekte in der ergotherapeutischen Werkstatt und den anderen ergotherapeutischen Wirkstätten für den Gesamtablauf des ergo-

12 Objekte verwende ich als zusammenfassenden Begriff für Sachen, Dinge und Objekte im psychoanalytisch geprägten emotionalen Bezug für alle materiellen Entitäten.

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 223

therapeutischen Prozesses sind. Die Nutzerinnen werden hierbei von den Ergotherapeutinnen in eine charakteristische Form der synchronisierten Praxis gelenkt. Fest umrissene, kleinteilige, wenig komplexe und in kürzester Zeit durchzuführende Arbeitsaufgaben bringen die Nutzerinnen bei gruppentherapeutischen Angeboten wie der Koch- und Backgruppe in einen Produktionsablauf ein, um gemeinsames Produkt, wie beispielsweise ein Mittagessen, herzustellen. Die Nutzerinnen werden dabei über das gemeinsame Ziel informiert, haben aber nicht immer den Überblick über alle Teile und Funktionen des Produktionsprozesses. Auf der Funktionsebene, zu »Alltag« zu befähigen entsteht, quasi als Nebenprodukt, eine Bedeutungszuschreibung von »Alltag« als kollektiven Produktionsprozess. Das ist für die ergotherapeutische Theorie und Praxis meines Erachtens vor allem aus zwei Gründen relevant: Erstens wird der implizierte, kontextuell sehr manufakturisch anmutende Alltagsbegriff in der Interaktion zwischen Behandelnden und Behandelten bisher nicht oder nur in Ansätzen expliziert. Nutzerinnen produzieren Objekte oder bilden Produktionsgemeinschaften im Rahmen gruppentherapeutischer Angebote, sind sich aber des übergeordneten therapeutischen Ziels, ihre »Handlungsfähigkeit im Alltag« zu verbessern, nicht immer bewusst. Dies hat zur Folge, dass die Ergotherapie ihren Nutzerinnen ein sehr spezifisches Bild von »Alltag« vorlebt, dass nach wie vor Assoziationen mit dem Taylorismus nahelegt, ohne ihnen jedoch die Möglichkeit zu geben, darüber im Rahmen der Therapie zu reflektieren. Ein konstantes Nachdenken über jegliches Tun wäre inner- wie außerhalb der Psychiatrie nicht zielführend oder schädlich. Auch Mitglieder einer Sportmannschaft werden nicht zu besseren Sportlerinnen, wenn sie während des Ruderns oder Volleyballs stetig auf einer Metaebene über die Effizienz ihrer Bewegung oder Taktik zum Gewinn des matches nachdenken. Materielle Könnerschaft ist weitestgehend inkorporiert. Das Hand-Werk, unabhängig davon, ob es sich um ein sportliches oder ergotherapeutisches handelt, profitiert aber von einer Ex-Post-Analyse der Praktiken. Dessen sind sich auch Ergotherapeutinnen seit langem bewusst. Im Alltag der von mir teilnehmend beobachteten stationären Ergotherapien fallen die sogenannten »Abschlussrunden«, in der die einzelnen Nutzerinnen über das Gelernte und ihre weiteren Ziele nachdenken und in meiner Lesart eben diese Metaebene zur »Alltagsbefähigung« erreichen sollen, allerdings oft aus oder werden innerhalb der letzten verbleibenden Therapieminuten abgehandelt. Dies liegt in der Praxis vor allem an der Tatsache, dass Ergotherapie wie jede andere Therapieform nicht im luftleeren Raum, sondern eingebettet in die therapeutische Infrastruktur der Klinik stattfindet. Allerdings lässt sich diese fehlende Reflektion oder Ex-PostAnalyse auch mit dem wenig explizierten, untertheoretisierten berufsspezifischen

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Alltagsbegriff begründen, weshalb die Praktikerinnen bisher über keine diesbezüglichen Modelle für die Praxis verfügen. Dies ist insbesondere in gruppentherapeutischen Angeboten auffällig, da eine engere, auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzerinnen angepasste Therapie nicht in dem Maße gegeben sein kann. Im Gegenzug tritt in der Gruppe allerdings die soziale Interaktion zwischen den Nutzerinnen in den Vordergrund. Obwohl Ergotherapie in der Einzel- und Gruppentherapie unter anderen Bedingungen stattfindet, bezieht sich die Theorie aus dem Fachbereich respektive aus ihrer Bezugswissenschaft Occupational Science meist auf die Behandlung einzelner Nutzerinnen. Gruppentherapeutische Angebote sind für die meisten Ergotherapeutinnen in klinischen Arbeitsfeldern die Regel. Sie greifen dabei aber häufig auf Konzepte zurück, die die Nutzerinnen im Sinne der sozialpsychiatrischen Grundannahme als Mensch in ihrer sozialen Umwelt wahr- und ernstnehmen. Die soziale Umwelt in der Ergotherapie, das heißt die Interaktion zwischen den Nutzerinnen und Ergotherapeutinnen in einem soziomateriellen Arrangement, wird nur selten zusammengedacht und in der Reflexion während Abschlussrunden mit den Nutzerinnen weitgehend ausklammert und in meiner rund zwölfmonatigen Beobachtungsphase nur ein einziges Mal13 mit der übergeordneten Ebene der »Alltagsbefähigung« in Bezug gesetzt. Dies ist auf die vor einigen Jahren einsetzende Akademisierung und erst damit möglich gewordenen verstärkten Theorienbildung zurückzuführen. Die Arbeit an Therapiemodellen in der Ergotherapieforschung ging bis vor einigen Jahren von der US-amerikanischen wie kanadischen Occupational Therapy und Occupational Science aus. Durch die auch in anderen Ländern fortschreitende Akademisierung, vor allem im Vereinigten Königreich, Australien sowie Skandinavien, wird der Fachdiskurs zunehmend internationalisiert, findet allerdings fast ausnahmslos auf English statt. Andere Sprachräume, unter ihnen der deutschsprachige, sind an der wachsenden Anzahl wissenschaftlicher Theorienbildung darauf Aufbauendem daher nur in Ansätzen (oder durch zeitintensive Übersetzungen) beteiligt. (Vgl. Hagedorn 2004, 2, 3. Auflage 2009) Bisher wurde in diesen Zeiten des Wandels vom Ausbildungsberuf zur akademischen Disziplin für die deutsche Ergotherapie und ihre Bezugswissenschaft und die hiermit verbundenen nicht immer reibungslosen Diskurse zwischen Theorie und Praxis, nur wenig Raum für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den sozio-materiellen Voraussetzungen des Alltagsbegriffs in der (psychiatrischen) Ergotherapie gelassen. Insbesondere der in den Praktiken implizierten, quasi mit-

13 Gemeint sind die Beobachtungsdaten aus der Morgenrunde (9,105).

Fazit – Werkstatt neuer »Alltage« | 225

laufende »Autonomiebegriff« wird nur selten zum Thema gemacht. Hierbei verweise ich auf den gleichnamigen Abschnitt des ersten Teils des Fazits, in dem ich die empirisch-theoretischen Ergebnisse meiner Studie bereits zusammenfassend dargelegt habe. Unter dem Schlagwort »Autonomie« habe ich in der der vorliegenden Arbeit, weitgehend konform mit klassischen psychiatrisch-therapeutischen Perspektiven, vorrangig das ergotherapeutische Ziel, die Nutzerinnen in einen »autonomen« Alltag zurückzuführen sowie deren Autonomiebestrebungen innerhalb eines hierfür charakteristischen soziomateriellen Arrangements, diskutiert. Als Fachfremde zu den Praktiken der Ergotherapie als Fachberuf zu forschen, der sich im Umbruch befindet, wirft allerdings auch die Frage danach auf, ob der Akademisierungsprozess nicht auch ohne die Intervention seitens anderer Disziplinen verlaufen sollte, sprich »autonom«. Denn auch das Vielnamensfach Volkskunde/Empirische Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie/Kultur- und Sozialanthropologie hat eine zu Teilen unrühmliche Tradition in der paternalistischen Beforschung und Konstruktion zum jeweils ›Anderen‹, zu denen die vermeintlich »Subalternen« auch gehören. (Warneken 2006, Löfgren 2015). In einem kurzen Exkurs setze ich mich mit dieser, für die zusammenfassende Argumentationslinie meiner Arbeit nur mittelbar relevanten Frage nach der »Autonomie des Akademisierungsprozesses« von Ergotherapie und im Rahmen der Etablierung der Occupational Science im deutschsprachigen Raum auseinander. Anstatt dessen schlage ich im folgenden Abschnitt ein alternatives Konzept von »Alltag« vor, welches ich aus dem empirisch-theoretischen Teil dieser Arbeit entwickelt habe. 8.2.1 Alltagsverortung Im Zentrum meines Forschungsinteresses stehen die ergotherapeutischen Angebote in der stationären Psychiatrie, die innerhalb der Station oder der angeschlossenen Werkstatt stattfinden. Diese nehmen, trotz zeitweilig aus der Klinik »herausführender« Angebote wie Spaziergänge oder Einkäufe für die Kochgruppe, den größten Zeitraum im wöchentlichen Therapieplan beider untersuchter Stationsergotherapien ein und sind zugleich prädestiniert für eine Auseinandersetzung mit dem nach wie vor untertheoretisierten Alltagsbegriff in der Ergotherapie. Im 3.Kapitel habe ich auf die – vereinfacht gesprochen – doppelten, doch bei näherem Hinsehen multiplen Logiken der »Alltags-Praxis« verwiesen. auf den ersten Blick ›spielerische‹, ›un-klinische‹ (ergo »un-medizinische«) »Alltagswerkstatt« der psychiatrischen Ergotherapie offenbart viel mehr als »Basteln und Werken«, nimmt man »Alltag« als analytisch-praxistheoretische Kategorie wahr und ernst.

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Die stationäre Psychiatrie wird häufig als Ort konzipiert, in dem es keinen Alltag gibt. Die dort behandelten »Patientinnen« befänden sich in einem derartigen Ausnahmezustand, dass ihr tägliches Dasein derart aus den Fugen geraten ist, dass sie nicht mehr als »alltagsfähig« gelten. Diese vermeintlich fehlende »Alltagsfähigkeit« in Bezug auf Betätigung zu diagnostizieren und zu behandeln ist das zentrale Anliegen der Ergotherapeutinnen. Ich stelle das Konzept dieser »Alltagsfähigkeit« beziehungsweise den ergotherapeutischen Äquivalenzbegriff der »Handlungsfähigkeit im Alltag« hinsichtlich des hierin implizierten Alltagsverständnisses im akut-psychiatrischen Bereich in Frage und schlage anstatt dessen einen Alltagsbegriff vor, der »›Alltag‹ als zeitlich-räumlich unbegrenzten und funktionell-fähigkeitsbezogen bedingungslosen Lebensraum«14 konzipiert vor. Meine Begründung für diese umfängliche Konzipierung von »Alltag« setzt sich aus zwei Teilen zusammen: »Alltag« zeichnet sich aus durch seine (1) zeitlich-räumliche Unbegrenztheit sowie seine (2) nicht vorgängig notwendige Befähigung respektive Könnerschaft oder Abhängigkeit von psychisch-(psycho)somatischen »Funktionen«. (1) Der Blick auf alle am ergotherapeutischen Prozess in der psychiatrischen »Alltagswerkstatt« Beteiligten ermöglichte es mir, eine neue Sicht15 auf den »Alltag« in der Gesundheitsfürsorge entwickeln. Dass der Arbeitsalltag der Mitarbeiterinnen (und Produktionsalltag der hergestellten Objekte) allerdings nicht zur Konzipierung von »Alltag« in der Ergotherapie beitragen soll, führt zu einer meines Erachtens unterkomplexen Theoretisierung. Der Alltag einer psychiatrischen Station mag als ungewöhnlicher Ort verstanden werden, an dem Nutzerinnen auf-

14 Man könnte argumentieren, »Alltag als bedingungsloser Lebensort« sei ein Oxymoron, da Alltag in dieser Lesart vom Leben oder Körperfunktionen selbst bedingt und dementsprechend nicht bedingungslos sei. Leben und Sterben sind in und um die psychiatrische Klinik ein relevantes Thema, da es immer wieder zu Suiziden, vornehmlich von Nutzerinnen, aber auch Mitarbeiterinnen oder Angehörigen kommt. Da es während meiner Arbeit an dieser Abhandlung zu mehreren Todesfällen mit und ohne vorherige Todessehnsucht innerhalb und außerhalb der Klinik kam, möchte ich diesen Diskussionsstrang allerdings aus persönlichen Gründen weitgehend aussparen. 15 »Neu« ist das Konzept eines allumfänglichen »Alltags« natürlich nur in der Gesundheitsanthropologie, nicht aber für namhafte Vertreterinnen aus der Volkskunde und Europäischen Ethnologie, vor allem dem schwedischen Europäischen Ethnologen Orvar Löfgren, wie ich es im Kapitel zu »Alltag« bereits erläutert habe. Ich konnte allerdings zur empirischen Evidenz dieser beitragen. (101)

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grund einer Krisensituation oder wegen einer mehr oder weniger starken gesundheitlichen Einschränkung Zeit verbringen. Aber erstens sind nicht alle Nutzerinnen der Allgemeinpsychiatrie oder Geriatrie derart funktionseingeschränkt, dass es auch im Rahmen klassischerer Konzepte angemessen wäre, ihnen ihren »Alltag« abzusprechen. Damit sind beispielsweise Nutzerinnen gemeint, die aufgrund milderer Einschränkungen oder schlicht zur Beobachtung aufgrund eines anstehenden Medikationswechsels stationär behandelt werden und keine oder nur geringe Ergotherapie indizierende Symptome aufweisen. Neben dieser Überbetonung der ›schweren Fälle‹, derer sich auch diese Arbeit in Teilen schuldig macht, ›normalisiert‹ sich der Alltag und der damit verbundene Alltagsbegriff auch durch die stetig steigende Anzahl von Menschen mit kurz- oder langfristig behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen. Daraus folgt, dass der stationär-psychiatrische Alltag sowie insbesondere der Alltag in der Ergotherapiewerkstatt in der Wahrnehmung der Nutzerinnen mit einer Krisensituation gleichgesetzt werden. Dies führt allerdings dazu, dass der bisherige (ergotherapeutische) Alltagsbegriff von Sichtweisen geprägt ist, die die psychiatrische Station zum »Nicht-Alltag« oder gar Gegenspieler vom ›Alltag der gesunden Anderen‹ degradiert. Der Vorteil einer umfänglicheren Konzipierung von »Alltag« liegt für die Ergotherapie und ihre betätigungsorientierten Bezugswissenschaften wie der Occupational Science darin, dass die für die Disziplin so wichtige »Lebensweltorientierung« nicht obsolet, sondern umso wichtiger wird, hierbei allerdings die bisherige Trennung zwischen »Alltag« und »Nicht-Alltag« aufgeben müsste. »Alltag« würde dann nirgendwo mehr simuliert werden müssen, wie es der gängigen Lesart der Ergotherapieforschung und anderen medizinisch-therapeutischen Disziplinen entspricht. (Reuster 2006, Townsend 1996, Brücher 2005) Diese Sichtweise könnte dazu beitragen, dass die Klinik nicht mehr als »Insel« verstanden werden würde und hiermit zu einem extremen und vom Festland abgesonderten Ort oder aus der Zeit gefallene »Klinikzeit« konzipiert wird (van der Geest und Finkler 2004, Charmaz 2002) Die Ausstellung einer »Ersatzlandkarte« (Ehn und Löfgren 2010, Klausner 2015) wäre nicht nur aufgrund des hierfür den Maßstab sprengenden ›Gebiets‹ nicht mehr möglich, sondern in dieser Lesart auch nicht notwendig, da es sich nicht mehr um eine terra incognita sondern allen gehörigen Lebensraum handelt. Allerdings könnte das Konzept der psychiatrischen Station als »Schutzraum«, der außerklinisch verorteten »Alltag« zum Schutz der Nutzerinnen vor Überlastung ausschließt, hiermit ebenfalls in Frage stehen. (2) »Alltag« verstanden als Allen zugehöriger und nicht von psychisch(psycho)somatischen »Funktionen« oder diesbezüglicher Könnerschaft verbunden macht »Alltagskönner« nicht aber die Ergotherapeutinnen obsolet. Ergothe-

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rapeutinnen können nicht mehr als »Alltagskönner«, wie es eine der größten Zeitschriften des Fachbereichs suggeriert, auftreten, wenn sie sich auf ein, noch für die Praxis umzusetzendes Konzept berufen, das allen »Alltag« zugesteht. Die vermeintliche Expertise als Eingangsvoraussetzung von »Alltag« wäre nicht mehr gegeben, dennoch profitieren Menschen mit psychischen Einschränkungen und in Krisen von der ergotherapeutischen Bereitstellung und Ermöglichung von Betätigung. Der wichtigste und längste Kooperationspartner meiner Forschung seitens der Praktikerinnen, Herr Lichter, hat hierfür ein aussagekräftiges Bild geschaffen. »Ich wünsche mir manchmal auch einen Ergotherapeuten« antwortete er auf meine Frage, ob er glaube, dass er oder die Ergotherapie generell »Alltag« besser ›können‹ als die Nutzerinnen. Dieser Verweis auf seine ergotherapeutische Haltung als Partner bei der Genesung der Nutzerinnen ohne Anspruch auf eine bessere Kenntnis von »Alltag« und hiermit verbundener Fähigkeiten, bricht meines Erachtens mein disconcertment stellvertretend für alle, in den empirischen Daten zu Wort und Tat kommenden Ergotherapeutinnen bezüglich des in der Ergotherapie normativen und pater*-maternalistischen Vermittlung eines vermeintlichen »Alltags« zu Teilen auf. Ergotherapeutinnen wie Herr Lichter sind sich (auch ohne akademische Ausbildung) ihrer besonderen Verantwortung im Umgang mit Menschen in vulnerablen Lebenssituationen und der Schwierigkeit bewusst, ihnen eine möglichst respektvolle und auf gegenseitiger Akzeptanz beruhende Behandlung zu ermöglichen. Die Grundannahme, dass »Alltag« aufgrund der Vulnerabilität aller Beteiligten16 zu jedem Zeitpunkt des Lebens zugänglich ist und dementsprechend weder genommen noch wiedergegeben werden kann, schwingt hier mit. Für Schülerinnen, Studentinnen wie Praktikerinnen aufbereitete Konzepte aus der Ergotherapieforschung oder ihren Bezugswissenschaften, zu den zeitlich-räumlichen sowie sozio-materiellen Verortungsmöglichkeiten von »Alltag«, könnten den Weg hin zu einer weniger hierarchischen Ergotherapie ebnen. Das Ziel der Ergotherapie ist in ihrer Wortwahl aber die Ermöglichung von »Handlungsfähigkeit im Alltag« und nicht »Alltagsbefähigung«, wie ich es pointiert und auf die Praxis bezogen bezeichne. Man könnte daher argumentieren, dass die Diskussion um die soziomaterielle Normativierungspraktiken des ergotherapeutischen »Alltagskonzepts« nur mittelbare Relevanz außerhalb des europäischethnologisch-sozialwissenschaftlichen Diskurses hat. Gerade, weil Konzepte jedweder Art stets Normen und Werte der Konzipierenden beinhalten, fehlt es bisher an einer weiterführenden Debatte zum Alltags- wie Handlungsbegriff in der Er-

16 Die Vulnerabilität der soziomateriellen Beteiligten in der psychiatrischen Ergotherapie wäre meines Erachtens ein sinnvoller Aufbau auf meine Arbeit in der Zukunft.

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gotherapie beziehungsweise den Gesundheitsfachberufen und der Medizin generell. Insbesondere im »Produktivitätskapitel«, doch auch in anderen Teilen meiner Arbeit habe ich die enge Verzahnung von der ergotherapeutischen Definition von ›guter‹ oder ›richtiger‹ Betätigung und der Ergotherapie als Behandlungspraxis immer wieder betont. Die vielfältigen, vorrangig diskursiven Definitions- und Abgrenzungsversuche zwischen »Handlung«, »Betätigung«, »Aktivität« und anderen aus dem ergotherapeutisch-betätigungswissenschaftlichen Diskurs habe ich in dieser Arbeit bewusst weitgehend ausgespart, um mit meinem »Gepäck« des ethnologisch-sozialwissenschaftlich geprägtem praxistheoretischem Vokabulars keine zusätzliche Verwirrung zu stiften und die Praxistheorie als sinnvolle Ergänzung zu diesem Diskurs vorzuschlagen. In der Tradition der Wissenschafts- und Technikforschung betone ich dementgegen die Begriffe der »Heterogenität« und verweise auf die stets »multiple Ordnungen«. Die hierauf aufbauenden »Logiken von Praxis« möchte ich im folgenden Abschnitt für die Ergotherapie in Forschung und Praxis aufbereiten.

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8.2.2 Logiken der (Ergo)Praxis »Während die Funktionalisierung ergotherapeutischer Aktivitäten erster Ordnung für Klienten noch relativ direkt und unmittelbar nachzuvollziehen ist, gilt dies nicht mehr für funktionell ausgerichtete ergotherapeutische Aktivitäten zweiter Ordnung. Sie richten sich auf einen Funktionszusammenhang, der nur über die theoretischen Bezugsrahmen nachvollzogen werden kann, die den angewandten Therapiekonzepten zugrunde liegen. Aktivitäten dieser Art sind deshalb gegenüber dem Klienten hochgradig erklärungsbedürftig, damit sie im Rahmen der Therapie Effekte erzielen. Sie müssen in einem zweiten Schritt mit der Lebensrealität individueller Betätigungen und den Lebenskontexten des Klienten in Bezug gesetzt werden.« (Marotzki 2004, 72f)

Wie es Marotzki im Eingangszitat konstatiert, konzipiert der Fachbereich seine professionelle Tätigkeit seit dem Aufkommen von konzeptionell ausgerichteten Modellen und theoretischen Bezugsrahmen in der Nachkriegszeit als einer doppelten Logik der Praxis folgend. Die Unterteilung von der »Funktionalisierung« oder »Befähigung« richtet ihren Blick allerdings vor allem auf die Nutzerinnen, deren vermuteten Wahrnehmungen und Lebensumstände. Im Mittelpunkt stehen also die Funktionen der Nutzerinnen sowie das kontextuell verschiedene Funktionsdefizit, an dieser Stelle nicht aber die Funktionen der behandelnden Ergotherapeutinnen oder Objekte. Selbstverständlich verfügt die Ergotherapie über eigene Konzepte zu ihrer therapeutischen Haltung und weiß um den Einfluss des Lebensumfelds der Ergotherapeutinnen in ihre Behandlung sowie ihrer Vorstellung von den »Alltagen« der Nutzerinnen. Auch die Wahl des richtigen Therapiemittels ist inhärenter Teil ergotherapeutischen Wirkens. Doch der Versuch, die »Routinen«, »Materialität« und »Produktivität« der Alltagsbefähigung in der »Alltagswerkstatt« der (stationär-psychiatrischen) Ergotherapie zusammenzudenken, ist bisher nicht erfolgt.

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Praxistheoretische Ansätze könnten die bisher überwiegenden phänomenologischen Forschungsansätze (Hagedorn 2004, 11) meines Erachtens um eine systematische Perspektive auf das ἔργον [érgon], das heißt die Bewegung, das Werk oder die Praxis, sinnvoll ergänzen, die die Ergotherapie dank eines Neologismus bereits seit einigen Jahren im Namen trägt. 17 Multiple und heterogene Logiken – im Sinne von zielgeführten Handlungsabläufen, intendiert oder nicht-intendiert, aber stets durch Soziomaterialität determiniert – vermögen es, die erste und zweite Funktionsordnung der Ergotherapie sowie der bisher im Fachbereich wenig elaborierte Praxis- oder Betätigungsbegriff (16f) den Blick auf theoretisch unendliche Logiken von Praktiken zu erweitern. Obwohl die Übertragung von Theorie zum Behandlungskonzept und von dort zur gelebten Behandlungspraxis am Arbeitsplatz hier ihre Grenzen finden würde, argumentiere ich für eine Sicht auf Praktiken in der Ergotherapie, die die klassischen Perspektiven auf Nutzerinnen, Ergotherapeutinnen und Objekten im Sinne einer soziomateriellen Trias 18 als einzelne oder höchstens dual miteinander Agierende übersteigt. Im ersten Teil des Fazits habe ich erläutert, dass eine Ausdifferenzierung der Logiken der psychiatrischen »Alltagsbefähigungspraktiken« sowie eine möglichst detaillierte und auf empirisch-theoretischer Reichhaltigkeit basierender Analyse die Komplexität der Ergotherapie betont; ohne dabei eine ›Zerfaserung‹ in unendliche, nicht mehr handhabbare Einzelteile anzustreben. Die multiplen Logiken der »Alltagsbefähigung« habe ich versucht, in einer Abbildung schematisierend darzustellen. (216) Durch diese Perspektive auf die Logiken der (Ergo-)Praxis und ihre Schematisierung konnte ich zeigen, dass die jeweils vereinfacht dargestellten Logiken der Ergotherapeutinnen und der Nutzerinnen im Sinne ihrer Wahrnehmung dessen, was in der Werkstatt getan wird, nur wenige Berührungspunkte miteinander haben und die soziomateriellen Aspekte ergotherapeutischer »Alltagsbefähigung« hinsichtlich ihrer Handlung einbettenden Wirkung, nicht genug in Bezug zur Ergotherapie gesetzt werden. Diese für die akut-psychiatrische Ergotherapie charakteristischen, fehlenden Bezüge zwischen den Handlungsebenen der

17 Neben der hierzu meines Wissens nie in schriftlicher Form veröffentlichten free lance Forscherin und Ergotherapeutin Jennifer Creek in England arbeitet momentan meines Wissens im europäischen Raum nur der Sozial- und Kulturanthropologe und Ergotherapeut Georg Gappmeyer von der Universität Wien beziehungsweis FH Wien Neustadt zur Integration praxistheoretischer Ansätze in die Ergotherapieforschung und Occupational Science. (Gappmeyer, forthcoming, Journal of Occupational Science, 2019) 18 Die ergotherapeutische Bezeichnung für soziomaterielle Trias entspricht meines Erachtens dem »Dreiklang«. Diese Eigenbezeichnung aus der Ergotherapie verfügt allerdings bisher über keine theoretische Grundlage.

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psychiatrischen Nutzerinnen und der Ergotherapeutinnen haben Einfluss auf die Behandlung. Die Nutzerinnen wähnen sich in der Ergotherapie zumeist19 an einem Ort der Beschäftigung, des Zeitvertreibs oder einer Zeit zur Herstellung eines Produkts ohne übergeordnetes Ziel und werden dementsprechend in ihrer Praxis der Genesung determiniert. Für die Ergotherapeutinnen steht in der Werkstatt die Betätigung der Nutzerinnen im Mittelpunkt. Betätigung wird hierbei als Mittel im Sinne eines learning by doing eingesetzt, ist aber auf einer zweiten Logikebene auch ein Ziel, auf das es hinzuarbeiten gilt. Hinsichtlich dieses in der Zukunft liegenden »Betätigungsziels« ist die Befragung von Nutzerinnen und Angehörigen ein wichtiger Aspekt der ergotherapeutischen Arbeit. Durch diese Befragung versuchen sich die Ergotherapeutinnen ein Bild von der, ihnen in den meisten Fällen nicht bekannten Lebenswelt oder dem »Alltag« der Nutzerinnen außerhalb der Klinik zu machen. Dennoch verbleibt der »Alltag« der Nutzerinnen etwas, dass die stationär tätigen Ergotherapeutinnen nicht oder nur mittelbar kennen und auf Grundlage ihres eigenen privaten Alltags, ihrem Vorwissen aus Ausbildung oder Studium und daraus resultierenden ergotherapeutischen Haltung konstruieren. Ergotherapeutische »Alltagsbefähigungspraktiken« folgen multiplen Logiken mit voneinander abweichenden enactments von Alltagen und »Alltagen«. In der stationären Psychiatrie tätige Ergotherapeutinnen arbeiten dabei auf einen von ihnen imaginierten, in der Zukunft liegenden zu Betätigung befähigten »Nutzerinnenalltag« hin, der den gegenwärtigen »Stationsalltag« zu einer nahezu absenten Kategorie werden lässt und den vorstationären »Nutzerinnenalltag« in der Vergangenheit nur im geringen Maße mit einbezieht. Während es im Rahmen des theoretischen Ansatzes zur Funktionalisierung erster und zweiter Ordnung bereits ein Wissen um die Vielfalt der Logiken ergotherapeutischer Praxis gibt, würde eine Ausdifferenzierung dieser Logiken in Bezug auf »Alltag« unter Einbezug der zeitlich-räumlichen, politisch-sozialen, wie soziomateriellen Aspekte eine für die Lebenswelt der Nutzerinnen sensiblere Ergotherapie ermöglichen. Die ergotherapeutische Werkstatt und seine soziomateriellen Praktiken sollten meines Erachtens daher einer erneuten fundierten Analyse aus der Disziplin selbst heraus unterzogen werden. In der »Alltagswerkstatt« entstehen keine ›neuen‹ Alltage, da sich Alltag jedem Verlust widersetzt und meines Erachtens immer da ist. Anstatt dessen wird

19 Ausnahmen bilden beispielsweise die nicht kleine Gruppe von Nutzerinnen, die selbst sozialen Berufen tätig sind oder waren und diejenigen, die bereits über längerfristige anderweitige Erfahrungen mit der Ergotherapie in anderen Institutionen verfügen.

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mit ergotherapeutischem tinkering (188ff.) eine Transformation von psychiatrisch-psychosomatischer disability in eine DIYability (Cohen 2016) angestrebt, eine von den Nutzerinnen selbst ausgehende, »autonome«, kleinteiliges und nicht auf Heilung sondern Besserung ausgelegte Art des Herumtüftelns im und am Alltag. Nicht ohne Grund hat der Begriff tinkering in den letzten Jahren insbesondere in der Wissenschafts- und Technikforschung für vielfältigste Forschungsfelder Anwendung erhalten und wurde daraus weiterentwickelt. Denn alle Menschen (und je nach Lesart wohl auch so manche Maschine) tinkern sich durch ihren Alltag unabhängig vom Gesundheitszustand. Die Unterscheidung, ob einem Raum, Objekt oder Mensch »Alltäglichkeit« zugeschrieben werden kann oder nicht ist meines Erachtens ab dem Zeitpunkt obsolet, sobald man den »Alltagsbegriff« von Löfgren im Sinne eines Plädoyers für »Alltag für Alle« verwendet und anhand des empirischen Materials weiterdenkt. (Löfgren 2015) Anstatt bei der »Alltagsverortung« zu verbleiben, das heißt Orte, Menschen und Objekte auf ihre vermeintliche ›Alltäglichkeit‹ zu prüfen, ist der weite Alltagsbegriff ein Werkzeug um die multiplen und heterogenen Logiken der Praktiken besser verstehen zu können. Dieser Ansatz ließe sich meines Erachtens auf viele Bereiche menschlicher Sozialität übertragen um sie empirisch sowie theoretisch noch besser zu fundieren. 8.2.3 Exkurs: Autonomie des Akademisierungsprozesses Um die Komplexität und enge Verflochtenheit von »Alltag« und »Autonomie« erneut zu betonen erscheint es mir sinnvoll, auf einen zentralen, vielleicht nur zu Teilen aufzulösenden Widerspruch in der vorliegenden Arbeit hinzuweisen. Meine Studie versteht sich als Versuch des interdisziplinären Brückenschlags zwischen Europäischer Ethnologie als empirisch-qualitative Sozialwissenschaft und Occupational Science als betätigungsorientierte Gesundheitswissenschaft und Bezugswissenschaft für die Ergotherapie. Sowohl sprachlich als auch diskursiv habe ich den emanzipatorischen Ansatz dieser Arbeit oft genug, vielleicht über die Maße, betont. Insbesondere in den Abschnitten zum »ergotherapeutischen Sorgen« (177) standen dabei aber die Praktiken der (Wieder-)Herstellung der »Autonomie« der Nutzerinnen im Vordergrund. Doch »Autonomie«, ein in beiden Fachdiskursen und anderswo stark diskutierter und kritisch beäugter Begriff (179f), ist auch ein

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wichtiger Aspekt im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Ergotherapeutinnen in der Praxis sowie den Forscherinnen über und für die Weiterentwicklung der Ergotherapie zu diesem Zeitpunkt. Der Gesundheitsfachberuf Ergotherapie agiert insbesondere in klinischen Settings in einem nach wie vor durch die Medizin geprägtem Umfeld. Insbesondere außerhalb sozialpsychiatrisch geprägter Institutionen kommt diese Prägung im Fachbereich Psychiatrie mitunter einer Marginalisierung der Ergotherapie (und Mitarbeiterinnen aller nicht-ärztlichen Gesundheitsfachberufe) als »ergänzende« Therapie gleich, die die »eigentliche« Behandlung durch Ärztinnen nur durch Hilfstätigkeiten unterstützt. Dieser Lesart widerspreche ich entschieden. Die ergotherapeutische Emanzipation von der Medizin ist sowohl innerhalb des Berufsverbands, dem »Deutschen Verband der Ergotherapeuten«, ein wiederkehrendes Thema wie in den »Ergowissenschaften«. Die vor nunmehr zwölf Jahren erschienene Habilitationsschrift des deutschen Psychiaters Thomas Reuster zur »Effektivität der Ergotherapie im psychiatrischen Krankenhaus« (Reuster 2006) ist ein Beispiel für nach wie vor in ähnlicher Form entstehende Studien, die mehr über die Ergotherapie als mit ihr Forschungsergebnisse produzieren. Einige Ergotherapeutinnen und Vertreterinnen ihrer Bezugswissenschaften fühlen sich im Duktus dieser und anderer derartiger Studien von ihrer Selbstwahrnehmung abweichend repräsentiert und vom »großen Partner« marginalisiert. Ähnlich verhält es sich in der Klinik verorteten Forschungsprojekten, in denen im Rahmen von Forschungskooperationen und –verbünden nach wie vor mehrheitlich die Medizin federführend ist. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Marginalisierung der nicht-ärztlichen Gesundheitsfachberufe auch im Rahmen größerer Forschungskooperationen zwischen der Medizin und Sozial- wie Geisteswissenschaften anhält, wie es sich in den diesbezüglichen Publikationen im deutschsprachigen Raum der letzten Jahre widerspiegelt. Eigenständige Forschungsprojekte aus den Occupational Science befinden sich im Aufbau, arbeiten und forschen allerdings zumeist an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) und somit unter oft suboptimalen Voraussetzungen für empirisch wie theoretisch versierte, das heißt nicht angewandte Forschung.20 Dieser Umstand hat es

20 Hierfür ist vor allem das doppelt so hohe Lehrdeputat der Hochschullehrerinnen an HAWen im Vergleich zu Universitätsprofessorinnen verantwortlich. Hinzu kommt, dass HAW-Hochschulprofessorinnen meist aus der Praxis kommen, in der Regel weniger publikations- und forschungserfahren sind als ihre Kolleginnen an der Universität und deshalb seltener Anträge um Drittmittel bei den großen Förderinstitutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft stellen.

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mir als Nachwuchswissenschaftlerin und Nicht-Ergotherapeutin im Umgang mit Praktikerinnen nicht immer leicht gemacht, da mir Vorurteile gegenüber fachfremder Beforschung jeglicher Art entgegenschlugen und zum Schluss gebracht, dass partizipative Forschungsansätze mit den Behandelnden nur im Rahmen langjähriger Kooperationen möglich sind und in jedem Fall einen Feldeinstieg über die Medizin verhindern sollte.21 Empirische sozialwissenschaftliche Forschung hat im Bereich der Ergotherapie auch über Deutschland hinaus nach wie vor Seltenheitswert, wirft aber grundsätzlich die gleichen Fragen nach der »autonomen« Repräsentation auf. Und trotz meines Versuchs einer wertschätzenden Darstellung der ergotherapeutischen »Alltagsbefähigungspraktiken« und Sichtbarmachung des methodischen Einsatzes von disconcertment um neue Erkenntnisse zu produzieren und nicht nur Althergebrachtes zu bestätigen oder zu widerlegen mögen sich nicht alle Leserinnen ›richtig‹ repräsentiert fühlen. Im Umkehrschluss würde die große Bedacht auf die ›richtige‹ Repräsentation fachfremde Forschung in klinischen Kontexten allerdings nur im engen Verbund mit Forscherinnen des jeweiligen Fachbereichs rechtfertigen. Damit hätte ich diese Studie zum Zeitpunkt ihres Beginns im Jahr 2012, bedingt durch die bei weitem nicht abgeschlossene Phase der Akademisierung, die nach wie vor anhaltende Modellphase an den Hochschulen (Deutscher Wissenschaftsrat 2012) und das damalige Fehlen einer hochschulübergreifenden Kooperation zu meinem Fachbereich nicht durchführen können. Ein langfristig valides Argument für eine unmögliche »autonome« Forschung in Ergotherapie und den Occupational Science stellt dies selbstverständlich nicht dar. Meine Studie versteht sich hinsichtlich ihrer Reichweite außerhalb der Europäischen Ethnologie daher als eine Art »Zwischenruf« oder Beginn eines längeren Austauschs ohne Anspruch auf Deutungshoheit. Eine für Praktikerinnen relevante Theorie des »Alltags« sollte aus ihr selbst beziehungsweise ihren direkten Bezugswissenschaften kommen.

21 Zu Alternativen der Kollaboration mit den Praktikerinnen des Felds beziehungsweise neuer Wege der »Ko-laboration« im Stadium der Datenanalyse. (Vgl. Mewes, Elliot, und Lee 2017)

Danksagung

Mein herzlichster Dank gilt allen »Brückenbauerinnen«1, die mich während meiner Arbeit an dieser Studie begleitet und unterstützt haben. Hierbei ist zunächst und allen voran die »Brücke« zur ergotherapeutischen Werkstatt als Forschungsfeld gemeint. Engagierte und konsequent interdisziplinär denkende Kolleginnen haben sich sehr dafür eingesetzt, dass ich ohne medizinisch-gesundheitswissenschaftliche Vorbildung die ergotherapeutischen Praktiken in den unterschiedlichsten Fachbereichen kennenlernen konnte. Während meines Forschungsaufenthalts in den Krankenhäusern und ergänzenden ambulanten ergotherapeutischen Angeboten konnte ich während des Zeitraums von etwas über einem Jahr auf die Unterstützung und das große Engagement der kooperierenden Ergotherapeutinnen und Nutzerinnen der jeweiligen Einrichtungen zählen, ohne die diese Studie niemals möglich gewesen wäre und denen daher mein größter Dank gilt. Dem Trio aus Gutachterinnen meines Promotionsprojekts waren und sind »Brücken« ebenfalls ein Anliegen. Stefan Beck‫ ـ‬hat mir beim Besuch seiner Seminare zunächst mit seinem Einsatz für eine konstruktive Art der Kritik in der interdisziplinären Sozialforschung imponiert und mich mit dieser Haltung nachhaltig geprägt. Er hat mich mit seinem luziden Intellekt, großem Witz und ko(l)laborativem Forschergeist bei meiner Masterarbeit zu den »Ordnungsgebenden Modi des Stimmenhörens« sowie der Grundsteinlegung meiner Promotionsstudie unterstützt bevor er im März 2015 unerwartet und viel zu früh gestorben ist. Estrid Sørensen hat sich ohne zu zögern bereit erklärt, mich direkt danach und mit mir eine just abgeschlossene Empiriephase und damit einhergehendem Chaos aus Feldnotizen und Interviewtranskriptionen als Doktorandin anzunehmen und bis zum Schluss der Promotion zu begleiten. Bei meiner Motivation zum Brücken-

1

Auch im Dankeswort sind mit dem generischen Femininum ausdrücklich alle Geschlechter gemeint.

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bau hat sie mir stets alle erdenklichen Werkzeuge zur Verfügung gestellt. Ihr Engagement ging dabei über das durchschnittliche Maß einer Gutachterinnentätigkeit weit hinaus und trotz des tragischen Umstands, der zur Zusammenarbeit führte, war es für mich ein absoluter Glücksfall, die entscheidenden Schritte der Verschriftlichungsphase mit ihr gehen zu können und ich bin ihr hierfür ausgesprochen dankbar. Mit Jörg Niewöhner habe ich, begonnen in Seminaren und studentischem Forschungsprojekt, über die Masterarbeit und bis zum Abschluss der Promotion über acht Jahre zusammenarbeiten dürfen. Ich danke ihm herzlich für die konstruktive Unterstützung bei den Projekten zur weitergehenden Qualifizierung in Forschung und Lehre, die meine weitere berufliche Laufbahn entscheidend geprägt hat. Dank ihm sind einige zunächst wackelige Baukonstruktionen mit einem soliden und in Zukunft hoffentlich tragendem Fundament versehen worden. Einige Forscherinnen aus den Occupational Science haben mich bei meinem Weg begleitet und sich mit bewundernswerter Ausdauer und Begeisterung für ihre Disziplin mit vielzähligen Fragen von mir löchern lassen. Kathrin Reichel hat für mich als eine besondere Rolle als erste Bekanntschaft aus diesem Fachbereich und ich danke ihr herzlich für die vielzähligen Netzwerke, die sich mir durch sie erschlossen haben. Kim Lee und Michelle Elliot waren eine hervorragende Reisebegleitung für die erste Expedition in die internationale Occupational Science. Silke Dennhardts Engagement hat diese Arbeit durch unsere Zusammenarbeit viel mehr geprägt, als ihr bewusst sein mag. Während eines gemeinsam durchgeführten interdisziplinären Lehrprojekts dachte ich lange Zeit, vornehmlich zukünftige, akademisch ausgebildete Ergotherapeutinnen und Physiotherapeutinnen für ethnografische Methoden zu begeistern. Silke hat die Studentinnen aus der Europäischen Ethnologie und mich aber in zumindest dem gleichen Maße von der Occupational Science zu begeistern gewusst. Sie ist in diesen und anderen Projekten daher zu einer der wichtigsten Mitstreiterinnen für eine stärkere Verzahnung zwischen den qualitativen Sozial- und Gesundheitswissenschaften geworden. Die folgenden Menschen meines Alltags bereichern diesen mitunter seit Jahrzehnten, oder aber für einen Teil des »langen Marschs« durch die Promotion oder zum nächsten Aussichtspunkt. Dank folgt mündlich, liebe Eva Hanf, Sascha Gebauer, Anne Luther, Leyla Safta-Zecheria, Birthe und Veikko Junghans, Tobias Gehroldt, Friederike Storch, Sophie Hässelbarth, Thomas Wilke, und last but not least Alexandra Jäger und Katrin Jurkat. Die Hans-Böckler-Stiftung ist in meinen Jahren als Stipendiatin der Promotionsförderung ein wichtiger Bezugspunkt für mich geworden. Durch sie hatte ich nicht nur das Privileg, mich über einen so langen Zeitraum frei von finanziellen Sorgen in Forschung und Lehre sowie ihren zahlreichen Qualifizierungsangeboten

Danksagung | 239

weiterzubilden und dabei über mich hinaus zu wachsen. Außerdem konnte ich viele solidarische, begabte und nette Menschen unter den anderen Stipendiatinnen, Mitarbeiterinnen und Dozentinnen der Stiftung kennenlernen. Die Mitglieder der AGen »Interdisziplinäre Wissensproduktion« sowie »Qualitative Datenauswertung« waren für die vorliegende Arbeit besonders wichtige und geschätzte Kooperationspartnerinnen. Das letzte halbe Jahr der vorliegenden Arbeit wurde von der FAZIT-STIFTUNG gefördert, die mich damit in Ruhe zum Punkt kommen lassen hat. Berlin, Januar 2018

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Ethnologie und Kulturanthropologie Stefan Wellgraf

Schule der Gefühle Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten 2018, 446 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4039-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4039-1 EPUB: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4039-7

Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.)

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Ethnologie und Kulturanthropologie Martin Heidelberger

Korrespondenten des Wandels Lokale Akteure der globalen Nachrichtenindustrie 2018, 328 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4173-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4173-2

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Maria Grewe

Teilen, Reparieren, Mülltauchen Kulturelle Strategien im Umgang mit Knappheit und Überfluss 2017, 324 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3858-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3858-9

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