Epistulae Morales ad Lucilium. Briefe an Lucilius Band II 3538035121, 9783538035126

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Epistulae Morales ad Lucilium. Briefe an Lucilius Band II
 3538035121, 9783538035126

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SAMMLUNG

TUSCULUM

Wissenschaftliche Beratung: Niklas Holzberg, Rainer Nickel, Karl-Wilhelm Weeber, Bernhard Zimmermann

L. ANNAEUS SENECA

EPISTULAE MORALES AD LUCILIUM BRIEFE AN LUCILIUS BAND π

Lateinisch-deutsch Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel

ARTEMIS & WINKLER

Für Susanne

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 Patmos Verlag G m b H & Co. KG Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany I S B N 978-3-538-03512-6 www.artemisundwinkler.de

INHALT

TEXT U N D Ü B E R S E T Z U N G Epistulae LXXVI - C X X I V · Brief 76-124

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ANHANG Zum lateinischen Text Einfuhrung Der Aufbau des zweiten Bandes der Briefe Wer ist der Adressat der Briefe? Der essayistische Charakter Lebenswirklichkeit und moralisches Handeln Selbstgespräch und ethischer Fortschritt Umwertung statt Veränderung Licht in der Dunkelheit Handeln und aktive Hinnahme Göttliche Macht und Prämeditation Fortschritt und Ziel Erläuterungen Literaturhinweise

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Epistula L X X V I Seneca Lucilio suo salutem. (i) Inimicitias mihi denuntias si quicquam ex iis quae cotidie facio ignoraveris. Vide quam simpliciter tecum vivam: hoc quoque tibi committam. Philosophum audio et quidem quintum iam diem habeo ex quo in scholam eo et ab octava disputantem audio. 'Bona' inquis 'aetate.' Quidni bona? quid autem stultius est quam, quia diu non didiceris, non discere? (2) 'Quid ergo? idem faciam quod trossuli et iuvenes?' Bene mecum agitur, si hoc unum senectutem meam dedecet: omnis aetatis homines haec schola admittit. 'In hoc senescamus, ut iuvenes sequamur?' In theatrum senex ibo et in circum deferar et nullum par sine me depugnabit: ad philosophum ire erubescam? (3) Tamdiu discendum est quamdiu nescias; si proverbio credimus, quamdiu vivas. Nec ulli hoc rei magis convenit quam huic: tamdiu discendum est quemadmodum vivas quamdiu vivas. Ego tarnen illic aliquid et doceo. Quaeris quid doceam? etiam seni esse discendum. (4) Pudet autem me generis humani quotiens scholam intravi. Praeter ipsum theatrum Neapolitanorum, ut scis, transeundum est Metronactis petenti domum. Illud quidem fartum est, et ingenti studio quis sit pythaules bonus iudicatur; habet tubicen quoque Graecus et praeco concursum: at in illo loco in quo vir bonus quaeritur, in quo vir bonus discitur, paucissimi sedent, et hi plerisque videntur nihil boni negotii habere quod agant; inepti et inertes vocantur. Mihi contingat iste derisus: aequo animo audien-

76. Brief

Lebenslanges Lernen

Seneca grüßt seinen Freund Lucilius. (1) Du kündigst mir die Freundschaft auf, solltest Du irgendetwas von dem, was ich jeden Tag tue, nicht erfahren. Sieh doch, wie ungezwungen ich mit Dir umgehe: Auch das werde ich Dir anvertrauen. Ich höre einen Philosophen, 1 und es ist tatsächlich so, dass ich schon den fünften Tag in seine Vorlesung gehe und ihn von der achten Stunde an seine Gedanken entwickeln höre. 2 »Im passenden Alter«, stellst Du fest. Wieso denn nicht im passenden? Was ist denn dümmer, als nicht zu lernen, nur weil man lange nicht gelernt hat? (2) »Was heißt das? Soll ich etwa dasselbe tun wie die feinen Herren und die jungen Leute?« Gut geht es mir, wenn allein dies meinem hohen Alter nicht entspricht: Menschen aller Altersstufen können diese Vorlesung besuchen. »Sollen wir deshalb alt werden, um dasselbe zu tun wie die jungen Leute?« Ins Theater werde ich als alter Mann gehen, mich in den Zirkus tragen lassen und kein Paar wird ohne mich um den Sieg kämpfen: Wieso soll ich mich dann schämen, zu einem Philosophen zu gehen? (3) Man muss doch so lange lernen, wie man unwissend ist - wenn wir dem Sprichwort glauben, solange man lebt. Und keinem Grundsatz entspricht dies besser als der Forderung: Wie man leben soll, muss man so lange lernen, wie man lebt. Dennoch lehre auch ich dort etwas. Was ich lehre, fragst Du? Dass auch ein alter Mann noch lernen muss. (4) Allerdings schäme ich mich jedes Mal für die menschliche Gattung, wenn ich in die Vorlesung gehe. Man muss, wie Du weißt, unmittelbar am Theater von Neapel vorbeigehen, wenn man zum Haus des Metronax kommen will. Das Theater ist voll besetzt und man diskutiert mit gewaltiger Leidenschaft, wer ein guter Flötenspieler ist; auch der griechische Bläser seiner Tuba und der Ausrufer haben viele Leute um sich: Aber an dem Ort, wo man der Frage nachgeht, was ein anständiger Mensch ist, und wo man lernt, ein anständiger Mensch zu sein, sitzen die Wenigsten, und diese scheinen den meisten keine gute Tätigkeit auszuüben; man bezeichnet sie als wirklichkeitsfern und lebensuntüchtig. Meinetwegen lasse ich mir diesen Spott gefallen: Mit Gelassenheit muss man die Vorwürfe solcher Leute hin-

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da sunt inperitorum convicia et ad honesta vadenti contemnendus est ipse contemptus. (5) Perge, Luciii, et propera, ne tibi accidat quod mihi, ut senex discas; immo ideo magis propera quoniam id nunc adgressus es quod perdiscere vix senex possis. 'Quantum' inquis 'proficiam?' Quantum temptaveris. (6) Quid expectas? nulli sapere casu obtigit. Pecunia veniet ultro, honor offeretur, gratia ac dignitas fortasse ingerentur tibi: virtus in te non incidet. Ne levi quidem opera aut parvo labore cognoscitur; sed est tanti laborare omnia bona semel occupaturo. U n u m est enim bonum quod honestum: in illis nihil invenies veri, nihil certi, quaecumque famae placent. (7) Quare autem unum sit bonum quod honestum dicam, quoniam parum me exsecutum priore epistula iudicas magisque hanc rem tibi laudatam quam probatam putas, et in artum quae dicta sunt contraham.

(8) Omnia suo bono constant. Vitem fertilitas commendat et sapor vini, velocitas cervum; quam fortia dorso iumenta sint quaeris, quorum hie unus est usus, sarcinam ferre; in cane sagacitas prima est, si investigare debet feras, cursus, si consequi, audacia, si mordere et invadere: id in quoque optimum esse debet cui nascitur, quo censetur. (9) In homine quid est optimum? ratio: hac antecedit animalia, deos sequitur. Ratio ergo perfecta proprium bonum est, cetera ί 11 i cum animalibus satisque communia sunt. Valet: et leones. Formonsus est: et pavones. Velox est: et equi. N o n dico, in his om-

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nehmen, die keine Ahnung haben, und wer auf dem Weg zu moralischem Handeln ist, muss eben die Verachtung verachten. (5) Setz Deinen Weg fort, Lucilius, und beeil Dich, damit Dir nicht dasselbe passiert wie mir, dass Du als alter Mann noch lernen musst; nein, Du solltest Dich lieber noch mehr beeilen, da Du jetzt in Angriff genommen hast, was Du als alter Mann kaum noch vollständig lernen kannst. Du fragst: »Wie weit werde ich vorwärts kommen?« So weit Du es versuchst. (6) Was erwartest Du? Noch nie ist es jemandem gelungen, durch einen glücklichen Zufall weise zu sein. Geld wirst Du ohne Dein Zutun bekommen, ein Ehrenamt wird man Dir antragen, mit Anerkennung und Achtung wird man Dich vielleicht überschütten: Deine moralische Haltung (virtus) wird Dir nicht einfach zufallen. Man kann sie nicht einmal ohne weiteres oder ohne besondere Anstrengung erkennen; aber es ist der Mühe wert, sich anzustrengen, wenn man ein für allemal alle Güter gewinnen will. Denn nur was anständig (honestum) ist, ist ein Gut (bonum): Unter den Dingen, die der öffentlichen Meinung gefallen, wirst Du nichts Wahrhaftiges, nichts Zuverlässiges finden. (7) Warum aber nur das, was anständig ist, gut ist, werde ich Dir sagen, weil Du ja der Uberzeugung bist, ich sei in einem früheren Brief nicht ausführlich genug darauf eingegangen,3 und meinst, ich hätte Dir diese Gleichsetzung mehr gelobt als begründet, und ich werde Dir kurz zusammenfassen, was darüber schon gesagt wurde. (8) Alles besteht durch die ihm eigentümliche Qualität, trägt sein Gutes in sich. Fruchtbarkeit und Geschmack des Weines machen den Weinstock aus, Schnelligkeit den Hirsch; man fragt, wie kräftig die Lasttiere im Rücken sind, deren einziger Zweck darin besteht, Lasten zu tragen; bei einem Hund kommt es in erster Linie auf seinen Geruchssinn an, wenn er das Wild aufspüren, auf seine Schnelligkeit, wenn er es verfolgen, seine Furchdosigkeit, wenn er es beißen und angreifen muss: Bei jedem Lebewesen muss das am besten ausgebildet sein, wofür es geboren und wonach es beurteilt wird. (9) Was ist das Beste am Menschen? Die Vernunft: Durch sie kommt er vor den anderen Lebewesen und nach den Göttern. Demnach ist die vollkommene Vernunft das dem Menschen eigentümliche Gut. Alles andere hat er mit den anderen Lebewesen gemeinsam. Er ist stark: Auch die Löwen sind es. Er ist schön: Das sind auch die Pfauen. Er ist

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nibus vincitur; non quaero quid in se maximum habeat, sed quid suum. Corpus habet: et arbores. Habet impetum ac motum voluntarium: et bestiae et vermes. Habet vocem: sed quanto clariorem canes, acutiorem aquilae, graviorem tauri, dulciorem mobilioremque luscinii? (10) Quid est in homine proprium? ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit. Ergo si omnis res, cum bonum suum perfecit, laudabilis est et ad finem naturae suae pervenit, homini autem suum bonum ratio est, si hanc perfecit laudabilis est et finem naturae suae tetigit. Haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum est. (n) Id itaque unum bonum est in homine quod unum hominis est; nunc enim non quaerimus quid sit bonum, sed quid sit hominis bonum. Si nullum aliud est hominis quam ratio, haec erit unum eius bonum, sed pensandum cum omnibus. Si sit aliquis malus, puto inprobabitur; si bonus, puto probabitur. Id ergo in homine primum solumque est quo et probatur et inprobatur.

(12) N o n dubitas an hoc sit bonum; dubitas an solum bonum sit. Si quis omnia alia habeat, valetudinem, divitias, imagines multas, frequens atrium, sed malus ex confesso sit, inprobabis ilium; item si quis nihil quidem eorum quae rettuli habeat, deficiatur pecunia, clientium turba, nobilitate et avorum proavorumque serie, sed ex confesso bonus sit, probabis ilium. Ergo hoc unum est bonum hominis, quod qui habet, etiam si aliis destituitur, laudandus est, quod qui non habet in omnium

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schnell: Das gilt auch fur die Pferde. Ich meine damit nicht, dass er in allen diesen Eigenschaften den anderen Lebewesen unterlegen ist; ich frage nicht, was seine am meisten ausgeprägte Eigenschaft ist, sondern worin seine Eigentümlichkeit besteht. Er hat einen Körper: Bäume auch. Er hat Triebkraft und seinem Willen unterworfene Bewegung: Das trifft auch auf wilde Tiere und Würmer zu. Er hat eine Stimme; aber wie viel lauter ist die Stimme der Hunde, wie viel durchdringender die der Adler, wie viel dröhnender die der Stiere, wie viel süßer und beweglicher die der Nachtigallen? (10) Was ist das spezifisch Menschliche? Die Vernunft. Wenn sie richtig funktioniert und vollkommen ist, erfüllt sie das Glück des Menschen. Wenn also jedes Ding, sobald es sein spezifisches Gut verwirklicht, lobenswert ist und den Zweck seines Wesens erreicht, das spezifische Gut des Menschen aber in seiner Vernunft besteht, dann ist er lobenswert, wenn er diese praktiziert, dann erreicht er so den Zweck seines Wesens. Diese Vernunft heißt in ihrer Vollendung »moralische Haltung« und ist identisch mit dem Anständigen, (n) Deshalb ist dies das einzige Gut des Menschen, weil es als Einziges dem Menschen gehört; jetzt fragen wir nämlich nicht, was ein Gut ist, sondern was das Gut des Menschen ist. Wenn es kein anderes Gut des Menschen gibt als die Vernunft, dann wird diese sein einziges Gut, aber mit allen anderen Gütern zu vergleichen sein. Wenn man sich vorstellt, jemand sei schlecht, wird man ihn, glaube ich, ablehnen; wenn man denkt, er sei gut, wird man ihn, glaube ich, anerkennen. Das also ist bei einem Menschen das Erste und Einzige, worauf man sieht, wenn man ihn anerkennt und wenn man ihn ablehnt. (12) Du zweifelst nicht, ob dies ein Gut ist; Du zweifelst, ob es das einzige Gut ist. Wenn jemand alles andere besäße, Gesundheit, Reichtum, viele Ahnenporträts, ein stark besuchtes Atrium, wäre aber unzweifelhaft schlecht, dann würde man ihn ablehnen; wenn jemand überhaupt nichts von den Dingen besäße, die ich aufgezählt habe, wenn er kein Geld hätte, keine große Zahl von Klienten, keine adlige Herkunft, keine Reihe bedeutender Vorfahren, aber ohne Zweifel gut wäre, dann würde man ihn anerkennen. Demnach ist dies das einzige Gut des Menschen, weil derjenige, der es besitzt, lobenswert ist, auch wenn ihm alles andere nicht zur Verfugung steht, und derjenige, der es nicht besitzt, obwohl ihm alle anderen Dinge reichlich zur Verfugung

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EPISTULAE MORALES AD L U C I L I U M

LXXVI

aliorum copia damnatur ac reicitur. (13) Quae condicio rerum, eadem hominum est: navis bona dicitur non quae pretiosis coloribus picta est nec cui argenteum aut aureum rostrum est nec cuius tutela ebore caelata est nec quae fiscis atque opibus regiis pressa est, sed stabilis et firma et iuncturis aquam excludentibus spissa, ad ferendum incursum maris solida, gubernaculo parens, velox et non sentiens ventum; (14) gladium bonum dices non cui auratus est balteus nec cuius vagina gemmis distinguitur, sed cui et ad secandum subtilis acies est et mucro munimentum omne rupturus; regula non quam formosa, sed quam recta sit quaeritur: eo quidque laudatur cui comparatur, quod illi proprium est. (15) Ergo in homine quoque nihil ad rem pertinet quantum aret, quantum feneret, a quam multis salutetur, quam pretioso incumbat lecto, quam perlucido poculo bibat, sed quam bonus sit. Bonus autem est si ratio eius explicita et recta est et ad naturae suae voluntatem accommodata. (16) Haec vocatur virtus, hoc est honestum et unicum hominis bonum. Nam cum sola ratio perficiat hominem, sola ratio perfecte beatum facit; hoc autem unum bonum est quo uno beatus efficitur. Dicimus et ilia bona esse quae a virtute profecta contractaque sunt, id est opera eius omnia; sed ideo unum ipsa bonum est quia nullum sine ilia est. (17) Si omne in animo bonum est, quidquid ilium confirmat, extollit, amplificat, bonum est; validiorem autem animum et excelsiorem et ampliorem facit virtus. Nam cetera quae cupiditates nostras inritant deprimunt quoque animum et labefaciunt et cum videntur attollere inflant ac multa vanitate deludunt. Ergo id unum bonum est quo melior animus efficitur. (18) Omnes actiones totius vitae honesti ac turpis respectu temperantur; ad haec faciendi et non

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stehen, verurteilt und zurückgewiesen wird. (13) Wie der Zustand der Dinge ist, so ist auch der Zustand der Menschen: Ein Schiff wird nicht als gut bezeichnet, wenn es mit kostbaren Farben bemalt ist, einen silbernen oder goldenen Schnabel hat und wenn seine Schutzgottheit aus Elfenbein geschnitzt ist, auch nicht, wenn es mit Geldkörben und Schätzen eines Königs beladen ist, sondern wenn es stabil, fest und dicht ist, weil seine Fugen kein Wasser eindringen lassen, wenn es dem Anprall der Wellen standhält, dem Ruder gehorcht, wenn es schnell und unempfindlich gegen Sturm ist. (14) Ein Schwert wirst Du nicht als gut bezeichnen, wenn es an einer goldenen Kette hängt und seine Scheide mit Edelsteinen verziert ist, sondern wenn es eine scharfe, fein schneidende Klinge hat und wenn seine Spitze jeden Panzer durchdringt; bei der Messlatte fragt man nicht, wie schön, sondern wie gerade sie ist: Jeder Gegenstand wird dafür gelobt, dass er seinen spezifischen Zweck erfüllt, für den man ihn anschafft. (15) Demnach kommt es auch bei einem Menschen nicht darauf an, wie viel Land er unter dem Pflug hat, wie viel Geld er verleihen kann, wie viele Klienten ihm ihre Aufwartung machen, wie kostbar das Bett ist, auf dem er liegt, wie fein das Glas ist, aus dem er trinkt, sondern wie gut er ist. Er ist aber nur dann gut, wenn seine Vernunft voll entfaltet, aufgerichtet und dem Willen ihrer Natur angepasst ist. (16) Das nennt man moralische Haltung, das ist Anstand und das einzige wirkliche Gut des Menschen. Denn weil allein die Vernunft den Menschen vollkommen macht, macht ihn allein die Vernunft vollkommen glücklich; sie aber ist das einzige Gut, durch das allein er glücklich wird. Wir sagen, dass auch jene Dinge Güter sind, die von der moralischen Haltung ausgegangen und verursacht sind, das heißt, alle ihre Werke; aber gerade deshalb ist sie selbst das einzige Gut, weil es kein Gut ohne sie gibt. (17) Wenn das Gut ausschließlich in der Seele ist, ist alles, was diese stärkt, erhebt und vergrößert, ein Gut; aber nur die moralische Haltung (virtus), macht die Seele stärker, höher und größer. Denn alles andere, das unsere Begierden erregt, drückt auch die Seele nach unten und verunsichert sie, und wenn es sie zu erheben scheint, bläst es sie auf und verspottet sie mit vielerlei Nichtigkeiten. Demnach ist nur das allein ein Gut, wodurch die Seele besser wird. (18) Alle Tätigkeiten werden ein Leben lang dadurch gesteuert, dass man das Anständige und das Schändliche im Blick behält; danach

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EPISTULAE MORALES AD LUCILIUM

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faciendi ratio derigitur. Quid sit hoc dicam: vir bonus quod honeste se facturum putaverit faciet etiam [sine pecunia] si laboriosum erit, faciet etiam si damnosum erit, faciet etiam si periculosum erit; rursus quod turpe erit non faciet, etiam si pecuniam adferet, etiam si voluptatem, etiam si potentiam; ab honesto nulla re deterrebitur, ad turpia nulla invitabitur. (19) Ergo si honestum utique secuturus est, turpe utique vitaturus, et in omni actu vitae spectaturus haec duo, 4 (69) Mit diesen Worten beschrieb unser Vergil eigentlich kein edles Pferd, sondern einen tapferen Mann: Ich könnte einen großen Mann jedenfalls mit keinem anderen Bild darstellen. Wenn ich Marcus Porcius Cato 16 ' zu beschreiben hätte, wie er im Lärm der Bürgerkriege furchtlos und allen voran auf die schon bis an die Alpen vorgedrungenen Heere losging und sich dem Bürgerkrieg entgegenstemmte, dann würde ich ihm keinen anderen Gesichtsausdruck, keine andere Haltung verleihen. (70) Stolzer hätte gewiss niemand auftreten können als er, der gegen Caesar und Pompeius zugleich sich erhob; während die einen Caesars, die anderen Pompeius' Politik unterstützten, forderte er beide heraus und machte deutlich, dass es auch noch Verfechter der Republik gab. Allerdings es ist untertrieben, über Cato zu sagen: »Er schreckt vor dem nichtigen Getöse nicht zurück«. Warum? Weil er vor tatsächlichem und ganz nahem Getöse nicht zurückschreckt, weil er gegen zehn Legionen, gallische Hilfstruppen und die mit den Truppen der Ausländer vereinigten Truppen der Bürger seine freie Stimme richtet und die Republik ermahnt, um der Freiheit willen nicht aufzugeben, sondern alles zu versuchen. Denn es sei ehrenvoller, in die Knechtschaft geraten, als in die Knechtschaft gehen zu wollen. (71) Wie viel Kraft und Mut und wie viel Zuversicht bei der

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XCVI

quantum in publica trepidatione fiduciae est! Seit se unum esse, de cuius statu non agatur; non enim quaeri, an liber Cato, sed an inter liberos sit: inde periculorum gladiorumque contemptus. Libet admirantem invictam constantiam viri inter publicas ruinas non labantis dicere 'luxuriatque toris animosum pectus'. (72) Proderit, non tantum quales esse soleant boni viri dicere formamque eorum et liniamenta deducere, sed quales fuerint narrare et exponere: Catonis illud ultimum ac fortissimum vulnus, per quod libertas emisit animam, Laeli sapientiam et cum suo Scipione concordiam, alterius Catonis domi forisque egregia facta, Tuberonis ligneos lectos, cum in publicum sterneret, haedinasque pro stragulis pelles et ante ipsius Iovis cellam adposita conviviis vasa fictilia. Q y i d aliud paupertatem in Capitolio consecrare? Ut nullum aliud factum eius habeam, quo ilium Catonibus inseram, hoc parum credimus? censura fuit ilia, non cena. (73) Ο quam ignorant homines cupidi gloriae, quid ilia sit aut quemadmodum petenda! Illo die populus Romanus multorum supellectilem spectavit, unius miratus est. Omnium illorum aurum argentumque fractum est et [in] milliens conflatum, at omnibus saeculis Tuberonis fictilia durabunt. Vale.

Epistula X C V I Seneca Lucilio suo salutem. (1) Tarnen tu indignaris aliquid aut quereris et non intellegis nihil esse in istis mali nisi hoc unum, quod indignaris et quereris? Si me interrogas, nihil puto viro mi-

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BRIEFE AN

LUCILIUS

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allgemeinen Unsicherheit in ihm steckt! Er weiß, dass er der Einzige ist, dessen Status nicht auf dem Spiel steht; es stelle sich nämlich nicht die Frage, ob Cato frei sei, sondern ob er sich unter Freien befinde: daher die Verachtung der Gefahren und der Schwerter. Gern möchte man die unüberwindbare Standhaftigkeit des Mannes bewundern, der im allgemeinen Zusammenbruch nicht wankt, und sagen: »Von starken Muskeln strotzt die stolze Brust.« (72) Nützlich wird es sein, nicht nur zu sagen, wie tüchtige Männer im Allgemeinen sind, und ihr Außeres und ihre Züge zu beschreiben, sondern auch zu erzählen und darzustellen, wie sie (konkret) waren: also Catos letzte und tapferste Verwundung zu erwähnen,166 mit der die Freiheit ihr Leben verlor, die Weisheit des Laelius und die Eintracht zwischen ihm und Scipio,16? die hervorragenden Taten des anderen Cato 168 zu Hause und im Ausland, und die hölzernen Speisesofas des Tubero,16? die er (fur ein offizielles Mahl) in der Öffentlichkeit aufstellte, die Ziegenfelle an Stelle der Decken und die sogar vor dem Tempel des Jupiter für Festmähler bereitgestellten Gefäße aus Ton. Was bedeutete das anderes als die religiöse Verehrung der Armut auf dem Kapitol? Selbst wenn ich von keiner anderen Tat dieses Mannes wüsste, mit der ich ihn in die Reihe der beiden Catones stellen könnte, glauben wir etwa, dass diese zu wenig Gewicht hätte? Es ging um eine moralische Lektion, nicht um ein offizielles Mahl. (73) Ach, wie wenig wissen die Menschen, die süchtig nach Ruhm sind, was Ruhm ist oder wie man danach strebt! An jenem Tag sah das römische Volk den Hausrat vieler Menschen, bewunderte ihn aber nur bei einem einzigen. Gold und Silber aller dieser Leute sind zerbrochen und tausendmal eingeschmolzen, doch die Tongefaße des Tubero werden alle Zeiten überdauern. Lass es Dir gut gehen.

96. B r i e f

E i n langes L e b e n ist eine lange Reise.

Seneca grüßt seinen Freund Lucilius. (1) Gleichwohl empörst Du Dich oder beklagst Dich über etwas und merkst nicht, dass nichts Böses an diesen Dingen ist - bis auf diese eine Tatsache, dass Du Dich eben empörst und beklagst? Wenn Du

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XCVI

serum nisi aliquid esse in rerum natura, quod putet miserum. N o n feram me, quo die aliquid ferre non potero. Male valeo: pars fati est. Familia decubuit, fenus offendit, domus crepuit, damna, vulnera, labores, metus incucurrerunt: solet fieri. Hoc parum est: debuit fieri. (2) Decernuntur ista, non accidunt. Si quid credis mihi, intimos adfectus meos tibi cum maxime detego: in omnibus quae adversa videntur et dura sic formatus sum: non pareo deo sed adsentior; ex animo ilium, non quia necesse est, sequor. Nihil umquam mihi incidet, quod tristis excipiam, quod malo vultu; nullum tributum invitus conferam. Omnia autem, ad quae gemimus, quae expavescimus, tributa vitae sunt: horum, mi Lucili, nec speraveris immunitatem nec petieris. (3) Vesicae te dolor inquietavit, epistulae venerunt parum dulces, detrimenta continua - propius accedam, de capite timuisti. Quid, tu nesciebas haec te optare, cum optares senectutem? Omnia ista in longa vita sunt, quomodo in longa via et pulvis et lutum et pluvia. (4) 'Sed volebam vivere, carere tamen incommodis omnibus.' Tam effeminata vox virum dedecet. Videris, quemadmodum hoc votum meum excipias; ego illud magno animo, non tantum bono facio: neque di neque deae faciant, ut te fortuna in deliciis habeat. (5) Ipse te interroga, si quis potestatem tibi deus faciat, utrum velis vivere in macello an in castris. Atqui vivere, Lucili, militare est. Itaque hi, qui iactantur et per operosa atque ardua sursum ac deorsum eunt et expeditiones periculosissimas obeunt, fortes viri sunt primoresque castrorum; isti quos putida

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mich fragst, so glaube ich, dass nur dies ein Unglück ist fur einen Mann, wenn er etwas in der Natur der Dinge für ein Unglück hält. Ich werde mich selbst an dem Tag nicht ertragen, an dem ich irgendetwas nicht ertragen kann. Mir geht es schlecht: Das ist ein Teil des Schicksals. Alle Sklaven waren krank geworden, die Schulden drückten, das Haus krachte in allen Fugen, Verluste, Verletzungen, Anstrengungen, Ängste befielen mich: Es kommt eben vor. Das ist zu wenig: Es musste sogar geschehen. (2) Das ist beschlossene Sache, es passiert nicht einfach so.'7° Wenn Du mir etwas Vertrauen schenkst, offenbare ich Dir meine Gefühle rückhaltlos: Bei allem, was unglücklich und hart zu sein scheint, habe ich folgende Einstellung entwickelt: Ich gehorche Gott nicht, sondern ich stimme ihm zu; ich folge ihm aus vollem Herzen, nicht weil es unausweichlich ist.1?1 Nichts wird mir jemals zustoßen, was ich mit Bedauern oder mit ablehnendem Gesichtsausdruck entgegennehme; keinen Tribut werde ich gegen meinen Willen zahlen. Alles aber, worüber wir uns beklagen, wovor wir erschrecken, sind Tributzahlungen an das Leben:1?2 Erhoffe und wünsche Dir nicht, davon verschont zu bleiben. (3) Blasenschmerzen haben Dich beunruhigt, ziemlich unangenehme Briefe und ununterbrochene Verluste sind eingetroffen und ich will noch weiter gehen - Du hast um Dein Leben gefurchtet. Was? Du wusstest nicht, dass Du auch dies herbeigewünscht hast, als Du Dir wünschtest, alt zu werden? All das kommt in einem langen Leben vor wie Staub, Schmutz und Regen auf einer langen Reise. (4) »Aber ich wollte leben, doch ohne Unannehmlichkeiten sein.« Eine so weibische Aussage ist eine Schande für einen Mann. Du könntest Dir vor Augen führen, wie Du diesen meinen Wunsch aufnimmst; ich äußere ihn aus innerer Unabhängigkeit, nicht aus Zuneigung zu Dir: Weder die Götter noch die Göttinnen mögen bewirken, dass Dich das Schicksal besonders begünstigt. (5) Frag Dich selbst, ob Du, wenn Dir irgendein Gott die Möglichkeit dazu gäbe, Dich entscheiden würdest, auf dem Fleischmarkt oder im Heerlager zu leben. Aber das Leben, mein lieber Lucilius, ist doch Kriegsdienst.w Daher sind jene, die ständig umhergestoßen werden, die durch Mühsal und harte Schwierigkeiten auf und nieder steigen und sich den gefährlichsten Abenteuern stellen, tapfere Männer und die fuhrenden Persönlichkeiten des Heerlagers; diejenigen aber, die eine

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EPISTULAE M O R A L E S AD L U C I L I U M

XCV1I

quies aliis laborantibus molliter habet, turturillae sunt, tuti contumeliae causa. Vale.

Epistula X C V I I . Seneca Lucilio suo salutem. (1) Erras, mi Lucili, si existimas nostri saeculi esse Vitiu m luxuriam et neglegentiam boni moris et alia, quae obiecit suis quisque temporibus: h o m i n u m sunt ista, non temporum. Nulla aetas vacavit a culpa; et si aestimare licentiam cuiusque saeculi incipias, pudet dicere, n u m q u a m apertius quam coram C a t o n e peccatum est. (2) Credat aliquis pecuniam esse versatam in eo iudicio, in q u o reus erat P. C l o d i u s ob id adulterium, quod c u m Caesaris uxore in operto commiserat, violatis religionibus eius sacrificii, q u o d 'pro p o p u l o ' fieri dicitur, sic summotis extra consaeptum omnibus viris, ut picturae quoque masculorum animalium contegantur? Atqui dati iudicibus n u m m i sunt et, q u o d hac etiamnunc pactione turpius est, stupra insuper matronarum et adulescentulorum nobilium stilari loco exacta sunt. (3) Minus crimine quam absolutione peccatum est: adulterii reus adulteria divisit nec ante fuit de salute securus, quam similes sui iudices suos reddidit. Haec in eo iudicio facta sunt in quo, si nihil aliud, C a t o testimonium dixerat. Ipsa p o n a m verba Ciceronis, quia res fidem excedit. (4) [Ciceronis epistularum ad Atticum liber primus] 'Accersivit ad se, promisit, intercessit, dedit. Iam vero (o di boni, rem perditam!) etiam noctes certarum mulierum atque adulescentulorum nobilium in-

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BRIEFE AN LUCILIUS

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verächtliche Ruhe verwöhnt, während andere sich abmühen, sind Turteltäubchen und in Sicherheit aufgrund ihrer unwürdigen Lebensweise. Lass es Dir gut gehen.

97. Brief

N i c h t alles auf die Z e i t u m s t ä n d e schieben!

Seneca grüßt seinen Freund Lucilius. (1) Du irrst, lieber Lucilius, wenn Du glaubst, dass der Fehler unseres Zeitalters in der Verschwendungssucht, der Missachtung der guten Sitten und noch in anderem besteht, was jeder seiner Zeit vorwirft: Das sind Fehler der Menschen, nicht der Zeiten. Kein Zeitalter war frei von Schuld; und wenn Du die Verwahrlosung eines jeden Zeitalters einzuschätzen beginnst, schämt man sich zu sagen, dass man es niemals schlimmer in aller Öffentlichkeit getrieben hat als in Catos Gegenwart. (2) Es könnte jemand glauben, es habe in dem Prozess Geld eine Rolle gespielt, in dem P. Clodius'74 wegen Ehebruchs angeklagt worden sei, den er mit Caesars Frau heimlich begangen hatte, nachdem er die religiösen Handlungen bei diesem Opfer entweiht hatte, das »für das Volk« durchgeführt werden soll, wobei alle Männer so konsequent aus dem heiligen Bezirk verbannt sind, dass auch die Abbildungen männlicher Tiere verhüllt werden? Und doch wurde den Richtern Geld gegeben und, was noch schändlicher ist als diese Vereinbarung, es wurden darüber hinaus als Zugabe noch unzüchtige Handlungen zwischen verheirateten Frauen und vornehmen jungen Männern verlangt. (3) Weniger durch das Verbrechen als durch den Freispruch hat man Schuld auf sich geladen: Der wegen eines Ehebruchs Angeklagte verschaffte noch anderen die Möglichkeit zum Ehebruch und war nicht eher sicher, als bis er seine Richter zu Mittätern gemacht hatte. Das geschah in einem Prozess, in dem ausgerechnet Cato als Zeuge aufgetreten war. Ich zitiere Ciceros eigene Worte, da der Vorgang ganz unglaublich war. (4) In Ciceros erstem Buch seiner Briefe an Atticus heißt es:'7S »Er rief (die Richter) zu sich, machte ihnen Versprechungen, verpflichtete sich zu einer Kaution, gab Geld. Dann aber - gute Götter, welche Schande! sogar Liebesnächte mit bestimmten Frauen und Vermittlung von

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troductiones nonnullis iudicibus pro mercedis cumulo fuerunt.' (5) N o n vacat de pretio queri, plus in accessionibus fuit. 'Vis severi illius uxorem? dabo illam. Vis divitis huius? tibi praestabo concubitum. Adulterium nisi feceris, damna. Ilia formonsa, quam desideras, veniet. Illius tibi noctem promitto nec differo; intra comperendinationem fides promissi mei extabit.' Plus est distribuere adulteria quam facere; hoc vero matribus familiae denuntiare est. (6) Hi iudices Clodiani a senatu petierant praesidium, quod non erat nisi damnaturis necessarium, et inpetraverant; itaque eleganter illis Catulus absoluto reo 'quid vos' inquit 'praesidium a nobis petebatis? an ne nummi vobis eriperentur?' Inter hos tamen iocos inpune tulit ante iudicium adulter, in iudicio leno, qui damnationem peius effugit, quam meruit. (7) Quicquam fuisse corruptius illis moribus credis, quibus libido non sacris inhiberi, non iudicis poterat, quibus in ea ipsa quaestione, quae extra ordinem senatusconsulto exercebatur, plus quam quaerebatur, admissum est? Quaerebatur, an post adulterium aliquis posset tutus esse: apparuit sine adulterio tutum esse non posse.

(8) H o c inter Pompeium et Caesarem, inter Ciceronem Catonemque commissum est, Catonem inquam ilium, quo sedente populus negatur permisisse sibi postulare Florales iocos nudandarum meretricum, si credis spectasse tunc severius homines quam iudicasse. Et fient

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jungen Männern aus vornehmem Haus waren fur einige Richter der Gipfel der Bestechung.« (5) Es bringt nichts, über das Geld zu klagen; das größere Übel bestand in den zusätzlichen Vergünstigungen. »Willst du die Frau jenes sittenstrengen Mannes haben? Ich werde sie dir geben. Willst du die Frau dieses Reichen? Ich werde sie dir besorgen, damit du mit ihr schlafen kannst. Wenn du keinen Ehebruch begangen hast, verurteile den Angeklagten! Jene Schöne, die du begehrst, wird kommen. Ich verspreche dir eine Nacht mit ihr und werde es nicht verschieben; noch innerhalb der Frist bis zum Richterspruch wird sich die Vertrauenswürdigkeit meines Versprechens erweisen.« Es ist ein größeres Verbrechen, zum Ehebruch anzustiften, als ihn zu begehen; das bedeutet aber, ihn Müttern mit Familie anzubieten. (6) Diese von Clodius bestochenen Richter hatten den Senat um Polizeischutz gebeten, der nur nötig war, falls sie eine Verurteilung beschließen würden; und sie hatten ihn bekommen. Deshalb machte Catulus 1 ^ nach dem Freispruch des Angeklagten die treffende Bemerkung: »Warum habt ihr uns um Polizeischutz gebeten? Etwa damit euch kein Geld gestohlen wird?« Trotz dieses Spottes blieb Clodius straffrei: vor dem Prozess ein Ehebrecher, während des Prozesses ein Kuppler, der sich seiner Verurteilung durch schlimmere Taten entzog, als die es waren, fur die er sie verdient hätte. (7) Glaubst Du, dass irgendetwas verkommener war als jene Verhältnisse, unter denen eine haltlose Gier nicht durch heilige Handlungen und nicht durch Gerichtsverhandlungen unterbunden werden konnte, und unter denen sogar im Zuge der Untersuchung der Vorgänge, die außerhalb der üblichen Ordnung und auf Beschluss des Senates durchgeführt wurde, ein noch größeres Verbrechen zugelassen wurde als das, was untersucht wurde? Es wurde gefragt, ob jemand nach einem Ehebruch seines Lebens sicher sein könne: Es zeigte sich, dass jemand ohne einen Ehebruch seines Lebens nicht sicher sein konnte. (8) Das geschah in Anwesenheit des Pompeius und des Caesar, in Anwesenheit Ciceros und Catos, jenes Cato, sage ich, in dessen Gegenwart das Volk darauf verzichtet haben soll, für sich den Spaß mit den nackten Freudenmädchen beim Floralienfest^ zu beanspruchen. Wenn Du es glaubst, waren die Menschen damals offensichtlich strengere Festbesucher als Richter. Diese Dinge werden

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et facta sunt ista, et licentia urbium aliquando disciplina metuque, numquam sponte considet. (9) N o n est itaque, quod credas nos plurimum libidini permisisse, legibus minimum; longe enim frugalior haec iuventus est quam ilia, cum reus adulterium apud iudices negaret, iudices apud reum confiterentur, cum stuprum committeretur rei iudicandae causa, cum Clodius, isdem vitiis gratiosus quibus nocens, conciliaturas exerceret in ipsa causae dictione. Credat hoc quisquam? qui damnabatur uno adulterio absolutus est multis.

(10) Omne tempus Clodios, non omne Catones feret. Ad deteriora faciles sumus, quia nec dux potest nec comes deesse, et res ipsa etiam sine duce, sine comite procedit. N o n pronum est tantum ad vitia, sed praeceps, et, quod plerosque inemendabiles facit, omnium aliarum artium peccata artificibus pudori sunt offenduntque deerrantem, vitae peccata delectant. (11) N o n gaudet navigio gubernator everso, non gaudet aegro medicus elato, non gaudet orator, si patroni culpa reus cecidit, at contra omnibus crimen suum voluptati est: laetatur ille adulterio, in quod inritatus est ipsa difficultate; laetatur ille circumscriptione furtoque, nec ante illi culpa quam culpae fortuna displicuit. Id prava consuetudine evenit. (12) Alioquin, ut scias subesse animis etiam in pessima abductis boni sensum nec ignorari turpe, sed neglegi, omnes peccata dissimulant et, quamvis feliciter

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geschehen und sind geschehen, und die Sittenlosigkeit der Städte wird gelegentlich durch Zucht und Furcht, aber niemals von selbst zurückgehen. (9) Du hast deshalb keinen Grund zu glauben, wir hätten der moralischen Verwahrlosung sehr viel Platz eingeräumt, den Gesetzen aber sehr wenig; denn die Jugend von heute ist viel anständiger als die Jugend in der Vergangenheit, als ein Angeklagter einen Ehebruch vor den Richtern abstritt, die Richter den ihren aber vor dem Angeklagten eingestanden; als die schändliche Tat zur Beeinflussung der richterlichen Entscheidung begangen wurde und Clodius, der wegen desselben Fehlverhaltens beliebt war, mit dem er sich schuldig machte, sich ausgerechnet im Rahmen seiner Verteidigung als Zuhälter betätigte. Könnte jemand dies glauben? Wer wegen eines einzigen Ehebruchs verurteilt werden sollte, wurde mit Hilfe vieler ehebrecherischer Schandtaten freigesprochen. (10) Jede Zeit wird Leute wie Clodius hervorbringen, aber nicht jede Leute wie Cato. Zu minderwertigen Taten sind wir leicht bereit, weil weder ein Anstifter noch ein Mittäter fehlen kann, und das Vorhaben entwickelt sich auch ohne einen Anstifter und einen Mittäter weiter. Es gibt nicht nur eine Neigung zu unanständigem Handeln, sondern auch eine Leidenschaft dazu, und - was die meisten unverbesserlich werden lässt - in allen anderen Künsten schämen sich die Künstler ihrer Fehler und machen demjenigen Vorwürfe, der etwas falsch macht, Fehler in der Lebensgestaltung bereiten dagegen Vergnügen. (11) Ein Steuermann freut sich nicht, wenn er sein Schiff auf Grund gesetzt hat; ein Arzt freut sich nicht, wenn sein Patient beerdigt wurde; ein Redner freut sich nicht, wenn ein Angeklagter durch die Schuld seines Anwalts verloren hat; auf der anderen Seite aber bringt allen Menschen ihre eigene Schandtat Vergnügen: Der eine freut sich über seinen Ehebruch, zu dem er gerade durch schwierige Umstände angestachelt wurde; der andere hat seine Freude an Betrug und Diebstahl, und es missfiel ihm sein Vergehen nicht, bis er sein Ziel erreichte. Das ist das Ergebnis der Gewöhnung an das Verbrechen. (12) Sonst solltest Du aber auch wissen, dass die Menschen, die sich zu den schlimmsten Dingen haben verleiten lassen, einen Sinn für das Gute haben und das Schändliche zwar genau sehen, aber nicht beachten und allesamt ihre Fehler verheimlichen und auch, wenn alles gut gegangen ist, durchaus ihren Gewinn daraus

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cesserint, fructu illorum utuntur, ipsa subducunt. At bona conscientia prodire vult et conspici: ipsas nequitia tenebras timet. (13) Eleganter itaque ab Epicuro dictum puto: 'potest nocenti contingere, ut lateat, latendi fides non potest', aut si hoc modo melius hunc explicari posse iudicas sensum: 'ideo non prodest latere peccantibus, quia latendi etiam, si felicitatem habent, fiduciam non habent.' Ita est, tuta scelera esse possunt, {secura esse non possunt). (14) H o c ego repugnare sectae nostrae, si sic expediatur non iudico. Quare? quia prima ilia et maxima peccantium est poena peccasse, nec ullum scelus, licet illud fortuna exornet muneribus suis, licet tueatur ac vindicet, inpunitum est, quoniam sceleris in scelere supplicium est. Sed nihilominus et hae illam secundae poenae premunt ac sequuntur, timere semper et expavescere et securitati diffidere. Qiiare ego hoc supplicio nequitiam liberem? quare non semper illam in suspenso relinquam? (15) Illic dissentiamus cum Epicuro, ubi dicit nihil iustum esse natura et crimina vitanda esse, quia vitari metus non posse: hie consentiamus, mala facinora conscientia flagellari et plurimum illi tormentorum esse eo, quod perpetua illam sollicitudo urget ac verberat, quod sponsoribus securitatis suae non potest credere. Hoc enim ipsum argumentum est, Epicure, natura nos a scelere abhorrere, quod nulli non etiam inter tuta timor est. (16) Multos fortuna liberat poena, metu neminem. Quare nisi quia infixa nobis eius rei aversatio est, quam natura damnavit? Ideo numquam fides latendi fit etiam latentibus, quia coarguit illos conscientia et ipsos sibi ostendit. Proprium autem est nocentium trepidare.

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ziehen, die Fehler selbst aber verbergen. Ein gutes Gewissen will sich dagegen im Licht der Öffentlichkeit darstellen und gesehen werden: Nichtsnutzigkeit furchtet sogar die Dunkelheit. (13) Deshalb hat Epikur es geschickt ausgedrückt, wie ich glaube: »Einem Verbrecher kann es gelingen, unentdeckt zu bleiben, er kann sich aber nicht darauf verlassen, unentdeckt zu bleiben«, oder wenn Du meinst, dass dieser Gedanke auf folgende Weise noch besser ausgedrückt werden kann: »Deshalb nützt es den Verbrechern nichts, unentdeckt zu bleiben, weil sie, auch wenn sie das Glück haben, unentdeckt zu bleiben, sich nicht darauf verlassen können.« So ist es, Verbrechen können sicher versteckt, aber nicht frei von Sorgen sein. (14) Ich glaube nicht, dass dies im Widerspruch zu unserer Schulmeinung steht, wenn es so erklärt wird. Inwiefern? Weil es die erste und größte Strafe der Verbrecher ist, ein Verbrechen begangen zu haben, und keine Schandtat ohne Strafe bleibt, mag das Glück sie auch mit seinen Gaben schmücken und auch seine schützende Hand über sie halten, da ja die Strafe für die Schandtat in der Schandtat selbst liegt. Aber nichtsdestoweniger folgen auf jene Strafe diese weiteren Strafen: Ständig in Angst und Schrecken zu leben und der Sicherheit zu misstrauen. Warum soll ich das moralische Versagen von dieser Strafe befreien? Warum soll ich es nicht immer in der Schwebe lassen? (15) Hierin wollen wir mit Epikur nicht übereinstimmen, wenn er sagt, dass von Natur aus nichts gerecht sei und man Verbrechen vermeiden müsse, weil die Angst nicht vermieden werden könne: Hier wollen wir ihm jedoch zustimmen, dass schlechte Taten durch das Gewissen'78 gegeißelt werden und die schlimmsten Qualen des Gewissens darin bestehen, dass eine ständige innere Unruhe es bedrängt und peinigt, weil es sich auf die Bürgen seiner Sicherheit nicht verlassen kann. Genau das ist nämlich der Beweis, lieber Epikur, dass wir von Natur aus vor einem Verbrechen zurückschrecken, weil jeder Angst hat, auch wenn er in Sicherheit ist. (16) Viele befreit das Glück von der Strafe, aber niemanden von der Furcht. Warum, wenn nicht deshalb, weil in uns die Ablehnung gegenüber dem Handeln tief verwurzelt ist, das die Natur verabscheut hat? Deshalb gibt es für die, die sich verbergen, niemals die Sicherheit, verborgen zu bleiben, weil das Gewissen sie überfuhrt und sie mit sich selbst konfrontiert. Angst und Unruhe zu spüren ist aber ein Merkmal der

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Male de nobis actum erat, quod multa scelera legem et vindicem effugiunt et scripta supplicia, nisi ilia naturalia et gravia de praesentibus solverent et in locum patientiae timor cederet. Vale.

Epistula X C V I I I Seneca Lucilio suo salutem. (i) Numquam credideris felicem quemquam ex felicitate suspensum. Fragilibus innititur, qui adventicio laetus est: exibit gaudium, quod intravit. At illud ex se ortum fidele firmumque est et crescit et ad extremum usque prosequitur: cetera quorum admiratio est vulgo in diem bona sunt. 'Quid ergo? non usui ac voluptati esse possunt?' Quis negat? sed ita si ilia ex nobis pendent, non ex illis nos. (2) Omnia, quae fortuna intuetur, ita fructifera ac iucunda fiunt, si, qui habet ilia, se quoque habet nec in rerum suarum potestate est. Errant enim, Lucili, qui aut boni aliquid nobis aut mali iudicant, tribuere fortunam: materiam dat bonorum ac malorum et initia rerum apud nos in malum bonumve exiturarum. Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas ducit beataeque ac miserae vitae sibi causa est. (3) Malus omnia in malum vertit, etiam quae cum specie optimi venerant: rectus atque integer corrigit prava fortunae et dura atque aspera ferendi scientia mollit, idemque et secunda grate excipit modesteque et

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Verbrecher. Schlecht ginge es uns, da sich ja viele Untaten dem Gesetz, dem Vollstrecker und der vorgesehen Sühne entziehen, wenn nicht jene natürlichen und schweren Qualen die Täter sofort heimsuchten und an die Stelle der Bestrafung die Furcht träte. Lass es Dir gut gehen.

98. Brief D i e Götter treffen stets die bessere E n t s c h e i d u n g . Seneca grüßt seinen Freund Lucilius. (1) Niemals darfst Du annehmen, dass jemand glücklich ist, wenn er von seinem Glück abhängig ist. Auf ein brüchiges Fundament baut, wer sich über ein äußeres Gut freut: Die Freude, die von außen kommt, wird wieder vergehen. Aber jene Freude, die aus dem Inneren kommt, ist zuverlässig und fest, wächst und begleitet Dich bis zum letzten Tag: die übrigen Dinge, die im Allgemeinen bewundert werden, sind Güter für einen einzigen Tag. »Was heißt das also? Können sie nicht dem Nutzen und dem Vergnügen dienen?« Wer bestreitet das? Aber das gilt nur, wenn jene Dinge von uns abhängen, nicht wir von ihnen. (2) Alles, was das Schicksal vor Augen hat, erweist sich unter der Bedingung als nützlich und angenehm, dass derjenige, der es besitzt, auch sich selbst besitzt, und sich nicht in der Gewalt seines Besitzes befindet. Es irren nämlich diejenigen, lieber Lucilius, die annehmen, dass uns das Schicksal irgendetwas Gutes oder Schlechtes zuteilt: es liefert nur den Stoff für Gutes und Schlechtes und die Voraussetzungen für die Dinge, die sich bei uns zum Schlechten oder zum Guten entwickeln werden. Denn mächtiger als jedes Schicksal ist die Seele, lenkt ihre Dinge selbst in beide Richtungen und ist sich selbst Ursache eines glücklichen oder unglücklichen Lebens. (3) Der Schlechte wendet alles zum Schlechten, auch das, was ihm unter dem Anschein des sehr Guten zuteil geworden war: Der Anständige und Ordentliche verbessert die Widrigkeiten des Schicksals und die Widrigkeiten und Härten mildert er dadurch ab, dass er weiß, wie man sie erträgt, und ebenso nimmt er glückliche Umstände dankbar und bescheiden, unglückliche Ereignisse aber mit Standhaftigkeit und Tapferkeit entgegen. Mag er klug

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adversa constanter ac fortiter. Ομί licet prudens sit, licet exacto faciat cuncta iudicio, licet nihil supra vires suas temptet, non continget illi bonum illud integrum et extra minas positum, nisi certus adversus incerta est. (4) Sive alios observare volueris (liberius enim inter aliena iudicium est) sive te ipsum favore seposito, et senties hoc et confiteberis nihil ex his optabilibus et caris utile esse, nisi te contra levitatem casus rerumque casum sequentium instruxeris, nisi illud frequenter et sine querella inter singula damna dixeris:

dis aliter visum est. (5) Immo mehercules, ut carmen fortius ac iustius petam, quo animum tuum magis fulcias, hoc dicito, quotiens aliquid aliter, quam cogitabas, evenerit:

'di melius.' Sic composito nihil accidet. Sic autem componetur, si, quid humanarum rerum varietas possit, cogitaverit, antequam senserit, si et liberos et coniugem et Patrimonium sic habuerit, tamquam non utique semper habiturus et tamquam non futurus ob hoc miserior, si habere desierit. (6) Calamitosus est animus futuri anxius et ante miserias miser, qui sollicitus est, ut ea, quibus delectatur, ad extremum usque permaneant; nullo enim tempore conquiescet et expectatione venturi praesentia, quibus frui poterat, amittet. In aequo est autem amissae rei (dolor) et timor amittendae. (7) Nec ideo praecipio tibi neglegentiam. Tu vero metuenda declina; quidquid consilio prospici potest, prospice; quodcumque



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sein, mag er alles tun, nachdem er die Lage genau geklärt hat, mag er nichts unternehmen, was seine Kräfte übersteigt, es wird ihm jenes Gute nur dann unversehrt und ungefährdet zuteil, wenn er sicher ist gegenüber aller Unsicherheit. (4) Ob Du nun andere beobachten willst - freier ist nämlich das Urteil, wenn die Belange anderer betroffen sind - oder Dich selbst ohne Eigenliebe betrachtest, so wirst Du dies wahrnehmen und zugeben, dass nichts von diesen wünschenswerten und uns ans Herz gewachsenen Dingen nützlich ist, wenn Du Dich nicht gegen die Unberechenbarkeit des Zufalls und seine Folgen rüstest und Dir nicht dauernd und ohne Klage bei allen einzelnen unglücklichen Vorgängen sagst: Die Götter haben eine andere Entscheidung getroffen.1?? (5) Nein, beim Herkules, um für Dich einen tapfereren und gerechteren Satz in Anspruch zu nehmen, mit dem Du Deine Seele noch mehr stützen kannst, sag dies so oft, wie Dir etwas anderes geschehen ist, als Du Dir vorgestellt hattest: Die Götter haben eine bessere Entscheidung getroffen. Nichts wird dem passieren, der sich so eingestimmt hat. Er wird sich aber so einstimmen, wenn er bedacht hat, was die Veränderlichkeit der menschlichen Dinge bewirken kann, bevor er sie am eigenen Leibe gespürt hat, wenn er seine Kinder, seine Frau und sein Vermögen in dem Sinne besaß, dass er sie nicht unbedingt für immer besitzen würde und darum nicht unglücklicher wäre, wenn er sie nicht mehr besäße. (6) Bodenlos unglücklich ist eine Seele, die Angst um die Zukunft hat und schon unglücklich ist, bevor das Unglück da ist, und sich Sorgen darum macht, dass das, woran sie ihre Freude hat, bis zum letzten Tag Bestand hat; denn sie wird niemals zur Ruhe kommen und in der Erwartung des Künftigen wird sie das Gegenwärtige verlieren, das sie hätte genießen können. Es ist dasselbe, ob man wegen einer verlorenen Sache leidet oder einen möglichen Verlust befurchtet. (7) Aber ich empfehle Dir deshalb nicht, gleichgültig zu sein. Halte Dich aber von dem fern, was man fürchten muss; was auch immer man voraussehen kann, sieh es voraus; was auch immer

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laesurum est multo ante, quam accidat, speculare et averte. In hoc ipsum tibi plurimum conferet fiducia et ad tolerandum omne obfirmata mens. Potest fortunam cavere, qui potest ferre; certe in tranquillo non tumultuatur. Nihil est nec miserius nec stultius quam praetimere: quae ista dementia est malum suum antecedere? (8) Denique, ut breviter includam, quod sentio, et istos satagios ac sibi molestos describam tibi, tam intemperantes in ipsis miseriis sunt quam ante illas. Plus dolet, quam necesse est, qui ante dolet, quam necesse est; eadem enim infirmitate dolorem non aestimat, qua non expectat; eadem intemperantia fingit sibi perpetuam felicitatem suam, fingit crescere debere, quaecumque contigerunt, non tantum durare, et oblitus huius petauri, quo humana iactantur, sibi uni fortuitorum constantiam spondet. (9) Egregie itaque videtur mihi Metrodorus dixisse in ea epistula, qua sororem amisso optimae indolis filio adloquitur: 'mortale est omne mortalium bonum.' De his loquitur bonis, ad quae concurritur; nam illud verum bonum non moritur, certum est sempiternumque, sapientia et virtus; hoc unum contingit inmortale mortalibus. (10) Ceterum tam inprobi sunt tamque obliti, quo eant, quo illos singuli dies trudant, ut mirentur aliquid ipsos amittere, amissuri uno die omnia. Quidquid est, cui dominus inscriberis, apud te est, tuum non est; nihil firmum infirmo, nihil fragili aeternum et invictum est. Tam necesse est perire quam perdere et hoc ipsum, si intellegimus, solacium est. Aequo animo perde: pereundum est.

(11) Q y i d ergo adversus has amissiones auxili invenimus? hoc, ut memoria teneamus amissa nec cum ipsis

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verletzen kann, das beachte schon lange, bevor es eintritt, und verhindere es! Dabei werden Dich die Zuversicht und die feste Entschlossenheit, alles zu ertragen, sehr stark unterstützen. Vor seinem Schicksal kann man sich hüten, wenn man es ertragen kann; wer die Ruhe bewahrt, lässt sich nicht aus der Fassung bringen. Nichts ist erbärmlicher und dümmer als im Voraus Angst zu haben: Was ist das für ein Wahnsinn, einem Unglück, das einen treffen kann, gedanklich vorzugreifen? (8) U m schließlich kurz zusammenzufassen, was ich meine, und Dir diese von Angst gepeinigten und sich selbst im Wege stehenden Menschen zu beschreiben: Sie sind im Unglück selbst genau so unbeherrscht wie vor ihrem Unglück. M e h r als nötig leidet, wer leidet, bevor es nötig ist; denn mit derselben Schwäche, mit der er den Schmerz nicht erwartet, schätzt er ihn falsch ein. Mit derselben Maßlosigkeit bildet er sich ein, sein Glück sei ewig, es müsse alles wachsen, was ihm zugefallen ist, und nicht nur Bestand haben; dabei hat er die baufällige Bühne vergessen, auf der sich das menschliche Schicksal abspielt, und redet sich ein, dass für ihn allein die Beständigkeit der Dinge gelte, die er dem Zufall verdankt. (9) Außerordentlich gut scheint es mir deshalb Metrodoros l 8 ° in dem Brief ausgedrückt zu haben, den er nach dem Verlust von deren außergewöhnlich begabtem Sohn an seine Schwester richtet: »Sterblich ist jedes G u t der Sterblichen.« Er spricht nur über die Güter, denen man nachläuft; denn jenes wahre Gut stirbt nicht, es ist sicher und unvergänglich: Weisheit und moralische Haltung; das ist das einzige unsterbliche Gut, das Sterblichen zuteil wird. (10) Im Übrigen sind die Menschen so unredlich und haben so sehr vergessen, wohin sie gehen, wohin die einzelnen Tage sie treiben, dass sie sich wundern, selbst etwas zu verlieren, obwohl sie an einem Tag alles verlieren werden. Was auch immer es ist, für das D u als Herr eingetragen wirst, es ist bei Dir, gehört Dir aber nicht; nichts Festes gibt es für einen schwachen Menschen, fur einen zerbrechlichen gibt es nichts Ewiges und Unbesiegbares. Es ist ebenso unausweichlich, zugrunde zu gehen wie etwas zu verlieren, und genau das ist ein Trost, wenn wir es erkennen. Verliere mit Gleichmut: D u musst zugrunde gehen. (11) Welche Hilfe finden wir gegen diese Verluste? Die Hilfe, dass wir das Verlorene im Gedächtnis behalten und es nicht hinnehmen,

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fructum excidere patiamur, quem ex illis percepimus. Habere eripitur, habuisse numquam. Peringratus est qui, cum amisit, pro accepto nihil debet. Rem nobis eripit casus, usum fructumque apud nos relinquit, quem nos iniquitate desiderii perdidimus. (12) Die tibi 'ex istis, quae terribilia videntur, nihil est invictum.' Singula vicere iam multi, ignem Mucius, crucem Regulus, venenum Socrates, exilium Rutilius, mortem ferro adactam Cato: et nos vincamus aliquid. (13) Rursus ista, quae ut speciosa et felicia trahunt vulgum, a multis et saepe contempta sunt. Fabricius divitias imperator reiecit, censor notavit; Tubero paupertatem et se dignam et Capitolio iudicavit, cum fictilibus in publica cena usus ostendit debere iis hominem esse contentum, quibus di etiamnunc uterentur. Honores reppulit pater Sextius, qui ita natus, ut rem publicam deberet capessere, latum clavum divo Iulio dante non recepit; intellegebat enim, quod dari posset, et eripi posse. Nos quoque aliquid et ipsi faciamus animose; simus inter exempla. (14) Quare defecimus? quare desperamus? Quidquid fieri potuit, potest, nos modo purgemus animum sequamurque naturam, a qua aberranti cupiendum timendumque est et fortuitis serviendum. Licet reverti in viam, licet in integrum restitui: restituamur, ut possimus dolores, quocumque modo corpus invaserint, perferre et fortunae dicere 'cum viro tibi negotium est: quaere, quem vincas.'

(15) * * * His sermonibus et his similibus lenitur ilia vis ulceris, quam opto mehercules mitigari et aut sanari aut stare et cum ipso senescere. Sed securus de illo sum:

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mit diesem Verlust den Gewinn zu verlieren, den wir daraus gezogen haben. Was wir haben, wird uns entrissen, was wir hatten, niemals. Sehr undankbar ist derjenige, der, wenn er etwas verloren hat, nicht dankbar ist fur das, was er einmal bekommen hat. Der Zufall hat uns eine Sache entrissen, doch den Nutzen und den Gewinn, den wir durch die Ungerechtigkeit unseres Verlangens verloren haben, ließ er bei uns zurück. (12) Sag Dir: »Von dem, was schrecklich erscheint, ist nichts unüberwindlich.« Schon viele haben eins nach dem anderen bezwungen, Mucius das Feuer, Regulus das Kreuz, Sokrates das Gift, Rutilius das Exil, Cato den Tod, den er mit seinem Schwert herbeiführte: Auch wir wollen etwas bezwingen. (13) Dann wiederum wurden Güter, die die Menge als beachtenswert und Glück verheißend anziehen, von vielen auch häufig verachtet. Fabricius wies als Feldherr Reichtum zurück, als Zensor tadelte er ihn; Tubero glaubte, Armut sei seiner und des Kapitols würdig, als er bei einem öffentliche Bankett die Tongefäße benutzte und zeigte, dass sich ein Mensch mit Gefäßen begnügen müsse, die sogar die Götter damals noch in Gebrauch hatten. Ehrenämter wies Sextius, der Vater, zurück, der zwar aufgrund seiner Herkunft verpflichtet war, in die Politik zu gehen, aber den breiten Purpurstreifen nicht annahm, obwohl ihm dieser vom göttlichen Caesar angeboten worden war: Er erkannte nämlich, dass, was ihm gegeben werden konnte, auch wieder entzogen werden konnte. Auch wir wollen unsererseits mutig etwas tun; wir wollen uns den Vorbildern anschließen. (14) Warum sind wir schwach geworden? Warum verzweifeln wir? Alles, was geschehen konnte, kann geschehen, wenn wir nur unsere Seele rein halten und der Natur folgen. Wer von ihr abweicht, muss begehren, furchten und dem Zufälligen dienen. Man kann auf den rechten Weg zurückkehren, man kann wieder in den ursprünglichen Zustand gebracht werden: Wir wollen uns wieder in diesen Zustand bringen lassen, damit wir in der Lage sind, Schmerzen zu ertragen, mit welcher Macht auch immer sie unseren Körper überfallen haben, und dem Schicksal sagen zu können: »Du hast es mit einem Mann zu tun: Suche einen, den Du besiegen kannst.« (15) * * * < Ά Durch diese und ähnliche Gespräche lindert man die Wirkung des Geschwürs, von der ich, beim Herkules, möchte, dass sie gemildert und entweder geheilt oder zum Stehen gebracht wird

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de nostro damno agitur, quibus senex egregius eripitur. Nam ipse vitae plenus est, cui adici nihil desiderat sua causa, sed eorum, quibus utilis est. Liberaliter facit, quod vivit. (16) Alius iam hos cruciatus finisset: hie tam turpe putat mortem fugere quam ad mortem confugere. 'Quid ergo? non, si suadebit res, exibit?' Quidni exeat, si nemo iam uti eo poterit, si nihil aliud quam dolori operam dabit? (17) Hoc est, mi Lucili, philosophiam in opere discere et ad verum exerceri, videre, quid homo prudens animi habeat contra mortem, contra dolorem, cum ilia accedat, hie premat; quid faciendum sit, a faciente discendum est. (18) Adhuc argumentis actum est, an posset aliqui dolori resistere, an mors magnos quoque animos admota summittere. Quid opus est verbis? in rem praesentem eamus: nec mors ilium contra dolorem facit fortiorem nec dolor contra mortem. Contra utrumque sibi fidit nec spe mortis patienter dolet nec taedio doloris libenter moritur: hunc fert, illam expectat. Vale.

Epistula X C I X Seneca Lucilio suo salutem. (1) Epistulam quam scripsi Marullo, cum filium parvulum amisisset et diceretur molliter ferre, misi tibi, in qua non sum solitum morem secutus nec putavi leniter ilium debere tractari, cum obiurgatione esset quam solacio dignior. Adflicto enim et magnum vulnus male ferenti

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und mit dem Betroffenen alt wird. Aber ich bin in jeder Angelegenheit ohne Sorge: Es geht um den Schaden für uns, denen der überragende alte Mann entrissen wird. Denn er selbst hat sein Leben erfüllt; er wünscht nicht, dass es um seinetwillen verlängert wird, sondern für diejenigen, denen er noch nützlich ist. Er handelt großzügig, wenn er noch weiterlebt. (16) Ein anderer hätte diese Qualen schon beendet: Dieser hält es für ebenso schändlich, dem Tod entfliehen zu wollen, wie in den Tod zu fliehen. »Was ist also zu tun? Wird er nicht aus dem Leben gehen, wenn seine Lage es ihm zurät?« Warum soll er nicht aus dem Leben gehen, wenn ihn niemand mehr gebrauchen kann? Wenn er nichts anderes mehr leisten wird, als sich um den Schmerz zu kümmern? (17) Das bedeutet, mein Lucilius, Philosophie in der Praxis zu lernen und an der Wahrheit den Blick dafür zu schärfen, welche Haltung ein kluger Mensch gegenüber dem Tod und dem Schmerz hat, wenn jener naht und dieser drängt; wie man zu handeln hat, muss man von einem Handelnden lernen. (18) Bis jetzt wurde mit Argumenten dargelegt, ob jemand dem Schmerz Widerstand leisten kann und ob der Tod, wenn er kommt, auch große Seelen unterwerfen kann. Was ist da noch zu sagen? Lass uns zu dem gegenwärtigen Fall kommen: Weder lässt ihn der Tod gegenüber dem Schmerz tapferer werden noch der Schmerz gegenüber dem Tod. Beidem gegenüber vertraut er auf sich selbst, und weder leidet er mit Geduld, weil er den Tod erwartet, noch stirbt er gern aus Abscheu vor dem Schmerz: Den Schmerz erträgt er, den Tod erwartet er. Lass es Dir gut gehen.

99. Brief

A u c h das Leid hat seine W ü r d e .

Seneca grüßt seinen Freund Lucilius. (1) Den Brief, den ich Marullus schrieb, als er seinen kleinen Sohn verloren hatte und man erzählte, dass er dieses Unglück nicht standhaft ertrug, habe ich Dir geschickt. Darin habe ich mich nicht an die übliche Art gehalten und war auch nicht der Ansicht, man müsse Marullus taktvoll behandeln, da er eher einen Tadel als einen Trost verdiente. Auf einen Menschen, der schwer getroffen wurde und

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paulisper cedendum est; exsatiet se aut certe primum impetum effundat: (2) hi, qui sibi lugere sumpserunt, protinus castigentur et discant quasdam etiam lacrimarum ineptias esse.

'Solacia expectas? convicia accipe. Tarn molliter tu fers mortem filii? quid faceres, si amicum perdidisses? Decessit filius incertae spei, parvulus; pusillum temporis perit. (3) Causas doloris conquirimus et de fortuna etiam inique queri volumus, quasi non sit iustas querendi causas praebitura: at mehercules satis mihi iam videbaris animi habere etiam adversus solida mala, nedum ad istas umbras malorum, quibus ingemescunt homines moris causa. Quod damnorum omnium maximum est, si amicum perdidisses, danda opera erat, ut magis gauderes, quod habueras, quam maereres, quod amiseras. (4) Sed plerique non conputant, quanta perceperint, quantum gavisi sint. H o c habet inter reliqua mali dolor iste: non supervacuus tantum, sed ingratus est. Ergo quod habuisti talem amicum, perit opera? Tot annis, tanta coniunctione vitae, tam familiari studiorum societate nil actum est? C u m amico effers amicitiam? Et quid doles amisisse, si habuisse non prodest? Mihi crede, magna pars ex iis, quos amavimus, licet ipsos casus abstulerit, apud nos manet; nostrum est, quod praeterit tempus nec quicquam est loco tutiore quam quod fuit. (5) Ingrati adversus percepta spe futuri sumus, quasi non quod futurum est, si modo successerit nobis, cito in praeterita transiturum sit. Anguste fructus rerum determinat, qui tantum praesentibus laetus est: et futura et praeterita delectant, haec expectatione, ilia memoria,

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eine große Verletzung kaum erträgt, muss man nämlich schon ein wenig Rücksicht nehmen; er soll sich ausweinen oder sich wenigstens dem ersten Ansturm seiner Gefühle hingeben: (2) Menschen indes, die für sich in Anspruch nehmen, bewusst zu trauern, sollen sofort zurechtgewiesen werden und lernen, dass auch manche Tränen überflüssig sind. »Du erwartest Trost? Rechne mit Vorwürfen! Auf so klägliche Weise erträgst Du den Tod Deines Sohnes? Was würdest Du tun, wenn Du einen Freund verloren hättest? Gestorben ist Dein Sohn, als kleines Kind und ohne sichere Zukunft; nur eine winzige Zeitspanne ist mit ihm vergangen. (3) Wir suchen nach Gründen fur den Schmerz und wollen uns sogar zu Unrecht über das Schicksal beklagen, als ob es nicht auch wirklich berechtigte Gründe für Klagen bieten würde: Aber beim Herkules, Du schienst mir auch gegenüber wirklichem Unheil schon genug Mut zu haben, nicht nur gegenüber diesem eingebildeten Unheil, über das die Menschen stöhnen, weil es so üblich ist. Hättest Du - was das größte aller Übel ist - einen Freund verloren, dann hättest Du alles daran setzen müssen, Dich mehr darüber zu freuen, dass Du ihn besaßest, als darüber zu trauern, dass Du ihn verloren hast. (4) Aber die meisten rechnen nicht zusammen, wie viel sie bekommen und wie viel Freude sie erlebt haben. Unter anderem ist dieser Schmerz über das Unglück nicht nur überflüssig, sondern auch undankbar.182 Wenn Du also einen solchen Freund gehabt hast, war alle Mühe umsonst? In so vielen Jahren, bei einer so engen Lebensgemeinschaft, bei einer so vertrauten Verbindung im gemeinsamen Bemühen hat sich überhaupt nichts getan? Mit dem Freund beerdigst Du auch die Freundschaft? Und warum empfindest Du, wenn der Besitz Dir nichts gebracht hat, Schmerz über den Verlust? Glaub mir, ein großer Teil jener, die wir geliebt haben, bleibt bei uns, mag sie uns auch ein unglückliches Ereignis entrissen haben; uns gehört die gewesene Zeit und nichts ist an einem sichereren Ort als das, was war. (j) Undankbar gegenüber allem, was wir bekommen haben, werden wir, wenn wir auf die Zukunft hoffen, so als würde sich das, was sein wird, wenn es uns erst einmal zuteil geworden ist, nicht schnell in Vergangenheit verwandeln. Der Genuss der Dinge ist für den, der sich nur über Gegenwärtiges freut, eng begrenzt: Zukünftiges und Vergangenes bereiten

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sed alterum pendet et non fieri potest, alterum non potest non fuisse. Quis ergo furor est certissimo excidere? Adquiescamus iis, quae iam hausimus, si modo non perforato animo hauriebamus et transmittente, quidquid acceperat.

(6) Innumerabilia sunt exempla eorum, qui liberos iuvenes sine lacrimis extulerint, qui in senatum aut in aliquod publicum officium a rogo redierint et statim aliud egerint. Nec inmerito; nam primum supervacuum est dolere, si nihil dolendo proficias; deinde iniquum est queri de eo, quod uni accidit, omnibus restat; deinde desiderii stulta conquestio est, ubi minimum interest inter amissum et desiderantem. Eo itaque aequiore animo esse debemus, quod, quos amisimus, sequimur. (7) Respice celeritatem rapidissimi temporis, cogita brevitatem huius spatii, per quod citatissimi currimus, observe hunc comitatum generis humani eodem tendentis, minimis intervallis distinctum, etiam ubi maxima videntur: quem putas perisse, praemissus est. Quid autem dementius quam, cum idem tibi iter emetiendum sit, flere eum, qui antecessit? (8) Flet aliquis factum, quod non ignoravit futurum? Aut si mortem in homine non cogitavit, sibi inposuit. Flet aliquis factum, quod aiebat non posse non fieri? quisquis aliquem queritur mortuum esse, queritur hominem fuisse. Omnis eadem condicio devinxit: cui nasci contigit, mori restat. Intervallis distinguimur, exitu aequamur. (9) H o c quod inter primum diem et ultimum iacet, varium incertumque est: si molestias aestimes, etiam puero longum, si

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Freude, das eine durch Erwartung, das andere durch Erinnerung; aber das eine bleibt in der Schwebe und kann auch nicht geschehen, das andere kann nicht ungeschehen gemacht werden. Was ist es also fur ein Wahnsinn, dem Sichersten auszuweichen? Beruhigen wir uns doch mit dem, was wir schon geschöpft haben; Hauptsache, wir haben nicht mit einer durchlöcherten Seele geschöpft, die alles durchließ, was sie je in sich aufnahm. (6) Zahllos sind die Beispiele von Menschen, die ihre Kinder im jugendlichen Alter ohne Tränen beigesetzt haben, die gleich vom Scheiterhaufen in den Senat oder zur Erfüllung irgendeiner öffentlichen Aufgabe zurückkehrten und sofort eine andere übernahmen. Und nicht zu Unrecht. Denn erstens ist Schmerz überflüssig, wenn man durch den Schmerz nichts erreicht; zweitens ist es ungerecht, über das zu klagen, was einem allein geschah, was aber auf alle noch wartet; drittens ist das Klagen um einen lieben Menschen töricht, wo doch nur ein sehr geringer zeitlicher Abstand besteht zwischen dem Verlorenen und dem sich nach ihm Sehnenden. Deshalb müssen wir umso mehr eine gelassene Ruhe zeigen, weil wir doch denen folgen, die wir verloren haben. (7) Führe Dir die Geschwindigkeit der alles mit sich reißenden Zeit vor Augen, bedenke die Kürze dieser Strecke, über die wir sehr schnell dahin rasen, achte auf diese gewaltige Menschenkarawane, die in kleinsten Abständen, auch wo sie scheinbar sehr groß sind, zu demselben Ziel hinstrebt: Derjenige, von dem Du glaubst, er sei zugrunde gegangen, wurde nur vorausgeschickt. Was aber ist verrückter, als den zu betrauern, der schon vorausging, da Du doch denselben Weg gehen musst? (8) Weint jemand über ein Ereignis, von dem er genau wusste, dass es bevorstand? Sonst hat er sich, wenn er bei einem Menschen nicht auch an den Tod dachte, etwas vorgemacht. Beweint denn jemand ein Ereignis, von dem er wusste, dass es auf jeden Fall eintreten müsste, und dies auch sagte? Wer beklagt, dass jemand tot ist, beklagt, dass der Tote ein Mensch war. Dieselbe Bedingung ist für alle verbindlich: Wem es vergönnt ist, geboren zu werden, auf den wartet der Tod. Nur durch die Lebensdauer unterscheiden wir uns, in Bezug auf den Tod werden wir alle gleich. (9) Alles, was zwischen dem ersten und dem letzten Tag liegt, ist unterschiedlich und unbestimmt: Wenn Du das Bedrückende berücksichtigst, ist es auch für ein Kind eine

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velocitatem, etiam seni angustum. Nihil non lubricum et fallax et omni tempestate mobilius; iactantur cuncta et in contrarium transeunt iubente fortuna, et in tanta volutatione rerum humanarum nihil cuiquam nisi mors certum est; tarnen de eo queruntur omnes, in quo uno nemo decipitur. (xo) "Sed puer decessit." Nondum dico melius agi cum eo, qui (cito) vita defungitur: ad eum transeamus, qui consenuit: quantulo vincit infantem! Propone temporis profundi vastitatem et universum conplectere, deinde hoc, quod aetatem vocamus humanam, compara immenso: videbis, quam exiguum sit, quod optamus, quod extendimus. (n) Ex hoc quantum lacrimae, quantum sollicitudines occupant? quantum mors, antequam veniat, optata, quantum valetudo, quantum timor? quantum tenent aut rudes aut inutiles anni? dimidium ex hoc edormitur. Adice labores, luctus, pericula, et intelleges etiam in longissima vita minimum esse, quod vivitur. (12) Sed quis tibi concedit non melius se habere eum, cui cito reverti licet, cui ante lassitudinem peractum est iter? Vita nec bonum nec malum est: boni ac mali locus est. Ita nihil ille perdidit nisi aleam in damnum certiorem. Potuit evadere modestus et prudens, potuit sub cura tua in meliora formari, sed, quod iustius timetur, potuit fieri pluribus similis. (13) Aspice illos iuvenes, quos ex nobilissimis domibus in harenam luxuria proiecit; aspice illos, qui suam alienamque libidinem exercent mutuo inpudici, quorum nullus sine ebrietate, nullus sine aliquo insigni flagitio dies exit: plus timeri quam sperari potuisse manifestum erit. N o n debes

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lange Zeit, wenn Du ihr schnelles Vergehen siehst, dann ist die Zeit auch für einen alten Mann eng begrenzt. Alles ist ohne festen Boden, trügerisch und veränderlicher als jedes Wetter; alles wankt und verwandelt sich auf Weisung des Schicksals in sein Gegenteil. In dieser Veränderlichkeit der menschlichen Dinge ist für niemanden etwas sicher außer dem Tod; dennoch klagen alle über das, worin allein niemand getäuscht wird. (10) >Aber er ist doch als Kind gestorben.« Ich sage noch nicht, dass derjenige es besser hat, der rasch aus dem Leben geht. Wir wollen uns erst mit dem befassen, der alt geworden ist: Wie klein ist der Zeitraum, den er gegenüber dem Kind gewinnt! Stell Dir die Unermesslichkeit der unergründlichen Zeit vor und begreife das Universum, und dann vergleiche, was wir ein Menschenalter nennen, mit dem Unendlichen: Dann wirst Du sehen, wie winzig das ist, was wir uns wünschen und weiter ausdehnen wollen (11) Wie viel davon beanspruchen die Tränen, wie viel die Aufregungen? Wie viel der Tod, bevor er erwünscht kommt, wie viel die Krankheit, wie viel die Angst? Wie viel Zeit beherrschen die Jahre, die man in Unbildung oder in Nutzlosigkeit verlebt? Die Hälfte davon verschläft man. Nimm noch die Mühen, das Trauern und die Gefahren hinzu, und Du wirst begreifen, dass es auch im längsten Leben nur einen sehr kleinen Teil gibt, in dem man wirklich lebt. (12) Doch wer wird Dir nicht zugestehen, dass derjenige es besser hat, der schnell zurückkehren darf, der seinen Weg beendet hat, bevor er erschöpft ist? Das Leben ist weder ein Gut noch ein Übel: Es ist ein Raum für Gutes und fur Schlechtes. So hat jener (früh Verstorbene) nichts verloren außer einem Würfelspiel, das er nur verlieren konnte. Er hätte ein bescheidener und kluger Mensch werden können, er hätte unter Deiner Anleitung Fortschritte machen können, aber er hätte - was man eher zu Recht fürchtet - auch der Mehrheit ähnlich werden können. (13) Sieh Dir jene jungen Männer an, die die Vergnügungssucht aus den vornehmsten Häusern in die Arena gestoßen hat; sieh sie Dir an, die die eigene und die fremde Lüsternheit in gegenseitiger Schamlosigkeit noch steigern, bei denen keine Tag ohne Trunkenheit, kein Tag ohne auffallende Scheußlichkeit vergeht: Dann wird deutlich sein, dass man mehr Grund zur Angst als zur Hoffnung hätte haben können. Deshalb darfst Du keine Gründe für den Schmerz

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itaque causas doloris accersere nec levia incommoda indignando cumulare. (14) N o n hortor, ut nitaris et surgas; non tam male de te iudico, ut tibi adversus hoc totam putem virtutem advocandam. N o n est dolor iste, sed morsus: tu ilium dolorem facis. Sine dubio multum philosophia profecit, si puerum nutrici adhuc quam patri notiorem animo forti desideras.

(15) Quid? nunc ego duritiam suadeo et in funere ipso rigere vultum volo et animum ne contrahi quidem patior? Minime. Inhumanitas est ista, non virtus, funera suorum isdem oculis, quibus ipsos videre nec commoveri ad primam familiarium divulsionem. Puta autem me vetare: quaedam sunt sui iuris; excidunt etiam retinentibus lacrimae et animum profusae levant. (16) Quid ergo est? permittamus illis cadere, non imperemus; fluat, quantum adfectus eiecerit, non quantum poscet imitatio. Nihil vero maerori adiciamus nec ilium ad alienum augeamus exemplum. Plus ostentatio doloris exigit quam dolor: quotus quisque sibi tristis est? Clarius, cum audiuntur, gemunt, et taciti quietique, dum secretum est, cum aliquos videre, in fletus novos excitantur; tunc capiti suo manus ingerunt (quod potuerant facere nullo prohibente liberius), tunc mortem comprecantur sibi, tunc lectulo devolvuntur: sine spectatore cessat dolor. (17) Sequitur nos, ut in aliis rebus, ita in hac quoque hoc vitium, ad plurium exempla componi nec quid oporteat, sed quid soleat aspicere. Α natura discedimus, populo nos damus nullius rei bono auctori et in hac re

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herbeireden und unerhebliche Unannehmlichkeiten dadurch steigern, dass Du Dich empörst. (14) Ich fordere Dich nicht auf, gegen die Verhältnisse Widerstand zu leisten und Dich zu erheben; ich habe keine so schlechte Meinung von Dir, dass ich glaube, Du müsstest Deine ganze Tugend dagegen aufbieten. Dies ist kein Schmerz, sondern ein Stich: D u machst ihn zum Schmerz. Ohne Zweifel hat die Philosophie einen großen Fortschritt vollzogen, wenn Du den Knaben, der seine Amme noch besser kannte als seinen Vater, mit tapferem Herzen betrauerst. (15) Was heißt das? Rate ich Dir jetzt zur Härte und will ich, dass Dein Gesicht selbst am Grab unbeweglich bleibt, und sollst Du nicht einmal betroffen sein dürfen? A u f keinen Fall. Es ist Unmenschlichkeit, keine moralische Haltung,i83 die Gräber seiner Angehörigen mit denselben Augen wie sie selbst (als sie noch lebten) zu sehen und im Augenblick der Trennung von lieben Angehörigen unbewegt zu bleiben. Nimm aber einmal an, ich würde es Dir verbieten: Gewisse Vorgänge haben ihr eigenes Recht; Tränen fließen auch, wenn man sie zurückzuhalten versucht, und vergießt man sie, so erleichtern sie die Seele. (16) Was ergibt sich daraus? Wir wollen es den Tränen erlauben zu fließen, aber wir wollen es ihnen nicht befehlen; es möge fließen, wie viel das Gefühl hervorströmen lässt, nicht wie viel die Nachahmung verlangt. Nichts aber wollen wir der Trauer hinzufügen und sie nicht nach dem Beispiel eines Außenstehenden vermehren. Die Demonstration des Schmerzes verlangt mehr als der Schmerz selbst: Wie klein ist die Zahl der Menschen, die nur für sich allein traurig sind? Sie jammern lauter, wenn sie gehört werden, und sie schweigen und sind still, wenn sie für sich sind; wenn sie jemanden gesehen haben, werden sie zu neuem Schluchzen angespornt; dann schlagen sich mit den Händen auf ihren Kopf (was sie leichter hätten tun können, wenn sie niemand daran hinderte), dann wünschen sie sich den Tod herbei, dann wälzen sie sich auf ihrem Bett herum: Ohne Zuschauer geht der Schmerz zurück. (17) Es überkommt uns - wie in anderen Dingen so auch hier - dieses falsche Verhalten, dass wir uns vom Vorbild der Mehrheit beeinflussen lassen und nicht ins Auge fassen, was notwendig, sondern was üblich ist. Wir entfernen uns von der Natur und passen uns der öffentlichen Meinung an, die in keiner Angelegenheit eine gute

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sicut in his omnibus inconstantissimo. Videt aliquem fortem in luctu suo, impium vocat et efferatum; videt aliquem conlabentem et corpori adfusum, effeminatum ait et enervem. (18) Omnia itaque ad rationem revocanda sunt. Stultius vero nihil est quam famam captare tristitiae et lacrimas adprobare, quas iudico sapienti viro alias permissas cadere, alias vi sua latas. Dicam, quid intersit. C u m primus nos nuntius acerbi funeris perculit, cum tenemus corpus e complexu nostro in ignem transiturum, lacrimas naturalis necessitas exprimit et spiritus ictu doloris inpulsus, quemadmodum totum corpus quatit, ita oculos, quibus adiacentem umorem perpremit et expellit. (19) Hae lacrimae per elisionem cadunt nolentibus nobis: aliae sunt, quibus exitum damus, cum memoria eorum, quos amisimus, retractatur, et inest quiddam dulce tristitiae, cum occurrunt sermones eorum iucundi, conversatio hilaris, officiosa pietas; tunc oculi velut in gaudio relaxantur. His indulgemus, illis vincimur. (20) N o n est itaque, quod lacrimas propter circumstantem adsidentemque aut contineas aut exprimas: nec cessant nec fluunt umquam tam turpiter, quam finguntur: eant sua sponte. Ire autem possunt placidis atque compositis; saepe salva sapientis auctoritate fluxerunt tanto temperamento, ut illis nec humanitas nec dignitas deesset. (21) Licet, inquam, naturae obsequi gravitate servata. Vidi ego in funere suorum verendos, in quorum ore amor eminebat remota omni lugentium

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Ratgeberin und hier wie in allen derartigen Situationen ausgesprochen wenig verlässlich ist. Sie sieht jemanden tapfer in seiner Trauer und nennt ihn verantwortungslos und grausam; sie sieht, wie jemand zusammenbricht und sich über den toten Körper wirft, und sagt daraufhin, er sei weibisch und unbeherrscht. (18) Deshalb muss man alles wieder auf die Vernunft beziehen. Nichts aber ist unvernünftiger, als danach zu trachten, fur traurig gehalten zu werden, und für Tränen Anerkennung zu erwerben, die nach meiner Erfahrung auch bei einem weisen Mann manchmal fließen, weil er sie zugelassen hat, manchmal, weil sie aus eigener Kraft hervorbrechen. Ich werde erklären, worin der Unterschied besteht. Wenn uns die erste Nachricht von einem bitteren Todesfall getroffen hat, wenn wir den Körper in den Armen halten, der aus unserer Umarmung heraus auf den Scheiterhaufen gelegt werden soll, dann haben wir einen natürlichen Drang in uns, Tränen zu vergießen, und der Atem, den der Schlag des Schmerzes beschleunigt hat, trifft ebenso, wie er den ganzen Körper erschüttert, auf die Augen, aus denen er die Feuchtigkeit, die sie umgibt, mit aller Macht herausfließen lässt. (19) Diese Tränen fließen aufgrund eines Druckes, ohne dass wir es wollen. Anders ist es bei den Tränen, die wir einfach laufen lassen, wenn wir uns wieder an jene erinnern, die wir verloren haben; und es ist so etwas wie ein angenehmes Gefühl von Traurigkeit in uns, wenn wir uns an behagliche Gespräche mit den Menschen, die uns verlassen haben, an eine heitere Unterhaltung oder an einen liebevoll erwiesenen Gefallen erinnern; dann fließen die Augen über, als ob es Freudentränen wären. Diesen geben wir nach, von jenen werden wir überwältigt. (20) Deshalb hast Du keinen Grund, Deine Tränen aus Rücksicht auf einen Menschen, der bei Dir steht oder neben Dir sitzt, entweder zurückzuhalten oder laufen zu lassen: Sie hören weder auf, noch fließen sie jemals auf so erbärmliche Weise, wie wenn sie vorgetäuscht werden: Sie mögen von selbst kommen. Sie können selbst bei stillen und beherrschten Menschen kommen; oft sind sie schon, ohne das Ansehen der Betroffenen zu gefährden, so maßvoll geflossen, dass den Leuten weder Menschlichkeit noch Würde verloren gingen. (21) Man darf, behaupte ich, der Natur gehorchen, wenn man seine Würde bewahrt. Ich habe schon verehrungswürdige Menschen beim Begräbnis ihrer Angehörigen gesehen, in deren

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scaena; nihil erat, nisi quod veris dabatur adfectibus. Est aliquis et dolendi decor; hie sapienti servandus est et quemadmodum in ceteris rebus, ita etiam in lacrimis aliquid sat est: inprudentium ut gaudia sic dolores exundavere. (22) Aequo animo excipe necessaria. Quid incredibile, quid novum evenit? quam multis cum maxime funus locatur, quam multis vitalia emuntur, quam multi post luctum tuum lugent! Quotiens cogitaveris puerum fuisse, cogita et hominem, cui nihil certi promittitur, quem fortuna non utique perducit ad senectutem: unde visum est, dimittit. (23) Ceterum frequenter de illo loquere et memoriam eius, quantum potes, celebra; quae ad te saepius revertetur, si erit sine acerbitate Ventura; nemo enim libenter tristi conversatur, nedum tristitiae. Si quos sermones eius, si quos quamvis parvoli iocos cum voluptate audieras, saepius repete; potuisse ilium implere spes tuas, quas paterna mente conceperas, audacter adfirma. (24) Oblivisci quidem suorum ac memoriam cum corporibus efferre et effusissime flere, meminisse parcissime inhumani animi est. Sic aves, sic ferae suos diligunt, quarum [contria] concitatus [actus] est amor et paene rabidus, sed cum amissis totus extinguitur. Hoc prudentem virum non decet: meminisse perseveret, lugere desinat.

(25) Illud nullo modo probo, quod ait Metrodorus, esse aliquam cognatam tristitiae voluptatem, hanc esse captandam in eiusmodi tempore. Ipsa Metrodori verba subscripsi. Μ η τ ρ ο δ ώ ρ ο υ έπιστολών πρός τήν άδελφήν. έστιν γ ά ρ τις η δ ο ν ή { λ ύ π η συγγενής, ήν χρή θ η ρ ε ύ ) ε ι ν κατά τ ο ΰ τ ο ν τόν καιρόν. (26) De quibus non dubito, quid sis sensurus; quid enim est turpius quam captare in ipso luctu voluptatem, immo per luctum, et

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Gesicht die Liebe glänzte, wobei jede gespielte Trauer unterblieb; da kamen nur wahre Gefühle zum Ausdruck. Auch das Leid hat seine Würde; diese muss der Weise wahren, und wie bei allem anderen so ist es auch beim Weinen irgendwann genug: Bei törichten Menschen sind Freuden und Leiden oft schon ausgeufert. (22) Mit Gleichmut nimm hin, was unausweichlich ist. Was ist Unglaubliches, was ist Neues geschehen? Wie vielen wird gerade das Begräbnis vorbereitet? Für wie viele wird die Totenkleidung gekauft, wie viele trauern noch nach Deiner Trauer! Sooft Du daran denkst, dass der Tote noch ein Kind war, bedenke, er war auch ein Mensch, dem nichts Sicheres verheißen wird und den das Schicksal nicht unbedingt in ein hohes Alter kommen lässt: Wenn es ihm gut scheint, schickt es ihn einfach fort. (23) Ansonsten sprich häufig über ihn und feiere die Erinnerung an ihn, so lange Du kannst. Sie wird öfter zu Dir zurückkommen, wenn sie ohne Bitterkeit kommen kann; denn niemand verkehrt gern mit einem Traurigen und erst recht nicht mit der Traurigkeit selbst. Hast Du irgendwelchen Worten, irgendwelchen Scherzen des Kleinen, auch als er noch ganz winzig war, mit Freude zugehört, dann denke häufiger an diese; Du musst kühn versichern, er hätte Deine Erwartungen erfüllen können, die Du in Deinem Vaterstolz gefasst hattest. (24) Seine Angehörigen allerdings zu vergessen und die Erinnerung zusammen mit den Toten zu beerdigen und dabei reichlich Tränen zu vergießen und sich äußerst selten zu erinnern, ist Ausdruck einer unmenschlichen Seele. So lieben Vögel und wilde Tiere ihre Angehörigen, deren Liebe heftig und beinahe wütend ist, aber vollständig verlischt, sobald sie ihre Angehörigen verloren haben. Das passt nicht zu einem klugen Mann: er soll sich fortwährend erinnern, aber zu trauern aufhören. (25) Ich billige auf keinen Fall, was Metrodoros sagte: mit der Traurigkeit sei irgendwie die Lust verwandt; diese müsse man in einer derartigen Lage zu gewinnen versuchen. Ich habe mir die Worte des Metrodoros wörtlich notiert: >Worte des Metrodoros an seine Schwester. Es gibt nämlich eine Lust, die mit der Trauer verwandt ist und der man in dieser Situation nachjagen muss.< (26) Ich kann mir gut vorstellen, was Du darüber denkst; was ist denn schändlicher, als der Lust nachzujagen, gerade wenn man trauert, nein, vielmehr in Trauer und sogar unter Tränen zu suchen, was

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inter lacrimas quoque, quod iuvet, quaerere? Hi sunt, qui nobis obiciunt nimium rigorem et infamant praecepta nostra duritiae, quod dicamus dolorem aut admittendum in animum non esse aut cito expellendum. Utrum tandem est aut incredibilius aut inhumanius, non sentire amisso amico dolorem an voluptatem in ipso dolore aucupari? (27) Nos quod praecipimus, honestum est: cum aliquid lacrimarum adfectus effuderit et, ut ita dicam, despumaverit, non esse tradendum animum dolori. Quid, tu dicis miscendam ipsi dolori voluptatem? sic consolamur crustulo pueros, sic i n f a n t um fletum infuso lacte conpescimus. Ne illo quidem tempore, quo filius ardet aut amicus expirat, cessare pateris voluptatem, sed ipsum vis titillare maerorem? Utrum honestius dolor ab animo summovetur an voluptas ad dolorem quoque admittitur? "Admittitur" dico? Captatur, et quidem ex ipso. (28) "Est aliqua" inquit "voluptas cognata tristitiae." Istuc nobis licet dicere, vobis quidem non licet. Unum bonum nostis, voluptatem, unum malum, dolorem: quae potest inter bonum et malum esse cognatio? Sed puta esse: nunc potissimum eruitur? Et ipsum dolorem scrutamur, an aliquid habeat iucundum circa se et voluptarium? (29) Quaedam remedia aliis partibus corporis salutaria velut foeda et indecora adhiberi aliis nequeunt, et quod aliubi prodesset sine damno verecundiae, id fit inhonestum loco vulneris: non te pudet luctum voluptate sanare? Severius ista plaga curanda est. Illud potius admone, nullum mali sensum ad eum, qui perit, pervenire; nam si pervenit, non periit. (30) Nulla, inquam, res eum laedit qui nullus est: vivit si laeditur. Utrum putas illi male esse, quod nullus est, an quod est adhuc aliquis? Atqui

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Freude macht? Da geht es um die Leute, die uns allzu große Strenge vorwerfen und unsere Vorschriften der Härte bezichtigen, weil wir sagen, dass man den Schmerz entweder nicht in die Seele lassen dürfe oder ihn schnell aus ihr vertreiben müsse. Welches von beidem ist denn unglaublicher oder unmenschlicher: keinen Schmerz zu empfinden, wenn man einen Freund verloren hat, oder im Schmerz selbst auf Lust Jagd zu machen? (27) Was wir vorschreiben, ist anständig: Wenn unser Gefühl ein paar Tränen vergossen hat und gewissermaßen abgeklungen ist, dann darf man sich nicht dem Schmerz überlassen. Wie? Du sagst, gerade mit dem Schmerz müsse man die Lust vermischen? So trösten wir die Kinder mit Süßigkeiten, so mildern wir das Weinen der Kinder, wenn wir ihnen Milch zu trinken geben. Nicht einmal in dem Augenblick, wo Dein Sohn auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird oder Dein Freund seinen letzten Atemzug tut, duldest Du, dass die Lust zur Ruhe kommt, sondern Du willst sogar die Trauer noch anstacheln? Ist es anständiger, dass man den Schmerz aus der Seele vertreibt oder die Lust auch noch zum Schmerz hinzukommen lässt? Sage ich hinzukommen lässt