Environmental Humanities: Beiträge zur geistes- und sozialwissenschaftlichen Umweltforschung [1 ed.] 9783737012669, 9783847112662

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Environmental Humanities: Beiträge zur geistes- und sozialwissenschaftlichen Umweltforschung [1 ed.]
 9783737012669, 9783847112662

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Internationale Schriften des Jakob-Fugger-Zentrums

Band 4

Herausgegeben vom Jakob-Fugger-Zentrum – Forschungskolleg für Transnationale Studien der Universität Augsburg

Matthias Schmidt / Hubert Zapf (Hg.)

Environmental Humanities Beiträge zur geistes- und sozialwissenschaftlichen Umweltforschung

Mit 12 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Jakob-Fugger-Zentrums für Transnationale Studien und des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU), Universität Augsburg. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Sebastian Transiskus, 2019 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-7944 ISBN 978-3-7370-1266-9

Inhalt

Hubert Zapf / Matthias Schmidt Environmental Humanities – eine Einführung in den Band . . . . . . . .

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I. Historisch-Philosophische Perspektiven Christopher Schliephake Historische Ökologie(n) der Antike – Theorien, Fallbeispiele, Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lisa Kolb Ästhetisierung des ökonomischen Blicks. Alpine Landschaft und Naturwahrnehmung in Publikationen der Oekonomischen Gesellschaft Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jens Soentgen Beschleunigte Stoffbewegungen im Anthropozän . . . . . . . . . . . . . .

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Astrid Schwarz Environmental Humanities im Garten: auf der Spur von Technik-Umwelt-Verhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Natur und Narration Hubert Zapf Narrative der Natur in der amerikanischen Kultur und Literatur

. . . . .

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Johanna Hartmann Die Wüste in der zeitgenössischen literarischen Imagination: Jennifer Egans A Visit from the Goon Squad . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

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Inhalt

Christina Caupert Dialogische Narration und mehr-als-menschliche Kommunikation im Drama. Überlegungen am Beispiel von Chantal Bilodeaus Sila . . . . . . . 125 Andreas Benz Das Ergrünen der Revolution. Der Wandel des Naturbildes in Fidel Castros kubanischem Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Sebastian Purwins Die (Wieder-)Entdeckung von Ghanas Bauxit – Akteure, Strukturen und Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

III. Klimawandel und sozioökologischer Krisendiskurs Reiner Keller / Claudia Foltyn / Matthias Klaes / Simone Lackerbauer Soziologische Diskursanalyse gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Zur „Risiko-Wirklichkeit“ von „Hydraulic Fracturing“ in Deutschland, Frankreich und Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Anja Kalch / Helena Bilandzic Die Medien und das Klimaengagement in Deutschland: Der Einfluss medialer Informationen auf individuelles Klimahandeln . . . . . . . . . . 213 Senta Sanders Kivalina and the Human Face of the Arctic Climate Crisis . . . . . . . . . 235 Niklas Völkening / Mona Dürner Das Framing von Klimawandeldiskursen in Kuba . . . . . . . . . . . . . . 251 Sebastian Transiskus Umweltmigration und Immobilität am Urmiasee (Iran) . . . . . . . . . . 281 Matthias Schmidt Politische Ökologie in den Environmental Humanities . . . . . . . . . . . 317

IV. Diskurse der Nachhaltigkeit Kirsten Twelbeck Die Kunst der Nachhaltigkeit: Agnes Denes’ „Wheatfield – A Confrontation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Inhalt

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Marcus Wagner / Valentin Ostarhild Individuelle Nachhaltigkeitsorientierung und Unternehmertum: Eine empirische Validierungsstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Serge Leopold Middendorf Nachhaltigkeit und Autarkie. Versuch der fruchtbaren Ergänzung räumlicher und zeitlicher Qualitäten zweier Konzeptionen . . . . . . . . . 361 Madeleine Hugai Wie nachhaltig ist die Gaia-Theorie nach James Lovelock? Eine philosophische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Hubert Zapf / Matthias Schmidt

Environmental Humanities – eine Einführung in den Band

Der vorliegende Band versammelt Beiträge zu den Environmental Humanities als neuem transdisziplinären Forschungsfeld der Geistes- und Sozialwissenschaften. Zusammengefasst verstehen wir unter der Bezeichnung Environmental Humanities die gemeinsame Forschung verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer zu ökologischen und nachhaltigkeitsbezogenen Problemen und Fragestellungen, die heute zu den zentralen Herausforderungen einer „Weltrisikogesellschaft“ (Ulrich Beck) gehören und deren wissenschaftliche Bearbeitung genuine Aufgabe nicht nur der Natur- und Technikwissenschaften, sondern auch der Sozial- und Geisteswissenschaften (Humanities) ist. In der dynamischen Entwicklung der Environmental Humanities zu einem weltweit sich etablierenden neuen Forschungsparadigma gewinnen auch verschiedene europäische Standorte, Forschungsansätze und Lehrprogramme zunehmend an Bedeutung. Als erstes dieser neuen Zentren im deutschsprachigen Raum wurde 2015 auf Initiative der Amerikanistik der Augsburger Forschungsbereich Environmental Humanities gegründet. In Erweiterung des bereits seit 2000 bestehenden Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU, Environmental Science Center) wurde er als profilbildender Forschungsschwerpunkt der Universität etabliert und hat sich seither in Konferenzen, Workshops, Publikationen und nationalen wie internationalen Kooperationen zu einem Ort der Grundlagenreflexion, des interdisziplinären Dialogs, der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung und des intensivierten Austauschs mit anderen solcher neu entstandener oder im Entstehen begriffener Zentren entwickelt. An den damit verbundenen Forschungsorientierungen, methodisch-theoretischen Ansätzen, thematischen Schwerpunkten und praktischgesellschaftlichen Anwendungsbereichen werden daher exemplarisch einige der charakteristischen Fragestellungen und Entwicklungsperspektiven sowie die Chancen und Herausforderungen von Interdisziplinarität deutlich, die für die Environmental Humanities (EH) generell aufschlussreich sind. Dabei spielen selbstverständlich die Gegebenheiten des jeweiligen Standorts eine wichtige Rolle für die spezifische Ausprägung und das jeweilige Profil, das

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dieser neue Forschungsbereich im Verbund der beteiligten Disziplinen gewinnt. Angesichts der Vielzahl der potentiell involvierten Fächer werden sich deren charakteristische Schwerpunkte und Formen der Zusammenarbeit von Ort zu Ort anders darstellen. In Augsburg ist eines dieser charakteristischen Merkmale eine enge Vernetzung der geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Fächer, die in sich verstärkenden Zentren mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ihre Knotenpunkte hat. Das Jakob-Fugger-Zentrum ist ein Ort des Austausches über Fächer- und Ländergrenzen hinweg. Im Wissenschaftszentrum Umwelt (WZU) bildet das enge Zusammenwirken der umweltorientierten geistes-, sozialund naturwissenschaftlichen Fächer, die im Zentrum vertreten sind, ein produktives Umfeld für den interdisziplinären Austausch über Umweltthemen. Das WZU ist ein interdisziplinäres Kompetenzzentrum in der Umweltforschung, dessen Schwerpunkte neben den Environmental Humanities im Bereich Environmental Resource Studies, Environmental Health Sciences und Local Environments liegen und das sich zugleich als vernetzte Schnittstelle zwischen der Universität und den im Umweltbereich tätigen Behörden, NGOs und Unternehmen versteht. Die Gründung der EH als eigenständiges, aber an das WZU angegliedertes Forschungsnetzwerk entsprang der Absicht, komplementär zu den Natur-, Computer- und Technikwissenschaften den unverzichtbaren Beitrag der Geistes- und Sozialwissenschaften zur Analyse, Reflexion und kulturellen Vermittlung ökologischer Probleme zu erforschen und nach außen stärker sichtbar zu machen. An diesem neuen multidisziplinären Forschungsnetzwerk in Augsburg ist ein breites Spektrum von Fächern beteiligt wie Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaft, Humangeographie, Geschichte, Soziologie, Theologie, Kommunikationswissenschaft sowie Wirtschaftswissenschaften. Seit 2016 sind die Environmental Humanities als zusätzliche Schwerpunktoption im Promotionsprogramm der Augsburger Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften vertreten. Ferner wurden im Zusammenhang mit dem Aufbau der neuen Medizinischen Fakultät als deutschlandweit einzigartiger Forschungsschwerpunkt die Environmental Health Sciences etabliert, wodurch sich vielfältige Möglichkeiten der Kooperation mit den EH eröffnen. Auch das jüngst an der Universität Augsburg gegründete Zentrum für Klimaresilienz bietet verschiedenste Anknüpfungs- und Kooperationsmöglichkeiten für die EH. Die Bewilligung des gemeinsamen Antrags der Universität Augsburg und des Rachel Carson Center der Ludwig-Maximilians-Universität München für ein Internationales Doktorandenkolleg zum Thema „Um(welt)denken. Die Environmental Humanities und die Ökologische Transformation der Gesellschaft“ im Rahmen des Elitenetzwerks Bayern bietet zudem neben einer konzentrierten Nachwuchsförderung die große Chance, die EH an diesen Standorten weiter zu stärken, eine national und international größere Sichtbarkeit zu erzielen sowie optimal ver-

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netzt zu forschen. Das inter- und transdisziplinär ausgerichtete Kolleg profitiert vom disziplinübergreifenden Fachwissen der insgesamt zwanzig Antragstellenden beider Universitäten und von den vielfältigen Netzwerken im In- und Ausland. Zur institutionellen Etablierung der Environmental Humanities, zum fachübergreifenden Austausch und zur Nachwuchsförderung tragen regelmäßig stattfindende interdisziplinäre Workshops bei, die abwechselnd in den Räumlichkeiten des WZU oder in der Umweltforschungsstation Schneefernerhaus abgehalten werden. Übergeordnete Themen dieser Workshops waren u. a. Regenerative Energie, Natur und Narration, Klimakommunikation, Natur- und Kulturlandschaften sowie Konzepte von Nachhaltigkeit. Aus dem Spektrum dieser Forschungsthemen stammen auch die Beiträge dieses Bandes, die einen ersten Eindruck von der Breite und Vielfalt der Fragestellungen und der methodisch-theoretischen Zugänge vermitteln, die die Environmental Humanities eröffnen. Prägende Richtungen der Environmental Humanities in Augsburg sind die Materielle, Kulturelle und Politische Ökologie. In den Bereich der Materiellen Ökologie gehört zuvorderst die Buchreihe Stoffgeschichten, die von Armin Reller und Jens Soentgen begründet wurde. In der Reihe sind mittlerweile elf Bände erschienen, die sich mit der naturwissenschaftlichen Beschaffenheit, aber auch den kulturellen und geschichtlich-politischen Bedeutungen von Stoffen beschäftigen, die für die Kulturgeschichte wie für das alltägliche Leben von oft unterschätzter Bedeutung sind – Staub, Kaffee, Aluminium, CO2, Dreck, Kakao, Milch, Stickstoff, Seltene Erden, Konfliktstoffe, Holz und Zucker waren die Themen der bisherigen Bände. An der Schnittstelle zwischen den materiellen Agenzien der Stoffe und ihren menschlichen Verwertungszusammenhängen angesiedelt, nahmen die seit 2005 erscheinenden Bände bereits den material turn in den Humanwissenschaften vorweg, während sie gleichzeitig die Eigendynamik der Kultur und die Verantwortung des Menschen für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Beziehung von Gesellschaft und Natur betonen. Die Titel wurden breit rezipiert und vielfach auch übersetzt. In seinem Beitrag zu diesem Band stellt Jens Soentgen diesen Ansatz im Kontext der beschleunigten Verwertung und Mobilisierung materieller Substanzen in der Moderne vor. Bezüge zur Materiellen Ökologie haben u. a. auch die Beiträge von Kirsten Twelbeck, Reiner Keller und Sebastian Purwins. Zu den prägenden Forschungsparadigmen der Augsburger Environmental Humanities gehört ferner das Konzept der Literatur als kulturelle Ökologie, das Ausgangspunkt verschiedener Forschungsprojekte im Bereich der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft ist und sich bereits in zahlreichen Publikationen der Augsburger Cultural Ecology Research Group niedergeschlagen hat. Im Mittelpunkt des Ansatzes steht die Annahme, dass sich Literatur und andere

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Formen kultureller Kreativität zentral mit der grundlegenden Beziehung von Kultur und Natur auseinandersetzen und dass sie in ihren Erzählungen, Imaginationen und ästhetischen Transformationen der Wirklichkeit einen wichtigen Beitrag zur Umweltkommunikation und zu einer nachhaltigen Gesellschaft leisten können. International rezipierte Publikationen in diesem Bereich sind die Monographien Literatur als kulturelle Ökologie (2002) und Literature as Cultural Ecology: Sustainable Texts (2016) von Hubert Zapf sowie die von ihm herausgegebenen Bände Kulturökologie und Literatur (2008) und Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology (2016). Die Kooperation mit anderen Zentren des Ecocriticism in Deutschland zeigt der von Gabriele Dürbeck, Urte Stobbe, Evi Zemanek und Hubert Zapf herausgegebene Band Ecological Thought in German Literature and Culture (2017). Der Ansatz wird im vorliegenden Band exemplifiziert in den Beiträgen von Hubert Zapf, Kirsten Twelbeck, Johanna Hartmann, Christina Caupert und Senta Sanders, alle Mitglieder der Cultural Ecology Research Group. Ein weiterer überregional sichtbarer Forschungsansatz in den Augsburger Environmental Humanities ist die Politische Ökologie, die von der Prämisse ausgeht, dass gegenwärtiger Umweltwandel und Naturdegradation immer auch politisch sind. Zu den Prinzipien der Politischen Ökologie gehören der theoretische Bezug zur Kritischen Gesellschaftstheorie, ein post-positivistisches Verständnis von Natur und Wissensproduktion, methodischer Pluralismus mit Schwerpunkt auf qualitative empirische Forschungsmethoden, die Berücksichtigung der historischen Dimension sowie das normative Ziel, sich für soziale Gerechtigkeit und strukturellen politischen Wandel mit Blick auf die Interessen marginalisierter Bevölkerungsgruppen zu engagieren. In Augsburg greift die Humangeographie diesen Forschungsansatz auf und befasst sich schwerpunktmäßig mit politischen und sozioökonomischen Transformationsprozessen in postkolonialen und postsozialistischen Kontexten vor allem im eurasischen Raum. Dabei ermöglicht ihre räumlich und zeitlich angelegte, mehrskalige Zugangsweise besonders aussagekräftige Erkenntnisse über sich wandelnde Mensch-Umwelt-Beziehungen. Dies wird exemplarisch deutlich in den Schriften von Matthias Schmidt wie Mensch und Umwelt in Kirgistan. Politische Ökologie im postkolonialen und postsozialistischen Kontext (2013) und Politische Ökologie des Postsozialismus (2016) sowie dem von ihm mitherausgegebenen Tagungsband The Power of Political Ecology (2019). Im Bereich der Umweltgeschichte reichen die Projekte von der Geschichte des Lechs als Natur- und Kulturraum bis zur Geschichte der Nachhaltigkeit(en), einem von Elke Seefried geleiteten, von der Leibniz-Gemeinschaft geförderten Projekt, an dem das WZU, die Regionalgeschichte Augsburg, das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, das Rachel Carson Center der LMU und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung beteiligt sind. Das Kriterium der

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Nachhaltigkeit war auch entscheidend für die jüngste Auszeichnung des historischen Wassermanagements der Stadt Augsburg als UNESCO-Weltkulturerbe, zu dessen erfolgreicher Bewerbung auch das WZU unter Leitung von Jens Soentgen beigetragen hat. Ebenso mit den Environmental Humanities in Augsburg vernetzt sind soziologische Arbeiten zu gesellschaftlichen Naturverhältnissen, wie sie Reiner Keller mit seinen Mitarbeiter:innen im Rahmen seines international breit rezipierten Ansatzes der wissenssoziologischen Diskursanalyse verfolgt. Keller gehört zu den Mitbegründern umweltsoziologischer Forschungen im deutschsprachigen Raum und arbeitet bereits seit Mitte der 1990er Jahre über Umweltund Risikodiskurse, u. a. zur Müllpolitik, zur Nachhaltigkeitsdebatte, zu Fracking und zur Energiewende in Deutschland und Frankreich, zur Umweltmediation, zu Risiko- und Katastrophennarrativen, zur reflexiven Modernisierung sowie zur gesellschaftlichen Grenzpolitik in Bezug auf Natur. Des Weiteren ist schließlich die Umweltkommunikation als ein Bereich der Kommunikationswissenschaft zu nennen, die von Helena Bilandzic und ihrem Lehrstuhlteam praktiziert wird und öffentliche Diskurse zu Umweltthemen unter medien- und kognitionswissenschaftlichen Kriterien untersucht, beispielsweise zur sogenannten Klima(wandel)skepsis. Dabei werden sowohl die mediale Berichterstattung als auch fiktionale Geschichten in den Blick genommen und nicht nur die rhetorischen Strategien analysiert, sondern auch deren Wirkung auf die Rezipient:innen betrachtet. Charakteristisch für diesen Ansatz ist, dass Umweltdiskurse nicht nur als Information verstanden werden. Vielmehr enthalten sie stets emotionale, narrative und moralische Elemente; sie stellen Alltagsrelevanz her (oder verpassen es, dies zu tun) und vermitteln Handlungsmöglichkeiten. Dies spiegelt sich auch in den Wirkungen wider, bei denen Aspekte wie emotionale Reaktionen und narratives Erleben prägende Faktoren sind. Aufgrund der transdisziplinären Ausrichtung der Environmental Humanities ist es aber unabdingbar, dass die verschiedenen genannten Ansätze und Forschungsrichtungen sich immer wieder auch überschneiden und dass nicht zuletzt gerade dadurch ein zusätzlicher Mehrwert in Theorie und Praxis entsteht. Aus dem Spektrum dieser einerseits distinktiven, andererseits sich kreativ verbindenden Ansätze und thematischen Forschungsorientierungen stammen die Beiträge dieses Bandes. Im Mittelpunkt von Teil I stehen zunächst „Historisch-Philosophische Perspektiven“, die für die Environmental Humanities als Bewusstsein der Vorgeschichte und Langzeitdimension ihrer gegenwärtigen Themen und Fragestellungen unverzichtbar sind. Die Beiträge thematisieren die Antike als Gegenstand und fortwirkende Inspirationsquelle einer historischen Ökologie (Christopher Schliephake); die Konkurrenz und Überschneidung ökonomischer und ästhetischer Formen der Naturwahrnehmung am Beispiel der alpinen Landschaft im

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18. Jahrhundert (Lisa Kolb); die entfesselte Beschleunigung der Naturausbeutung und Mobilmachung von Stoffen in der Moderne aus einem stoffgeschichtlichen Ansatz (Jens Soentgen); und kontrastiv dazu das Konzept des Gartens in Umweltforschung und Umwelthandeln als Beispiel gelingender Natur-Kultur-Konstellationen aus technikphilosophischer Sicht (Astrid Schwarz). In Teil II „Natur und Narration“ geht es um die konstitutive Rolle, die die Narration in der Vermittlung von Umweltthemen und Umweltwissen spielt. Die Beiträge zu einer kulturökologisch orientierten Konzeption von Narration reichen hier von Narrativen der Natur in der amerikanischen Kultur und Literatur (Hubert Zapf) über die Narrativierung der Wüste in der literarischen Imagination (Johanna Hartmann) zur dialogischen Narration und mehr-als-menschlichen Kommunikation im Drama (Christina Caupert). Mit Umweltnarrativen aus der Sicht einer politischen Ökologie befassen sich die weiteren Aufsätze dieses Teils zum Wandel des Naturbilds im kubanischen Sozialismus (Andreas Benz) und dem wechselvollen Schicksal des Bauxits in Ghana (Sebastian Purwins). Teil III „Klimawandel und sozioökologischer Krisendiskurs“ widmet sich unmittelbar dem wohl meistdiskutierten gegenwärtigen Umweltthema, dem Klimawandel und dem damit verbundenen allgemeineren, tiefgreifenden Krisenbewusstsein einer Risikogesellschaft, das sich in verschiedensten Feldern manifestiert. Aus der Sicht der soziologischen Diskursanalyse wird dies am Beispiel des vieldiskutierten „hydraulic fracturing“ oder „Fracking“ im Vergleich zwischen Deutschland, Frankreich und Polen analysiert (Reiner Keller, Claudia Foltyn, Matthias Klaes und Simone Lackerbauer). Der Zusammenhang zwischen Medienkommunikation und individuellem Klimahandeln in Deutschland steht im kommunikationswissenschaftlichen Beitrag im Vordergrund (Anja Kalch und Helena Bilandzic). Nachfolgend rücken außereuropäische Schauplätze und Diskurse der ökologischen Krise in den Mittelpunkt – literarisch-filmische Auseinandersetzungen mit der Klimakrise in der Arktis in verschiedenen Genres (Senta Sanders); das Framing von Klimawandeldiskursen in Kuba (Niklas Völkening und Mona Dürner) sowie sozioökologische Aspekte der Umweltmigration am Urmiasee im Iran (Sebastian Transiskus). Die Sektion schließt mit einem Grundsatzbeitrag zur Politischen Ökologie als einem der prägenden Zugänge zu den Environmental Humanities, der wie in den zuletzt genannten Beiträgen auch postkoloniale und globale Bezüge umfasst (Matthias Schmidt). Teil IV „Diskurse der Nachhaltigkeit“ schließlich befasst sich mit gesellschaftlichen und individuellen Gegenstrategien zur Krise von Klima und Umwelt, die unter dem Überbegriff der Nachhaltigkeit firmieren. Es gibt verschiedene Diskurse und Narrative der Nachhaltigkeit, die in diesem Kapitel exemplarisch aus kultureller, ökonomischer, ökosozialer und holistisch-ökologischer Sicht beleuchtet werden – Nachhaltigkeit als Potential von Kunst, Literatur und multimedialer kultureller Kreativität am Beispiel von Agnes Denes’ urban land art project

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„Wheatfield – A Confrontation“ (Kirsten Twelbeck); Nachhaltigkeit als individuelle Orientierungskategorie im Unternehmertum (Marcus Wagner und Valentin Ostarhild); Nachhaltigkeit in Bezug auf neue, deglobalisierende Ansätze von Autarkie (Serge Leopold Middendorf); sowie Nachhaltigkeit im Licht der holistischen Umweltethik von James Lovelocks Gaia-Hypothese (Madeleine Hugai). Die im Band versammelten Beiträge können das breite und sich ständig erweiternde Feld der Environmental Humanities nur in exemplarischer Auswahl vermitteln. Aber sie können, so ist zu hoffen, immerhin einen Eindruck von der wissenschaftlichen Produktivität und gesellschaftlich-kulturellen Relevanz geben, die dieses Feld kennzeichnet und die es in seiner weiteren Entwicklung vermehrt gewinnen kann. Augsburg, Mai 2021

Hubert Zapf und Matthias Schmidt

I. Historisch-Philosophische Perspektiven

Christopher Schliephake

Historische Ökologie(n) der Antike – Theorien, Fallbeispiele, Perspektiven

Der folgende Beitrag stellt die „Environmental Humanities“ aus einer Perspektive vor, die bislang ein Forschungsdesiderat darstellt. Bislang nämlich wurde dieses neue Paradigma der geisteswissenschaftlichen Forschung kaum in den Altertumswissenschaften aufgenommen, obgleich z. T. seit Jahrzehnten Ansätze rezipiert werden, die in unterschiedlichen Teildisziplinen der „Environmental Humanities“, wie etwa der Umweltgeschichte und Umweltphilosophie, dem Ecocriticism und der Kulturökologie, entwickelt worden sind.1 Umgekehrt ist es aber auch so, dass die „Environmental Humanities“ seit ihren Anfängen im Kontext der „environmental studies“ durch einen hohen Gegenwartsbezug charakterisiert sind (Heise 2017: 1–2). Das hat zum einen mit ihrer transdisziplinären Ausrichtung zu tun, die in besonderem Maße an einer Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften interessiert bzw. orientiert ist. Auf der anderen Seite stellen die „Environmental Humanities“ insofern einen eigenen Ansatz dar, als sie die ökologischen Krisenphänomene und den anthropogenen Klimawandel der Gegenwart nicht als rein technologisch bedingte (und lösbare) Probleme einordnen. Sie adressieren Fragen der Umweltgerechtigkeit, der ökonomischen Ungleichheit und der jeweiligen geschichtlichen Rahmenbedingungen, die zu ökologischen Krisenerscheinungen – und postulierten Lösungsansätzen – geführt haben. Sie machen deutlich, dass ästhetische Erfahrungen des Geschichtenerzählens für Umweltwahrnehmung und -verhalten unerlässlich sind und fordern ein historisch begründetes, ethisch reflektiertes Herangehen an die Umweltprobleme unserer Zeit. Dieser Gegenwartsbezug hat aber zugleich die Tendenz, eine Engführung des thematischen Zuschnitts bzw. des Betrachtungshorizonts auf das sog. „Anthropozän“ zu unternehmen. Keiner der einschlägigen Sammelbände, die in den letzten Jahren vermehrt in der anglo-amerikanischen Verlagslandschaft als 1 Eine Ausnahme, bezogen auf Ecocriticism und Kulturökologie stellt Schliephake (2017) dar. Zum Paradigma der „Environmental Humanities“ und dem Platz der Altertumswissenschaften in ihm auch Schliephake (2020a).

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Christopher Schliephake

Einführung in die „Environmental Humanities“ erschienen sind, enthält einen Aufsatz zur Vormoderne (Garrard 2014; Heise et al. 2017; Zapf 2016).2 Freilich ist dies v. a. der Dringlichkeit und der Dynamik der gegenwärtigen ökologischen Krise geschuldet. Umgekehrt ist es aber auch so, dass die historische Orientierung, die von den „Environmental Humanities“ zumindest nominell als ein Kernpunkt stark gemacht wird, der in die gegenwärtigen Debatten zu Umweltproblemen eingespeist werden kann, in Theorie und Praxis des eigenen Feldes unterrepräsentiert ist – und das, obwohl zentrale Theoreme, Themen und Methoden eine eigene Tradition und Ideengeschichte widerspiegeln, die bis in die Antike zurückreicht. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es dementsprechend, die in diesem Band verfolgte Orientierung an einer kulturellen, einer politischen sowie einer materiellen Ökologie um die Dimension einer historischen Ökologie zu erweitern. Damit in Zukunft aktuelle umweltorientierte Ansätze in den Altertumswissenschaften eine stärkere Anbindung an die „Environmental Humanities“ unternehmen können, soll in einem folgenden ersten Teil versucht werden, Ansätze einer ökologisch orientierten althistorischen Forschung zusammenzutragen und sie auf ihr Potential für einen verstärkten Dialog mit den „Environmental Humanities“ hin zu befragen. In einem zweiten Teil soll an einem Forschungsbeispiel illustriert werden, wie eine historische Ökologie der Antike aussehen kann und welche Perspektiven für weitere Untersuchungen sie bietet – und zwar dezidiert in einem Kontext, der Gegenwart und Zukunft der „Environmental Humanities“ gleichermaßen im Blick hat.

Der ecological turn „Ökologie“ ist kein antiker Begriff. Er wurde erstmals 1866 von dem Zoologen Ernst Haeckel geprägt, der von Alexander von Humboldt und dessen synthetischem, mehrere Wissenschaftsdisziplinen seiner Zeit zusammenbringenden Denken geprägt war (Seidler, Bawa 2016). Traditionellerweise wird der Begriff als das Studium der funktionalen Wechselbeziehungen zwischen lebenden Organismen innerhalb ihrer jeweiligen, unbelebten Umgebungen definiert. Als sich die Ökologie Anfang des 20. Jahrhunderts als eine Wissenschaftsdisziplin zu etablieren beginnt, steht sie einerseits der verwandten Biologie nahe, von der sie – als einen Schwerpunkt – ein evolutionäres Denken übernimmt, das untersucht, wie sich biologische Interaktionsmuster entwickelt haben. Andererseits ist das Fach Ökologie von Anfang an stark in einem urbanen, universitären Kontext 2 Das gilt im selben Maß für die erste einführende Monographie zum Thema (Emmett, Nye 2017). Ein tiefenhistorischer Blick wird hingegen in Parham, Westling (2017) gewählt.

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verwurzelt, wodurch ein Systemdenken in das Fach Einzug hält, innerhalb dessen sowohl vom Menschen geschaffene, als auch natürliche Umwelten in ihrer jeweiligen Rolle aufscheinen und gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Die damit einhergehende Absicht, die Wechselwirkung zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft zu untersuchen und zu verstehen, ist dabei freilich keineswegs neu – auf Landwirtschaft und Viehzucht basierende Sozialverbände mussten schon seit jeher ein Bewusstsein für die Dynamiken sozial-ökologischer Systeme mitbringen, um überlebensfähig zu sein. Was hier im Laufe des 20. Jh. hinzukommt, ist jedoch ein noch stärkerer tagespolitischer Aspekt, hinter dem gesellschaftliche Interessenverbände und Industrie gleichermaßen stehen, sowie neue, so in der Geschichte bislang nicht bekannte, durch den Menschen geschaffene ökologische Risikofaktoren, wie etwa Atomenergie oder chemische Pestizide. Letztere Entwicklungen sowie der anthropogene Klimawandel haben zweifelsohne dazu beigetragen, dass es in den letzten Jahrzehnten – auch innerhalb der Geisteswissenschaften – einen Trend gab, der Frage mehr Beachtung zu schenken, wie Menschen anderer Zeiten eigentlich mit ökologischen Risiken und Problemen umgingen, wie überhaupt der Platz der menschlichen Spezies innerhalb der Biosphäre zu deuten ist und wie er ausgedeutet wurde, schließlich wie Natur- und Menschheitsgeschichte zusammenhängen. Dies alles sind Grundfragen des „ecological turn“, wie sie vermehrt unter interdisziplinärem Blickwinkel verhandelt werden. Der „ecological turn“ zielt ab auf eine Abkehr von soziokulturellem Konstruktivismus, Anthropozentrismus und auch von Formen der Geschichtsbetrachtung, die die natürliche Umwelt mit ihren Rohstoffen und nichtmenschlichen Lebewesen als bloße Bühne für die Handlungen menschlicher Akteure und deren Institutionen betrachtet. Anders formuliert setzt er anstelle der „Kultur“ die „Natur“: Er ist dabei aber erstens durch eine Perspektivenverschiebung charakterisiert, die die soziopolitischen Prozesse menschlicher Organisationsformen als dynamische Bestandteile der wechselseitigen Stoffkreisläufe von Ökosystemen betrachtet und andere, nichtmenschliche Akteure innerhalb historischer Entwicklungen zum Vorschein bringt. Zweitens verbindet sich mit dem „ecological turn“ eine Neubewertung der Rolle der natürlichen Umwelt für die Ausbildung und Ausdrucksformen der Kultur, aber nicht in dem Sinne älterer, geodeterministischer Ansätze, sondern indem die Kultur selbst als eine besondere, evolutionäre Anpassungsleistung der Menschen betrachtet wird, die es ihnen ermöglicht, sich in ihrer jeweiligen Umwelt zurecht zu finden und die natürliche Umwelt in ihrem Sinne zu gestalten oder zumindest auf diese einzuwirken. Im Kontext der Geschichtswissenschaften sind dabei zwei Aspekte zentral, die der Ökologe Wolfgang Haber (2016: 20–24) als zwei Seiten ein und derselben Medaille charakterisiert: Auf der einen Seite spricht die wissenschaftliche Öko-

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Christopher Schliephake

logie vom sogenannten „Umweltkreis“, der die für alle Lebewesen notwendigen natürlichen Grundgegebenheiten zum Ausdruck bringt. Historisch gewendet hängen damit die Fragen nach der „Nutzung der Natur“ sowie nach dem „Schutz vor der Natur“ zusammen, d. h. welche Rohstoffe und natürlichen Lebensräume haben Menschen vergangener Zeiten genutzt und wie haben sie diese erlangt bzw. wie haben sie dementsprechend in die Natur eingegriffen? Und wie haben Menschen bzw. Gesellschaften die eigene Existenz vor Bedrohungen aus der Natur geschützt? Auf der anderen Seite der Medaille findet sich das, was Haber (2016: 25–29) als die „Sonderumwelt“ des Menschen bezeichnet. Damit ist gemeint, dass Menschen im Laufe der Evolution dazu übergangen sind, der Natur eine Steuerung aufzuzwingen, um sie jeweils eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen anzupassen. Neben den beiden bereits genannten Aspekten der Nutzung und des Schutzes kommen, historisch gesehen, hier „anthropogene Triebkräfte“ ins Spiel, die die, ökologisch gesprochen, besondere „menschliche Nische“ in der Biosphäre begründen: nämlich die Suche nach technischen Lösungen für Probleme der Lebensführung, die in vielen Bereichen tatsächlich eine Fortschrittsgeschichte (Medizin, Physik) ist. Und die Rückbindung dieses technologisierten Umwelthandelns an ökonomische Prozesse, die sie materiell-quantitativ abbilden, sowie an qualitative Parameter, die mit dem Wunsch nach mehr Lebensqualität, aber auch mit dem Streben nach politischer Macht zu tun haben können. Basierend auf einem solchen Modell können wir den „ecological turn“ als ein intellektuelles Unternehmen verstehen, das darauf abzielt, die Menschheitsgeschichte einerseits an ihre materiellen Rahmenbedingungen rückzubinden, die sie mit anderen, nichtmenschlichen Lebewesen teilt und von der sie sogar abhängt – das ist die Seite des „Umweltkreises“ –; und wir können auf der anderen Seite analysieren, wie in der Geschichte durch menschliches Handeln neben die Natur eine kulturelle „Sonderumwelt“ getreten ist, die durch spezifische menschliche Wertemaßstäbe sowie politische Machtfragen geprägt und transformiert worden ist. Dieses Modell ist dabei keineswegs statisch, sondern höchst dynamisch. Es legt dementsprechend auch vermehrt den Fokus auf historische Erfahrungen des Ungleichgewichts und Regelwidrigkeiten, die für die „menschliche Nische“ (Herrmann 2013: 87) typisch sind und Rückwirkungen auf die Biosphäre insgesamt zeitigen. Wie der Humangeograph Karl Zimmerer festhält: „Historical time with its emphasis on the irregular periodicity of environmental variations and ecological functioning has replaced the cyclical time of systems ecology“, indem sie sich beispielsweise ansieht „how the irregular temporal variation of ecological processes and so-called ‚site histories‘ structure the foundations of environmental systems“ (Zimmerer 1994: 110).

Historische Ökologie(n) der Antike – Theorien, Fallbeispiele, Perspektiven

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Dieser Ansatz, der auch als sog. „New Ecology“ bekannt ist, wird auch in dem viel rezipierten Buch The Corrupting Sea des Althistorikers Nicholas Purcell und des Mediävisten Peregrine Horden aus dem Jahre 2000 vertreten. Darin prägen Horden und Purcell (2000: 49) den Begriff der „historical ecology“, die sich, wie sie es ausdrücken, „concerns itself with instability, disequilibria and chaotic fluctuations“. Die beiden Autoren betrachten die vormoderne Umweltgeschichte als ein engmaschiges Netzwerk aus Mikro-Ökologien, die von sich wechselnden geschichtlichen Szenarien, örtlichen Parametern und kulturellen Faktoren abhängen. Horden und Purcell verwenden den Begriff „Ökologie“, um auf die Wechselseitigkeit der menschlichen Systeme und der Umweltkreisläufe aufmerksam zu machen. Allerdings machen sie auch deutlich, dass ihr Ansatz den Fokus klar auf kulturelle Dynamiken, nicht so sehr auf ökologische Faktoren legt: The dynamics and flux of social allegiances and ordered behavior in the Mediterranean region will defy scientific modelling. Historical ecology, as opposed to other kinds, will therefore investigate these processes in a different spirit. The study of them may clearly be enhanced by frequent invocation of the natural ecologist’s terms, procedures and self-reinventions. But without sustained attention to what is distinctively historical about the place of humanity within the environment, and particularly to the complexity of human interaction across large distances, the study of the Mediterranean past will ultimately not have advanced very far beyond Plato’s simile of the frogs round the pond. (Horden, Purcell 2000: 49)

Dieses Zitat fasst, wie in einem Brennglas, einige wesentliche Aspekte zusammen, die nach Horden und Purcell (2000) eine historische Ökologie gegenüber einer rein auf biologische Aspekte beschränkte Ökologie ausmachen: es geht um jene historisch geprägten kulturellen und sozialen Muster der Aneignung von Natur auf der einen und um ihre Kontingenz und Wandelbarkeit auf der anderen Seite, die von stets fluktuierenden Machtkonstellationen und unterschiedlichen Akteuren abhängen. Was diese Geschichte „ökologisch“ macht ist, dass die soziopolitischen Entwicklungen als Teil eines Netzwerkes erscheinen, das sowohl soziale, aber auch natürliche Aspekte in sich vereint. Der „ecological turn“ ist dementsprechend durch eine Dialektik gekennzeichnet, die der Umweltphilosoph und Kulturwissenschaftler Greg Garrard (2014: 3–5) einmal in dem Chiasmus der „Historisierung der Ökologie“ und der „Ökologisierung der Geschichte“ auf den Punkt gebracht hat. Dieses Begriffspaar aufgreifend, möchte ich im folgenden zweiten Punkt die Relevanz des „ecological turn“ für die Altertumswissenschaften diskutieren. Wie ich argumentiere, gibt es zwei unterschiedliche Varianten einer ökologischen Wende, die sich jeweils an Varianten der in diesem Band vorgestellten Ansätze anlehnen, nämlich an eine materielle bzw. eine kulturelle Ökologie.

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Der ecological turn in den Altertumswissenschaften Eine materielle historische Ökologie der Antike legt den Schwerpunkt auf die allgemeine Entwicklung menschlicher Systeme im Austausch mit ihren nichtmenschlichen, biophysischen Umgebungen. Sie bezieht sich dabei auf neue Quellentypen und innovative wissenschaftliche Untersuchungsmethoden wie der historischen Klimaforschung oder der Paläoklimatologie. Sie baut auf großen Datenmengen („big data“) auf und versucht, die Geschichte der menschlichen Stadtstaaten und Reiche in einen weitgefassten Rahmen einzubinden, in dem Rückkopplungseffekte zwischen kulturellen und natürlichen Systemen zentral sind. Eine kulturhistorische Ökologie der Antike auf der anderen Seite, verwendet den Begriff der „Ökologie“ stärker metaphorisch und untersucht, wie die Beziehung zwischen antiken Menschen und ihren Umwelten Niederschlag in den kulturellen Texten gefunden hat. Indem sie die kognitiven und emotionalen Aspekte, etwa des Geschichten- oder Mythenerzählens, untersucht, legt sie offen, wie zentral Prozesse des Schaffens kultureller Bedeutung dafür sind, dass sich Gesellschaften im natürlichen, geophysikalischen Raum zurechtfinden und diesen in eine (Kultur)Landschaft verwandeln, sowie ökologisches Wissen entwickeln, das über Generationen hinweg weitertradiert werden kann. Wenn ich beide Ansätze nebeneinanderstelle und diskutiere, dann möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass sich damit tatsächlich wissenschaftliche Paradigmen verbinden, mit einem einheitlichen theoretischen und methodologischen Rüstzeug. Meine Ausführungen sind vielmehr als Beobachtung von größeren, wahrnehmbaren Trends in den althistorischen Fächern zu begreifen und als Überlegung hinsichtlich der Perspektiven, aber auch der Probleme, die sich daraus ergeben. Fangen wir mit den Problemen an: Große Erzählungen sind mit der Postmoderne und durch die cultural turns in Kritik geraten, aus der Mode gekommen sind sie deswegen aber noch lange nicht. Ansätze der „big history“ (Christian 2005) sind ein Musterbeispiel: sie versucht die große Erzählung schlechthin, indem sie, zumindest von der Grundintention her, eine Geschichte von Anbeginn der Zeit, also auch eine Geschichte vor der Menschheit erzählt, oder aber sehr weitgefasste historische Entwicklungslinien wählt, für die sich der Begriff longue durée schon gar nicht mehr anbietet. Ein bekanntes Beispiel einer „big history“ ist Ian Morris’ 2015 erschienene Monographie Foragers, Farmers, and Fossil Fuels: How Human Values Evolve. Der Altertumswissenschaftler aus Stanford legt darin eine makrohistorische Analyse der Entwicklung menschlicher Werte vor, die sich, so seine These, in Abhängigkeit von den jeweiligen Arten der technologischen Energieerschließung und -nutzung wandeln. Je nachdem, ob eine Gesellschaft aus Jägern und

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Sammlern, Bauern oder eben Industriearbeitern besteht, würden sich gesellschaftliche Organisationsformen und v. a. die moralische Bewertung zugrundeliegender Normen und Verhaltensweisen grundlegend ändern. Morris unternimmt nichts Geringeres, als die Sonderumwelt Mensch mit ihrem Kulturkreis aus Werten, Macht und Bedürfnissen aus der technologischen Erschließung des jeweiligen Umweltkreises heraus zu analysieren. Zugrunde liegt ein ökologisches Verständnis von Geschichte, sowie ein funktionalistischer Ansatz, der erklärt, wie menschliche Werte mit Energienutzung und Ressourcenmanagement zusammenhängen. Morris sieht sich dementsprechend auf der Seite der „Erklärer“, nicht der „Versteher“ von Geschichte: Explainers need to complement the hundreds of thick descriptions of meaning in specific cultures with broad comparisons spanning large areas and long periods of time. These will be thin descriptions, largely (though not exclusively) quantitative, and not very participatory. They will be coarse-grained, because they sweep up into a single story of hundreds of societies, thousands of years, and millions of people, and reductionist, because they seek answers by boiling down the teeming variety of lived experience to simpler underlying principles . (Morris 2015: 8–9)

Dieser Standpunkt macht, bezogen auf Morris’ Projekt sicher Sinn, faktisch jedoch ergibt sich daraus ein Bündel an Problemen, die auch mit Morris’ wohl bewusstem Reduktionismus zu tun haben. Dieser Ansatz verdeckt die Partikularitäten und gelebten Realitäten ökologischer Wechselbeziehungen zwischen menschlichen politischen Systemen und ihren Wertesystemen und natürlicher Ökosysteme. Was Morris als „simpler underlying principles“ bezeichnet, sind tatsächlich komplexe Rückkopplungseffekte, die ständig sich wandelnden Bedingungen unterworfen sind. Freilich gab es übergeordnete Rahmenbedingungen, die mit dem Vorhandensein von Ressourcen oder klimatischen Bedingungen zu tun haben, aber historische Prozesse, v. a. auch die gesellschaftliche Aushandlung von Werten und Organisationsformen lassen sich alleine daraus nicht erklären. Zumal die Datensets, auf denen eine solche Analyse aufbaut – und das ist ein weiterer Problempunkt, wenn es um die Wechselbeziehung zwischen „Ökologie“ und Geschichte geht – keineswegs unproblematisch sind. Das beginnt schon bei der Frage, wie eigentlich eine Populationsökologie antiker menschlicher Gesellschaften aussehen soll.3 Für die meisten Teile und Zeiten der antiken Welt fehlen uns hierzu bislang verlässliche Zahlen, wenn jedoch ganze Argumentationsketten wie bei Morris darauf aufbauen, dann kann dies schnell zu Fehlschlüssen führen. ‚Big data‘ macht noch lange nicht die Notwendigkeit des ‚close reading‘ obsolet.

3 Vgl. dazu die Diskussion in Bresson 2015: 31–70.

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Dies gilt auch in Bezug auf großen Datenmengen, die etwa von Seiten der historischen Klimaforschung aus unterschiedlichen Quellentypen und Messmethoden wie Grönlandeisbohrungen oder Radiokarbonanalysen gewonnen werden. Diese Daten sind höchst komplex und für den naturwissenschaftlichen Laien kaum zu entschlüsseln. Sie machen einen interdisziplinären Dialog notwendig, der Fallstricke eigener Art bietet, der aber auch zu neuen Einsichten etwa in die Ausbildung bzw. Veränderung von Sozialstrukturen angesichts von Klimaschocks in der Geschichte verspricht. Wie es der Althistoriker Joseph Manning kürzlich in seiner Monographie The Open Sea ausgedrückt hat, „The challenge for ancient historians is to build more complex social models“ (Manning 2018: 136). Methodologisch gesprochen hängen mit klimatologischen Datensets aber für den Historiker mindestens zwei Probleme zusammen, da erstens die Daten alleine nichts darüber aussagen, ob und wie Menschen in der Geschichte auf vermeintliche Klimaveränderungen (die sich ja häufig über lange Zeiträume erstrecken) reagiert haben, und zweitens, weil Klimaveränderungen und ökologische Rückkopplungseffekte ja nicht automatisch mit sozialen Veränderungsprozessen korreliert haben müssen. Dieser Aspekt ist entscheidend, wenn wir nicht in einen Geodeterminismus zurückfallen wollen; er hilft vielmehr, adaptive Strategien im menschlichen Umweltverhalten herauszustellen und auch die Widerständigkeit soziopolitischer Systeme in Zeiten der ökologischen Krise (wenn sie denn überhaupt als solche wahrgenommen wurde) zu untersuchen. In seiner eigenen Arbeit hat Manning v. a. die antike Wirtschaftsgeschichte in den Blick genommen. Indem er, in Zusammenarbeit mit anderen Historikern und Wissenschaftlern, geochemische Daten mit historischer Quellenanalyse koppelt, versucht er, wie er es ausdrückt, „(to) understand the complexities of premodern societies by adding environmental constraints and shocks as an additional component to coupled human-natural system dynamics“ (Manning 2018: 141). Sein eigener Schwerpunkt liegt v. a. im Bereich des antiken Ägypten und hier auf der Epoche des Hellenismus. Manning argumentiert, dass Vulkanausbrüche in hellenistischer Zeit nachweisliche Klimaeffekte hatten, die sich u. a. auf das Hydroklima Ostafrikas auswirkten, was wiederum entscheidend für die alljährlichen Nilüberschwemmungen ist. Wie Manning (2018: 161) festhält, „the sequence of eruptions we observe (…) may have had impacts in four related areas: (1) agricultural production, (2) food supply, (3) social unrest, and (4) disease“. Manning (2018: 147) redet damit aber weniger einem Klimadeterminismus das Wort, als vielmehr einem relationalen, dynamischen Modell, das „multikausale Erklärungen für menschliche Adaptionen und soziale Veränderungs-

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prozesse sucht“.4 Dies ist, neben den skizzierten Problemen, sicher eine Perspektive, die sich aus der Integration ökologischer Daten in unseren Quellenfundus ergibt. Und da die Erschließung und interdisziplinäre, historische Auswertung etwa von Klimadaten, noch am Anfang steht, werden wir diesbezüglich in nächster Zeit noch einiges erwarten dürfen.5 Tatsächlich sind paläoklimatologische Quellengruppen diejenigen Überreste aus antiker Zeit, die noch nicht annähernd vollständig erfasst und ausgewertet worden sind. Sie bieten „Stoffgeschichten“ (Böschen et al. 2004) eigener Art, die viel über die materiellen Rahmenbedingungen des antiken Lebens aussagen, aber auch über die Rückkopplungseffekte, die zwischen menschlicher Ressourcennutzung und den ökologischen Stoffkreisläufen der physikalischen Welt bestanden. Der zweite hier zu diskutierende Ansatz einer historischen Ökologie der Antike steht stärker der Kulturökologie nahe. Angesprochen sind v. a. textbasierte Methoden, die auf Basis philologischer und epigraphischer Quellen nachvollzogen haben, wie antike Menschen über ihre jeweilige Umwelt nachgedacht, wie sie ökologische Krisenphänomene, auch Naturkatastrophen, wahrgenommen, schließlich auch, wie sie sich über den Platz der Spezies Mensch im Kosmos Rechenschaft gegeben haben. Besonders die Frage, ob es in der Antike auch so etwas wie ein „ökologisches Bewusstsein“ (Vögler 2000) gab, wurde in den letzten zwei Jahrzehnten in einer Reihe von Untersuchungen behandelt, nicht zuletzt in den wegweisenden Umweltgeschichten von Don Hughes (1994) und Lukas Thommen (2009). Diese Werke, so wichtig sie sind, bilden aber nur einen Teil der Forschungen ab, die ich im Folgenden behandeln will. Beginnen wir wiederum bei den Problemen: Der britische Ökologe Oliver Rackham, der u. a. auch zum Waldbestand in der Antike geforscht hat, sieht die Gefahr, dass ökologische Fragestellungen, bezogen auf die Geschichte, einer „Pseudo-Ökologie“ der Vergangenheit Vorschub leisten, etwa indem man Ökologie mit Umwelt verwechselt: to treat living creatures as part of the scenery of the theatre, rather than as actors in the play. Plants and animals are not generalized nature, not the passive recipients of whatever mankind chooses to inflict on them: they are thousands of individual species, each with its own behavior which has to be understood. (Rackham 1996: 17)

Dies ist sicher eine wichtige Beobachtung, der in der Praxis insofern sehr schwer zu folgen ist, als unsere Schriftquellen unweigerlich aus einer anthropozentri4 Meine Übersetzung: „that seek(s) multicausal explanations for human responses and social change“. 5 Ansätze und Überlegungen hierzu, die weiterführen als das, was ich an dieser Stelle präsentieren kann, finden sich etwa in dem von William Harris 2013 herausgegebenen Sammelband „The Ancient Mediterranean between Science and History“ oder auch in Kyle Harpers 2017 erschienener Monographie „The Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire“.

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schen Perspektive geschrieben sind. Aber seine einschränkenden Bemerkungen reichen tiefer, denn er kritisiert nicht nur eine Herangehensweise, die den Begriff „Ökologie“ als bloßes Label verwendet, ohne jedoch die nichtmenschliche Welt als integralen Bestandteil mit in die Betrachtung einzubeziehen, sondern macht deutlich, dass überhaupt anachronistische Rückschlüsse, geographische Übergeneralisierungen und eine Voreingenommenheit mit antiken Vorstellungswelten den Blick auf ökologische Verhältnisse in der Geschichte verstellen können: „The history of nature is not the same as the history of the things that people have said about nature“ (Rackham 1996: 17, Hervorhebung im Original). Wir sind also einerseits auf antike Texte und die Interpretationen der jeweiligen Umwelten angewiesen, die in ihnen aufscheinen, andererseits müssen wir uns stets derer eigenen Limitierung bewusst sein. Dies gilt umso mehr, als eine kulturhistorische Ökologie der Antike einen chronologischen Maßstab anlegt, der bis zu den frühesten Schriftzeugnissen der alten Welt zurückreicht, und indem sie über die symbolischen Wechselbeziehungen nachdenkt, die in kulturellen Texten zwischen Mensch und Natur abgebildet wird. Für die Art und Weise, wie Kulturen auf ihre jeweiligen Umwelten reagieren, auch für die Rolle, die die Kultur in der Evolution überhaupt für das „Sonderlebewesen“ Mensch hatte (Haber 2016), haben die Anthropologen Julian Steward (1955) und, in abgewandelter Form, Gregory Bateson (1972) den Begriff der „Kulturökologie“ geprägt. Damit ist Kultur als die besondere Nische angesprochen, die Menschen in der Geschichte ausgebildet haben und erscheint als symbolische Resonanzfläche, auf deren Basis nicht nur die jeweilige Interaktion mit der biophysikalischen Umwelt reflektiert wird, die also „ökologisches Wissen“ des Umwelthandelns hervorbringt, sondern die auch mögliche Weltentwürfe zulässt, ja sogar imaginierte Welten, die der Systemtheoretiker Peter Finke einmal als „internal landscapes of the mind“ (Finke 2006: 175) bezeichnet hat.6 Die Kulturökologie also solche wird zwar häufig nicht explizit durch Altertumswissenschaftler rezipiert, sie lässt sich aber gut mit gegenwärtigen Ansätzen zusammenbringen, die in Anlehnung etwa an die Kognitionswissenschaft die Rolle überdenken, die z. B. Mythen als kulturelle Transmitter von ökologischem Wissen haben, oder die kulturelle Narrative bei der Aneignung und Anverwandlung von naturräumlichen Landschaften in Erinnerungs- und Identifikationsorte spielen. Letzteren Aspekt hat etwa die britische Althistorikerin Esther Eidinow (2016) aufgegriffen, um über die Rolle nachzudenken, die Mythen (verstanden als bewusste Erzählungen, die erzählt und wiedererzählt werden) bei der Ausbildung von ökologischem Wissen und bei der Weitergabe dieses Wissens hatten. Sie zeigt, wie Narrative nicht nur die Möglichkeit bieten, abstrakte 6 Dazu auch Zapf (2017: 65), dessen eigener kulturökologischer Ansatz gegenwärtig breit rezipiert wird.

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Theorien über Umweltgegebenheiten in für breite Gesellschaftsschichten verständlicher Form wiederzugeben, sondern auch praktische Anweisungen zum Umgang mit der nichtmenschlichen Welt bereithalten. Auch die Althistorikerin Greta Hawes (2017: 1) hat in Anknüpfung an Kognitionsstudien argumentiert, dass „stories articulate a particular kind of conceptual map“ und das Erzählen von Geschichten sei eine „activity which is both precisely situated in, and contingent on, the environment“. Es ist kein Zufall, dass sowohl Eidinow als auch Hawes einen Hintergrund in der antiken Religionswissenschaft haben, wo die Bezüge zwischen Mythos und Natur, etwa von Seiten der Strukturalisten, schon lange diskutiert wurden.7 Es kann aber nicht darum gehen, der (sicher verklärenden) Vorstellung einer antiken Naturreligion nachzuhängen oder aber romantisierend zu implizieren, dass die antiken Menschen in Harmonie mit ihrer jeweiligen Umwelt lebten. Geschichten und Mythen wurden schließlich auch gebildet, um soziale Hierarchien, politische Macht- und Besitzansprüche sowie Formen der Gewalt zu legitimieren – und zwar sowohl auf Ebene der menschlichen Gesellschaft, als auch im Bezug des Menschen auf die Natur. Kulturökologische Ansätze in den Altertumswissenschaften können sicher dazu beitragen, sowohl die Art und Weise zu untersuchen, wie Mensch-Umwelt Beziehungen in der Antike sinnstiftend ausgeformt wurden, als auch welche deutende, vielleicht auch welche entlastende Funktionen Erzählungen und imaginative Welten hatten, wenn es darum ging, einen kulturellen Schutzraum vor den Gefahren und Unwägbarkeiten der Natur zu schaffen. Sie bieten auch die Möglichkeit, die Altertumswissenschaften stärker an die „Environmental Humanities“ anzubinden. Denn wenn man nach einem geschichtlichen Moment sucht, an dem kulturell gesehen ein „Anthropozän“ beginnt, dann muss man in die Vormoderne zurückgehen, vielleicht bis zu den frühesten Schriftquellen, um zu erkennen, an welchem Punkt der Geschichte und unter welchen Umständen der Mensch beginnt, sich seiner Sonderumwelt bewusst zu werden, welche Traditionslinien dieses Denken ausprägt und welche Implikationen es für uns heute noch hat.

Fallbeispiel: Herakles als hydrologischer Held Abschließend wollen wir uns einem Fallbeispiel zuwenden, um das Zusammenwirken zwischen den beiden Modi einer materiell und einer kulturell ausgerichteten historischen Ökologie der Antike zu betrachten. In der Regel greifen diese beiden Aspekte ineinander, wenn es darum geht, eine Umweltgeschichte 7 Vgl. allgemein dazu der anregende Sammelband von Scheer (2019).

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vergangener Zeiten zu erzählen. Am Beispiel des Herakles-Mythos soll kurz gezeigt werden, wie – jenseits bzw. in Verbindung mit quantitativem sowie dokumentarischem Material aus der Vergangenheit – auch mythologische Erzählungen als Quellen und als integraler Bestandteil einer ökologisch ausgerichteten historischen Forschung verstanden werden können. Herakles ist ein mythologischer Held, der sowohl in der griechischen als auch der römischen Kultur eine große Bedeutung hatte. Seine zu bewältigenden Aufgaben führten ihn in die entlegensten Winkel der antiken Mittelmeerwelt. Im Wettstreit mit anderen Menschen oder göttlichen Wesen rang er dabei nicht nur mit Monstern, sondern – was ein Grundcharakteristikum vieler seiner Abenteuer ist – auch mit Naturkräften und wilden Tieren. Ein Kernland seiner „Arbeiten“ war die Peloponnes (mit Elis, Arkadien und der Argolis als wichtigen Handlungsschauplätzen) und mehrere der Abenteuer, die er hier überstehen musste, hatten mit Wasser zu tun (Salowey 1994: 78–79): die Tötung der neunköpfigen Hydra, einer Wasserschlange, in den schwer zugänglichen Sümpfen bei Lerna; das Ausmisten der Ställe des Augias durch Umleitung der Flüsse Alpheios und Peneios; und schließlich die Vertreibung der sog. stymphalischen Vögel am See Stymphalos, die für Mensch und Tier in Arkadien eine Plage darstellten. Eine Reihe von Altertumswissenschaftlerinnen und Altertumswissenschaftler haben diese Aufgaben in den letzten Jahren als metaphorische, narrative Reflexion von realhistorischen wasserbaulichen Maßnahmen verstanden.8 Der „Kommunikationsraum“ des Herakles-Mythos verarbeitete demnach imaginativ „Naturerfahrungen und Umweltkenntnisse“ (Neff 2019: 264), die sich lokal im Norden der Peloponnes aufgrund der dort vorherrschenden Wasserökologie und dem Wissen, wie man mit ihr umgeht, ausgebildet hatten. Die Geschichte der von Herakles umgeleiteten Flüsse Alpheios und Peneios gibt einen erzählerischen Eindruck von großen Bauvorhaben, wie sie in der Bronzezeit in diesem Teil der Peloponnes wirklich umgesetzt wurden, und weist zugleich auf die reinigende Kraft des Wassers hin, das auch in kultischer Hinsicht eine große Bedeutung hatte, sowie auf die Erfahrung von Verschmutzung, die mit Viehhaltung einhergehen und umgekehrt wiederum Wasserquellen verderben konnte. Der Kampf gegen die Hydra mag, wie Unkel betont, eine Metapher für die Mühen sein, überhaupt eine Quelle zu fassen bzw. zu kontrollieren. „Dass jeweils zwei Köpfe nachwachsen, sobald dem Ungeheuer einer abgeschlagen wurde, erzählt auf unterhaltsame Weise von dem Versuch, einen Wasseraustritt mit einem Stein zu verschließen, bis sich das Wasser an zwei Seiten wieder Bahn bricht“ (Unkel 2020: 51). Die Hydra ist nach dieser Interpretation imaginative Manifestation des fluiden Umweltmediums Wasser und steht sinnbildlich auch 8 Zur Diskussion, die hier, der Anlage des Bandes entsprechend, einführend vorgestellt wird vgl. Knauss 1990; Salowey 1994; Schaus 2014; Neff 2019.

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für die „ökologischen Fallen“9, die mit dessen Nutzung und/oder seiner An-/ Abwesenheit zu tun haben können. Denn obgleich die Ressource Wasser wichtig für die Anlage größerer Siedlungen oder auch für die Landwirtschaft war, so konnte ein Zuviel an Wasser katastrophenartige Überflutungen hervorrufen, wie sie zuhauf in lokalen, aber auch panhellenischen Mythen thematisiert wurden. Der Kopaïs-See in Böotien war eine solche realhistorische bronzezeitliche Baumaßnahme, um einerseits die fluide Ressource Wasser aufzustauen und stetig nutzbar zu machen und um andererseits Überflutungen der Umgebung zu verhindern. Auch am stymphalischen See gab es Versuche, das Ufer langfristig bewohnbar zu machen, was allerdings durch die stetig wechselnde Seeausdehnung erschwert wurde. Der im Herakles-Mythos thematisierte Kampf gegen die dort ansässigen todbringenden Vögel „symbolisiert möglicherweise Krankheiten, wie sie in Sumpfgegenden vorkommen, und das menschliche Bestreben, dieser Plagen Herr zu werden“ (Unkel 2020: 51) – er gibt aber auch Einblick in ein ökologisches Charakteristikum der Gegend insgesamt, denn noch heute lassen sich dort jedes Jahr unzählige Zugvögel nieder. Der im Mythos vorgeführte Konflikt steht wiederum stellvertretend für Sekundäreffekte, die die menschliche Ressourcennutzung und ihre technologische Umsetzung mit sich bringen. Kulturökologisch gewendet, thematisieren diese Episoden des Herakles-Mythos dementsprechend die Komplexität und Widersprüchlichkeit der MenschNatur-Beziehung. Das Wasser ist eine lebensnotwendige, aber auch eine bedrohliche Ressource. Ihre technologische Nutzbarmachung bzw. Kontrolle hat essentielle Bedeutung für die Anlage größerer Siedlungsräume und für die Landwirtschaft. Allerdings brachte das Wasser als Ressource auch Probleme mit sich. Es entzog sich anthropogener Kontrolle, indem es nicht statisch an einem Ort gebunden werden konnte. Außerdem war es zugleich Lebensraum von Tieren, sodass der Umgang mit diesem lebensnotwendigen Element für den Menschen zugleich immer mit einer Fremderfahrung verbunden war. Im Mythos ist diese symbolisch in den übermenschlichen Wesen ausgedrückt, mit denen es Herakles zu tun bekommt. Dass ihm die Aufgabe zuteil wird, Probleme zu lösen, die mit dem Wasser assoziiert sind, weist auf den allgemeinen menschlichen Versuch hin, durch Technologie und anthropogene Steuerung Kontrolle über Naturkräfte zu erlangen. Herakles meistert sie und er steht stellvertretend als Kulturheld für die menschliche Fähigkeit, Großtaten zu vollbringen und selbst der Natur einen Willen aufzuzwingen – freilich um den Preis, dass die willentliche Steuerung und großflächige Nutzung einer Umweltressource ein Bündel an Problemen mit sich bringt, die das Leben in einer prekären Balance hält: sobald der Mensch die Kontrolle verliert, ist eine Katastrophe vorprogrammiert. Der Mythos will den 9 Zu diesem Konzept Haber 2007.

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menschlichen Machbarkeitsdrang nicht kritisieren oder einschränken, aber er eröffnet doch einen imaginativen Raum, in dem über die Wechselbeziehung zwischen menschlichen Handlungen und ihren Auswirkungen auf die physikalische Welt und der Biosphäre nachgedacht werden kann. Nicht zuletzt verdeutlicht der Mythos auch die Handlungsmacht, die der Natur – jenseits des menschlichen Einflusses – zu eigen ist. Dass menschliche Interessen nicht immer im Einklang mit der Natur und ihren Gesetzen waren, wusste auch Pausanias, ein Reiseschriftsteller der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr., der Stymphalos besuchte. Bei der Beschreibung der lokalen Wasserökologie, die, wie Pausanias berichtete, jahreszeitenabhängig war, wies er mehrfach auf die Dynamik hin, durch die die Landschaft geprägt war (Paus. 8,22,3). Der See speiste sich aus einer Reihe von Karstquellen und floss über eine Katavothre im Süden ab; zusätzlich regulierte ein römisches Aquädukt, das unter Hadrian gebaut worden war und die Polis Korinth versorgte, den Wasserpegel – allerdings konnten dadurch keine Überschwemmungen verhindert werden. Pausanias berichtet für seine eigene Zeit davon, dass die Katavothre verstopfte, sodass der See rapide anstieg und die Ebene ringsum überflutete (Paus. 8,22,8). Als Grund gibt er allerdings keine natürlichen Prozesse an, sondern die Vernachlässigung lokaler Kulte durch die ansässige Bevölkerung. Sie hätte diese Kulte für die stymphalische Artemis vernachlässigt, die vermutlich stark mit naturräumlichen Begebenheiten wie Marschen, Bergen, Flora und Fauna assoziiert war. Dass die stymphalischen Vögel am Dach der Tempel der Artemis dargestellt waren, weist sie in der Interpretation einiger Forscher als Schutzgottheit der Feuchtbiotope rund um den See aus. Wie Neff bemerkt, „stand (dies) den Interessen der stymphalischen Bevölkerung diametral entgegen, die darauf bedacht sein mussten, eben dieses Land zu kultivieren und landwirtschaftlich nutzbar zu machen“ (Neff 2019: 262). Erst als ein Jäger einen Hirsch in den See hineingetrieben hatte und dieser, wie durch ein Wunder, die verstopfte Katavothre freimachte, hätte die Überschwemmung aufgehört und die Menschen hätten Artemis beschwichtigende Opfer dargebracht (Paus. 8,22,9).10 Diese Episode greift erneut die Widersprüchlichkeit auf, durch die die Mensch-Umwelt-Beziehungen charakterisiert waren und zeigt zugleich, dass die pagane griechische Religion einen Reflexionsraum bot, um über ökologische Wechselbeziehungen nachzudenken. Zentral dafür war die Narration des Mythos, die diese ökologischen Rückkopplungseffekte zwischen Mensch und Natur

10 Für eine neue Untersuchung zum Bild des Stymphalos und der lokalen Bevölkerung in der antiken Literatur Hoffmann 2020.

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höchst symbolhaft auflud.11 In der kultischen Praxis, wie sie etwa am ArtemisHeiligtum gepflegt wurde, fand diese symbolische Ebene ihre soziale Fortsetzung, da sie für die Gemeinschaft an sich essentiell war, deren Überleben u. a. von der gelungenen Kommunikation mit der nicht-menschlichen Welt der Götter und der mit ihnen jeweils assoziierten Naturkräfte abhing. War diese nicht gegeben oder einseitig gestört, kam es dementsprechend zu Problemen, die sich in der Lebenswelt durch reale, v. a. materielle Effekte zeigten. Die Religion war das Feld, auf dem antike Gesellschaften am ehesten Ideen des Umweltschutzes entwickelten, obgleich sich daraus nie ein voll entwickeltes Bewusstsein oder gar Programm ableitete – es handelte sich vielmehr um lokale Maßnahmen, die darin bestehen konnten, dass man die Kultbezirke einer Gottheit, Wasserquellen oder auch Haine bzw. Wälder besonders schützte.12 Dass mythologische Narrative materielle Umweltgegebenheiten aufnahmen und Wissen über das Land und seine ökologischen Charakteristika tradieren konnten, zeigen auch andere Notizen bei Pausanias, wie etwa über die Ebene von Pheneos nicht unweit des Stymphalos. Pausanias berichtet von einer großen Überschwemmung, die die Ebene einst überflutete sowie von ebenso gewaltigen Katavothren, die das Wasser wieder abgeleitet haben sollen (Paus. 8,14,1). Wie der Perieget von der lokalen Bevölkerung erfuhr, habe Herakles diese Gräben und Kanäle angelegt (Paus. 8,14,2; dazu Knaus 1990: 5–6), um die Ebene künftig vor solchen Katastrophen zu bewahren. Wiederum spiegelt sich hier nicht nur die Erinnerung an eine auch archäologisch nachweisbare Naturkatastrophe, sondern auch an menschliche Versuche, die Wasserökologie in den Griff zu bekommen. Außerdem stehen die Katavothren sinnbildlich für ein Charakteristikum der Karstlandschaft, die in Arkadien ein ganzes System aus Schlucklöchern und unterirdischen Wasserläufen entstehen ließ; letzteres Phänomen wurde wiederholt in den antiken Quellen behandelt und zwar nicht nur in mythologischen Narrativen, sondern auch in naturphilosophischen Texten (Aristot. meteor. 1.350b–351a; allgemein Baleriaux 2016). Diese Überlegungen, die auf der textuellen Überlieferung sowie materiellen, v. a. baulichen Überresten, beruhen, können seit kurzem auch mit anderen paläoklimatologischen sowie archäohydrologischen Daten in Verbindung gebracht werden (Weiberg et al. 2016). Die Archäohydrologie „untersucht Wasser im archäologischen Kontext und sucht nach Zusammenhängen zwischen Wasserdargebot, den natürlichen hydrologischen und ökologischen Bedingungen und der sozio-kulturellen Entwicklung von Menschen in der Vergangenheit“ (Unkel 2020: 44). Sie ist ein vergleichsweise junges Forschungsfeld, das hydrologische 11 Vgl. für allgemeine Überlegungen zum ‚ökologischen‘ Aspekt von Mythos und Kult Schliephake 2020b. 12 Vgl. für weiterführende Überlegungen Chiai (2017).

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Niederschlagskarten u. a. in Abgleich mit archäologischen Fundplätzen untersucht. Für die Peloponnes zeigt sich, dass die kulturelle Blütephase der Späten Bronzezeit überwiegend trocken war; dass aber einige der größten urbanen Zentren der Epoche ausgerechnet im trockensten Teil der Peloponnes, der Argolis, lagen. Dies bedeutet, dass die sog. mykenische Kultur sehr gut an das semiaride Klima angepasst war, was auch mit den oben angesprochenen hydrologischen Bauwerken und Eingriffen zu tun hat, und was andererseits auch an der Geologie der nördlichen Peloponnes liegt. Denn die vergleichsweise reichen Niederschläge, die beispielsweise in den hohen Bergen rund um den Stymphalischen See oder die Ebene von Pheneos fallen, werden über die genannten Schlucklöcher unterirdisch abtransportiert und treten als Quellen in der Argolis wieder hervor. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen erweitern damit unser Bild, das wir von der Wasserökologie vergangener Zeiten haben. Sie helfen zugleich deutlich zu machen, dass die Mythen – obgleich sie sicher kein ökologisches Wissen im modernen Wortsinn verkörperten – doch Einsichten in die komplexen Zusammenhänge zwischen natürlicher Geographie, menschlicher Ressourcennutzung und soziokulturellen Dynamiken bereithielten. Sie mögen auch kulturelles Substrat einer Katastrophe sein, die um 1200 v. Chr. zum Untergang der mykenischen Kultur geführt hat. Denn dass eine von einem Klimaereignis ausgedehnte Trockenheitsperiode großskalige soziale Veränderungsprozesse und den Niedergang der großen Palastsysteme zumindest beeinflusst hat, wird nun auf Basis paläoklimatologischer Datensätze vermehrt diskutiert (Weiss 2017). Dies ist nicht der Ort, um diese Diskussion, die noch weiterer v. a. naturwissenschaftlicher Untersuchungen bedarf, weiterzuführen, es soll aber abschließend festgehalten werden, dass eine Umweltgeschichte vergangener Zeiten multiperspektivisch zu erzählen ist. Zumindest für die Antike ist hier noch lange nicht alles gesagt.

Coda Zum Schluss seien einige Punkte genannt, die zukünftig die Rolle der Antike innerhalb der „Environmental Humanities“ stärker hervorkehren können: Erstens ist die Antike ein Bereich der Forschung – das oben genannte Beispiel zeigt es –, innerhalb dessen sich der Anspruch inter- bzw. transdisziplinären Arbeitens gut einlösen lässt. Eine historische Ökologie der Antike arbeitet mit mehreren klein-, aber auch großskaligen Perspektiven, die sowohl überregionale Langzeitverläufe als auch Mikroökologien mit in die Betrachtung einschließen. Dies ist eine Herausforderung, die momentan allgemein die Beschäftigung mit Themen der Umwelt – auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht – mit sich bringt. Die

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Antike eignet sich dementsprechend als ein Untersuchungsfeld, auf dem sich in theoretischer, aber auch methodologischer Hinsicht neue Zugänge entwickeln lassen. Zweitens wäre es notwendig, stärker die Rolle in den Blick zu nehmen, die die Antike und hier v. a. die antike Kulturgeschichte, im Bereich der Beschäftigung mit Themen wie Umwelt und Natur nach wie vor spielt. Denn viele der Denkfiguren, die auch in der Moderne menschliche Zugänge zur natürlichen Lebenswelt symbolisch ausdrücken – man denke an die Erdgottheit „Gaia“, die in den Theoremen Lovelocks (1979) und Latours (2017) eine große Bedeutung hat –, die „Elemente“-Lehre als motivischer Bezugsrahmen in Philosophie und Lyrik (Macauley 2010), an die Vorstellung von „Metamorphosen“ und ihre Renaissance in Form des Posthumanismus oder auch an das breite Spektrum pastoraler Idyllen, die in vielen Bereichen anzutreffen sind – vom nature writing bis hin zur Anlage von Gärten oder ganzen Naturschutzgebieten. Diese Beispiele zeigen, dass es jenseits sozio-ökonomischer und materieller Aspekte von ‚Nachhaltigkeit‘ auch solche kultureller Art gibt, beispielsweise im Fortbestehen der antiken Tradition.13 Die „Environmental Humanities“ sollten sich stärker als bislang dieser Langzeitperspektive bewusst werden – auch um das „Anthropozän“ nicht einseitig von einer technik-wissenschaftlichen und empirischen Sichtweise her zu denken, sondern um es in seiner kulturellen Tiefendimension wahrzunehmen. Dies bedeutet keinesfalls eine Rückkehr zum Anthropozentrismus, sondern könnte Wegbereiter eines neuen Humanismus sein (Iovino 2010), der auch antike Wissensbestände mit integrieren kann, die in vielfältiger Hinsicht der „mehr-als-menschlichen Welt“ (Abram 1996) eine Stimme verliehen haben.

Literatur Abram D. (1996): The Spell of the Sensuous: Perception and Language in a More-ThanHuman World. New York: Vintage. Baleriaux J. (2016): Diving Underground: Giving Meaning to Subterranean Rivers. In: Hawes G. (Hg.): Myths on the Map: The Storied Landscapes of Ancient Greece. Oxford: Oxford University Press, 103–121. Bateson G. (2000 [1972]): Steps to an Ecology of Mind. Chicago: University of Chicago Press. Böschen S., Reller A., Soentgen J. (2004): Stoffgeschichten – Eine Neue Perspektive für Transdisziplinäre Umweltforschung. In: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society 13(1), 19–25.

13 Zu „Nachhaltigkeit“ in der Antike vgl. den Sammelband von Schliephake et al. (2020).

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Ästhetisierung des ökonomischen Blicks. Alpine Landschaft und Naturwahrnehmung in Publikationen der Oekonomischen Gesellschaft Bern

„La Culture des Terres est le Nerf principal de tout Etat, la Source & le grand Soutien de la Population, le vrai Principe de la Puissance des Nations, & le fondement des Richesses les plus solides“ (O. A. 1759:89). Mit diesen Worten verkündete die Oekonomische Gesellschaft Bern (OeG Bern) im „Journal Helvétique“ ihre Gründung im Januar 1759. Ziel dieser aufklärerischen Sozietät war die Entwicklung, Diskussion und Verbreitung von innovativen (land)wirtschaftlichen Reformprojekten (Holenstein et al. 2007; Stuber et al. 2009). Sie ist damit Teil einer umfassenderen Entwicklung eines zunehmenden Interesses breiter Bevölkerungsschichten – einschließlich der Eliten – an der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Béaur 1997; Lacour 2014; Shovlin 2006:51– 56). Zum Bild aufgeklärter Herrscher, sei es Friedrich II. von Preußen oder Kaiser Joseph II., gehörte eine ostentative Zurschaustellung der Bemühungen um das Gemeinwohl, was die gesicherte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln einschloss (Richter 2015). Die Forschung hat diese Hinwendung zur Landwirtschaft vor dem Hintergrund wachstumsorientierter und vernunftbasierter Maximen als Ökonomische Aufklärung (Popplow 2010) oder Agricultural Enlightenment (Jones 2016) perspektiviert. Kennzeichnend für die Bewegung ist laut Marcus Popplow insbesondere die „zentrale diskursive Figur […] einer möglichst umfassenden Nutzung der natürlichen Ressourcen eines Territoriums“ (Popplow 2010:3). Reformgesellschaften wie die in Bern trugen demnach mit ihren Bemühungen um einen nutzenorientierten, rationalen Zugriff auf die Natur zur Entwicklung eines technisch-ökonomischen Blicks bei (Bayerl 1994:29). Folgt man diesem Ansatz, wurde Natur von den Akteuren der Ökonomischen Aufklärung primär im Hinblick auf ihre Nutzbarkeit für das ökonomische Wohlergehen des Menschen eingeordnet. Parallel zu dieser Entwicklung fand auf literarischer Ebene eine Ästhetisierung alpiner Landschaften statt. Insbesondere die Schweizer Bergwelt wurde durch Albrecht von Hallers Gedicht „Die Alpen“ und Jean-Jacques Rousseaus Briefroman „La Nouvelle Héloïse“ zum idealisierten Hort unverfälschten und

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tugendhaften Lebens (Mathieu 2005:71). Zudem kreisten zeitgenössische Ästhetik-Debatten unter anderem um die Schönheit und Erhabenheit der Bergwelt. Landschaft als wahrgenommene, durch Interaktion von Mensch und Natur geprägte räumliche Einheit wurde zu einem mit bestimmten Empfindungen verbundenen Ort, wobei alpine Landschaften der Schweiz in besonderem Maße ästhetisiert und emotionalisiert wurden (Mathieu 2016:13; Reichler 2016:124– 125). Die Umdeutung der vormals schrecklichen und menschenfeindlichen Bergwelt blieb jedoch nicht auf die belletristische Literatur beschränkt. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Ästhetisierung der Bergwelt und ihrer Bewohner die ökonomische Perspektivierung der Natur, wie sie in den Schriften ökonomischer Aufklärer nachzuvollziehen ist, beeinflusste. Die OeG Bern griff nicht nur auf eine sachlich-nüchterne Argumentation zurück, um ihre Reformprojekte zu propagieren, sondern integrierte ästhetisierende Motive der Naturbetrachtung. Umgekehrt enthielten auch literarische Landschaftsbeschreibungen Verweise auf ökonomische Interessenlagen. Ökonomische und ästhetische Perspektiven auf alpine Landschaft in der Republik Bern wurden also nicht in strikt trennbaren spezialisierten Diskursen, sondern interdiskursiv (Link 1988) und intermedial (Emich 2008) verhandelt. Die folgenden Überlegungen sind also der These einer reziproken Beeinflussung ökonomischer, naturforschender und ästhetischer Perspektiven auf die Schweizer Alpen gewidmet. Neben diesen Verflechtungen sind indes auch Inkonsistenzen der jeweiligen Diskurse zu beleuchten: die Idealisierung der unberührten Natur war argumentativ nicht ohne Weiteres mit der Propagierung eines verstärkten Eingreifens des Menschen zu vereinbaren. Im Folgenden sollen diese Widersprüche ebenso wie interdiskursive Argumentationslinien der Alpenwahrnehmung in vier Schritten analysiert werden: Auf eine Darstellung der Charakteristika der Ökonomischen Aufklärung in Bern sowie der Kontexte des Wirkens der Berner Reformgesellschaft folgt eine Untersuchung von Konzeptionen von Natur in deren periodischen Schriften. Abschließend soll am Beispiel zweier prominenter Mitglieder der Gesellschaft, Albrecht von Haller und Gottlieb Sigmund Gruner, sowie ihrer literarischen und naturkundlichen bzw. ökonomischen Werke die Möglichkeit der Konvergenz beider Perspektiven verdeutlicht werden.

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Ökonomische Aufklärung, Natur und Landschaft in der Republik Bern Die ökonomisch-patriotischen Gesellschaften, die sich – nach früheren Vorbildern in Großbritannien, Irland und Frankreich – in den 1760er Jahren europaweit formierten, nutzten das Modell aufklärerischer Soziabilität für die Entwicklung wirtschaftlicher Reformprojekte, um so zu einer Steigerung der Erträge beizutragen (Popplow 2010; Schlögl 1993; Stapelbroek, Marjanen 2012). Ihre Initiativen betrafen nicht allein die Landwirtschaft, sondern auch das Gewerbe und soziale Fragestellungen, stellten jedoch – vor dem Hintergrund der Versorgungskrisen des Siebenjährigen Kriegs – die agrarische Produktion in den Mittelpunkt. Typische Innovationsprojekte dieser Zeit betrafen beispielsweise die Abschaffung von Allmenden, also Gemeinweiden, die Einführung der Stallfütterung und den Anbau stickstoffbindender Pflanzen wie Klee oder Esparsette zur Düngung der Felder. Der Begriff der „Ökonomie“ ist dabei nicht im modernen Sinne zu verstehen, sondern schließt an die aristotelische Vorstellung des Hauswirtschaftens an, wie sie auch in der Hausväterliteratur seit dem 17. Jahrhundert propagiert wurde. Die Idee des vernünftigen Haushaltens nach moralischen Prinzipien wurde dabei vom Einzelhaushalt auf das gesamte Territorium übertragen und mit Vorstellungen von Wachstum und Regulation durch Marktmechanismen verknüpft (Foucault 1994:641–642; Simon 2004:25–26). Als sich Anfang 1759 Berner Patrizier in der Oekonomischen Gesellschaft zusammenfanden, stellten sie die sicherzustellende Versorgung des Berner Vaterlands in den Mittelpunkt und versuchten, bei breiten Bevölkerungskreisen die „lust zur landwirtschaft“ (Tscharner 1762a:I) zu erwecken. Die Berner Gesellschaft wurde europaweit beachtet und recht bald zum Vorbild für ähnliche Reformgesellschaften insbesondere im deutschen Sprachraum. Als einer der Gründe hierfür kann die breite und medial vielfältige Publikationstätigkeit der Berner angeführt werden, die ihre Erkenntnisse nicht nur mehrsprachig in Journalen verbreiteten, sondern mit Beiträgen in Volkskalendern auch aktiv die Popularisierung ihrer Reformprojekte betrieben (Stuber 2010: 145–146). In besonderem Maße relevant für die Außenwirkung der Gesellschaft waren die „Abhandlungen und Beobachtungen“, ein ab 1760 bis zu viermal jährlich erscheinendes deutsch- und französischsprachiges Journal.1 Darüber hinaus nutzte die Gesellschaft unterschiedlichste Medientypen wie Flugschriften und Volkskalender zur Vermittlung ihrer Initiativen, zudem entstanden in ihrem Umfeld 1 Das Journal wurde zwischen 1760 und 1773 fast ausnahmslos zweisprachig publiziert, erschien also in einer deutschsprachigen („Abhandlungen und Beobachtungen“) und einer französischsprachigen Ausgabe („Mémoires et observations“). Dies erforderte die Übersetzung fast aller Texte in die jeweils andere Sprache.

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zahlreiche weitere Publikationen. Die OeG Bern fungierte somit als vermittelnde Instanz im Wissenstransfer im deutsch-französischen Grenzraum (Stuber 2012). Zahlreiche Mitglieder der OeG Bern waren neben ihrem agrarreformerischen Engagement auch mit Ämtern in der Verwaltung der Berner Republik betraut. Im ausgehenden Ancien Régime war die Republik Bern durch starke Aristokratisierungstendenzen gekennzeichnet – für junge Patrizier mit Ambitionen auf eine Ämterlaufbahn bot das gemeinwohlorientierte Engagement der Oekonomischen Gesellschaft eine willkommene Gelegenheit, ostentativ einen patriotischen Beitrag zu leisten (Braun 2008). Die zunehmend exklusive Praxis politischer Partizipation und starke soziale und räumliche Hierarchien (zwischen der Stadt Bern und den ländlichen Gebieten des Kantons) kontrastierten dabei bis zu einem gewissen Grad mit zeitgenössischen Republikanismusdiskursen. In Beschreibungen der Berner Republik verbanden sich von der antiken Tugendlehre geprägte republikanische Ideale mit positiven Vorstellungen eines Naturzustands, wie Rousseau sie entwickelt hatte. Lokalisiert wurde die ideale Gesellschaft in den Schweizer Alpen: sie wurde als Ort des tugendhaften einfältigen Lebens der dekadenten französischen Hofkultur gegenübergestellt (Maissen 2011; Zurbuchen 2003: 72–75, 89).

Ästhetik der Ökonomie in den „Abhandlungen und Beobachtungen“ der OeG Bern Kennzeichnend für die ökonomisch-patriotischen Gesellschaften war, wie bereits angedeutet, ihr Anliegen, die natürlichen Ressourcen von Territorien möglichst umfassend zu nutzen und nach rationalen Prinzipien zu gestalten. Die Wahrnehmung von Natur als einer durch den Menschen nutzbaren und gestaltbaren Ressource war grundlegend für die reformerische Aktivität der Berner Aufklärer. Zentrale Schlagworte in den Publikationen der OeG Bern sind demnach im Deutschen die „Verbesserung“ der Landschaft, die bessere „Einrichtung“ oder „Ordnung“ der Natur, der „blühende Zustand“ oder das „Aufnehmen“ eines Wirtschaftszweigs. Im Französischen entspricht diesen Schlagworten beispielsweise „faire fleurir“ oder „perfectionnement“. Sie brachten das Selbstverständnis der Berner Agrarreformer zum Ausdruck, die vorgefundenen natürlichen Verhältnisse zu optimieren (Kolb, Schilling 2020). Die Einordnung der Natur als perfektionierbar – wenn nicht sogar perfektionierungsbedürftig – findet sich in mehreren Texten der „Abhandlungen und Beobachtungen“2. Ab den 1750er Jahren wurde die Möglichkeit bzw. Notwen2 „Abhandlungen und Beobachtungen“ steht in der Folge sowohl für die deutsch- als auch die französischsprachige Ausgabe des Journals. Untersucht wurden die 14 zweisprachig erschei-

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digkeit der Perfektibilität des Menschen, angestoßen von Rousseau, intensiv verhandelt und auf andere Bereiche übertragen (Rohbeck 2018:117). Die Vorstellung einer perfektiblen Natur wird innerhalb der „Abhandlungen und Beobachtungen“ in programmatischen Schriften, wie dem „Entwurf der vornehmsten Gegenstände der Untersuchungen“ von Vincenz Bernhard Tscharner, besonders deutlich formuliert: „Das erste hauptstük, wird die topographische beschreibung des Landes, in betrachtung seiner oberfläche, zum entzwecke haben. (…) Das vierte, den Feldbau, oder die kunst der natur zu helfen, ihre früchte in dem nützlichsten verhältnisse zu vermehren.“ (Tscharner 1762b:4)

Natur ist in diesem Verständnis optimierbar; erst durch das maßvoll steuernde Eingreifen des Menschen kann ihr voller Reichtum ausgeschöpft werden. Die Schweiz im Allgemeinen und die Republik Bern im Besonderen wurde dabei als in hohem Maße von der alpinen Landschaft geprägt dargestellt. Dies gilt für Fremd- wie für Selbstwahrnehmungen. Auch die OeG Bern verortete sich in Bezug auf die Berge, wie folgender Auszug aus derselben Schrift zeigt: „Es werden kaum irgendwo so viele, so manichfaltige und nützliche, gegenstände der naturhistorie, dieser so wichtigen und heut zu tage so beliebten wissenschaft, angetroffen, wie in unserm Vaterlande. Die Schweiz überhaupt stellt uns ein grosses thal, von abwechslender breite, fruchtbarkeit und pflanzung, zwischen zwoen reihen von gebirgen, von ganz verschiedener natur, den Alpen und dem Jurassus, vor.“ (Tscharner 1762b:7)

Eines der vorrangigen Ziele der Gesellschaft war es, die sehr unterschiedlichen naturräumlichen Gegebenheiten der Berner Republik, vom hügeligen Mittelland bis zu steilen Bergwiesen, und die Möglichkeiten ihrer landwirtschaftlichen Nutzung zu erfassen. Zu diesem Zweck wurden topographische Beschreibungen der einzelnen Landesteile als probates Mittel angesehen (Gerber-Visser 2012). Dass im Kanton Bern eine umfassende topographische Erschließung des Landes alpine Naturräume und entsprechende Wirtschaftsformen einschloss, unterschied die Berner Gesellschaft von ökonomisch-patriotischen Sozietäten anderer Territorien. Im Programm der OeG Bern wird die alpine Landschaft an prominenter Stelle mit Leitfragen bedacht: „Welcher richtung folgen in diesem bezirke die Berge, die Hügel und die Thäler? In welchem verhältnisse stehen ihre ungleichen anhöhen? Wie stark ist der abhang dieser anhöhen? sind sie zu einigem anbaue oder zu einiger pflanzung geschickt? Sind sie mit Wäldern bewachsen? ist der hau des holzes leicht, und die abfuhr bequem?“ (Tscharner 1762b:5) nenden Jahrgänge zwischen 1760 und 1773, also einschließlich der mit abweichendem Titel publizierten ersten beiden Jahrgänge 1760 und 1761.

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Der Forderung nach detaillierten topographischen Beschreibungen kamen zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft sowie externe Autoren nach. Im Journal der Gesellschaft wurden in erster Linie Berichte zu Bezirken des Mittellands, in denen vorwiegend Getreide, aber auch Wein oder Flachs angebaut wurde, veröffentlicht. Daneben gibt es aber auch Darstellungen, die Landesteilen in alpinen Regionen gewidmet sind, wie beispielsweise die „Beschreibung des Haßle-Lands im Canton Bern“ (Sprüngli 1760, 1762), das heute unter dem Namen Oberhasli bekannt ist und im Berner Oberland liegt.3 Die Beschreibung beginnt mit der Erläuterung landschaftlicher Merkmale: „Das Haßle-Land ist eine der merkwürdigsten Gegenden im Canton Bern; (…) Das äusserliche Ansehen des ganzen Thals ist rauh und wild. Die allerhöchsten Gebirge Schweitzerlands schliessen dasselbe nach der Länge auf beyden Seite ein; ja die allergrösten Gletscher haben in diesen Gegenden ihre Residenz aufgeschlagen.“ (Sprüngli 1760:859–860)

Damit bedient die Beschreibung des Haslitals Stereotype der Alpenwahrnehmung, wie sie bis weit ins 18. Jahrhundert gängig waren (und teilweise bis heute noch sind). Die Wildheit und der Schrecken der Landschaft einerseits, die Personifikation alpiner Landschaftselemente andererseits waren bereits bei humanistischen Autoren beliebte Motive der Beschreibung der Bergwelt und wurden im 18. Jahrhundert weiterhin aufgerufen (Mathieu 2017). Abgesehen von den topographischen Beschreibungen wurde die Alpwirtschaft in den „Abhandlungen und Beobachtungen“ in weiteren Schriften thematisiert. Für das Jahr 1770 schrieb die Gesellschaft eine Preisfrage zum „Zustand der Berg- und Alpen-Oekonomie und der ihr anhängenden Sennerey, in den verschiedenen Gegenden des Kantons“ aus. In der gekrönten Preisschrift werden zunächst die verschiedenen Typen der Alpwirtschaft sowie die jeweils üblichen Praktiken beschrieben, um in einem zweiten Schritt Vorschläge zu einer besseren Einrichtung der Alpen zu erarbeiten. Diese betreffen beispielsweise die angemessene Bewässerung der Weiden oder die Häufigkeit des Melkens der Kühe, um den jeweiligen Ertrag zu steigern. Zudem stellt der Autor Überlegungen darüber an, wie wohl die Löcher in den Käse kämen (Dik 1771). Das Augenmerk der Berner Aufklärer richtete sich also nicht nur auf die Intensivierung der agrarischen Produktion rund um die Stadt Bern und am Genfer See; sie bemühten sich ebenso um die Optimierung der Alpwirtschaft. Berghänge eigneten sich in ihren Überlegungen für die Holzwirtschaft, da eine 3 Sprünglis Beschreibung des Haßle-Lands wurde über zwei Jahrgänge hinweg publiziert. Stuber und Gerber-Visser listen in ihrer Untersuchung weitere von der Gesellschaft veranlasste Topographische Beschreibungen des Berner Oberlandes auf, das auf diese Weise fast vollständig erfasst wurde (Gerber-Visser, Stuber 2009:69). Diese Beschreibungen wurden jedoch nicht in den „Abhandlungen und Beobachtungen“ publiziert.

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gesicherte Versorgung mit Holz – als Energielieferant und Baumaterial – im hölzernen Zeitalter von höchster Bedeutung für die Territorien war (Stuber 2008:24–25). Die Viehhaltung auf Bergweiden war indes eine Nutzungsmöglichkeit alpiner Gebiete, die in besonderem Maße für die Konstruktion einer nationalen schweizerischen Identität von Bedeutung war. Die Schweiz war bereits in der Frühen Neuzeit bekannt für ihre Viehherden und Hirtenkultur, „Kuhschweizer“ ein gängiges Schimpfwort (Sieber-Lehmann et al. 1998). Auf Alpen wurde im Sommer das Vieh geweidet und Käse produziert. Hartkäse war als haltbares Produkt ein Exportartikel der Schweiz und die Alpwirtschaft zwar nicht die wichtigste, in der Fremdwahrnehmung jedoch eine emblematische Wirtschaftsform. Die Zuschreibung einer besonders naturnahen und unverfälschten Lebensweise der Hirten spielte für das Bild der Schweiz eine zentrale Rolle. Es ist durchaus anzunehmen, dass diese Folie in gewissem Rahmen auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung der OeG Bern hatte und ihr zu einem Glaubwürdigkeitsvorschuss in landwirtschaftlichen Fragen verhalf.

Albrecht von Haller: Poesie und Patriotismus Topographische Beschreibungen wie die zum Haslital integrierten ökonomische, naturforschende und ästhetische Elemente. Beliebt waren Referenzen auf Johann Jakob Scheuchzer und seine „Naturgeschichte des Schweitzer-Landes“ – insbesondere aber auf den Berner Magistrat, Naturforscher und Dichter Albrecht von Haller: Gleich zu Beginn der topographischen Beschreibung des Haslitals wird sein Gedicht „Die Alpen“ von 1732 zitiert: „Allein der Himmel hat diß Land noch mehr geliebet/ Wo nichts/ was nöhtig/ fehlt/ und nur was nuzet/ blüht. Der Berge ewig Eiß/ der Felsen steile Wände/ Sind selbst zum Nuzen da/ und tränken das Gelände.“ (Haller 1732:16)

In diesen Versen wird besonders deutlich, wie eng Schönheit und Nützlichkeit in der idealisierten Darstellung der Berner Bergwelt beieinanderlagen. Haller, der aus Bern stammende Arzt und Naturforscher, hatte 1729 eine Reise durch die schweizerischen Alpen unternommen, die in erster Linie seinen botanischen Studien diente, die er aber auch als Inspiration für sein Gedicht heranzog. „Die Alpen“ wurde ab der Jahrhundertmitte intensiv rezipiert und beförderte zusammen mit Rousseaus „La Nouvelle Héloïse“ die zunehmende Alpen- und Schweizerbegeisterung der europäischen Eliten. Diese literarische Entdeckung der Alpen ging Hand in Hand mit ihrer Neuperspektivierung in der bildenden Kunst. Maler wie Johann Ludwig Aberli trugen zur Ikonisierung bestimmter

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schweizerischer Landschaften (beispielweise des Lauterbrunnentals mit dem Staubbachfall) bei (Reichler 2016:124). Zwar ist die lange Zeit dominierende Deutung, dass erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Berge als schön empfunden und infolgedessen als Reiseziel entdeckt wurden, zu kurz gegriffen. Die Alpen wurden auch im 16. und 17. Jahrhundert nicht durchweg als lebensfeindlicher und abschreckender Naturraum beschrieben. Dennoch kann für das 18. Jahrhundert ein Wandel der Wahrnehmung konstatiert werden, der die Erhabenheit und Einfachheit der Bergwelt in den Vordergrund rückte und eine deutliche Zunahme von Reisen in die Schweiz zur Folge hatte (Mathieu 2005:69). Dies fand auch in zahlreichen Reiseberichten zur Schweiz Ausdruck. Bei Reisen in die Schweiz und bei Betrachtung der alpinen Landschaft war Hallers Gedicht eine der schier unumgänglichen Referenzen, seine kanonischen Verse prägten die subjektive Landschaftserfahrung (Hentschel 2002:21–22). Neben der erhabenen Bergwelt steht bei Haller die Beschreibung der alpinen Bevölkerung im Mittelpunkt. Das einfache und naturverbundene Hirtenleben wird als der erstrebenswerte Kontrast zum höfischen oder urbanen Leben inszeniert. Die arkadische Alpenlandschaft und ihre Bewohner dienten Haller als Projektionsfläche für seine Zivilisationskritik: „Was hat ein Fürst bevor/ das einem Schäffer fehlet? Der Scepter ekelt ihm/ wie dem sein Hirten-Stab; Weh ihm/ wann ihn der Geitz/ wann ihn die Ehrsucht quälet. […] Beglükte güldne Zeit/ du Erstgeburt der Jahren/ O daß der Himmel dich so zeitig weggerükt! […] Ihr Schüler der Natur! gebohrn’ und wahre Weisen! Die ihr auf Schweizer-Lands beschneyten Mauren wacht/ Ihr/ und nur ihr allein kennt keine Zeit von Eisen/ Weil Tugend Müh zur Lust/ und Armutt glüklich macht;“ (Haller 1732:1–2)

Durch die Indienstnahme bukolischer Topoi schuf Haller eine einprägsame Kontrastfolie. Die Wahrnehmung der Schweizer Alpen als Hort republikanischer Tugenden und einer natürlichen Lebensweise war in der Folgezeit weit verbreitet, auch Rousseau nutzte das einfache Hirtenleben als plastische Untermauerung seiner Kritik an der dekadenten französischen Hofkultur. Diese pastorale, idyllische Dimension von Hallers Gedicht ist bereits gut erforscht (Achermann 2008:133–134). Weniger im Fokus standen dagegen bislang Passagen, die eine ökonomisch motivierte Naturbetrachtung integrieren. Eine in erster Linie nutzungsorientiere Perspektive wird in mehreren Versen zu den Berner Salzwerken bei Bex im Waadtland besonders deutlich: „Dort aber, wo im Schaum der Strudel-reichen Wellen Der schnelle Avançon gestürzte Wälder welzt/ Rinnt der Gebürgen Grufft mit unterirrd’schen Quellen/

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Wovon der scharffe Schweiß das Salz der Felsen schmelzt. Des Berges holer Bauch, gewölbt mit Alabaster Schließt zwar dieß kleine Meer in tieffe Schachten ein; Allein sein ezend Naß zermalmt das Marmor-Pflaster/ Dringt durch der Klippen Fug/ und eilt gebraucht zu seyn. Die Würze der Natur/ der Ländern reichster Segen/ Beut selbst dem Volk sich an/ und strömet uns entgegen.“ (Haller 1732:22)

Die Gewinnung von Salz war im 18. Jahrhundert nicht eindeutig einem montanen oder protoindustriellen Wissensbereich zugeordnet und damit trennscharf von der Landwirtschaft abzugrenzen, worauf die Wendung „beut selbst dem Volk sich an“ hinweist. Die Erschließung von Vorkommen von Mineralien und ihr optimierter Abbau waren Anliegen der OeG Bern wie auch der Berner Obrigkeit, die sich um eine gesicherte Salzversorgung bemühten und in Salinen investierten. So schuf letztere das einträgliche Amt des Salzdirektors, das von Berner Patriziern bekleidet wurde, wie beispielsweise zwischen 1758 und 1764 von Albrecht von Haller höchstpersönlich (Kolb, Stuber 2019). Dass die Berner Salinen im Alpen-Gedicht Erwähnung finden, ist in diesem Zusammenhang nicht überraschend. Auch in der hochästhetisierten und metaphorisch aufgeladenen barocken Lyrik Hallers wird auf den Topos der Nützlichkeit zurückgegriffen. Albrecht von Haller war ab der Mitte der 1760er Jahre ein zentraler Akteur der OeG Bern, der über sein umfassendes Wissen, seine weitverzweigten Beziehungen, sein Renommee in der europäischen Gelehrtenwelt und seine Positionen in der Berner Verwaltung wesentlich zu ihrem Erfolg betrug. Er verfasste zahlreiche Schriften für das Journal, zur botanischen Nomenklatur, zu Futterkräutern sowie zur Trockenlegung und damit Nutzbarmachung von Sümpfen. In seinen letzten Lebensjahren fungierte er zudem als Präsident der Gesellschaft und beförderte so ihre Reputation (Stuber 2005; Stuber, Wyss 2008). Für Haller lässt sich also sehr deutlich eine Konvergenz der Interessen festhalten: Er war sowohl Poet, der zur Ästhetisierung der alpinen Landschaft beitrug, als auch Naturforscher, der den Erkenntnisfortschritt über die (alpine) Natur vorantrieb. Nicht zuletzt war er Berner Patriot, der durch nützliche Reformen und optimierte Ressourcennutzung die Wirtschaft des Territoriums stabilisieren und in Aufschwung bringen wollte.

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Reiseschriftsteller, Ökonom und Glaziologe: Gottlieb Sigmund Gruner Mit Gottlieb Sigmund Gruner steht ein weiterer Akteur der OeG Bern für ein derart vielseitiges Interesse am Alpenraum. Gruner war eines der aktivsten Mitglieder der Gesellschaft, der in den „Abhandlungen und Beobachtungen“ Beiträge zur Erzeugung von Salpeter, zur Trockenlegung von Sümpfen, zur Bienenzucht, zu Flussverbauungen oder zu den Berner Bergwerken veröffentlichte. Selbst unwirtliche, wilde Gegenden waren bei Gruner nicht ohne Nutzen, wie seine 1761 gedruckte Abhandlung zur Nutzbarmachung von Mooren und Sümpfen zeigt: „Wir finden in der weitläuftigen Schöpfung zwar vieles, so uns beym ersten Anblicke unnütz und unvollkommen, oder gar schädlich und nachtheilig scheinet. Wenn wir aber dasselbe in seinem wahren Verhältnisse mit dem übrigen betrachten; so werden wir in dieser anscheinenden Unvollkommenheit allezeit die hellsten Spuren einer unendlichen Weisheit gewahren, und deutlich erkennen, daß die weise Natur in dem Entwurfe des Ganzen eine hier aufscheinende Unvollkommenheit sich dort zu Nutze macht, und diese anderwärts nur zu desto grösserer Vollkommenheit verarbeitet.“ (Gruner 1761:739–740)

Die göttliche Einrichtung der Natur wird in der Einleitung von Gruners Abhandlung als nahezu perfekt beschrieben, auch vermeintlich Unvollkommenes erfüllt einen Zweck – diese Zusammenhänge müssten nur durch den Menschen begriffen werden. In der Folge betont Gruner indes, dass menschliches Eingreifen in manchen Fällen erforderlich sei, um einen noch höheren Grad an Perfektion zu erreichen. Ziel ist die Urbarmachung von bislang ungenutzten Gebieten, wie Sümpfen oder Mooren, die „meistens durch Kunst und Fleis nutzbar gemacht werden“ (Gruner 1761:741) könnten. Die verschiedenen Möglichkeiten der Kultivierung und Optimierung der Natur stehen dann im Zentrum der Abhandlung. Gruner hatte sich schon vor seinem Engagement in der Berner Sozietät durch seine 1760 erschienene dreibändige Schrift „Eisgebirge des Schweizerlandes“ (Gruner 1760) einen Namen als Geologe gemacht. Er wurde von Pionieren der Erschließung des Hochgebirges, wie beispielsweise Horace Bénédict de Saussure, vielfach zitiert und war einer der angesehensten Gletscherforscher des 18. Jahrhunderts (Broc 1989:47). In den „Eisgebirgen“ beschreibt er die Topographie der Schweizer Alpen und entwirft eine Typologie der Gletscher. Bei allem naturkundlichen Erkenntnisinteresse enthält auch diese Darstellung ästhetische Elemente, wenn in einem eigenständigen Kapitel die Schönheit der Berge thematisiert wird:

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„Die Schönheit der Eisberge aber ins besonders ist ein Gegenstand für die Dichter. Auf ihren höhsten meistens aber unersteiglichen Gipfeln kann das Auge in die entferntesten Gegenden hinreisen […]. Hier winkt eine jähe grausame Kluft und ungeheure finstre Vertiefung den Sinnen lauter Grauen und Schrecken zu. Dort, wo die Sonne ihre Strahlen auf die glänzenden Eisgerüste wirft, spielen tausend Regenbogen mit den schönsten Farben untereinander, blenden mit ihrer unbeschreiblichen Pracht das Auge, und füllen die Sinnen mit Erstaunung.“ (Gruner 1760:15)

Zwar wird eingangs darauf verwiesen, dass Dichter für die ästhetische Beschreibung der Gletscher und Gipfel zuständig seien, jedoch hält dies Gruner nicht davon ab, selbst wiederholt stilisierte Lobpreisungen der landschaftlichen Schönheit und Erhabenheit der Hochalpen neben eher nüchterne Passagen zu den Gefahren oder dem Nutzen der Gletscher zu stellen. Bereits das Frontispiz des ersten Bandes enthält als Unterschrift einer Landschaftsdarstellung zwei Verse aus Hallers „Die Alpen“.4 Zudem bedient Gruner zeitgenössisch populäre Motive der ästhetischen Landschaftsbeschreibung: das durch Schrecken und Schönheit ausgelöste Erstaunen stand bekanntlich bei Edmund Burke im Mittelpunkt seiner Definition des Erhabenen, wurde aber auch schon bei den Zürchern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger angesprochen (Till 2006:270–271). Dass naturkundliche und poetische Perspektiven nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind, wird auch an einem weiteren Werk Gruners deutlich. In seinem letzten Lebensjahr publizierte er einen zweibändigen Reisebericht mit dem Titel „Reisen durch die merkwürdigsten Gegenden Helvetiens“ (Gruner 1778).5 Die Schweiz war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein überaus beliebtes Reiseziel, entsprechende Reisebeschreibungen waren Bestseller auf dem europäischen Buchmarkt. Klassische Motive der Landschaftsbeschreibung stimmten dabei bei Schweizer und ausländischen Autoren weitgehend überein (Böning 2005:179–181). Bemerkenswert bei Gruners fiktionalem Bericht ist, dass dieser auch ein eigenes Kapitel zu den Berner Salzwerken enthält. Darin werden unter anderem Hallers ökonomisch-patriotisch motivierte Innovationen in der Salzgewinnung beschrieben: „Nicht der Reichtum [der Salzwerke] macht das Merkwürdige […] aus; sondern der Bergbau, der vielleicht nirgends weiter getrieben worden ist, als hier, der Sparsamkeit der Natur abzuhelfen (Gruner 1778:94).“ Als lohnendes Ziel von Reisen in die Schweiz wurden also nicht nur landschaftlich besonders schöne Gegenden porträtiert, sondern auch Orte, an 4 Dargestellt wird ein Kupferstich des Staubbachfalls im Berner Oberland nach einem Gemälde von Johann Ludwig Aberli, begleitet durch die auch in der Topographischen Beschreibung des Haslitals zitierten Verse. 5 Den Salzwerken ist ein gesamter Brief der Reisebeschreibung gewidmet – sie nahmen offenbar einen hohen Stellenwert für den Berner Magistraten Gruner ein und waren auch in touristischer Hinsicht attraktiv.

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denen die Nutzung natürlicher Ressourcen besonders gut gelang. Der alpine Raum stellte hierbei insofern eine besondere Herausforderung dar, als er wegen seiner Unwirtlichkeit und Unzugänglichkeit besondere Anstrengungen erforderte. Erst durch das Eingreifen des Menschen konnten die naturräumlichen Voraussetzungen fruchtbar gemacht und in einem utilitaristischen Sinne optimiert werden.

Synthese Ähnlich wie Haller kann Gruner ebenso als Literat wie als Naturforscher und Ökonom eingeordnet werden. Gleiches gilt für zahlreiche weitere Mitglieder der OeG Bern. Die vielfältig gelagerten Interessen der Berner Agrarreformer standen nicht im Gegensatz zueinander, sondern ließen sich im Rahmen ihres patriotischen Engagements durchaus in Einklang bringen. Statt einem isolierten Nebeneinander der diskursiven Aushandlungsformen von schöner respektive nützlicher Landschaft wurden Elemente der jeweiligen Diskurse integriert und zu Argumentationslinien verflochten, die eine hohe Anschlussfähigkeit der propagierten Reformprojekte an verschiedene Adressatenkreise gewährten: an kameralistisch vorgebildete Anhänger von Landwirtschaftsreformen ebenso wie an Reisende, die an der Erhabenheit der Schweizer Berge wie auch an Lebensformen der Bergbevölkerung interessiert waren. Wenngleich ökonomische Abhandlungen und topographische Beschreibungen der Berner Sozietät in erster Linie auf die Erschließung der Landesteile und ihre optimierte landwirtschaftliche Nutzung zielten, wurden dennoch Motive der ästhetischen Landschaftsbeschreibungen aus anderen Textgattungen übernommen und diskursive Erwartungshaltungen einer vielfältig interessierten Leserschaft bedient. Autoren der „Abhandlungen und Beobachtungen“ zitierten beispielsweise Verse aus Hallers berühmtem Gedicht, um das zunehmende Interesse am Alpenraum mit ihren landwirtschaftlichen Reformprojekten zu verbinden und diese so positiv zu konnotieren. Zwischen der Schönheit der kultivierten, nutzbaren Landschaft und der stilisierten Wildheit und Zivilisationsferne des neuen Bilds der Alpen und ihrer Bewohner lag dennoch eine Kluft, deren argumentative Überbrückung nicht in allen diskursiven Zusammenhängen möglich war. Lobgesänge auf die unberührte Natur stehen auf den ersten Blick in Widerspruch zu einer intensivierten Nutzung, wie sie aufklärerische Reformvorhaben propagierten. Grundlegend für die Ökonomische Aufklärung war die Annahme der Perfektibilität der Natur, die durch vernunftgemäßes Handeln derart gestaltet und kultiviert werden konnte, dass für die Bevölkerung der größtmögliche Nutzen erzielbar war. Der Eingriff in die Natur war nach diesem Verständnis in kargen Gegenden wie dem alpinen

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Raum sogar notwendig, um die vorhandenen, jedoch schwierig zu erschließenden Ressourcen ihrer vorhergesehenen Nutzung zukommen zu lassen. Für Berner Autoren waren in ökonomischen Texten und Reisebeschreibungen beide Perspektiven jedoch vereinbar: Zieht man die Ambiguität des ÖkonomieBegriffs um die Jahrhundertmitte in Betracht, erscheinen die Idealisierung der ursprünglichen alpinen Landschaft und die Vorstellung ihrer Optimierung durch menschliche Eingriffe weniger widersprüchlich, als dies zunächst erscheinen mag. Die aristotelische Vorstellung der oikonomia, also des maßvollen Haushaltens und des ordnenden Zugriffs des Menschen auf die Natur, war in zeitgenössischen ökonomischen Debatten noch präsent. Zudem enthielt der Begriff eine moralische Dimension: die Bevölkerung eines Territoriums galt als Produktionsgemeinschaft; Reform im Sinne von Verbesserung betraf nicht nur die naturräumlichen Gegebenheiten, sondern auch die produzierende Bevölkerung (Gerber-Visser, Stuber 2009:77; Sandl 1999:98–99; Schilling 2009:779–782). Berner Agrarreformer beschworen daher im Zuge ihrer Reformprojekte den Fleiß der Bevölkerung und die Gemeinwohlorientierung ihrer Vorhaben. Dies war durchaus kompatibel mit dem literarischen Alpenbild, das die wohlgeordnete, friedlich zusammenlebende und zusammenarbeitende Bergbevölkerung und ihre an die alpine Natur angepasste Wirtschaftsform stilisierte. Die semantischen Ambivalenzen des Ökonomie-Begriffs machen deutlich, dass der von Bayerl beschriebene rein an einem wirtschaftlichen Nutzen für den Menschen orientierte technisch-ökonomische Blick zur Beschreibung der Naturwahrnehmung der Berner Oekonomischen Gesellschaft nicht ausreicht. Im Untersuchungszeitraum waren utilitaristische Argumente nicht alleinig diskursstrukturierend. Vielmehr waren die Betonung des ökonomischen Nutzens und die ästhetische Wertschätzung einer schönen – kultivierten oder wild-erhabenen – Landschaft jeweils populäre, einander ergänzende und zusammen aufrufbare argumentative Muster. Wenngleich sich Diskurse im 18. Jahrhundert zunehmend ausdifferenzierten und sich ökonomische respektive naturforschende Spezialdiskurse zu etablieren begannen, war in Kommunikationszusammenhängen, die auf eine breite Anschlussfähigkeit der vermittelten Inhalte zielten, die Einbindung interdiskursiver Elemente erforderlich (Link 1988:293). Dies gilt insbesondere für Akteure der OeG Bern, die sich in hohem Maße um die Popularisierung ihrer Reformvorhaben bemühten und dafür unterschiedliche Medientypen und differenzierte argumentative Muster nutzten. In den 1760er und 1770er Jahren fungierten Motive der ästhetisierenden Landschaftsbeschreibung als „interdiskursiver Rahmen“ (Link 1988:293), der auch für Leser ökonomischer Abhandlungen Anknüpfungspunkte bot und zur Akzeptabilität der vermittelten Inhalte beitragen konnte. In einem zunehmend fortschritts- und wachstumsorientierten und gleichzeitig immer spezialisierteren ökonomischen Diskurs wurde die Vereinbarkeit ästhetischer und ökonomischer Argumentati-

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onslinien indes schwieriger beziehungsweise weniger opportun, da technischeffizienzorientierte Argumente besser zur Plausibilisierung ökonomischer Reformen beitragen konnten.

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Beschleunigte Stoffbewegungen im Anthropozän

In seinem Essay Modernity at Large: Cultural Dimensions in Globalization hat der Anthropologe Arjun Appadurai (1996:34) festgestellt, dass Waren in der modernen Gesellschaft immer rascher grenzüberschreitend gehandelt werden: „technology, both high and low, both mechanical and informational, now moves at high speed across various kinds of previously impervious boundaries: a huge steel complex in Libya may involve interests from India, China, Russia and Japan, providing different components of new technological configurations.“1

Auch andere Zeitdiagnostiker betonen, dass in der modernen Gesellschaft die Bedeutung des immer schnelleren, grenzüberschreitenden Tausches stark gewachsen ist und weiterhin wächst: „Massenproduktion und Massenkonsum [haben] das Netz der Tauschakte enorm verdichtet“, schreibt der Sozialphilosoph Panayotis Kondylis (1999:520). Und mit der Verdichtung einher geht eine Beschleunigung der Bewegungen von Stoffen und Dingen, was unter anderem der Technikforscher Ulrich Wengenroth beobachtet hat. Wengenroth (2004:3) spricht von einer „Hochrüstung mit Artefakten“, die für ihn zu den „auffälligsten Phänomenen der Moderne“ zählt. Und diese materiellen Artefakte sind immer rascher unterwegs: „Industriell erzeugte Artefakte durchschreiten in immer höherem Tempo unseren alltäglichen Wahrnehmungshorizont auf dem Weg von der Fernsehwerbung oder Schaufensterauslage zum Recyclinghof oder Sperrmüll. Die sich immer noch verkürzende Verweildauer technischer Konsumgüter erlaubt … einen beschleunigten Durchsatz und damit Umsatz als Voraussetzung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bei steigender Produktivität.“ (Wengenroth 2004:4)

Deutlich präziser und vor allem umfassender ist diese Beschleunigung durch Hartmut Rosa (2012:256) aufgearbeitet worden, der sie als „Mengenwachstum pro Zeiteinheit“ definiert, und darauf hingewiesen hat, dass in der modernen Gesellschaft technische und kulturelle Beschleunigung verknüpft sind. Es ist 1 Siehe auch Sheller, Urry (2006).

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nach Rosa also keineswegs, wie dies Wengenroth andeutet, der ökonomischkapitalistische Beschleunigungszwang allein, der das Phänomen ausreichend erklärt. Eine solche Rückführung bezeichnet Rosa vielmehr als materialistische Reduktion, die „blind“ sei „für die ideellen und kulturellen Voraussetzungen dafür, dass die Produktiv- und Beschleunigungskräfte auf die beschriebene Weise entfesselt werden konnten.“ (Rosa 2012:280). Hinzu kommen, so führt er aus, sozialstrukturelle Akzeleratoren, die sich der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft verdanken, und insbesondere auch kulturelle Akzeleratoren, die Rosa insbesondere auf das Problem des Auseinanderfallens von Weltzeit und Lebenszeit in einer säkularen Kultur zurückführt: „wer doppelt so schnell lebt, kann doppelt so viele Weltmöglichkeiten realisieren und damit gleichsam zwei Leben in einem führen; wer unendlich schnell wird, nähert seine Lebenszeit dem potenziell unbeschränkten Horizont der Weltzeit bzw. der Weltmöglichkeiten insofern wieder an, als er eine Vielzahl von Lebensmöglichkeiten in einer einzigen irdischen Lebensspanne zu verwirklichen vermag und daher den Tod als Optionenvernichter nicht mehr zu fürchten braucht.“ (Rosa 2012:474)

Doch welche Auswirkungen haben jene beschleunigten Durchsätze auf der ökologischen, auf der stofflichen Ebene? Den neueren Modernediagnostikern kann man sicher nicht vorwerfen, die gesellschaftlichen Naturbeziehungen ähnlich zu vernachlässigen, wie dies etwa in der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas oder auch in der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns noch der Fall war, die, wenn überhaupt, nur ganz globale Aussagen über die ökologischen Auswirkungen der Modernisierung getroffen hatten und allenfalls die Kommunikation über ökologische Themen diskutierten.2 Hartmut Rosa (2012:315, 321,458–459, 489) ruft an dieser Stelle insbesondere den Begriff der Mobilmachung auf, den er auf Sloterdijk zurückführt, der ihn seinerseits, mit spitzen Fingern, von Ernst Jünger entlehnt und in seiner „Kritik der politischen Kinetik“ prominent verwendet (Rosa 2012: 459–460). Hier möchte ich einsetzen. Ich möchte im Folgenden versuchen, einige Möglichkeiten zu diskutieren, wie der Begriff der Mobilmachung verwendet werden kann und aktuell auch verwendet wird, um die ökologischen Auswirkungen jener Moderne, deren Zentrum die Beschleunigung ist, zu beschreiben. Dabei gehe ich ausführlicher als Sloterdijk oder Rosa auf Ernst Jüngers ursprüngliche Publikationen aus den frühen 1930er Jahren zurück, wobei ich den Begriff, den Jünger expressiv und emphatisch verwendet, vor allem analytisch und kritisch einsetzen will. Tatsächlich hat Jüngers Diagnose auch aus meiner Sicht aufschließende 2 Siehe insbesondere Niklas Luhmann (1988). Vgl. zur Kritik z. B. Klaus Kraemer (2008: 91–93). Zur Thematisierung von Umweltproblemen in anderen soziologischen Theorien vgl. am selben Ort das Kapitel 2, S. 75–108.

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Kraft, die ich im Folgenden verdeutlichen und präzisieren möchte. Allerdings muss das Jüngersche Konzept dazu ernüchtert werden. Dies fordert auch schon Sloterdijk, der einen kritischen Gebrauch des Wortes „Mobilmachung“ vorschlägt und der es um Ideen einer Demobilisierung ergänzt. Ich selbst möchte im Folgenden vor allem vorschlagen, die analytische Fruchtbarkeit des in einem visionären Gestus eingeführten Begriffs zu vertiefen, indem ich Möglichkeiten diskutiere, wie die Mobilmachung der Materie quantitativ erforscht werden kann und auch bereits, im Kontext der modernen Umwelt- und Anthropozänforschung, erforscht wird. Hier geht es darum, die „Materie“ in ihrer stofflichen und ihrer ökologischen Dimension genauer zu fassen. Anschließend wende ich mich der anderen Hälfte des Konzepts, den Mobilmachern zu, auf die man in der modernen Umweltforschung, aber auch in der neueren Anthropozänforschung deutlich weniger achtet. Wie können wir genauer beschreiben, wer, d. h. welche politischen und gesellschaftlichen Kollektive hinter der beobachteten Mobilmachung stecken? Die Antwort „der Mensch“ oder „die Menschheit“ ist sicherlich viel zu pauschal. An dieser Stelle werde ich das Potential der stoffgeschichtlichen Forschung, die natur- und geistes- bzw. sozialwissenschaftliche Ansätze verbindet, kurz skizzieren. Die stoffgeschichtliche Forschung kann eine Verbindung zwischen diesen beiden Diskursen herstellen, indem sie Mobilisierungs- und Immobilisierungsprozesse von Stoffen in ihren sozialen, politischen und ökologischen Kontexten integrativ beschreibt.

Der Begriff der Mobilmachung Den Begriff der ‚Mobilmachung‘ ziehe ich im Folgenden gegenüber ‚Mobilisierung‘ insofern vor, als in diesem Wort ein Akteur und ein Machtzusammenhang mitgedacht werden. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Militär. Er heißt soviel wie einsatzbereit machen, kampfbereit machen, es kann aber auch um Marschbereitschaft gehen. In jedem Fall zeigt der Begriff an, dass Marschbereitschaft, Einsatzbereitschaft nicht schon von vornherein gegeben ist, sondern erzeugt werden muss. Es lässt sich nun in der Moderne nicht nur eine Mobilmachung von Menschen, sondern eine Mobilmachung der Stoffe beobachten. Zum ersten Mal wurde genau dieses Phänomen von Ernst Jünger benannt, der 1930 in einem fast futuristischen Essay von der „Totalen Mobilmachung“ auch der Materie sprach. Dieser Essay erschien zuerst in einem von Jünger herausgegebenen Band namens „Krieg und Krieger“. Der Kontext der ersten Publikation des Textes hat ihm eine disparate Rezeption beschert.

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Vielerorts wird Ernst Jünger aufgrund dieser und anderer Publikationen und Aktionen in der Zeit der Weimarer Republik massiv kritisiert, der Historiker Hans-Ulrich Wehler (2004) etwa bezeichnet ihn pauschal als „eine der Unheilsfiguren der neueren deutschen Geschichte“, und zwar auch deshalb, weil er für Wehler ein Aktivist der „Totalen Mobilmachung“ gewesen sei. Ähnlich plakative und pauschale Kritik wurde öfter geäußert. Der Germanist Helmuth Kiesel, der eine umfassende und kritische Biographie zu Ernst Jünger vorgelegt hat, hat aber geltend gemacht, dass Jünger weder „der Inaugurator noch ein unreflektierter Propagator der ‚totalen Mobilmachung‘ [war], sondern ihr Diagnostiker. Er erkannte in ihr einen unabwendbaren Zug der Zeit, und ihre Dynamik faszinierte ihn.“ (Kiesel 2007: 374–375).3 Die Diagnose einer total mobilgemachten Welt, die Jünger formuliert, und insbesondere seine wichtige Diagnose einer Mobilmachung der Materie dürfen nicht bloß deshalb beiseitegeschoben werden, weil man Jünger als Person ablehnt. Darauf hat auch Sloterdijk (1989:50) hingewiesen, der Jünger einen „bösen Mann“ nennt, „den man aus großem Abstand doch nie ohne Respekt vor seinem Wahrnehmungsvermögen zitieren wird“. Jünger geht, wie gesagt, von einem militärischen Begriff aus, er will zeigen, dass im (Ersten) Weltkrieg eine Mobilisierung der Massen erfolgte, die bis dahin unbekannt war (Jünger 1960:130). Die totale Mobilmachung ist aus seiner Sicht nämlich auch im Frieden ein Kennzeichen des „Arbeitszeitalters“ und sie bezieht sich keineswegs nur auf Menschen, besagt also nicht nur, dass Truppen für Kampfhandlungen bereit gemacht werden. Jünger fordert, „dieses unser Leben selbst in seiner vollen Entfesselung und in seiner unbarmherzigen Disziplin, mit seinen rauchenden und glühenden Revieren, mit der Physik und Metaphysik seines Verkehrs, seinen Motoren, Flugzeugen und Millionenstädten zu betrachten, um mit einem mit Lust gemischten Gefühl des Entsetzens zu ahnen, daß es hier kein Atom gibt, das nicht in Arbeit ist, und daß wir selbst dem rasenden Prozeß im Tiefsten verschrieben sind.“ (Jünger 1960:132)

Hier ersetzt ein hoher pathetischer Stil, der den Leser emotional einbeziehen soll, die klare Analyse. Es wird eine Vision vorgetragen, und es wird zugleich dessen Alternativ- und Ausweglosigkeit suggeriert. Schon die Bezeichnung „rasende[r] Prozeß“ verwischt die Frage nach den eigentlichen Urhebern. In seinem wenig später entstandenen Essay „Der Arbeiter“ variiert und erweitert er seine Diagnose, und spricht vom „Zustand einer ununterbrochenen Veränderung, in den wir einbezogen sind, [und der] alle Kräfte und Reserven, über die das Leben verfügt, für sich in Anspruch nimmt. Wir

3 Vgl. zu den beiden Schriften Ernst Jüngers (1960, 1963) auch: Uwe-K. Ketelsen (1995). Zu Jüngers Essay vergleiche zuletzt Müller (2014:129–134). Siehe auch Riis (2011:96).

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leben in einer Zeit des großen Verzehrs, als dessen einzige Wirkung ein beschleunigter Antrieb der Räder zu erkennen ist.“ (Jünger 1963:188).

Diese „totale Mobilmachung“, die in Jüngers Vision4 jedes Atom einbezieht, und die „alles zerstört, was sich dieser Mobilmachung widersetzt“ (Jünger 1963:166), können wir auf die Welt der Stoffe beziehen. Jünger spricht ausdrücklich von der „Mobilmachung der Materie“, die der „parallel laufenden Mobilmachung des Menschen“ entspricht (Jünger 1963:186). Und diese Mobilmachung hat, wie er sagt, „planetarische Dimension“ (Jünger 1963:239), bezieht sich auf den gesamten Globus. Jüngers essayistische Zeitdiagnose von 1930/1932 wurde kurz nach ihrem Erscheinen von Heidegger eingehend studiert und war der wohl wichtigste Ausgangspunkt dessen eigener, sehr einflussreichen Technik- und Geschichtsphilosophie.5 Sie wurde viel später dann auch von Peter Sloterdijk (1996) in seinem Buch Eurotaoismus aufgegriffen und ausgebaut. Sloterdijk (1996:47) geht es um eine „ernsthafte Theorie der Gegenwart“ und er führt seine Analyse so durch, dass er „für den Grundprozeß der Moderne offen heraus den Begriff Mobilmachung als zentralen Beschreibungs- und Erklärungsausdruck“ einsetzt. Trotz seiner erheblichen und auch nachvollziehbaren Probleme (Sloterdijk 1996: 48–52), einen Begriff zu verwenden, den Ernst Jünger 1930 prägte, scheint ihm dieser Begriff alternativlos, wenn es darum gehe, das „dynamische Muster der Modernisierung namhaft“ (Sloterdijk 1996:48) zu machen. Sein Argument ist vor allem folgendes: „Dieser Begriff wird die Erinnerung an den Gewaltkern der szientifischen, militärischen und industriellen Spitzenprozesse wachhalten – gerade zu einer Zeit, da diese in ein smartes Stadium eintreten, worin die Gewalt informatorisch, cool, prozedural und analgetisch wird.“ (Sloterdijk 1996:52). Daher wird gerade dieser Begriff für ihn zum Zentrum einer aus seiner Sicht neuen, „dritten“ (Sloterdijk 1996:53) Form kritischer Theorie. 4 Vgl. zu Jünger zuletzt Riis (2011:96). 5 Wie er selbst nach 1945 mitteilte, siehe Heidegger (1083:24–25). Deutlich erkennbar, wenngleich gezielt verwischt ist der Einfluss Jüngers in Heideggers technik- und geschichtsphilosophischen Schriften, insbesondere in seiner Lehre vom Ge-stell, da Heidegger hier ebenfalls, zweifellos nach dem Vorbild Jüngers, einen militärisch konnotierten Begriff, das ‚Stellen‘ in den Mittelpunkt setzt und die planetare Dimension des Geschehens betont. Vgl. Heidegger (2000: 5–36) z. B. S. 16. Die moderne Technik „stellt“ die Natur, so erläutert Heidegger, und in dieser und in anderen Wendungen klingt deutlich Jüngers Mobilmachung durch. Denn der „Gestellungsbefehl“ ist ein altes Wort für die Einberufung. Heidegger geht also gewissermaßen mit seinem Wort einen kleinen Schritt weiter als Jünger, weil Mobilmachung sich meist nur auf schon bestehende Einsatzkräfte bezieht, während das Stellen genau den Moment des Einsatzbereitmachens, des Verfügbarmachens betont. Jemand wird gestellt – darin klingt an, dass jemand in den Fokus einer überlegenen, meist staatlich organisierten Macht gerät. Diesen Vorgang dehnt Heidegger auch auf den Umgang mit der Natur aus; die in seiner erweiternden Wortverwendung ebenfalls gestellt werden kann.

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Von Sloterdijk wiederum übernahm dann Hartmut Rosa das Stichwort, der allerdings Sloterdijks Entwurf einer politischen Kinetik als „hoch spekulativ, wenig systematisch und ohne empirische Fundierung“ (Rosa 2012: 459) kritisierte. Im Folgenden geht es mir darum, wie die Diagnose einer mobilgemachten Welt sich auf der Ebene der Stoffe und Dinge konkretisieren lässt, und welche Vorschläge hierfür gemacht wurden, überwiegend vor naturwissenschaftlichem Hintergrund. Anschließend versuche ich, in Ergänzung dieser Ansätze zu zeigen, wie die stoffgeschichtliche Forschung, weil sie als interdisziplinärer Ansatz sowohl sozial- und kulturwissenschaftlich als auch naturwissenschaftlich anschlussfähig ist, beitragen kann, das Konzept der Mobilmachung der Materie an Beispielen genauer zu fassen. Dabei soll der Begriff, den Jünger mit einer unverhohlenen Faszination verwendet, kritisch und analytisch genutzt werden.

Die Mobilmachung der Materie und ihre Vermessung Diese kritische Nutzung kann zum einen so geschehen, dass das Konzept operationalisiert wird, dass man versucht, genauer anzugeben, wie sich diese Mobilmachung der Materie messen lässt. Damit sind wir bereits im Bereich der Anthropozänforschung, die sich vielfach genau diese Frage stellt. Welche Antworten sind dabei gefunden worden? Geologen haben im Kontext der Anthropozänforschung errechnet, dass Menschen inzwischen rund dreimal mehr Gestein bewegen als alle Flüsse der Erde (Häusler 2018). Der kanadische Geograph und Umweltwissenschaftler Vaclav Smil (2014) hat in einer umfassenden Studie die ‚Materialströme‘ nach Ländern und spezifischen Materialien aufgeschlüsselt. Man kann die Mobilmachung der Materie auch anhand anderer Maße als es Kilogramm und Tonnen sind, vermessen, nämlich an der grundlegenden Struktur, die nach der modernen Naturwissenschaft die Ordnung der Materie ausmacht, am Periodensystem. Damit sind wir auch näher an Jüngers oben zitierter Diagnose, denn dieser formuliert ausdrücklich, siehe oben, dass es „kein Atom gibt, das nicht in Arbeit ist“. Zwar werden auch in riesigem Umfang Moleküle, also Verbindungen von Atomen produziert und in Tätigkeit gesetzt, als Pflanzenschutzmittel, als Dünger, als Werkstoffe, als Medikamente usw., doch vielfach sind es tatsächlich Atomsorten, die man sucht und in Betrieb nimmt, vor allem dort, wo es um digitale Hochtechnologie geht. Der Bezug auf das periodische System der chemischen Elemente hat auch den weiteren Vorzug, dass hierdurch der Anteil moderner Naturwissenschaft an der Mobilmachung der Materie unmissverständlich deutlich wird. Denn die Identifizierung und Isolierung der Elemente ist unerlässliche Voraussetzung für das In-Gang-Bringen. Auch militärisch ist es notwendig, dass diejenigen, die mobilgemacht werden

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sollen, zunächst erfasst werden müssen. Die ungeheure „Kinetik der Moderne“, die Sloterdijk im Anschluss an Jünger betont, fußt auf der modernen Naturwissenschaft, insbesondere auf der Chemie. Alle materiellen Dinge, also auch alle Waren, sind aus einer begrenzten Anzahl natürlich vorkommender chemischer Elemente und deren Verbindungen bzw. Gemischen aufgebaut. Es gibt rund 90 solcher Elemente auf Erden, hinzu kommen noch einige weitere instabile und zudem weitere anthropogene Elemente, die aber allesamt instabil sind und nur für sehr kurze Zeit in sehr aufwendigen Verfahren hergestellt wurden. Wenn man die Diagnose einer totalen Mobilisierung der Materie ernstnimmt, dann ist zu erwarten, dass nicht nur die Masse der gehandelten und bewegten Waren und Stoffe stetig zunimmt. Vielmehr ist auch zu erwarten, dass nach und nach alle Elemente des Periodensystems in den Verwertungsprozess einbezogen werden. Und dies ist auch tatsächlich der Fall. Durch viele Untersuchungen6 ist nachgewiesen, dass etwa ein modernes Smartphone rund 40 Metalle enthält, während ein altmodisches Telefon noch mit fünf auskam. Auch bei Leuchtmitteln ließe sich diese Entwicklung beobachten – von der Edinsonschen Glühbirne bis zur modernen LED ist nicht nur ein Effizienzzuwachs zu beobachten, sondern auch eine zunehmende Indienstnahme von immer entlegeneren Elementen. Und dies ist keineswegs eine brandneue Entwicklung, die erst mit der Digitalisierung eingesetzt hätte. Als erster hat auf diese Mobilisierung der Elemente des Periodensystems der russische Geochemiker Vladimir Vernadsky (1930) (der Name wird auch anders transliteriert, z. B. Vernadskij oder Wernadsky) hingewiesen, der nicht nur das Konzept der Biosphäre entwickelte, sondern auch als erster das Konzept einer systematischen und interdisziplinären Erforschung jener neuen geologischen Epoche entwickelt hat, die nach seiner Diagnose insbesondere durch die geochemische Wirksamkeit menschlicher Aktivitäten auf globaler Ebene gekennzeichnet ist (vgl. auch Häusler 2018) und die heute als Anthropozän7 bezeichnet wird. Das Anthropozän ist das naturwissenschaftlich-ökologische Komplement der sozialwissenschaftlich-philosophischen Diagnosen der Moderne. Popularisiert wurde der Begriff von dem Chemiker Paul Crutzen, der seinerseits bereits ausdrücklich auf Vernadsky als Vorläufer hinwies. In dem Kapitel über die „Geochemische Betätigung der Menschheit“, das sich gegen Ende der wichtigen deutschen Übersetzung seines Werkes Geochemie aus dem Jahre 1930 findet, identifiziert Vernadsky einen neuen global wirksamen geologischen Faktor, nämlich die Menschheit. Während zuvor nur einige wenige chemische Elemente durch die Organismen, die von ihm sogenannte lebende 6 Siehe zuerst: Reller et al. (2009). 7 Zum Anthropozän vgl. Crutzen (2002), der sich auf Vernadsky bezieht.

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Substanz, bewegt wurden, ist dies seit der Industrialisierung, eigentlich bereits seit dem Beginn der Landwirtschaft anders. Er schreibt: „In der jetzigen geologischen Epoche – dem Psychozoikum, in der Ära des Geistes – kommt ein neuer Faktor von allergrößter geochemischer Bedeutung hinzu. Die geochemische Betätigung der Menschheit hat sich in den letzten Jahrtausenden vermittelst des die grüne lebende Substanz erfassenden Ackerbaus in außerordentlichen Maße und in mannigfaltiger Weise entwickelt. Und diese geochemische Betätigung wächst vor unseren Augen auch weiterhin mit unglaublicher Geschwindigkeit. Der Einfluss des Geistes und des kollektiven Verstandes des Menschen tritt in den geochemischen Prozessen immer deutlicher zutage. […] In früheren Zeiten beeinflussten die Organismen nur die Geschichte derjenigen chemischen Elemente, die zu ihrem Wachsen, ihrer Ernährung, Atmung sowie Vermehrung erforderlich waren. Der Mensch hat diese Grenze erweitert, indem er in seinen Kreis auch noch solche Elemente mit einbezog, die für die Technik und zur Aufrechterhaltung und Entwicklung zivilisierter Lebensbedingungen nötig sind.“ (Verdanskij 1930:231)

Nach Vernadsky sind bald alle Elemente des Periodensystems in diese Bewegung einbezogen. Geochemische Kreisläufe, die sich über sehr lange geologische Zeiträume eingespielt haben, werden zunehmend gestört. Diese beiden Merkmale sind, neben der Freisetzung von Kohlendioxid, die er ebenfalls bereits ausführlich diskutiert, aus seiner Sicht das wichtigste Kennzeichen des von ihm postulierten neuen Zeitalters. In der modernen Anthropozänforschung werden neben solchen stofflichen Auswirkungen auch ökologische Aspekte erforscht, wie insbesondere die Vernichtung von Biotopen und Ökosystemen und Arten.8 Dieser Aspekt des Anthropozäns ist aber eng und oft unauflöslich mit den Stoffbewegungen im Anthropozän verknüpft, die daher auch einen großen Teil der Forschungsarbeiten zum Anthropozän ausmachen. Wie man sich das von Vernadsky erstmals klar benannte In-Bewegung-Setzen aller Elemente etwas konkreter vorzustellen hat, illustrierte der russische Mineraloge Alexander Fersman, ein Schüler Vernadskys, in einem populärwissenschaftlichen, der Geochemie gewidmeten Werk am Beispiel des „sowjetischen Automobils SIS 110“. Diese sowjetische Limousine, die in Prototypen bereits in den frühen 1940er Jahren geplant, aber erst ab 1946 serienmäßig gebaut wurde, wird von Fersman mit folgenden Worten beschrieben: „Hier besteht … eine Verbindung von Atomen, die lediglich zu dem Zweck vereinigt worden sind, einen unermüdlichen, starken, geräuschlosen und schnellen Wagen zu liefern. 3000 Einzelteile aus 65 Atomarten und mehr als 100 Metallsorten: das ist der ‹SIS 110›“ (Fersman 1953:30).9 65 Atomarten – das sind 65 chemische Elemente, die 8 Siehe die Ausführungen des Zoologen Hubert Markl (1991:322ff) der, statt vom Anthropozän vom Anthropozoikum sprach. 9 Das russische Original muss vor 1945 – dem Todesjahr Fersmans – entstanden und publiziert worden sein.

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für dieses Automobil eingesetzt werden. Das sind zwei Drittel aller überhaupt bekannten Elemente! Man kann die hohe Zahl anzweifeln, da sie allzu gut zu Fersmans Absicht passt, die Leistungsfähigkeit der sowjetischen Wirtschaft herauszuarbeiten. Aber selbst wenn eine eingehende Materialanalyse des SIS 110 nur 40 eingesetzte Elemente ergäbe – und dies ist in jedem Fall plausibel –, wäre dies schon viel. Aus den Forschungen seines Lehrers Vernadsky weiß Fersmann, dass die Biosphäre, also die Welt der Lebewesen mit viel weniger Aufwand auskommt, denn alle bislang bekannten Organismen, vom Bakterium bis zum Menschen, benötigen nach heutigem Kenntnisstand nur 22 Atomarten. Aus diesen setzt sich die gesamte belebte Natur mit all ihrem Formenreichtum zusammen. Fersman selbst weist auf diesen Kontrast hin und erklärt, dass hier keinesfalls eine natürliche oder auch nur naturnahe Nutzung vorliegt, denn er sagt: „In der Erde sind vor allem die leichten Elemente verbreitet: fünf von ihnen – Sauerstoff, Silizium, Aluminium, Eisen und Calcium – machen 91 Prozent der Erdrinde aus. Wenn man noch sieben hinzunimmt – Natrium, Kalium, Magnesium, Wasserstoff, Titan, Chlor und Phosphor – dann machen diese zwölf Elemente zusammen 99,51 Prozent aus. Auf die übrigen 80 Elemente entfallen demnach gewichtsmäßig noch nicht einmal 0,5 Prozent.“ (Fersman 1953:32)

Die menschliche Versammlung der 65 Atomarten in der sowjetischen Limousine hat daher in der Natur keine Parallele. Fersman schiebt daher die natürliche Verteilung der Atome beiseite: „Diese Verteilung gefällt dem Menschen aber nicht recht; hartnäckig sucht er nach den Elementen, die selten anzutreffen sind, entreißt sie der Erde unter manchmal unwahrscheinlich großen Schwierigkeiten, erforscht auf jede Art und Weise ihre Eigenschaften und nutzt diese aus, wo es ihm als notwendig und zweckmäßig erscheint. Deshalb befinden sich im Automobil auch Nickel, von dem es in der Erde nur zwei hundertstel Prozent gibt, Kobalt, das mit einem tausendstel Prozent vertreten ist, Molybdän, dessen Anteil weniger als ein tausendstel Prozent ausmacht, und sogar Platin, von dem es nur zwölf millardstel Prozent gibt! Überall gibt es Atome, und der Mensch ist ihr Gebieter! Mit mächtiger Hand ergreift er sie, mischt sie, wirft die weg, die er nicht braucht, verbindet diejenigen, die er benötigt, obwohl man ohne sein Zutun diese Elemente niemals gemeinsam antreffen würde!“ (Fersman 1953:32–33)

Fersman sieht denn auch, „daß das Zeitalter der Chemie anbricht, in dem nicht nur die gesamte Mendelejewsche Tabelle dem menschlichen Genie unterworfen wird, sondern in dem man auch alle Atomkräfte wecken und die riesigen Energievorräte ausnutzen wird, die in jedem Molekül und Atom … verborgen sind.“ (Fersman 1953:326).

Fersmans sowjetische Limousine, in der seiner Angabe nach 65 Atomsorten dem menschlichen Willen unterworfen werden, war damals nur wenigen Wohlha-

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benden oder Mächtigen vergönnt. Von ihr wurden etwa 2100 Stück gebaut, die weitaus meisten nach 1945. Heutige Automobile enthalten eher noch mehr Elemente, weil sie mehr Funktionen haben; ich vermute, dass es etwa 70 sind. Das ist schon ein großer Teil aller bekannten natürlichen Elemente. Und von den modernen Autos werden sehr viele hergestellt. Allein in Deutschland fahren derzeit rund 58,2 Millionen Kraftfahrzeuge. Und hier erkennt man die Bedeutung, die das Periodensystem als Maß für die Mobilmachung der Materie hat. Wenn nämlich gerade seltene und seltenste Elemente für die Produktion eingesetzt werden, wenn die materielle Komplexität der HighTech-Produkte, mit denen wir täglich umgehen, immer weiter steigt, dann werden die Deponiehalden, die beim Abbau und der Aufbereitung der notwendigen Erze entstehen, immer größer und immer toxischer. Denn es gehört zum Beispiel viel aggressive Chemie dazu, um Seltene Erden aus ihren Erzen zu gewinnen. Dabei entsteht Abluft, Abwasser und Abraum, der seinerseits immobilisiert werden muss. Dem Aufwand, der für das In-Bewegung-Setzen der gesuchten Stoffe getätigt werden muss, entspricht ein immer weiter wachsender Aufwand, der für das Stillstellen der nicht benötigten, der „weggeworfenen“ Atome erforderlich ist. Auch das Recycling, das Schließen der Kreise, wird immer schwieriger, wenn nicht unmöglich. Die materielle Komplexität der heute weltweit gehandelten Waren durchkreuzt alle Bemühungen, die „Kreise zu schließen“, das heißt unbrauchbare Gegenstände durch Recycling wieder brauchbar zu machen, um so der Verschwendung von Rohstoffen Einhalt zu gebieten und das Ressourcenproblem zu lösen oder zumindest etwas zu entspannen. Denn winzige Gegenstände, wie es LEDs sind, die dann noch aus etwa vierzig Elementen aufgebaut sind, lassen sich nicht sinnvoll recyceln. Deshalb führt die „totale Mobilmachung der Materie“ auch nicht zu jener besseren Welt für alle, die Fersman vorherzusehen meinte. Was die Atome, die Fersman einfach wegwarf, so alles anstellen, wenn sie in die Atmosphäre, ins Grundwasser, in die Flüsse, ins Meer gelangen, und wie sie aus den Waren, in die sie verbaut wurden, wieder zu gewinnen wären, dafür fehlen bislang umsetzbare Konzepte. Hinzu kommen die vorhersehbaren, aber auch die ungeahnten Nebenwirkungen der Neuverteilung der Atome dieser Welt.10 Arsen zum Beispiel, das vielfach bei Bergbauaktivitäten ungewollt mitgefördert und mobilisiert wird, weil es oft da vorkommt, wo auch gesuchte Metalle in abbauwürdiger Form vorliegen, verteilt sich im Boden und im Wasser und gelangt von dort in die Körper der Menschen, wo es zahlreiche Erkrankungen hervorbringt, unter anderem Hautkrebs. Seltene Erden kommen häufig gemeinsam mit radioaktiven Elementen, insbesondere Thorium vor, daher ist der „Abfall“, der bei ihrer 10 Siehe am Beispiel der Seltenen Erden: Luitgard Marschall und Heike Holdinghausen (2018).

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Aufarbeitung entsteht, häufig nicht ‚nur‘ toxisch, sondern radioaktiv. Am bekanntesten ist schließlich die Problematik des Kohlendioxids, das bei der Verbrennung fossiler Rohstoffe zur Energiegewinnung entsteht. Dieser Stoff ist verantwortlich für die globale Erwärmung. Wie er aber aus der Atmosphäre wieder abgeschieden werden kann und wo man ihn eventuell verpressen könnte, ist Gegenstand heftigster Kontroversen. Man könnte meinen, dass das Hauptproblem der Mobilmachung der Elemente darin bestünde, dass irgendwann die abbauwürdigen Vorräte erschöpft sind – und in der Tat ist dies eines der Hauptmotive für die Kreislaufwirtschaft, die allerdings ihre Grenzen, wie gesagt, an den immer komplexeren Zusammensetzungen moderner High-Tech-Geräte findet. Doch das korrespondierende Problem der Immobilisierung, der Deponierung der Abfallstoffe dürfte noch drängender sein, wie schon der Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle betont hat: „Die Industrialisierung,“ so schreibt er, „beruht auf zwei stofflichen Voraussetzungen, die prinzipiell nicht nachhaltig sein können. Zum einen greift sie auf erschöpfliche Bestände von Ressourcen zurück (fossile Energieträger, Erzlagerstätten), was in diesem Ausmaß nicht dauerhaft möglich ist. Zum anderen füllt sie Deponien mit Abfallstoffen, was auf Dauer zu erheblichen Umweltproblemen führt.“ (Sieferle 2009: 112–113)

Das Deponieproblem wird dabei in der Regel früher virulent als das Ressourcenproblem, wie man etwa am Klimawandel sehen kann, denn auch dieser entfaltet sich, weil die Luft als globale Deponie für das bei der Verbrennung fossiler Rohstoffe, aber auch beim Stahlkochen und Zementbrennen entstehende Kohlendioxid herhalten muss.

Die Mobilmachung der Materie und die Deponien Mobilmachung bedeutet, dass mit teilweise sehr komplizierten Prozessen geringe Mengen Stoff aus gewaltigen Mengen Gesteins oder Sandes gewonnen werden müssen. Bei Golderzen etwa gelten derzeit Lagerstätten, die 2,5 Gramm Gold pro Tonne (!) Gestein enthalten, bereits als abbauwürdig. Bedenkt man, dass bislang rund 190.000 Tonnen Gold weltweit gefördert wurden (Grewe 2019:12), dann kann man sich vorstellen, dass diese Goldmenge gewaltige Schutthalden und zerstörte Landschaften hinterlässt. Auch bilden sich regelrechte Giftlagerstätten11, denn bei der Extraktion von Gold kommen, wie bei der Extraktion vieler anderer Metalle, sehr oft toxische Hilfsstoffe, zum Beispiel Quecksilber oder Kaliumcyanid zum Einsatz. In seiner Stoffgeschichte des Goldes schreibt der 11 Für das Gold beschrieben von Bernd-Stefan Grewe (2019:11–12).

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Umwelthistoriker Bernd-Stefan Grewe daher: „So ist die Umweltgeschichte des Goldes vor allem eine Geschichte der Naturzerstörung durch Bergbau.“ (Grewe 2019:12). Und Gold ist nur eines von rund fünfzig Metallen und Halbmetallen, die weltweit gefördert und isoliert werden. Bei allen diesen Mobilisierungen entstehen auch Halden, Deponien, sogenannte Endlagerstätten, sogar riesige Sarkophage, die allerdings, wie wir wissen, keineswegs für die Ewigkeit sicherstellen, dass die dort stillgelegten und gelagerten Substanzen auf Dauer weggesperrt bleiben. Und doch: Weltweit entstehen solche zementierten, mit Folien verpackte Zonen der Immobilisierung, und weitere, noch viel größere werden in Zukunft noch angehäuft werden, auf und in denen zu leben unseren Nachkommen aufgetragen sein wird. So entstehen für jede Tonne Seltener Erden, die für energieeffiziente Technologien unerlässlich sind, in der Baotou-Region in China rund 2000 Tonnen Schlamm, der zudem hochgradig toxisch ist, weil er neben Schwefelund Flusssäure auch Thorium enthält. Dieser Schlamm wird in einem riesigen Absetzbecken gelagert, das größer ist als der Tegernsee in Bayern (Marschall, Holdinghausen 2018).12 Auch wo keine toxischen Chemikalien eingesetzt werden, um bestimmte Metalle zu gewinnen, ist Bergbau oft problematisch, weil durch das Schürfen nicht selten mit dem gesuchten Metall noch andere Problemstoffe auf den Weg gebracht werden.13 Und nicht nur Böden und Gewässer werden geschädigt, die Luft selbst ist zur Deponie geworden, in der sich das Kohlendioxid immer weiter anreichert. Von diesen Kontexten findet sich bei Fersman kein Wort, und auch in Jüngers Essay wird darauf nicht eingegangen. Doch Ernst Jünger ist bekanntlich recht alt geworden. In einem seiner Alterswerke, dem utopischen oder genauer dystopischen Roman Eumeswil, der 1977 publiziert wurde, entwirft er eine apokalyptische Zukunftsvision, in der nicht weit von technologisch hochentwickelten Städten Menschen in riesigen Deponien hausen.14

Die Mobilmachung der Materie und die Lager Der Begriff der Mobilmachung der Materie hat den Vorzug, dass er von vornherein an machtbestimmte soziale Kontexte denken lässt, innerhalb deren jenes In-Gang-Setzen bzw. In-Marsch-Setzen sich abspielt. Dies ist mir wichtig, weil ein neutralerer Begriff aus meiner Sicht leicht zu dem Schluss verleitet, hier liege ein 12 Toxischer Schlamm fällt auch bei der Aluminiumproduktion reichlich an, vgl. Luitgard Marschall (2008:227–231). 13 Siehe, mit weiteren Literaturhinweisen, Jens Soentgen (2011:199–200). 14 Vgl. die Einordnung des Romans bei Helmuth Kiesel (2007:635–644).

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quasi-natürlicher Vorgang vor. Begriffe wie der von „Materialströmen“ und „Kreisläufen“ bringen eine Naturalisierung mit sich, die die machtbestimmten politischen Kontexte, in denen diese Prozesse stattfinden, ausblenden. Auch Gattungsbegriffe wie ‚der Mensch‘, oder ‚die Menschen‘ oder ‚die Menschheit‘, die sich sowohl bei Vernadsky wie auch Fersman finden und die auch im Kontext der naturwissenschaftlichen Anthropozänforschung häufig auftauchen, sind nur mit größter Vorsicht zu verwenden, denn die konkreten kulturell und politisch vermittelten Prozesse der Mobilmachung werden durch diese Bezeichnungen oft verdunkelt. Fersman etwa schreibt, wie ich bereits zitiert habe (Fersman 1953:32–33): „Überall gibt es Atome, und der Mensch ist ihr Gebieter! Mit mächtiger Hand ergreift er sie, mischt sie, wirft die weg, die er nicht braucht, verbindet diejenigen, die er benötigt …“ Er bezieht sich, wie man erschließen kann, auf die Rohstoffextraktion im Rahmen der Fünf-Jahres-Pläne Stalins. Hier kommen wir zu einem grundsätzlichen Punkt: Alle Prozesse des Mobilmachens und Herstellens geschehen in konkreten historischen Situationen und werden von bestimmten sozialen Gruppen ins Werk gesetzt15. Betrachtet man die Kontexte genauer und gibt sich nicht damit zufrieden, dass es überall Menschen sind, die tätig sind, dann stellt sich oft heraus, dass diejenigen, die mit Spaten und Schubkarre an der Mobilmachung der „Atome“, die Fersman feiert, beteiligt sind, vollkommen entrechtet sind. Und das ist nicht nur ganz selten oder ausnahmsweise so, es ist sogar oft, wenn nicht gar regelmäßig der Fall. An dieser Stelle setzen verschiedene sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungsansätze ein. Zu nennen sind insbesondere die Politische Ökologie und auch die umweltgeschichtliche Forschung. Auch die stoffgeschichtliche Forschung ist in diesem Feld tätig. Diese Forschung ist ein interdisziplinärer Forschungsansatz, der versucht, einen Mittelweg zwischen Naturalismus und Kulturalismus zu gehen. Gegen kulturalistische Konzepte, die bemüht sind, die Wirklichkeit auf kulturell Geschaffenes wie Diskurs oder Symbol oder Kommunikation zu reduzieren, nimmt er die unableitbare Eigenaktivität der Substanzen, ihre natürlichen Neigungen und ihren echten Pluralismus ernst. Die Stoffe sind keineswegs jene passive Materie, als die sie noch in den neueren, nach wie vor sehr einflussreichen kulturwissenschaftlichen Studien etwa eines Arjun Appadurai auftauchen (siehe Soentgen 2019). Vielmehr wirken sie zurück, sie verteilen sich auch auf eigene Faust über die Welt, transformieren sich und reagieren weiter, sie sind keineswegs nur neutrale Massen, die transportiert, geformt oder auch nach Belieben neu kombiniert werden können. Diese Eigenaktivität der Stoffe kann etwas sein, mit dem von vornherein gerechnet wird,

15 Grundlegend dazu: Heinrich Popitz (1992) insbesondere 164–165.

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sie erweist sich aber häufiger als etwas, das den Handelnden, aber auch unbeteiligten Dritten unvorhergesehen widerfährt.16 Gegenüber naturalisierenden Konzepten, die mit Begriffen wie ‚Stoffströmen‘17, ‚Stoffkreisläufen‘ oder ‚life cycles‘, aber auch mit Gattungsbegriffen wie ‚der Mensch‘ oder ‚die Menschheit‘ suggerieren, es handele sich bei den beobachteten Phänomenen um Naturprozesse, stellt die stoffgeschichtliche Forschung gerade das Handeln und Unterlassen konkret benennbarer politischer Kollektive in den Mittelpunkt. Denn die Dinge und Stoffe gehen zwar ihre eigenen oft unvorhergesehenen Wege, aber erst nachdem sie mobilisiert, mobilgemacht wurden. Und hier ist darzustellen, wer genau aufgrund welcher Motive diese Stoffe und Dinge in Bewegung bringt oder in Bewegung bringen lässt und wem dabei die Deponien und Halden, die vergifteten Böden und Gewässer hinterlassen werden. Es geht um die Benennung und präzise Beschreibung der Mobilmacher. Dabei kommen zum einen Herrschafts- und Ausbeutungsprozesse in den Blick, insofern in aller Regel eben nicht, wie Fersman schreibt, „der Mensch“ unmittelbar die Atome ergreift. Gegen dieses sozialistische Pathos ist vielmehr an die Einsicht Hegels zu erinnern, dass sich „der Herr mittelbar durch den Knecht auf das Ding“ bezieht (Hegel 1975:151). Anders gesagt: Arbeitsprozesse finden fast immer im Kontext hierarchischer sozialer Organisationen statt, in denen die einen befehlen, die anderen gehorchen. Und dies gilt nicht nur in kapitalistischen, sondern auch in sozialistischen Gesellschaftssystemen. Zum anderen werden, vermittelt über unvorhergesehene Nebenfolgen und vermittelt über die komplexe Eigenaktivität der Substanzen auch Unbeteiligte in den Handlungskontext einbezogen, die z. B. mit den toxischen Deponien leben müssen, die jene heroischen Aktivitäten hervorgerufen haben. Handlungen sind es also, die in den Stoffgeschichten im Mittelpunkt stehen, Handlungen in ganz konkreten sozialen und kulturellen Kontexten, in bestimmten historischen Situationen, Handlungen von konkreten, individuellen oder kollektiven Akteuren, die auf Grundlage benennbarer Motive und Situationsinterpretationen tätig werden18. Und diese Handlungen können nur dann hinreichend interpretiert werden, wenn auch kulturelle und politische Aspekte einbezogen werden, eine Beschränkung auf bloß technische und ökonomische Rationalität reicht nicht aus. Komplexe Handlungszusammenhänge, wie sie von

16 Die Kategorie des Widerfahrnisses hat zuerst Wilhelm Kamlah in die Handlungstheorie eingeführt. Siehe darauf aufbauend Peter Janich (2001: 37–38). 17 Vgl. zu einer Kritik der ähnlichen Metapher vom Verkehrsstrom Hugo Caviola und Andrea Sabine Sedlaczek (2020). 18 Zum Handlungsbegriff gibt es eine reichhaltige Literatur. Siehe neben der bereits zitierten Arbeit von Janich (2001) auch die klare Darstellung von Panayotis Kondylis (1999) insbesondere 437–480.

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der stoffgeschichtlichen Forschung analysiert werden, können oft erst im historischen Abstand hinreichend präzise aufgearbeitet werden. Indem man dies unternimmt, stößt man auf eine Realität, die Fersman zwar vermutlich kannte oder ahnte, aber in seiner Darstellung vollkommen ausblendet. Tatsächlich wurden die meisten jener Atome in der Stalinzeit von der „mächtigen Hand“ von hungernden und frierenden Sklavenarbeitern geborgen, die in den verschiedenen Lagern des Gulag, etwa in Magadan und an der Kolyma, inhaftiert waren. Wie es in solchen Lagern zuging, haben Zeitzeugen, zunächst Alexander Solschenizyn, dann aber insbesondere der russische Schriftsteller Varlam Schalamow, der selbst 18 Jahre lang in solchen Lagern arbeitete, eindringlich beschrieben,19 es ist zudem in der historischen und umwelthistorischen Forschung aufgearbeitet.20 Und auch heute sind ähnliche Lager sicher nicht Vergangenheit. Die Bedingungen, unter denen in der Demokratischen Republik Kongo das High-Tech-Metall Kobalt bzw. dessen Erz gefördert wird, werden auch in anderen Gegenden zu finden sein (Kara 2018). Giorgio Agamben (2005:185) hat die These aufgestellt, dass das Lager der nómos der Moderne sei. An den Anfängen und an den Rändern vieler Stoffketten, die am Ende zu glitzernden und selbstverständlich klimafreundlichen High-Tech-Geräten führen, finden wir tatsächlich nicht nur Deponien, sondern auch Lager oder lagerähnliche Behausungen, in denen verwirklicht ist, was Agamben anprangert, „la piú assoluta conditio inhumana che si sia data sulla terra.“ (Agamben 2005:185). Und diese Tatsache weist erneut darauf hin, dass die Mobilmachung der Materie zwar ein Prozess ist, der mit naturwissenschaftlichen Begriffen und Maßen genauer beschrieben werden kann, dass dabei aber methodische Vorsicht walten muss, um nicht in Naturalisierungen zu verfallen, die auf Verharmlosungen hinauslaufen und politische Themen entweder ausblenden oder verzerren. Vielmehr empfehlen sich als Komplement zu quantitativen Studien, wie sie in der Anthropozänforschung dominieren, immer auch Ansätze aus den Geistesund Sozialwissenschaften. In der stoffhistorischen Forschung wird der Balanceakt unternommen, beide Sichtweisen produktiv zu verbinden und auf diese Weise die ‚Mobilmachung der Materie‘ präziser zu beschreiben, die sowohl in neueren soziologischen und philosophischen Zeitdiagnosen wie auch in der Anthropozänforschung als zentrales und hochgradig problematische Phänomen unserer Zeit angesehen wird21. 19 Siehe nur die beiden Erzählungen «Die Schubkarre I» und «Die Schubkarre II» in Warlam Schalamow (2012) 380–382 bzw. 383–403. 20 Siehe Josephson et al. (2013) insbesondere 100–106. 21 Siehe Jens Soentgen (2019) insbesondere 7–52 und 209–224.

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Dass mit dieser Beschreibung immer auch neue Fragen, auch normative Fragen nach einem besseren Umgang mit Stoffen aufgeworfen werden, liegt auf der Hand. Sowohl in der modernen Soziologie wie auch in den modernen Umweltwissenschaften und in der Anthropozänforschung ist die Entwicklung normativer Perspektiven von erheblicher Bedeutung. Sie können hier aber nur angesprochen, jedoch nicht weiter ausgeführt werden.22

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22 Ich danke Kirsten Twelbeck, Matthias Schmidt und Hubert Zapf für ihre konstruktiven und sehr hilfreichen kritischen Kommentare zu einer früheren Version dieses Textes.

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Environmental Humanities im Garten: auf der Spur von Technik-Umwelt-Verhältnissen „Wenn Sie glücklich sein wollen für einen Monat, heiraten Sie. Wenn Sie glücklich sein wollen für den Rest Ihres Lebens, werden Sie Gärtner.“ Chinesisches Sprichwort

Der Garten ist, ähnlich wie Sprache, Kunst oder Technik, ein Phänomen, das ganz selbstverständlich zur Lebenswelt des Menschen gehört. Im Garten zeigen sich gesellschaftliche Ordnung und Naturverhältnis, der Garten kann abstraktes und konkretes Objekt sein, Gegenstand und Ort politischer Verhandlung (Burckhardt 1989; Harrison 2008; Tobey 1973). Gärten geben Auskunft über Lebensformen, die Gewohnheiten und Selbstwahrnehmung der Menschen, die in ihnen tätig sind und ihre soziokulturelle Umwelt (Müller 2011, Stolz 2017). Im Garten geht es permanent um die Frage wie epistemische und ontologische Spannungen auszuhalten sind, wie sich im Garten als Umwelt natürliche und künstliche, soziale und technische Entitäten zueinander ins Verhältnis setzen, wie sie sich ausschließen oder aufeinander zuwachsen, ineinanderfließen und verschmelzen. Wenn die Environmental Humanities sich eine Umweltforschung zur Aufgabe machen, in der es darum gehen soll, die „erforderlichen Werte zu fördern, um eine umweltverantwortliche Gesellschaft aufzubauen mit Lebensgewohnheiten ökologischer Bürgerschaft“ (Emmett, Nye 2017: 7; Übersetzung AS), dann sind Gärten hervorragend geeignete Forschungsobjekte, um Theorie und Praxis solcher Lebensformen zu analysieren, experimentell zu erproben, kurzum einen zeitgemäßen „hortensischen Lebensmodus“ zu entwickeln (Rombach 2011: 62) und den Homo hortensis in die Welt zu bringen (Schwarz 2019: 112). Aber wie kann dieser Umwelt-Garten angemessen konzeptualisiert werden? Und inwiefern kann der Garten Auskunft geben über wünschbare Lebensformen, über Gewohnheiten und Selbstwahrnehmung der Menschen, die in ihnen tätig sind, und ihre soziokulturelle Umwelt? In jüngerer Zeit gerät das gärtnerische Handeln zunehmend auch in den Blick von technik- und umwelthistorischer, literatur- und medienwissenschaftlicher, wissenschafts- und technikphilosophischer Forschung. Als hermeneutisches Werkzeug bringt der Garten bisher wenig beachtete Aspekte der AnthropozänDebatte in den Blick. Auf der Spur des Gartens und seiner Gärtner werden global gerahmte Umweltfragen als konkrete und lokale Phänomene analysiert, die „gestaltet sind durch individuelle und kollektive, ökonomische, politische und

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kulturelle Entscheidungen“ (Diogo et. al. 2019: 14; Übersetzung AS). Der Garten kann als Freilandlabor aufgefasst werden, in dem ein permanentes Experimentieren unter begrenzt kontrollierbaren Bedingungen stattfindet und eine gärtnerische Lebensform hervorgebracht wird. Umgekehrt werden durch den Begriff des Anthropozän etablierte wissenschaftliche Debatten zu Garten und Landschaft angeregt, die materielle Kultur dieser Objekte und damit ihren ontologischen und epistemischen Status neu zu überdenken als „Orte an denen Natur und Kultur aufeinander treffen und sich kreuzen“ (Diogo et. al. 2019: 6; Übersetzung AS). Der Garten kann dann verstanden werden als Verkörperung moralischer Werte etwa von Sorge und Zuwendung, Resilienz und Resonanz, von Zuversicht und Hoffnung (Schwarz 2019: 117). „Gardens stand as a kind of haven, if not a kind of heaven“ (Harrison 2008: X). Der Garten eröffnet einen Blick ins Paradies inmitten einer gefährdeten Welt, es ist die Sorge um den Garten, seine Unterhaltung und Erhaltung, die uns nach dem Sündenfall immer wieder zu retten vermag (Harrison 2008). Im Anthropozän-Diskurs entfaltet die Metapher von der Erde als Garten Eden oder einfach als Garten ein wirkmächtiges Potential, das den Menschen als sorgenden Verwalter oder kollektiven Gestalter in die Verantwortung nimmt. Schon fast verstörend ist der Bezug auf gärtnerische Praxen im Zusammenhang von Geoengineering-Visionen, die technowissenschaftliche Experimente auf globaler Skala im Sinne eines planetarischen Managements und als „gärtnerisches Geschäft“ legitimieren sollen (Keith 2009). Die Narrative und Begriffe rund um den Garten reihen sich in Form und Inhalt zwanglos ein in das Themenspektrum der „Environmental Humanities“. Unbehagen, Besorgnis und Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen im MenschNatur-Verhältnis sind der Grundtenor bürgerschaftlichen Engagements wie akademischer Aktivitäten, die sich zunehmend auch in einer universitären Institutionalisierung einschreiben, etwa durch Promotionsprogramme, Studiengänge und unzählige Forschungsprojekte. Die Environmental Humanities verstehen sich als ein radikal disziplinenübergreifendes Programm, mit dem ein Austausch zwischen Technik-, Natur- und Humanwissenschaften nicht nur für wünschenswert, sondern für notwendig gehalten wird, um jene Probleme besser verstehen zu können, die durch die Industriegesellschaften in die Welt gebracht wurden und vor allem auch um gemeinsam Lösungsvorschläge zu erarbeiten (e. g. Emmett, Nye 2017; Gaia 4/ 2020; Hiltner 2020). Die Hinterfragung der Logik von wachstumsorientierten Gesellschaften, ihrer Voraussetzungen und Folgen, führte zu einer Forschungsagenda, die sich mit Phänomenen wie Klimawandel, Ressourcenausbeute oder Müllproduktion beschäftigt. Zentrales Anliegen ist die Kritik an der menschlichen Spezies als Verursacher von globalen Transformationsprozessen und hierarchischen Ordnungen, thematisiert etwa als Anthropozentrismus oder als Exzeptionalismus (Haraway 2008; Rose et al. 2012). Zur Diskussion steht entsprechend nichts weniger als der Anthropos in seinem

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Verhältnis zur ihn umgebenden Welt, sein Gestaltungspotential, seine Wahrnehmung und Vorstellung von Natur, Gesellschaft, Technik und Umwelt. Damit einhergehend werden auch die in der abendländischen Philosophie und Wissenschaft tief verankerten dualistischen Begriffssysteme problematisiert. Kultur und Natur, Mensch und Tier, Subjekt und Objekt, Selbst und Anderes sind auf dem Prüfstand. Sie geraten als defizitäre Begrifflichkeiten in die Kritik, dies einmal mehr, wenn sie nicht dialektisch, sondern dichotom verstanden werden. Diese dominante Normativität wird gewissermaßen hintergangen, indem andersartige Ordnungsprinzipien ins Spiel gebracht werden, die das heuristische und konzeptuelle Interesse etwa auf Prozesse und Grenzverhältnisse richten (Barad 2012; Stengers 2014), auf Vielschichtigkeit, das Dazwischen und seine vielfältigen Identitäten (Haraway 2008, Smith 2011), oder auf kooperative Relationen, Gefüge und Assemblagen (Bennett 2010; Hayles 2017). Die Frage der Wahl der Ordnungsprinzipien und der Zuordnung wird als eine eminent politische Frage wahrgenommen und vor allem auch als eine Frage, die nicht unabhängig von der eigenen Position und Situiertheit behandelt werden kann. Der Kulturanthropologe Joseph Dumit bemerkt treffend: „The multiple dimensions that make up objects also make up ourselves, as well as our categories. Telling the stories of an object therefore begins unpacking our own clichés, our certainties, our affects“ (Dumit 2014: 349).

Technik moderiert das Verhältnis von Mensch und Natur Im Zeitalter des Anthropozän ist es in der westlichen Welt insbesondere die traditionelle Gegenüberstellung von natürlich/künstlich, die ins Zentrum des unbestritten prekären Verhältnisses von Natur und Mensch rückt. Es ist „unerläßlich geworden, im Westen über die Zersetzung des Natürlichen nachzudenken und dieses Problem in einen allgemeineren Rahmen zu rücken, wo die verschiedenen Konzeptionen der biologischen Dimension des Menschen und des Verhältnisses zur physischen Umwelt untersucht werden, die im Laufe der Geschichte hier und dort entwickelt wurden“ (Descola 2014: 88).

Auch hier bietet sich der Garten als besonders geeignetes Studienobjekt an, die gärtnerische Praxis verspricht Tiefe und Breite bezüglich des Natur-MenschVerhältnisses, will sagen eine enorme historische und aktuelle soziokulturelle Reichweite. Der Garten ist eine Umwelt für den Menschen, in der technische Interaktionen am Werk sind und unzweifelhaft auch natürliche Prozesse relevant sind – selbst wenn sie nicht als solche anerkannt werden. „The tree in the garden could easily have sprung from the same seed as the tree in the forest, and we can claim only its location and perhaps its form as our own. Both trees

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stand apart from us; both share our common world. The special power of the tree in the wilderness is to remind us of this fact. It can teach us to recognize the wildness we did not see in the tree we planted in our own backyard. By seeing the otherness in that which is most unfamiliar, we can learn to see it too in that which at first seemed merely ordinary“ (Cronon 1995: 24).

Der Garten ist ein Ort, der geradezu auffordert, ein reflektiertes Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu finden, indem der Mensch nicht anders kann als sich mittels verschiedener Handlungsmodi sorgend, genießend, zornig, kontemplativ, achtsam in Beziehung zu setzen zu Boden und Wetter, Zierpflanzen und Kräutern, Unkraut und Nutzpflanzen. In der gärtnerischen Praxis geht es also permanent um die Frage, wie der Gärtner sich zu seinem Objekt ins Verhältnis setzt. Im Garten scheitert die biokonservative Denkfigur eines antipodischen Verhältnisses von Technik und Natur so offensichtlich, dass es nicht ignoriert werden kann, wie das vielleicht im Falle eines markierten Naturschutzgebietes, einer Flussaue oder Alpenlandschaft noch möglich ist. In ihrem Buch „The Illusory Boundary“ betonen die Historiker Martin Reuss und Stephen Cutcliffe, dass Technik und Natur in einer Weise aufeinander bezogen seien, „(that) encompasses a variety of cultural leitmotifs, including value, social purpose, aesthetics, ethics, and fundamental issues of definition“ (Reuss, Cutcliffe 2010: 1). Sie verweisen weiterhin darauf, dass sich die Konstellationen von Technik und Natur historisch verändern und folglich immer wieder neu zu verorten sind, indem „the two concepts embody both symbol and sentiment; they represent values“ (Reuss, Cutcliffe 2010: 2). Erst seit etwa den 1990er Jahren wird die Vorstellung, dass Technik angesiedelt sei zwischen Menschen und natürlichen Systemen, zunehmend verabschiedet, „(t)he machine has become entwined not just with the garden but with entire ecologies, social and natural, and it is not always clear where the machine ends and nature starts“ (Gorman, Mendelsohn 2010: 277). Fragen danach, ob domestizierte Hunde und Katzen Kultur oder Natur sind, oder welcher Teil eines genmanipulierten Organismus nun technisch oder natürlich sei, verlieren dann nicht etwa an Brisanz, im Gegenteil, sie werden zu ethischen und politischen Fragen. Es kann dann nicht mehr um eine Bestimmung der einen allgemein gültigen, transkulturellen Natur gehen, aber es sollte auch nicht darum gehen, sich in identitätspolitische Debatten zu verstricken. Aus philosophischer Perspektive bietet sich als ein Lösungsweg an, Epistemologie und Ontologie im Sinne eines unauflösbaren Verhältnisses zu thematisieren. Es geht dann darum, das Verhältnis von Mensch und Natur im Sinne einer sogenannten ontologischen Bindung zu reflektieren. Schon in den 1960er Jahren schlug der amerikanische Philosoph Willard Van Orman Quine vor: „Ontology is indeed doubly relative [. . .] We cannot know what something is without knowing how it is marked off other things. Identity is thus of a piece with ontology. Accordingly, it is involved in the same relativity“ (Quine 1969: 54–55).

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Mit dem Begriffspaar Technik und Umwelt wird eben diese gegenseitige Abhängigkeit thematisiert. Die Interaktionen des Menschen mit seiner Umgebung rekapitulieren und affirmieren permanent die Wissensbedingungen über die Dinge, mit denen in Beziehung getreten wird und auch den Menschen selbst. Umgebung wird dabei durch technisches und soziales Handeln zur Umwelt transformiert. In diesem Sinne sind die Beziehungen zwischen Dingen und Menschen in einer technowissenschaftlich geprägten Umwelt von höchster Relevanz für ein reflektiertes Handeln, das sich als eine Politik des Mensch-NaturVerhältnisses versteht. Vor diesem Hintergrund wird die Unterscheidung von artifiziell und natürlich zur Aufforderung einer permanenten Hinterfragung der aktuell untersuchten relationalen Verhältnisse, der heuristische und konzeptionelle Fokus verschiebt sich zur Frage nach den Beziehungsformen. Eine Möglichkeit, um diese Verschiebung methodisch zu erkunden und gleichzeitig die begriffliche Verschränkung von Natur und Kultur voranzubringen, ist mit Perspektivenwechsel zu arbeiten: wir sehen aus der einen Perspektive Organismen, die in einer vom Menschen verwalteten Welt leben und sich entsprechend anpassen müssen; aus der anderen Perspektive sehen wir, wie Entscheidungen getroffen werden über Technologien, die letztlich unsere Möglichkeiten der Interaktion mit komplexen natürlichen Systemen bestimmen. Technik ist also nicht als Beherrschung der Natur zu sehen, stattdessen ist Technik die „Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit“, wie schon Walter Benjamin (1928: 82) betonte. Relational gedacht ist Technik dann der Bereich von Interaktionen zwischen Individuen und deren Umwelt, materieller oder geistiger, natürlicher oder menschgemachter Art – vor allem aber aller Nuancen und Differenzen dazwischen. Vor diesem Hintergrund erübrigen sich auch Hinweise darauf, dass die Technik sich zunehmend schwerer von einem Naturbegriff abgrenzen ließe, oder dass sie heute ein konstitutiver Teil der menschlichen Ökologie geworden sei, denn genau dies ist sie schon immer gewesen, indem Menschen sich interaktiv in ihrer Umwelt einrichten. Als Akteure bewegen sich Menschen in einem gesellschaftlichen, physischen und symbolischen Umfeld und eignen sich bestimmte Dinge, Handlungen und Orte an, verfolgen Projekte, nehmen Identitäten an und gehen Bindungen ein, finden zu einer Form, die als Gefüge, Assemblage, Lebensform oder noch anders bezeichnet werden mag. Es geht darum, die „richtige“ Verhältnismäßigkeit der technischen Optionen und Möglichkeiten zu finden, um das Verhältnis von „Natur und Menschheit“ auszutarieren. Dabei gerät nicht nur die Entwicklung von Wissensformen in den Fokus, sondern auch die Kultivierung von Affekten und Emotionen; gefragt ist Aufmerksamkeit gegenüber anderen und vor allem sich selbst auszusetzen. Es geht darum, eine Reorientierung in Gang zu setzen, in der es nicht selbstverständlich ist, dass mehr Wissen auch einen besseren Zugang zur Welt verschafft, oder wie es der An-

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thropologie Tim Ingold (2019: 14) formuliert: „Wissen rüstet auf und beherrscht; Weisheit entwaffnet und kapituliert“. Es geht darum, ein technisches Verständnis zu entwickeln, das der ganzen Fülle menschlicher Lebensphasen und Bedürfnisse gerecht werden kann, wenn es immer wieder von Neuem darum geht, sich eine angemessene Umwelt anzueignen. Am Werk sind hier sich gegenseitig ergänzende Prinzipien der Bestätigung und des Rückhalts einerseits und der Erweiterung im Sinne einer Neu-gier, des Strebens nach Neuem andererseits. „We need then a judicious mixture of settling and striving in our lives. […] The ‚striving‘ side of life is where the action is, literally and metaphorically. The ‚settling‘ side of life seems still and boring by comparison. […] the settling side is an indispensable complement to that striving side“ (Goodin 2012: 74). Auf der „striving side“ steht die Technik der Innovationen und Visionen, sie beunruhigt und regt gleichermaßen an, ist Verführung und Begehren. Fällt Technik auf die „settling side“, wird sie zur Lebenswelt, Teil von „Hintergrundüberzeugungen und Gegebenheiten, die nicht weiter problematisiert werden“ (Dickel 2015: 65). Technik ist dann ganz selbstverständlich verfügbar, wird in Gebrauch genommen – und kann vergessen werden.

Umwelthandeln im Garten Technik kann also auf die eine oder andere Weise eingesetzt werden, um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu moderieren, wobei sie mehr oder weniger sichtbar ist. Im Garten ist der genmanipulierten Kartoffel ihre Technizität vielleicht weniger anzusehen als einer Rose, die durch traditionelle Züchtung ausgestattet ist mit einer enormen Fülle an Blüten. Der Garten ist ein Ort, an dem die Komplementarität von zur Ruhe bringen und in Unruhe versetzen, von Altbewährtem und nach Neuem Strebenden permanent am Werk ist und durch die gärtnerische Praxis geformt wird. Indem die Gärtner*in – oder das Gärtnerkollektiv – sich im „Gartenwerk“ betätigt, wird eine prozessuale Beziehung zum Garten entwickelt, die sich unablässig mit den angetroffenen Zuständen, Dingen und Lebewesen auseinanderzusetzen hat und kaum zur Ruhe kommt. Verschiedene Beziehungsformen werden im Garten relevant, Ideen, Einstellungen und Werte müssen immer wieder geprüft werden, Handgriffe eingeübt und Ansichten überarbeitet werden. Der Garten trägt eine Positionierung an den Gärtner heran, es gibt einen unablässigen Entscheidungsdruck, die Gartenumwelt erlegt einen unabweisbaren Zwang auf, sich auf neue Situationen einzustellen. Dass ein kooperatives Verhältnis im Garten sich letztlich als produktiver für den Gärtner und seine Gartenumwelt erweist, ist in vielen Gartenbüchern, etwa im Gartenmanifest von Henk Gerritsen (2008) zu erfahren, und auch, was es jeweils heißt, dies in einer

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gärtnerischen Praxis auszuhandeln. In einem Barockgarten sind andere Mittel und Werkzeuge einzusetzen als in einem englischen Garten, der traditionelle Bauerngarten muss anders bewirtschaftet werden als ein Designergarten (Thelen 2017: 27). Ein technokratischer Zugriff im Garten bedeutet auch einen höheren Einsatz an körperlicher, möglicherweise auch maschineller Kraft und ist mit immer noch mehr Aufwand verbunden (Thelen 2013: 51–52). Je weniger die Eigendynamik von Boden, Pflanzen und Tieren in der gärtnerischen Praxis berücksichtigt wird, desto mehr Arbeit ist durch Maschinen oder menschliche Arbeitskraft zu investieren, die formalen Gärten sind dafür ein gutes Beispiel. Gärten verändern sich ständig, erfordern Anpassung an diese Veränderbarkeit und in diesem Sinne bieten sie auf eine andere Weise eine Erfahrung von Resistenz, manchmal vielleicht auch Renitenz, als Maschinen. Im Garten können folglich Erfahrungen gemacht werden von kooperativen Verhältnissen, die ganz anders gestaltet sind, als wenn wir uns in Beziehung setzen zu Maschinen, selbst zu kognitiven Maschinen. Gärten ermöglichen Erfahrungen, die Natur als Gegenüber wahrnehmbar machen und dies in gewisser Hinsicht auch erzwingen, dafür sorgen die Eigenlogik der pflanzlichen Entwicklung und Bedürfnisse, die meteorologischen Zufälligkeiten, die träge Physis des Gartenbodens und nicht zuletzt die Begegnungen mit anderen Tieren. In diesem Sinne wird der Körper der Gärtnerin zu einem Archiv der Geschichte der Interaktionen mit ihrem Garten, sie entwickelt ein „Körperwissen“ beim Einsatz ihres Körpers als technisches Mittel und von Werkzeugen in der Interaktion mit der Gartenumwelt: „our bodily form and our senses produce ‚bodily knowledge‘ that mediates our connections with the external world and helps determine both the tools we use and the nature we experience“ (Parr 2010: 28). Ein weiterer Vorteil von Gärten ist, dass sie als Erfahrungsgegenstände im Alltag sehr verbreitet sind. Gartenkultur gibt es nicht nur im Familiengarten oder in der Kleingartenkolonie, sondern auch in städtischen Hinterhöfen, auf Balkonen und Dächern, auf Verkehrsinseln und Baumscheiben (Müller 2011, Stolz 2017). Städtisches Gärtnern, „urban gardening“, ist zu einem festen kulturellen Bestandteil moderner Städte geworden und geht mittlerweile in die städtebauliche (Beispiel Hunzigerareal, Zürich) wie architektonische Planung (Beispiel Bosco Verticale, Mailand) ein. Um das Ziel einer umweltverantwortlichen Gesellschaft zu erreichen und Lebensgewohnheiten ökologischer Bürgerschaft (Emmett, Nye 2017) zu entwickeln, sind die vielfältigen gärtnerischen Praxen ein geradezu privilegierter Handlungskontext, um die entsprechenden Werte einzuüben und Umwelthandeln im Anthropozän als sozioökologische Lebensform wirksam werden zu lassen.

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Garten als Assemblage und Gefüge Die Rede über das Gefüge Garten oder das Gartengefüge ist allgegenwärtig in Texten über das Gärtnern, sowohl in gartentheoretischen Aufsätzen oder philosophischen Beiträgen als auch in der Alltagskultur, etwa in Informationsbroschüren, Zeitungsartikeln oder Werbeblogs. Nachfolgend eine Auswahl, die nicht repräsentativ ist im Sinne des jeweiligen Medientyps oder angesprochenen Bereichs: „Die Pflanzenauswahl ist die Grundlage für ein harmonisches Gartengefüge, denn verschiedene Pflanzenarten können sich gegenseitig stärken oder schwächen.“ (Naturnah 2021) „‚Avantgardening‘ erschafft mit einer digitalen Collage mit Motiven aus dem Rijksmuseum und der New York Library ein neuartiges, avantgardistisches Gartengefüge.“ (Bedandroom 2021) Werbung für Motivbettwäsche „Der Klimawandel wird das gesamte Gartengefüge verändern, nicht jahresaktuell, sondern über einen großen Zeitraum.“ (Foos zit. in Einführ 2017) Tagungsbericht „Vor und nach Monet ist das Gefüge Garten Anlass für künstlerische Reaktionen“ (Forstbauer 2017) Ankündigung Monet Ausstellung

„Entscheidend ist, dass der Gärtner bis auf nutzerisch bedingte Änderungsmaßnahmen nunmehr regulierend eingreift und das bestehende lebende Gefüge nicht beständig gegen die systemimmanente Veranlagung in andere Verläufe zwingen muss.“ (Thelen 2013: 51) Autorin Das Gefüge „Garten“ (oder „Gartengefüge“) ist in der Fachliteratur wie der Alltagskultur verbreitet, Bezug genommen wird damit auf den Garten als Einheit, in dem Beziehungen verschiedenster Art stattfinden zwischen lebenden und nichtlebenden Entitäten, menschlichen und vor allem auch nicht-menschlichen Akteuren. In diesem Sinne wird der Garten als eine multiple Struktur wahrgenommen. Und selbst wenn er als ästhetische Einheit betrachtet oder als Reallabor thematisiert wird oder einen ganz realen Zaun hat, so ist er doch nicht als Ding oder Objekt zu isolieren von seiner Umgebung. Mit dem Garten als Gefüge wird die Aufmerksamkeit auf relationale Verhältnisse im Sinne einer materiellen, körperlich und sinnlich verstandenen Koexistenz gelenkt. Entsprechend ist der Garten als Netzwerk weniger verbreitet und nimmt entweder ganz buchstäblich auf Netzwerktechnik Bezug oder aber auf soziale Vernetzung, aber nicht auf den Garten als System von Relationen. Gefüge, Assemblage und Netzwerk kommen in verschiedenen Theoriekontexten vor, wobei das Netzwerk meist systemtheoretisch inspiriert ist. Verhandelt werden Knoten und Verbindungen etwa von Akteuren, gesellschaftlichen Kompartimenten, Verkehrswegen oder Städten. Kritisiert wurde an der Netz-

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werk-Semantik, dass die Körperlichkeit der verbundenen Einheiten eher spärlich berücksichtigt und kärglich repräsentiert sei (Galloway, Thacker 2007). Zwar finden auch im Netzwerk, verstanden als dynamisches System, Austausch, Transformation, und Verteilung statt, aber „they lack the sense of those interactions occurring across complex three-dimensional topologies, whereas assemblages include information transactions across convoluted and involuted surfaces, with multiple volumetric entities interacting with many conspecifics simultaneously“ (Hayles 2017: 118). Allein auf der Basis eines Netzwerks als Informationsmodell sind die Austauschverhältnisse im Garten offenbar nicht hinreichend zu beschreiben, ebenso wenig wie allein auf der Basis von Energieund Stoffaustauschmodellen. Dies gilt jedenfalls, wenn dem Garten nicht alleine eine materielle Dimension zugeschrieben und er auch nicht eindimensional auf einzelne Elemente oder auch Elementkombinationen reduziert werden soll – die „üblichen Verdächtigen“ wären hier Stickstoff, Phosphat, Kohlenstoff. Eine solche naturwissenschaftlich ökologische Perspektive wurde und wird, etwa seit den 1970er Jahren, häufig erweitert um eine gesellschaftliche Dimension, also verschränkt mit sozialen und kulturellen Materialisierungen, um so die klassische Unterscheidung zwischen menschgemachter Kultur und gewachsener Natur zu unterlaufen. Ökologie mit diesem Verallgemeinerungsanspruch meint dann das große Geschehen der Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Menschen, Ereignissen, Narrativen und Gegenständen. Dies führt zu einer semantischen Explosion von „Ökologie“, die bestenfalls eine reflexive Politisierung von NaturKultur-Verhältnissen hervorbringt, schlimmstenfalls eine Simplifizierung materialistischer Systemtheorien. Ob die Strategie eines wünschenswerten, sich gegenseitig ergänzenden Austauschs zwischen natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Perspektiven auf diese Weise befördert wird, ist, nicht zuletzt auch wegen der nach wie vor dominanten Situierung der Ökologie im naturwissenschaftlichen Feld, noch offen. Die Konjunktur des Ökologischen im Blick auf die Diskussion um Gefüge und Assemblage legt indessen ein erneutes Überdenken organizistischer Ansätze nahe, wie sie beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert stark präsent waren in Philosophie, Soziologie und Biologie. Eine umfassende Analyse dieses Diskurses steht noch aus. Nachfolgend seien lediglich kursorisch einige Facetten dieser Debatte um relationale Verhältnisse und ein Prozessverständnis von Entitäten aufgegriffen, die zunächst vor allem die begriffshistorische Vielschichtigkeit verdeutlichen, die auch für die Konzeption des Gartens relevant wird.

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Historisches Gefüge Die in der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts recht verbreitete Rede vom gesellschaftlichen Gefüge, etwa bei Schelling, Hegel oder Marx, greift auch Émile Durkheim (1981 [1892]) auf, wenn er die Phänomene des gesellschaftlichen Lebens zu beschreiben sucht. Im Rückgriff auf die aufklärerische Staatstheorie von Charles de Montesquieu, hebt Durkheim hervor, dass die Beziehungen zwischen Recht, Sitte, Handel oder Verwaltung in der Gesellschaft fälschlicherweise für nebensächlich gehalten würden, „da sie die innere Natur der Dinge nicht berühren“ (Durkheim 1981 [1892]: 123). Dem hält er entgegen, dass die Phänomene der Gesellschaft, „wie unterschiedlich sie auch sein mögen, das Leben eines bestehenden gesellschaftlichen Gefüges (ausdrücken). Solange wir nicht zu verstehen versuchen, wie sie harmonisieren und interagieren, ist es unmöglich, ihre Funktionen zu definieren“ (Durkheim 1981 [1892]: 123). Dieser funktionale Ansatz wurde auch in der frühen Ökologie aus organizistischer Perspektive aufgegriffen. Richard Woltereck beschäftigte sich in seiner zweibändigen „Philosophie der lebendigen Wirklichkeit“ ausführlich mit „Organismen als Gefüge/Getriebe, als Normen und als erlebende Subjekte“ (1940a) und mit der „Ontologie des Lebendigen“ (1940b). Gefüge sind für Woltereck Strukturen, die eine „geordnete Mannigfaltigkeit“ bezeichnen, und zwischen deren „Komponenten Wechselwirkungen stattfinden, die von übergeordneten Beziehungen zu einer Ganzheit oder Gestalt zusammengeschlossen werden“ (Woltereck 1940a: 208). Ein „Beziehungsgefüge“ kann ein Organismus oder ein Ökosystem sein, aber kein Kristall (Woltereck 1940a: 209). Entscheidend ist, dass es sich um lebendige Entitäten handelt, wobei Woltereck bezüglich der Art der Relationen nicht unterscheidet zwischen sogenannten Ein- und Mehr-PersonenStrukturen: „Bekannt ist die Tatsache, dass nicht nur für begrenzte Räume, wie ein Wassertümpel, ein Baum, ein menschlicher Körper sie darstellt, das Gleichgewicht unter den lebenden Insassen die Regel ist, sondern dass auch für größere Komplexe, wie Inseln und Seen, Kontinente und Ozeane, endlich sogar für den gesamten Wohnraum ‚Erde‘, für dessen gesamte Tierwelt, Pflanzenwelt, Bakterienwelt ein Gleichgewichtszustand im großen und ganzen besteht, der nur durch den Menschen – von gelegentlichen Katastrophen abgesehen – empfindlich gestört wird“ (Woltereck 1940a: 228–229).

In seiner Ontologie des Lebendigen betreibt Woltereck keine Grenzarbeit entlang technischer und natürlicher Entitäten, stattdessen setzt er auf einen „Real-monismus des Einen, Progressiven Geschehens“ (Woltereck 1940b: 11). In dessen Zentrum steht der lebendige Organismus, der sich in einem permanenten und dynamischen Wechselspiel befindet zwischen „materiellem Gefüge“, dem Außen, und „transmateriellen ontischen Zentren“, dem Innen (Woltereck 1940b:

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34–35). Das gesamte Gefüge Organismus besteht „(a)us Bezugnahmen auf ‚bemerkte‘ Bedeutungen“, durch die „Organfunktionen, Bewegungen“ und „Verbindungen zur Umwelt durch aktives Beziehung-nehmen“ hergestellt werden (Woltereck 1940b: 316). Wolterecks Ontologie des Lebendigen ist eine Prozessontologie, in der eine permanente Rekapitulierung von Beziehungen und Verbindungen stattfindet, durch die das Gefüge stabil gehalten wird und doch in einem Resonanzverhältnis zu seiner Umwelt steht, sowohl materiell wie kognitiv.

Beziehungsgefüge und Assemblage Von Beziehungsgefügen ist auch bei Bruno Latour (1996) die Rede, wenn er Dinge, im Anschluss an Heidegger, als Versammlung von widerstreitenden Bestandteilen beschreibt, die allerdings, im Gegensatz zum harmonischen Geschehen bei Woltereck (1940a, b), eher einer Streitsituation gleicht, indem sie von irritierenden und eigensinnigen Verbindungen, von Zufall und Abweichung gekennzeichnet ist. Und auch bei Latour (1996) sind die Dinge in Bewegung, sie sind vernetzt und einer permanenten Dynamik ausgesetzt, in der sich Teile auflösen oder sich neu zusammensetzen und Allianzen bilden. Beim wissenschaftlichen Arbeiten wird, zumindest zeitweise, diese Dynamik in Raum und Zeit fest-gestellt, es werden schriftliche und visuelle Referenzen produziert, die gleichzeitig auch eine Kontinuität zwischen den beforschten Dingen und der Referenz selbst herstellen. „Der unermeßliche Abgrund zwischen den Dingen und den Worten ist an allen Punkten durch solche kleinen Abgründe wie den zwischen der Bodenprobe und dem Schachtelcode des Pedocomparators geprägt“, so Latour (1996: 218) in seiner Feldforschung auf den Spuren des „Pedologen-Fadens“ von Boa-Vista, die im Wesentlichen in der Beobachtung und Beschreibung der Arbeit einer Gruppe von Biologen und Bodenkundlern besteht, die eine Übergangszone zwischen Wald und Savanne im brasilianischen Amazonas beforschen. Die Transformation eines Erdklumpens als Referenz wird akribisch beschrieben, die Auswahl, Hebung, Umsetzung, der Transport, Vergleich, die Zustandsveränderungen und Übertragung in ein zweidimensionales Medium, „vom Hybride Erde/Zeichen/Schublade zum Papier“ (Latour 1996: 223). Es ist dieses Hybride „zwischen einer Form, einer Materie, und einem geschickten Körper“ aus dem „jedesmal ein neues Phänomen“ entsteht (Latour 1996: 225). Es geht hier um ein Verständnis vertikaler und horizontaler Allianzen von Beziehungsgefügen, vertikal überbrücken sie die getrennten Ensembles Dinge und Worte, horizontal schaffen sie ein Kontinuum von Handlungen, zusammen bilden sie das wissenschaftliche Phänomen ‚Waldrand von Boa Vista‘. Latour schließt seine wissenschaftsphilosophischen

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Überlegungen mit einer freundlich ironischen Aufforderung, insbesondere an Philosophen: „Genießen Sie diese lange Kette von Transformationen, diese Folge von Vermittlungen, anstatt den kleinen Freuden der adaequatio nachzujagen. Ich kann niemals eine Ähnlichkeit zwischen meinem Geist und der Welt nachweisen, aber ich kann, wenn ich bereit bin den Preis zu zahlen, das Netz erweitern, in dem die Referenz durch beständige Transformationen zirkuliert und sich gerade so bestätigt“ (Latour 1996: 247).

Latour (1996) verabschiedet sich damit entschieden von der dichotomen Realismus-Konstruktivismus-Debatte, ganz wie schon Woltereck (1940a, b) der zeitgenössischen Mechanismus-Vitalismus-Debatte zu entkommen strebte, durch seine Konzeptualisierung eines Beziehungsgefüges. Auch Woltereck (1940a, b) stattete sein Gefüge mit Vermittlungsinstanzen aus, das „Beziehungnehmen“, die Resonanz und andere, denen er eine dynamische Kontinuität unterstellt – aber natürlich zahlt er nicht den Preis, das Netz zu erweitern auf seine Werkzeuge der Repräsentation. Auch Gilles Deleuze und Felix Guattari (1977 [1976]) operieren mit einem Begriff von Assemblage, der ein heterogenes Ensemble aus ungleichen, sich nicht ähnelnden Elementen zusammenfasst, samt einer Vielzahl an Relationen und Verkettungen semiotischer, materieller und sozio-kultureller Art. Und auch hier werden gewachsene und gemachte Entitäten, materielle und ideelle Äußerungen durch eine prozesshaft verstandene Assemblage ausbalanciert und in Zeit und Raum, mindestens vorübergehend, stabilisiert. Wie bei Woltereck (1940a, b) spielt es keine Rolle, auf welcher Maßstabs- oder Gegenstandsebene der Zusammenhalt stattfindet, sei es auf zellulärer Ebene, wie der eines Organismus, sei es auf der eines Ökosystems oder eben einer Gesellschaft. Mehr Gewicht wird hier den Verbindungen gegenüber den Entitäten gegeben bei der Hervorbringung der vorübergehend stabilisierten Assemblage, es sind die Beziehungen, die die Assemblage konstituieren. Diese Assemblage ist aber weder im Sinne etwa eines Schiffsmodells zu verstehen, noch einer künstlerischen Collage, bei der vorgefertigte oder gefundene Teilen ineinander gearbeitet werden. Im Unterschied zu beiden wird der Prozess, in dem die Teile zusammenfinden und sich aufeinander beziehen, für entscheidend gehalten (Deleuze, Guattari 1977 [1976]: 36). Assemblagen sind hier also radikal prozesshaft zu verstehen, sie verkörpern „Richtungen von Prozessen“ (Schreiber 2018: 113) und changieren zwischen Materialisierung und Dematerialisierung, Stabilisierung und Destabilisierung. Katherine Hayles (2017) bietet, im Anschluss an die Assemblage bei Deleuze und Guatteri (1977 [1976]), den Begriff der kognitiven Assemblage an, die aus Menschen mit und in ihren technischen Systemen besteht, exemplarisch hier das Internet. Diese hybriden Konstellationen verfügen über ein enormes transformatives Potential, das sich von älteren Technologien wie Dampfmaschine oder

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Eisenbahn dadurch unterscheidet, dass Informationen ausgetauscht werden und auf dieser Basis eine kognitive Wechselwirkung zwischen technischen und menschlichen Teilnehmern einer Assemblage möglich wird. Es entsteht eine techno-soziale Umwelt, in der Maschinen und Menschen durch kognitive Vorgänge auf eine Weise verknüpft sind, die sich bidirektional auswirken und damit letztlich auch „beeinflussen was es heißt Mensch zu sein in einer entwickelten Gesellschaft“ (Hayles 2017: 120; Übersetzung AS). Die kognitive Assemblage eröffnet interessante Perspektiven auf sozio-technische Konstellationen, erscheint allerdings weniger geeignet im Blick auf den Garten, denn sie verfehlt wesentliche Aspekte seiner techno-sozialen Umwelt. Trotzdem bietet der Begriff interessante Optionen für die Analyse zeitgenössischer Gärten, die nicht selten ausgerüstet sind mit informationsbasierter Technik. Vor allem aber wäre durch die Berücksichtigung des Interspezies-Aspektes auch eine konzeptuelle Erweiterung der kognitiven Assemblage zu erwarten. Informationsübertragung und -austausch finden im Garten zwischen Akteuren einer Assemblage statt, die radikal divers sind bezüglich ihres kognitiven Potentials, man denke an Regenwurm – Maulwurf – Mensch, oder Katze – Spitzmaus – Schnecke. Der Exkurs schließt mit Überlegungen zu Jane Bennetts (2010) AssemblageKonzept. Sie beschäftigt sich vor allem mit Assemblagen, bei denen, anders als bei Deleuze und Guattari (1977 [1976]), nicht die Gesellschaft im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Stattdessen geht es ihr um technische Artefakte und Phänomene, wie etwa einen Stromausfall, Computertastaturen, Kartoffelchips oder Technik-Umwelt-Gefüge, wie Müllwirbel in den Ozeanen oder Hurrikane verstärkt durch den Klimawandel. „Assemblages are living, throbbing confederations that are able to function despite the persistent presence of energies that confound them from within. […] Assemblages are not governed by any central head: no one materiality or type of material has sufficient competence to determine consistently the trajectory or impact of the group. […] An assemblage thus not only has a distinctive history of formation but a finite life span“ (Bennett 2010: 23–24.)

Die Assemblage wird als ein permanenter, lebendiger und offener Prozess verstanden, der aktiv handelnd wirksam wird und auch eine Lebenszeit hat. Dies ist vielleicht die dem Beziehungsgefüge von Woltereck (1940a, b) am nächsten kommende Konzeptualisierung, indem sich Bennett (2010) an organismischen Eigenschaften orientiert, wie der Lebenszeit, pochenden und widerständigen Funktionen und überhaupt Leben. Und wie auch bei Woltereck (1940a, b) können Entitäten jenseits des Organismus diese Verfassung haben, wobei Bennett (2010) das Gefüge-Spektrum öffnet hin zu ganzen Gesellschaften, ihren Institutionen, auch zu Stoff- und Energieströmen. Auch in der Archäologie wird

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die Assemblage produktiv eingesetzt, um Verflechtungen materieller Kultur als „materielle und symbolische Beziehungsgefu¨ ge“ zu untersuchen. Hier kommt es vor allem auch darauf an, bestimmte Objekte wie „römischer Import Fenstergefäß“ in ihrem Gefüge aktueller und historischer Bezüge zu verorten (Schreiber 2018: 232). Sowohl Assemblage und Beziehungsgefüge werden hier genutzt, allerdings nicht unterschieden im Hinblick auf eine analytische Differenz.

Zurück in den Garten Der Garten spielt bei allen oben diskutierten Autorinnen und Autoren keine Rolle. Die Geschichte darüber, welchen Blick auf den Garten eine begriffliche Assemblage oder ein Beziehungsgefüge freisetzen würde im aktuellen Diskurs zu Assemblage/Gefüge, ist noch nicht auserzählt. Was die Überlegungen zu Assemblage/Gefüge indessen deutlich gemacht haben ist, dass hier eine Verschiebung weg von rigide abgegrenzten Entitäten hin zu einer Theoretisierung von prozessualen Relationen stattfindet, und auch, dass eben dies mit dem Kompositum Gartengefüge aufgegriffen wird in der Alltagskultur und auch der Fachliteratur, selbst wenn dies meist nicht begrifflich wird. Der Garten als Beziehungsgefüge bietet ein gesellschaftliches Reallabor, in und an dem der Mensch sich immer wieder neu mit den angetroffenen Zuständen, Dingen und Lebewesen auseinanderzusetzen hat und so lernt, sich auf transformative Prozesse einzustellen. Die gärtnerische Praxis schenkt die Erfahrung der Unverfügbarkeit mit den im Garten anzutreffenden Dingen und Lebewesen, sie fordert anhaltende Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Revision der eigenen Vorstellungen und Ideen im Umgang mit den Dingen und Lebewesen im Garten. Durch sein Handeln im Gartengefüge bringt der Gärtner sein Denken, seinen Gestaltungswillen, seinen ganzen Körper mit ins Spiel. Er riskiert sich in gewisser Weise, denn indem er Teil des Geschehens wird, lässt er sich auch immer wieder von Neuem infrage stellen. Und natürlich ist die gärtnerische Praxis nicht an einen hortus conclusus, ein umzäuntes Stück Land gebunden, sie kann auch am Küchenfenster, auf dem Balkon oder im Hinterhof stattfinden und überall dort kann auch die Erfahrung von Resonanz, Affektion, Resilienz und Fürsorge in den „unordentlichen Realitäten des gewöhnlichen Lebens“ (Ingold 2019: 9) gemacht werden. Es sind solche Werte und Erfahrungen die ein Orientierungswissen geben für ein Umwelthandeln, wie es im Sinne der Environmental Humanities gefordert wird, nämlich „knowledge that is affective, or emotionally potent, in order to be effective, or capable of mobilizing social adaption“ (Emmett, Nye 2017: 8). Wie im Garten, geht es beim gesellschaftlichen Umwelthandeln im Anthropozän nicht allein um Wissen. Es geht vor allem darum, dass Menschen sich beteiligen und

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mit ihrem Lebensexperiment auf aktuelles und künftiges Umwelthandeln einlassen. Eine kritische Haltung ist gefragt, um die technowissenschaftliche Assemblage des Homo hortensis zu gestalten.

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II. Natur und Narration

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Narrative der Natur in der amerikanischen Kultur und Literatur

Vorbemerkungen Die Environmental Humanities beziehen ihre interdisziplinären Fragestellungen nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass das, was wir unter Natur verstehen und oft als selbstverständlich gegeben wahrnehmen, wesentlich mit den Vorstellungen zu tun hat, die wir uns von Natur machen, d. h. mit den kulturellen Weltbildern, Werten und Wahrnehmungsweisen, die unser Leben und Denken und nicht zuletzt auch unser Verhalten gegenüber dem, was wir als Natur bezeichnen, bestimmen. Was wir Natur nennen, ist also bis zu einem gewissen Grad stets ein menschliches Konstrukt, und zwar nicht nur in einer erkenntnistheoretischen oder sprachlich-diskursiven Hinsicht, sondern auch in einer ganz praktischen Hinsicht der ko-evolutionären und überlebensnotwendigen Interaktion der Kultur mit der Natur, die auch für letztere erhebliche Auswirkungen hat. Denn das, was wir als Natur bezeichnen, trägt bis in die entlegensten Winkel der Erde bereits die Spuren der menschlichen Zivilisation. Ein neuer, inzwischen breit diskutierter Begriff für diese den ganzen Globus betreffenden Auswirkungen der menschlichen Zivilisation ist der Begriff des Anthropozäns, der den prägenden Einfluss des Menschen auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde bezeichnet und die bisher gültige Bezeichnung des Holozäns ablösen soll (Horn, Bergthaller 2019). Zahlreiche Ausstellungen wie im Deutschen Museum in München (Möllers et al. 2015), DFG-Netzwerke und Konferenzen zum Anthropozän fanden bereits statt, bei denen Klimaforscher:innen, Geolog:innen und Historiker:innen mit Kulturund Literaturwissenschaftler:innen sowie mit Kunstschaffenden interdisziplinär zusammenarbeiten und eine Bestandsaufnahme dieser geochronologischen Epoche zu geben versuchen, deren Beginn häufig mit dem Prozess der Industrialisierung seit etwa 1800, aber auch mit der so genannten Great Acceleration, der rapide beschleunigten Einwirkung techno-ökonomischer Aktivitäten der Menschheit auf den Planeten seit etwa 1950 angesetzt wird (McNeill, Engelke 2016). Das Anthropozän wird als Ergebnis eines expansiven Zivilisationspro-

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zesses gesehen, durch den zunehmend unkontrollierbare Effekte entstehen im Sinn der von Ulrich Beck so bezeichneten Weltrisikogesellschaft (Beck 2007), wie die aktuellen Krisenphänomene nicht nur des Wetters und des Klimas, sondern auch zentraler Lebensbedingungen wie der Atmosphäre, des Wasserhaushalts, des Waldbestands, der Artenvielfalt und des Funktionierens und Überlebens von Ökosystemen auf der lokalen, regionalen und globalen Ebene deutlich machen. Dabei ist die Frage, wie viel an menschlichem Kultureinfluss sich in der scheinbar unberührten Natur niederschlägt, auch in umgekehrter Richtung relevant, nämlich wie viel Natur im scheinbar rein anthropozentrischen Raum der menschlichen Kultur und Zivilisation wirksam ist. Dies ist eine Frage, mit der sich die menschliche Philosophie und Literatur bereits seit ihren Anfängen beschäftigt hat und die sich nicht nur in der Frage nach der Bedeutung der äußeren Natur für menschliche Kulturentwicklungen, sondern auch in der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie, Seele und Körper, Erkenntnis und Sinneserfahrung, Rationalität und Emotionalität durch die Geistes- und Literaturgeschichte zieht. Die radikale Entgegensetzung dieser Bereiche seit René Descartes markierte den Beginn des Modernisierungsprozesses, in dem die res cogitans, das denkende Subjekt, und die res extensa, die äußere materielle Welt, als unüberbrückbare Dichotomie etabliert wurden, durch die nicht zuletzt das Feld der empirischen Wissenschaften eröffnet und darauf aufbauend auch die technologisch-wissenschaftliche Erforschung und Beherrschung der natürlichen Welt in Gang gesetzt wurde. Der unbedingte Glaube an den technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt, der die Entwicklung der modernen Gesellschaften vorantrieb und das Verhältnis von Mensch und Natur als eindeutig hierarchisiertes Subjekt-Objekt-Verhältnis interpretierte, hat nicht zuletzt zu der zunehmend eskalierenden ökologischen Krise geführt, mit der wir insbesondere in den letzten Jahrzehnten konfrontiert sind und deren Ausmaße sich je nach Deutung in einem Spektrum zwischen pragmatischer Beherrschbarkeit durch politisches und technologisch-wissenschaftliches Krisenmanagement einerseits und apokalyptischen Untergangsvisionen andererseits bewegen. Klar dürfte jedenfalls sein, dass immer schon und heute mehr denn je die Einstellung des Menschen zur Natur und zu sich selbst, die ethische, epistemologische und lebenspraktische Interpretation der Wechselbeziehung von Kultur und Natur eine zentrale Rolle bei der Frage spielt, wie das Verhältnis und die Zukunft von Natur und Kultur aussehen werden und wie sie in vernünftiger Weise zu gestalten sind. Nun ist der vorliegende Beitrag nicht diesen eher allgemeinen Fragestellungen gewidmet, sondern bedingt zwei spezifische Eingrenzungen. Zum einen bezieht er sich auf die USA als das Land, in dem die erwähnte Herausbildung einer modernen kapitalistisch-technologischen Zivilisation und zugleich einer Risikogesellschaft mit globalen Auswirkungen eine exemplarische Ausbildung gefunden hat. Zum anderen bezieht er sich auf die Literatur als einen Diskurs, der

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bestimmte Funktionen im Prozess der kulturellen Evolution übernommen hat, die gerade in besonderer Weise mit der Beziehung von Natur und Kultur zu tun haben. Er bezieht sich insbesondere auf imaginative Literatur, in deren ästhetischer Transformation von Erfahrung die konkrete Sinneswahrnehmung (eben die aisthesis), d. h. die Beziehung von Geist und Körper und die vielfältige Wechselwirkung zwischen Mensch und natürlicher Umwelt eine stärkere Rolle spielt als in anderen Diskursformen (Zapf 2016). Literatur ist von diesem funktionsgeschichtlichen Potential her zwar nicht eine unmittelbar praxiswirksame, aber doch eine ästhetisch-kreative Form kultureller Nachhaltigkeit, die eine wichtige Rolle im transdisziplinären Feld der Environmental Humanities spielen kann (Zapf 2019). Die amerikanische Literatur ist in dieser funktionsgeschichtlichen Hinsicht von Anfang an doppelt kodiert: Sie hat einerseits einen prägenden Anteil an der kulturellen Entwicklung Amerikas, stellt aber andererseits zugleich auch einen ökologischen Gegendiskurs dar, der die dominante Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft kritisch beleuchtet und ihre Schattenseiten sichtbar macht, indem sie gerade das kulturell Ausgegrenzte – nicht zuletzt auch in Gestalt der Natur – in den Mittelpunkt rückt und in eindrucksvollen Bildern inszeniert.

Narrative der Natur im kulturellen Selbstverständnis der USA Seit den Anfängen der Kolonialisierung der neuen Welt wurde Nordamerika, wie in anderer Weise bereits Mittel- und Südamerika, zur Projektionsfläche europäischer Phantasien eines neuen Paradieses und einer naturnäheren Existenzform, die mit der vom Menschen unberührten Wildnis verbunden wurde. Gleichzeitig wurden aber auch negative Attribute des Gefährlichen, Barbarischen und Unzivilisierten auf diese unbekannte neue Welt projiziert, sodass sich von Anfang an ein hochgradig ambivalentes Narrativ der Europäer über die Natur und das kulturelle Andere der Neuen Welt herausbildete, das heißt vor allem auch über die Ureinwohner, die oft genug in einer undifferenzierten Einheit mit der wilden, vorzivilisatorischen Natur gesehen wurden. In jenen Gebieten Nordamerikas, die später zu den Vereinigten Staaten wurden, herrschte allerdings zunächst eine vom Puritanismus bestimmte, negative Sicht der natürlichen Wildnis und ihrer menschlichen und nichtmenschlichen Bewohner vor, die im diametralen Gegensatz zum Ideal einer utopischen christlichen Gemeinschaft gesehen wurden, die von den in Europa religiös verfolgten Puritanern in der neuen Welt errichtet werden sollte. Sie sahen sich, wie ihr Chronist Cotton Mather schreibt, als „people of God settled in those, which were once the devil’s territories“ (Mather 1693: 421).

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Dieses negative Bild der Natur und mit ihm der in ihr lebenden Ureinwohner änderte sich indessen grundlegend im Zeitalter der Aufklärung, in dem mit dem Glauben an Vernunft und Humanität auch eine positivere Sicht der Natur als einer göttlich geordneten Welt sich herausbildete, die dann in der Romantik zu einer radikalen Neubewertung der Natur führte als einer sinnstiftenden Alternative zu einer entfremdeten Zivilisationswelt. Weit stärker als in Europa wurde in Amerika nach der Unabhängigkeit die Natur in das Selbstbild und das kulturelle Selbstverständnis der neuen Nation einbezogen. Perry Miller (1967) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff Amerikas als „Nature’s Nation“, die sich gegenüber dem dekadenten, überzivilisierten Europa als eine mit der Natur versöhnte Form menschlicher Zivilisation verstand. Diese Rückkehr zur Natur fand indessen gerade nicht ungebrochen statt, sondern gleichzeitig entwickelte sich Amerika zu einem Land, in dem der ökonomische und technisch-wissenschaftliche Fortschrittsglaube einen besonders fruchtbaren Boden fand und sich im Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten niederschlug, das sowohl soziale Aufstiegsmöglichkeiten als auch die grenzenlose ökonomische und technisch-wissenschaftliche Nutzbarmachung, Verwertung und Ausbeutung der Natur konnotierte. Diese scheinbaren Gegensätze einer Rückkehr zur Natur und eines unbegrenzten Fortschrittsglaubens im Sinn zivilisatorischer Selbstermächtigung wurden im Konzept des Manifest Destiny gegen Mitte des 19. Jahrhunderts prägnant formuliert (vgl. Zinn 2013: 127–168), in dem gewissermaßen das naturgegebene Anrecht der europäischen Einwanderer auf Inbesitznahme und Kultivierung der wilden Natur der Neuen Welt festgehalten war, das wie nach einer heilsgeschichtlichen Vorsehung das immense räumliche und energetische Potential der amerikanischen Natur als eine für die Entfaltung der neuen amerikanischen Demokratie vorherbestimmte Ressource betrachtete. Für das amerikanische Selbstverständnis charakteristisch war und ist also eine eigentümlich widersprüchliche Beziehung von Natur und Zivilisation, der Anspruch, besonders naturverbunden und zugleich besonders technik- und fortschrittsorientiert zu sein. Leo Marx (1964) hat diese paradoxe Grundfigur im kulturellen Narrativ Amerikas in seinem Buch The Machine in the Garden bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts herausgestellt, und ihre Wirksamkeit lässt sich im amerikanischen Denken und in der amerikanischen Literatur seit dem 19. Jahrhundert immer wieder an prägnanten Beispielen bestätigen.

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Die Bedeutung der Frontier für die amerikanische Kultur- und Literaturgeschichte Ein wichtiges historisch-kulturelles Konzept, an dem dieses eigentümliche Mitund Gegeneinander von Natur und Kultur im amerikanischen Selbstverständnis deutlich wird, ist das Konzept der Frontier. Die Frontier ist die Grenze zwischen Zivilisation und vorzivilisatorischer Wildnis, die sich mit der europäischen Besiedlung zunehmend vom Osten des Kontinents in Richtung Westen verschob. Als sie am Ende des 19. Jahrhunderts an der Westküste angelangt war, löste sie sich zwar äußerlich auf, blieb aber dennoch als Teil des kulturellen Gedächtnisses wirksam. Nach der berühmten Frontier Thesis des Historikers Frederick Jackson Turner stellte diese Grenze einen prägenden Faktor des amerikanischen Nationalcharakters dar. Ich zitiere aus seinem Vortrag „The Significance of the Frontier in American History“ von 1893: The frontier is the line of most rapid and effective Americanization. The wilderness masters the colonist. It finds him a European in dress, industries, tools, modes of travel, and thought. It takes him from the railroad car and puts him in the birch canoe. It strips off the garments of civilization and arrays him in the hunting shirt and the moccasin. … In short, at the frontier the environment is at first too strong for the man. He must accept the conditions which it furnishes, or perish, and so he fits himself into the Indian clearings and follows the Indian trails. Little by little he transforms the wilderness, but the outcome is not the old Europe… The fact is, that here is a new product that is American. At first, the frontier was the Atlantic coast. It was the frontier of Europe in a very real sense. Moving westward, the frontier became more and more American. As successive terminal moraines result from successive glaciations, so each frontier leaves its traces behind it, and when it becomes a settled area the region still partakes of the frontier characteristics (Turner 1893).

Die Symbiose von Zivilisation und Natur konstituiert also in diesem zentralen kulturellen Narrativ den neuen, amerikanischen Menschen, der sich durch Freiheitsliebe, Mut, demokratische Gesinnung, Handlungsfähigkeit und Improvisationsfreudigkeit auszeichnet. Dieses Narrativ der Frontier wurde im weiteren Verlauf immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln kritisiert, insbesondere wurde die Ausklammerung der Kulturen der bereits jenseits dieser Grenze lebenden Native Americans, aber auch die Überbetonung des Individualismus und der damit zusammenhängenden Freiheitsideologie kritisiert, die in Wirklichkeit zugleich auch Aspekte des Kulturverlusts, der Gewalt und aggressiven Durchsetzungsbereitschaft gegenüber anderen Kulturen mit sich brachten. Dennoch stellte die Frontier zweifellos eine wichtige historische und kulturpsychologische Erfahrung dar, die auch in der Literatur ihren Niederschlag fand bzw. die dort immer wieder auch kritisch reflektiert wurde. Die immens großen Räume, die extremen Naturbedingungen, die Vielfalt und Einzigartigkeit ame-

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rikanischer Landschaften wurden zum Thema nicht nur etwa der ersten wichtigen Schule der amerikanischen Malerei, der Hudson River School of Painting, sondern auch von Autoren wie Washington Irving, der mit Rip Van Winkle eine archetypische amerikanische Literaturgestalt schuf, die erst in der Zusammenführung der getrennten Bereiche von Zivilisation und Natur, Bewusstem und Unbewusstem, Politik und Imagination zu einem repräsentativen Geschichtenerzähler wird (Irving 1819). Ein markantes frühes Beispiel ist ferner James Fenimore Cooper, der in seinen Leatherstocking Tales die Frontiersituation in den Mittelpunkt rückt und dabei etwa in The Pioneers (Cooper 1823) nicht nur eindrucksvolle Naturschilderungen in die europäische Form der historischen Romanze einbaut, die er von Sir Walter Scott und anderen übernahm, sondern damit auch den Western als neues amerikanisches Genre etabliert, in dem gerade diese Differenz der Wertesysteme von Zivilisation und Natur, von Gesellschaft und Individuum, von europäischen und indigenen Lebensformen eine wesentliche Rolle spielt (Cooper 1823). Das Zurückdrängen der Frontier durch das Vordringen der Zivilisation wird bei Cooper durchaus kritisch gesehen und die Wildnis rückt erstmals in den Blick als ein in sich wertvolles, in seiner Schönheit, Vitalität und überzeitlichen Ordnung zu respektierendes Ökosystem, dessen Integrität durch das rücksichtslose Eingreifen des Menschen bedroht wird. Auch das Bild der Indianer differenziert sich aus, neben den satanic savage der Puritaner tritt der noble savage der Romantik, der edle Wilde, der sich in Figuren wie Mohegan oder Chingachgook und, davon beeinflusst, bei Karl May in der Figur Winnetous personifiziert. Der Held der Leatherstocking Reihe, Natty Bumppo, ist ein Grenzgänger zwischen den Kulturen, ein white noble savage sozusagen, der das Wissen der westlichen Zivilisation und das naturnahe Wissen der indigenen Indianerkulturen miteinander verbindet. Er ist zugleich Sprachrohr des Widerstands gegen die Ausbeutung und Instrumentalisierung der Natur im Namen eines höheren Zivilisationsauftrags, etwa wenn er gegen ein Massaker an Tauben als reinem Freizeitvergnügen protestiert oder wenn er generell die Ignoranz und ethische Indifferenz der Weißen gegenüber den Gesetzen der Natur anprangert. Zwar findet sich am Schluss von The Pioneers auch Natty Bamppo mit der historischen Übermacht der westlichen Zivilisationswelt ab, doch repräsentiert er immerhin erstmals den Ansatz eines ökologischen Gegendiskurses in der amerikanischen Literatur gegenüber dem ökonomischen Leitdiskurs der rapide expandierenden Industriegesellschaft, ein Gegendiskurs, der im weiteren Verlauf zu einem der wesentlichen Bestimmungs- und Funktionsmerkmale der amerikanischen Literatur werden sollte.

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Die Natur im amerikanischen Transzendentalismus Eine maßgebliche Ausprägung dieses ökologischen Gegendiskurses, in dem die Natur nicht nur als außermenschliche Umwelt, sondern als eine dem menschlichen Geist und der Kultur wesensverwandte und ihm sinnhaft korrespondierende Mitwelt gesehen wird, war der sogenannte Transzendentalismus. Dies war die erste eigenständige intellektuelle und literarische Strömung der noch jungen USA, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in kritischer Distanz zum zunehmenden politischen Expansionismus und ökonomischen Materialismus der amerikanischen Gesellschaft positionierte und die die Natur nicht als bloße Ressource betrachtete, sondern als vitalen Lebenszusammenhang, mit dem der Mensch nicht nur in körperlich-materieller, sondern in geistiger Austauschbeziehung steht. Vordenker der Transzendentalisten war Ralph Waldo Emerson, dessen erster wichtiger Text den Titel Nature trägt (Emerson 1836). Darin etablierte er die charakteristische Denkfigur der Transzendentalisten, nämlich die unauflösliche Wechselwirkung von Self, Nature und Oversoul, die den herkömmlichen Gegensatz von Mensch und Natur, von Materialität und Spiritualität überwand und daraus die Inspiration für jenen literarisch-intellektuellen Neubeginn bezog, den die amerikanische Literatur gegenüber der europäischen anstrebte. Ich zitiere aus dem Anfang von Nature: Embosomed for a season in nature, whose floods of life stream around and through us, and invite us, by the powers they supply, to action proportioned to nature, why should we grope among the dry bones of the past, or put the living generations into masquerade out of its faded wardrobe? The sun shines today also. There is more wool and flax in the fields. There are new lands, new men, new thoughts. Let us demand our own works and laws and worship (Emerson 1836: 3).

Unter dem Einfluss solcher Ideen stand auch Henry David Thoreau, als er mit seinem Buch Walden. Or, Life in the Woods (1854) einen Bericht über seinen Aufenthalt in einer selbstgebauten Hütte am Walden Pond in der Nähe von Concord, Massachusetts verfasste, einen der frühen ökologischen Texte der amerikanischen Literaturgeschichte, in dem Thoreau genaue Beschreibungen des komplexen Biotops des Walden-Sees, der Flora und Fauna, der Jahreszeiten, aber auch der eigenen Reflexionen über Mensch und Natur gibt und diese in eine teils wissenschaftlich-deskriptive, teils poetisch-imaginative Autobiographie einbindet. Walden und andere Schriften Thoreaus sind denn inzwischen auch zu einem zentralen Referenzpunkt für eine neuen Richtung der Literatur und Kulturwissenschaft geworden, dem so genannten Ecocriticism, der in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Western Literature Association der USA seine Anfänge hatte und sich inzwischen zu einem der produktivsten und rasch wach-

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senden Bereiche der neueren Literatur- und Kulturwissenschaften entwickelt hat (Dürbeck, Stobbe 2015; Zapf 2016: 39–45). In Lawrence Buells wegweisender Studie The Environmental Imagination: Nature Writing and the Formation of American Culture, wird Thoreaus Werk zum Ausgangspunkt einer Neubewertung des nature writing als einer spezifisch amerikanischen, nichtfiktionalen Art der persönlich eingefärbten Naturbeschreibung und Naturbegegnung, die sich, beginnend mit Thoreaus Walden, als ein wichtiger Strang der amerikanischen Literaturgeschichte herausbildete (Buell 1995). Er umfasst als herausragende Beispiele unter anderem Mary Austins The Land of Little Rain (1903), in dem sie die südkalifornische Mojave-Wüste und ihre indianischen Einwohner mit großem Respekt und großem Einfühlungsvermögen beschreibt, oder Aldo Leopolds A Sand County Almanach (1949), in dem er seine unmittelbare Naturumgebung in Wisconsin aus naturgeschichtlicher, ästhetischer und philosophischer Sicht darstellt und seine berühmte land ethic formuliert, deren Botschaft folgendermaßen lautet: „A thing is right when it tends to preserve the integrity, stability, and beauty of the biotic community. It is wrong when it tends otherwise“ (Leopold 1949: 224–225). Um dieses Gleichgewicht zu bewahren, ist es notwendig, über anthropozentrische Vorstellungen hinaus zu denken und von einem ‚egozentrischen‘ zu einem ‚ökozentrischen‘ Denken zu gelangen. Leopold erläutert dies vor allem in dem Kapitel „Thinking like a Mountain“, in dem von einer angemessen komplexen Umweltethik gefordert wird, nicht nur Einzelphänomene zu betrachten, sondern die Ganzheit der Wechselwirkungen eines Ökosystems zwischen belebter und unbelebter Natur einzubeziehen (Leopold 1949). Mit solchen und anderen Schriften etwa von Edward Abbey, Annie Dillard, Wendell Berry oder Barry Lopez hat sich also hier die eigenständige Tradition eines amerikanischen nature writing herausgebildet, das persönliche Erfahrung und wissenschaftliche Beschreibung der Natur mit einem ausgeprägten ökologischen Bewusstsein verbindet und das sich neuerdings in Gestalt des Ecocriticism und der Environmental Humanities zunehmend auch auf der Ebene der universitären Lehre und Forschung, vor allem im Bereich der Geistes- und Humanwissenschaften, aber auch über diese hinaus, artikuliert (Slovic 1992, 2016).

Die Natur in der imaginativen Literatur Amerikas So wichtig dieser Bereich des realistischen, nichtfiktionalen nature writing für die Herausbildung eines ökologischen Bewusstseins in der amerikanischen Kultur auch gewesen ist, so sehr ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht doch auch die Frage von besonderem Interesse, welchen Beitrag die imaginative, ästhetische, das heißt semantisch mehrdeutige und eben gerade nicht in einem vordergründigen Sinn realistische oder explizit umweltengagierte Literatur zur

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gesellschaftlichen Repräsentation von und Kommunikation über Natur zu leisten vermag. Im Blick auf einige zentrale Beispiele der amerikanischen Literatur fällt dabei sofort auf, in welch hohem Maß die Natur nicht nur eine durchgängige thematische Präsenz, sondern auch einen zentralen Mit- und Gegenspieler der menschlichen Akteure darstellt. Dies gilt nicht nur für die erwähnten Lederstrumpf-Romane von James Fenimore Cooper oder für Henry David Thoreaus autobiographische Erforschung des Walden-Sees, sondern etwa auch für solch maßgebliche Texte wie Herman Melvilles amerikanisches Epos Moby-Dick (1851), in dem die obsessive, die Weltmeere umspannende Jagd von Captain Ahab auf den Weißen Wal zur Parabel über den letztendlich scheiternden globalen Machtanspruch der Zivilisation über die nichtmenschliche Natur wird; für Mark Twains The Adventures of Huckleberry Finn (1884), in dem der MississippiFluss nicht nur zum physischen Handlungsraum, sondern zum Gegenraum und symbolischen Ort einer naturnahen, freiheitlichen Existenzform wird, und Huck Finns gemeinsame Flucht auf dem Floß mit dem entlaufenen Sklaven Jim zum ethischen Korrektiv eines normativ erstarrten Gesellschaftssystems wird, das in der Sklaverei seinen historisch pervertierten Ausdruck findet; für William Faulkners Erzählung „The Bear“ aus dem Roman Go Down, Moses (1942), in der der alte Bär Ben zur epiphanischen Inkarnation der verschwindenden Wildnis gegenüber der zunehmenden kommerziellen Ausbeutung des Landes wird; oder für Ernest Hemingways The Old Man and the Sea (1952), in dem die Begegnung des alten Mannes Santiago mit einem Riesenfisch im Mittelpunkt steht, den er nach langem Kampf besiegt und an seinem Schiff festbindet, der aber auf dem Heimweg das Opfer von Haifischangriffen wird, so dass nur noch das überdimensionale Skelett des Fisches übrig ist, als er in den Hafen zurückkehrt. In einem verallgemeinernden Blick auf die amerikanische Literatur lassen sich diese Narrative der Natur in verschiedene Funktionen untergliedern, von denen ich hier vier herausgreife – (1) eine kritische Funktion, die die destruktiven Folgen rücksichtsloser zivilisatorischer Naturausbeutung bilanziert; (2) eine reflexive Funktion, die demgegenüber den inneren Zusammenhang und die Korrespondenzbeziehung zwischen Mensch und Natur, zwischen Innen- und Außenwelt, oder wie Gernot Böhme (1989) sagt, zwischen der Natur, die wir selbst sind, und der Natur, die wir nicht selbst sind, herausstellt; (3) eine ethische Funktion, die im Bewusstsein von Wechselbeziehung und Ko-evolution zugleich auch die Differenz und unverfügbare Alterität der nichtmenschlichen Natur bewusst hält; (4) und eine kreative Funktion, die darin besteht, dass Literatur immer wieder die Sprache, das Denken und die kulturelle Imagination erneuert, indem sie kulturelle Erstarrungen aufbricht und in immer neuer Weise die regenerativen Prozesse der Natur in die kreativen Prozesse der literarischen Imagination übersetzt.

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Ich möchte dies im Folgenden an einigen Beispielen erläutern. 1. Kritische Funktion: Die Darstellung der durch zivilisatorische Hybris zerstörten Natur beginnt in der amerikanischen Literatur bereits in den genannten Beispielen etwa bei Cooper in der Zerstörung der Wälder, oder bei Melville in den destruktiven Folgen einer weltumspannenden Walfangindustrie, deren Teil Ahabs Projekt der Vernichtung von Moby-Dick ist. Es setzt sich weiter fort in der Motivik des waste land, die vor allem in der literarischen Moderne als Schattenseite des zivilisatorischen Fortschritts und als Chiffre für die kollektiven und persönlichen Erfahrungen der Traumatisierung steht, die er mit sich gebracht hat – etwa in T.S. Eliots epochalem Gedicht The Waste Land (1922), in dem der regenerative Zyklus der Natur durch Einflüsse einer anonymen Massen- und Verwertungsgesellschaft paralysiert ist; in Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby (1925), in dem die Gegenwelt des Valley of the Ashes eine düstere, von Tod und verbrannter Lebensenergie gekennzeichnete Kehrseite des American Dream darstellt; in Don DeLillos monumentalem Roman über das Atomzeitalter, Underworld (1997), in dem nicht nur die Müllberge der Städte ins Hypertrophe gewachsen sind, sondern der sich auch mit den massiven Problemen des Atommülls beschäftigt, die sich in der Folge der atomaren Aufrüstung seit dem Kalten Krieg ergeben haben; oder in Cormac McCarthys The Road (2006), in dem ein fahles postapokalyptisches Endzeitszenarium vorherrscht und sowohl die Natur als auch die Menschen in einem ausweglosen death-in-life-Zustand existieren. 2. Reflexive Funktion: Diese Funktion einer den innersten Wesenskern des Menschen mitbestimmenden reflexiven Korrespondenzbeziehung zwischen Mensch und Natur durchzieht ebenfalls die amerikanische Literatur in vielerlei Formen, und sie beginnt wiederum bereits bei Thoreaus Walden, wo der See zum Reflexionsmedium des narrativen Ichs wird, wie in der berühmten Passage: „A lake is the landscape’s most beautiful and expressive feature. It is earth’s eye; looking into which the beholder measures the depth of his own nature“ (Thoreau 1971 [1854]: 141). Die Natur ist hier wie in zahlreichen anderen Literaturbeispielen ein Medium menschlicher Selbsterkenntnis. Dies gilt etwa auch für die Korrespondenz zwischen Mensch und Wal bei Moby-Dick, dessen Kopf mit menschenähnlich-nachdenklichen, von Falten durchfurchten Zügen ausgestattet wird und dessen natürliche Überlebensintelligenz den Erzähler zu dem Ausruf veranlasst: „O man, admire and model thyself after the whale!“ (Melville 1958 [1851]:245). Auch in der postmodernen Literatur der so genannten Beat Generation etwa wird diese reflexive Korrespondenzbeziehung zum Ausgangspunkt poetischer Prozesse, wie in Alan Ginsbergs Gedicht „Sunflower Sutra“, in dem Ginsberg mit Jack Kerouac in einer heruntergekommenen Industrieanlage sitzt

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und eine vom Ruß schwarz gewordene Sonnenblume entdeckt, die zum Ansprechpartner und Spiegel seiner eigenen Innenwelt wird – so wie die Sonnenblume äußerlich vom waste land des Zivilisationsmülls überformt ist, so ist auch der Dichter von der Entfremdung, den Traumata und Depressionen des gesellschaftlichen Lebens gezeichnet, und doch teilt er, wie Jack Kerouac und alle Menschen, mit der deformierten Sonnenblume ein inneres Potential der Schönheit und Vitalität, das er im Prozess der poetischen Meditation in fast rapartig rhythmisierter Form herausstellt: So I grabbed up the skeleton thick sunflower and stuck it at my side like a scepter, and deliver my sermon to my soul, and Jack’s soul too, and anyone who’ll listen, –We’re not our skin of grime, we’re not our dread bleak dusty imageless locomotive, we’re all beautiful golden sunflowers inside, we’re blessed by our own seed & golden hairy naked accomplishment-bodies growing into mad black formal sunflowers in the sunset, spied on by our eyes under the shadow of the mad locomotive riverbank sunset Frisco hilly tincan evening sitdown vision (Ginsberg 1955).

3. Ethische Funktion: Die reflexive Wechselbeziehung zwischen Kultur und Natur, die sich als grundlegende Signatur durch die literarischen Texte zieht, bedeutet jedoch keine Einebnung von Differenzen, d. h. weder eine Vereinnahmung der nichtmenschlichen Natur für anthropozentrische Maßstäbe noch die reduktionistische Zurückführung menschlicher Kultur auf naturhafte Prozesse. Vielmehr bleiben die Differenzen und die Alterität innerhalb dieser Relationen in ihrer produktiven Spannung erhalten, worin gerade auch eine ethische Dimension der Texte besteht, indem sie die Unverfügbarkeit des naturhaften – wie des kulturellen – Anderen in ihren Bedeutungsprozess einbezieht. Wiederum gilt das exemplarisch für das Beispiel von Moby-Dick, wo es auf einer Ebene zwar Korrespondenzen zwischen Mensch und Wal gibt, die diesen als Teil eines gemeinsamen kreatürlichen Lebenszusammenhangs in den Blick rücken, wo aber gleichzeitig die radikale Andersartigkeit und Singularität dieses gewaltigen Lebewesens betont wird, etwa wenn das Schweigen des Wals oder seine magischunergründliche weiße Farbe als eine für anthropozentrische Deutungen unverfügbare Ausdrucksform einer vorzivilisatorischen Ursprache der Natur erscheinen. Es gilt aber etwa auch für Walt Whitmans Song of Myself, von dem die gesamte nachfolgende amerikanische Dichtung geprägt wurde, und an dessen Ende der Dichter Zwiesprache hält mit dem spotted hawk, dem gefleckten Fal-

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ken, dessen „barbaric yawp“ zur Analogie für Whitmans eigene poetische Stimme wird. The spotted hawk swoops by, he complains of my gab and my loitering. I too am not a bit tamed. I too am untranslatable. I sound my barbaric yawp over the roofs of the world (Whitman 2002 [1855]: 76).

In ihrer vielgestaltigen, demokratisch-offenen, von frei fließendem Vers gekennzeichneten Form wird Whitmans Dichtung zum Medium der Übersetzung naturhafter in poetische Kreativität. Der „barbaric yawp“ des Falken wird zum „Song of Myself“ des Dichters, zur Stimme der wilden amerikanischen Natur im polyphonen Kontext der amerikanischen Kultur. Gleichzeitig betont Whitman aber die „untranslatability“, d. h. das Bewusstsein der Notwendigkeit, aber auch letztlichen Unmöglichkeit einer solchen Art von Übersetzung. „Nature is what we know, yet have no art to say,“ sagt Emily Dickinson hierzu in einem Gedicht, in dem sie zu ergründen versucht, was die Natur für den Menschen bedeutet, und dabei doch immer wieder an die Grenzen poetischer Aussagefähigkeit stößt (Dickinson 1866). Korrespondenz und Alterität, Konnektivität und Differenz sind die beiden Pole, zwischen denen sich diese imaginativen Übertragungen zwischen Mensch und Natur bewegen und in denen mir ein spezifisch ethisches Potential literarischer Texte zu liegen scheint. 4. Kreative Funktion: Dieses ethische Potential der Literatur ist stets auch im Zusammenhang mit den anderen genannten Funktionen zu sehen, also der kritischen und reflexiven Funktion, und es hängt wie bereits gesehen unmittelbar auch mit einem weiteren Aspekt zusammen, nämlich dem der Kreativität, d. h. der Fähigkeit der Literatur, nicht nur ihre eigenen ästhetischen Formen, sondern auch die Kultur, auf die sie sich bezieht, in ihren sprachlichen, kognitiven, imaginativen und moralischen Normensystemen zu erneuern. Diese Funktion der kritisch-kreativen Selbsterneuerung von Sprache, Text und Kultur wird immer wieder durch die beschriebene reflexive Interaktion zwischen Kultur und Natur in Gang gesetzt, und es lässt sich sagen, dass gerade in dieser Interaktion eine entscheidende Matrix literarischer Kreativität liegt. Diese Funktion lässt sich nicht nur in der amerikanischen Mainstream-Literatur aufweisen, wie im Fall Whitmans, Melvilles oder Ginsbergs gesehen, sondern sie betrifft insbesondere auch die Literatur der Native Americans als einer Ausprägung der indigenen und postkolonialen Literatur Nordamerikas. Indigenen Kulturen wird häufig ein besonderes Wissen über die Natur zugeschrieben, doch gerade hier ist es wichtig, auf die genannten Aspekte der Differenz und Alterität zu achten und nicht einem klischeehaften Identitätsdenken aufzusitzen, in dem das kulturelle Andere naturalisiert und das naturhafte Andere anthropozentrisch domestiziert wird. Vielmehr ist auch die Lite-

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ratur der Native Americans durch ein Bewusstsein sowohl der wesensmäßigen Interdependenz als auch der Differenz und Alterität zwischen Kultur und Natur geprägt und gewinnt aus diesem Spannungsverhältnis ihre produktive, kulturkritische und kulturerneuernde Kraft. Im Fall der Native Americans hat dies nicht zuletzt mit der Verarbeitung tiefsitzender historischer Traumata zu tun, die die Geschichte der gewaltsamen Kolonisierung hinterlassen hat. Dieser Aspekt einer vielfältig historisch und kulturell vernetzten, aus der Kultur-Natur-Beziehung hervorgehenden Kreativität der Literatur sei abschließend kurz an einem Gedicht von Linda Hogan, einer indianischen Gegenwartsautorin, illustriert. At the spring we hear the great seas traveling underground giving themselves up with tongues of water that sing the earth open. They have journeyed through the graveyards Of our loved ones, turning in their graves to carry the stories of life to air Even the trees with their rings have kept track of the crimes that live within and against us. We remember it all. We remember, though we are just skeletons whose organs and flesh hold us in. We have stories as old as the great seas breaking through the chest flying out the mouth, noisy tongues that once were silenced, all the oceans we contain coming to light (Hogan 1988).

Das Gedicht verbindet die Quelle seiner Inspiration – „spring,“ das im Englischen sowohl Quelle als auch Frühling heißt – mit der elementaren Kraft des Wassers und des Meeres, dessen allgegenwärtige Energieströme sich artikulieren in den „tongues of water that sing the earth open“ – d. h., in Manifestationen sowohl einer naturhaften Kreativität im Sinn eines vielstimmigen „song of the earth“, und einer sprachlich-textuellen Kreativität im Sinn einer metaphorischen Übersetzung dieses ‚Liedes der Erde‘ in poetische Form, Klang, Rhythmus und Bedeutung. Die großen Wasser sind ein unterirdisches Feld von Energien, das

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Anfang und Ende, Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart in einer transformativen Form der Erinnerung verbindet, in der die Geschichten der Toten aus dem kollektiven Vergessen geholt und in den Worten des Gedichts zu neuem Leben erweckt werden. Diese traumatischen Lebensbrüche werden in der dritten Strophe auf die Bäume, in der letzten dann auf den Menschen selbst bezogen, genauer, auf den verkörperten Geist eines menschlichen Kollektivs, eines „Wir“, das in einer prekären Schwebe zwischen Leben und Tod lebt („we are just skeletons/ whose organs and flesh/ hold us in“). Dieses Wir bringt Geschichten von analoger Kraft hervor wie die Natur selbst, Geschichten, die ähnlich den Quellen der elementaren Wasser aus den Tiefen des menschlichen Selbst ans Licht treten. In seiner ständigen Übersetzung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen, kulturellen und natürlichen Phänomenen drückt das Gedicht sowohl die universale Vernetztheit allen Lebens aus wie auch die historischen Traumata, die gewalttätige Verletzung und Zerstörung dieses geteilten Lebenszusammenhangs, die insbesondere die postkoloniale Erfahrung der Native Americans kennzeichnen. Das Gedicht ist die Suche nach einem Neubeginn aus dem waste land historischer Katastrophen. Als solches ist es nur eines von vielen Beispielen der indigenen nordamerikanischen Literatur, die in immer neuer Weise historische Traumata in poetische Kreativität transformiert. Hier wie in anderen Beispielen der amerikanischen Literatur zeigt sich die Natur nicht nur als thematischer Bezugsrahmen, sondern als ästhetisches und kreatives Prinzip der Texte. Die vier genannten Funktionen hängen dabei in Linda Hogans Gedicht – wie auch sonst in der amerikanischen Literatur – miteinander zusammen. Sie bezeugen einen eigenständigen Zugang imaginativer Literatur zur Beziehung zwischen Kultur und Natur, der ein unverzichtbares kulturökologisches Wissen für die kritische Selbstreflexion und zukunftsorientierte Selbsterneuerung der modernen Gesellschaft bereitstellt.

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Die Wüste in der zeitgenössischen literarischen Imagination: Jennifer Egans A Visit from the Goon Squad

Einführung Jennifer Egans (2010) A Visit from the Goon Squad (dt. Der größere Teil der Welt) ist ein Roman in dreizehn Kapiteln, die relativ eigenständig stehen und durch unterschiedliche Figuren erzählt und perspektiviert werden. Die Erzählung ist sowohl räumlich als auch zeitlich weit gespannt: Sie setzt in den 1970ern ein und endet in der nahen Zukunft. Die Handlung findet in verschiedenen Teilen der USA, sowie in Europa und Afrika statt. Der Text hat somit eine eindeutig transnationale und transkulturelle Kodierung. Das verbindende Element zwischen den einzelnen Kapiteln stellt die Figur Sasha dar, die in allen Kapiteln entweder als Protagonistin oder Nebenfigur agiert; durch Sashas Arbeit im Musikbusiness und ihrem Freundeskreis wird außerdem Musik zu einem zentralen Thema. Der Roman zeichnet einschneidende Begebnisse in Sashas Leben nach. Insbesondere das Ertrinken eines Freundes im Hudson River bei einem nächtlichen Ausflug prägt sie und ihren zukünftigen Mann Drew nachhaltig. Die anderen Figuren in diesem Roman sind ebenfalls extremen Grenzsituationen ausgesetzt: Sie bewegen sich nicht nur in der schnelllebigen und exzessiven Musikszene, sondern auch auf einer eskalierenden Safari oder in der bedrohlichen Gesellschaft eines Diktators. In A Visit, und insbesondere im zwölften Kapitel des Romans, wird über die literarische Darstellung der Wüste die Beziehung zwischen Natur und Kultur, Tieren und Menschen verhandelt. Die Familie Blake – Sasha, Drew und ihre Kinder Alison und Lincoln – leben in einem Haus im Grenzbereich zwischen Wüste und Nicht-Wüste. In Egans Roman wird die Wüste ein komplexer Lebens-, Rückzugs-, Kunst- und Energiegewinnungsraum, ein Ort der kreativen, emotionalen, wie auch energetischen Regeneration, an dem die Fragilität menschlicher Existenz – in sozialer, ethischer und ökologischer Hinsicht – konkret wird. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht das zwölfte Kapitel des Romans, „Great Rock and Roll Pauses By Alison Blake,“ dem „slide journal“ von

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Sashas Tochter Alison, einem Tagebuch, das insgesamt aus 76 PowerPoint-Folien besteht. In ihm „beschreibt“ und illustriert Alison das Beziehungsgeflecht innerhalb ihrer Familie. Es bietet ihr weiterhin die Möglichkeit zur Kommunikation und Beziehungsarbeit mit ihrem am Asperger-Syndrom leidenden Bruder Lincoln. Die Bedeutung der Wüste in Beziehung zu den oben skizzierten Spannungsverhältnissen manifestiert sich in verschiedenen literarischen Dimensionen, die gleichzeitig die Struktur dieses Artikels vorgeben: Zuerst als Setting des Romans, in dem die Liminalität bzw. Verschiebungsprozesse zwischen Natur- und Kulturraum zum Tragen kommen, weiterhin als kreativer Erfahrungsraum und schließlich als Ort der individuellen und überindividuellen Regeneration. Egans zeitgenössisches Werk steht in einer literaturgeschichtlichen Tradition, in der die Wüste einen symbolisch und kulturhistorisch aufgeladenen Raum darstellt. Den Ausführungen zu Egans A Visit sollen deswegen allgemeinere theoretische Überlegungen vorausgehen.

Die Wüste als Natur- und Kulturraum: Theoretische Überlegungen Wüsten sind Naturräume, die sich durch einen Mangel an Wasser und hohe Temperaturen auszeichnen. Diese Konditionen bilden für den Menschen und viele Tiere lebensfeindliche Umgebungen, was sich in der Kargheit der Landschaft und spärlicher Besiedlung niederschlägt. Deswegen werden auch verlassene oder an einem bestimmten Mangel leidende Orte oft als „Wüsten“ metaphorisiert (z. B. „Servicewüste,“ „Digital-Wüste“). Während dem deutschen Wort „Wüste“ der Akt der Zerstörung innewohnt (verwüsten), ist im englischen Wort „desert“ das Verlassensein und -werden die vorrangige Konnotation. Die kulturhistorische Bedeutung der Wüste ergibt sich aus den für sie typischen Extremen und Spannungsverhältnissen, die auch die menschliche Existenz kennzeichnen: Mangel und Fülle bzw. Potenzial (versinnbildlicht durch die Oase, die mit dem Topos des Kostbaren assoziiert ist), Tod und Leben, Freiheit und Verlassenheit bzw. Einsamkeit (Thums 2012:490–491; Lindemann 2000). Aufgrund dieser Ambiguität und der sich daraus ergebenden Produktivität wird die Wüste zu einem kulturhistorisch und symbolisch aufgeladenen Naturraum. Dies zeigt sich z. B. bereits in altägyptischen oder auch biblischen Texten, in denen das Volk der Israeliten 40 Jahre lang in der Wüste ausharren muss, und wo auch Jesus vom Teufel auf die Probe gestellt wird. Die Wüste wird hier zum „Symbol der Gottesnähe bzw. -ferne“ (Thums 2012:490), einem Ort der Kontemplation, des Exils, des Überdauerns und des Überlebens. Die Wüste ist trotz ihres Mangels paradoxerweise auch mit dem Akt der Kreativität verknüpft. Chaim Noll (2010) z. B. interpretiert die Wüste sogar als

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Grundbedingung der Entstehung von Schrift und Literatur, da gerade sie die Grenzerfahrung des menschlichen Daseins versinnbildlicht: Die Entstehung der Schrift, folglich der ersten Literaturen, ist ursächlich mit dem Topos Wüste verbunden. Zum einen, weil Wüstenrandgebiete ihre Entstehungsorte waren, zum anderen, weil das Grundmotiv der Wüste, die zur Einheit gezwungene Ambivalenz extremer Gegensätze, ihre innere Spannung ausmacht. Diese Spannung ist eine frühe Metapher für die dem Leben innewohnende Gegensätzlichkeit: von Wasser und Wüste, Wachsen und Vergehen, Fülle und Mangel, Frieden und Krieg, Leben und Tod (Noll 2010:311).

Auch in der amerikanischen Literatur schlägt sich die Landschaftsform der Wüste in verschiedentlicher Weise nieder, insbesondere durch die Besiedlung des Westens, die im Glauben an die „Manifest Destiny“ ihre nationalidentifikatorische Überhöhung findet und z. B. in Jackson Turners Frontierthese zum Ausdruck kommt. Die Wüste als Landschaftsform ist somit zentral für Narrative der nationalen und kulturellen Selbstdefinition der USA (Gersdorf 2009:13–15). Bei Henry David Thoreau wird die Wüste zu einer Kreativitätsmetapher, wenn er die Wahrnehmung derselben, ihre Leere bzw. Fülle nicht in der Landschaft selbst verortet, sondern in den Rezipienten bzw. Künstler hineinverlegt: „Every important worker will report what life there is in him. It makes no odds into what seeming deserts the poet is born. Though all his neighbors pronounce it a Sahara, it will be a paradise to him; for the desert which we see is the result of the barrenness of our experience“ (Thoreau, Odell 1961:130; Eintrag vom 6. Mai 1854). Der Topos der Wüste spielt in verschiedenen Genres der amerikanischen Literatur eine wichtige Rolle. Hier wären z. B. das Genre des Westerns und die Figur des Cowboys zu nennen, der mit seinem Pferd durch karge Landschaften reitet. Im Genre des Nature Writing sind z. B. die Texte von Mary Austin zentral, in denen sie die Menschen, Flora und Fauna des amerikanischen Südwestens beschreibt (z. B. in The Land of Little Rain (1903)). T.S. Eliots modernistischer Text The Waste Land hingegen beschreibt eine spirituelle Fruchtlosigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, doch auch hier wird die Wüste zum Raum ästhetischer Erfahrung („yet there the nightingale / Filled all the desert with inviolable voice“ (Eliot, North 2001:8)). Insbesondere durch die geographische Nähe einiger amerikanischer Wüsten zur südlichen Grenze der USA ist die Wüste als Landschaft und Ökosphäre in der amerikanischen kulturellen Imagination auch mit dem Topos der Grenze, der Grenzregion und der Grenzüberschreitung verbunden (z. B. in den Texten von Gloria Anzaldúa oder im Film Babel (2006) von Regisseur Alejandro González Iñárritu). Die Wüste stellt einen Ort der Ausbeutung und Zerstörung dar, ermöglicht dadurch jedoch symbolische Erneuerung, wie dies z. B. in Leslie Marmon Silkos Roman Ceremony (2016) der Fall ist.

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Weitere Beispiele aus der Gegenwartsliteratur, in der die Wüste eine prominente Rolle spielt, sind z. B. Don DeLillos Theaterstück Love-Lies-Bleeding (2005) oder Point Omega (2010). Die Bedeutung der Wüste als literarischer Topos ist in der Gegenwartsliteratur und insbesondere im Lichte des Klimawandels neu zu bewerten, wenn Verwüstungsprozesse im wörtlichen aber auch übertragenen Sinne durch den Menschen verursacht sind, was in der folgenden Analyse zum Tragen kommen wird. Das zwölfte Kapitel von A Visit ist in den 2020er Jahren verortet, zehn bis zwanzig Jahre nach Erscheinen des Romans – also in der nicht allzufernen Zukunft.

Die Wüste in Jennifer Egans A Visit from the Goon Squad Liminale Übergänge: Die Wüste als Natur- und Kulturraum In A Visit wird die Beziehung zwischen Wüste und Nicht-Wüste als komplexer Austausch- Verhandlungs-, Interpretations- und Überlappungsprozess in den Vordergrund gerückt. Wüste und Nicht-Wüste, Natur- und Kulturräume sind auf elementare Weisen verbunden und doch different. Dichotomien und fixierbare Grenzen werden ersetzt durch liminale Grenzbereiche, die dynamischen Wandlungen unterworfen sind. Dies stellt sich insbesondere in der liminalen Stellung des Heims der Familie Blake dar, das sich im Grenzbereich zwischen Wüste und Nicht-Wüste befindet. Dieses ist eines der letzten noch bewohnten Häuser einer Siedlung (inklusive Clubhaus und Golfplatz), die jedoch von den meisten Bewohnern bereits als Wohn- und Lebensraum aufgegeben wurde. Die Auflösung der Dichotomien zwischen Wüste und Nicht-Wüste, Naturund Kulturraum manifestiert sich zum einen in der Anthropomorphisierung der Wüste, die sich in Alisons verkörperter Wahrnehmung niederschlägt, und zum anderen im Prozess der Verwüstung, der den Lebensraum der Familie Blake betrifft und aber auch einen elementaren Bestandteil von Sashas kreativem Schaffen in Form ihrer Kunstwerke darstellt. Letzteres führt zudem zu Verschiebungen der Lebensräume von Mensch und Tier. Alison Blake hebt in ihrem Journal die taktile und visuelle Dimension der verkörperten Wahrnehmung der Wüste hervor, die durch die Analogisierung zum menschlichen Körper anthropomorphisiert wird. Auf der Folie „Walking to the Car“ schreibt sie: „Cool air, but you feel heat coming up from the earth like from behind a person’s skin“ (Egan 2010:238). Im Kontrast zwischen der Kälte der Luft und der Wärme des Bodens kommt zudem die paradoxe Natur der Wüste als Erfahrungsraum zur Geltung. Innerhalb der kurzen Lebenszeit der zwölfjährigen Erzählerin dieses Kapitels hat sich eine grüne Lebensumgebung mit Vorgärten („lawns“) zu einer Le-

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benswelt gewandelt, in der sich dieser Zustand nur durch eine neue Energieverbrauchswährung, sogenannte „credits,“ oder eine teuren Turbine wiederherstellen lässt (Egan 2010:242). Das Haus der Familie Blake befindet sich mittlerweile direkt an der Grenze zur Wüste und die Wüstenfauna hat bereits die Terrasse als Brutstelle eingenommen: „Two months ago, a lizard laid eggs in the sand by our deck“ (Egan 2010:242). Den Bemühungen der Menschen, sich durch einen erhöhten Energieaufwand ihren Lebensraum zu sichern, steht die Handlungsmacht der Wüste gegenüber, die zwar die Lebenswelt der Menschen einschränkt, sich aber auch – wie hier durch die eierlegende Eidechse symbolisiert – gleichzeitig fruchtbar vermehrt und ausbreitet. Wo vormals ein Golfplatz war, der als Symbol für die kommodifizierte, energie- und wasserintensive Form der Erholung innerhalb einer künstlich angelegten Naturumgebung (und auch für die ungleiche Verteilung von natürlichen Ressourcen) interpretiert werden kann, stehen nun Sashas Skulpturen, in denen sie Abfälle der menschlichen Zivilisation verarbeitet: „sculptures made of train tracks and doll heads fading into the dust“ (Egan 2010:286). Anstelle einer Präsentation der Skulpturen in institutionalisierten Räumen der Kunstausstellung, -betrachtung und -kommodifizierung, wie z. B. Galerien oder Museen, wird die Natur zum Ort der Kunsterfahrung. Durch das Übergeben an die Natur werden die Werke nun von Tieren als Lebensraum verwendet und – hier kommt die zentrale Rolle der Zeit in diesem Roman zum Tragen – verfallen allmählich als „part of the process“ (Egan 2010:242). Andererseits werden in der Wüste aufgestellte Solar- und Lunarzellen zuerst als Bedrohung für ansässige Tierarten wahrgenommen: „There were protests when they were built, years ago. Their shade made a lot of desert creatures homeless. But at least they can live where all the lawns and golf courses used to be“ (Egan 2010:291). Sowohl die Mobilität, Migration von Lebensräumen, deren Vergehen und Entstehen, als auch die individuelle Wahrnehmung dieser Umwelt finden sich im Text wieder. Durch Verwüstungsprozesse gewinnen Wüstentiere an Habitatsfläche und gleichzeitig werden für den Menschen unbewohnbare Landschaften zur Energiegewinnung genutzt. „Verwüstung“ als dynamischer Prozess heißt hier nicht in erster Linie Zerstörung, sondern auch Entstehung, Verschiebung und Austausch.

Die Wüste als Pause: emotionale und kreative Erfahrungspotenziale In Egans (2010) Roman wird die Wüste zum Ort der kreativen Regeneration. Dies schlägt sich in Sashas Kunst nieder (siehe oben), aber insbesondere in der Analogisierung der Stille in der Wüste mit musikalischen Pausen. Der am Asperger-Syndrom leidende Sohn Lincoln beschäftigt sich geradezu obsessiv mit

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Pausen in Pop- und Rockmusik, die seine Schwester Alison mithilfe von PowerPoint-Folien visualisiert, was der Titel des Kapitels – „Great Rock and Roll Pauses“ (Egan 2010: 234) – reflektiert. Die gemeinsame Beschäftigung mit und Verständigung über musikalische Pausen ist essenziell für die emotionale Beziehung zwischen Alison und Lincoln, der seine Gefühle und Zuneigungsbekundungen nur kodiert artikulieren kann:

Abbildung 1: „Lincoln Wants to Say/Ends Up Saying“. Quelle: Egan 2010:2491.

Während die gemeinsame Beschäftigung mit musikalischen Pausen die Beziehung zu Alison bereichert, fehlt dem Vater der Zugang zu dieser Form der Verständigung: „‚Good to know, Linc,‘ Dad says“ (Egan 2010:250). Die Bedeutung von musikalischen Pausen für die emotionale Kommunikation innerhalb der Familie Blake wird über die Analogisierung von musikalischen Pausen mit der Naturwahrnehmung der Wüste etabliert, was sich erstens in einer gesteigerten Aufmerksamkeit hinsichtlich der vermeintlichen Abwesenheit darstellt, weiterhin die Antizipation des Wiedereinsetzens provoziert und schließlich die Erkenntnis vermittelt, dass Pausen das unvermeidliche Ende vorwegnehmen. Das Spannungsverhältnis zwischen Leere und Fülle, Präsenz und Absenz ist sowohl der Landschaft der Wüste als auch musikalischen Pausen gemein. Auf den ersten Blick ist der Naturraum der Wüste ein Ort der Öde, Leere und Verlassenheit, und auch musikalische Pausen zeichnen sich durch die Abwesenheit 1 Die Abbildungen in diesem Text sind auf Jennifer Egans Webpage als PowerPoint-Präsentation veröffentlicht.

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und die Unterbrechung von Musik aus. Doch ist weder die Wüste ein Ort der Leere, noch sind musikalische Pausen ohne Klang. Vielmehr stellen diese vermeintliche Absenzen veränderte Anforderungen auf der Perzeptions- und Erfahrungsebene: ein geschärftes Ohr und ein geschärftes Auge ermöglichen neue Formen der Wahrnehmung.

Abbildung 2: „Sounds“. Quelle: Egan 2010:287.

Auf der Folie mit dem Titel „Sounds“ wird die synästhetische Erfahrung der Wüste mit der von musikalischen Pausen analogisiert. „The desert is quiet and busy“ steht als grundsätzliche Aussage im Zentrum des konzentrischen Kreises. Die Wüste als paradoxen Ort der Stille und der Geschäftigkeit wahrzunehmen, wird im Folgenden auf die auditive Wahrnehmung von Pausen in zwei Liedern übertragen, die nun nicht mehr als Zeiträume der Abwesenheit wahrgenommen werden, sondern als Soundscape („faint clicks,“ „a hum“), die mit Geräuschen und Klängen gefüllt ist. Die Wahrnehmung von musikalischen Pausen als Soundscape erfordert eine veränderte, durch gesteigerte Aufmerksamkeit gekennzeichnete Rezeptionshaltung. Dies wird auf die Wahrnehmung des Naturraums Wüste übertragen, die, wie auch musikalische Pausen, durch das Spannungsverhältnis zwischen vermeintlicher Leere und Abwesenheit und einem Erfahrungs- und Wirkungspotenzial geprägt ist, welches sich aus dem Kontrast von Leere und Fülle ergibt, was Lincoln bei musikalischen Pausen „[h]aunting

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[p]ower“ oder auch „[p]ause power“ (Egan 2010:305) nennt. Die Wahrnehmung der Wüste jedoch erfordert eine ökologische Rezeptionshaltung, die sich durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die auf die Natur gerichtet ist, auszeichnet und so die Wüste als Eco-Soundscape in Erfahrung treten lässt. Was bei den musikalischen Pausen ein Rauschen, Kratzen oder Atmen ist, ist in der Wüste die auf den ersten Blick unauffällige Betriebsamkeit kleiner Lebewesen, das Farbspiel eines Sonnenuntergangs, aber auch die riesige Fläche, die von Solarzellen eingenommen wird und die Alison als „black ocean“ (Egan 2010:251) beschreibt. Die Wahrnehmung in der Wüste intensiviert sich zudem in der Nacht: Die Dunkelheit der Wüste (bedingt durch die Abwesenheit von Lichtverschmutzung) ermöglicht erst das Sehen der Sterne. Erst in der Dunkelheit der Wüste erkennt sich Alison als Teil einer kosmischen Konstellation innerhalb der Weite des Universums. Der existenziellen Verlassenheit, die sich durch die dunkle Weite der nächtlichen Wüste ergibt, sind die Sterne und Planeten als Orientierungspunkte entgegengesetzt. Musikalische Pausen stellen konventionell eine kurze Unterbrechung dar, die durch die Wiederaufnahme der Musik beendet wird. Diese Unterbrechung führt bei den Hörern – mit steigender Länge – zu einer Antizipation des Wiedereinsetzens der Musik und zu einem gesteigerten Wirkungspotenzial der Pause. Sasha Blake erklärt ihrem Mann, der keinen Zugang zu den musikalischen Pausen findet und damit auch keine Kommunikationsbasis mit seinem Sohn hat, die Bedeutung dieser Pausen: „The pause makes you think the song will end. And then the song isn’t really over, so you’re relieved. But then the song does actually end, because every song ends, obviously, and THAT. TIME. THE. END. IS. FOR. REAL.“ (Egan 2010:281). Musikalische Pausen kündigen das unvermeidliche Ende an – nicht nur des Liedes, sondern auch, in einem weiteren, existenzielleren Sinne, das Ende des Lebens. Lincoln macht aus den Aufnahmen der Pausen eine Schleife: „Lincoln loops the pause in each song so it lasts for minutes“ (Egan 2010:246). Hierdurch wird zum einen die existenzielle Bedeutung der Wüste verstärkt, zum anderen aber auch die Analogie zur Wüste. Durch den Akt der Wiederholung der Pause und der damit einhergehenden Verlängerung werden musikalische Pausen und Wüste wesensverwandt. Dies wird in der visuellen Darstellung auf den PowerPoint-Folien verdeutlicht (siehe Abb. 3 und Abb. 4). Sowohl die Wüste als auch musikalische Pausen bringen grundlegende Spannungsverhältnisse des menschlichen Lebens zum Tragen, die unsere Existenz kennzeichnen: Leben und Tod, Freiheit und Einsamkeit, Leere und Erfahrungsfülle. Erst in der gemeinsamen Wahrnehmung der nächtlichen Wüste, als Drew seinen Sohn Lincoln auffordert, die Wüste auditiv zu erfahren – „Here, let’s stand by the window. Listen with me. What does that sound like to you?“ (Egan 2010:301) – kommt letztendlich doch eine Verbindung zwischen Vater und Sohn

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zustande, die Lincoln mit den Worten „Okay. I know.“ affirmiert (Egan 2010: 303). Die Analogisierung von musikalischen Pausen und der Wüste schlägt sich auch in der experimentellen Erzählstruktur des Kapitels nieder, das aus 76 PowerPoint-Folien besteht. Egan selbst interpretiert PowerPoint als Möglichkeit des diskontinuierlichen Schreibens, das die Poetologie nicht nur dieses zwölften Kapitels bestimmt, sondern des Romans an sich: […] I became obsessed with PowerPoint when I realized that it had become a true narrative genre. It allowed me to represent gaps — pauses — in a tangible way that I couldn’t accomplish with a more traditional narrative. And „Goon Squad“ is a story that happens in fits and starts, with a lot of the action transpiring offstage. You might say that discontinuity is the book’s organizing principle (Maran 2010).

Innerhalb des Kapitels „Great Rock and Roll Pauses“ werden sowohl musikalische Pausen als auch die Wüste als leere Fläche dargestellt:

Abbildung 3: „Now Just the Pauses…“. Quelle: Egan 2010:246.

Der ästhetische Minimalismus der grafischen Elemente, die Alison zu Visualisierungszwecken nutzt, sind von der Software PowerPoint vorgegeben und entsprechen der Kargheit der Wüstenlandschaft. Die visualisierten Leerstellen sind aber natürlich zum einen mit synästhetischem Wahrnehmungspotenzial gefüllt und zum anderen umgeben von den vorhergehenden und nachfolgenden Folien

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Abbildung 4: „A Pause While We Stand on the Deck“. Quelle: Egan 2010:282.

bzw. dem Roman als Ganzem, der für sich wieder in einem weiteren kulturellen Kontext verortet ist. Die simultane Darstellung von Inhalten auf einzelnen Folien, die sich aus ihrem visuellen Charakter ergibt, ermöglicht dadurch aber auch durch den Leser gesteuerte, nicht-lineare und hypertextuelle Lesarten. Dies schlägt sich insbesondere auf Jennifer Egans Homepage nieder (http://goons quad.jenniferegan.com/), wo die PowerPoint-Präsentation in Farbe, inklusive der musikalischen Zitate und in einem zeitlich vorgegebenen Ablauf rezipiert werden kann. Gerade hier, im automatischen Ablaufen der PowerPoint-Präsentation und im Aufscheinen und Ersetztwerden der Folien, manifestiert sich wieder die Zeit als zentrales Thema des Romans: „time is a goon“ (Strong 2018). Auf dieser Webpage veröffentlicht die Autorin weiterhin Kapitel und Passagen, die nicht für den Roman ausgewählt wurden, was wiederum die Unabgeschlossenheit und die proliferierende Natur literarischer Texte illustriert.

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Die Wüste als individueller Rückzugsraum und Ort der energetischen Regeneration In Egans Roman ist die Wüste ein Raum, in den sich die Figur Drew zu nächtlichen, körperlich anstrengenden aber emotional regenerativen Spaziergängen zurückzieht, und gleichzeitig ein Raum der energetischen Regeneration, über den versucht wird, die menschliche Zivilisation aufrechtzuerhalten. Auch wenn die Wüste durch die Abwesenheit von Wasser eine für den Menschen lebensfeindliche und potenziell tödliche Umgebung darstellt und in A Visit die Einwirkung der Sonne auf den menschlichen Körper ein wiederkehrendes Motiv bildet, ist in A Visit Wasser das eigentliche tödliche Element. Während eines nächtlichen Ausflugs zum Hudson River in Jugendtagen ertrinkt ein gemeinsamer Freund von Sasha und Drew, ein Ereignis, das das Leben von Drew fortan bestimmt. Aufgrund seiner Schuldgefühle, den Freund nicht gerettet zu haben, gibt er seine Aspirationen, professioneller Schwimmer zu werden, auf und wird Arzt, ein Beruf, bei dem er kontinuierlich mit dem Tod konfrontiert ist. Aber auch in seinem Privatleben, insbesondere in seinen nächtlichen Ausflügen in die Wüste – die einen Gegenraum zum Fluss darstellt – begibt er sich wiederholt an einen Ort, der ihn an seine eigenen Grenzen bringt. Nach einer emotional anstrengenden Konfrontation mit Lincoln unternimmt Drew einen nächtlichen Spaziergang in die Wüste, wohin ihn seine Tochter Alison begleitet. Als sie bei einem riesigen Feld Solarzellen ankommen, die auch als Lunarzellen eingesetzt werden, kulminiert die sowohl individuell als auch kollektiv regenerative Wirkung der Wüste, die allerdings ambivalent dargestellt und erfahren wird. Alison beschreibt die Solarzellen folgendermaßen: „They look evil. Like angled oily black things. But they’re actually mending the Earth“ (Egan 2010:291). Solar- bzw. Lunarzellen, die der Energiegewinnung dienen, transformieren die Wüste in einen hochtechnologisierten Ort, in dem Fortschrittsglaube und ökologisches Bewusstsein, das aus dem Klimawandel und durch ihn hervorgerufene Verwüstungsprozesse resultiert, aufeinandertreffen. Die Solarzellen fungieren weiterhin als Symbol für die energetische Regeneration der Erde, ermöglichen aber auch ästhetisch und emotional komplexe Erfahrungen. Wenn Alison die Panels beschreibt, die sich über eine meilenweite Fläche erstrecken, steht die Entfremdungserfahrung von ihrer eigenen Lebenswelt im Mittelpunkt: „It’s like finding a city or another planet“ (Egan 2010:291). Die Panels erinnern Alison weiterhin an „robotic ninja warriors doing Tai Chi“ (Egan 2010: 294), ein Bild, das verschiedene gegensätzliche Bedeutungen zueinander in Beziehung setzt: Ninjas als im Verborgenen agierende Söldner verkörpern die von Alison empfundene Gefahr. Die simultanen Bewegungen, die ohne unmittelbar sichtbare Handlungsmacht stattfinden, werden mit dem Praktizieren von Tai Chi analogisiert, einer chinesischen Kampfsportart, die sich durch verlangsamte,

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kontemplative und konzentrierte Bewegungen auszeichnet und in sich Aspekte des Kampfes, der Verteidigung aber auch der Gesundheit, inneren Balance und Spiritualität vereinigt. Ganz explizit wird der Prozess der Heilung, der einer vorhergehenden Zerstörung bzw. Beschädigung nachfolgt, als solcher benannt („[…] they’re actually mending the Earth“ (Egan 2010:291)). Der bedrohliche Anschein der Solarzellen bei ihrem nächtlichen Ausflug soll also dem Wiederherstellen eines Gleichgewichts dienen, das die Erde als Lebensraum für den Menschen erhält. Wie auch bei den oben dargestellten Analysen zeigt sich hier das Potenzial dieses zeitgenössischen Romans als „unverzichtbarer Teil einer kontemporären ökologischen Wissenslandschaft und dass der kritische, explorative und transformative Beitrag von Literatur, Kunst und anderen Formen kultureller Kreativität essenziell ist für die Evolution von Gesellschaften hin auf eine nachhaltige Zukunft“ (Zapf 2016:3–4, meine Übersetzung).

Abschließende Bemerkungen In Jennifer Egans Roman A Visit from the Goon Squad wird die Wüste zu einem komplexen und dynamischen Erzähl-, Natur- und Lebensraum. Die Wüste ist hier ein Ort des Mangels, aber auch des Entstehens und des Werdens, ein Ort der persönlichen Erfahrung, aber auch für eine überindividuelle Dimension signifikant, da sie menschliche Grenzsituationen entstehen lässt und so zur Kreativitätsmetapher wird. Verwüstung meint hier nicht in erster Linie Zerstörung, sondern dynamische Veränderung und Entstehung von Neuem. Die Wüste wird dargestellt als reichhaltiger Erfahrungsraum und als Raum der Regeneration und Nachhaltigkeit (z. B. als Ort für erneuerbare Energien). Lebensräume von Menschen, Flora und Fauna werden als fundamental mobil und wandernd bzw. dynamisch gekennzeichnet. Gerade wegen ihrer Leere bietet die Wüste – wie sich insbesondere in der Analogisierung zu musikalischen Pausen zeigt – das Potenzial für kreative Energie, Produktivität und ästhetische Erfahrung und Erneuerung. Das Kapitel „Great Rock and Roll Pauses“ beginnt mit kreisförmig angeordneten, sich überlappenden runden Feldern, in denen die Figurenkonstellation der Blake-Familie abgebildet ist. Im mittleren Kreis steht das Wort „US“, das von den Namen der einzelnen Familienmitgliedern umgeben ist. In der Doppeldeutigkeit des mittleren Kreises wird noch einmal die Bedeutung des Narrativs als Ganzes illustriert: Es geht hier nicht um die Darstellung einer einzelnen Familie, sondern um die amerikanische Nation als Ganzes – und, in einem weiteren Sinne, auch um uns alle.

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Dialogische Narration und mehr-als-menschliche Kommunikation im Drama. Überlegungen am Beispiel von Chantal Bilodeaus Sila

Eine frühe Zusammenschau ökologisch geprägter geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsansätze, verfasst von der Ethnologin Deborah Bird Rose und der Umwelthistorikerin Libby Robin, bringt den zentralen gemeinsamen Leitgedanken auf den Begriff der ‚Konnektivität‘. Was die Autorinnen darunter verstehen, ist aus den Zusammenhängen ableitbar, in denen sie den Begriff in ihrem Beitrag verwenden. Als Konnektivität bezeichnen sie zum einen die ökologischen Wirk- und Strukturprinzipien der Vernetztheit, Interdependenz und Rekursivität, zum anderen aber auch eine mit diesen Prinzipien korrespondierende ethisch-epistemologische Maxime, deren Missachtung sie als eine fundamentale Ursache ökologischer und sozialer Schieflagen identifizieren. Eine wesentliche Aufgabe der „ecological humanities“ (Rose, Robin 2004) bestehe demzufolge in der Herausbildung von Denkweisen und Vernunftbegriffen, die diesem Leitgedanken verstärkt Rechnung trügen. Als konkrete Aspekte konnektiven Denkens heben die Autorinnen vor allem Dialogizität sowie – vorsichtiger – Empathie hervor: „The imperative of learning to think about and with connectivity can be operationalised as an imperative to enlarge the boundaries of thought and to enlarge thinking itself – to enhance our ability to think in dialogue and, perhaps, in empathy with others“ (Rose, Robin 2004). Das ökologisch inspirierte Leitkonzept der Konnektivität führt sie mithin zu der Forderung nach einem veränderten Wissens- und Wissenschaftsbegriff. Dieser müsse, so die Autorinnen, zugleich mit geeigneten Formen der (Kon-)Textualisierung verbunden sein. Besondere Tauglichkeit sprechen sie narrativen Kommunikationsformen zu: „It may be that narrative is the method through which the reason of connectivity will find its most powerful voice“ (Rose, Robin 2004; meine Hervorhebung). In der Tat weist der erzählende Darstellungsmodus deutliche Affinitäten zu der beschriebenen ‚konnektiven‘ Art des Denkens auf, namentlich durch seine komplex-verknüpfende Grundstruktur, seine beziehungsreiche Kommunikativität und sein Emotionspotenzial. „Das Erzählen“, so der Literaturwissenschaftler Jochen Vogt (2016:115), „scheint […] eine anthropologisch tief verankerte Tätigkeit und menschliche

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Kommunikationsform zu sein.“ Die Literaturwissenschaften setzen sich mit besonders vielschichtigen und wirkungsstarken Arten des Erzählens auseinander und fragen dabei nicht allein nach dem Was, sondern auch nach dem Wie des Erzählens. Eine Form literarischen Geschichtenerzählens, in der gerade die bei Rose und Robin hervorgehobenen Aspekte der Dialogizität und Empathie in besonderem Maße zur Geltung kommen, ist das Drama. Schon in der Antike wurde diese eng mit der leiblich-räumlich konstituierten Theaterkunst verbundene Textgattung dazu genutzt, das Verhältnis von Mensch und Natur zu sondieren. Die Gegenwartsdramatik verknüpft diese überzeitliche Menschheitsfrage zunehmend mit aktuellen Umweltdiskursen, die sie nicht nur abbildet und für ihr Publikum aufbereitet, sondern um eigene, imaginative Beiträge bereichert. So muten eine Reihe jüngerer Dramentexte wie kreative Experimentierfelder eines empathisch-dialogischen Denkens an, in denen handlungs-, wissens- und erfahrungstragende Funktionen nicht auf das menschliche Personal beschränkt sind, sondern auch dessen natürliche Mitwelt einbegreifen und gerade in der Interaktion beider zur Geltung kommen. Rose und Robin (2004) mahnen trotz ihrer affirmativen Sicht auf die Narration nachdrücklich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Erzählen. „Communicative engagement does not offer a license to make up stories“, denn, so sei zu bedenken: „the world already has its own stories.“ Auf der Oberfläche scheint diese Warnung vor ‚erfundenen Geschichten‘ mit den Freiheiten fiktionalen Erzählens unvereinbar. Wie ein Ausblick auf Chantal Bilodeaus Sila (2015) als Beispiel der nordamerikanischen Dramenliteratur zeigen soll, ist es jedoch gerade das Mittel der Fiktionalität, das es dem Text erlaubt, sich den Stimmen und Geschichten der mehr-als-menschlichen Welt zu öffnen.

Drama und Narration Eine Subsumierung dramatischer Texte unter das Stichwort der Narration wirft Fragen auf. Inwieweit kann die Rede davon sein, dass Dramen Geschichten erzählen? Aus dem Blickwinkel der einflussreichen strukturalistischen Gattungsforschung bestehen zwischen Drama und ‚Epik‘, d. h. der Gattung der Erzähltexte im engeren Sinn, neben einigen Gemeinsamkeiten auch bedeutende Unterschiede. Beide Gattungen bieten demnach Geschichten dar, wie etwa der Dramentheoretiker Manfred Pfister (2001:265) erklärt. Unter ‚Geschichten‘ versteht Pfister Darstellungen, die sich auf menschliche oder anthropomorphe Handlungsträger in Verbindung mit den Dimensionen Raum und Zeit beziehen. Ein entscheidender Unterschied ergibt sich aus strukturalistischer Sicht jedoch aus der Art und Weise, wie die Geschichten dargeboten werden. Während im Erzähltext das dargestellte Geschehen erzählt, d. h. durch einen teils mehr, teils

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weniger greifbar werdenden Erzähler vermittelt wird, der die Darstellung unweigerlich prägt, scheint sich das Geschehen im Drama unmittelbar anhand der (Sprach-)Handlungen1 der Figuren selbst abzuspielen und dem Publikum einen direkten Zugriff darauf zu erlauben. Nur in einer Minderheit von Dramen sind Erzählerfiguren vorhanden, die durch das Geschehen führen, es rahmen oder kommentierend begleiten, und diese Dramen werden in der strukturalistischen Tradition als Besonderheiten klassifiziert, die den Regelfall der dramatischen Unmittelbarkeit bestätigen (Pfister 2001:22). Da die strukturalistische Erzähltheorie das systematische Vorliegen von Geschichte und Erzähler als distinktives gattungsbestimmendes Merkmal des Erzähltexts betrachtet, zählt sie das Drama zu den „nicht genuin narrative[n] Gattungen“ (Fludernik 2013:13) und besteht auf einer konsequenten terminologischen wie auch konzeptionellen Unterscheidung zwischen erzählenden und dramatischen Darstellungsmodi (Genette 1998:201). Jüngere, ‚postklassische‘ Ansätze der Erzähltheorie stellen allerdings die Sinnhaftigkeit einer solch strikten Trennung zunehmend infrage. Nicht nur bezweifeln sie den Ausnahmecharakter ‚episierender‘ Elemente im Drama, sie problematisieren – zum Beispiel im Hinblick auf das Funktionsspektrum der sogenannten Regieanweisungen2 – auch das lange Zeit unangefochtene Postulat der Unmittelbarkeit dramatischer Darstellung (Fludernik 2008; Jahn 2001). Darüber hinaus ergänzen postklassische Erzähltheorien das formorientierte strukturalistische Interesse an den Bau- und Organisationsprinzipien des Erzählens um verstärkte Aufmerksamkeit für dessen funktions- und wirkungsbezogene Aspekte. Auf der Grundlage eines deutlich erweiterten Erzählbegriffs, der etwa auch audiovisuelle Medien und Alltagskommunikation umfasst, wird bei der Narratologin Monika Fludernik so die Kategorie der ‚Erfahrungshaftigkeit‘ 1 Als schriftlich codiertes ‚Gegenstück‘ zum Theater ist das Drama ein verbales Medium. Während dem Theater weitere Zeichensysteme zur Verfügung stehen, vollzieht sich das Drama wesentlich durch Sprache. Aus dieser Verfasstheit erklärt sich die große Bedeutung situationsverändernden „aktionale[n] Sprechen[s]“ im Drama (Pfister 2001:169). Infolge seiner dialektischen Verbundenheit mit dem Theater ist das Drama zugleich jedoch von einem starken Interesse an Körperlichkeit, Materialität und metamorphischen Verwandlungen geprägt, das es immer wieder ins Außersprachliche hinüberspielen lässt, so z. B. durch spezifische Formen der „Texttheatralität“ (Poschmann 1997:43). 2 Als Regieanweisungen bezeichnet man alle diejenigen (optionalen) Elemente dramatischer Texte, die weder zur Figurenrede noch zur reinen Gliederungsebene eines Texts gehören. Trotz ihres Namens bestehen Regieanweisungen nicht zwingend aus Inszenierungswünschen des Autors/der Autorin, sondern können (zugleich) beispielsweise auch intrafiktionale Schauplätze beschreiben, Figuren charakterisieren, Einblick in deren Innenwelten geben und Handlungsgeschehnisse mitteilen. Letztere Funktionen fallen nach gängiger narratologischer Lesart in den Kompetenzbereich nicht des Autors, sondern des literarischen Erzählers. So gestaltete Regieanweisungen widersprechen daher dem Unmittelbarkeitsprinzip der direkten (Figuren-)Rede.

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zum wichtigsten Kriterium narrativer Texte. Mit diesem Begriff beschreibt Fludernik (2013:177) die narrative Evokation „lebensweltlicher Erfahrung“, d. h. der subjektiven Wahrnehmungen, Bewusstseinseindrücke und Wirklichkeitserfahrungen leiblich verankerter Handlungsträger. Wie auch andere zeitgenössische Erzählforscherinnen und Erzählforscher vertritt Fludernik die Ansicht, dass Texte verschiedene Grade an Narrativität aufweisen können. „Texte, die Gene während der Zellteilung beschreiben“, erklärt sie etwa, „sind nur insofern ‚narrativ‘, als sie Ereignissequenzen nachzeichnen“ (Fludernik 2013:15). Demgegenüber sei die Erreichung eines hohen Grads an Narrativität an Erfahrungshaftigkeit – und Fludernik zufolge damit an „menschliche oder menschenähnliche Protagonisten“ (Fludernik 2013:14–15) – gebunden. Zu den Vorteilen dieses Modells im vorliegenden Kontext zählt nicht nur, dass es die Analyse dramatischer Texte unter dem Gesichtspunkt der Narration erlaubt, da in seinem Rahmen eine große Zahl an Dramen als hochgradig narrativ gelten müssen. Mit seiner Betonung der Erfahrungshaftigkeit erzählender Texte, die es uns ermöglicht, „vorübergehend am Leben anderer teil[zu]nehmen und dadurch unsere Wirklichkeitserfahrung [zu] erweitern“ (Martínez 2011:8), hebt dieses Modell letztlich auch gerade einen jener Aspekte hervor, die – wie von Rose und Robin (2004) dargelegt – das Erzählen als geeignete Methode und lohnende Praxis der Environmental Humanities erscheinen lassen: seinen Zusammenhang mit einem konnektiven Denken „in dialogue and, perhaps, in empathy with others.“

Aspekte des Dialogischen Nicht nur in Roses und Robins früher Zusammenschau stellt die Idee des Dialogs einen Schlüsselbegriff der Environmental Humanities dar. „We […] need to try out new forms of dialogue, new varieties of collaborative research, new channels of communication“, erklärt ein Grundsatzbeitrag programmatisch (Bergthaller et al. 2014:273). Ob in Form eher loser Zusammenschlüsse oder enger Kooperation, die Environmental Humanities „bring[] scholars of different disciplines into dialogue,“ heißt es in einem anderen (O’Gorman et al. 2019:443). Die Environmental Humanities seien ein „interdisciplinary dialogue“ sowohl innerhalb der Geisteswissenschaften als auch zwischen diesen und den Naturwissenschaften, erläutert Hubert Zapf (2017:61). Offensichtlich gehört ihre dialogische Ausrichtung elementar zum Selbstverständnis der ökologisch orientierten Geisteswissenschaften. Wie Rose und Robin in ihrem Beitrag andeuten, ist diese Dialogizität nicht allein mit Blick auf die Ermöglichung eines – dringend gebotenen – interdisziplinären Austauschs von Belang, sondern auch als ein mögliches übergreifendes Paradigma der Environmental Humanities, eine charakteristische Verfahrensweise der Reflexion und des Zugangs zum gemeinsamen

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Forschungsgegenstand, dem Verhältnis von Natur und Kultur, Mensch(en) und Umwelt(en). In verschiedenen Disziplinen stoßen je unterschiedliche Aspekte dialogischer Praktiken auf spezielles Interesse, für deren produktives Zusammenwirken die Environmental Humanities einen Rahmen bereitstellen. In der Philosophie, aber auch in der Pädagogik steht häufig die Funktion des Dialogs als interaktionalpartizipatorische Methode der Wissensproduktion und des Verstehens im Vordergrund, in Soziologie und Politikwissenschaft diejenige als pluralistischinklusives Mittel der Verständigung, etwa über Regeln und Normen. Die Religionsphilosophie Martin Bubers (1965) sieht im Dialog weniger ein Instrument der Ratio als ein ethisch-ontologisches Prinzip, das sich durch das Eintreten und Aufgenommenwerden des Menschen in eine responsive ‚Ich-Du‘-Beziehung zur Welt (anstelle eines verdinglichenden ‚Ich-Es‘-Verhältnisses) verwirklicht. Nicht zuletzt infolge der interdiskursiven Dimension der Literatur (Zapf 2017:66) spielen diese und weitere Aspekte dialogischer Praktiken auch in literaturwissenschaftlichen Überlegungen eine Rolle; darüber hinaus hat die Literaturwissenschaft aber auch eigenes Spezialwissen über den Dialog entwickelt. Der Akzent liegt dabei vor allem auf einer Betrachtung des Dialogs als Spannungsverhältnis. Anhaltende Beachtung finden beispielsweise die Beiträge des Strukturalisten Jan Mukarˇovský (1977), der die Kerndifferenz zwischen Dialog und Monolog weniger in einer bestimmten äußeren Form verortet als in der ‚dialogischen‘ bzw. ‚monologischen‘ Qualität einer Rede, genauer im Vorhandensein oder Nichtvorhandensein ‚semantischer Knicke‘, d. h. gedanklich-ideeller Divergenzen, Widerstände und Konflikte. Aus dieser Sicht können Dialoge monologischen, Monologe dialogischen Charakter annehmen. Enormen Einfluss hat der Literaturtheoretiker Michail Bachtin ausgeübt, dem zufolge aller Sprachverwendung eine grundlegende Dialogizität innewohnt, da jedes gesprochene oder geschriebene Wort unweigerlich in eine Dynamik vielfacher Wechselwirkungen mit vorausgegangenen und antizipierten ‚fremden‘ Wörtern eingebunden ist. Auch für Bachtin bedeutet Dialogizität in erster Linie Disparität und Reibung, die bei ihm, mehr noch als bei Mukarˇovský, entschieden positiv-emanzipatorisch konnotiert sind. Innerhalb der literarischen Gattungen findet Bachtin das Prinzip der Dialogizität zuvorderst in ‚polyphonen‘ Romanen wie denen Dostojewskis verwirklicht, die sich aus einer Vielfalt konkurrierender Stimmen, Weltsichten und Sinnhorizonte zusammensetzen, ohne einer einzelnen Stimme übergeordnete Autorität zuzusprechen oder „die Auffassungen und Urteile des Autors […] über alle übrigen dominieren“ zu lassen (Bachtin 1971:227). Im Drama sieht er hingegen eine weitestgehend monologische Gattung, die trotz ihres äußerlich dialogischen Aufbaus auf die „monolithische[] Einheit“ des von Autor und Rezipient aufgespannten Deutungsrahmens angewiesen sei, denn

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„echte Vielschichtigkeit würde das Drama zerstören“ (Bachtin 1971:22). Mit diesem apodiktischen Urteil verkennt er jedoch die Bedeutung dialogischer Prinzipien für die dramatische Gattung. Dass dem Dialog als Redeform im Sinne einer ‚Wechselrede zwischen zwei oder mehr Beteiligten‘ im Drama insgesamt ein herausragender Stellenwert zukommt, bedarf keines gesonderten Nachweises. Freilich gibt es auch Dramen ohne Dialog; beispielsweise zeichnen sich ‚postdramatische‘ Theatertexte gerade durch ihre gezielte Abwendung von narrativen Elementen wie Handlung, Rollenfigur und Dialog aus (Poschmann 1997). Allzu sehr scheinen diese Kategorien vielen modernen und postmodernen DramatikerInnen darauf abgestellt, Geschehen nur abzubilden statt selbst herzustellen. Allzu eng scheinen sie vielen auch verknüpft mit nicht mehr haltbaren Vorstellungen vom Menschen als einem selbstidentischen, autonomen Subjekt, in dessen Macht es steht, souverän über sein Sprechen und Handeln zu verfügen. „Der Dialog ist keine universale, zeitlose dramatische Form mehr“, konstatierte der Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth (1980:16) schon vor Jahrzehnten. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso bemerkenswerter, dass der Dialog dennoch ein viel genutztes dramatisches Gestaltungsmittel geblieben ist, das durchaus auch in ästhetisch ambitionierten Texten weiterhin einen Platz findet. Die Wahl des Dialogs ist als eine bewusste Formentscheidung anzusehen, die an der Sinnbildung des Texts signifikanten Anteil hat. Die Bedeutsamkeit des Dialogs im Drama leitet sich vorrangig aus dessen strukturell und medial bedingtem Unmittelbarkeitspotenzial ab, d. h. aus dem Vermögen dramatischer Figuren, aus ihrem eigenen (Inter-)Agieren heraus zu entstehen, statt wie etwa die Figuren eines Romans der Rede einer Erzählinstanz zu entspringen. Dramenfiguren gewinnen primär dadurch Konturen, dass sie innerhalb eines dynamischen Netzes von Strukturen sprechen und handeln, antworten und reagieren. Wie Pfister (2001:223) erläutert, bringt dieser Umstand einige Restriktionen mit sich, insbesondere im Vergleich zum Erzähltext: „Durch die Abwesenheit eines Erzählers […] werden die Möglichkeiten, eine Figur in ihrer biographisch-genetischen Dimension und im Innenraum ihres Bewußtseins darzustellen, reduziert.“ Zugleich legt diese Stilisierung jedoch den Blick frei für die existenzielle Interrelationalität und Interdependenz der Figuren. In Pfisters (2001:223) Worten tritt „der Mensch im Drama dominant als ein Sichselbst-Darstellender, nicht ein Für-Sich-Seiender [zutage], d. h. er erscheint dominant in zwischenmenschlicher Interaktion, nicht als Einsamer“. Dramatische Figuren bilden sich dialogisch3 aus einem fundamentalen, sie erst ermögli-

3 Auch Monodramen, die aus dem Monolog einer einzigen Figur bestehen, entwerfen eine dialogische Struktur, insofern monologisierende Figuren nicht nur dem Publikum, sondern

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chenden Beziehungsgeflecht heraus, in dem „die Relationen als irgendwie primär, die Relata als sekundär“ aufzufassen sind (Bateson 1981:214). Dramen gehen damit gerade von jener Ebene der Betrachtung aus, auf der sich laut Gregory Bateson, einem Pionier der Environmental Humanities avant la lettre, der tiefgreifende Zusammenhang geistiger, kultureller und ökologischer Prozesse offenbart. Nach Bateson gründet dieser Zusammenhang in der systemischen Interaktion zwischen Organismen (bzw. Teilen oder Aggregaten von Organismen) und ihrem jeweiligen Umgebungskontext, die allen diesen Prozessen gleichermaßen zugrunde liege. In Abgrenzung von Darwin geht Bateson bei seinen Überlegungen zu den Grundprinzipien evolutionären Überlebens nicht von der Betrachtung einzelner Individuen oder Spezies, sondern der Einheit ‚Organismus plus Umwelt‘ aus. Aus den Implikationen dieses ökologisch geprägten Ansatzes leitet er „eine sehr erstaunliche und überraschende Identität“ ab: „die Einheit des evolutionären Überlebens erweist sich als identisch mit der Einheit des Geistes“ (Bateson 1981:621, Hervorhebung im Original). Beide bestehen aus der rückgekoppelten Verbindung von Organismus plus Kontext und unterscheiden sich von nicht-geistigen, rein physikalisch bedingten Vorgängen dadurch, dass sie Kommunikationsprozesse4 involvieren und Informationen, oder ‚Ideen‘, in ihnen als Ursachen wirken können. Ohne den Aspekt des Geistigen, so Bateson, seien evolutionäre und ökologische Organisations- und Transformationsstrukturen nicht adäquat verstehbar. Er erkennt eine Grundlage der menschlichen Destabilisierung der Ökosysteme in der Reifikation des Geistes, denn dieser „[e]rkenntnistheoretische Fehler“ (Bateson 1981:623) erlaube es dem Menschen, die Vorstellung geistigen Wirkens von der physischen Wirklichkeit zu entkoppeln und die Idee einer reziproken Beziehung zu ersetzen durch diejenige einer einseitigen Hegemonie des Geistes über den Körper und die Natur. Zu der Vielzahl kultureller und diskursiver Praktiken, die dieser problematischen Grundannahme verhaftet sind, gehört Bateson zufolge auch der Monolog. „Allein schon die Tatsache, daß ich hier einen Monolog halte […]“, so erklärte er während eines Vortrags auf einer wissenschaftlichen Konferenz, „die Vorstellung, daß ich Sie einseitig belehren kann, leitet sich von der Voraussetauch sich selbst als ein ‚Du‘ gegenübertreten und sich z. B. mit widerstreitenden Impulsen oder der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen können (vgl. Pfister 2001:182). 4 Wie die Biosemiotik hervorhebt, erscheint der Begriff der Kommunikation zur Bezeichnung der fraglichen Prozesse angemessener als der mechanistischere Begriff der Informationsübertragung, da sie die kreative, interaktionale Erzeugung von Bedeutung beinhalten: „biological information must be properly understood as biosemiosis – that is the action of signs, and communication and interpretation in all living things – all the way from the single cell to complex multicellular organisms. […] All living things are in constant creative semiotic interaction with their environments: each makes the other in a continual process“ (Wheeler 2014:122).

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zung her, daß der Geist den Körper kontrolliert“ (Bateson 1981:624). In Theorie und Praxis orientierte sich Batesons eigene Denk- und Arbeitsweise dementsprechend stark am Modell des Dialogs. Dies geht nicht allein aus der Diversität seiner vielfältigen transdisziplinären Forschungsinteressen hervor, sondern auch aus den persönlichen Erinnerungen seiner Tochter und langjährigen Koautorin: Gregory’s knowing was embedded in a distinctive pattern of relationship and conversation. […] Over a period of nearly forty years, Gregory used a form of dialogue he had developed between [a fictional] ‚Father‘ and ‚Daughter,‘ to allow himself to articulate his own thinking. Over a period of about twenty years, we actually worked together, sometimes on written texts, sometimes in public dialogue or dialogue within the framework of a larger conference, and sometimes across the massive oak table in the Bateson household, arguing our way towards clarity (Bateson, Bateson 1987:3).

Der Dialog besitzt für Bateson offenkundig einen spezifischen Erkenntniswert, der sich aus jener kreativen interaktionalen Rückkopplungsstruktur ergibt, die Bateson zufolge allen geistig-ökologischen Vorgängen zugrunde liegt. Es liegt auf der Hand, dass eine Definition des Dialogs als eine schlichte ‚Wechselrede zwischen zwei oder mehr Beteiligten‘ – im Sinne bloß abwechselnden Redens – hier zu kurz greifen würde. „Insofern als der Redeakt des Sprechers sich […] an der vermuteten Reaktion des Gesprächspartners orientiert und dessen tatsächliche Reaktion wiederum eine neue Aktion darstellt, ist die Dialogentwicklung mehr als eine bloße lineare Kette von Aktion – Reaktion – Aktion […]. Vielmehr haben wir es mit […] einem ‚Netz von Aktionen und Reaktionen‘ zu tun“ (Platz-Waury 1999:147). Im Dialog stellt sich der Ort geistiger Prozesse weniger als abgeschlossener Innenraum denn als relationaler Zwischenraum dar, was denn auch den Vorwurf der ‚Oberflächlichkeit‘ des Dramas (vgl. dazu Pfister 2001:223) in ein anderes Licht rückt. Bemerkenswerterweise sucht Bateson diese Dynamik nicht allein durch reale, sondern auch durch fiktionale Dialoge anzustoßen. Fiktive Gespräche zwischen einem ‚Vater‘ und einer ‚Tochter‘, als ‚Metaloge‘ bezeichnet, finden sich in den meisten seiner Monographien und demonstrieren, dass Bateson wie Bachtin und Mukarˇovský davon ausgeht, dass Rede- und Denkprozesse auch dann dialogische Qualität aufweisen können, wenn sie technisch betrachtet auf einen einzelnen Urheber zurückgehen. Die Lektüre dieser quasi-dramatischen Einschübe verdeutlicht aber auch, dass Dialoge sich nicht allein durch Spannung und Disparität auszeichnen, wie sie bei Bachtin und Mukarˇovský im Vordergrund stehen. Dialoge sind wesentlich auch Medium und Gestaltungsmittel einer elementaren Beziehungshaftigkeit, und sie erfordern zumindest ansatzweise das Vorhandensein – oder die Entwicklung – einer gemeinsamen Basis von Codes und referentiellen Kontexten. Aus dramatischen Texten, zu deren zentralen

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Themen seit jeher das Gelingen und Scheitern von Kommunikation zählt, geht dieser Aspekt klar hervor (Pfister 2001:182–183).

Mehr-als-menschliche Kommunikation Nach Batesons Auffassung sind Epistemologie und Ontologie für den Menschen untrennbar verbunden. Die jeweiligen Realitätsbegriffe der Menschen und ihre Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster bestimmten einander gegenseitig, wobei Bateson (1981:406) eine heikle Tendenz zur wechselseitigen Bestätigung und Verstärkung konstatiert, die in ungünstigen Fällen zu fatalen Entwicklungen führten. Vor diesem Hintergrund kommt er zu dem Schluss, dass die „massierte Ansammlung von Bedrohungen für den Menschen und seine ökologischen Systeme aus Irrtümern in unseren Denkgewohnheiten auf tiefen und teilweise unbewußten Ebenen hervorgeht“ (Bateson 1981:626). Literatur und Kunst können zu der schwierig zu bewerkstelligenden Leistung beitragen, aus eingeschliffenen Seh- und Denkgewohnheiten auszubrechen und Alternativen zu erkunden. Nicht zuletzt infolge seiner grundlegenden Dialogizität erweist sich das Drama als produktiv im Sinne einer Bateson’schen Ökologie des Geistes. Besonders deutlich tritt dieses Potenzial zutage, wenn Dramentexte explizit auch nichtmenschliche Akteure einbeziehen, wie es gerade in jüngster Zeit vermehrt geschieht. Durch die Darstellung mehr-als-menschlicher Dialoge loten diese Texte auf umweltethisch relevante Weise die Grenzen eines epistemologischen Realismus aus und erproben zugleich dessen ästhetische Überschreitung. Die Frage nach der ‚Stimme der Natur‘, die sich in diesem Zusammenhang erneut stellt, reicht weit zurück. In jüngerer Zeit hat der Tiefenökologe David Abram (1997) in seiner viel rezipierten phänomenologischen Studie The Spell of the Sensuous geltend gemacht, dass mehr-als-menschliche5 Kommunikation für den Menschen über weite Teile seiner biologischen Geschichte hinweg eine selbstverständliche Erfahrungstatsache gewesen sei. Deren Grundlage erkennt Abram in den Sinnesorganen des Menschen und deren unmittelbarer Bezogenheit auf die vielgestaltige menschliche Umwelt: „All could speak, articulating in gesture and whistle and sigh a shifting web of meanings that we felt on our skin or inhaled through our nostrils or focused with our listening ears, and to which we replied – whether with sounds, or through movements, or minute shifts of mood“ (Abram 1997:ix). Zum beiderseitigen Nachteil habe die Menschheit, be5 Die Rede vom „Mehr-als-Menschlichen“ geht auf den Untertitel von Abrams Studie zurück: Perception and Language in a More-Than-Human World. Aufgrund ihrer nonbinären Qualität, die den menschlichen Bezugspunkt nicht aufgibt, aber relational erweitert und übersteigt, findet die Formulierung auch im vorliegenden Beitrag Verwendung.

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ginnend mit der alphabetischen Verschriftung von Sprache, diesen lebendigen sinnlichen Austausch unterbrochen und sei der Natur gegenüber weitgehend taub geworden. Davon ausgenommen seien indigene Kulturen mit einer starken mündlichen Tradition; Schamanen erlebten sich auch heute noch imstande „to directly encounter, converse, and bargain with various nonhuman intelligences – with otter, or owl, or eland“ (Abram 1997:256). Einen gegenteiligen Standpunkt vertritt die Theaterwissenschaftlerin Una Chaudhuri (2012). Aus ihrer Sicht stellt sich die Diskursivierung der Natur nicht als Ausdruck uralten Erfahrungswissens dar, sondern als Folge eines rigorosen modernen Bedeutungsregimes und seiner ebenso selbstherrlichen wie verfehlten Verstehensansprüche gegenüber dem kulturellen Anderen. „[M]odernity must render all its Others – including children and animals – discursive. It must make them give up the silence that so threatens us with its intimations of autonomy, of distance and mystery“, erklärt sie unter Berufung auf Baudrillard (Chaudhuri 2012:54). Doch solche Domestizierungsversuche liefen letztlich ins Leere: „The silence of the animals […] seems to be able to survive all the many ways humanity has tried to render them discursive“ (Chaudhuri 2012:55). Im kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld der Animal Studies spielt die Frage nach der diskursiven Erfassbarkeit und Repräsentierbarkeit von Tieren eine zentrale Rolle. Wie Lori Gruen (2018:8) ausführt, wird die grundsätzliche Problematik eines ‚Sprechens für andere‘ im Fall nichtmenschlicher Tiere noch verschärft durch die je artspezifischen Existenzformen, Umweltkonstrukte und Kommunikationsmöglichkeiten, die sich von denen des Menschen massiv, oft gar radikal unterscheiden. Bei aller Berechtigung dieser Bedenken ist allerdings festzuhalten, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit der Problematik der diskursiven Aneignung von Tieren gerade aus ökologischer Perspektive nicht darin bestehen kann, die mehr-als-menschliche Welt systematisch aus menschlichen Diskursen auszuschließen. Für Gruen (2018:8) selbst besteht in dieser Frage ein entscheidender Punkt darin, ob Tiere so repräsentiert werden könnten, dass sie „not only as symbols or metaphors for human interests and projects but as subjects themselves“ erkennbar würden. Doch nicht allein in den Wissenschaften, auch im ästhetischen Anschauungsund Erfahrungsraum von Kunst und Literatur wird die Frage nach den Möglichkeiten einer mehr-als-menschlichen Kommunikation reflektiert. Mit welchen Strategien in dramatischen Texten um die produktive Nutzbarmachung der dialogischen Disposition des Dramas und zugleich um die Vermeidung kruder anthropozentrischer Vereinnahmungen gerungen wird, soll anhand eines Beispiels aus der nordamerikanischen Gegenwartsliteratur umrissen werden.

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Chantal Bilodeaus Sila (2015) Das Stück Sila der kanadisch-amerikanischen Dramatikerin Chantal Bilodeau ist der erste Teil eines Dramenzyklus, in dem sich die Autorin mit den Folgen des Klimawandels auf die acht verschiedenen Staaten zugeordneten arktischen Regionen auseinandersetzt. Sila spielt auf der Baffininsel im kanadischen NunavutTerritorium. Unter Zurückweisung eines kontinuierlichen, auf eine finale Auflösung von Konflikten hin konstruierten Spannungsbogens präsentiert das Stück in episodischer Struktur mehrere ineinander verschränkte Handlungsstränge. Die auftretenden Figuren unterscheiden sich in ihren Weltanschauungen, Herkunftsorten, Ethnien, Sprachhorizonten und auch ihrer Spezies; was sie teilen, sind ihr gemeinsamer, sich verändernder Lebensraum, durch den sie auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind, ihr vital-resilienter Lebenswille und ihre Konfrontation mit einem verfrühten Tod. Das nichtmenschliche Personal des Texts, eine Eisbärin und ihr Junges, wird aus einem klar erkennbaren menschlichen Blickwinkel in die Handlung eingeführt: Die Tiere finden Erwähnung im Gespräch zweier Männer, die sie aus sicherer Entfernung mit dem Feldstecher beobachten – eine Situation, die auch auf die Position von Autorin und Publikum auf der äußeren Rahmenebene des Stücks anspielt. Schon in der folgenden Szene holt der Text die beiden Bären jedoch dicht an die Leserschaft heran, und die Tiere erscheinen nicht länger als passive Objekte, sondern treten als aktive Handlungsträger hervor. Wir finden sie auf dem Eis vor, wo sie nahe dem Atemloch einer Robbe auf der Lauer liegen. Die Bärenmutter unterweist ihr Junges in den überlebensnotwendigen Feinheiten der Jagd, doch dem Jungtier fällt das lange Stillhalten schwer; es ist zappelig und bemüht sich um die Aufmerksamkeit der Mutter. DAUGHTER: Why is it taking so long? MAMA: Shhh … […] DAUGHTER: But Anaana, what if I’m not a good hunter? MAMA: You are a good hunter, paniapik. DAUGHTER: But Anaana, what if I’m not a good hunter? […] MAMA: It is my duty to make you a good hunter. DAUGHTER: How good? As good as you? MAMA: Yes, as good as me. So you may live a long life and be a great nanuq. DAUGHTER: Like the nanuq who climbed into the sky? MAMA: Like the nanuq who climbed into the sky. DAUGHTER: Tell me the story again! (She rubs her head against MAMA’s neck.) Please? … MAMA: In the early days – DAUGHTER: No, you have to start with taissumaniguuq! MAMA: Taissumaniguuq … when strange powers were shared among animals, people, and the land, when all creatures spoke the same tongue and traded skins with ease, it is

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said that a great nanuq roamed the land. This nanuq, called Nanurjuk – Suddenly, a shift. MAMA sniffs the air at several levels then steadies her attention on a fixed point in the distance. Stay low, paniapik. He’s coming. He’s under the ice (Bilodeau 2015:18–19).

Nach Mukarˇovskýs Kriterien steht dieser Austausch qualitativ zwischen Dialog und Monolog. Einerseits sind einige Repliken (das „Shhh“ der Mutter, die abgebrochene Erzählung) begleitet von klaren ‚semantischen Knicken‘, auf denen nach Mukarˇovský Dialogizität beruht: Während die Tochter den Kontakt mit der Mutter sucht, ist der Mutter daran gelegen, den Fokus der Tochter von sich wegzulenken, um ihn um eine zielgerichtete Außenwahrnehmung zu erweitern. Andererseits geht die Mutter durchaus auf die Kontaktversuche des jungen Bären ein und lässt die bestehende Grundspannung nicht zum beherrschenden Moment ihrer Interaktion werden. Indem sie bald echoartig, bald komplementär die Fragen und Appelle der Tochter aufgreift, demonstriert sie beider gemeinsamen Bezugsrahmen und ihr anhaltendes Resonanzverhältnis, ohne jedoch das übergeordnete Ziel der Jagd preiszugeben. Durch die unübersehbar anthropomorphisierende, an Kinderliteratur erinnernde Gestaltung der Bären macht der Text auch hier keinen Hehl aus seiner menschlichen Perspektive. Der Bewegungsdrang der Bärentochter, ihre verspielte Neugier und die Freude an Ritualen erinnern ebenso an menschliches Verhalten wie die geduldig-gutmütige Zuwendung und fürsorgliche Umsicht der Mutter. Diese Analogien eröffnen Leserinnen und Lesern eine ansprechende, da erheiternde und anrührende Möglichkeit, eigene Lebenserfahrungen in denen der tierischen Figuren wiederzuerkennen. Doch speist sich dieser Effekt nicht allein aus rührselig-selbstbezogenen menschlichen Projektionen heraus. Vielmehr nutzt er das emotionale Potenzial evolutionär bedingter Korrespondenzen zwischen elementaren Beziehungs- und Kommunikationsstrukturen verschiedener Säugetierarten, von deren Zutreffen in Grundzügen auch die Erkenntnisse diverser wissenschaftlicher Disziplinen ausgehen. So kommt Bateson (1981:471) anhand seiner Beteiligung an ethologischen Studien zu dem Schluss, dass sich die Kommunikation präverbaler Säugetiere primär „im Rahmen von Beziehungsmustern“ vollziehe. Bitte zum Beispiel eine Katze um Futter, „dann wäre es nicht richtig zu sagen, daß sie ‚Milch!‘ schreit. Vielmehr sagt sie so etwas wie ‚Mama!‘ Oder vielleicht wäre es noch richtiger zu sagen […]: Abhängigkeit“ (Bateson 1981:471). In dieser Hinsicht ist die Bindung zwischen Mutter und Kind bei Menschen und anderen Säugetieren vergleichbar, auch wenn sie, soweit irgend beurteilbar, für den Menschen eine ungleich größere und individuellere emotionale Signifikanz annimmt. Es ist bezeichnend, dass die Bären die Rollennamen „Mama“ und „Tochter“ tragen, die sie in ihrer Beziehung zueinander ebenso wie in ihrer empathischen Betrachtung durch den Menschen und in der ge-

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meinsamen Einbettung in die Biologie der Säugetiere (‚Mammalia‘) erfasst. Wie der Text selbstreflexiv hervorhebt, vergegenwärtigen sie das geteilte Erbe einer Zeit „when all creatures spoke the same tongue“ (Bilodeau 2015:19). Was auf den ersten Blick wie eine naive anthropozentrische Selbstbespiegelung anmuten mag, erweist sich als durchaus ambitionierter Versuch, mehr-als-menschliche Gemeinsamkeiten erfahrbar zu machen. Wie sich zeigt, bleibt trotz der Anthropomorphisierung der beiden Bärenfiguren die vorrangige Funktion ihres Gesprächs, nämlich die wechselseitige aktualisierende Verständigung über die Beschaffenheit ihrer Beziehung, unverbalisiert. Sie geht weniger aus den gesprochenen Worten als aus deren Gesamtzusammenhang in ihrem situativen Kontext hervor, in den auch die in den Regieanweisungen zum Ausdruck kommenden körpersprachlichen und perzeptiven Elemente nonverbaler Kommunikation einfließen. Insofern nimmt der Text das Bär-Sein der Figuren ernst. Dass diese im Stück dennoch nicht auf eine realitätsgetreuere, präverbale Elementarkommunikation beschränkt sind, sondern sich unter Zuhilfenahme der menschlichen Verbalsprache artikulieren, zeigt an, dass Dialog im Drama auf mehreren Kommunikationsebenen und über diese hinweg stattfindet. Zu den Beteiligten zählen immer auch die Autorin und das Publikum, ein Strukturmerkmal, das auf Literatur generell zutrifft und, wie die Rezeptionsästhetik dargelegt hat, durch Poetisierung an Intensität gewinnt. Entsprechend plädiert etwa Rolf Kloepfer (1982:88) dafür, Literatur ganz „unmetaphorisch“ als Dialog zu verstehen: „Ein Text deutet an … wir denken aus; er behauptet … wir widersprechen; er bricht ab … wir führen fort; er nennt etwas unsagbar … wir versuchen, es zu erfassen […]. Wichtig ist, dass dieses unser Tun selbst vom Text wieder genutzt werden kann, ja dass dieses textinterne Wechselspiel eines der Mittel ist, den Leser an direkten Formen des Dialoges zu beteiligen.“ Ein wesentliches Element dialogischer Prozesse, so hebt Kloepfer (1982:88) hervor, besteht in der gemeinsamen Entwicklung einer hinlänglich brauchbaren ‚Sprache‘ oder eines ‚Codes‘, der aus der Interaktion zwischen den verschiedenen Beteiligten hervorgeht. In Sila ist dieses Medium das Geschichtenerzählen. Nicht nur stellt das Stück auf der Makrostruktur selbst einen Akt (dramatischen) Erzählens dar, auch innerhalb der Geschichte, die es präsentiert, kommt der Narration und vor allem der lokalen Mythologie der Inuit besondere Bedeutung zu. Mythische Erzählungen bewahren in symbolisch verdichteter Form das über Generationen hinweg gesammelte Weltwissen und den Erfahrungsschatz einer Kultur und halten diese für die Nachwelt lebendig. Der Mythos ist mithin eine Wissensform, worauf eine der Figuren des Dramas, der alte Inuk Tulugaq, einen ortsfremden Klimatologen – und das Publikum – explizit aufmerksam macht: „That is Inuit qaujimajatuqangit. Inuit traditional knowledge. […] Numbers are not enough. We need stories“ (Bilodeau 2015:52). Kreisen

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mythische Erzählungen einerseits häufig um Urerfahrungen des Lebens oder Grundfragen nach dem Ursprung und Wesen der Welt, gehen sie andererseits aus hochspezifischen lokalen Anschauungen und Lebenspraktiken hervor, die an die Bedingungen des jeweiligen Lebensraums gebunden sind. So spielt in den Mythen der Inuit, wie auch in Sila, der Eisbär eine besondere Rolle. Wie der oben zitierte Ausschnitt zeigt, ist es im Drama die Bärenmutter selbst, die sich anschickt, die bekannte Inuit-Geschichte des mythischen Eisbären Nanurjuk zu erzählen, der auf der Flucht vor maßlosen Jägern den Rand der Welt überwindet und an den Himmel aufsteigt, wo er seitdem als Sternbild zu sehen ist. Nicht nur der weitere Verlauf des Handlungsstrangs um die beiden Bären validiert den metaphorischen Wahrheitsanspruch dieses Mythos (die Bärentochter, geschwächt von dem vorzeitigen Schwinden des Eises und dem damit verbundenen Ende der Robbenjagdsaison, ertrinkt trotz aller Bemühungen der Mutter im Meer und verfängt sich zusammen mit weiteren Schicksalsgefährten im schlingpflanzenartigen Haar der Meeres- und Unterweltgöttin Nuliajuk, bis sie, in einem parallel sich entwickelnden ‚menschlichen‘ Handlungsstrang, von der dortigen Erkenntnis eigener Mitverstrickung und Verantwortung befähigt wird, sich zu befreien und ihrerseits in luftige Höhen aufzusteigen). Auch der Umstand, dass gerade eine der Bärenfiguren als Erzählerin der Geschichte des mythischen Eisbären auftritt, unterstreicht deren Relevanz. Denn er impliziert, dass die Bären selbst Anteil haben an der Entstehung, Aktualisierung und Langlebigkeit des Mythos, dass Erzählungen sich nicht in menschlichen Selbstgesprächen erschöpfen müssen, sondern dialogisches Potenzial besitzen. Mythen und Erzählungen erweisen sich somit nicht nur als Formen des Wissens, sondern auch der interaktionalen Kommunikation, denn in vielfach gebrochener und vermittelter Form erlauben sie einen dialogischen Austausch zwischen Beteiligten, deren Möglichkeiten zu direkteren Dialogen aufgrund stark differierender ‚Codes‘ begrenzt sind. Weder menschliche noch tierische Figuren erscheinen in Sila als reine Subjekte oder Objekte des Erzählens. Stattdessen entstehen ihre Geschichten aus ihren Wechselbeziehungen heraus und besitzen die Kraft, gemeinsame Wirklichkeitserfahrungen zu gestalten, aber auch von diesen verändert und umgeschrieben zu werden. Der Modus des Geschichtenerzählens, so legt der Text nahe, eröffnet die Möglichkeit einer mehr-als-menschlichen Kommunikation: Nicht ohne Grund beharrt das Bärenjunge in dem oben zitierten Dialog auf der Unverzichtbarkeit der Erzählformel taissumaniguuq (‚es war einmal‘). Der Mensch stellt in dieser Art der Kommunikation einen notwendigen Referenzpunkt dar und überschreitet doch die eigene Perspektive hin auf andere Positionen. Während ein solcher imaginativer Blickwechsel den menschlichen Denkhorizont erheblich bereichern kann, birgt er zugleich, trotz der interaktionalen, gewissermaßen spiralförmig rückgekoppelten Bewegung, in der er sich vollzieht, die offenkun-

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dige Gefahr der Missrepräsentation und der Missdeutung. Die Möglichkeit des Verstehens ergibt sich nur in Form einer mittelbaren Annäherung. Sila trägt diesem Umstand Rechnung, indem das Stück Kommunikation als einen Übersetzungsvorgang erfahrbar macht, der unvermeidbar mit Störstellen, Bedeutungsverschiebungen und Sinnverlusten einhergeht. Der Text ist primär in englischer Sprache verfasst, doch abhängig von der jeweiligen Gesprächssituation enthält er auch Dialoge auf Französisch und Inuktitut. Mit Blick auf den extrafiktionalen Dialogpartner, das Publikum, fügt der Text für diese Passagen englischsprachige Übersetzungen bei, die offensichtlich als breiter verständlich vorausgesetzt werden. Für Bühneninszenierungen sieht die Autorin, wie aus den Regieanweisungen hervorgeht, die Einblendung der Übersetzungen als Textprojektionen vor. Wird hier bereits die Dialektik von Verstehen und Nichtverstehen erkennbar, verstärkt sich dieser Effekt noch in den Dialogen der beiden Eisbären, denen keine menschliche Sprache gerecht wird. Im Interesse des Publikums lässt das Stück auch sie vorrangig auf Englisch kommunizieren, doch ist ihre Rede durchsetzt von Einsprengseln auf Inuktitut, einer Sprache, die sich innerhalb ihres eigenen Lebensraums entwickelt hat und daher in manchen Belangen noch am ehesten geeignet scheint, die Lebenswelt der Eisbären verbal zu repräsentieren. Doch für die Dialoge der Bären, schon als solche ein Produkt vielfacher imaginativer Vermittlungs- und Übersetzungsprozesse, sieht das Stück keine weiteren Verständnishilfen vor; die auf Inuktitut versprachlichten Elemente bleiben ohne englische Übersetzung stehen. Zwar enthält der Paratext des Dramas ein Glossar mit Worterklärungen, das im Theater etwa in ein Programmheft übernommen werden könnte, doch der Effekt der Spannung, des Stolperns, Fragens und mühsamen Hilfesuchens bleibt bestehen. Sila kaschiert nicht die Problematik seines Bemühens um mehr-als-menschliche Dialogizität. Im Bewusstsein dieser Problematik, die es selbst reflektiert, hält das Stück vielmehr trotzdem an der Notwendigkeit seines riskanten Unternehmens fest und erfüllt so die bidirektionale Ethik des Dialogs, die zugleich eine Grundlage ökologischen Denkens darstellt: Respekt für „connectivity and diversity, relationality and difference“ (Zapf 2016:138). Menschliche Begriffsbildungen bedingen Deformationen und können zugleich den Blick schärfen. Für das Sprechen über Zusammenhänge, Korrelationen und Konnektivität eignet sich nach Bateson (1987:25–30) besonders das Modell der Metapher, nach dessen Muster sich seines Erachtens prä- und nonverbale Kommunikation vollzieht, das aber auch im fiktionalen Erzählen und in poetischer Rede substanziell zum Tragen kommt. Metaphern stellen, hierin der dialogischen Struktur des Dramas verwandt, die Relationen zwischen Bezugskomponenten in den Mittelpunkt. Beruht ihre Verstehbarkeit auf der Similarität korrespondierender Relationen innerhalb verschiedener Bezugssysteme, so schöpfen sie ihre Innovationskraft und Dynamik aus der Übertragung einzelner

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Komponenten von einem Bezugssystem in ein anderes. Vor diesem Hintergrund erscheint es aufschlussreich, dass in Sila ausgerechnet die gegenseitigen Anreden der Eisbären, Anaana (‚Mama‘) und paniapik (‚meine Tochter‘), durch die sie die scheinbar transparente, problemlos zu durchschauende Art ihrer Beziehung zueinander zum Ausdruck bringen, zu den Fragen aufwerfenden Stolperstellen in ihren Dialogen zählen. Die Rollenbezeichnungen, die ihnen von außen, in den Redemarkierungen oder auch im Gespräch der beiden Beobachter mit dem Fernglas zugewiesen werden – ‚Mama‘ und ‚Daughter‘ bzw. „a mother and a cub“ (Bilodeau 2015:12) – machen sich die Bären nicht zu eigen. Sie erweisen sich als nichtidentisch mit menschlichen Vorstellungen und Zuschreibungen, seien diese anthropomorphisierend oder distanzierend, und sind doch eingewoben in ein Netz von Analogien und Vergleichbarkeiten, deren Relevanz durch die ebenso vorhandenen Differenzen nicht gemindert wird. In Sila rückt, wie schon aus dem Titel des Stücks hervorgeht, die Dimension der Konnektivität in den Vordergrund. In der Kosmologie der Inuit bezeichnet sila (‚Luft‘, ‚Atem‘, auch ‚Himmel‘, ‚Wetter‘) eine physisch ebenso wie geistig wirkende, Leben spendende und Gemeinschaft stiftende Kraft, die jedes Geschöpf durchströmt und das Weltganze umhüllt. „[W]ith each breath, sila reminds us that we are never alone“, erklärt die Bärenmutter. „Each and every one of us is connected to every other living creature“ (Bilodeau 2015:44). Alle Fäden des Stücks laufen in diesem Konzept zusammen: Das Thema des globalen Klimawandels, die Beziehung zwischen Mensch und Natur, ethische Fragen, Aspekte einer ökologischen Epistemologie und auch die Bedeutung des Erzählens und der Kommunikation, denn, so erklärt der weise Alte Tulugaq, „[i]n ancient tradition, our people believed that words were very powerful. Because they were formed with sila“ (Bilodeau 2015:17). In The Spell of the Sensuous hebt auch David Abram (1997) die Bedeutung des Atmens hervor, die als gemeinsame Basis der leiblichen Verankerung in der Welt über Jahrtausende hinweg eine mehr-alsmenschliche Verständigung ermöglicht habe. Mit dem Einzug der Alphabetschrift sei dieser lebendige Austausch erstickt worden: „Only as the written text began to speak would the voices of the forest, and of the river, begin to fade. […] For there is no longer any common medium, no reciprocity, no respiration between the inside and the outside“ (Abram 1997:254–257, Hervorhebungen im Original). Als Dramentext, der gattungsbedingt in einem engen Bezug zur leiblich-performativen Kunst des Theaters steht, zeigt demgegenüber Bilodeaus Stück nachdrücklich, dass Erzählen im Medium der Schrift keinen Widerspruch zu lebendiger, erfahrungshafter Leiblichkeit darstellt. Das Erzählen selbst, das viele unterschiedliche Formen annehmen kann, wird in Sila zu einem gemeinsamen, dialogischen Medium.

Dialogische Narration und mehr-als-menschliche Kommunikation im Drama

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Das Ergrünen der Revolution. Der Wandel des Naturbildes in Fidel Castros kubanischem Sozialismus

Einleitung Kuba wurde kurz nach der Jahrtausendwende in einer Studie des World Wide Fund for Nature (WWF 2006) zum nachhaltigsten Land der Erde ausgerufen. Als einzigem Staat sei es Kuba gelungen, ein hohes Wohlfahrtsniveau in Bereichen wie Bildung und Gesundheit bei gleichzeitig vergleichsweise niedrigem Ressourcenverbrauch zu realisieren. Auch wenn hierbei in etwas fragwürdiger Weise Errungenschaften einer vorangegangenen, durchaus ressourcenintensiven Epoche sozialistischer Modernisierung (1959–1989) mit dem reduzierten Ressourcenverbrauch im Kontext einer existenziellen Wirtschafts- und Versorgungskrise (ab Anfang der 1990er Jahre) verrechnet werden, verweist dieses Prädikat auf einen tiefgreifenden Umbruchprozess im kubanischen Entwicklungs- und Naturverständnis. Der langjährige kubanische Staatspräsident Fidel Castro rief – mitten in der tiefsten und bedrohlichsten Wirtschafts- und Versorgungskrise Kubas seit dem Sieg der Revolution 1959 – in einer richtungsweisenden Rede auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 ‚Nachhaltige Entwicklung‘ als neues Leitbild für Kuba aus (Bell 2011:244). Damit erteilte er zugleich dem bisherigen Leitbild der nachholenden Modernisierung nach sowjetischem Vorbild, das nach 1959 zunehmend die sozioökonomischen Entwicklungen Kubas bestimmte, eine klare Absage. Gleichzeitig war mit diesem Paradigmenwechsel ein tiefgreifender Wandel der offiziellen staatlichen Sichtweise auf Natur und Umwelt verbunden. Der vorliegende Beitrag untersucht im Kontext dieses Paradigmenwechsels den Wandel des staatlich artikulierten Naturbildes Kubas auf Basis von Reden und Zeugnissen Fidel Castros und analysiert ihn hinsichtlich seiner Einbettung in politische Strategien während einer existenziellen Krise. Im Forschungsfokus stehen die Fragen, welche Sichtweise auf Natur und Umwelt sich nach dem Sieg der Revolution in der kubanischen Führung etablieren konnte, wie sich dieses offizielle Naturbild Kubas im Kontext der Krisen und Transformationen in den 1990er Jahren gewandelt hat und wie dieser Wandel eingebettet ist in überge-

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ordnete Veränderungen der Leitbilder sozioökonomischer Entwicklung, sowie die Frage, welchen strategischen Absichten und politischen Funktionen dieser Paradigmenwechsel gedient hat.

Methoden und Quellen Der vorliegende Beitrag beruht auf der Analyse von 55 ausgewählten öffentlichen Reden, Interviews und Positionspapieren von Fidel Castro aus den Jahren 1959 bis 1996, in denen er sich zu natur- und umweltbezogenen Themen äußert. Die Texte wurden verschiedenen Datenbanken1 entnommen, die ein umfassendes Archiv aller öffentlicher Reden und vieler Interviews Fidel Castros enthalten. Die Texte wurden, entsprechend der Sprache der vorgehaltenen Dokumente in der jeweiligen Datenbank, entweder im spanischsprachigen Original oder in englischer Übersetzung verwendet. Die Wahl des Zeitraums 1959 bis 1996 begründet sich darin, dass sich ab 1959, dem Jahr der siegreichen Kubanischen Revolution, ein an der sozialistischen Modernisierung orientiertes Naturbild in Kuba etablieren konnte, während der Zeitraum von 1990 bis 1996 den krisenbedingten radikalen Bruch und Paradigmenwechsel hin zum Leitbild der nachhaltigen Entwicklung abbildet. Die Analyse beschränkt sich auf öffentliche Äußerungen des langjährigen kubanischen Präsidenten Fidel Castro, der von 1959 bis zu seinem krankheitsbedingten Rückzug im Jahr 2006 die zentrale Führungsfigur Kubas darstellte. Castro prägte maßgeblich die Diskurse und die praktische Politik seines Landes und übte großen Einfluss auf die Ideologie und Leitbilder Kubas in dieser Zeit aus. Daher ist das kubanische Naturbild, mit dem in diesem Beitrag die offizielle staatliche Perspektive auf Natur und Umwelt gemeint ist, maßgeblich von Fidel Castro geprägt und findet in seinen Reden und Interviews Ausdruck. Ob und inwieweit dieses offizielle staatliche Naturbild auch in der kubanischen Bevölkerung geteilt wurde und wird, müsste Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Die Reden, die Eingang in den Korpus der vorliegenden Untersuchung gefunden haben, wurden auf Basis einer Stichwortsuche in den genannten Datenbanken ermittelt und durch auf Relevanz prüfendes Lesen weiter eingegrenzt, so dass 55 zentrale Dokumente für den Zeitraum 1959–1996 identifiziert werden konnten. Diese Dokumente wurden mit Hilfe der qualitativen Datenanalysesoftware MaxQDA und kodierenden Verfahren ausgewertet. Ergänzend wurden die Ergebnisse der Analyse durch wissenschaftliche Sekun-

1 LANIC – Latin American Network Information Center: Castro Speech Data Base (1959–1996); Regierung der Republik Kuba: Discursos e intervenciones del Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz, Presidente del Consejo de Estado de la República de Cuba (1959–2008).

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därquellen und Ergebnisse von Untersuchungen des Autors zur kubanischen Umweltpolitik (Benz 2017; Völkening, Benz 2020) abgestützt.

Das Naturbild im sozialistischen Kuba bis Ende der 1980er Jahre Die Kubanische Revolution, die am 1. 1. 1959 mit ihrem Sieg das Ende der Diktatur Batista herbeiführte, orientierte sich bereits nach kurzer Zeit stark am sozialistisch-kommunistischen Staats- und Wirtschaftsmodell nach sowjetischem Vorbild, wenngleich in der konkreten Ausgestaltung stets mit einer eigenen kubanischen Note versehen (Zeuske 2016:193–206). Neben den Zielen der Realisierung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, der Beendigung von Rassismus und Diskriminierung und der Schaffung eines an sozialistischen Idealen ausgerichteten ‚neuen Menschen‘ stand für die Regierung Castro die soziale und ökonomische Entwicklung im Mittelpunkt, die nach sowjetischem Vorbild am Leitbild der nachholenden Modernisierung unter sozialistischen Vorzeichen orientiert war. Im sozialen Sektor wurde der Auf- und Ausbau eines kostenfreien und egalitären Bildungs- und Gesundheitssystems erfolgreich vorangetrieben (Hirschfeld 2009; Morris 2014). Im ökonomischen Sektor setzte die Regierung Castro auf intensive Agro-Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild, die neben ersten (und weitgehend gescheiterten) Versuchen des Aufbaus einer (Schwer-)Industrie die Industrialisierung der Landwirtschaft und den Ausbau umfangreicher Bewässerungsinfrastrukturen umfasste (Torres 2016). Ende der 1960er Jahre bildete die Landwirtschaft den bedeutendsten Sektor der kubanischen Wirtschaft, und Zucker wurde mit über 90 % Anteil an den kubanischen Exporten zum wichtigsten Ausfuhrprodukt der Insel (Suárez et al. 2012: 2726; Hoffmann 2009:95). Kuba war zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch Fidel Castro und seine Anhänger geprägt durch großflächige landwirtschaftliche Intensivkulturen, allen voran ausgedehnte Zuckerrohr-Monokulturen neben weitläufigen extensiven Weidelandflächen. Die ehemals fast vollständige Bewaldung der Insel war bereits unter spanischer Kolonialherrschaft weitestgehend verschwunden. Der kubanische Aufbruch zur nachholenden Modernisierung war eingebettet in den Kontext des allgemeinen internationalen Entwicklungsoptimismus der 1950er und 1960er Jahre, der sich nach Ende des 2. Weltkriegs und im Zeichen der Dekolonisationsprozesse Bahn brach. Dieser Optimismus war eng verknüpft mit der Vorstellung nachholender Entwicklung und dem Leitbild der Modernisierung, gekennzeichnet durch einen ungebrochenen Glauben in Technologie und die Möglichkeiten der Ingenieurswissenschaften. Mit dem richtigen Wissen und der richtigen Technologie, so die verbreitete Vorstellung, ließe sich (fast) jedes Problem in den Griff bekommen und insbesondere eine Beherrschung und

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Kontrolle der Natur und Umwelt weitgehend realisieren. Prägende Schlagwörter dieser Zeit waren Wirtschaftswachstum, Technisierung, rationale Planung, Intensivierung, Effizienzsteigerung, Expansion, Wachstum und Wohlfahrtssteigerung (Kößler 1998:91–104). Die in Kuba nach 1959 vorherrschende offizielle Sichtweise von Natur war maßgeblich durch diesen Kontext und die oben genannten Orientierungen bestimmt. Aus den Reden und Interviews Fidel Castros geht zunächst deutlich das Bild einer launenhaften Natur hervor, die stark geprägt ist von den Wechselfällen des randtropischen Klimas. Dieses ist gekennzeichnet durch die Unsicherheit und hohe Variabilität der Niederschläge, die einerseits immer wieder zu längeren Dürreperioden führen, andrerseits aber auch häufig Starkniederschläge und Überschwemmungen auftreten lassen. Gefahr ist ein omnipräsenter Aspekt im offiziellen Natur-Diskurs auf Kuba. Insbesondere die Naturgewalt der saisonal auftretenden Hurrikane mit ihrem großen Zerstörungspotential ist ein wiederkehrendes Thema in den Äußerungen Castros, vor allem in den ersten Jahren nach dem Sieg der Revolution, die durch eine Serie von verheerenden Hurrikanen gekennzeichnet waren, so Hurrikan Donna 1960, Flora 1963, Hilda 1964 und Inez 1966. Allein der Hurrikan Flora forderte auf Kuba 1200 Todesopfer (Mas Bermejo 2006:15). Unter diesen Gesichtspunkten erscheint Natur in den Äußerungen Castros zunächst vor allem als Bedrohung, als Gefahr und als Quelle von Zerstörungen. Andererseits ist es die Natur, die der Insel ihr großes landwirtschaftliches Potential beschert, das Kuba unter anderem zu den besten Tabakanbauregionen der Welt zählen lasst und ideale Bedingungen für großflächigen Zuckerrohranbau bietet. Betrachtet man die Aspekte von Bedrohung und Prosperität zusammen, so zeichnet sich das Bild einer launischen Natur ab, die Fluch und Segen verteilt, wann und wo sie will. Sie erscheint als unberechenbare Natur, der der Mensch ausgeliefert ist. Castro nutzt dieses Bild als Kontrastfolie zur von ihm propagierten neuen Sichtweise auf die Mensch-Umwelt-Beziehung, die sich aus dem Leitbild der sozialistischen Modernisierung ableitet. Der ‚neue Mensch‘ des Sozialismus solle nicht nur von Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung befreit werden, sondern auch von den Launen und Gefahren der Natur. Diese Forderung wird von der kubanischen Führung insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren vehement vertreten. Aus dieser Perspektive erscheint es nicht länger hinnehmbar, dass Gesellschaft und Ökonomie den Launen der Natur hilflos ausgesetzt sind. Es gelte, die Kontrolle über die Situation zu erlangen. Die Natur soll kontrollier- und planbar werden, ihre Unberechenbarkeit soll gezähmt und in Zuverlässigkeit umgewandelt werden. Überall dort, wo die Natur Bedrohung und Gefahr darstellt, wird sie zum Gegner erklärt, der bekämpft werden müsse. Der Imperativ zur Naturbeherrschung leitet sich oft direkt aus der Bedrohung durch

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die jeweiligen Naturgefahren ab. Dort, wo Dürren und Überschwemmungen auftreten, müssten die Flüsse durch Technologie und Infrastruktur (Staudämme, Speicherbecken, Eindeichungen, Bewässerungskanäle) beherrscht und kontrolliert werden, um die Gefahren zu bannen. Auffallend ist das häufig martialische Vokabular, das Castro im ‚Kampf‘ gegen die Natur ins Feld führt. So spricht er beispielsweise in Bezug auf durch Hurrikane verursachte Überschwemmungen von einem ‚(An-)Schlag des Wassers‘2 („golpe de agua“) gegen die Gesellschaft (Castro 1964, 1967), von einem „hard struggle against nature“ (Castro 1965) „to make nature obey man’s will“ (Castro 1966a) und von der Notwendigkeit eines ‚Feldzugs des Volkes‘ gegen die Naturgefahren („la batalla de nuestro pueblo“) (Castro 1966b). Die Beziehung zwischen Gesellschaft und Umwelt wird von Castro als Antagonismus beschrieben, der in einem Kampf ausgetragen wird, in dem nur eine Seite gewinnen kann: „Unless we master nature, nature will master us“ (Castro 1970). Das Ziel ist die vollständige Beherrschung und Unterwerfung der Natur unter den menschlichen Willen, sei dies in Bezug auf Dürren, die es zu ‚beherrschen‘ gelte („hay que dominar la falta de agua“) (Castro 1968), in Bezug auf die Gefahr von Überschwemmungen, von denen sich die Menschen ‚befreien‘ müssen („nos liberaremos de las sequías y también de las inundaciones“) (Castro 1967), oder sei es ganz allgemein das Ziel, ‚Hürden‘ und ‚Hindernisse‘, die die Natur stellt, zu ‚bezwingen‘ („vencer los obstáculos de la naturaleza“) (Castro 1990a). „We will struggle against the difficulties created by nature because, in the end, thus has been the story of mankind; to struggle to overcome the laws of nature, to struggle to dominate nature and to have it serve mankind. This is also part of the struggle of our people.“ (Castro 1966b, zit. in: Díaz-Briquets, Pérez-López 2000:13)

Selbst die Naturgesetze sollen ‚überwunden‘ werden. Dies deute auf eine angestrebte Umkehr der Abhängigkeiten hin: Nicht mehr der Mensch soll sich den Gesetzen der Natur beugen müssen, sondern die Natur soll den Gesetzten und dem Willen des ‚neuen Menschen‘ unterworfen werden. Castro prägte beispielsweise in den 1960er Jahren den Begriff des ‚hydraulischen Willens‘ (voluntad hidráulica), mit dem er die natürlichen Gesetzmäßigkeiten von unzuverlässigen Niederschlägen, episodischen Dürren und wiederkehrenden Überschwemmungen überwinden will: „[…] la sequía fue el factor que nos hizo pensar en la necesidad de crear una voluntad hidráulica, porque los efectos de aquella sequía se sintieron. Y así fue como se ideó la creación de esa voluntad hidráulica, cuya existencia era necesaria.“ (Castro 1964)3 2 Textfragmente in einfachen Anführungszeichen stellen wörtliche Zitate Fidel Castros dar, die vom Autor des vorliegenden Beitrags ins Deutsche übertragen wurden. 3 Übersetzung: ‚Die Dürre war der Faktor, der uns dazu veranlasste, über die Notwendigkeit der Schaffung eines hydraulischen Willens nachzudenken, da wir die Auswirkungen der Dürre

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Durch Staudämme, Rückhaltebecken, Wasserreservoirs, Bewässerungskanäle, Schleusen und Wasserverteilungssysteme soll die Natur dem menschlichen ‚hydraulischen Willen‘ unterworfen und verfügbar, planbar und berechenbar gemacht werden: „Now our problem is to get ahead of the situation, to control all these matters once and for all, to control all these floods once and for all, to master nature“ (Castro 1970). Nach dem Sieg der Revolution wurde ein umfangreiches Programm zum Ausbau der landwirtschaftlichen Bewässerung aufgelegt, das vom sowjetischen Vorbild der Agrarexpansion in Zentralasien inspiriert war. Die landwirtschaftlichen Bewässerungssysteme wurden massiv ausgebaut. Über 200 Staudämme, 800 Kleinstaudämme und zahlreiche Kanäle wurden neu angelegt, Grundwasservorkommen für Bewässerungszwecke angezapft und der Anteil der bewässerten Agrarfläche von 4 % im Jahr 1959 auf 70 % bis Ende der 1980er Jahre erhöht (Ammerl et al. 2006:129; Díaz-Briquets, Pérez-López 2000:11–13). Die Maßnahmen zur Zähmung und Beherrschung der Natur dienten der Absicht, die Natur in den Dienst der menschlichen Entwicklung zu stellen. Diese instrumentelle Sicht auf die Natur war direkt anschlussfähig an das marxistischleninistische Naturbild und seine materialistische Perspektive. Natur wird hier vor allem als physisch-materielle Ressource betrachtet, die bestmöglich beherrscht und für wirtschaftliche Produktion genutzt werden soll. Dies wurde besonders deutlich in den Zielen und Maßnahmen der kubanischen Landwirtschaftspolitik. Ab den 1960er Jahren wurde eine industrielle Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild etabliert, die sich am sozialistischen Agrarentwicklungsmodell orientierte. Diese Art der Landwirtschaft basiert auf großflächiger monokultureller Landbewirtschaftung unter massivem Einsatz von moderner Agrartechnologie, die den Einsatz von Kunstdüngern und Pestiziden, die Verwendung von Hochertragssorten, die Mechanisierung und den Einsatz schwerer Agrarmaschinen umfasst (Ammerl et al. 2006; Stricker 2010; Maal-Bared 2006). Dies wurde als notwendig erachtet, um bei begrenzt zur Verfügung stehender Agrarfläche die Erträge zu steigern: „La tierra no aumenta; hay que aumentar la productividad por cada metro cuadrado de tierra, con agua, con fertilizantes, con nuevas variedades de semillas y otros medios“ (Castro 1977)4. Weitere Charakteristika dieses Agrarmodells sind zentralistisch organisierte Staatsfarmen mit festen Planvorgaben und Produktionszielen. Sowjetische und osteuropäische Agrarberater halfen Kuba bei der Implementierung dieses Modells. Subventionierte Importe aus dem Wirtschaftsraum des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) sowie die dortige subventionierte Abnahme verspüren mussten. Und so kam es, dass die Schaffung dieses hydraulischen Willens erdacht wurde, dessen Existenz erforderlich (geworden) war.‘ 4 Übersetzung: ‚Die Landfläche nimmt nicht zu; die Produktivität muss pro Quadratmeter Land erhöht werden, mit Hilfe von Wasser, mit Düngemitteln, mit neuen Sorten von Saatgut und anderen Mitteln.‘

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des kubanischen Zuckers stabilisierten dieses Agrarmodell. Die zentralen Ziele bei der Einführung dieses Agrarmodells auf Kuba waren die Intensivierung des Anbaus, die Expansion der Agrarfläche und die Steigerung der Gesamtproduktion. Beispielsweise stand das gesamte Jahr 1970 unter dem Leitziel der ‚Großen Ernte‘, der Gran Zafra, bei der erstmals über 10 Mio. Tonnen Zuckerrohr geerntet werden sollten, was nahezu eine Verdoppelung gegenüber der durchschnittlichen Ernte von 5,4 Mio. Tonnen der Jahre 1962–79 bedeutete (Feuer 1987:71). Dafür wurden Arbeitskräfte und Ressourcen aus anderen Wirtschaftssektoren abgezogen und auf die Landwirtschaft konzentriert. Erzielt wurde am Ende dennoch nur eine Ernte von ca. 8,5 Mio. Tonnen (Pollitt, Hagelberg 1994:553). Es stellt sich hierbei die Frage, mit welchen Mitteln die kubanische Führung die oben ausgeführten Ziele der Naturbeherrschung und die ‚Überwindung‘ der Gesetze der Natur erreichen wollte und wie die Emanzipation des Menschen von der Willkür der Natur ins Werk gesetzt werden sollte. Die Antwort der kubanischen Führung lautete – in völliger Übereinstimmung mit dem Paradigma der nachholenden Modernisierung: durch moderne Technologie und Wissenschaft. Denn diese stelle das nötige Wissen bereit, um die Natur nach den Vorstellungen des Menschen zu nutzen, umzugestalten und zu beherrschen. Entsprechend erfolgte in Kuba seit den 1960er Jahren eine starke Förderung von Forschung und Lehre in Natur- und anwendungsbezogenen Wissenschaften wie den Agrarwissenschaften, Ingenieurswissenschaften, der Biotechnologie, Agro-Chemie und weiteren. „If we know all these things, these laws of nature, and we learn them and we learn how to control them, and in each place we do what should be done, we plant what should be planted, produce what should be produced, and work with plans, work with order – then we will control nature. Then we will lack nothing but have a surplus of everything; and when there are surpluses of everything, we approach communism.“ (Castro 1965)

Die Anwendung und Umsetzung dieses Wissens erfolgte durch eine moderne Bürokratie und die Anwendung rationaler Planungsgrundsätze im System der zentralen staatlichen Planwirtschaft. Noch bis in die späten 1970er Jahre glaubte Castro fest an das Potential von Technologie, Wissenschaft und Produktionssteigerung, um die drängendsten Menschheitsprobleme wie Hunger, Armut, Analphabetismus oder Gesundheitsvorsorge zu lösen. Umweltfolgen wurden dabei nicht berücksichtigt und nicht thematisiert. Stattdessen herrschte eine gewisse technologisch-wissenschaftliche Machbarkeits-Hybris vor, die auf einem festen Glauben an die nahezu unbegrenzten menschlichen Fähigkeiten zur Naturbeherrschung dank Wissenschaft und Technik beruhte. Das Unmögliche sollte möglich und selbst ‚unvorhersehbare Faktoren‘ sollten beherrschbar werden: „We have to get used to taking into consideration not only foreseeable factors, but also unforeseeable factors“

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(Castro 1966c). Durch Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien sollten die Ziele der Rationalisierung und Optimierung der Naturnutzung sowie stetiger Effizienzsteigerung verfolgt werden. Die Natur sollte in größtmöglichem Maße für die Entwicklung in den Dienst gestellt werden, d. h. das Ziel war die flächendeckende und vollständige Nutzung der Natur, wie es in folgendem Zitat am Beispiel des Wassermanagements zum Ausdruck kommt: „[tenemos que] … construir obras hidráulicas hasta el día en que aquí no se escape al mar una gota; el mar no podrá contar con agua dulce que caiga aquí en tierra del país ( … ) tenemos que llegar al día en que no perdamos una gota.“ (Castro 1963)5

Die politische Führung Kubas verfolgte in dieser Phase das Ziel der vollständigen Inwertsetzung der Natur für die gesellschaftliche Entwicklung: jeder Quadratmeter Land, jeder Tropfen Wasser, etc. sollte vollständig für die Produktion genutzt werden, wie auch in folgenden Zitaten deutlich wird: „Política del país: que no vaya al mar una gota de agua.“ (Castro 1977)6 „This is what we should do with all this land – not leave a single inch of our land without making it produce something.“ (Castro 1965)

Fasst man die dargelegten Aspekte des Naturbildes der kubanischen Führung der 1960er bis 1980er Jahre zusammen, so lässt sich dieses wie folgt charakterisieren: Es herrschte ein instrumentelles, materialistisches Naturbild vor. Der Mensch solle sich von den Zwängen der Natur befreien und diese seinem Willen unterwerfen, sie kontrollieren und beherrschen, und sie nach seinen Bedürfnissen umgestalten. Dabei bestand eine dreifache Motivation zur Natur-Beherrschung: Erstens zur Abwehr von Naturgefahren, zweitens zur Überwindung der Abhängigkeit von den Launen der Natur und zur Schaffung von Sicherheit, Kontrolle und Berechenbarkeit, und drittens zur Gewinnung von Ressourcen als Grundlage für die sozioökonomische Entwicklung. Auf der ideologischen Ebene rechtfertigt das marxistisch-leninistische instrumentelle Naturbild die Ausbeutung und intensive Naturnutzung ohne Rücksicht auf Umweltfolgen. Die durchaus gravierenden Umweltfolgen dieser Politik (Díaz-Briquets, Pérez-López 2000; Maal-Bared 2006) wurden bis Anfang der 1980er Jahre in Kuba ignoriert und im öffentlichen Diskurs verschwiegen und unterdrückt. Offiziell existierten in Kuba keinerlei Umweltprobleme: „… si los países industriales tienen hoy el problema de la contaminación del aire y del agua, nuestros países no tienen

5 Übersetzung: ‚Wir müssen die Bewässerungsanlagen ausweiten bis zu dem Tag, an dem kein einziger Tropfen Wasser mehr ins Meer gelangt. Das Meer soll keinen einzigen Tropfen Wasser mehr abbekommen, der auf die Erde unseres Landes fällt. Wir müssen dahin kommen, dass wir keinen einzigen Tropfen Wasser mehr verlieren.‘ 6 Übersetzung: ‚Die Politik unseres Landes: Keinen Tropfen Wasser ins Meer gelangen lassen.‘

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problema de contaminación alguna.“ (Castro 1971) 7. Ab Anfang der 1980er Jahre thematisierte Castro zunehmend Aspekte der Umweltzerstörung, aber nie mit Bezug auf das eigene Land, sondern stets entweder auf einem globalen Skalenniveau (z. B. Klimawandel) oder mit Bezug auf andere Regionen und Länder. Schuld für die Umweltverschmutzung waren aus Castros Sicht ausschließlich der Kapitalismus und die kapitalistischen Gesellschaften: „Among the greatest harm that capitalism has inflicted on humanity… is the deterioration of nature, the destruction of the environment, the mismanagement of forests and soils, the contamination of seas“ (Castro 1991, zit. in: Díaz-Briquets, Pérez-López 2000:6– 7).

Wandel des Naturbildes in der Krise der 1990er Jahre Mithilfe der Strategie der nachholenden Modernisierung konnte die kubanische Führung bis Ende der 1980er Jahre einige der selbstgesteckten Ziele tatsächlich erreichen, beispielsweise im Bildungs- und Gesundheitssektor, in der Landwirtschaft, und beim Aufbau wissenschaftlich-technologischer Komplexe in den Agrarwissenschaften, der Biotechnologie und der Pharmazeutik. Das kubanische Modernisierungsmodell war jedoch hochgradig von externen Subventionen aus der Sowjetunion und andern RGW-Staaten abhängig. Der kubanische Zucker, mit Abstand wichtigstes Exportprodukt, wurde vom RGW zu Vorzugspreisen weit über dem Weltmarktpreis abgenommen. Im Gegenzug profitierte Kuba von stark subventionierten Lieferungen von Kraftstoffen, Lebensmitteln, Maschinen, Ersatzteilen, Saatgut, Agrochemikalien u.v.m. Ende der 1980er Jahre wickelte Kuba 85 % seines Außenhandels mit den RGW-Staaten ab (Zeuske 2016:206). Als die RGW-Staaten Ende der 1980er Jahre in die politische und ökonomische Krise schlitterten, sich die Sowjetunion 1991 auflöste und der RGW zerfiel, war Kuba plötzlich von den lebenswichtigen Importen und Deviseneinnahmen abgeschnitten, was das Land in eine existentielle Wirtschaftskrise stürzte. Die Importe gingen zwischen 1989 und 1993 um 70 % zurück (Maal-Bared 2006:350), 80 % des gesamten Außenhandelsvolumens brachen weg, und das kubanische BIP sank um 35 % innerhalb von nur vier Jahren (Suárez et al. 2012:2727). Diese Entwicklungen führten zu einer schweren Versorgungskrise in Kuba mit gravierenden Engpässen bei Lebensmitteln, Medikamenten, Kraftstoffen, Düngemitteln und Ersatzteilen. In der Folge brach das Transportsystem weitgehend zusammen, die Stromversorgung – zu 98 % auf Ölkraftwerken basierend (Suárez et al. 2012:2728) – war nicht mehr sichergestellt und die Produktion in Land7 Übersetzung: ‚Während die Industrieländer heute das Problem der Luft- und Wasserverschmutzung haben, haben unsere Länder keinerlei Problem mit der Verschmutzung.‘

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wirtschaft und Industrie kam vorübergehend fast zum Erliegen. Bis Anfang der 2000er Jahre wurde rund die Hälfte der ehemals 156 Zuckermühlen geschlossen (Ratter, Dröge 2005:60). Der kubanischen Führung war klar, dass das bisherige kubanische Entwicklungsmodell unter den veränderten Rahmenbedingungen nicht weitergeführt werden konnte und eine grundlegende Neuausrichtung notwendig wurde. Im Jahr 1992, mitten in der tiefsten Krise Kubas, eröffnete Castro seine Rede auf der UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro mit einem Paukenschlag. Nach dem jahrzehntelangen Ignorieren der Umweltfolgen forcierter nachholender Modernisierung und Entwicklung mit intensiver Naturnutzung und -beherrschung, nach Jahrzehnten gefestigter Überzeugung, dass der Mensch der Natur die Gesetze diktiert und sie vollständig kontrolliert, erfolgte die Kehrwende. Castro revidierte sein bis dato unverrückbares Credo, das von einem ungebrochenen Glauben an Modernisierung, Industrialisierung, Wachstum und nachholende Entwicklung geprägt war. Nun postulierte er, ein WeiterSo auf diesem Weg führe nicht zum Heil, sondern zum Verderben und zur Vernichtung der Menschheit: „An important biological species is in danger of disappearing due to the fast and progressive destruction of its natural living conditions: mankind. We have now become aware of this problem when it is almost too late to stop it.“ (Castro 1992a)

Auf dem Pfad der Modernisierung zerstöre der Mensch seine eigenen Lebensgrundlagen. Die Zerstörung der Natur sei zu einer existenziellen Bedrohung für die Menschheit insgesamt und insbesondere für die Menschen in der sogenannten ‚Dritten Welt‘ geworden. „Never in the history of mankind has such a generalized and destructive aggression taken place against all of the world’s vital systems.“ (Castro 1992a)

Was bisher der propagierte und als notwendig aufgefasste ‚Kampf zur Beherrschung der Natur‘ (Castro 1966b) gewesen war, wurde nun zur ‚destruktiven Aggression‘ (Castro 1992b) gegen die Lebensgrundlagen der Erde erklärt. Stattdessen rief Castro zu einem neuen Kampf auf: zum ‚Kampf gegen die Umweltzerstörung‘ (Castro 1994) und zur ‚Schlacht für den Schutz der Erde‘, die mit ausgeklügelter ‚Kriegsstrategie‘ zu führen seien (Castro 1992b) mit dem Ziel der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Dies bedeutete eine fundamentale Neuausrichtung im offiziellen staatlichen Entwicklungsleitbild, wenngleich sie mit ähnlich martialischem Vokabular formuliert wurde. Im selben Atemzug verabschiedete sich Castro vom Leitbild der Modernisierung, der nachholenden Entwicklung und der damit eng verknüpften Wachstumsideologie: „We do not need any more transferring to the Third World of lifestyles and consumption habits that ruin the environment. Let human life become more rational.“ (Castro 1992b)

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Der Lebens- und Konsumstil in den Industrieländern, die bislang das angestrebte Ideal für Kuba darstellt hatten, wurden nun abgelehnt und galten nicht länger als Vorbild. Castro erteilte nicht mehr nur den kapitalistischen Systemen eine Absage, sondern allen Industriegesellschaften der sogenannten ‚Entwickelten Welt‘ zugleich. „We must replace the consumer-oriented and wasteful culture of the industrialized world and high income sectors in developed countries. This culture must be exchanged for a way of life that, without sacrificing current material standards, will tend to a more rational use of resources and a significant reduction of aggression against the environment that today is nearly everywhere, because of that culture.“ (Castro 1992b)

Die von Castro genannten Industriegesellschaften schlossen die ehemaligen Ostblockstaaten ausdrücklich mit ein. Castro distanzierte sich vom früheren kubanischen Mentor und Vorbild UdSSR und der sowjetischen entwicklungspolitischen Ideologie. Damit distanzierte er sich zugleich von dem Entwicklungsmodell, das er selbst über 30 Jahre lang favorisiert hatte. Er stellte die bisherige Entwicklungsideologie nun als extern und von außen unfreiwillig aufgezwungen dar. Diese Distanzierung und Veräußerung ermöglichte es Castro nun auch zum ersten Mal, Umweltprobleme im eigenen Land zu benennen, da mit der Ideologie zugleich die Verantwortung für die negativen Folgen und Begleiterscheinungen veräußert und anderen angelastet werden konnte. Im Begleitdokument zum Rio-Gipfel wird diese Externalisierung von Verantwortung, hier im Hinblick auf die ‚entwickelten kapitalistischen Staaten‘, deutlich: „[…] the ultimate responsibility for the accumulated deterioration of the environment in the Third World as a whole falls on the developed capitalist world, particularly those countries which, through colonialist and neocolonialist exploitations, have been historically to blame for the backwardness and distorted economies of the African, Asian, and Latin American countries.“ (Castro 1992b)

Castro ruft in seiner Rede in Rio 1992 ‚Nachhaltige Entwicklung‘ als neues Leitbild für Kuba aus, das das bisherige Leitbild der nachholenden Modernisierung ersetzen solle. Belange des Umweltschutzes und nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen erhielten höchste politische Priorität. In den 1990er Jahren betrieb die kubanische Führung erfolgreich den Aufbau umfangreicher umweltpolitischer Institutionen und einer elaborierten Umweltschutzgesetzgebung, die international als beispielhaft gilt (Benz 2017; Cabello et al. 2012; Stricker 2010).

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Politischer Mehrwehrt der kubanischen Nachhaltigkeitswende Auf den ersten Blick erscheint es verwunderlich, dass gerade in der tiefsten Krise das oben beschriebene ‚Ergrünen der Revolution‘ und die Hinwendung zur Nachhaltigen Entwicklung als neues offizielles Leitbild stattgefunden haben. In Zeiten ökonomischer Krisen treten in der Regel umweltpolitische Erwägungen und Anliegen stark in den Hintergrund. Im Falle Kubas ist offenbar jedoch das genaue Gegenteil geschehen. Wie ist dieser Sonderfall, dieses kubanische Paradoxon zu erklären? Ein genauerer Blick zeigt, dass die ausgerufene Nachhaltigkeitswende durchaus nicht im Widerspruch zur Herausforderung der Krisenbewältigung steht, sondern im Gegenteil perfekt zur kubanischen Krisenbewältigungspolitik passt und wichtige Funktionen für den Erhalt des bisherigen kubanischen politischen und ökonomischen Systems erfüllt.

Funktion 1: Demonstration von Handlungsfähigkeit Das neue Leitkonzept der Nachhaltigen Entwicklung ermöglichte es der kubanischen Führung, unvermeidliche Folgen der Krise positiv umzudeuten. Dies erfolgte beispielsweise im Agrarsektor, indem der erzwungene Mangel an Düngemitteln, Pestiziden und Treibstoffen für Landmaschinen als bewusster und freiwilliger Verzicht im Sinne der Umstellung auf ökologischen Landbau umgedeutet wurde. Analog wurde der krisenbedingte Mangel an wichtigen Medikamenten als eine absichtsvolle Hinwendung zur Naturmedizin interpretiert. „Examples of this nature [implementing sustainable development in Cuba], involving collective solutions that are valuable from the ecological viewpoint, are the increased use of natural medicine extracted from plants and leaves, the creation of small vegetable gardens – even in residential areas – taking advantage of gardens and terraces, the increasing use of animal power in agriculture, the development of earthworm breeding, and many others.“ (Castro 1992b)

Das bisherige Agrarmodell Kubas, so Castros Kernbotschaft in vielen seiner Reden Anfang der 1990er Jahre, habe sich als nicht nachhaltig und schädlich für Natur und Mensch erwiesen, weswegen die Umstellung auf kleinflächige, dezentral organisierte organische Landwirtschaft dringend erforderlich sei. Der krisenbedingt unvermeidbare Mangel wird umgedeutet in eine gewollte und moralisch überlegene Abstinenz. Aus der Not des Mangels wird eine Tugend des Verzichts. Die Tatsache, dass der Mangel krisenbedingt erzwungen und unvermeidbar war und nur ex-post in freiwilligen Verzicht umgedeutet wurde, wird dabei ausgeblendet. Auf diese Weise gelingt die Überwindung einer passiven Opferrolle in der Krise und die Betonung der eigenen Handlungsfähigkeit.

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Funktion 2: Legitimation der notwendigen unpopulären Einschnitte und Krisenmaßnahmen Die Orientierung am Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung erlaubte es der kubanischen Führung, der Bevölkerung nachvollziehbare Erklärungen für unpopuläre Maßnahmen anzubieten. So ließen sich viele Krisenmaßnahmen, die Einschnitte und Einschränkungen für die Bevölkerung bedeuteten, als Aktionen avantgardistischen Idealismus verkaufen, als freiwilligen Verzicht aus moralischer Überlegenheit. Auf diese Weise wurden plausible Erklärungen geliefert, Unruhen vorgebeugt und der Fortbestand des Systems stabilisiert.

Funktion 3: Befreiung von der eigenen Verantwortung Die Distanzierung vom sowjetischen Entwicklungsmodell und das Narrativ von dessen unfreiwilliger Aufgezwungenheit ermöglichte es der kubanischen Führung, die Verantwortung für die seit 1959 entstandenen Umweltschäden in Kuba anderen anzulasten und sich selbst zu entlasten. Die kubanische Führung sei in Wirklichkeit schon seit dem Sieg der Revolution dem Umweltschutz verpflichtet gewesen. „The concern over protection and conservation of natural resources, regarded as a patrimony of all the people, was born in Cuba since the 1959 revolution’s triumph.“ (Castro 1992b)

Im Nachhinein wird so von Castro das ‚Ergrünen der Revolution‘ auf das Jahr 1959 zurückdatiert und faktisch 30 Jahre realer kubanischer Politik und Wirtschaft, die gravierende Umweltzerstörungen zur Folge hatten, ignoriert.

Funktion 4: Selbststilisierung als neue Avantgarde Mit der Hinwendung zum Leitbild der nachhaltigen Entwicklung präsentierte sich Kuba als Vorreiter eines neuen Nachhaltigkeitsdenkens, das anderen Ländern, die noch im modernen Wachstumsdenken verhaftet sind, weit voraus sei. Anstatt sich in die von vielen politischen Beobachtern zugeschriebene Rolle eines weiteren gescheiterten sozialistischen Staats im Zuge des Zusammenbruchs des Ostblocks und des vermeintlichen globalen Siegeszugs des westlichen Kapitalismus zu fügen, stilisiert die kubanische Führung das Land als Speerspitze einer neuen Avantgarde. Mit dieser Rolle war zugleich eine Position der moralischen Überlegenheit verbunden, von der aus Kritik an westlichen kapitalistischen Staaten und Konsumgesellschaften formuliert werden konnte, die an der

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Wachstumsideologie festhielten, Aspekte der Ökologie und Nachhaltigkeit weiterhin ignorierten und so maßgeblich für die globale Umweltzerstörung verantwortlich seien. Castro präsentierte Kuba als Gegenmodell und Vorreiter bei Nachhaltigkeit und Umweltschutz, von dessen Beispiel die Welt lernen könne. „Cuba, a small Third World country that struggles to develop under singularly adverse circumstances, can, notwithstanding, in its modest way, offer the world in general, particularly the underdeveloped world, the experience attained in conservation and environmental protection and the results obtained by our people in the various fields directly related to the topics that will be discussed at this meeting [the United Nations Conference on Environment and Development in Rio 1992].“ (Castro 1992b)

Ambivalenzen und Widersprüche im kubanischen Natur-Diskurs nach 1990 Angesichts dieser zentralen Funktionen handelte sich beim Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung offenbar um das politisch opportune Konzept zur rechten Zeit, es kam der kubanischen Führung wie gerufen. Dies wirft zugleich aber die Frage nach der Ernsthaftigkeit und Reichweite dieser Neuorientierung auf. Wie ernst war es der Staatsführung mit dem, was sie in ihren öffentlichen Verlautbarungen proklamierte? Ein genauerer Blick auf die tatsächliche Krisenpolitik der kubanischen Führung seit den 1990er Jahren zeigt zahlreiche Brüche, Widersprüche und Ambivalenzen in der umweltpolitischen Ausrichtung und im Naturverständnis. Da Kuba seit Beginn der ökonomischen Krise Anfang der 1990er Jahre nichts dringender benötigte als Devisen, bestand eine große Bereitschaft zu weitgehenden Kompromissen in all jenen Bereichen, die für die Devisenbeschaffung des Landes zentral sind: Tourismus, Bergbau, Erdölförderung und die exportorientierte Landwirtschaft. Gerade am Beispiel des Tourismussektors werden die Widersprüche und Ambivalenzen im Umgang mit dem neuen Leitbild der nachhaltigen Entwicklung besonders offensichtlich. Hier tritt die ‚alte‘ Modernisierungs- und Wachstumslogik auf Kosten der Natur deutlich zu Tage, Umweltfolgen werden weitgehend ignoriert, wie in folgenden Äußerungen Castros deutlich wird: „Our country has enormous tourism resources. Enormous! It not only has Varadero, which one day will generate 500 million dollars [of revenue per annum]. The country has many Varaderos, uncountable beaches similar to Varadero … Totally virgin areas where there is nothing built, where everything can be programmed, can be planned, where master plans based on the newest concepts in tourism can be developed.“ (Castro 1990b, zit. In: Díaz-Briquets, Pérez-López 2000:275) „We only began a short while back and can already see certain results. I believe we can speak of a future, given the efforts we are conducting. You cannot imagine with what

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difficulties we began to build those renowned causeways. This has helped us gain access to marvelous beaches, as marvelous as this Varadero beach, in other places around Cuba. We will continue working in this manner, with efforts and sacrifice.“ (Castro 1994)

Im Tourismus zeigt sich auch am deutlichsten und exemplarisch für die anderen Devisensektoren, dass die Logik von Wachstum, Wettbewerb und Profit, der ökologische Belange untergeordnet werden, auch im sozialistischen Kuba Einzug gehalten haben: „We must find ways to make capital yield [in tourism] more in Cuba than it does in Costa Brava, the Canary Islands, or any other country. … All in all, it is a competition.“ (Castro 1994)

Diese neue krypto-marktwirtschaftliche Wachstumslogik knüpft direkt an die ‚alte‘ Wachstumsideologie der sozialistischen Modernisierung an. Denn in beiden Fällen treten ökologische Anliegen deutlich hinter die ökonomischen Interessen zurück.

Schlussbetrachtungen Die genannten Ambivalenzen und Widersprüche zwischen propagierter Ideologie Nachhaltiger Entwicklung und realpolitischer Praxis erfordern, so Castro, ein gewisses Maß an politischer Beweglichkeit, frei von jeglichem Dogma und ‚bewaffnet‘ mit ideologischer Flexibilität, wie im folgenden Zitat deutlich wird: „As we set off down this path [of tourism development] – free of dogma, armed with flexibility, and keeping clearly in mind our goals and the means to attain them – we have been making this overture, which continues to expand.“ (Castro 1994)

Offenbar diente die neue Rede von Nachhaltigkeit und Umweltschutz vor allem als Legitimations-Diskurs für unpopuläre und unvermeidliche Maßnahmen im Kontext der ökonomischen Krise und zur Stabilisierung des Systems. Dass sich die kubanische Führung oftmals nicht an die selbst propagierten Nachhaltigkeitsideale gebunden fühlt, zeigt sich in der Kontinuität der alten Wachstumsideologie in den strategisch wichtigen, Devisen generierenden Sektoren Tourismus, Bergbau, Ölförderung und Exportlandwirtschaft (Völkening, Benz 2020). Sowohl in den ersten drei Dekaden nach dem Sieg der Revolution als auch in der Phase der anhaltenden Krise seit 1990 zeigt sich, dass die jeweils vom Staat vertretene und propagierte Perspektive auf Umwelt und Natur direkt mit dem jeweiligen sozio-ökonomischen Entwicklungsmodell und seinen politischen Erfordernissen korrespondiert. Das jeweilige Narrativ zum Naturverständnis ist strategisch gewählt und dient der Legitimation der jeweils ergriffenen politischen Maßnahmen. Natur-Narrative stellen somit eine strategische politische Res-

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source dar, die höchst flexibel und in Abhängigkeit politischer Richtungswechsel immer wieder neu ausgerichtet wird. Das wird in einem politischen System wie in Kuba, wo starke Einschränkungen bei Meinungs- und Pressefreiheit bestehen und keine unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen existieren, besonders deutlich, da hier das Entwicklungsleitbild und die damit verknüpfte Sichtweise auf Natur und Umwelt weitestgehend unwidersprochen vom Staat definiert und in dessen flexibler Interpretation in allen gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen durchgesetzt werden kann.

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Sebastian Purwins

Die (Wieder-)Entdeckung von Ghanas Bauxit – Akteure, Strukturen und Narrative

Die Geschichte von Ghanas Bauxit ist eine Geschichte von unerfüllter Industrialisierung und eng verbunden mit der Idee von politischer und ökonomischer Souveränität. Historisch lassen sich drei Phasen identifizieren: die Kolonialzeit, in der Bauxit für die britische Kriegsindustrie relevant war, die Jahre der Unabhängigkeit, in der eine integrierte Bauxit-Aluminium-Industrie symbolisch mit Modernisierung und Industrialisierung aufgeladen wurde, jedoch nie umgesetzt werden konnte, und die gegenwärtige Zeit, in der Bauxit erneut eine strategische Ressource zur Finanzierung von Infrastruktur wird. Der vorliegende Beitrag will mit der historischen Aufarbeitung des Bauxitabbaus in Ghana aufzeigen, dass Ressourcen nicht einfach nur sind, sondern sich in einem kontinuierlichen Prozess des Werdens befinden (Zimmermann 1933). Ressourcen sind folglich immer auch politisch aufgeladen, weshalb aktuelle Trends von Inwertsetzungen durch diese politisch-ökologische Perspektive verstärkt betrachtet werden müssen. In diesem Zusammenhang verweist Arboleda (2020) darauf, dass die Analyse aktueller Trends und Praktiken zur Inwertsetzung von Rohstoffen hilfreich ist, um die gegenwärtigen Widersprüchlichkeiten und Probleme von Entwicklung, Kapitalismus sowie Imperialismus zu identifizieren. Dieser Aufsatz soll mit dem regionalen Fallbeispiel in Ghana einen Beitrag hierzu leisten.

Einleitung Ghanas Bauxit-Reserven werden auf 554 Millionen Tonnen geschätzt (Gawu et al. 2012). Doch obwohl Ghana der drittgrößte Produzent auf dem afrikanischen Kontinent ist (Knierzinger 2018), wird diese Ressource seit 1942 in nur einer Mine abgebaut und hatte 2014 lediglich einen Anteil von 0,6 % an Ghanas Exporten. Was einst von Hart (1977:12) als „the most useful resource“ für Ghana beschrieben wurde, scheint lange Zeit für die ökonomische Entwicklung des Landes unbedeutend gewesen zu sein. Seit 2017 treten in Ghana neue Entwick-

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lungen und Interessen im Bauxit-Aluminium Sektor auf. Ghanas Regierung hat mit der chinesischen Firma Sinohydro eine Vereinbarung unterzeichnet, wonach Sinohydro Infrastrukturprojekte in Ghana finanziert sowie durchführt und im Gegenzug die Kosten über Gewinne durch verarbeitetes Bauxit refinanzieren wird. Dies impliziert, dass Ghana eine integrierte Bauxit-Aluminium-Industrie aufbauen wird, um diese Rückzahlungen zu garantieren. Gleichzeitig soll der Aufbau einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie auch einen Beitrag zur Industrialisierung in Ghana leisten. In seiner Rede 2018 zum Unabhängigkeitstag der Nation erklärte der Präsident Ghanas, Akufo-Addo, sein Vorhaben: „Fellow Ghanaians, we have huge infrastructure needs in the areas of roads, bridges, water, electricity, housing, hospitals, schools, etc. The problem has always been where to find the money. However, where there is a will, there is a way. My government is going to implement an alternative financing model to leverage our bauxite reserves, in particular, to finance a major infrastructure programme across Ghana. This will probably be the largest infrastructure programme in Ghana’s history, without any addition to Ghana’s debt stock“ (Akufo-Addo 2018:9).

Die Umwandlung von Gestein in Erz oder Metall erscheint zunächst als eine völlig logische ökonomische Handlung. Erz kann wiederum in Gewinne kommodifiziert werden und somit in Entwicklung für die Gesellschaft. Allerdings kann der Abbau mineralischer Ressourcen auch ungewollte Konsequenzen mit sich bringen, etwa Umweltdegradationen, Vertreibung von Bevölkerungsgruppen und neue ökonomische, aber auch politische Abhängigkeiten. Obwohl diese Konsequenzen über die Forschung hinaus bekannt sind, nimmt die Bedeutung von Extraktivismus nicht ab, vor dem Hintergrund des new scramble for Africa’s resources (Carmody 2013) sogar eher zu. Entscheidend ist, dass bestimmte Akteure die Idee kreieren und reproduzieren, dass Ressourcenabbau etwas ausschließlich Vorteilhaftes für die Gesellschaft ist. Verschiedene andere Aspekte tragen ebenso dazu bei, dass es schwer fällt für Länder des Globalen Südens mit einem dominanten Rohstoffexport, diesen eingeschlagenen Entwicklungspfad zu verlassen (vgl. Purwins 2019). Der vorliegende Aufsatz widmet sich der BauxitIndustrie in Ghana und betrachtet dabei Akteure, Strukturen und Narrative. Dies soll vor allem durch einen ausführlichen geschichtlichen Abriss erfolgen, der die Akteure und Strukturen darlegt und zudem auf historische Narrative zu dieser Industrie eingeht. Gegenwärtige Narrative werden unter Bezug der von Ziai (2017) benannten Kontinuitäten des Entwicklungsdiskurses diskutiert. Es soll verdeutlicht werden, wie ein sowohl historisches als auch gegenwärtiges, von modernisierungstheoretischen Ideen geleitetes Narrativ die Notwendigkeit des Bauxitabbaus (re)produziert.

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Historische Hintergründe Im Jahr 1914 entdeckte Sir Albert Kitson als erster Europäer in der damaligen britischen Kolonie Goldküste Bauxit. Die heimische Bevölkerung wiederum nutzte die Ressource bereits seit Langem, vor allem zur Herstellung von Schmuck und Ornamenten. Für die Briten war die Ressource jedoch mehr als nur Schmuck, sie sahen darin vor allem eine strategische Ressource. In seinem Bericht über die Bauxitfunde beschrieb Kitson (Colonial Reports 1917:48) diese Entdeckung „to be of the highest Imperial importance“. In den folgenden Jahren reiste Kitson den Volta-Fluss entlang und stellte fest, dass der Fluss durch ein von Hügeln umgebenes Gebiet fließt. Er verknüpfte dies mit dem Bauxit-Fund und kam auf die Idee, einen Staudamm zu errichten, der Strom erzeugen sollte für die Weiterverarbeitung von Bauxit zu Aluminium (Hart 1977). In den Jahren 1915 bis 1921 erweiterte sich der Plan und der Staudamm sollte nicht nur der Aluminiumproduktion dienen, sondern auch für andere Industrien oder den Aufbau der Eisenbahn. Den Plänen zu Folge sollte in Tema (östlich der Hauptstadt Accra) ein neuer Hafen entstehen, der gleichzeitig als Standort für einen Aluminiumschmelzer in Betracht kam. Kitson stellte die Pläne eines Staudammes und der Entwicklung einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie 1924 unter dem Titel The possible source of power for industrial purpose in the Gold Coast, British West Africa auf der ersten World Power Conference vor (Kitson 1924). Doch die Umsetzung wurde aufgrund des Ersten Weltkrieges zunächst nicht realisiert.

Privates Interesse wird zu kolonialem Interesse Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte der südafrikanische Ingenieur Duncan Rose, der Kitsons Artikel gelesen hatte, die Pläne weiter. Rose überzeugte Investoren, gründete das African Aluminium Syndicate und sicherte sich Lizenzen zum Aufbau eines Staudammes sowie zum Abbau von Bauxit. 1927 wurde die British and Colonial Bauxite Company gegründet und registriert. Das Unternehmen war eine Tochtergesellschaft der British Aluminium Company (BACo) mit zwei weiteren Tochterunternehmen: die Aluminium Company Ltd. und die 1933 gegründete Gold Coast Bauxite Company Ltd. (Moos 1948). 1928 erhielt BACo Abbaulizenzen bei Awaso (westlich von Kumasi), begann jedoch zunächst nicht mit dem Abbau von Bauxit. 1931 mussten die Lizenzen erneuert werden. Allerdings wurde der Abbau von Bauxit erneut hinausgeschoben, bis das im Jahre 1940 von Churchill eingeführte britische Ministerium für Luftfahrtproduktion im gleichen Jahr den Bauxitabbau in der Kolonie anordnete (Perchard 2013). Zu diesem Zeitpunkt waren bereits zwei Standorte bekannt, beide mussten jedoch zunächst mit Straßen und Schienen an die Infrastruktur angeschlossen

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werden. Das britische Ministry of Supply finanzierte die nötigen Maßnahmen. 1941, unter direkter Unterstützung der britischen Regierung, begann BACo mit dem Abbau und sendete das Bauxit von der Goldküste zur Weiterverarbeitung in das schottische Burntisland (Bracewell 1962). Der Bauxitabbau an der Goldküste war eng mit der Nachfrage nach Aluminium für die britische Luftwaffenproduktion verbunden; in den Jahren 1943 bis 1944 stieg der Export rasant an, bis zu 147.500 Tonnen Bauxit in zwei Jahren (de Graft Johnson 1955:9). Die BauxitIndustrie der Goldküste stellte an sich eine kriegswichtige Industrie für den Luftkampf Englands dar. Allerdings entwickelten sich der U-Boot-Krieg im Atlantik zum Risiko für den Transport des Rohstoffes (Perchard 2013), so dass im Laufe der Kriegsjahre Südamerika zum wichtigeren Lieferanten von Bauxit wurde (Dumett 1985). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beeinflusste günstiges Aluminium aus Kanada die Wettbewerbsfähigkeit von BACo. Dies änderte sich im Juli 1946 aufgrund von zwei Ereignissen: Erstens wurde die Parität des kanadischen Dollars mit dem US-Dollar wiederhergestellt, was eine Aufwertung des KanadaDollars zur Folge hatte, und zweitens interessierte sich Alcan (Aluminium Company of Canada Ltd.) für das sogenannte Volta River Project (Hove 2013). 1947 sicherte sich Alcan Konzessionen in der Kolonie Goldküste, auch weil aufgrund der Sterling-Krise in England die britische Regierung vorzugsweise ausländische Investitionen bevorzugte. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in London die Ansicht vor, die wirtschaftliche Entwicklung in den einzelnen Kolonien voranzutreiben. Im Falle der Goldküste und des Volta River Projects (VRP im Weiteren) gab es allerdings Unklarheiten mit der Kolonialregierung über Zuständigkeiten. Die Kolonialregierung beanspruchte die Zuständigkeiten über das Projekt für sich, während das britische Finanzministerium deutlich machte, dass es sich nicht um ein Kolonialprojekt handele, sondern ein allgemeines Projekt für koloniale Entwicklung. Diese Unstimmigkeiten zeigen deutlich, wie sehr die britische Regierung in den Nachkriegsjahren an dem Projekt Interesse gewonnen hatte und es kontrollieren wollte (Hove 2013).

Der Anstoß für die Industrialisierung eines unabhängigen Ghanas Im Februar 1951 gewann die Convention People’s Party (CPP) die erste offizielle Wahl in der Goldküste. Kwame Nkrumah, der Anführer der CPP, bildete die erste afrikanischen Regierung unter britischer Herrschaft (Miescher 2014). Zu dieser Zeit hatte das Land eine Bevölkerung von 6,7 Millionen und eine Bevölkerungswachstumsrate von 2,5 % bis 3,0 %. Damit war die Goldküste zur damaligen Zeit das am dichtesten besiedelte Land Afrikas und das Land mit dem schnellsten Bevölkerungswachstum weltweit (Hart 1977). Das VRP wurde mehr und mehr

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strategisch relevant im Rahmen eines 5-Jahres-Plans zur Modernisierung des Landes. Ziel war es, eine Industrialisierung zu initiieren und die Abhängigkeit von Kakaoexporten zu reduzieren. Ghana war weltweit führend im Kakaoexport und wirtschaftlich sehr stark darauf ausgerichtet. Während kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine hohe Nachfrage nach Aluminium herrschte, gab es bereits 1956 eine weltweite Überproduktion (Birmingham et al. 1966). Dies erlaubte es den beteiligten Unternehmen, zu sehr günstigen Konditionen in das VRP einzusteigen. Die britische Regierung verlangte nach finanzieller Unterstützung durch die Weltbank, während Alcan wiederum um günstige Strompreise für die Aluminiumproduktion verhandelte (Moxon 1969). 1953 setzte die britische Regierung eine Volta River Preparatory Commission unter der Leitung von Kommandant Jackson ein. Britische Architekten begannen mit der Planung des neuen Hafens bei Tema sowie einem neuen Dorf Tema, um die alte Bevölkerung dorthin umzusiedeln. Der Staudamm sollte 90 % der gewonnenen Energie nach Kpong leiten, wo eine Industrie entstehen sollte, um Bauxit zu Aluminium zu verarbeiten. Dies würde auch die Errichtung eines energieintensiven Schmelzers erfordern. Diese zwei Fabriken sollten den Plänen zufolge 15.000 Menschen beschäftigen. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 130 Millionen Britische Pfund. Dabei würde England 80 Millionen beisteuern, die restlichen Kosten würden die Unternehmen Alcan und BACo tragen. Die Regierung wäre Eigentümer des Staudammes und würde die Verteilung regeln, zudem wäre sie für die Eisenbahn und den Hafen in Tema zuständig (vgl. Abbildung 1). Die Unternehmen wiederum wären am Abbau von Bauxit beteiligt, würden die Fabriken betreiben und die Behausungen für die Arbeiter bei Kpong bauen (Special Correspondent 1956). Zudem sollten neue Eisenbahnverbindungen zwischen den Bauxitminen, Kpong und dem Hafen entstehen (Miescher 2014). Zur Umsetzungen der Fabriken bei Kpong sowie der Infrastruktur von Kpong nach Tema kam es jedoch nie. Als 1957 die britische Kolonie Goldküste in die Unabhängigkeit entlassen wurde, herrschten ein weitverbreiteter Enthusiasmus und der Wunsch nach schneller wirtschaftlicher Entwicklung vor (Amankwah-Amoah, Osabutey 2017). Die weltweite Aluminiumnachfrage war gesättigt und BACo musste wegen Kreditüberziehungen aus dem VRP aussteigen (Hove 2013). 1958 übernahmen Reynold und UK Tube Investment das Unternehmen BACo (King 2001). Zur gleichen Zeit sahen die USA in dem VRP eine gute Möglichkeit, ihren Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent auszuweiten. Vor allem vor dem Hintergrund von Präsident Trumans Entwicklungsprogrammen, die von der Modernisierungstheorie beeinflusst waren, und dem wachsenden Einfluss der Sowjetunion in Afrika (Cullather 2002; Ekbladh 2010). Eisenhower und Nkrumah verständigten sich darauf, das Vorhaben durch private Investitionen zu unterstützen. Die USFirma Kaiser Engineers (ein Teil der US Kaiser Industries) war 1959 bereit, in eine

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Abbildung 1: Pläne der integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie an der Goldküste (kartographisch umgesetzt von Consulting Engineers Sir William Halcrow and Partners, veröffentlicht von Dr. R.J. Harrison Church 1952). Quelle: Harrison 1952.

etwas reduzierte Version des VRP zu investieren. Dies beinhaltete den Bau eines Staudamms sowie eines Aluminium-Schmelzers in Tema. Kaiser Aluminium bildete mit vier weiteren Unternehmen ein Konsortium und gründete die Volta River Aluminium Company (VALCO), die den geplanten Schmelzer betreiben sollte. Aufgrund einiger Verhandlungsschwierigkeiten mit Kaisers, Gegenwind der politischen Opposition in Ghana sowie Widerstand bzw. Bedenken der USA stand das gesamte Projekt kurz vor dem Scheitern (Miescher 2014). Kaiser präsentierte einen unrealistischen Finanzierungsplan und war nicht in der Lage, die erforderlichen Kredite für den Bau des Staudamms aufzuwenden (Knierzinger 2018). Als John F. Kennedy US-Präsident wurde, änderte sich die US-Politik und war mehr auf einen Third World Neutralism bedacht. Dies brachte die Rolle der Weltbank stärker ins Spiel und im Februar 1961 einigte man sich auf eine Finanzierung durch die Weltbank (47 Mio. US$), die USA (37 Mio. US$) sowie die britische Regierung (14 Mio. US$) (Mahoney 1983:168). Noch im gleichen Jahr wurde das italienische Konsortium Impregilo, das zuvor den Kariba-Staudamm zwischen Simbabwe und Sambia fertiggestellt hatte, damit beauftragt, das Flussbett zu entwässern und auszubaggern. Zudem setzte die Regierung Ghanas die Volta River Authority (VRA) zur Überwachung dieser Maßnahmen ein. Der

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Staudamm wurde schließlich ab 1961 gebaut und 1965 fertiggestellt (Whitfield 2018). Da Nkrumah das Projekt unbedingt umsetzen wollte, akzeptierte er einen ungleichen Deal: Die Abmachung sah vor, dass der Schmelzer von Kaiser und Alcan importiertes Aluminiumoxid verwenden durfte und zudem wurde der Strompreis für den Schmelzer erheblich runtergehandelt (Hart 1977).

Schwierigkeiten und das Ende des VRP Als 1961 die Baumaßnahmen für den neuen Staudamm begannen, gab es noch keinen finalen Plan zur Umsiedlung der betroffenen Bevölkerung. Aufgrund des strengen Zeitplans wurden in nur zweieinhalb Jahren knapp 70.000 Menschen umgesiedelt. Nkrumah war jedoch weiterhin überzeugt, dass dies verkraftbar sei, da die Realisierung seiner Vision helfen sollte, Ghana zu modernisieren und zu industrialisieren. Während der Bauphase des Staudamms gerieten die Pläne für eine integrierte Bauxit-Aluminium-Industrie zunehmend in den Hintergrund. Noch während Ghana in den Verhandlungen mit Kaiser und den USA stand, startete Präsident Nkrumah Pläne und Verhandlungen mit der Sowjetunion zum Bau des Bui-Staudamms im Norden des Landes. Nkrumah wollte damit auch die Position Ghanas in Zeiten des Kalten Krieges ausbalancieren, indem er versuchte, beide Interessen zu bedienen. Obwohl eine Umsetzung der integrierten BauxitAluminium-Industrie schwierig, aber möglich gewesen wäre, entschied sich Nkrumah für den Bau des Bui-Staudamms. Miescher und Tsikata (2009) argumentieren, dass diese Entscheidung eine Überschätzung von Ghanas Möglichkeiten war, zumal es die Vereinbarung mit der Weltbank ignorierte, Ghana keinen zweiten Staudamm zu finanzieren. Nkrumah begründete seine Entscheidung damit, dass Ghana Strom für das gesamte Land sowie für die Nachbarländer produzieren könnte (Miescher 2014). Als sich Nkrumah 1966 auf Reisen in Ostasien aufhielt, kam es zu einem durch die USA unterstützten Militärputsch in Ghana (Miescher 2014; Knierzinger 2016). Dieser Putsch besiegelte das Ende des Bui-Staudamms sowie auch des VRP. Zwar wurde der Schmelzer 1967 fertiggestellt, aber es gab keine weiteren Interessen oder Bemühungen, in eine Industrialisierung des Landes durch eine Bauxit-Aluminium-Industrie zu investieren. In einem Bericht der CIA (1971) wurde das Vorhaben als „largest development efforts ever undertaken in tropical Africa“ beschrieben, allerdings als limited success deklariert. Die USA finanzierten die begonnenen Projekte zu Ende, auch um den Einfluss der Sowjetunion zu unterbinden (Miescher 2014). Die neue Militärregierung zeigte sich kooperativ, konzentrierte sich aber vorerst allein auf die Stromproduktion. Die Idee einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie mit dem Ziel, das Land zu modernisieren, Arbeitsplätze sowie eine Industrie aufzubauen, wurde fallen gelassen (Knierzinger 2018).

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Jahre der Stagnation Nach dem Militärputsch und dem ins Hintertreffen geratenen Projekt zum Aufbau einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie stellte sich die Situation wie folgt dar: Ghana exportierte unverarbeitetes Bauxit, importierte verarbeitetes Bauxit (Alumina bzw. Aluminiumoxid), schmolz dieses bei Tema zu Primäraluminium (unmittelbar aus Aluminiumoxid gewonnenes Aluminium), exportierte dieses und importierte wiederum Aluminium für die Weiterverarbeitung von Endprodukten. Für Ghana war diese fragmentierte Wertschöpfungskette ökonomisch betrachtet kaum gewinnbringend. Für die beteiligten Unternehmen jedoch in doppelter Hinsicht, da sie Bauxit verkaufen konnten und günstigen Strom für die Aluminiumschmelze erhielten (Hart 1977). Ghana exportierte Bauxit vor allem nach England, Griechenland, Deutschland, Kanada sowie zuletzt immer stärker in die Volksrepublik China, und importierte Alumina (Aluminiumoxid) aus Jamaika und Europa für den Schmelzer in Tema (Knierzinger 2018). 1982 verkaufte Reynold die Mine bei Awaso an Alcan, während der Bauxitsektor moderat wuchs, aber immer wieder Probleme hatte. Der Anteil des Bauxit-Exports am Gesamtexport betrug zu dieser Zeit 1,4 % (Akabza, Darimani 2001; Knierzinger 2018). 1998 verkaufte die Regierung Anteile an der Ghana Bauxite Company und reduzierte somit ihren Anteil von 55 % auf 20 % (Akabza, Darimani 2001). 2014 produzierte Ghana etwa 870.000 Tonnen Bauxit, hingegen Sierra Leone im gleichen Jahr 1.161.000 Tonnen und Guinea mit 17.258.222 Tonnen etwa 20mal so viel wie Ghana (USGS 2016). Während die ökonomische Bedeutung anderer Güter in Ghana weiter zunahm, ging die Relevanz von Bauxit immer weiter zurück. Zudem musste der Aluminiumschmelzer VALCO in Tema teilweise wegen unzureichender Stromzufuhr und auch Differenzen bei Preisverhandlungen im Mai 2003 komplett heruntergefahren werden (Bergstresser 2003). Im Juli 2004 verkaufte daher Kaiser seine 90 % Anteile an VALCO an die Regierung von Ghana, die letzten 10 % verblieben bei ALCOA (Ekpe 2016). Bereits einen Monat später verkündete ALCOA, dass es neue Verhandlungen mit der Regierung gegeben habe und der Schmelzer bald wieder seine volle Arbeit aufnehmen könnte. 2005 unterzeichneten die Regierung und ALCOA zudem zwei voneinander getrennte Memoranda of Understanding (MoU), um das Potential zu analysieren, weitere Bauxitminen zu erschließen sowie eine verarbeitende Industrie mit Raffinerien zu entwickeln (Gawu et al. 2012). Erstmalig seit dem gescheiterten Versuch nach der Unabhängigkeit gab es wieder einen Anlauf, eine integrierte Bauxit-Aluminium-Industrie zu entwickeln. Allerdings bestanden weitere Engpässe bei der Stromversorgung, sodass der Schmelzer nur mit einer Kapazität von 30 % arbeiten konnte und 2007 erneut komplett heruntergefahren wurde. 2008 verkaufte schließlich auch ALCOA seine 10 % Anteile an die Re-

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gierung Ghanas (Bermúdez-Lugo 2008; Kpodo 2018). Aufgrund einer mangelhaften Infrastruktur zum Transport von Bauxit, den anhaltenden Problemen mit der Stromversorgung des Schmelzers und dem Ausstieg westlicher Investoren wurde die Idee einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie erneut verworfen (Kpodo 2018). Auch die Transportkosten von der Bauxit-Mine mit der Eisenbahn zum Hafen Sekondi Takoradi waren mit immer höheren Kosten verbunden (Knierzinger 2016), sodass der Konzern Rio Tinto, der 2007 Alcan aufgekauft hatte, seine Anteile an der Ghana Bauxite Company Ltd. komplett an die chinesische Bosai Minerals Group verkaufte (Bertolli 2010). Aufgrund der Transportschwierigkeiten sank die Produktion zunächst um 21 %. 2012 entschied Bosai den Transport von Bauxit komplett auf die Straße zu verlagern (Oxford Business Group 2013). 2011 begann zudem der Aluminiumschmelzer mit einer Kapazität von 20 % wieder seine Arbeit aufzunehmen (Knierzinger 2016). In dieser beschriebenen Zeit stiegen vor allem wegen Problemen mit der Infrastruktur (Strom sowie Transport via Schiene) nach und nach westliche Unternehmen aus dem Bauxit-Aluminium-Sektor in Ghana aus. Die Entwicklungen wurden durch Archivarbeit in folgender Abbildung zusammengetragen und stellen einen zeitlichen Überblick der Bauxit-Aluminium-Industrie in Ghana dar. 1400

Bauxite production Bauxitproduktion

Aluminium production Aluminiumproduktion

Alumina import Import von Aluminiumoxid

1200

1000

in 1.000 Tonnen

2010 Rio Tinto verkauft Bauxitmine an Bosai Group (Rio Tinto kaufte 2007 Alcan auf)

2008 Alcoa verkauft VALCO an die Regierung 2004 Kaiser verkauft 90% seiner Anteile an VALCO an die Regierung

800

1982 Reynold verkauft Bauxitmine an Alcan

600

1998 Regierung reduziert den Anteil an der Ghana Bauxite Company auf 20% 2003 Probleme bei Verhandlungen zur Energieversorgung (zwischen Regierung und VALCO)

400

2007 Probleme bei Verhandlungen zur Energieversorgung (zwischen Regierung und VALCO)

200

Knappheit in der Energieversorgung

Knappheit in der Energieversorgung

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

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1995

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1984

1983

1982

1981

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1979

1978

1977

1976

1975

1974

1973

1972

1971

1970

0

Knappheit in der Energieversorgung

Quelle: Bank of Ghana (2003): Report on the Mining Sector; British Geological Survey (2018): World Mineral Statistic; British Geological Survey (2007): African Mineral Production 2001-2005. Keyworth, Nottingham; Ministery of Finance Ghana (2015): GHEITI Report on the Mining Sector 2014. Anaafo D. (2017). In pursuit of pro-poor development in Ghana. In: Asuelime L. E. Okern E. (2017): The Political Economy of Energy in Sub-Saharan Africa, 30-46.

Abbildung 2: Historie der Bauxit-Aluminium-Industrie in Ghana. Quelle: Anaafo 2018; Bank of Ghana 2003; British Geological Survey 2007; British Geological Survey 2018; Ministery of Finance Ghana 2015.

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Die Wiederentdeckung Seit 2011 sind die Regierung von Ghana und die chinesische Firma Bosai Mineral Group die einzigen verbliebenen Akteure im Bauxit-Aluminium-Sektor. Zwar hielt ein Tochterunternehmen der niederländischen Vimetco, Vimetco Ghana (Bauxite) Ltd., Abbaukonzessionen bei Kyebi und Nyanahin, doch seit dem Einstieg Chinas in diesen Sektor hat sich das Unternehmen vorerst zurückgezogen (Vimetco 2016). Obwohl China ein wichtiger Player im globalen Aluminium-Sektor ist, hat sich die Volksrepublik bislang wenig an Abbautätigkeiten auf dem afrikanischen Kontinent für die Herstellung des Metalls interessiert. Die großen Minen, wie etwa in Guinea, sind alle in Händen westlicher Unternehmen (Knierzinger 2016). Während des ghanaischen Präsidentschaftswahlkampfes 2016 warb die New Patriotic Party (NPP) damit, erneut den Anlauf zu unternehmen, eine integrierte Bauxit-Aluminium-Industrie in Ghana zu entwickeln. Ziel sei es, damit Arbeitsplätze durch eine weitreichende Industrialisierung zu schaffen. Nachdem die einstige Oppositionspartei die Wahlen gewonnen hatte, erklärte Ghanas Präsident Akufo-Addo, dass der Aufbau einer solchen Industrie auch Teil einer langfristigen nationalen Strategie sei, die als Ghana Beyond Aid veröffentlicht wurde. Im Rahmen des Unabhängigkeitstages 2018 erklärte Akufo-Addo zudem in seiner Rede: „My government is going to implement an alternative financing module to leverage our bauxite reserves in particular to finance major infrastructure programmes across Ghana. This will probably be the largest infrastructure programme in Ghana’s history without any addition to Ghana’s debt stock“ (Akufo-Addo 2018).

Die Pläne, zusammengetragen aus Informationen des Finanzministeriums und dem jährlichen Haushaltsplan, sehen vor, dass neue Minen bei Awaso, Kyebi und Nyinahin erschlossen werden sollen. Zudem sollen dort Raffinerien zur Weiterverarbeitung entstehen und die Infrastruktur, im Sinne von Energieversorgung sowie Eisenbahnlinien, erneuert werden (Ministry of Finance Ghana 2018). Ergänzend soll rund um das Gelände von VALCO eine Aluminiumindustrie entstehen mit Unternehmen, die das gewonnene Aluminium direkt zu Endprodukten verarbeiten können.

Ghana Beyond Aid Während bislang vor allem die Aspekte Akteure und Pfadabhängigkeit im Fokus standen, soll nun abschließend noch auf den Aspekt des Narrativs eingegangen werden. Hierbei wird an der zuletzt beschriebenen gegenwärtigen Situation an-

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geknüpft. Allerdings soll es dabei weniger um die Rolle Chinas in diesem Kontext gehen, sondern vielmehr um die symbolische Aufladung der Ressource in Ghana selbst. Wenn es um Narrative oder Imaginationen, also auch um symbolische Aufladungen von Ressourcen geht, verweisen Jasanoff und Kim (2015) darauf, dass besonders solche Imaginationen stark sind, die sich bereits an global wirkungsmächtigen Narrativen orientieren. Sie bedienen sich der globalen Imaginationen und betten sie in einen lokalen Kontext ein, sodass diese an bestimmte Gegebenheiten angepasst werden. Als prägendstes Beispiel ist hierbei das Modernisierungsnarrativ zu nennen. Peters und Burchardt (2017) argumentieren, dass noch immer die Bearbeitung sozioökonomischer Fragen, wie Armut, Erwerbslosigkeit oder Einkommensungleichheiten primär über die Steigerung des Wirtschaftswachstums verfolgt wird. Ebenso wird für Peters und Burchardt (2017), trotz steigendem Bewusstseins und Studien über ökologische Folgen, noch immer zu Gunsten der Ökonomie entschieden. Als Folge manifestiert sich ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus, der negative Umweltfolgen relativiert, technisch für lösbar erklärt oder mit der Notwendigkeit von Entwicklungszwängen rechtfertigt. In seinem 2017 veröffentlichten Aufsatz Die Post-2015 Agenda und die Nachhaltigkeit des Entwicklungsdiskurses geht Aram Ziai der Frage nach, welche bedeutsamen Änderungen und Kontinuitäten im modernisierungstheoretischen Entwicklungsdiskurs festgestellt werden können. Dabei vergleicht Ziai (2017) die Diskussion der Millenniumsentwicklungsziele (bekannt als Post-2015-Agenda) mit den grundlegenden Strukturen des Entwicklungsdiskurses seit seiner Entstehung Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese grundlegenden Strukturen seien in den Sustainable Development Goals Berichten ebenso zu finden, wie in der Antrittsrede von US-Präsident Truman. Zwar gäbe es knapp 65 Jahre nach dem Washington Consensus auch Veränderungen, diese seien aber marginal, denn noch immer könnten die „gleichen Strukturen identifiziert werden, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Akzeptanzbeschaffung für die Praxis der »Entwicklung« in einer kapitalistischen Weltordnung genutzt wurden“ (Ziai 2017: 263–264). Nach Aram Ziai (2017) sind die sogenannten Kontinuitäten (1) die Diagnose eines Problems bzw. Defizits, (2) das Versprechen, dieses Problem lösen zu können, (3) das Rezept zur Bearbeitung des Problems sowie schließlich (4) das Credo einer Harmonie der Ziele. Die folgende Tabelle fasst die vier Kontinuitäten zusammen und stellt wesentliche Aussagen gegenüber.

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Tabelle 1: Kontinuitäten des Entwicklungsdiskurses sowie deren zentrale Aussagen. Kontinuität Diagnose

Bestandteil/Aussage Zentraler Aspekt ist die Definition eines Problems oder Defizites; meist ist dies ‚Armut‘ oder ‚Ungleichheit‘ (Ziai weist darauf, dass neuerdings auch der Klimawandel als zusätzliches Problem deklariert wird). Versprechen Die Versprechen werden mit einem starken Präsentismus aufgeladen; dies meint die wiederholte Erklärung, dass ‚wir‘ das Problem ‚jetzt‘ lösen; damit wird eine historisch einmalige Möglichkeit der Problemlösung konstruiert.

Rezept Credo

Technische Lösungen und wirtschaftliche Entwicklung werden als Antwort auf das Problem präsentiert (Nebeneffekte oder daraus resultierende Konflikte werden nicht diskutiert). Harmonie der Ziele, alle Beteiligten können profitieren, wirtschaftliche Entwicklung und Nachhaltigkeit scheinen vereinbar

Quelle: Ziai 2017.

In folgender Tabelle sind die zuvor dargestellten Kontinuitäten ausgewertet anhand der Rede zum Unabhängigkeitstag 2018 von Präsident Akufo-Addo. Tabelle 2: Abgleich der Kontinuitäten des Entwicklungsdiskurses (nach Ziai 2017) und der Rede des Ghanaischen Präsidenten Akufo-Addo aus dem Jahr 2018. Kontinuität Diagnose

Rede von Präsident Akufo-Addo 2018 „Poverty continues to be our lot.“ „We are still dependent on the export of primary commodities, as was the case at the time of Gordon Guggisberg. We must admit, sadly, that, in the area of economic development, we have underachieved, relative to our peers at independence.“

Versprechen „We cannot wait that long; we have wasted enough time already. It is time to get on with it, and the time is now.“ Rezept „The change in our fortunes will only happen when our economy improves.“ „Getting our country to a situation Beyond Aid means we add value to our exports, and stop the export of materials such as cocoa, gold, bauxite, manganese and oil in their raw state.“ Credo – Quelle: Eigene Darstellung.

Es zeigt sich, dass bis auf den Punkt Credo, der in der Rede in dieser Form nicht ausgeführt wurde, alle anderen Kontinuitäten eine eindeutige Ähnlichkeit zu den beschriebenen Beispielen von Ziai (2017) offenlegen. Es handelt sich um eine in einen nationalen Kontext übertragene Modernisierungsrhetorik, die zudem auch erstaunliche Ähnlichkeiten mit der Entwicklung einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie in Ghana während der Zeit der Unabhängigkeit aufweist. In seiner Rede rechnet Akufo-Addo deutlich den Mehrwert einer Verarbeitung von Bauxit vor, sodass es plausibel erscheint, diese Schritte zu unternehmen. Er

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schließt diese Ausführungen mit dem Satz „Aluminium, we are told, is the metal of the future“ (Akufo Addo 2018). Zum Vergleich, 1952 erschien im Journal West Africa ein Beitrag unter dem Titel Aluminium: Metal of the Future. In beiden Kontexten wird darauf Bezug genommen, dass Ghana den Strom zur Verfügung stellen kann, der für eine entsprechende Industrie benötigt wird, sowie über ausreichende Mengen an der nötigen wichtigen Ressource (Bauxit) verfügt. Nkrumah versuchte mit der Umsetzung des Volta River Project koloniales Erbe hinter sich zu lassen. Das Ziel war es, das neue unabhängige Ghana zu entwickeln, sowohl souverän politisch als auch ökonomisch. Ebenso gehört für Akufo-Addo zur Vision Ghana Beyond Aid inklusive des Plans einer integrierten BauxitAluminium-Industrie auch der Schritt, unabhängiger von anderen Industrienationen bzw. Geberländern zu werden. Bauxit und die Weiterverarbeitung werden als unerfüllter Traum symbolisiert, auf dessen Realisierung der Präsident verweist: „It is for this reason that Ghana has, since independence, sought to establish an integrated bauxite and aluminium industry. Thus far, this has remained a fond hope“ (Akufo-Addo 2018). Bis in die Gegenwart wird jedoch seit 1942 kontinuierlich das abgebaute Bauxit exportiert und nicht im eigenen Land verarbeitet oder in Wert gesetzt. Was als koloniales Projekt der Briten begann, symbolisch aufgeladen wurde mit wirtschaftlicher und politischer Souveränität während des Jahren der Unabhängigkeit Ghanas, könnte mit dem Auftreten der chinesische Firma Sinohydro als neue neokoloniale Praktik interpretiert werden. Zuletzt hat die Regierung von Ghana durch gesetzliche Grundlagen und auch die Etablierung einer para-nationalen Einrichtung dafür gesorgt, dass die Durchführung der Pläne eine gewisse Institutionalisierung erfährt. Ähnlich wie Nkrumah, der das damalige Volta River Project sehr zentralistisch initiierte, bestätigt sich im aktuellen Fall die Analyse von Arboleda (2020), wonach der Staat zunehmend interventionistisch agiert und durch starke Narrative überzeugend gegenüber der Bevölkerung auftritt.

Diskussion Der ausführliche historische Abriss hat gezeigt, dass Ressourcen nicht einfach nur sind, sondern sich durch einen kontinuierlichen Prozess des Werdens auszeichnen (vgl. Zimmermann 1933). Entsprechend können sie von machtvollen Akteuren eigennützig interpretiert werden oder auch an Bedeutung verlieren. Dabei sind Ressourcen aber nicht nur passive Objekte. Gerade im Zuge des material turn und im Sinne des new materialism wird auf den aktiven Charakter verwiesen. Insbesondere die Sichtweise der Affordanz geht darauf ein, indem diskutiert wird, dass Materialität einen Angebotscharakter aufzeigt, indem eine Aufforderung zu einer bestimmten Nutzung gemacht wird. Im Fall von Bauxit

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könnte eine von verschiedenen Aufforderungen die Nutzung zur Verarbeitung zu Aluminium sein. Die Eigenschaft von Bauxit bietet sich in diesem Sinne an, eine entsprechende Weiterverarbeitung umzusetzen, da Bauxit sich nur als Schmuck verwenden oder zu Aluminium verarbeiten lässt. Bei der Betrachtung der Wiederentdeckung dieser Ressource spielt folglich die Materialität eine nicht unerhebliche Rolle, gleichzeitig wird diese Inwertsetzung durch ein Narrativ aufgeladen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde Ghanas Bauxit zu einer strategischen Ressource und von besonderer Relevanz. Früh war die britische Regierung beteiligt und der Abbau war von größter Wichtigkeit. Waren die Gründe hier vor allem noch militärischer Natur, so änderte sich dies in den Jahren der Unabhängigkeit Ghanas. Im Rahmen des Volta River Projects sollte Bauxit den Anstoß für eine landesweite Industrialisierung liefern und der Aufbau einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie versprach Arbeitsplätze und wirtschaftliche Entwicklung. Eingebettet in dieses größere Projekt symbolisierte Bauxit Souveränität und Unabhängigkeit in doppelter Hinsicht: Unabhängigkeit vom KakaoExport und somit eine heterogene industriellere Wirtschaftsstruktur sowie Unabhängigkeit von anderen Staaten, da Ghana sich wirtschaftlich entwickeln würde. Nach dem Militärputsch gegen den ersten Präsidenten verlor die Ressource an strategischer Bedeutung und bis auf eine Mine, die bereits seit 1941 aktiv ist, wurde bis 2020 keine weitere Bauxit-Mine eröffnet, obwohl mehrere Bauxitlagerstätten in Ghana vorhanden sind. Und doch änderte sich die strategische Relevanz von Bauxit ab 2017 erneut. Wie dargelegt symbolisiert die Entwicklung einer integrierten Bauxit-Aluminium-Industrie erneut Souveränität und Unabhängigkeit, in dieser Situation eingebettet in das nationale Programm Ghana Beyond Aid. Dieses spezielle Fallbeispiel zeigt jedoch auch, dass das Verständnis und der Umgang mit Ressourcen stark von ihrer jeweiligen symbolischen Aufladung abhängig sind. War Bauxit 1917 bei Sir Kitson (Colonial Reports 1917:48) noch „of the highest Imperial importance“, so ist es 2018 „key in moving Ghana Beyond Aid“ (Akufo-Addo 2018). Ressourcennutzung und Inwertsetzung sind damit nie per se eine rein naturwissenschaftliche oder technische Frage, sondern ebenso eine soziale und politische.

Literatur Akabzaa T., Darimani A. (2001): Impact of Mining Sector Investment in Ghana: A Study of the Tarkwa Mining Region. SAPRI Report, Structural Adjustment Participatory Review International Network, SAPRIN.

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III. Klimawandel und sozioökologischer Krisendiskurs

Reiner Keller / Claudia Foltyn / Matthias Klaes / Simone Lackerbauer

Soziologische Diskursanalyse gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Zur „Risiko-Wirklichkeit“ von „Hydraulic Fracturing“1 in Deutschland, Frankreich und Polen

Die soziologische Analyse von gesellschaftlichen Naturverhältnissen, „Umweltproblemen“ oder der „ökologischen Frage“, den unterschiedlichsten Politiken der „Nachhaltigkeit“ sowie den Voraussetzungen und Folgen dieser gesellschaftlichen Prozesse der Problematisierung der Mensch-Natur-Beziehungen gehört nicht ins engere Feld der Environmental Humanities, sondern – zusammen mit der Politikwissenschaft und benachbarten Fächern – in einen Disziplinzusammenhang, den man als „Umweltsozialwissenschaften“ (Environmental Social Sciences) bezeichnen kann. Ihr Fokus richtet sich auf die Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Folgen der grob als „ökologische Themen“ bezeichenbaren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die gegenwärtigen Krisen der Naturverhältnisse. Dieser Fokus entsteht und verdichtet sich seit den 1970er Jahren sowohl im englisch- als auch im deutschsprachigen Raum und er schließt ganz unterschiedliche Schwerpunktbildungen ein (z. B. Brand 2014; Groß 2001, 2014). Seinen institutionellen Niederschlag in der deutschsprachigen Soziologie findet er insbesondere in der in den 1990ern Jahren in München gegründeten Sektion „Umweltsoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.2 Damit einher gehen auch Institutionalisierungen umweltsoziologischer Forschungen in außeruniversitären Forschungsinstituten. Nachfolgend soll zunächst sehr kurz die Entwicklungsgeschichte der Umweltsoziologie im deutschsprachigen Raum skizziert werden. Im Anschluss daran wird ein spezifischer soziologisch-diskursanalytischer Zugang zu Umweltkonflikten vorgestellt. Schließlich wird an den Diskussionen um den Einsatz von Hydraulic Fracturing bei der Schiefergasgewinnung in Deutschland, Frankreich und Polen

1 Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des von der DFG geförderten Projektes „Kontroversen um Hydraulic Fracturing in Frankreich, Deutschland und Polen. Eine vergleichende Analyse zur Rolle von ökologischen Rechtfertigungsordnungen und Civic Epistemologies in aktuellen Risikokonflikten“ (KE 1608/11–1). 2 Der Hauptautor dieses Beitrages war an der Gründung beteiligt und ist seitdem Mitglied der Sektion.

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erläutert, wie unterschiedlich sich die Wirklichkeit dieser Technologie und ihre Problematisierung jeweils darstellt und wie das begrifflich gefasst werden kann.

Zur soziologischen Analyse von Naturverhältnissen: ein kurzer umweltsoziologischer Abriss In den 1970er Jahren stehen zunächst Untersuchungen zu den neuen sozialen Bewegungen und Protesten, den sozialstrukturellen Merkmalen und Motiven ihrer Trägergruppen, insbesondere dann zur Umweltbewegung sowie zu den Auseinandersetzungen um die Nutzung der Kernenergie im Vordergrund. Hinzu kommen Studien zu den entstehenden grünen Parteien. In den 1980er Jahren finden sich eine Vielzahl von (auch international vergleichenden) Fallstudien zu einzelnen „Umweltkonflikten“ und deren Dynamiken. Neben der Kernkraft geraten Ozonloch, Waldsterben bzw. der Saure Regen und vor allem auch umweltkatastrophische Ereignisse in den Blick (Keller 2000, 2003, 2013). Zugleich setzen Bemühungen eines Einbaus von „Natur“ in soziologische Grundlagentheorien wie auch in gesellschaftstheoretische Diagnostiken an. Prominent wird etwa von Niklas Luhmann (1986) ein systemtheoretisches Konzept von Gefährdung der Gesellschaft durch „ökologische Kommunikation“ vorgestellt. Vor allem aber prägt die von Ulrich Beck formulierte Diagnose der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) die soziologische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit in den kommenden Jahrzehnten. Damit wird die Analyse von neueren „Risikodiskursen“ (Lau 1989) zu einem der wichtigsten Teilgebiete der umweltsoziologischen Forschung. Große Verbreitung findet auch das im Kontext des 1989 gegründeten Frankfurter Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) entwickelte Konzept der „gesellschaftlichen Naturverhältnisse“, das auf die komplexen, soziohistorisch variablen Einbettungen von Gesellschaften in „Natur“ sowie auf die gesellschaftlichen Konzeptionen von und Einwirkungen auf Natur zielt, und die Strukturierungs- sowie Prozessdynamiken dieser Zusammenhänge in den Blick nimmt (Becker et al. 2011; vgl. auch Keller, Lau 2001; Wehling et al. 2005; Viehöver et al. 2007). In den 1990er Jahren weiten sich die Forschungen erheblich aus. Neben eher grundlagenorientierten Arbeiten (Brand 1998) treten nun auch zahlreiche anwendungsorientierte Studien. Die allgemeine umweltsoziologische Forschung untersucht weiterhin umweltbezogene Konflikte, die gesellschaftliche Präsenz und das Potential ökologisch vorteilhafter Lebensstile, Chancen und Hemmnisse ökologischer Ausrichtungen in Unternehmen und im Management, sowie sozialstrukturelle Ausprägungen des Umweltbewusstseins. Auf anwendungsorientierter Seite spielen Fragen institutioneller Designs, Strategien zur Beteiligung

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von Bürgerinnen und Bürgern an technologischen Infrastrukturprojekten oder an Mülltrennung, Car-Sharing usw. eine wichtige Rolle. Zudem eröffnet das politisch weltweit eingeführte Konzept der Nachhaltigkeit sowohl Anlässe zu theoretisch-konzeptionellen Debatten wie auch zu empirischen Untersuchungen seiner Implementation, bspw. im Rahmen der „Lokale Agenda 21-Prozesse“.3 Insgesamt lässt sich die Phase der 1990er Jahre als diejenige einer zunehmenden Institutionalisierung der Mitbearbeitung „umweltbezogener Aspekte“ auf allen Ebenen der Politik, der staatlichen Verwaltung, aber auch in Unternehmen und anderen Organisationen, Medien, Vereinen und Verbänden sowie Nichtregierungsorganisationen beobachten (Hajer, Keller 1996). Hier finden nicht zuletzt die früheren Bewegungsakteure ihre Berufsfelder. Staatliche Förderungen finanzieren in den 2000er Jahren bis heute vor allem anwendungsbezogene Forschungen, etwa zu Umsetzungsmöglichkeiten der Energiewende oder zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Häufig werden hier bestimmte Problemkonfigurationen und Rahmenbedingungen vorausgesetzt. Die sozialwissenschaftliche Forschung ist dann dazu aufgerufen, an der „Ökologisierung“ der Gesellschaft mitzuwirken. Dabei werden zentrale Prämissen des auf Produktions- und Konsumptionssteigerungen ausgerichteten (fossilen) kapitalistischen Wirtschaftens – das auf steigendem Ressourcenverbrauch und der Nutzung von „Natur“ als „externalisiertem Schadstoffdepot“ beruht – nicht in Frage gestellt. Ob solche Forschungen „hilfreich“ im Sinne der damit verbundenen Absichten waren und sind, muss dahingestellt bleiben, da wir nicht wissen, welcher Stand der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ohne sie festzuhalten wäre. Die Gesamteinschätzung führt hier unweigerlich zur Streitfrage, ob das Glas Wasser halb voll oder halb leer ist. In jüngerer Zeit kommt es zu Re-Theoretisierungen und auch Re-Politisierungen der sozialwissenschaftlichen Debatte. So finden sich zunehmend Forschungen, die nicht Prozesse der Nachhaltigkeitsagenda begleiten und unterstützen, sondern sie in ideologiekritischer Absicht beleuchten. Wie schon in den 1970er Jahren entwickelt sich eine neue (bzw. im Grunde alte) Wachstumskritik („Degrowth“) mit kapitalismuskritischen Theorielementen, u. a. etwa als „Kritik der imperialen Lebensweise“ (Brand, Wissen 2017) bzw. der „Externalisierungsgesellschaft“ (Lessenich 2016). Hinzu kommen unter dem neuen, wesentlich auf Arbeiten von Donna Haraway zurückgehenden Leitbegriff „NaturenKulturen“ (Haraway 2003; vgl. Malone, Ovenden 2017; Gesing et al. 2018) stark theoretisch-philosophisch geprägte Ansätze mit häufig kulturanthropologi3 Vgl. z. B. zur Analyse von Mülldebatten Keller ([1998]/2009), zur ökologischen Kommunikation Brand et al. (1997), zu Umweltmentalitäten Poferl (2004), zu Kunststoffrecycling Brand et al. (2002), zur Nachhaltigkeit Brand (1997, 2002) und Keller (1996, 1999, 2011); zu Einflüssen feministischer Kritik z. B. Nebelung et al. (2001).

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schem bzw. ethnologischem Hintergrund. Sie speisen sich unter anderem aus der Wissenschafts- und Technikforschung – hier insbesondere aus der im französischen Kontext um Bruno Latour (1998) entstandenen Akteur-Netzwerk-Theorie, die gerade von Latour seit längerem mit Fragen des Klimawandels und der ökologischen Krise verbunden wird. Wichtige Einflüsse kommen auch von der feministischen Technikforschung und -kritik und weiteren, vor allem philosophischen Strömungen (insbes. Arbeiten des „New Materialism“) mit vergleichsweise radikalem Gestus. Insgesamt sind diese Entwicklungen (abgesehen von der breiten Rezeption der „Science & Technology Studies“ im Umkreis von Latour) in den Sozialwissenschaften eher randständig. Auffällig ist zudem, dass insbesondere die Ansätze des New Materialism nicht über gesellschaftsbezogene Strukturierungsmodelle und Institutionenanalysen verfügen. Zudem nehmen sie das, was in den letzten 40 Jahren sozialwissenschaftlich zum Thema gesellschaftlicher Naturverhältnisse erarbeitet wurde, kaum zur Kenntnis. Alles in allem besteht ein breites soziologisches Wissen über gesellschaftliche Umweltkonflikte, ökologische Krisen, Risikodiskurse, demokratische Partizipation, Strategien und Hemmnisse der Ökologisierung von Organisationen und Handlungsfeldern u. a. mehr. Schon für scheinbar sehr spezifische Handlungsfelder ist die Vielzahl von Untersuchungen kaum überschaubar. Dies gilt umso stärker, wie die Themen und Fragestellungen allgemeiner werden. So ist die Klimapolitik bzw. der Klimawandel das vielleicht am häufigsten untersuchte Diskussions- und Handlungsfeld weltweit. Und es ist inzwischen unmöglich, den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand zum Thema „Energiewende“ zusammenzutragen. Ein spezifisches und gleichwohl zentrales Problem einer solchen Debattenlage besteht im weitgehenden Fehlen oder Verzicht auf „systematische Wissensakkumulation“ oder „Wissensreflexion“. Wo Förderpolitiken stark fallorientiert angelegt sind, führt das eben auch zu immer wieder neu ansetzenden Untersuchungen. Ausnahmen finden sich für einzelne Perspektiven, etwa die sozialwissenschaftliche Umwelt- und Risikodiskursforschung, die sowohl Veränderungen gesellschaftlicher Akteurskonstellationen, Handlungsarenen und Wissensbestände beschreibt, wie auch das permanente Scheitern sog. „Partizipationsverfahren“, bzw. zumindest deren wiederkehrende Abkoppelung von politischen Entscheidungsarenen und die bestehenden Diskrepanzen zwischen „grünen“ Diskurspolitiken aller gesellschaftlich relevanten Kollektivakteure und ihrem organisationalen Prozessieren (vgl. Feindt, Saretzki 2010; Keller 2011; Keller, Poferl 2000; Keller, Poferl 2011; Leipold et al. 2019). Insoweit wäre hier, also bezogen auf die gesellschaftlichen Institutionen und ihre Organisationsformen, am ehesten die öffentlich viel beklagte Diskrepanz zwischen „Umweltbewusstsein“ und „Umwelthandeln“ festzuhalten, die üblicherweise den Bürgerinnen und Bürgern vorgeworfen wird. Zu den zentralen Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Umwelt-

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forschung kann auch die Kritik am Konzept des „Umweltbewusstseins“ gezählt werden, wie sie früh Angelika Poferl (2004; vgl. auch Poferl et al. 1997) formuliert hat. So wird seit langem in regelmäßigen Abständen das „Umweltbewusstsein“ der Bürgerinnen und Bürger erhoben und an Indikatoren ihres Verhaltens „gemessen“. Regelmäßig konstatieren solche Untersuchungen dann Defizite im Alltagshandeln. Dabei handelt es sich jedoch um ein sozialwissenschaftlich lange aus anderen Forschungsgebieten bekanntes Artefakt der fragebogenbasierten Erhebungsdesigns. Letzteres kann die komplexe soziale, räumliche und zeitliche Situiertheit bzw. Multidimensionalität alltäglicher Lebensführung und darin statthabender Entscheidungsprozesse nicht abbilden (vgl. bspw. Poferl, Keller 1994; Poferl 2017).

Diskurse, Definitionsmachtverhältnisse, Wissenspolitiken Bereits frühzeitig hatte Ulrich Beck (1988, [1999]2007) im Rahmen seiner Diagnose der „Weltrisikogesellschaft“ – ein Konzept, das heute angesichts der Coronakrise aktueller erscheint als je zuvor – und der Theorie reflexiver Modernisierung die Begriffe der „Definitionsmachtverhältnisse“ und der „Subpolitik“ vorgeschlagen. Das lässt sich als Aufruf zu einer Wissens- und Diskurssoziologie ökologischer Konflikte lesen. Beck wandte sich damit gegen den Gegensatz von Realismus und Konstruktivismus und insistierte auf den tatsächlichen unauflösbaren Verwicklungen beider Pole. Er betonte, dass die Wirklichkeit von Schädigungen und Gefährdungen und damit die Realität der Gefahren besteht, und zugleich vom Konstruktcharakter bzw. der unhintergehbaren Wissensabhängigkeit der Risiko- und Gefährdungswahrnehmung auszugehen ist, einschließlich der sich daraus entfaltenden Konflikt- und Wandlungspotenziale. Beispiele dafür wären etwa die Ermittlung und Festlegung von Grenzwerten für Schadensbelastungen, die Abschätzung von „Risiken“ für „Leib und Leben“ oder für Ökosysteme – bis hin zu den Verhaltensanweisungen in Zeiten einer globalen Pandemie. Beck begreift solche Wissensproduktionen als „subpolitisches Handeln“, d. h. als in der Regel nicht durch demokratische Partizipation organisierte und legitimierte Handlungsfelder mit gleichwohl gesellschaftlich weitreichenden Effekten. Damit kommen die ganz unterschiedlich verteilten Ressourcen der Wissenserzeugung und -behauptung sowie der Einflussnahme auf politische Gestaltungsprozesse in den Blick, entlang derer konflikthafte gesellschaftliche Naturverhältnisse prozessieren. Die Forschungen, in denen diese Fragen in der Folge am stärksten verfolgt werden, lassen sich als „diskursanalytische“ Studien begreifen, wie sie vor allem in der Politikwissenschaft und der Soziologie beheimatet sind. Ein Beispiel dafür liefert die vom Autor in den 1990er Jahren durchgeführte vergleichende Unter-

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suchung öffentlicher Debatten über das „Müllproblem“ und daraus resultierende politische Regulierungen in Deutschland und Frankreich. Aus heutiger Sicht ist hier nicht nur interessant, dass bereits zu Beginn der 1970er Jahre in beiden Ländern von Experten aus Wissenschaft und staatlicher Administration andere Produktkonzeptionen (Reparatur- statt Wegwerfprinzip) oder das Verbot von Plastikeinwegflaschen und -verpackungen (unter Hinweis auf die dadurch bevorstehende Plastifizierung und Vermüllung des Planeten) gefordert wurden. Interessant ist vielmehr auch, wie Mitte der 1990er Jahre von den Regierungen beider Länder behauptet wird, nunmehr sei die Zeit der „Kreislaufwirtschaft“ erreicht und das Müllproblem abschließend „besiegt“ (vgl. Keller [1998]2009; vgl. zum „Sauren Regen“ bspw. Hajer 1995; zur Gentechnik Gill 2003). Sozialwissenschaftliche Diskursforschung kann in diesem Sinne als ein Hilfsmittel gegen institutionalisiertes (gesellschaftliches) Vergessen begriffen werden. Dabei gilt es, zwei Missverständnissen vorzubeugen. Erstens ist häufig unklar, in welchem Sinne von „Diskurs“ bzw. „Diskursen“ gesprochen wird. So orientiert sich die sozialwissenschaftliche Diskursforschung überwiegend an Diskursbegriffen, die an Michel Foucault oder an die US-amerikanische, pragmatistisch orientierte Soziologie öffentlicher Debatten bzw. „public discourses“ anschließen. Gerade im deutschsprachigen (politikwissenschaftlichen) Kontext steht dem jedoch das von Jürgen Habermas entwickelte normative Konzept der Diskursethik gegenüber. Darin bezeichnet „Diskurs“ ein spezifisches organisatorisches Setting, innerhalb dessen sich aufgrund spezifischer Verfahrensmaßnahmen der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ entfalten soll. Dieser normativ formatierte Diskursbegriff kann zur Kritik tatsächlicher Diskussionsprozesse und Kontroversen herangezogen werden. Überwiegend wird dies aus Sicht der Diskursforschung jedoch als sehr spezifische Ausnahmesituation gesehen – tatsächliche Problematisierungen gesellschaftlicher Sachverhalte müssen dagegen bspw. in der Tradition Foucaults als Machtkämpfe verstanden werden, in denen die Logik argumentativer Schlüsse eine sehr begrenzte Rolle spielt. Diese Feststellung berührt auch das zweite Missverständnis. Wichtige Teile der soziologischen und politikwissenschaftlichen Risikoforschung beschäftigen sich mit Fragen der gesellschaftlichen, bspw. medialen Risikokommunikation und -wahrnehmung. Sie weisen darauf hin, dass wir uns „vor dem Falschen fürchten“ (Renn 2014). Hier liefert das angenommene Wissens- bzw. Rationalitätsgefälle zwischen „ausgewiesener ExpertInnenrationalität“ einerseits, und der „Irrationalität der Laienwahrnehmungen“ den Maßstab der Beurteilung. Dabei bleibt freilich unbeachtet, dass nicht nur Laien durchaus Expertisen erwerben, sondern sich auch ExpertInnen häufig uneins sind – ja, dass der „Konflikt der Expertisen“ in gewissem Sinne zum Normalzustand gesellschaftlicher Handlungsfelder und Problematisierungsprozesse geworden ist.

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Was sind nun demgegenüber die Ansatzpunkte einer auf Umwelt- und Risikothemen bezogenen Diskursforschung? Umweltdiskursforschung entfaltet sich in Überschneidungszonen zwischen Soziologie, Politikwissenschaft, Medienund Kommunikationswissenschaft und Sprachwissenschaft. Die Analyse von „Umweltdiskursen“ zielt auf verschiedene Ebenen der gesellschaftlich-diskursiven Konstruktion der Umwelt-Wirklichkeit. Sie nimmt dort die konfliktreichen Prozesse der diskursiven Strukturierung von gesellschaftlichen Naturverhältnissen, Umweltproblemen und Gestaltungsmodellen durch Sprache, Bedeutungs- und Wissensproduktion in und zwischen unterschiedlichen sozialen Arenen und AkteurInnen in den Blick (vgl. Keller, Poferl 2011; Leipold et al. 2019). In der nachfolgend vorgestellten Fallstudie kommt insbesondere die vom Autor entwickelte Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) zum Einsatz (Keller [2005]2011; vgl. auch Keller et al. 2018). Sie wurde aus der bereits erwähnten Studie zu Mülldebatten heraus entfaltet und verbindet Konzepte von Michel Foucault mit der Tradition der Wissenssoziologie und dem US-amerikanischen interpretativen Paradigma sowie mit den bereits erwähnten Überlegungen von Ulrich Beck zur Analyse von Definitions(macht)verhältnissen bzw. allgemeinen Wissensverhältnissen. Die WDA formuliert eine wissenssoziologisch und diskursanalytisch ausgerichtete Perspektive zur Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken, die Akteure, Formen, Prozesse und Folgen gesellschaftlicher Wissenskonflikte in den Blick nimmt. Als Wissensverhältnisse werden die gesellschaftlich bestehenden Gefüge der Wissensproduktion und Evidenzgrundlegung bezeichnet, welche die institutionell-organisatorischen Grundlagen für die Diskursbeteiligung sozialer Akteure darstellen. Das schließt unterschiedliche Ressourcenverfügungen sowie den Rückgriff auf unterschiedlichste Quellen der Legitimation (wie wissenschaftliches Wissen, Wertbezüge, Moralvorstellungen, Glaubensformen) ein. Der Begriff der Wissenspolitiken bezeichnet alle Formen der diskursiven Intervention sozialer Akteure in bestehende Wissensverhältnisse, sei es im Hinblick auf deren Stabilisierung oder ihre Veränderung. Wissenspolitiken beinhalten bspw. Formen der Generierung von Faktenwissen, der Festlegung von Bewertungsmaßstäben, des „Blackboxing“ (Bruno Latour)4 im Sinne der Öffnung oder Schließung von ‚Faktizitäten‘ und Handlungsfeldern, der Re-Justierung und Verflechtung von Normativem und Faktischem. Insofern erweitert die WDA die 4 „Blackboxen (blackboxing): Mit diesem Ausdruck aus der Wissenschaftssoziologie ist das Unsichtbarmachen wissenschaftlicher und technischer Arbeit durch ihren eigenen Erfolg gemeint. Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht, braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität. Daher das Paradox: Je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie.“ (Latour 2002:373)

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in der bisherigen Diskussion zu Wissenspolitiken entwickelten, primär auf die Regulierung wissenschaftlichen Wissens abzielenden Konzepte um eine diskursanalytische Perspektive.

Zur „Risiko-Wirklichkeit“ von „Hydraulic Fracturing“ in Deutschland, Frankreich und Polen Die WDA begreift Diskurse als zusammenhängende Aussagepraktiken, welche die spezifische „Wirklichkeit“ eines Phänomens bzw. Sachverhaltes konstituieren. Das schließt institutionell-organisatorische und inhaltliche Dimensionen von Diskursbeiträgen ein, etwa die konkreten Orte und Arenen, an und in denen Akteure ihre Beiträge formulieren, die Relationierungen und Positionierungen solcher Akteure im Diskursprozess, ihre Verfügung über Ressourcen der Erzeugung, Qualifizierung und Verbreitung von Wissen, die Verknüpfung von Faktizität und Normativität in den Auseinandersetzungen, die Rolle spezifischer Ereignisse für die Diskursdynamiken u. a. mehr. Im Bereich der Umwelt- und Risikoforschung findet sie am Lehrstuhl des Autors gegenwärtig Anwendung in mehreren Forschungsprojekten.5 Nachfolgend sollen einige Ergebnisse unserer diskursanalytischen Forschungen zu Fracking in Deutschland, Frankreich und Polen vorgestellt werden.

Fracking in Deutschland, Frankreich und Polen „Fracking“ (als populäre Kurzform für „Hydraulic Fracturing“) bezeichnet allgemein ein technisches Verfahren, das grundsätzlich bei allen bergbaulichen Aktivitäten mit dem Ziel eingesetzt werden kann, schwer zugängliche Ressourcenvorkommen zu erschließen. Im Rahmen der Förderung von Erdgas und Erdöl bedeutet dies, dass nach einer vertikalen und horizontalen Bohrung ein Gemisch aus Sand, Wasser und Chemikalien unter hohem Druck in die Bohrschächte gepresst wird, um so die umliegenden Gesteinsschichten aufzubrechen und letztlich durchlässig (permeabel) zu machen, sodass die in den Gesteinsporen eingeschlossenen Vorkommen gefördert werden können (vgl. Zittel 2016:37–46). Hydraulic Fracturing wird bereits seit Ende der 1940er Jahre im Rahmen der kommerziellen Erdgasförderung angewandt. Insbesondere der etwa um die Mitte der 2000er Jahre einsetzende Schiefergasboom in den USA hat zur jüngeren 5 Ein laufendes DFG/ANR-finanziertes Projekt in Kooperation mit Francis Chateauraynaud (EHESS, Paris) untersucht die Dynamiken der Debatten und Maßnahmen zur Energiewende in Deutschland und Frankreich seit den 1970er Jahren.

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Popularisierung und auch zu zunehmend kontroversen Diskussionen über die Technologie beigetragen. Im letzten Jahrzehnt wurde das Land zum größten Schiefergasproduzenten der Welt. Auch und vor allem in Europa wurde der Technologie und der Energiequelle eine große Zukunft vorhergesagt (vgl. Cantoni et al. 2018). Die auf Hydraulic Fracturing bezogenen gesellschaftlichen Debatten thematisieren insbesondere potenzielle umwelt- und gesundheitsbezogene Gefährdungen; diese werden vor allem von zivilgesellschaftlichen Akteuren artikuliert. Im Fokus stehen die im Rahmen des Fracking-Verfahrens eingesetzten Chemikalien und deren Verbleib im Untergrund, mögliche Rückstände im Grundwasser, oberflächennahe Verschmutzungen und Vergiftungen, Wasserverbrauch, konkurrierende Bodennutzungen, Umweltbelastungen durch den Infrastrukturaufbau und Transporte, Lärmbelästigungen und ggf. seismische Effekte Dem stehen Versicherungen der Unternehmen gegenüber, die behaupten, über ausreichend Erfahrung und technisches Know-how zu verfügen sowie Stoffe einzusetzen, die jegliche Schadensfolge vermeiden, es sei denn, es werde grob fahrlässig gebohrt – für solche nicht gänzlich auszuschließenden Einzelfälle bestünden aber ausreichend Haftungsgrundlagen. Die öffentlichen Kontroversen um Hydraulic Fracturing sind Ausdruck komplexer Konstellationen von Befürwortern und Gegnern, von Expertisen und Gegenexpertisen. Prinzipiell bestehen dabei überall vergleichbare strukturelle Interessenlagen: Unternehmen interessieren sich für die Gewinnpotenziale der Technologie, Regierungen für die dadurch versprochenen Lösungen von Energieversorgungsproblemen im Rahmen des Umbaus der Energiesysteme. Gegner des Verfahrens betonten unabsehbare ökologische und regionalwirtschaftliche Schäden. Dennoch resultieren daraus sehr unterschiedliche gesellschaftliche Umgangsweisen, sodass wir davon ausgehen, dass Nationalstaaten im Hinblick auf die Bewertung und Regulierung von Fracking nach wie vor wirksame Referenzsysteme bilden. Wir untersuchen sie deswegen in vergleichender Perspektive in den drei Ländern Deutschland, Frankreich und Polen. Hauptsächliche Datenformate der Untersuchung sind die jeweiligen Medienberichterstattungen sowie wissenschaftliche und politisch-administrative Berichte. Hinzu kommen ExpertInneninterviews. Frankreich gilt als technologiepolitisch optimistisches Land, in dem Risikokonflikte eine geringe Rolle spielen. Dennoch wird gerade hier das Risikopotenzial von Fracking zum Anlass sehr früher politischer Interventionen, welche zu einer gesetzlich verordneten Aussetzung der Technologienutzung geführt haben. Insoweit ist zu fragen, ob und inwiefern in der Auseinandersetzung um Fracking eine neue Entwicklung sichtbar wird und welche Rolle dabei die institutionellen und ökonomischen Strukturierungen für den Wandel des gesellschaftlichen Energiesystems spielen. Die Kontroverse um Hydraulic Fracturing

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entzündete sich Ende 2010 zunächst in Form von regionalen Protesten in Südfrankreich. Kritisiert wurden vor allem die fehlende Transparenz bei der Vergabe von Bohrgenehmigungen sowie ökologische Risiken und die damit einhergehende Gefährdung der Klimaziele (Etchanchu 2014). Infolgedessen entstanden landesweit einflussreiche Bürgerbewegungen (z. B. collectif 07), die ein Verbot der Technologie forderten. Im Juli 2011 wurde das sog. ‚Jacob-Gesetz‘ verabschiedet, das die unkonventionelle Förderung von Schiefergas bzw. -öl landesweit verbietet (Assemblée Nationale 2011a). Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit betont, das aus dem Napoleonischen Zeitalter stammende Bergrecht („code minier“) zu überarbeiten, da es eine Einigung in der Fracking-Debatte erschwere. Im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen 2012 wurde die Energiewende zum Thema; Vertreter der Industrie forderten in einem offenen Brief an die Regierung, die Debatte um die Schiefergasförderung erneut zu öffnen (De Jaegher 2012). Thematisiert werden neben ökologischen Risiken auch Fragen der Wettbewerbsfähigkeit und der Unabhängigkeit der nationalen Gasversorgung. Im November 2013 wurde ein von der OPECST (Office parlamentaire d’évaluation des choix scientifiques et techniques) erstelltes Gutachten verabschiedet, das u. a. die Nutzung von Schiefergasressourcen zur Finanzierung der Energiewende hervorhebt. Auf nationaler Ebene plant die gegenwärtige französische Regierung, die Energiewende ohne Fracking voranzutreiben. Zuletzt wurde im Dezember 2017 das vom damaligen Umweltminister Nicolas Hulot initiierte ‚Hulot-Gesetz‘ verabschiedet, in dem perspektivisch bis 2040 die Förderung sämtlicher fossilen Ressourcen in Frankreich beendet werden soll. Auch die Nutzung von Atomenergie soll um 50 % reduziert werden; konkrete Maßnahmen zum Ausbau alternativer Energien zur Aufrechterhaltung der Energieversorgung fehlen jedoch (Assemblée Nationale 2017). Deutschland ist als Vergleichsfall interessant, weil Fracking von seinen Befürwortern im Diskurs um die Energiewende im Spannungsfeld von ökologischer und ökonomischer Relevanz positioniert wird (vgl. Schreurs 2018). Dem steht eine wohletablierte Kritikkultur von Risikotechnologien gegenüber, die in jüngster Zeit gerade auch Technologien zur Förderung erneuerbarer Energien umfasst (Mautz, Rosenbaum 2011). In Deutschland begann die Kontroverse etwa Mitte des Jahres 2010. Mit Blick auf die geplante Energiewende betrachten Befürworter die Schiefergasförderung aufgrund ihrer günstigen Klimabilanz als Brückentechnologie. Zudem wird ihr Beitrag zur Versorgungssicherheit sowie zur Unabhängigkeit von Gasimporten bspw. aus Russland hervorgehoben. Kritiker betonen potenzielle Verunreinigungen des Grundwassers durch „FracFluide“, Klimaschädigungen durch im Bohrprozess freigesetztes Methan sowie die Bedrohung biologischer Vielfalt (Schreurs 2018). Seit 2010 entstehen zahlreiche kritische Bürgerinitiativen. Deswegen initiierte der Konzern ExxonMobil im August 2012 einen Infodialog Fracking, der als Partizipationsverfahren

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konzipiert war, in dessen Rahmen geäußerte Bedenken beseitigt werden sollten. In diesem Kontext entstand die „Risikostudie Fracking“ (Ewen et al. 2012), in der die Schiefergasförderung als beherrschbares Verfahren dargestellt wird. Nach einer langen Diskussion über eine Anpassung des bergrechtlichen Regulierungsrahmens an die Spezifika des Fracking-Verfahrens trat am 11. Februar 2017 das zunächst bis 2021 gültige sogenannte Regelungspaket Fracking in Kraft, das eine kommerzielle Anwendung der Technik im Rahmen der Schiefergasförderung verbietet und zu wissenschaftlichen Zwecken vier von einer Expertenkommission begleitete Probebohrungen erlaubt, in deren Rahmen Erkenntnisse über mögliche Umweltauswirkungen des Fracking-Einsatzes gewonnen werden sollen (Fleming 2017). In Polen wird die Auseinandersetzung um das Verfahren vor dem Hintergrund der Debatten um Energiesouveränität und Energiesicherheit geführt. Polens starke Energieabhängigkeit von Kohle und Gasimporten aus Russland sowie die wiederholte Aufforderung der Europäischen Kommission, die Treibhausemissionen zu reduzieren, erzeugten einen Handlungsdruck auf die polnische Regierung zur Diversifikation der eigenen Energiequellen. Der frühe US-amerikanisch-polnische Wissensaustausch hinsichtlich potenzieller Schiefergasressourcen und technisch-verfügbarer Fördermöglichkeiten sowie die schnellen Lizenzvergaben der polnischen Regierung für investierende Energieunternehmen führten zu einem beschleunigten Explorationsprozess, bei dem bereits am Anfang der sich abzeichnenden europäischen Debatte im Jahr 2010 erste Testbohrungen in Nordpolen erfolgten. Die überregionale Mediendebatte konzentrierte sich hauptsächlich auf positive Aspekte der Schiefergasexploration wie die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und die verstärkte Energieautonomie gegenüber Russland (vgl. Stasik 2019:164–172; Wagner 2015,2016). Diese sogenannte „Schiefergas-Euphorie“ (Wyciszkiewicz et al. 2011) schlug sich auch in Bevölkerungsumfragen nieder, die eine hohe Zustimmung gegenüber den Förderaktivitäten von Schiefergas aufwiesen (CBOS 2011; vgl. Lis, Stankiewicz 2017). Erst im Verlauf der Debatte zeigten sich auf regionaler Ebene kritische Stimmen, die Umweltrisiken des Einsatzes von Hydraulic Fracturing in den Fokus nahmen.6 Die eigentliche Schließung der Schiefergasdebatte nach 2014 wird jedoch weniger auf die zivilgesellschaftlichen Proteste zurückgeführt als auf den Umstand, dass immer mehr Energieunternehmen ihre Explorationstätigkeiten aufgrund erschwerter geologischer Bedingungen, unklarer regulatorischer Verfahren und dem Rückgang der Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt einstellten (vgl. Cantoni 2018; Cantoni et al. 2018). 6 Hier sind insbesondere die Protestaktivitäten in Z˙urawlów in Südostpolen zu nennen, die eine große Mobilisierung gegen die Explorationsaktivitäten des Unternehmens Chevron erreicht haben.

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Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken: Zur Herstellung spezifischer „Wirklichkeiten“ von Fracking Die durchgeführte wissenssoziologische Diskursanalyse der Fracking-Konflikte richtet sich auf die Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken, mittels derer das Phänomen „Fracking“ in den ausgewählten Ländern konstituiert wird. Sie nimmt dazu einige Erweiterungen der Forschungen zu Risikodiskursen vor. In theoretisch-konzeptioneller Hinsicht erfolgt dies durch eine Integration von Überlegungen aus der Theorie der Rechtfertigungsordnungen, der Soziologie der Kontroversen und der Soziologie der „civic epistemologies“. Damit erst kommen die komplexen Formen und Prozesse des Prüfens und Bewertens der „Faktizität“ von Sachlagen in Risikokonflikten – wir sprechen hier von ökologischen Rechtfertigungsordnungen – angemessen in den Blick. Ländervergleichend geht es um die Rekonstruktion der Arten und Weisen, in denen strukturell ähnliche Rahmenbedingungen unterschiedliche Formen der situierten und damit divergierenden Prozessierung ökologischer Rechtfertigungsordnungen hervorbringen. Insofern erscheinen diese Konflikte als paradigmatisch für eine gegenwärtige Verschiebung bzw. Transformation der gesellschaftlichen Einbettung von Risikokonflikten, die sozialwissenschaftlich nicht angemessen verstanden werden kann, wenn sie nur (wie im Rahmen bisheriger Forschung) auf die Rekonstruktion von Pro/Contra-Frames reduziert wird. Unser Verständnis von „Wissen“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Verfahren, Formen und Ergebnisse der Produktion von Aussagen über Potenziale und Gefahren der Fracking-Technologie, auf deren Prüfung und Abwägung, die Rolle von Ereignissen, Zeithorizonten und Gütekriterien für nachvollziehbare oder anzuerkennende ‚Evidenzen‘, die Bestimmungen von Wissen/Nicht-Wissen, Sicherheit/ Unsicherheit, zugrunde gelegte Prognosen und wünschenswerte oder zu vermeidende Zukunftsszenarien. Im Zentrum unserer Untersuchung steht die Frage, wie die Wissensansprüche in Bezug auf Sicherheit bzw. Unsicherheit – kurz: die Risikoqualität dieses Technologieeinsatzes in den verschiedenen Anwendungskontexten und -situationen – formatiert, geprüft und bewertet werden, sofern sie überhaupt eine Rolle spielen. Dazu werden die Auseinandersetzungen um Fracking als diskursive Ereignisse in den Blick genommen. Insoweit liefern die WDA und die darin vorgenommene Fokussierung der Diskursforschung auf Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken den allgemeinen theoretisch-analytischen Rahmen. Die spezifische Frage nach dem Umgang, der Prüfung und Bewertung von „Wissen“ bedarf jedoch weiterer theoretischer Präzisierung und begrifflicher Klärung. Die dazu notwendige theoretische Weiterführung der Risikodiskursforschung wird durch Anschlüsse an drei aktuelle Theoriekonzepte geleistet. Dabei handelt es sich erstens um die von Luc Boltanski und Laurent Thévenot entwickelte So-

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ziologie der Rechtfertigung und Kritik (Boltanski, Thévenot 2007), zweitens um die daraus hervorgegangene und zugleich davon abgesetzte pragmatistische Soziologie der Kontroversen bzw. „soziologische Ballistik“ (Chateauraynaud 2011) und drittens um das von Sheila Jasanoff (2005) vorgeschlagene Konzept der „civic epistemology“. Thévenot und Lafaye (1993) diskutieren schon früh die Möglichkeit einer „ökologischen Rechtfertigungsordnung“ („cité verte“ oder „cité écologique“). Eine solche „cité écologique“ setzt eine Hierarchisierung von Werten, bei der die „Größe“ eines Objektes (z. B. sauberes Wasser, Klima oder Luft), einer Person oder eines Phänomens nach dem Beitrag zur Erhaltung der ‚natürlichen Lebensgrundlagen‘ bemessen wird. Unsere diesbezügliche Beobachtung lautet, dass eine (oder mehrere) solche(r) Ordnung(en) derzeit im Entstehen begriffen, also umstritten und nicht konsistent etabliert ist bzw. sind. Im Anschluss an diese Überlegungen lassen sich Bezüge auf ökologische Rechtfertigungsordnungen in Fracking-Diskursen als Versuche betrachten, partikulare bzw. lokale Wissensansprüche sowie Evidenzbehauptungen und Problemdefinitionen unter Bezug auf generalisierbare normative Orientierungsmuster ins Allgemeingültige zu wenden und einen Bewertungshorizont für Risikowissen bzw. Entscheidungen im Spannungsverhältnis von ‚Sicherheit und Gefährdung‘ bzw. ‚Wissen und Nichtwissen‘ zu etablieren. Denkbar sind auch Kompromisse zwischen unterschiedlichen Ordnungen, welche die Verschränkung sehr unterschiedlicher Bewertungsraster implizieren. Beobachtbar wird damit die derzeitige gesellschaftliche Arbeit an der Etablierung, Spezifizierung oder auch Aufhebung entsprechender „cités écologiques“. Die Soziologie der Kontroversen (Chateauraynaud 2011) entwickelte unter dem Begriff der „soziologischen Ballistik“ anhand der Analyse von Risikokonflikten in Frankreich (etwa zur Auseinandersetzung über Gefahren des Asbests oder genetisch veränderte Organismen) verallgemeinernde Überlegungen zur Verlaufskurve und Phasenaufteilung von Risikodiskursen. In solchen Phasen lassen sich jeweils veränderte Argumentationsmuster rekonstruieren, die sich auf den „Wert“ von Akteuren, Wissensbeständen, Beweisen, Verfahren usw. beziehen. Sie gewinnen ihren Stellenwert durch die spezifische Position, die sie in der Verlaufskurve einer Auseinandersetzung einnehmen. Die Untersuchung der Fracking-Konflikte impliziert auf der Ebene der Diskursanalyse eine sorgfältige zeitliche bzw. verlaufskurvenorientierte Kontextualisierung der Prüfung und Bewertung von Wissen und Nichtwissen. So wird es möglich, den Stellenwert von Argumentationen, Evidenzbehauptungen oder Wissensansprüchen nicht statisch, sondern als abhängig von ihrer Situierung zu analysieren und damit die diskursive Prozessierung der Rechtfertigungsordnungen in den Blick zu nehmen. Das dritte Schlüsselkonzept bildet der Begriff der „civic epistemologies“, welcher auf „the institutionalized practices by which members of a given society

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test and deploy knowledge claims used as a basis for making collective choices“ (Jasanoff 2005:255) verweist. Damit lassen sich die Arten und Weisen der institutionellen und zivilgesellschaftlichen Einbettung und Bewertung der wissenschaftlichen, rechtlichen und politischen Evidenzbildungen erfassen, die in den Auseinandersetzungen zu Fracking in Erscheinung treten. Entwickelt wurde das Konzept im Rahmen von Jasanoffs (2005) vergleichender Analyse der Kontroversen um die staatliche Regulierung von Biotechnologien in Deutschland, Großbritannien und den USA. Im Rekurs auf die „Social Studies of Sciences & Technology“ betont es die Idee, dass die Evaluation auch der Geltungsansprüche wissenschaftlichen Wissens aus kulturell-gesellschaftlichen Einbettungen und diskursiven Prozessierungen heraus erfolgt. Allerdings wird das Konzept bislang eher großformatig-diagnostisch eingesetzt und aus mehreren Dimensionen aggregiert. Eine dezidiert diskursanalytische Perspektive erlaubt im Unterschied dazu die Beobachtung von civic epistemologies in ihrem empirischen Prozessieren. Konkrete Wissenspolitik erscheint damit als eine differenzierte soziale Praxis der Rechtfertigung, Legitimierung und Kritik von Wissensansprüchen, die in ein komplexes, mehrdimensionales Arrangement diskursiver, institutioneller, politischer und kultureller Verfahren der Wissensproduktion und Evidenzerzeugung eingebunden ist. Die erwähnten Konzepte liefern der allgemeineren Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse eine gegenstandsbezogen wichtige und notwendige theoretisch-konzeptionelle Präzisierung und zugleich ein Analyseraster: Wie sehen die je spezifischen Modalitäten und Verfahren der Prüfung und Qualifizierung von Wissen, der Anerkennung von „gültigem“ und der Ablehnung von „illegitimem“ Wissen, der Verbindung von Faktenwissen und normativen Bewertungen sowie der rechtlichen Regularien im Kontext der Konflikte um Hydraulic Fracturing aus? Wie unterscheiden sie sich? Und mit welchen Folgen? Die vorgenommene empirische Analyse der Fracking-Diskurse und -Konflikte hat damit folgende Fragestellungen: (1) Wie wird Fracking jeweils auf nationaler öffentlich-politischer Ebene und in den konkreten regionalen Konflikten thematisiert, welche Konsens- oder Konfliktkonstellationen entstehen und welche diskursiven Verlaufsformen bzw. Dynamiken der Auseinandersetzung sind feststellbar? (2) Welche Formen des Wissens spielen in den Auseinandersetzungen eine Rolle und wie sind diese in den jeweiligen institutionellen Verfahren und öffentlichen Konflikten zueinander in Bezug gesetzt? (3) Wie werden Wertrelationen zwischen den Wissensbeständen und Wissensansprüchen hergestellt? Was wird als ‚gültig‘, ‚evident‘ oder ‚unhaltbar‘ definiert? Welche Prüfverfahren, Bewertungskriterien und Rechtfertigungsordnungen liegen diesen Einschätzungen zugrunde? Welche Kompromisse oder

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Unvereinbarkeiten zwischen Rechtfertigungsordnungen können beobachtet werden? (4) Lassen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen im Umgang mit vergleichbaren Wissenslagen feststellen, und was sind die jeweilig dafür ursächlichen Faktoren? (5) Welche Verfahren der Erzeugung und Rechtfertigung, der Kritik und der Prüfung des Wissens kommen zum Einsatz und wie lassen sich diese beschreiben? (6) Im Rahmen welcher (nationaler, ggf. auch regionaler) Diskurskontexte ist Fracking als Technologie verortet und welche (unterschiedlichen) Bedeutungen werden ihr zugeschrieben? Inwiefern können Wechselwirkungen oder Entkoppelungen zwischen regionalen Konflikten und nationalen Diskursprozessen beobachtet werden? Wie sind deren Dynamiken angemessen zu verstehen und zu erklären? (7) Welche Deutungsfolien zu Sicherheit/Unsicherheit, ökologischen Rechtfertigungsordnungen u. a.m. kommen in den drei untersuchten Ländern im Hinblick auf Fracking und die damit assoziierten Folgen für Natur und Gesellschaft zum Einsatz? Wie ist deren Stellenwert im Länder- und Regionalvergleich einzuschätzen? Spielen spezifische Verbindungen zwischen den jeweiligen Diskursen und Konflikten eine Rolle oder handelt es sich um jeweils voneinander abgekoppelte Dynamiken? Wie können Unterschiedlichkeiten resp. Ähnlichkeiten der Dynamiken von Wissensverhältnissen und Wissenspolitiken erklärt werden?

Rationalitäten und Verfahren der Prüfung und Rechtfertigung, oder: Wofür ist Fracking ein Fall? Die erwähnten Prüfungen der Potentiale und Risiken des Einsatzes von Fracking zur Schiefergasförderung finden vor dem Hintergrund der weltweiten Abstimmungsprozesse um eine wirksame Klimapolitik sowie im Kontext breiter Diskussionen über die Nachhaltigkeit und Diversifizierung gesellschaftlicher Energieversorgungen und geopolitischer Strategien statt. Diese Prozesse sind nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene eng verknüpft mit dem Vorhaben einer gesamtgesellschaftlichen Transformation der Energiesysteme. In deren Rahmen wird eine enge technologiebezogene Debatte zunehmend um gesellschaftlich-kulturelle Faktoren erweitert. Derzeit wird das Verfahren allerdings in keinem der betreffenden Länder für die Erschließung von Schiefergasreserven eingesetzt. Das hat, wie die Untersuchung zeigt, einen gemeinsamen Grund, und jeweils auch spezifische Gründe. Den gemeinsamen Grund bilden die Preisbildungen bzw. Preisschwankungen auf dem Energiemarkt. Die

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Erschließung und Nutzung von Schiefergas ist zunächst sehr kostenintensiv. Sie erfordert hohe Investitionen in Anlagen und Vorratserkundungen, bevor die eigentliche Förderung anlaufen kann. Für Betreiberunternehmen sind solche Erkundungen und Förderungen dann interessant, wenn sie mit einer ausreichend hohen Gewinnerwartung und -realisierung einhergehen. Da es im Erschließungsprozess unweigerlich zu relativ hohen Ausgangskosten kommt, müssen bestimmte Mindestpreise auf den Energiemärkten erzielt werden können. Dort bestehen jedoch erhebliche Preisschwankungen, insbesondere durch den sich verändernden Rohölpreis. Schiefergasförderung lohnt sich ökonomisch erst dann, wenn der Rohölpreis relativ hoch ist – erst dann ist Schiefergas im Vergleich hinreichend günstiger und kann auf dem Energiemarkt im Verkauf Gewinne erzielen. Fällt der Rohölpreis unter eine bestimmte Marke, können entsprechende Verkäufe nicht gewinnbringend erfolgen. D. h. mit anderen Worten: Vergleichsweise hohe Rohölpreise schaffen Anreize, Schiefergas zu fördern; vergleichsweise niedrige Rohölpreise führen Unternehmen dazu, an anderer Stelle zu investieren. Dieser Zusammenhang gilt für alle Unternehmen und in allen Ländern, in denen Schiefergasförderungen stattfinden oder geplant waren bzw. sind. Allerdings hängen die konkreten Preisbildungen wiederum mit den Förderbedingungen zusammen, die sich beträchtlich unterscheiden können. Einige wenige Faktoren dieser Förderbedingungen sollen hier kurz erwähnt werden: Auf Seiten der Unternehmen bestehen Unterschiede im Hinblick auf das unternehmensintern verfügbare technologische Know-how zur Schiefergasförderung, die eingesetzten Chemikalien u. a. mehr. Auf der Seite der physischen Natur bestehen ganz unterschiedliche Lagerstättenbedingungen, nach Tiefe, Zugänglichkeit und erwartetem Fördervolumen der interessierenden Gesteinsschichten, im Hinblick auf Grundwasserlagen, Besiedlungsdichte, Transportwege u. a. mehr. Auf Seiten der politischen Institutionen und Entscheidungsgremien bestehen unterschiedliche Genehmigungsverfahren und -zuständigkeiten, bspw. Umweltverträglichkeitsprüfungen, Eigentumsrechte in Bezug auf die Nutzung von Bodenschätzen, Verwaltungsprozesse, steuerliche Behandlungen und dergleichen mehr. Hinzu kommen unterschiedlich gesehene Potenziale des Beitrages der Schiefergasförderung im Kampf gegen den Klimawandel. So handelt es sich bspw. in Frankreich relativ zur dominanten Nutzung von Kernenergie um einen vergleichsweise „schmutzigen“ Energieträger, der jedoch möglicherweise als nationale Ressource weniger abhängig von bestimmten Energieeinfuhren macht. Umgekehrt handelt es sich in Polen angesichts seiner hohen Kohlestromanteile um einen vergleichsweise saubereren Energieträger, der zudem im Land und für die europäischen Nachbarländer die Energieautonomie gegenüber Russland bzw. russischen Gaslieferungen stärkt. Bezogen auf verfügbare wissenschaftlichtechnische Expertisen bestehen Unterschiede in Erfahrungen und Wissen be-

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züglich der erwarteten chemisch-physikalischen Prozesse. Auf gesellschaftlicher Seite schließlich bestehen unterschiedliche Erwartungen im Hinblick auf Arbeitsplätze oder ökologische Standards bzw. Ausschlüsse von möglichen Gefährdungen sowie Motivationen zur politischen Mobilisierung pro oder contra Hydraulic Fracturing – Faktoren, die allesamt hohen Einfluss auf die Kosten des Verfahrens haben. In Deutschland wird die Auseinandersetzung um den Einsatz von Fracking vor allem als Risikodebatte um die zukünftige Ausgestaltung der gesellschaftlichen Energieversorgung und die damit potenziell verbundenen Umweltgefahren ausgetragen. Dabei spielen Risikoabschätzungen im Rahmen von Gutachten eine wesentliche Rolle. In Frankreich führen erste öffentliche Diskussionen und insbesondere aber regierungsamtliche Lizenzvergaben ohne Öffentlichkeitsbeteiligung zu einer starken und klassischen Konfliktlage zwischen Nationalstaat und lokalen bzw. departementalen Strukturen. Dieser Konflikt nimmt die Gestalt eines grundsätzlichen Partizipations- und Demokratiekonflikts an, der nachhaltig durch bereits bestehende ökologische Mobilisierungsstrukturen insbesondere im Süden Frankreichs und im Pariser Becken befeuert wird. Vor dem Hintergrund anstehender Wahlen und unklarer bis widersprüchlicher Interessen der nationalen Politik wird sehr schnell ein gesetzliches Verbot ausgesprochen, das bis heute Gültigkeit hat und Hydraulic Fracturing nicht zulässt. In Polen werden ganz im Gegenteil sehr schnell Lizenzierungen vergeben und es entsteht eine hohe öffentlich-politische Erwartung auf die Gewinnpotentiale der Schiefergasförderung. Eine Mischung aus „physikalischen Enttäuschungen“ (die tatsächlich erschließbaren Vorkommen sind sehr viel kleiner als zunächst angenommen), verfahrensbezogenen Enttäuschungen (Genehmigungen bzw. Verwaltungsvorgänge kommen nur schleppend voran) und monetären Enttäuschungen (angesichts sinkender Rohölpreise wird die Förderung unrentabel) führt dazu, dass sich Unternehmen aus der Förderung in Polen zurückziehen. Die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Prüfverfahren und die dabei zum Einsatz kommenden Rationalitäten der Rechtfertigung des Technologieeinsatzes lassen sich anhand der jeweiligen Rolle von Gutachten rekonstruieren. Das kann hier nur exemplarisch geschehen. Bei der Beauftragung und Anfertigung von Gutachten bzw. Expertisen handelt es sich um wissenspolitische Strategien, mittels derer gesellschaftliche Akteure in Problematisierungsprozesse intervenieren. Sie können als Form der Prüfung im Sinne der Soziologie der Rechtfertigungsordnungen verstanden werden. Üblicherweise werden sie in den Verlaufskurven von (ökologischen) Kontroversen dann herbeigerufen, wenn Entscheidungsprozesse einerseits nicht durch einfache Mehrheiten bearbeitet werden können, bzw. wenn Konfliktlagen eine „kritische“ Stärke erreicht haben und institutionelle Handlungsblockaden sowie Legitimitätsverluste drohen.

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Welche Funktion Gutachten dann übernehmen, was ihre konkrete Gestalt ist, und warum diese ist, wie sie ist: Das sind Fragen, die im Rahmen von „civic epistemologies“ entschieden werden – Welche Risiken werden bewertet? Wie werden die jeweils als relevant betrachteten Risiken bewertet? Auf welcher Wissensgrundlage erfolgt die jeweilige Bewertung? Nachfolgend wird die „Politik der Gutachten“ in jedem der drei Länder kurz näher beleuchtet und in einem abschließenden Fazit risikodiskursdiagnostisch eingeordnet.

Deutschland: Die „naturwissenschaftliche Versammlung dessen, was man prinzipiell (nicht) weiß“ Der mögliche Einsatz von Hydraulic Fracturing wird in Deutschland anlässlich von lokalen Protesten gegen Lizenzvergaben sehr schnell zu einem Streit der Expertisen, deren Fluchtpunkt die Bestimmung von Sicherheit und Kontrollierbarkeit bzw. prinzipieller Gefährdungsträchtigkeit der Technologie bildet. Dieser Streit bildet den Anlass für eine Reihe von Gutachten, die in den Jahren 2012 bis 2016 veröffentlicht wurden. Deren Fokus liegt auf einer Bewertung der mit Hydraulic Fracturing potenziell verbundenen Risiken (BGR 2016; Dannwolf et al. 2014; Ewen et al. 2012; Meiners et al. 2012a; Meiners et al. 2012b), auf einer Diskussion der Perspektiven des Fracking-Einsatzes für die Energiewende (SRU 2013) sowie auf Ressourcenabschätzungen (BGR 2012, 2016) und Best-PracticeEmpfehlungen für eine möglichst sichere und damit auch gesellschaftlich akzeptable Anwendung der Technik (Acatech 2015). Die folgenden Ausführungen befassen sich mit zwei der hier genannten Gutachten: Dabei handelt es sich erstens um die im Jahr 2012 vom Umweltbundesamt (UBA) herausgegebene, mit 469 Seiten7 sehr umfangreiche Studie Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsuchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionellen Lagerstätten. Risikobewertung, Handlungsempfehlungen und Evaluierung bestehender rechtlicher Regelungen und Verwaltungsstrukturen (Meiners et al. 2012b) sowie zweitens um die von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) veröffentlichte Expertise mit dem Titel Schieferöl und Schiefergas in Deutschland – Potenziale und Umweltaspekte (BGR 2016). Im Vergleich der drei Länderbeispiele liegt die Besonderheit dieser beiden Gutachten darin, dass es sich um dezidiert naturwissenschaftliche Expertisen auf der Grundlage des prinzipiell verfügbaren oder nicht verfügbaren 7 Im Vergleich der Gutachten aus den drei Ländern sind die in Deutschland angefertigten Expertisen besonders umfangreich. Das hängt mit ihren inhaltlichen Spezifika zusammen. Vergleichbare Unterschiede fanden sich bspw. auch bezüglich der Mülldebatten in Deutschland und Frankreich (Keller [1998]2009).

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naturwissenschaftlichen Wissens handelt, die auf eine evidenzbasierte Bewertung der auf das Grundwasser bezogenen Risiken des Fracking-Verfahrens abzielen. Dabei werden die zum Einsatz kommenden Chemikalien besonders berücksichtigt. Die Risikobewertung erfolgt ex ante, also bereits vor der Exploration und Gewinnung von Schiefergasvorkommen und kann damit als Teil des Vorsorgeprinzips betrachtet werden. Der Fokus der Risikoevaluation in der UBA-Studie (Meiners et al. 2012b) liegt auf der Bewertung der „wasserbezogenen Umweltauswirkungen und Risiken für Mensch und Umwelt“ (Kurzbeschreibung), die mit dem Fracking-Verfahren potenziell verbunden sind. Davon ausgehend nimmt das Gutachten eine Bewertung des Standes der Technik, des rechtlichen Rahmens sowie der mit Hydraulic Fracturing potenziell verbundenen Risiken vor und formuliert vor dem Hintergrund dieser drei Aspekte Handlungsempfehlungen für einen zukünftigen Umgang mit der Technik. Die Risikobewertung erfolgt auf der Grundlage von naturwissenschaftlichem und technischem Wissen durch ein Konsortium aus Naturwissenschaftlern mit den Schwerpunkten Hydrogeologie, Geochemie, Hydraulik, Ingenieursgeologie und Toxikologie. Ein besonderer Schwerpunkt bildet die Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Nichtwissen, indem das öffentlich zugängliche Wissen über die Gefahren der Technologie und den dabei zum Einsatz kommenden Chemikalien zusammengetragen und mit Blick auf bestehende Wissenslücken bzw. Nichtwissenskorridore systematisiert wird. Letztere betreffen etwa die Beschaffenheit der im Rahmen von Bohrungen anvisierten Geoformationen sowie insbesondere die Identität und die Mengen der beim Fracking zum Einsatz kommenden Chemikalien mitsamt der damit verbundenen ökologischen Kurz- und Langzeitauswirkungen (vgl. Meiners et al. 2012b:C71). Die Bewertung dieser Gefährdungspotenziale von Frack-Fluiden erfolgt über die Konstruktion von Maßstäben, die eine Klassifikation der eingesetzten Stoffe anhand ihrer Toxizität trotz bestehender Wissensunsicherheit ermöglichen sollen, sowie mithilfe numerischer Modellierungen. Insgesamt kommen die Verfasser zu der Schlussfolgerung, „dass zu einer fundierten Beurteilung dieser Risiken und zu deren technischer Beherrschbarkeit bislang viele und grundlegende Informationen fehlen“ (Kurzbeschreibung). Mit Blick auf einen möglichen Einsatz von Hydraulic Fracturing empfehlen die AutorInnen u. a. „[a]ufgrund der derzeit unsicheren Datenlage und der nicht auszuschließenden Umweltrisiken […], übertägige und untertägige Aktivitäten zur Gewinnung von Erdgas aus unkonventionellen Lagerstätten für Erkundungs- und Gewinnungsbetriebe in der die Frack-Technologie eingesetzt wird, in Wasserschutzgebieten (I bis III), Wassergewinnungsgebieten der öffentlichen Trinkwasserversorgung (ohne ausgewiesenes Wasserschutzgebiet), in Heilquellenschutzgebieten sowie im Bereich von Mineralwasservorkommen nicht zuzulassen und die genannten Gebiete für diese Zwecke auszuschließen.

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Bei besserer Datenlage ist eine Neubewertung dieser Ausschlussempfehlung durchzuführen.“ (Meiners et al. 2012b:D3-D4)

Die Risikobewertung der BGR (2016:9) will „mit grundlegenden geowissenschaftlichen Untersuchungen und Befunden zur Diskussion um eine mögliche umweltgerechte Nutzung der Schiefergasressourcen in Deutschland beitragen”. Vor diesem Hintergrund nimmt das Gutachten eine Abschätzung der Schiefergasressourcen in Deutschland vor und führt eine Bewertung der mit dem Einsatz von Hydraulic Fracturing potenziell verbundenen Risiken durch. Die Risikoevaluation erfolgt auch hier auf einer naturwissenschaftlichen Wissensbasis und wurde von einem Team aus MitarbeiterInnen der BGR mit den Schwerpunkten Geologie (Geowissenschaften, Erdölgeologie, Hydrogeologie, Stratigraphie, Petrographie), Chemie (Geochemie, organische Geochemie) und Seismologie vorgenommen. Die Funktion des Gutachtens besteht vor allem darin, Möglichkeitshorizonte und Handlungskorridore für einen möglichst sicheren Einsatz des Fracking-Verfahrens zu bestimmen. Der Fokus der Risikoevaluation (Kapitel 3) liegt auf den möglichen Risiken des Technikeinsatzes für den Untergrund, insbesondere in Bezug auf das Trinkwasser. Um Gefährdungen durch Unfälle an der Oberfläche zu beurteilen, werden Unfallstatistiken aus den USA herangezogen. Hier kommen die Gutachter zu dem Schluss, dass die Daten auf eine geringe Gefährdung hinweisen, da „der Anteil an Bohrungen mit Mängeln der Bohrlochintegrität zwischen ca. 2 % und 7 % liegt“ (BGR 2016:97). Gefährdungen im Untergrund durch Chemikalien, Gesteinsrisse und Seismizität werden über numerische Modellierungen der Verbreitung und des Transports von Frac-Fluiden, der Ausbreitung von Rissen sowie seismischer Aktivitäten eingeschätzt. Die Ausbreitung künstlich erzeugter Risse lasse sich kontrollieren, und auch bei natürlichen Rissen in der Langzeitbetrachtung sei „kein Aufstieg zu den oberflächen-nahen Grundwasserleitern festzustellen, der eine nachteilige Veränderung der Wasserbeschaffenheit bewirkt“ (BGR 2016:135). Insgesamt gelangen die AutorInnen zu der Einschätzung, dass aus „geowissenschaftlicher Sicht […] grundsätzlich, unter Einhaltung der gesetzlichen Regelungen und der erforderlichen Standards, der Einsatz der Fracking-Technologie kontrolliert und sicher erfolgen“ (BGR 2016:175) könne.

Polen: Die „erfahrungsbasierte Versammlung von Wissen darüber, was (nicht) geschehen ist“ Polen ist einer der wenigen EU-Mitgliedsstaaten, dessen Regierung den Einsatz von Hydraulic Fracturing zur Schiefergasgewinnung befürwortet. Die polnische Regierung hat in diesem Zusammenhang eine Vielzahl an Risikogutachten er-

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stellen lassen, deren Grundlage die im Land tatsächlich durchgeführten Testbohrungen und ersten „Fracks“ sind – hier setzen die Gutachten mithin an den im eigenen Land gemachten empirischen Erfahrungen an. Risiko- bzw. Gefährdungsargumente spielten auf überregionaler Ebene kaum eine Rolle. Die interne politische Debatte lässt sich eher als ein Versuch interpretieren, die Schiefergasförderung in Themen der Energiediversifizierung und -modernisierung wie auch des möglichen wirtschaftlichen Aufschwungs und der gesteigerten Energieunabhängigkeit einzubetten. Die vom polnischen Umweltministerium beauftragten Risikostudien8 erkundeten im Zeitraum 2011 bis 2018 die regional-spezifischen, geologischen Bedingungen für die Schiefergasförderung und bearbeiteten dabei wesentliche Risikofelder. Zentrale Akteure in der Wissensproduktion über mögliche Risiken waren dabei das Staatliche Geologische Institut PIG, das Staatliche Forschungsinstitut PIB, der Staatliche Geologische Dienst PSG und der Staatliche Hydrogeologische Dienst PSHG, die zusammen ein Forschungsverbund bilden, sowie die Technische Universität Danzig, das Woiwodschaftsinspektorat für Umweltschutz in Danzig, und die Wissenschaftlich-Technische Universität AGH in Krakau. Das erste, im November 2011 erschienene Gutachten (PIG-PIB 2011: Environmental Aspects of Hydraulic Fracturing Treatment Performed on the Łebien´ LE-2H Well) beruhte auf frühen, bereits im Sommer 2011 erfolgten Messungen und Bewertungen der Umweltauswirkungen einer mehrstufigen hydraulischen Frakturierung in Łebien´ (Labehn, Nordpolen). Es betrachtet acht verschiedene Risikokategorien: Lärm, Seismizität, Emissionen (CO2), Radioaktivität, Methan, eingesetzte Flüssigkeiten und ihr Abfall, Oberflächenwasser und Grundwasser. Dabei wurden laut Gutachten bei den durchgeführten Messungen keine Grenzwerte überschritten, sodass in den Schlusskapiteln der phasenweise hohe Lärmpegel für die Bevölkerung als einziges bestätigtes Problem erscheint. Wasserverschmutzungen oder Methanmigrationen wie in amerikanischen Fallbeispielen seien nicht verzeichnet worden, weitere Monitorings in diesen Bereichen werden aber in zukünftigen Projekten empfohlen. Das zweite Gutachten (PIG-PIB 2015: The Environment and Shale Gas Exploration. Results of Studies on the Soil-Water Environment, Ambient Air Acoustic Climate, Process Fluids and Wastes) beschäftigte sich mit Umweltgefahren in verschiedenen Regionen, die durch den Prozess der Exploration, Erkennung und Gewinnung unkonventioneller Kohlenwasserstofflagerstätten verursacht werden könn(t)en. Die vorgenommene Untersuchung erstreckte sich im Zeitraum 2012–2014 auf die sieben Standorte Gapowo, Lubocino, Łebien´, 8 Einzelstudien zu seismischen Aktivitäten wie bspw. der Berichts des polnischen Zentralinstituts für Bergbau (GIG 2015) wurden in der Analyse nicht hinzugezogen.

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Stare Miasto, Syczyn, Wysin und Zawada. Vor, während und nach der Durchführung von Erkundungsbohrungen und Hydraulic-Fracturing-Maßnahmen sowie einzelnen Feldversuchen wurden physikalische Messungen zur Beurteilung der Umweltqualität unternommen. Diese Untersuchungen erfolgten jedoch nicht an allen Orten gleichermaßen, es liegen unterschiedliche standortspezifische Daten vor, sodass keine datenvergleichenden Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Risikokategorien gezogen werden konnten. Das Gutachten wurde im März 2015 veröffentlicht und konzentrierte sich in den Schlussempfehlungen auf die fünf Risikokategorien Lärm und Lebensbedingungen im Bereich der Bohranlage, Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft und die Sicherheit von Produktionsbohrungen. Dabei wird auf die Notwendigkeit zur strikten Einhaltung von technischen Prozessen verwiesen, so heißt es bspw. in dem Gutachten: „Ökotoxizitätstests haben gezeigt, dass verbrauchter Schlamm, Schnittabfälle und Rückflussflüssigkeiten eine Bedrohung (bei unsachgemäßer Entsorgung) für lebende Organismen darstellen können, wenn sie versehentlich in die Umwelt gelangen; daher sollten die geltenden Vorschriften sowie die Verfahren für Transport und Wiederverwendung/Neutralisierung strikt eingehalten werden.“9 (PIG-PIB 2015.:143).

Das dritte Gutachten (PIG-PIB 2018: The Environment and Shale Gas Exploration. Report on the works carried out during the implementation of the project entitled “Conducting research for the assessment of the current state of the natural environment on 7 research grounds, where exploration for gas from shale formations was conducted“.) beruht auf Forschungsarbeiten von Juli 2017 bis September 2018 und führt ergänzende Analysen zu langfristigen Umweltauswirkungen der Schiefergasexploration und -förderung in den bereits zuvor sieben untersuchten Gebieten durch. Die abschließenden Handlungsempfehlungen konzentrieren sich auf Methanemissionen und Wasserqualität. In den 2017 durchgeführten Messungen wurde in fast allen Proben ein Anstieg der Methankonzentration im Vergleich zu dem vorherigen Gutachten festgestellt. Die Ergebnisse der Untersuchungen zur Grundwasserzusammensetzung sind nicht eindeutig und weisen in einigen Punkten auf die Möglichkeit der Migration von Kohlenwasserstoffen aus tieferen Gesteinsformationen an die Oberfläche in Zonen stillgelegter Bohrlöcher hin. So heißt es auch bei der Vorstellung des PIGPIB Berichts auf der Website: „Gegenwärtig sind die gemessenen Werte der Kohlenwasserstoffkonzentrationen [im Wasser, CF], die potenziell thermogenen Ursprungs sind, so niedrig, dass sie keine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellen, aber ein Ausdruck eines Prozesses sein können, der sich in Richtung weiterer negativer Veränderungen entwickelt“. (Konieczyn´ska, Lipin´ska 2018)

9 Eigene Übersetzung durch Claudia Foltyn.

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Frankreich: Die „politische Versammlung dessen, was dazu gesagt wird“ Auch in Frankreich wurden insbesondere von Regierungsseite bzw. Ministerien und auch von der französischen Nationalversammlung mehrere Gutachten ab dem Jahr 2011 in Auftrag gegeben. Exemplarisch sollen hier drei Gutachten kurz erläutert werden. Es handelt sich um (1) den Rapport d’information par la mission d’information sur les gaz et huile de schiste (Erkundungsbericht der Erkundungsmission über Schiefergas und -öl) der Commission du développement durable et de l’aménagement du territoire (Assemblée Nationale 2011b) vom Juni 2011 mit 148 Seiten, um (2) Les hydrocarbures de roche-mère en France (Kohlenwasserstoffe im Muttergestein in Frankreich) von CGIET und CGEDD im Februar 2012 (201 Seiten) und (3) den Rapport sur les techniques alternatives à la fracturation hydraulique pour l’exploration et l’exploitation des hydrocarbures non conventionnels (Bericht über alternative Techniken zur hydraulischen Frakturierung für die Erforschung und Nutzung nichtkonventioneller Kohlenwasserstoffe) der OPECST vom November 2013 (274 Seiten). Da keine Bohrungen in Frankreich durchgeführt wurden und man die Suche nach Alternativen für Fracking zur Förderung von Schiefergas und Schieferöl nach dem 3. Gutachten 2013 offiziell einstellte – mit den Argumenten, es sei zu teuer, mit aktuellen technischen Mitteln nicht machbar, zudem würden entsprechende Instanzen zur Bereitstellung der Rahmenbedingungen und Überprüfung durch kontrollierte Forschung fehlen, die Akzeptanz in der Bevölkerung sei nicht gegeben, und letztlich wohl auch aufgrund wahlstrategischer Überlegungen der zuständigen politischen Elite, die um ihre Wiederwahl fürchtete – liefern die danach folgenden Gutachten keine neuen relevanten Erkenntnisse. Während sich die deutschen Gutachten an der Maxime der exakten Wissensbestimmung auf Grundlage prinzipieller Wissensbestände orientieren und die polnischen Gutachten ihre Aussagen auf der Grundlage von eigenen Messungen und erfolgten Bohrungen formulieren, sind Gutachten in politischen Auseinandersetzungen in Frankreich eher „politische Texte“ als wissenschaftliche Expertisen. Autoren sind häufig hochrangige politische Funktionäre aus unterschiedlichen Parteien, um politische Balance zu gewährleisten. Zu den versammelten Wissensbeständen zählen internationale Dokumente, zahlreiche Grafiken und Tabellen aus Dokumenten unterschiedlicher Herkunft (bspw. auch Websites/Berichte von Unternehmen, französischen Einrichtungen wie das BRGM für geologische Angelegenheiten oder das IFP Énergies nouvelles, sowie auch Zeitungstexte). All diese Quellen eint, dass sie auf eine gewisse Art legitimiert sind, als einschlägiges Dokument zu gelten, sei es politisch, wissenschaftlich oder institutionell. Eigene Darstellungen sind sehr selten. Wissen wird

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außerdem über für Frankreich ‚typische‘ Methoden produziert, insbesondere durch Gespräche mit relevanten Akteuren aus verschiedenen Bereichen, u. a. Vertreter von französischen staatlichen Einrichtungen, Vertreter von französischen und internationalen Firmen aus dem Öl- und Gassektor, sowie mit politischen Entscheidern, Wissenschaftlern, Syndikaten/Assoziationen, Juristen, sonstigen Experten. Auffällig dabei ist, dass Schiefergasgegner aus der Zivilbevölkerung nicht als Experten befragt werden und dass somit ein Ungleichgewicht zwischen Befürwortern, regulierenden Instanzen und Gegnern herrscht. Zudem werden Reisen unternommen, u. a. in die USA oder nach Deutschland, um dort ebenfalls mit relevanten (legitimen) Akteuren zu sprechen und sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Die Verfassung, erlassene Gesetze und Bereiche wie das Bergrecht und das Umweltrecht gehören ebenfalls zu den Wissensbeständen, auf deren Basis verhandelt wird, ob Fracking in Frankreich rechtlich gesehen möglich ist. In den französischen Gutachten wird im Unterschied zu Deutschland und Polen nicht mit konkreten wissenschaftlichen Methoden gearbeitet. Allerdings wird viel von „Prinzipien“ gesprochen, am häufigsten in fast allen Gutachten vom „principe de précaution“ aus dem Umweltrecht („charte constitutionnelle de l’environnement“). Damit spielen Verfassungsmäßigkeit und die Konformität mit bestehenden Regularien eine große Rolle für die französische Schiefergasdebatte. Interessant ist zudem, dass diese Prinzipien aus dem Umweltrecht im Verlauf der Debatte sukzessive erweitert werden. Als weitere Besonderheit kann gelten, dass die Berichte Vergangenheit und Gegenwart in unterschiedlichen Ländern ausführlich rekapitulieren, um darauf basierend Prognosen für die Zukunft zu erstellen. Ein Ergebnis dieser Gesamtschau ist die Erstellung eines Inventars von Risiken und Folgen der Schiefergas- und Schieferölförderung in Frankreich, nicht nur beschränkt auf die Nutzung von Hydraulic Fracturing, sondern erweitert auf die Nutzung der Ressourcen an sich. Einige der mehrfach explizit genannten Risiken befassen sich mit Wasser (Wasserverbrauch, Wasserverschmutzung durch Frac-Fluide, Abwasserbehandlung), Böden (Konkurrenz in der Bodennutzung, Bestellung von Böden durch Aufbau einer Infrastruktur für Fracking im Süden Frankreichs), technikbezogenen Risiken durch unsauberes Arbeiten bzw. menschliches Versagen (Leckagen in den Rohren, fehlende Kompetenzen in Frankreich aufgrund sehr kleiner eigener Öl- und Gasindustrie), Luftverschmutzung (erhöhtes Verkehrsaufkommen durch Schiefergasproduktion, Treibhausgasemissionen), Risiken für erneuerbare Energien (Abzug von Ressourcen für Erneuerbare zugunsten von Fracking), regulatorischen Risiken (Verfassungsmäßigkeit, Umwelt- und Bergrecht, Steuerreform), sozialen Risiken (Bürgerproteste) und wirtschaftlichen Risiken (Gaspreisentwicklung, lokale Wirtschaft).

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Die diagnostische Gesamtschau in allen französischen Gutachten umfasst ebenfalls Kritik am eigenen Vorgehen in Frankreich. Beschrieben werden auch diejenigen Aspekte, die noch weiter erforscht werden müssen. Durchgehend finden sich zudem sehr genaue Handlungsempfehlungen. Diese richten sich fast ausschließlich an die Politik und verstärken somit noch einmal implizit die Kritik am bisherigen politischen Vorgehen. Interessant ist, dass sich alle Gutachten für die Erforschung von Schiefergas aussprechen, die politisch, regulatorisch und wissenschaftlich kontrolliert erfolgen soll. Die Wissenslücken sollen entweder vor dem Beginn der wissenschaftlich ausgerichteten Bohrungen geklärt werden oder im Zuge der Bohrungen. Die Politik ignoriert diese Empfehlungen jedoch – vermutlich aus Angst vor weiteren Protesten und damit einhergehender politischer Instabilität.

Fazit Unsere Analyse zeigt, wie in den drei Ländern ganz unterschiedliche Strategien der Wissensproduktion zum Einsatz kommen, die wir hier vorläufig als naturwissenschaftliche, erfahrungsbasierte und politische Versammlung von Wissen (und Nichtwissen) bezeichnet haben. Das bedeutet für die Debatte des Einsatzes der Fracking-Technologie, dass sie ganz unterschiedlich als Phänomen in Erscheinung tritt: In Deutschland als Fluchtpunkt einer Suche nach ultimativer Expertise, welche die Entscheidung aus der Politik in das naturwissenschaftliche Wissen verlagert; in Polen als staatlich befördertes, mit großen ökonomischen Erwartungen verknüpftes Projekt, dessen Umweltauswirkungen entlang der tatsächlichen Einsätze der Technologie erhoben und als weitgehend akzeptabel bewertet werden, und das unabhängig davon mit der Abwanderung von ursprünglich interessierten Unternehmen scheiterte; in Frankreich schließlich als politisch heterogene Gemengelage, in der fehlendes Wissen, unklare Interessen und bestehende Demokratiekonflikte zwischen nationalen und regionalen bzw. lokalen Entscheidungsebenen letztlich die politische Rationalität des Verbots begründen. Im engeren Sinne konkurrierende ökologische Rechtfertigungsordnungen finden sich am ehesten in der deutschen Diskussion. Dort bildet die Suche nach sicherem Wissen den unerreichbaren Fluchtpunkt der Verlaufskurven. In Polen dagegen erfolgt die Abwanderung der Exploration vor der Beendigung einer langfristig angelegten Risikobewertung auf Evidenzbasis. In Frankreich stoppt die politische Rationalität der Entscheidungsfindung die Versuche, es „genauer zu wissen, um zu handeln“. Mit Bezug auf die am Beginn des Beitrages skizzierte Entwicklung und den aktuellen Stand der umweltsoziologischen Forschung kann die vorgestellte Studie als Beispiel für eine analytisch-diagnostische Perspektive der Umweltso-

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zialwissenschaften gelten. Im Unterschied zu stark anwendungsorientierten Spezialforschungen, sozialtechnologischen Steuerungserwartungen oder allgemeinen theoretischen Perspektiven erlaubt sie es, Aussagen zur tatsächlichen Verhandlung bzw. zum Prozessieren gesellschaftlicher Naturverhältnisse und ökologischer Fragen in den Gegenwartsgesellschaften zu treffen. Sie stellt damit der gesellschaftlichen Selbstaufklärung ein Wissen bzw. eine Analyse darüber zur Verfügung, was vor sich geht.

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Anja Kalch / Helena Bilandzic

Die Medien und das Klimaengagement in Deutschland: Der Einfluss medialer Informationen auf individuelles Klimahandeln

Der Klimawandel ist sowohl in den informationsorientierten Massenmedien als auch in fiktionalen Medienangeboten zunehmend präsent. Parallel zu der wachsenden Medienaufmerksamkeit hat auch die Problemwahrnehmung in der deutschen Bevölkerung stetig zugenommen. Diese hohe Problemwahrnehmung wird jedoch nur bedingt in klimafreundliche, individuelle Alltagshandlungen übersetzt. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive stellt sich folglich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen klimabezogenen Medieninhalten und der Problemwahrnehmung sowie dem Klimaengagement von Bürgern besteht. Der vorliegende Beitrag diskutiert diese Frage ausgehend von vorliegenden Studien zur Darstellung des Klimawandels in faktualen und fiktionalen Medienangeboten sowie deren Wirkung. Zunehmende Niederschlagsmengen im Winter, häufigere Extremwetterereignisse und eine steigende Durchschnittstemperatur – die Folgen des Klimawandels sind auch in Deutschland messbar (Umweltbundesamt 2015, 2019b). Für die meisten Menschen in Deutschland wie auch in anderen westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten sind die Auswirkungen des Klimawandels jedoch noch relativ abstrakt und beeinflussen den Alltag der Menschen nur wenig, auch wenn mittelfristig stärkere Einschränkungen erwartet werden (Umweltbundesamt 2015, 2019b). Hinzu kommt, dass es sich beim Klimadiskurs insgesamt um ein wissenschaftlich-abstraktes Problemfeld handelt, das in seinen zeitlichen und räumlichen Bezugsgrößen außerhalb der direkten Erfahrung des einzelnen Individuums liegt (McDonald et al. 2015; Moser 2010; Schäfer, Schlichting 2014). So definiert das IPCC Klimawandel als Veränderung des Klimas, die über einen längeren Zeitraum – in der Regel von 30 Jahren oder mehr – statistisch messbar ist (IPCC 2018: 544). Diese Abstraktheit des Phänomens und die wahrgenommene Distanz des Klimawandels zu den individuellen Alltagserfahrungen werden als zentrale Barriere für Klimaengagement und Klimahandlungen betrachtet (McDonald et al. 2015; Wang et al. 2019). Angesichts dieser Spezifik des Klimawandels kommt den Medien eine zentrale Rolle zu: „they are central agents for raising awareness and disseminating in-

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formation“ (Schmidt et al. 2013: 1233). Durch sie können Rezipientinnen und Rezipienten über die aktuellen und zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels, aktuelle Entwicklungen der Klimapolitik und Möglichkeiten des individuellen Klimahandelns erfahren. Im Einklang damit bestätigen Umfragen, dass die Medien für die Bevölkerung eine der wichtigsten Informationsquellen zum Klimawandel darstellen (Schäfer 2012; Taddicken 2013). Eine 2010 durchgeführte repräsentative Befragung in Deutschland zeigt beispielsweise, dass mediale Informationen im Fernsehen, aus dem Internet und aus Tageszeitungen als zuverlässiger eingeschätzt werden und häufiger klimabezogenes Wissen vermitteln als persönliche Gespräche oder andere Informationsquellen (Schäfer 2012). Die Häufigkeit, mit der über den Klimawandel berichtet wird, hat dabei in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen (Neverla, Schäfer 2010; Schmidt et al. 2013). So zeigen Inhaltsanalysen für eine Vielzahl der OECD-Länder zunächst einen kleinen, aber stetigen Zuwachs in der Berichterstattung Anfang der 1990er Jahre, der 2007 in einen sprunghaften Anstieg überging (Holt, Barkemeyer 2012; Schmidt et al. 2013). Parallel zu der intensiven medialen Aufmerksamkeit wird dem Klimawandel auch in der deutschen Bevölkerung eine hohe Relevanz zugeschrieben. Dies schlägt sich im Besonderen in einer hohen Problemwahrnehmung des vom Menschen verursachten Klimawandels nieder (Schäfer 2015). Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage, die alle zwei Jahre im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit sowie dem Umweltbundesamt durchgeführt wird, zeigt, dass für die Menschen in Deutschland der Klima- und Umweltschutz in den letzten Jahren zunehmend wichtiger geworden sind (Rubik et al. 2019). Insgesamt stuften 2018 64 Prozent der Befragten das Thema als sehr wichtig ein, während es 2016 nur 53 Prozent waren. Nur der Zustand des Bildungswesens und soziale Gerechtigkeit werden als noch wichtiger betrachtet (Rubik et al. 2019). Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in einer repräsentativen Befragung der 14- bis 22-Jährigen in Deutschland. Hier steht der Umwelt- und Klimaschutz sogar an erster Stelle der wichtigsten Themen (Umweltbundesamt, BMU 2019: 9). Während die Bedeutung des Klimaschutzes in der Bevölkerung immer mehr zunimmt, sinkt jedoch die Zufriedenheit mit dem Handeln der einzelnen Akteure (Rubik et al. 2019). Im Vergleich zur Befragung 2016 hat sich die Einschätzung, dass genug für den Umwelt- und Klimaschutz getan wird, sowohl bei kommunalen und nationalen politische Akteuren, der Industrie, aber auch dem einzelnen Bürger fast halbiert (Rubik et al. 2019). Gerade letztere werden von den 14 bis 22-Jährigen jedoch als wichtigste Akteure betrachtet, gefolgt von der Industrie und der Politik (Umweltbundesamt, BMU 2019). Dies deckt sich mit einem Positionspapier des Umweltbundesamtes, wonach zum Erreichen der Klimaneutralität in Deutschland eine höhere Verantwortung jedes Einzelnen im

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Alltagshandeln als zentraler Aspekt der CO2-Reduktion angesehen wird (Purr et al. 2019). Ein wichtiger Indikator dafür ist der CO2-Ausstoß privater Haushalte. Dieser hat sich zwar von 2000 bis 2015 um 7,7 Prozent verringert, dies ist jedoch fast ausschließlich auf Rückgänge im Bereich Wohnen und Produktherstellung zurückzuführen, während in den Bereichen Verkehr oder Ernährung nur sehr geringe Reduzierungen erkennbar sind (Umweltbundesamt 2019a). Der steigenden medialen Aufmerksamkeit und hohen Problemwahrnehmung stehen somit in Deutschland eine sinkende Zufriedenheit mit den Handlungen der einzelnen Akteure und ein deutliches Ausbaupotential bei den Schutz- und Anpassungsmaßnahmen gegenüber. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive stellt sich folglich die Frage, in welchem Zusammenhang klimabezogene Medieninhalte, Problemwahrnehmung und individuelles Klimahandeln stehen. Um diese Frage zu diskutieren, geben wir zunächst einen Überblick darüber, in welcher Form und Häufigkeit die Medien über den Klimawandel berichten, um anschließend vorliegende Studien zur Wirkung klimabezogener Medieninhalte darzustellen.

Der Klimawandel in den Medien Spätestens seitdem der Kölner Dom auf dem Deckblatt der Spiegelausgabe vom 11. 08. 1986 im Wasser versunken ist, ist der Klimawandel ein relevantes Thema der Berichterstattung deutscher Massenmedien. Neben dieser informationsbezogenen Medienberichterstattung wird der Klimawandel jedoch auch in zahlreichen primär unterhaltungsorientierten Medien thematisiert. Dies reicht vom Kinoblockbuster The Day After Tomorrow (Emmerich et al. 2004), über Dokumentationen (z. B. 2040: Wir retten die Welt, Batzias et al. 2019) bis hin zu Romanen (z. B. Alice, der Klimawandel und die Katze Zeta, Boysen 2016) und Sachbüchern (z. B. Die Menschheit schafft sich ab: Die Erde im Griff, Lesch, Kamphausen 2018). Erkenntnisse zu den klimawandelbezogenen Inhalten dieser beiden Medienarten werden nachfolgend zusammengefasst. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die massenmediale Berichterstattung im Zentrum vorliegender wissenschaftlicher Analysen steht (Schäfer 2016), während unterhaltungsbezogene Medienangebote zum Klimawandel relativ wenig beforscht werden.

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Der Klimawandel in der massenmedialen Berichterstattung Während der Klimawandel in den 1970er und 1980er Jahren eher ein Nischenthema war, ist die Berichterstattungshäufigkeit zum Klimawandel in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre stetig angestiegen (Brüggemann et al. 2018; Schäfer 2016). Zwischen 2006 und 2009 weisen Inhaltsanalysen einen deutlichen Anstieg der Berichterstattungshäufigkeit aus (Schäfer 2016), der sich 2010 allerdings wieder etwas abflacht (Schmidt et al. 2013). Während der deutliche Anstieg darauf zurückgeführt wird, dass sich der Klimawandel 2006 in der öffentlichen Debatte von einem wissenschaftlichen Thema hin zu einem zentralen politischen Handlungsfeld entwickelt hat, wird das anschließende Abflachen mit der Etablierung des Themenfelds und den langwierigen politischen Prozessen verbunden (Peters, Heinrichs 2008; Schäfer 2016; Schmidt et al. 2013). Länderübergreifend liegt die Berichterstattungshäufigkeit für Deutschland jedoch leicht unter dem Durchschnitt anderer Länder, die sich gemäß dem Annex-B des Kyoto-Protokolls zu konkreten CO2-Reduzierungen verpflichtet haben (Schäfer 2016; Schmidt et al. 2013). Dies wird u. a. darauf zurückgeführt, dass Deutschland von den Folgen des Klimawandels nur vergleichsweise mäßig betroffen ist (Barkemeyer et al. 2017; Schmidt et al. 2013). Für Australien, ein Annex-B-Land mit höherer Betroffenheit, weisen Holt und Barkemeyer (2012) beispielsweise eine fünffach häufigere Berichterstattung als im weltweiten Durchschnitt nach. Im zeitlichen Verlauf weist die Häufigkeit der massenmedialen Berichterstattung dabei eine hohe Parallelität zu klimapolitischen Ereignissen auf (Schäfer et al. 2012; Schmidt et al. 2013). Besonders im zeitlichen Umfeld der Klimagipfel sind deutliche Anstiege der Berichterstattung feststellbar (Barkemeyer et al. 2017; Neverla, Schäfer 2010; Schäfer, Schlichting 2014; Schmidt et al. 2013). So führte beispielsweise der Klimagipfel in Kopenhagen (COP 15) zu der bis dahin größten Berichterstattungshäufigkeit (Schmidt et al. 2013). Zusätzlich konnte – im Unterschied zu 26 anderen Staaten – für die deutsche Medienberichterstattung ein leichter Zusammenhang mit extremen Wetterereignissen gezeigt werden (Schmidt et al. 2013). Dieser Zusammenhang zwischen den klimapolitischen Ereignissen (im Besonderen der Veröffentlichung von IPCC-Reports) und dem Anstieg der Berichterstattung wird von Parks (2020) als Prozess des „first-level agenda-setting“ beschrieben: „the focusing event is an agenda-building moment leading to increased appearances of climate change in the news media and, subsequently, increased issue salience within the public“ (Parks 2020: 85). Die mediale Aufmerksamkeit ist dabei für den Klimawandel vergleichsweise höher als für andere Umweltthemen (Biodiversität und Luftverschmutzung), jedoch nicht für Nachhaltigkeit. (Holt, Barkemeyer 2012). Diese klimawandel-

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bezogene Berichterstattung übersteigt teilweise sogar die Berichterstattungshäufigkeit zu sozialen und politischen Themen wie z. B. Korruption und Armut (Holt, Barkemeyer 2012) sowie zu anderen wissenschaftlichen Themenfeldern wie z. B. Genforschung oder Stammzellspende (Schäfer 2012). Inhaltliche Tendenzen der Medienberichterstattung über den Klimawandel wurden bislang deutlich seltener untersucht als die Berichterstattungshäufigkeit. Auf Basis der vorliegenden Analysen lassen sich jedoch folgende drei Tendenzen für die Berichterstattung in Deutschland feststellen. Eine erste Tendenz, die sich sowohl in Deutschland als auch in anderen OECD-Ländern zeigt, ist die Betonung der menschlichen Verursachung des Klimawandels durch einen zu starken CO2-Ausstoß und die umfassende Darlegung der daraus resultierenden Folgen für die Umwelt und den Menschen (Brüggemann et al. 2018; Schäfer 2015, 2016; Schmid-Petri, Arlt 2016). Brüggemann et al. (2018) bezeichnen diese inhaltliche Ausrichtung aufgrund der länderübergreifenden Sichtbarkeit auch als „Masterframe: anthropogener Klimawandel“. Die häufigste dabei thematisierte Folge des vom Menschen verursachten CO2-Ausstoßes ist die globale Erwärmung, gefolgt von Extremwetterereignissen sowie materiellen und landwirtschaftlichen Schäden (Peters, Heinrichs 2008). Diese Folgen werden in den deutschen Medien als ernst bewertet und die Berichte weisen oft einen alarmierenden Tonfall auf (Peters, Heinrichs 2008). Mit dem Fokus auf den anthropogenen Klimawandel geht ein vergleichsweise geringer Anteil klimaskeptischer Bezüge einher, die jedoch eine leicht ansteigende Häufigkeit aufweisen (Kaiser, Rhomberg 2015; Peters, Heinrichs 2008; Schmid-Petri 2017). Eine relative Häufung klimaskeptischer Beiträge konnte Schmid-Petri (2017) für die konservative Zeitung „Die Welt“ feststellen (siehe auch Kaiser, Rhomberg 2015). Allerdings fallen unter diese klimaskeptischen Bezüge in der deutschen Medienberichterstattung auch Beiträge, die den Klimaskeptizismus als Begründung für das Verhalten anderer Länder anführen oder klimaskeptische Argumente widerlegen (Kaiser, Rhomberg 2015). Insgesamt weist die Berichterstattung in Deutschland damit eine hohe Übereinstimmung in der Thematisierung von Ursachen und Folgen des Klimawandels im Sinne des wissenschaftlichen Konsenses auf (Peters, Heinrichs 2008; Schmid-Petri, Arlt 2016). Im Gegensatz zu Deutschland wird Klimaskeptizismus vor allem in den USA und Großbritannien als ein weiteres relevantes Berichterstattungsmuster beschrieben (Brüggemann et al. 2018). Eine zweite Charakteristik, die Inhaltsanalysen für die massenmediale Berichterstattung in Deutschland zeigen, ist die vergleichsweise umfassende Diskussion von Maßnahmen zur Reduktion von CO2 und zur Anpassung an den Klimawandel (Peters, Heinrichs 2008; Schäfer 2016). In einem Sample regionaler (Norddeutschland) und nationaler Nachrichtenmedien (Print, TV und Radio) wurden nach Peters und Heinrichs (2008: 28) im Zeitraum zwischen September 2001 und Februar 2003 folgende Maßnahmen besonders häufig genannt: inter-

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nationale politische Abkommen, technologische Innovationen (z. B. Anteil erneuerbarer Energien), Maßnahmen zur Flutbekämpfung, nationale politische Beschlüsse und soziale Innovationen (z. B. kommunalpolitisches Programm Agenda 21). Der Großteil der Maßnahmen bezieht sich dabei auf die Eindämmung der globalen Erwärmung; Anpassungsmaßnahmen sind in der betrachteten Stichprobe in der Minderheit. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Thematisierung von Klimaschutzhandlungen in Deutschland überdurchschnittlich häufig ist und zudem im Zeitverlauf zugenommen hat (Ivanova 2017). Der Großteil dieser Maßnahmen bezieht sich auf politische und nicht individuelle Handlungsmöglichkeiten: „[M]edia mostly framed climate change as anthropogenic and as a problem for which political solutions were to be sought“ (Schäfer 2016: 8). Damit verknüpft ist die dritte Tendenz, die sich für die massenmediale Berichterstattung feststellen lässt: der Fokus auf politische Akteure. Seit 2006 kommen vor allem Politiker (nachgelagert erst Wissenschaftler) in Medienberichten zum Klimawandel zu Wort (Ivanova 2017; Schäfer 2016; Schmid-Petri, Arlt 2016). Politiker werden in Berichten zum Klimawandel auch am häufigsten visuell dargestellt (Metag et al. 2016). Im Gegensatz dazu fanden Peters und Heinrichs (2008) in der Berichterstattung Anfang der 2000er noch einen überwiegenden Bezug auf wissenschaftliche Quellen (Politiker waren an zweiter Stelle), besonders bei der Thematisierung von Risiken und Ursache-WirkungsZusammenhängen. Einzig bei der Diskussion von Maßnahmen waren auch zu diesem Zeitpunkt Politiker die häufigste einbezogene Quelle im Sample (Peters, Heinrichs 2008). Eine häufige Thematisierung des Klimawandels im Kontext des politischen Diskurses konnten Lörcher und Taddicken (2015) auch für die Online-Berichterstattung deutscher Qualitätsmedien (welt.de und spiegel.de) im direkten zeitlichen Umfeld der Veröffentlichung des IPCC-Berichts 2013 zeigen: Politik und Klimawandel war hier das zweithäufigste Thema direkt nach dem IPCC-Bericht als solchem. Mit dieser starken Fokussierung auf den politischen Diskurs und politische Maßnahmen geht eine kaum vorhandene Thematisierung sozialer Verantwortung im Umgang mit den Folgen des Klimawandels einher (Brüggemann et al. 2018). Im Einklang damit finden Wessler et al. (2016) in einer ländervergleichenden Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung (in Brasilien, Deutschland, Indien, Südafrika und USA) nur für Deutschland keinen „civil society demands frame“, in dem Maßnahmen gegen den Klimawandel mit visuellen Darstellungen zivilgesellschaftlicher Akteure verknüpft werden. Hier muss jedoch berücksichtigt werden, dass sich vor allem innerhalb der letzten Jahre durch die Fridays-for-Future-Bewegung Änderungen ergeben haben könnten, die in zukünftigen Studien analysiert werden sollten.

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Der Klimawandel in Unterhaltungsmedien Im Gegensatz zu den relativ umfassenden inhaltlichen Analysen der Darstellung des Klimawandels in klassischen Massenmedien ist die Analyse der Unterhaltungsmedien, die den Klimawandel thematisieren, bislang deutlich weniger ausgeprägt (Bilandzic, Kalch 2020; Dudo et al. 2017; Sakellari 2015). Fiktionale Medienangebote zum Klimawandel werden in der Literatur häufig unter der, vom Journalisten Daniel Bloom 2015 geprägten, Genre-Bezeichnung „Cli-fi“ („Climate-fiction“) diskutiert (Milner, Burgmann 2018; Svoboda 2016). Ein großer Anteil der Cli-fi Bücher und Filme thematisiert dabei den Klimawandel im Zusammenhang mit extremen Wetterereignissen (im Besonderen Überschwemmungen, Stürme und Dürren) und deren Folgen für das Leben der Menschen (Goodbody 2019; Svoboda 2016; Trexler 2015; Trexler, Johns-Putra 2011). In der Literatur hat seit den ersten fiktionalen Buchpublikationen zum anthropogenen Klimawandel in den 1970er Jahren (z. B. The Lathe of Heaven, LeGuin 1971), nach Trexler (2015) ein stetiger Zuwachs bei diesem Thema stattgefunden. Dabei dominierten vor allem in den 1990er Jahren dystopische Romane (z. B. Parable of the Sower, Butler 1993), die das menschliche Überleben in zukünftigen zerstörten Lebensräumen thematisieren (Trexler 2015). Ein deutlicher Anstieg an fiktionalen Buchpublikationen zum Klimawandel fand seit 2008 statt. Besonders prominent ist das Thema dabei nach Milner und Burgmann (2018) in der amerikanischen, britischen und französischen Literatur. Aber auch für Deutschland stellen die Autoren eine umfangreiche Thematisierung des Klimawandels fest. Prominente Beispiele deutschsprachiger fiktionaler Romane der vergangenen Jahre sind u. a. Der Schwarm (Schätzing 2004), Das TahitiProjekt (Fleck 2010), Wer Wind sät (Neuhaus 2011), Prophezeiung (Böttcher 2011), Ausnahmezustand (Aiginger 2018) oder auch Das Meer (Fleischhauer 2018). Eine zu den Buchpublikationen vergleichbare zeitliche Entwicklung ist auch bei fiktionalen Filmen zum Klimawandel festzustellen. Am Rande wird der Klimawandel in fiktionalen Filmen bereits seit den 1970er Jahren thematisiert (z. B. No Blade of Grass, Wilde, Wilde 1970). Erste Filme, die extreme Wetterereignisse als zentrales Thema aufgreifen, finden sich in den 1980er (z. B. Das Arche Noah Prinzip, Längsfeld et al. 1984) und 1990er Jahren (z. B. Waterworld, Costner et al. 1995) (Svoboda 2016). Ab den 2010er Jahren liegt nach Svoboda (2016) ein deutlicher Anstieg fiktionaler Filme zum Klimawandel vor. Analog zur fiktionalen Literatur werden auch in fiktionalen Filmen extreme Wetterereignisse (z. B. Geostorm, Devlin et al. 2017; Sharknado 3, Latt, Ferrante 2015; Storm Hunters, Garner, Quale 2014) und das menschliche Überleben in dystopischen oder post-apokalyptischen Lebensräumen (z. B. Mad Max: Fury Road, Miller et

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al. 2015; Snowpiercer, Jeong et al. 2013) besonders häufig thematisiert (Svoboda 2014, 2016). Eines der wenigen anderen Beispiele fiktionaler Filme explizit zum Klimawandel stellt der Kinder-Animationsfilm Happy Feet 2 (Miller et al. 2011) dar, der die Auswirkungen der globalen Erwärmung für das Leben der Pinguine thematisiert. Vor allem populäre Filme wie das Doku-Drama Das Zeitalter der Dummheit (The Age of Stupid, Gillett, Armstrong 2009) und die Dokumentation Eine unbequeme Wahrheit (An Inconvenient Truth, Bender et al. 2006), betonen neben den Folgen auch die anthropogene Ursache des Klimawandels (Dudo et al. 2017; Sakellari 2015). Darüber hinaus liegen aber auch fiktionale Filme und Bücher vor, in denen die menschliche Verantwortung nur randständig (z. B. The Day After Tomorrow, 2004) oder gar nicht (z. B. Hell, Emmerich et al. 2011) thematisiert wird. Hinzu kommen Filme (z. B. The Great Global Warming Swindle, Curtis, Durkin 2007) und populäre Bücher (z. B. Welt in Angst, Crichton 2004) die eine klimaskeptische Perspektive einnehmen und den menschlich verursachten Klimawandel anzweifeln. Quantitative Inhaltsanalysen, die die Häufigkeit der anthropogenen Verursachung in Unterhaltungsmedien erfassen, liegen bislang nicht vor, weshalb auch über entsprechende Verteilungen keine Aussagen getroffen werden können.

Zusammenfassung Zusammenfassend ist der Klimawandel ein Thema, das in allen Medien präsent ist, vor allem aber in der klassischen massenmedialen Berichterstattung. Neben problembezogener Berichterstattung, die sich mit den Folgen der zunehmenden Erderwärmung auseinandersetzt, werden gerade in den deutschsprachigen Massenmedien auch Handlungsmöglichkeiten gegen den Klimawandel thematisiert. Dabei stehen der politische Diskurs und die politischen Akteure im Vordergrund; die individuelle Verantwortung der Bürger*innen wird seltener aufgegriffen. Das Gegenstück zu dieser faktenorientierten Darstellung, die am wissenschaftlichen Konsens orientiert ist, bilden Unterhaltungsangebote, bei denen vor allem postapokalyptische Szenarien zu den Folgen des Klimawandels überwiegen. Diese werden teilweise analog zur faktualen Medienberichterstattung auf die anthropogene Ursache zurückgeführt.

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Effekte der Medienberichterstattung auf den Rezipienten Ausgehend von der in Deutschland stetig gestiegenen medialen Aufmerksamkeit für den Klimawandel stellt sich die Frage, ob dies auch mit einem höheren Wissen über den Klimawandel, einer stärkeren Problemwahrnehmung und einer höheren individuellen Handlungsbereitschaft für den Klimaschutz bei den Rezipient*innen verbunden ist (Peters, Heinrichs 2008). Grundsätzlich sind Wirkungsstudien zu unterscheiden, die Wissen und Einstellungen zum Klima mit der themenunspezifischen, allgemeinen Mediennutzung in Verbindung bringen und solche, die sich mit klimawandelbezogenen Medieninhalten (faktual und fiktional) auseinandersetzen. Allerdings steht bei der Analyse der Medienwirkungen meist die klassische massenmediale Berichterstattung im Vordergrund; die ebenfalls für die Vorstellungen von Bürger*innen relevanten unterhaltenden, fiktionalen Medieninhalte werden deutlich seltener betrachtet (Bilandzic, Kalch 2020; Schäfer 2016).

Effekte themenunspezifischer Mediennutzung Eine der wenigen Studien, die den Zusammenhang der allgemeinen Mediennutzung mit klimawandelbezogenem Wissen und Einstellungen in Deutschland betrachtet hat, liegt von Taddicken und Neverla (2011) vor. In einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zeigt sich ein positiver Zusammenhang der Mediennutzung insgesamt mit dem Wissen der Rezipient*innen zum Klimawandel. Die Autorinnen schlussfolgern, dass „Rezipienten also über ihre übliche Mediennutzung eine Reihe an Informationen über das Thema Klimawandel, die sie in ihren Kenntnisstand aufnehmen“, erhalten (Taddicken, Neverla 2011: 516). Die erhobenen Wissensbestandteile erfassen dabei im Besonderen Wissen der Rezipient*innen über die menschliche Verursachung und spezifische Folgen des Klimawandels. Dies sind auch explizit die Themen, die vorrangig in massenmedialen Inhalten zum Klimawandel aufgegriffen werden (siehe Der Klimawandel in der massenmedialen Berichterstattung, Seite 216). Keine Effekte der allgemeinen Mediennutzung konnten indes für die Variablen Problembewusstsein, Verantwortung und Handlungsintention gefunden werden.1 In einer zweiten, für die deutsche Bevölkerung ebenfalls repräsentativen Befragungsstudie finden Arlt et al. (2010, 2011) indes einen – wenn auch schwa1 Dies steht im Einklang mit einer US-amerikanischen Sekundäranalyse (Zhao 2009), die ebenfalls einen Effekt der habituellen Mediennutzung (Internet, Zeitungen und Zeitschriften; nicht Fernsehen) auf das wahrgenommene Wissen zur globalen Erwärmung; jedoch nicht auf die Problemwahrnehmung feststellen konnte.

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chen – Zusammenhang mit der Problemwahrnehmung sowie bestimmten Handlungsintentionen. Allerdings wird hier nicht die allgemeine Mediennutzung betrachtet, sondern nur die Nutzung politischer Medieninhalte (aufgefächert nach Mediengattungen). Für die Problemwahrnehmung zeigen sich differenzierte Zusammenhänge: Während eine höhere Nutzung öffentlich-rechtlicher Nachrichtensendungen mit einer höheren Problemwahrnehmung verknüpft ist, ist eine höhere Nutzung wöchentlicher Zeitungen und Zeitschriften eher mit einer niedrigeren Problemwahrnehmung verbunden. Letztere steht auch in einem negativen Zusammenhang mit der Intention, einen klimafreundlichen Lebensstil zu pflegen. Positive Zusammenhänge mit der Mediennutzung (Nutzung öffentlich-rechtlicher TV-Nachrichten; wöchentliche Printmediennutzung; Nutzung von Onlineinformationen) zeigen sich jedoch für die Handlungsintention, gesellschaftlich für den Klimaschutz aktiv zu sein (Beziehen von Ökostrom und politisches Klimaengagement) sowie für politische TV-Magazine mit der Intention für klimafreundliche Haushaltsinvestitionen. Die unterschiedlichen Zusammenhänge der Mediennutzung mit Handlungsintentionen erklären die Autor*innen damit, dass Veränderungen des Lebensstils (z. B. weniger fliegen oder weniger heizen) einen stärkeren Eingriff ins alltägliche Leben darstellen als das Kaufen von Energiesparlampen (Investition) oder Ökostrom und zudem deutlich längerfristiger angelegt sind als beispielsweise ein kurzfristiges politisches Engagement (Arlt et al. 2010). Einen vergleichbaren Zusammenhang zwischen der Nutzung von Nachrichtenmedien und relativ unaufwändigen, klimafreundlichen Alltagsmaßnahmen (z. B. den Eltern beim Recycling helfen oder das Licht beim Verlassen eines Raumes ausschalten) fand auch Östmann (2013) in einer Studie mit schwedischen Jugendlichen. Für junge Erwachsene in Deutschland konnte eine von Leissner (2020) durchgeführte Befragungsstudie indes keinen Zusammenhang der Nachrichtennutzung mit umwelt- und klimafreundlichen Alltagshandlungen aufzeigen, allerdings mit der Nutzung sozialer Medien. Die Verfasserin führt dies auf die Mediennutzungsgewohnheiten der untersuchten Altersgruppe zurück, die deutlich seltener als der Bevölkerungsdurchschnitt klassische Nachrichtenmedien rezipiert, dafür aber umso stärker soziale Medien (Leissner 2020).

Effekte informationsorientierter Mediennutzung zum Klimawandel Deutlich spezifischere Aussagen können Studien treffen, die statt der allgemeinen Mediennutzung die Nutzung von speziell auf den Klimawandel bezogenen Inhalten betrachten. Eine der ersten Studien, die den Zusammenhang der klimawandelbezogenen Mediennutzung mit Wissen und Einstellungen analysiert, ist eine US-amerika-

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nische Befragung von Stamm et al. (2000). Die Autor*innen konnten zeigen, dass die Aufmerksamkeit für Ursachen und Lösungen des Klimawandels vor allem mit der themenspezifischen Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften zusammenhängt, während Radionutzung zum Klimawandel mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Folgen und Lösungen einhergeht. Interessanterweise fand sich kein Zusammenhang mit dem Fernsehen, dafür aber mit der Nutzung von themenspezifischen Büchern für die Aufmerksamkeit gegenüber Folgen, Ursachen und Lösungen zum Klimawandel (Stamm et al. 2000). Zwischenzeitlich wurden ähnliche Untersuchungen u. a. auch für Portugal durchgeführt (Cabecinhas et al. 2008). Die bereits erwähnte repräsentative Befragung von Taddicken und Neverla (2011) hat neben der habituellen, allgemeinen Mediennutzung auch die themenspezifische Mediennutzung zur Suche von Informationen über den Klimawandel erfasst. Die klimawandelspezifische Mediennutzung steht ebenfalls in einem positiven Zusammenhang mit dem Wissen über den Klimawandel, aber darüber hinaus auch mit der individuellen Verantwortungs- und Handlungsbereitschaft (gemessen als eine Kombination der Unterstützung politischer Maßnahmen, allgemeiner Abstriche vom Lebensstandard, Unterstützung finanzieller Investitionen, sowie der allgemeinen Bereitschaft, höhere Preise zu zahlen). Allerdings erlaubt das korrelative Design keine Einsicht in kausale Einflüsse, ob also die klimabezogenen Ansichten zu mehr klimawandelbezogener Mediennutzung führen oder klimawandelbezogene Mediennutzung die klimabezogenen Ansichten fördert (Taddicken, Neverla 2011). Für einen solch umgekehrten Zusammenhang liegen in der empirischen Literatur ebenfalls Ergebnisse vor (siehe beispielsweise Metag et al. 2015). Hinsichtlich des individuellen Problembewusstseins zeigt sich erneut kein Effekt der themenspezifischen Mediennutzung (Taddicken, Neverla 2011). Im Gegensatz zu dieser ersten Studie, in der die gezielte Nutzung klimawandelbezogener Informationen erhoben wurde, haben Brüggemann et al. (2017) den zufälligen Kontakt mit dem Thema (spezifisch für die 21. UN-Klimakonferenz in Paris) in den Medien erfasst. In einer Panelstudie wurden sowohl die Mediennutzung als auch Wissen, Wirksamkeitserwartungen, Verantwortung und Handlungsintentionen zwei Wochen vor dem Klimagipfel, während des Klimagipfels und vier Wochen nach dem Klimagipfel erfasst. Betrachtet man die verschiedenen Medientypen, haben die Befragten vor allem im Fernsehen – im Besonderen durch Nachrichten- und Informationssendungen des öffentlichrechtlichen Fernsehens (De Silva-Schmidt, Brüggemann 2019) – Informationen zum Klimagipfel rezipiert, gefolgt von Radio und Zeitungen.2 Hinsichtlich der 2 Ein ähnliches Nutzungsmuster konnten De Silva-Schmidt und Brüggemann (2019) auch für den Klimagipfel 2018 festzustellen, allerdings mit einer insgesamt höheren Nutzungsinten-

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Wirkung dieser Mediennutzung zeigt sich im Zeitverlauf auch in dieser Studie ein leichter Anstieg des Wissens zum Klimagipfel sowie der empfundenen Wirksamkeit von internationalen, politischen Klimaabkommen mit steigender Nutzung relevanter Informationen (Brüggemann et al. 2017). Das Hintergrundwissen zum Klimawandel blieb jedoch weitestgehend unverändert. Zudem finden die Autor*innen leicht negative Effekte: „a pioneer role for Germany receives less average support after the summit and we see that the summit has a temporary discouraging effect on intentions to take personal political action against climate change (Wave 2 as compared to Wave 1)“ (Brüggemann et al. 2017: 786). Für individuelles Alltagshandeln wie etwa im Bereich der Mobilität oder der Ernährung konnten keine Veränderungen gezeigt werden. Dies erscheint angesichts der vorrangigen Thematisierung politischer Handlungsmöglichkeiten und Akteure in der massenmedialen Berichterstattung plausibel. Ergänzend dazu erwies sich in der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe auch die Nutzung klimawandelbezogener Informationen in sozialen Medien zum 21. Klimagipfel als relevanter Aspekt für die Online-Partizipation zum Klimadiskurs. Während sich die vorliegenden deutschen Studien auf kurzfristige Effekte beziehen, liegen international auch bereits erste langfristige Studienergebnisse vor. Eine Analyse aus den USA zeigt beispielsweise, dass die Häufigkeit der Berichterstattung über den Klimawandel in US-amerikanischen Nachrichtenmedien zwischen 2002 und 2012 mit der Problemwahrnehmung der Bevölkerung zusammenhängt (Brulle et al. 2012).

Effekte unterhaltungsorientierter Medienangebote zum Klimawandel Für die Wirkung von Unterhaltungsmedien zum Klimawandel liegen kaum allgemeine oder themenspezifische Studien vor. Vielmehr beschränkt sich die überwiegende Mehrheit der vorliegenden Analysen auf drei populäre Filme zum Klimawandel: Den Thriller The Day After Tomorrow (2004), Das Zeitalter der Dummheit (The Age of Stupid, 2009) – eine Mischung aus Dokumentation und Drama – und die Dokumentation Eine unbequeme Wahrheit (An Inconvenient Truth, 2006) (Dudo et al. 2017; Sakellari 2015). Nur eine dieser Studien wurde jedoch mit einem Publikum in Deutschland durchgeführt. In einer Panel-Befragung von Besuchern in sechs Kinos, kurz vor und nach der Rezeption von The Day After Tomorrow, konnten Reusswig et al. (2004) einen kleinen, negativen Effekt auf die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, dass der Klimawandel stattfindet, feststellen. Die Autoren erklären diesen Effekt durch die apokalypsität. Zudem sind wurden gedruckte Zeitungen und Zeitschriften von Nachrichtenportalen und sozialen Netzwerken von Platz drei auf fünf der Informationsquellen verdrängt.

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tische, überspitzte Darstellung im Film, die nicht im Einklang mit den bereits vorhandenen Klimawandel-Szenarien war, die die Rezipient*innen im Vorfeld hatten (Reusswig et al. 2004). Gleichzeitig wurden Klimafolgen, die im Film aufgegriffen wurden (im Besonderen Kälteeinbrüche, Anstieg des Meeresspiegels und Stürme) als bedrohlicher bewertet, während nicht thematisierte Folgen (z. B. Dürren) als weniger problematisch angesehen wurden3. Bezogen auf die anthropogene Ursache des Klimawandels, stimmen nach der Rezeption etwas weniger Menschen der Aussage zu, dass der Klimawandel vom Menschen verursacht ist (Reusswig et al. 2004). Da der Film die menschliche Verantwortung nur indirekt thematisiert und stattdessen die apokalyptische Entwicklung der Natur fokussiert, erscheint dieses Ergebnis plausibel (Reusswig et al. 2004). Es zeigen sich jedoch auch positive Effekte: Nach dem Sehen des Films stimmen mehr Rezipient*innen zu, dass die Menschheit etwas gegen den Klimawandel tun kann. Auf der Ebene der Akteure wird nach der Rezeption des Films eine geringfügig stärkere Rolle von Politik, Wirtschaft sowie des einzelnen Individuums im Klimaschutz gesehen. Individuelle Handlungsintentionen wurden in dieser Studie nicht erfasst. Vergleichbare Studien aus den USA und Großbritannien konnten jedoch nach dem Sehen des Films stärkere allgemeine Intentionen aufzeigen, etwas gegen den Klimawandel zu tun (Leiserowitz 2004; Lowe et al. 2006). Bei konkreten Maßnahmen zeigte sich in einer britischen Studie nur für das Spenden von fiktivem Geld ein Effekt (die Teilnehmer wurden gebeten anzugeben, welchen Anteil sie von hypothetischen £ 1000 für den Klimaschutz spenden würden), nicht aber für das individuelle Mobilitätsverhalten oder die Nutzung von Energiesparlampen (Balmford et al. 2004). Da der Film zwar die generelle Notwendigkeit betont, das Klima stärker zu schützen, um verheerende Folgen zu vermeiden, ohne dabei jedoch auf reale, alltägliche Handlungsmöglichkeiten jedes einzelnen einzugehen, scheint dieses Ergebnis im Einklang mit dem Inhalt des Films zu stehen. Ein solcher Mangel individueller Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Individuums wird von Rezipient*innen einerseits als typisch für fiktionale Klimafilme – im Vergleich zu nicht-fiktionalen Filmen – betrachtet (Brereton, Hong 2013), jedoch auch als ein Nachteil dieser Filme kritisiert (Griffin 2017). Eine andere Untersuchung mit einem deutschen Publikum hat ein echtes Experiment durchgeführt, das auch kausale Schlüsse zulässt: Bilandzic und Sukalla (2019) untersuchten die Wirkung des deutschen Spielfilmes Hell (2011), dessen fiktionale Welt ein dramatisch überhitztes Klima präsentiert, in dem Wasser und andere Ressourcen rar und umkämpft sind. Der Grund für diese dystopische Welt wird in der Originalversion des Films nicht expliziert. Pro3 Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen auch ähnlich angelegte Studien aus den USA (Leiserowitz 2004) und Großbritannien (Balmford et al. 2004; Lowe et al. 2006).

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banden (deutsche Studierende), die den Film sahen, wiesen nach der Rezeption eine höhere persönliche Norm auf (die persönliche Verpflichtung, sich gegen den Klimawandel zu engagieren) als eine Vergleichsgruppe, die den Film nicht gesehen hat. Zudem stellten die Autorinnen fest, dass das emotionale und kognitive Vertiefen in den Film (das narrative Erleben) die Schuldgefühle der Rezipienten verstärkt, und diese wiederum die Handlungsintentionen steigern. Die Studie verdeutlicht, dass die Analyse von psychologischen Mechanismen, die zu einer Medienwirkung führen, eine wichtige Komponente der Medienwirkungsforschung zu Klimaeinstellungen ist – auch vielsprechend für andere Medienformen.

Fazit Grundsätzlich erfüllt die massenmediale Berichterstattung in Deutschland viele Voraussetzungen, die für eine umfassende Informationsvermittlung zum Klimawandel an Rezipient*innen erforderlich sind: Die Häufigkeit der Berichterstattung ist relativ hoch und betont einheitlich die anthropogene Ursache des Klimawandels. Gleichzeitig sind klimaskeptische Berichte in der Minderheit. Eine solche konsensorientierte Berichterstattung wird in der Literatur als zentrales Kriterium für die Problemwahrnehmung und Akzeptanz der anthropogenen Ursache des Klimawandels betrachtet (van der Linden et al. 2015). Experimentelle Studien zeigen, dass kontroverse und klimaskeptische Darstellungen im Vergleich zu konsensorientierten Beiträgen einen negativen Effekt auf die Problemwahrnehmung zum Klimawandel haben (Corbett, Durfee 2004). Ebenso konnte ein negativer Effekt klimaskeptischer Dokumentationen aufgezeigt werden (Greitemeyer 2013) Betrachtet man vorliegende Wirkungsstudien zur Medienberichterstattung, zeigen sich vor allem Einflüsse auf das Wissen der Rezipient*innen (Brüggemann et al. 2018). Sowohl die allgemeine als auch die themenspezifische Mediennutzung hängen nach Taddicken und Neverla (2011) positiv mit dem Wissen der Rezipient*innen über die menschliche Verursachung und spezifische Folgen des Klimawandels zusammen. Dieses Wissen steht im Einklang mit einer Berichterstattung, die die anthropogenen Ursachen und Folgen des Klimawandels konsensorientiert fokussiert. Die relativ häufige Darstellung von Handlungsmöglichkeiten in der massenmedialen Berichterstattung in Deutschland (Abschnitt 1.1) legt die Vermutung nahe, dass sich daraus auch Effekte für das individuelle Klimahandeln ergeben. Allerdings werden vorrangig politische Maßnahmen und keine alltäglichen Handlungsmöglichkeiten thematisiert sowie schwerpunktmäßig politische Akteure dargestellt (siehe Abschnitt 1.1). Diese fehlende Integration alltäglicher

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Handlungen könnte erklären, warum Studien zwar einen Einfluss der Medienberichterstattung für die Nutzung von Ökostrom, die Unterstützung politischer Maßnahmen und die Bereitschaft zur politischen Aktivität finden (Arlt et al. 2010; Taddicken, Neverla 2011), nicht jedoch für eine nachhaltige Änderung des eigenen Lebensstils (Arlt et al. 2010; Brüggemann et al. 2017). In diese Richtung argumentieren auch Arlt et al. (2010: 22) zur Erklärung des negativen Zusammenhangs zwischen der Bereitschaft den individuellen Lebensstil zu ändern und der wöchentlichen Printmediennutzung: „Die negativen Effekte […] könnten möglicherweise darauf zurückzuführen sein, dass […] Medieninhalte häufig nicht auf eine Förderung von Klimabewusstsein, bspw. Im Sinne von Lebensstiländerungen, ausgerichtet sind“. Für einen solchen Zusammenhang der Darstellung verschiedener Handlungsmöglichkeiten mit der jeweiligen Handlungsintention sprechen auch Ergebnisse vorliegender, experimenteller Studien. Nachrichtenbeiträge, die die Folgen der globalen Erwärmung aufzeigten, aber nicht auf Handlungsmöglichkeiten eingingen, hatten in einer Studie von Hart (2011) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Nachrichtenbeitrag keinen Einfluss auf die Handlungsintentionen der Rezipient*innen. Für politische Handlungsmöglichkeiten konnte indes gezeigt werden, dass Nachrichtenbeiträge, in denen die politische Wirksamkeit von Klimaschutzmaßnahmen hervorgehoben wird (im Vergleich zu einem Beitrag, der nur die Folgen des Klimawandels zeigt), Intentionen für politisches Engagement erhöhen können, indem sie Hoffnung bei den Rezipient*innen hervorrufen (Feldman, Hart 2016). Ebenso konnte durch die Betonung individueller Handlungsmöglichkeiten in einem Nachrichtenbeitrag zum Klimaschutz in einer US-amerikanischen experimentellen Studie die wahrgenommenen Wirksamkeitserwartungen individueller Klimahandlungen erhöht werden (Hart, Feldman 2016). Analog dazu zeigen auch Dickinson et al. (2013) in einer Studie zur Wirkung unterschiedlicher Klimaframes, dass die Betonung der Handlungsmöglichkeiten jedes Einzelnen in der Gesellschaft (im Vergleich zu einer Kontrollgruppe) die individuelle Bereitschaft, mehr auf den CO2-Ausstoß zu achten, verstärkt hat. Dies lässt darauf schließen, dass für Effekte auf Verantwortungsübernahme jedes Einzelnen und individuelles Klimahandeln auch dazu passende Inhalte erforderlich sind. Der Fokus auf die menschliche Verursachung und die Folgen des Klimawandels, der in der Medienberichterstattung häufig zu finden ist, kann diesen Bezug nicht umfassend erfüllen: „[I]t is doubtful whether knowledge about climate change, its origins and its consequences will inform individual behavior“ (Peters, Heinrich 2008: 33; siehe auch Brüggemann et al. 2018; Nisbet 2012). Vielmehr scheinen zur Förderung des individuellen Engagements Medieninhalte geeignet, die erfolgreiches individuelles Klimahandeln von Einzelnen aufzeigen (Hoppe 2015) und so nicht nur Informationen zu wirksamen Alltagshandlungen vermitteln (Hart, Feldman 2014),

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sondern gleichzeitig die Wahrnehmung entsprechender sozialer Normen für klimafreundliches Handeln fördern können (Howell 2011). Dies deckt sich mit Strategien aus der Umweltbildung, die im Besonderen alltagsnahe, für das Individuum relevante Informationen empfehlen (Monroe et al. 2019). Dieser Zusammenhang zwischen der Thematisierung individueller Klimaverantwortung und alltagsbezogener Handlungsmöglichkeiten mit Einstellungen und Handlungsintentionen stellt einen vielversprechenden Ansatz für zukünftige Analysen sowohl der informationsorientierten Medienberichterstattung als auch für Unterhaltungsmedien dar.

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Contemporary environmental calamities and instances of human rights infringements have significantly underlined the importance of place within the field of postcolonial ecocriticism. They have also brought about a concentration on issues of environmental justice, which unearth and critically examine unequal —and unethical—distribution of environmental danger and degradation that has been caused by immoral actions of the industrialized world. Within the scope of growing apprehension pertaining to global climate change, creative narratives play an essential role in shaping global environmental consciousness. They do so by impelling individuals as well as groups to reflect upon and confront injustices concerning climate change that are occurring—at an unprecedented rate—all over the world. In addition to exposing environmental injustices that are incessantly inflicted upon marginalized people and the ecosystems they inhabit around the world by means of “engag[ing] in an ongoing critique of the homogenization of global space from European colonialism to its aftermath in neoliberal globalization” (DeLoughrey 2014:320), literature—and other creative narratives— enable their audiences to imagine the difficulties of others whose conditions of life starkly differ from their own. The ability to envision the plights of others becomes especially important in view of the fact that the United States missed the chance to redefine itself as an ethical partner of a global community after its vulnerability was tragically exposed on 9/11. Rather than taking the opportunity “to reflect upon injury […] and […] [attempt] to find out who else suffers from permeable borders, [various forms of] unexpected violence, dispossession and fear” (Butler 2004:xii), the United States continues to recklessly add to the precariousness of some lives rather than recognizing the ethical dependence that humans have on each other in spite of their national and international borders.

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Judith Butler’s notion of the precariousness of life1 not only augments Rob Nixon’s concept of slow violence—and vice versa—but is also effectively embodied by it, when considered through the lens of global climate change. A central trope of the Anthropocene Age, Nixon’s concept of slow violence captures the delayed effects of transnational environmental injustices that occur gradually and out of sight, mainly affecting marginalized people and their ecosystems (Nixon 2011). Nixon emphasizes the utter failure of those not directly affected by the ongoing affliction to acknowledge these seemingly elusive injustices and wonders how the imperceptible environmental calamities of slow violence can be transformed into narratives that are powerful enough to incite public empathy and political intervention. While Butler (2004) also points to the ethical necessity of working toward a social transformation for the better, she argues that some lives may not be recognized as lives at all, thus emphasizing our moral obligation to help those who are not fully acknowledged by the dominant socio-cultural order, to be heard and seen. Given that narratives ingeniously call attention to and simultaneously condemn atrocious acts of oppressive power structures—which are incessantly occurring at the margins of dominant societies all over the globe—creative environmental narratives bring people and places that are inflicted by instances of slow violence to light. By so doing, they compellingly exemplify Hubert Zapf ’s (2008, 2014) triadic model of cultural ecology, one of the principal directions in ecocriticism and the Environmental Humanities. According to Zapf, in addition to operating as potent sources of both cultural insight and creative energy in their own right, literature and other aesthetic forms of creative expression2 are capable of investigating and overcoming fixed, multifaceted cultural borders. Thus, besides acting as effective antidotes against the tribulations of today’s impersonal and ever over-consuming society, creative environmental narratives also succeed at bringing incompatible sociocultural and environmental perspectives and discourses together. Drawing upon Rob Nixon’s notion of slow violence, Judith Butler’s concept of the precariousness of life and Hubert Zapf ’s theory of literature as cultural ecology, this essay will illustrate that Christine Shearer’s nonfictional book Kivalina: A Climate Change Story (2011) and Gina Abatemarco’s documentary film Kivalina: Life in the Modern Arctic (2016) operate as effective mediums that 1 While originally applied to contemporary epistemological and ontological discussions of frames of power and being against the backdrop of war, I find Butler’s concept of the precariousness of life particularly relevant to ongoing climate change discourses, as it points out discrepancies pertaining to perceptions of personhood. 2 While Zapf focuses on the genre of the novel in Literatur als kulturelle Ökologie, he points out that other genres, such as poetry, drama, or film, would be amenable to questions regarding literature as cultural ecology.

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shape environmental consciousness, as they convincingly convey the indigenous village of Kivalina’s critical condition of collective vulnerability—which has been caused by climate change—to their respective audiences3. By means of vividly asserting that time is running out for the people of Kivalina, these urgent accounts of contemporary environmental emergency make substantial contributions to the humanization of climate change in the Arctic.

Matters of Perception: Slow Violence and the Question of Personhood In light of the awful reality that diverse unethical environmental atrocities are— and continue to be—inflicted upon marginalized people around the world, Nixon urgently calls for global society to collectively “rethink—politically, imaginatively, and theoretically—what [he] call[s] ‘slow violence’, [namely] […] a violence that occurs gradually and out of sight, a violence of delayed destruction that is dispersed across time and space, an attritional violence that is typically not viewed as violence at all” (Nixon 2011:2). However, his call to action is rarely heard due to the fact that the ongoing over-stimulation of mass media has left the western world almost incapable of identifying violence that fails to act in accordance with Hollywood’s fast-paced images of “falling bodies, burning towers, exploding heads, avalanches, volcanoes and tsunamis” (Nixon 2011:3) or various frames of war that are perversely used to celebrate “nation-building” (Butler 2004:xiv) acts of self-defense, such as the many broadcasted images that paint a vicious, albeit patriotic picture of the United States’ “infinite war in the name of a ‘war on terrorism’” (Butler 2004:28). As a result, civilizations that equate violence with “an event or action that is immediate in time, explosive and spectacular in space, and as erupting into instant sensational visibility” (Nixon 2011:2), will not be able to recognize the catastrophic consequences of a violence that is neither fast-paced nor vivid. This certainly rings true in regard to western society’s awareness of slow violence in the Far North. Even though the environmental practices—or more fittingly malpractices—which cause toxic carbon-based contaminants to leave their industrial places of origin and travel to the top of the world, where they permeate and poison the land and life forms of the Arctic, are unquestionably violent, since they actively threaten traditional subsistence practices that are central to native cultures, the fact that the devastation they cause occurs out of sight, from those who are worlds away, causes them to remain—for the most part—out of mind. While the most significant predica-

3 A more expansive version of this argument will appear within the scope of my Ph.D.thesis.

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ment of slow violence lies in its inability to be perceived, the obstacles regarding the recognition of slow violence may nevertheless exceed circumstances of temporality and marginalization and instead have to do with “exclusionary conceptions of who is normatively human, what counts as a livable life and a grievable death” (Butler 2004:xiv–xv). Hence, Butler’s thoughts regarding the precariousness of life take the issue of slow violence’s virtual invisibility one step further by means of pointing out that the problems regarding its apprehension may have to do with the sad reality “that specific lives cannot be apprehended as injured or lost if they are not first apprehended as living” (Butler 2009:1). In other words, a life that falls outside of the normative frames that define personhood will neither be regarded nor recognized as being liveable or grievable. In spite of the fact that this is an utterly deplorable, albeit implicit circumstance, it clearly appears to apply to the vulnerable indigenous community of Kivalina, Alaska—their collective connection to and affiliation with the United States of America notwithstanding.

Northern Exposure: Cultural Ecology and the Power of Environmental Storytelling Art forms that succeed at telling stories of unfair environmental oppression that have drastic effects on the lives, livelihoods and life-sustaining environments of myriad of human and non-human life forms are of crucial importance to human understanding of and reaction to the collective threat of ongoing Anthropogenic climate change. This rings especially true in the Far North, given that, until recently, outside awareness of the huge and globally significant Arctic region existed almost exclusively as an illusory idea of a “terra incognita—as Romans once imagined the Arctic” (Banerjee 2013:13), despite the fact that the circumpolar Arctic has involuntarily become an authentic actor in the face of ongoing environmental calamities. Nonetheless, as much of the general public continues to misinterpret the Arctic as an isolated place that is completely detached from the rest of the world, contemporary environmental storytelling plays a crucial role in illustrating that the climate change barometer of the world is neither “a frozen wasteland, nor […] a pristine wilderness, but instead simply […] a home for numerous species” (Banerjee 2013:7) that must come to terms with manifold environmental emergencies that have been inflicted upon them. Given that they movingly inform their audiences of the tragic consequences of the chemical contamination of traditional subsistence sources by northbound persistent organic pollutants and the mayhem of fast-paced global warming in the Arctic—that has been increasing at approximately twice the rate as that of the

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rest of the globe over the past few decades—and has resulted in a significant loss of land, environmental narratives, such as Christine Shearer’s nonfictional book Kivalina: A Climate Change Story and Gina Abatemarco’s documentary film Kivalina: Life in the Modern Arctic have succeeded at putting the circumpolar Arctic on the map of ongoing environmental catastrophes and firmly established the global interconnectedness that exists between the Arctic region and the rest of the world. What is more, by means of providing their respective audiences with “potential window[s] into the lack of cultural recognition for the most oppressed and disfranchised” (Sze 2015:103) people of the Anthropocene, creative narratives not only act as sensory apparatuses of the dominant sociocultural order—by pointing out their respective, oppressive faults—but also offer those who have been harmed by acts of oppression “a symbolic space of expression and of (re-) integration into the larger ecology of cultural discourses” (Zapf 2012:256). In addition to being central to the potential processes of revitalization of those who have been violated, the invigorating metaphorical spaces that are made possible by these creative narratives also enable their audiences to empathize with individuals whose conditions of life are different from their own.

Above and Beyond Precarious: Kivalina—the Epitome of Environmental Urgency Kivalina is a small Inupiaq village in Northwest Arctic Alaska that sits on a rapidly eroding barrier reef island which is located between a lagoon and the Chukchi Sea, approximately 80 miles north of the Arctic circle. The barrier reef—that has no physical connection to mainland Alaska—is eroding out from under the village because climate change has caused sea ice that used to protect the village to melt. As the scholar, writer and journalist Christine Shearer points out in her 2011 book Kivalina: A Climate Change Story, it would be practically impossible to overstate the precarious nature of Kivalina’s current circumstances. The tiny village sits on a strip of land, a quarter of a mile across at its widest point, and is sandwiched between the Chukchi Sea and Kivalina Lagoon, at the mouths of the Wulik and Kivalina Rivers. The sea’s waves eat at the shore from the west and the water slowly undercuts from the east. The worst threats, however, come from the storms, which have swallowed as much as seventy feet in one downpour. Kivalina traditionally enjoyed protection from the sea ice formation, which surrounded and hardened the coastline. For the past three decades, however, the ice has formed later in the year and melted earlier, leaving the shore vulnerable to quick and dangerous erosion from storms. With a maximum elevation of only ten feet above sea level, Kivalina residents have lived [and continue to live] on constant alert. (Shearer 2011:14–15)

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Kivalina was officially designated a disaster area in 2005. In an attempt to protect the village, the Northwest Arctic Borough funded the construction of a ten-foottall sea wall that was composed of sand-filled baskets, reinforced with wire. Merely one month after its completion in 2006, however, the seawall was rapidly demolished by the tow of strong undercurrents. Only a year later, a raging storm not only forced the people of Kivalina to evacuate their village, but also caused them to lose a considerable amount of their subsistence provisions, when water leaked into the villagers’ ice cellars, and ruined the caribou and seal meat that had been stored there, in the frozen permafrost.4 After the storm, the U.S. Army Corps of Engineers approved the construction of a massive rock revetment around the south end of Kivalina in order to safeguard the village from further coastal erosion5. Although it was initially designed to be over 3,100 feet long and completed in a period of approximately ten years, funding was solely secured for 1,600 feet of the seawall facing the sea.

On the Edge of Survival: Kivalina: A Climate Change Story In August 2008, Christine Shearer traveled to Kivalina, Alaska, so that she could speak to the residents about the lawsuit Kivalina v. Exxon Mobil Corp, et al. which the community had filed in conjunction with environmental justice and indigenous rights organizations on February 26, 2008 (Shearer 2011). In its legal capacities as both a native village and a city, the people of Kivalina filed suit against twenty-four major fossil fuel companies, claiming that the vast amount of greenhouse gas emissions that the corporations released into the atmosphere had exacerbated global warming and substantially contributed to the village’s erosion. Furthermore, the village filed “secondary claims of conspiracy and concert of action against ExxonMobil, AEP, BP, Chevron, ConocoPhillips, Duke, Peabody, and Southern Company for conspiring to fabricate a false scientific debate about climate change to deceive the public” (Shearer 2011:117). Besides seeking damages for up to $400 million—the projected financial burden of relocating the village—the lawsuit was filed in an attempt to call attention to the precarious circumstances that the people of Kivalina are confronted with and also endeavored to “call for action from government and corporate officials that had so far largely ignored them” (Shearer 2011:7)

4 These chambers, which are usually built ten to twelve feet below the surface, have been used to store subsistence food for many generations, in order to ensure a sufficient supply throughout the sparser months—a storage method which is crucial for survival. 5 For more information, see the U.S. Army Corps of Engineers (2007).

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Upon experiencing Kivalina’s “shrinking coastline and the rapidly eroding bank”, first-hand, Shearer quickly became aware of the fact that “the real issue for Kivalina [was] not necessarily the lawsuit, but the relocation” (Shearer 2011:3) of the Inupiat village. This realization surfaces throughout her exceptional account of Kivalina’s devastation and inevitable relocation due to climate change, a landmark legal case for accountability concerning the impacts of global warming, and international corporations’ harrowing practice of misinformation and deception. Drawing on interviews with Kivalina locals, judicial and government officials, and research regarding legal and government documents, Shearer’s book vividly portrays the human face of this ongoing crisis. By means of credibly telling the tale of the approximately four hundred indigenous villagers, who literally exist on the edge of very thin—and rapidly disappearing— ice, Shearer succeeds at placing Kivalina in the limelight of the environmental crisis as well as on the forefront of the grassroots efforts of those who are fighting for climate justice. Each of the six chapters of Kivalina: A Climate Change Story is preceded by the words of former Kivalina Tribal Administrator and relocation administrator Colleen Swan, who not only conveys vital background knowledge pertaining to the past and present lifestyle and environment of the highly-adaptable Inupiat people, but also directly poses two urgent questions, asking readers: “Where will we go, and who will help us move?” (Swan, cited in: Shearer 2011:12). This precedent positioning is noteworthy. Rather than placing Swan’s words before her own as a means to point out a juxtaposition of the two voices, Shearer’s decision to place Swan’s words before her own appears to point to Shearer’s awareness that an incorporation of an authoritative indigenous voice6 is crucial to the authenticity of Kivalina’s ongoing tale of incessantly unfolding environmental emergency. Furthermore, this choice of placement also seems to underscore Shearer’s respect for—and confidence in the agency of—Swan’s words as well as the indigenous knowledge inherent therein. Rather than tracing the greenhouse gas pollution that is wreaking havoc on Kivalina back to its diverse sources of industrial origins7 Shearer’s book of nonfiction takes readers on an imaginative journey that begins with a close examination of the factors that contributed to—or possibly even caused—the 6 Even though I would argue that climate change is an issue that pertains to each and every human being, it is essential that the people, whose lives are directly affected by environmental emergencies, partake in the telling of their own stories. 7 The environmental journalist Martha Cone’s nonfictional book Silent Snow portrays such an investigative quest. In the book, Cone visits five Arctic countries, collecting evidence in the form of scientific data and stories, which she shares with her readers in order to explain how toxic chemicals travel to the Arctic where they devastate the lives and livelihoods of the people of the Arctic. For more information see Silent Snow: The Slow Poisoning of the Arctic.

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people of Kivalina to lose their lawsuit8, despite the evident fact that Kivalina is obviously experiencing the slow violence of climate change9 at a fast-forwarded pace. Accordingly, after Swan informs readers that adapting to the environment is no longer possible and a relocation of the village of Kivalina is inevitable, Shearer goes above and beyond the inhumane environmental crisis of here and now—and endeavors to find out what factors played a role in bringing it about in the first place—by tracing the emergence and development of what David Michaels, the former United States Assistant Secretary of Labor for Occupational Safety and Health, has coined the product defense industry or PDI, which consists “of lawyers, public relations firms, think tanks, and sophisticated, specialized organizations that go beyond traditional PR duties to undertake the shaping of not just public opinion, but also scientific research, government regulation, and legal opinion” (Shearer 2011:17), in order to fend off government regulation of their products, regardless of the consequences. After uncovering many of the PDI’s corrupt practices by means of illustrating how the asbestos, lead and tobacco industries employed manifold methods of propaganda and scientific corruption in order to successfully deter legislation of their products for decades despite sound evidence of serious harm to human health10, Shearer’s book informs its readers of “a confluence of the fossil fuel industry, the PDI and supportive politicians that came together in their common goal of preventing regulatory action on global warming” (Shearer 2011:85) once climate research had established itself and the evidence of dire consequences of climate change had become increasingly alarming. Accordingly, Kivalina: A Climate Change Story brings to light some of the PDI tactics employed by members of the U.S. government associated with the New Right movement11. In addition to creating and financing neoliberal think tanks—often associated with fundamentalist Christian foundations, such as The Coalition on Revival, a network of evangelical leaders devoted to the idea that a theocratic type of gov8 Shearer’s focus on the legal angle of Kivalina’s plight is noteworthy—and especially valuable —to both the narrative as well as the ongoing climate change crisis, as this focus points to yet another layer of deep time colonialism. 9 While the calamitous consequences of climate change will ultimately affect the entire planet, the people of the Far North are already experiencing what it means to have to come to terms with environmental emergencies such as the chemical contamination of subsistence sources, erosion, and fast-paced global warming, which has increased at almost twice the rate as that of the rest of the globe over the past few decades. 10 See “Blueprint for Denial” and “Shaping Legality” in Kivalina: A Climate Change Story for more details on the tactics that were applied and the lawsuits they affected. 11 The New Right movement started to form in the 1970s and originally consisted of conservative businessmen and fundamental Christian religious leaders, who voiced opposition on a variety of issues, including abortion, homosexuality, the Equal Rights Amendment (ERA), affirmative action, and most forms of taxation. Their collective incentive for neoliberalism resulted in a vast increase in corporate control over politics.

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ernment must be created before the return of Jesus—the confluence formed counterfeit grassroots organizations that outwardly appeared to consist of groups of concerned citizens, whose abhorrence of government regulation as well as allegedly fraudulent science had brought them together. What is more, the confluence not only funded various panels, lectures, and publications that contradicted the scientific findings of the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) but also widely distributed these findings in an attempt to undermine the work of genuine climate change scientists. As a result, many forged reports and petitions were extensively circulated, causing much harm. The Oregon Petition12 may very well be the most outrageous example of such charlatan science, since its creator, the late physicist Frederick Seitz, the former president of the National Academy of Sciences and head of the Science and Environmental Policy Project—an organization skeptical of climate change —not only falsified the science but the scientists, by means of categorizing celebrities as scientists and forging their signatures. Seitz’s alleged scientists included actors Michael J. Fox and Perry Mason as well as Geraldine Halliwell— also known as Ginger Spice of the pop band the Spice Girls. While this sounds too ludicrous to be true, the petition “was widely circulated throughout the U.S. media and cited by political representatives to support inaction on regulating greenhouse gas emissions, particularly with regard to ongoing UN negotiations” (Shearer 2011:87). It was seen as a piece of solid evidence that global warming did not represent a threat. Its circulation and other efforts of the corrupt group not only actively shaped the United States legal system in the direction of corporate interest but also attempted to mislead the public. Using the 2009 hacking and distribution of the emails and other documents of the Climatic Research Unit of the University of East Anglia—also known as Climategate—as an excellent case in point to vividly illustrate how the public was deliberately deceived, Shearer informs her readers how Climategate not only paved the way for the fossil fuel industry and its affiliates to take advantage of persuasive PDI tactics, legal strategies, and manpower in order to improve their blueprint for denial but also enabled Fox News and its associates to cast serious doubt on the validity of climate change by means of delivering discourses of denial. Going out of their way to frame and convey a falsified notion of reality, Fox News and its associates actively manipulated what vast amounts of the general public heard, believed, and accepted to be true. In contrast to Fox’s fabricated representations of reality, Kivalina’s former Tribal Administrator and relocation administrator, Colleen Swan’s grim, albeit authentic account of the environmental emergencies that she and her people 12 See “Global What” in Kivalina: A Climate Change Story for more details concerning the Oregon Petition.

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must endure informs readers that that climate change and its consequences are indeed very real. In Kivalina: A Climate Change Story, Swan affirms that the land began failing [d]ue to the lack of ice formation of October 2004. What had once been a normal occurrence of annual fall sea storms now became a life-threatening event. As the stormy days progressed, the people became concerned over the amount of land falling into the ocean. The island seemed to be falling apart and disappearing into the Chukchi Sea before the very eyes of its inhabitants. Volunteers began to work feverishly to hold the island together but every effort, every object placed along the edges, was being sucked into the angry sea. (Swan, cited in: Shearer 2011:100)

Originally used as a seasonal hunting camp by the inhabitants’ ancestors, Kivalina was not intended to become a permanent settlement, yet forcefully became one when the Bureau of Indian Affairs built a school on the island in 1905 and informed people who lived in the geographical area that they had to bring their children to the school to be educated or face imprisonment. More than a century later, the people who were forced to move to this designated place are now experiencing the dire effects of slow violence that are clearly transpiring at a fastforwarded pace, yet lack significant recognition in spite of the discernible tragedy that their land is literally crumbling into the surrounding bodies of water due to the consequences of global warming. After being hit hard by storm after storm, Kivalina was officially designated a disaster area in 200513. Despite the fact that immediate evacuation was recommended by various agencies, the U.S. Army Corps of Engineers decided to go against the community’s long-standing wish to relocate14 and instead elected to build a multimillion-dollar seawall, well aware that the unwanted seawall would not only fail to offer protection from excessive flooding and high waves but would also—in all likelihood—put an end to the extensively advocated of prospect of relocation.

This too, is America: Kivalina: Life in the Modern Arctic Set against the backdrop of said seawall and the omnipresent cranes involved in its construction, Abatemarco’s serene, vérité style documentary Kivalina: Life in the Modern Arctic15 offers a very picturesque and personal portrayal of the people 13 See “Relocation in a Neoliberal State” in Kivalina: A Climate Change Story for more information. 14 According to Swan (2011), the wish to relocate the people of the village surfaced in 1990, when —then tribal administrator—Cecil Hawley first raised the issue. 15 Kivalina: Life in the Modern Arctic premiered in the 66th Berlinale in a special section on Culinary Cinema.

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of Kivalina, who go about their everyday lives—eating their traditional foods, drumming, dancing, singing and playing bingo—while having to come to terms with the possibility, if not probability, that they have been left behind to—as one villager puts it—“welcome the waves to [be] take[n] away to Kingdom Come” (Abatermarco 2016). After informing its audience of Kivalina’s precise geographical location, north of the Arctic Circle, the film opens with an exceptionally long and quiet take on Kivalina’s stark landscape, which—at least at first—could easily be mistaken for a still life, if it weren’t for the subtle movement of the water. The unusually long duration of stillness and the subdued gray and white hues of the overcast sky that are interspersed by sporadic patches of sunlight and reflected in the ice floes and the surrounding water, below, conspire to set the atmosphere of and stage for Abatemarco’s intimate film about the people of Kivalina. Even though she had initially intended to make a political film, since she could not imagine that the U.S. government would leave the very people they had forcefully settled more than a century ago in such a vulnerable state, Abatemarco chose to alter the stance of her film, moving from politics to a very personal portrayal of the plight and resilience of the people, who had recently lost the lawsuit Kivalina v. Exxon Mobil Corp, et al. Accordingly, Abatemarco’s documentary delves deep into the difficulties that the village faces today, balancing what remains of their traditional lifestyle with modernity and the effects of climate change. She aesthetically depicts this act of balancing by means of juxtaposing instances of apparently conflicting cultural expression. Thus, the villagers’ wholehearted singing of an old hymn about the childhood memory of a beloved church that stands in a valley in faraway Iowa is followed by a traditional Inupiat drumming and dancing performance. Additionally, intimate acts of preparing and eating traditional food, which are aesthetically conveyed through remarkable close-ups of bearded seal blubber and Baluga whale as well as the hands, knives, and ulus involved in their preparation are interrupted by alarming scenes of mostly overweight villagers shopping for junk food in the neighborhood supermarket, which not only happens to be located in the living room of a local family but also appears to take up the majority of the family’s living space. The sad reality that the vast majority of the people—shoppers and family members alike—that have been captured in the village grocery store scene are obese is relevant, as it not only reveals yet another central aspect concerning the connection of dangerous consumption and climate change but also points to yet another form of colonialization that the U.S. government has, by extension, inflicted upon them. While aforementioned scenes vividly portray some of the most significant facets of cultural balancing that have emerged since 1905, when the U.S. government forced the once nomadic people of Kivalina to inhabit a permanent

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settlement, the most striking—and consequential—instance thereof, can be found in the documentary’s juxtaposition of film snippets depicting indigenous life and culture. Accordingly, Abatemarco’s film enables its audience to observe a family with small children—whom they had previously encountered during said family’s breakfast of instant noodle soup, eggs, and sandwiches—as they watch Hunt Stromberg’s 1934 film Eskimo16. While enjoying a bag of Cheetos, the parents comment upon the Inupiat protagonist Ray Mala’s acts of catching a fish, Eskimo kissing, and being attacked by a polar bear. The fact that the parents, at least to a certain extent, appear to be using Hollywood’s take on traditional Inupiat life and culture as a vehicle to convey their own cultural knowledge—of which much has been lost—is itself tragic. However, the tragedy regarding the cultural loss reaches its climax, when Kivalina: Life in the Modern Arctic’s audience is confronted with film footage of the not so long ago past that portrays the community as it vivaciously celebrates a successful whale hunt, communally sharing both the joy as well as the meat. Juxtaposing a depiction of artificial cultural life of 1934 with an authentic depiction that was recorded on May 10, 1990, and is no longer possible due to dire changes that have been brought about by climate change, clearly illustrates that in addition to having to watch the land crumble beneath their feet, the people of Kivalina are experiencing what Nixon refers to as “displacement without moving”, which “entails being simultaneously immobilized and moved out of one’s living knowledge as one’s place loses its lifesustaining features” (Nixon 2011:19). While Abatemarco’s poetic depiction of the lives of the people who endeavor to preserve their traditional lifestyle within the realm of their failing landscape make a political stance superfluous, the film’s storied observations that powerfully assert the senselessness of the seawall that the American government has— against all common sense—imposed upon the people of Kivalina vividly illustrate that Abatemarco’s poetic angle is nevertheless irrefutably political. Hence, the Sisyphean activity of the cranes that seem almost melancholic in their sluggishness as they pick up piles of rock only to put them back down at an adjacent spot seconds later is a performance of purported purpose that appears to be echoed by a futile meeting between the community and US government officials during which the latter resignedly take note of the community’s hardships and concerns and evade the questions concerning the price of the unwanted seawall, claiming that they lack the authority to answer. The pointlessness of these recurrent meetings reaches its epitome when one of the community 16 Even though Van Dyke’s and Stromberg’s Hollywood film was shot in Inupiat (with English subtitles) and its cast included several indigenous actors, scholar Peter Gellar points out that the film depicts the Inupiat as noble savages. For more information see Gellar’s (2003) “Into the Glorious Dawn: From Arctic Home Movie to Missionary Cinema”.

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members points out that the meetings would be just as effective if one of them were recorded and then replayed at future meetings as they will continue to be utterly senseless as well as repetitive. Recurring shots of the US flag not only remind the documentary’s audience that they are viewing a community in the United States but also establishes that by first forcing them to move to the thin barrier island—which now merely measures “a quarter mile across at its widest point” (Shearer 2011:13) and then leaving them to fend for themselves, without providing even the most rudimentary means of escape—such as an adequate amount of evacuation boats, the United States government has triply discounted them “as political agents, long term-casualties of […] slow violence and […] cultures possessing [cultural and] environmental practices of their own” (Nixon 2011:2). What is more, they have affected the dehumanization of the people of Kivalina by means of collectively robbing them of their essential human rights to life and security of person, as defined by article three of the Universal Declaration of the Human Rights of Man in addition to violating their rights “to the preservation of health, the right to life, physical integrity and security, the right to their own means of subsistence, and their rights to residence and movement and inviolability of the home” (Osofsky 2009:282–283) as outlined in the regional human rights document the American Declaration of the Rights and Duties of Man.

Conclusion The fact that dire scientific findings regarding climate change have triggered an unsurpassed level of alarm and urgency yet continue to be met with political— and legal—inaction confirms that current practices of confronting the climate crisis have largely remained unsuccessful, therefore underlining the urgent need for affective environmental narratives that possess the potential to bring visibility and recognition to otherwise unseen people and places, in addition to creating a sense of awareness for the interconnectedness that links human action and inaction to people and places all over the globe. By providing the appalling, albeit ongoing tragic story of Arctic climate change with human protagonists and their narratives, both creative environmental narratives succeed at “[giving] imaginative definition [and human perspective] to the issues at stake while enhancing the public visibility of the cause” (Nixon 2011:6). Despite the fact that they can neither turn back the clocks of time nor mend the damage that is rapidly transpiring within the realm of the traditional lifestyle and inhabited space of Kivalina, both narratives make significant contributions to the humanization of issues concerning Arctic climate change, by means of operating as powerful mediums to aesthetically visualize the fast-forwarded effects of slow

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violence in ways that echo the transformative energy of cultural ecology. In addition to weaving webs of storied meaning, experience and knowledge that engage the emotions and imaginations of their audiences, therefore bringing visibility and recognition to Kivalina and its people, both narratives figuratively transport their audiences to these storied landscapes of environmental urgency, where they can imaginatively experience what it means to exist under such dire circumstances. Kivalina: Life in the Modern Arctic and Kivalina: A Climate Change Story are both imperative as they effectively infiltrate the inner landscapes of their audiences’ imaginations where they generate recognition, understanding, and empathy for those worlds away. Hence, they not only succeed at putting the circumpolar Arctic on the map of ongoing environmental calamities but are also able to establish the global interconnectedness that exists between the Arctic region and the rest of the world, therefore acting as mediums to bridge the alleged gaps of time and space as well as self and other. In this manner, they directly involve their audiences in the issues that are being portrayed and therefore not only compel them to contemplate the connection that exists between the Arctic region and the rest of the world but also encourage them to actively concern themselves with the plight of Kivalina and its people.

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Niklas Völkening / Mona Dürner

Das Framing von Klimawandeldiskursen in Kuba

Einführung: Rahmung von Klimawandeldiskursen Der anthropogene Klimawandel erfährt als dominantes Syndrom der krisenhaften Mensch-Umwelt-Beziehungen des 21. Jahrhunderts anhaltend hohe und weiter zunehmende Berücksichtigung in politischen und gesellschaftlichen Debatten, Diskursen sowie insbesondere in den Medien (León et al. 2018:107). Das Framing von medialen Klimawandelberichten gewann dabei in den vergangenen Jahren an Bedeutung (Moser, Dilling 2006), um die Problematiken des Klimawandels, dessen Ursachen und mögliche Lösungen in verständlicher und wirksamer Form zu kommunizieren, wobei konkrete Formulierungen und Betonungen deutlichen Einfluss auf die Interpretation und Wirkung der jeweiligen Botschaft haben (O’Neill 2013; Hart 2010:31). Gemäß Shah et al. (2009:85) kann Framing dabei verstanden werden als „process by which the emphasis or construction of a message affects the interpretation of the receiver“. Hierbei zeigt sich, dass die mediale Berichterstattung und das mittels dieser vollzogene Framing die Klimawandeldiskurse maßgeblich prägen (Boykoff, Boykoff 2004). Oftmals sind Medienberichterstattung und Framing stark von politischen Gegebenheiten sowie den Ansichten der politischen Elite abhängig (Bennett 1990; Entman 2004). Anders ausgedrückt gibt nationale Politik vielfach die Leitlinien vor, innerhalb derer Berichterstattungen über den Klimawandel möglich sind. Allerdings zeigen Shehata und Hopmann (2012:188), dass der zunehmende internationale Austausch von Nachrichten und Meldungen die nationale Berichterstattung über den Klimawandel ebenfalls prägt und tendenziell vielfältiger macht. Die überwiegende Mehrzahl der Untersuchungen über das Framing des Klimawandels thematisiert Berichterstattungen in den relativ diversen und in pluralistischen Systemen verankerten Presse- und Medienlandschaften des Globalen Nordens (u. a. Boykoff 2011; Nisbet 2009; Weathers, Kendall 2016). Der vorliegende Beitrag richtet hingegen seinen Fokus explizit auf den Globalen Süden und betrachtet das mediale Framing des Klimawandeldiskurses in Kuba.

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Seit Anfang der 1990er Jahre führte Kuba eine progressive Umweltschutzpolitik ein (Maal-Bared 2006:350). Wegen und trotz der nach dem Zerfall des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ausbleibenden Unterstützung aus den ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten wurden ökologische Fragen im kubanischen Entwicklungsmodell stärker fokussiert (Levins 2000:32) und die Not des Mangels (Hoffmann 2009:104; Zeuske 2016:207) in eine Tugend gekehrt. So prangerte Fidel Castro in seiner vielbeachteten Rede auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro Konsumgesellschaften und ihre umwelt- und klimaschädlichen Lebensstile an, deren Auswirkungen insbesondere Menschen des Globalen Südens träfen (Castro Ruz 1992). Den in der Folge angestoßenen Maßnahmen in Kuba zum Schutz der Umwelt und zur Anstrengung einer nachhaltigen Entwicklung wurde zum Teil Vorbildcharakter zugesprochen (Stricker 2010:185) oder zumindest Anerkennung gezollt (Cabello et al. 2012:589; Maal-Bared 2006:351), auch wenn ökologische Belange weiterhin häufig den ökonomischen Notwendigkeiten der anhaltenden Krise in Kuba unterlegen sind (Benz 2017). In den vergangenen Jahren erfuhren der Klimawandel und seine Folgen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Berichterstattung durch die kubanische Regierung. Hierbei zeigt sich, dass der angestoßene Diskurs auch in Kuba über den Rahmen der (internationalen) Umweltpolitik und des Umweltschutzes hinaus instrumentalisiert wird. Mit diesem intentionalen Framing sollen strategische Ziele der kubanischen Führung erreicht werden, die teils nur in einem mittelbaren oder peripheren Zusammenhang mit der Klimakrise stehen. In dem vorliegenden Beitrag wird aufgezeigt, wie der kubanische Staat Klimawandeldiskurse auf mehrfache Art und Weise rahmt und nutzt, um unter anderem politische Ziele und Interessen zu verfolgen. Hierzu zählt beispielsweise die Festigung der ideologischen Position in Abgrenzung zum als klima- und umweltschädlich handelnd dargestellten Globalen Norden (hierbei insbesondere gegenüber den USA). Auch die sozioökologische Überlegenheit des sozialistischen Systems wird mit Verweis auf den Klimawandel und seine potentiellen Folgen legitimiert und untermauert. Methodisch stützt sich diese Studie auf eine, in Anlehnung an eine kritische Diskuranalyse durchgeführte, textanalytische Untersuchung von Reden kubanischer Präsidenten sowie von Zeitungsberichten, die in der Granma, dem offiziellen Kommunikationsorgan der Kommunistischen Partei Kubas, veröffentlicht wurden. Um die Rahmung und Instrumentalisierung der staatlich vereinnahmten Diskurse um den Klimawandel fassen zu können, ist neben der Analyse der verschiedenen Diskurselemente die naturwissenschaftlich fundierte Beschreibung der Konsequenzen des Klimawandels für Kuba relevant. Diese dient als Referenz, mit der die mediale Berichterstattung bzw. die untersuchten Reden mit explizitem Kuba-Bezug abgeglichen werden, um in der Berichterstattung

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zwischen wissenschaftlichen Fakten und intentionaler Auslegung – vulgo Framing – unterscheiden zu können. Um naturwissenschaftliche Erkenntnisse und die geistes- bzw. gesellschaftswissenschaftlich orientierte Textanalyse konstruktiv miteinander zu vereinen, erscheint die Perspektive der Environmental Humanities geeignet. Diese drängen auf eine engere, erkenntnisfördernde, bisweilen leider etwas unübersichtlich ausfallende Verschränkung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften (Bergthaller et al. 2014:262–263) und betonen die Bedeutung soziokultureller Phänomene für das Verständnis bzw. die Lösung von bspw. Klima- und Umweltproblemen. So betont Dörries (2010) die Relevanz von Politik und Kultur (neben den Naturwissenschaften) für ein umfassendes Verständnis des Klimawandels und begründet dies mit den Assoziationen von Furcht und Katastrophe, mit denen der Klimawandel häufig verbunden wird. Auch Hulme (2008:6) beklagt mit dem Fehlen einer kulturell und historisch begründeten Lesart des Klimawandels eine Lücke in den Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), in die die Environmental Humanities stoßen. Durch das Aufzeigen von verschiedenen Interpretationen von Klima und Klimawandel im Verlauf der Menschheitsgeschichte (Vormoderne: Klima als Ausdruck göttlichen Urteils; ab dem 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts: Klima als messbarer Befund; seither als furchteinflößende Katastrophe) zeigt er, dass die diskursive Bewertung des Klimawandels veränderlich und untrennbar mit dem soziokulturellen Hintergrund der Bewertenden verwoben ist. Grundsätzlich ist somit aus Sicht der Environmental Humanities interessant, wie aus der Perspektive der kubanischen Führung auf den Klimawandel geblickt wird, wie bzw. mit welchen Absichten und Interessen das diskursive Framing des Klimawandels vollzogen wird und welche Ideen und Visionen gegen den Klimawandel und seine Folgen in diesen Diskursen entworfen werden. Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Zunächst werden die naturwissenschaftlich prognostizierten Konsequenzen des Klimawandels für Kuba dargelegt. Anschließend wird eine Betrachtung des Klimawandels und seiner Konsequenzen aus Sicht der Environmental Humanities vorgenommen. Im Fokus steht dabei die mediale Berichterstattung über den Klimawandel, dessen Framing und Folgen. Berichterstattungen spielen eine fundamentale Rolle bei der Genese und Veränderung von Klimawandeldiskursen und den darin enthaltenen Narrativen, Positionen und als möglich erachteten Handlungsoptionen. Insofern erscheint die Betrachtung der medialen Rezeption des Klimawandels in Kuba ratsam, um das Framing des Klimawandeldiskurses dekonstruieren und die teilweise damit verbundenen Absichten der kubanischen Führung analysieren zu können. Dies wird im Abschnitt Das Framing des Klimawandels in Kuba – Arena von Süd-

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Nord-Konflikten vollzogen, der auf die Erläuterung der angewandten Methodik folgt. Abschließend wird ein Fazit gezogen.

Folgen des Klimawandels in Kuba Die mittlere globale Temperatur steigt aktuell um 0,2 °C pro Dekade – so schnell wie in den letzten 10.000 Jahren nicht. In großen Teilen dafür mitverantwortlich ist der anthropogene Treibhauseffekt (Umweltbundesamt 2013). Insbesondere Gesellschaften des Globalen Nordens stoßen seit Beginn der Industriellen Revolution in weitaus höherem Maße Treibhausgase aus, als das Erdklimasystem puffern kann, vor allem durch die Verbrennung fossiler Energieträger. Die Anreicherung dieser Treibhausgase in der Atmosphäre verstärkt den natürlichen Treibhauseffekt, dessen rezente Auswirkungen bereits beobachtbar sind und dessen zukünftige Konsequenzen in verschiedenen Klimafolgenprojektionen modelliert werden (Neubäumer 2019:798–799). Obwohl der Klimawandel ein globales Phänomen ist, sind seine Folgen in Art und Intensität regional unterschiedlich (IPCC 2018). Zu den durch den Klimawandel entstehenden Veränderungen zählen unter anderem modifizierte Niederschlagsverteilungen und -intensitäten sowie der globale Temperatur- und Meeresspiegelanstieg, die regional bzw. lokal häufigere Überflutungen und Extremwetterereignisse, wie Dürren und Stürme, zur Folge haben können (IPCC 2018:234–235). Aufgrund differierender physisch-geographischer und sozioökonomischer Faktoren können verschiedene Räume als unterschiedlich verwundbar eingestuft werden (Umweltbundesamt 2020), wobei speziell kleine Inseln als besonders vulnerabel durch die Folgen des Klimawandels gelten, primär aufgrund ihrer geringen geographischen Ausdehnung, ihrer Isolation und Exposition. Zudem sind (Insel-)Staaten des Globalen Südens aufgrund schwächerer sozioökonomischer Resilienz besonders verwundbar (UNDP 2010). Zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen in Bezug auf den Klimawandel und seine Folgen haben sich 44 kleine Inselstaaten und Staaten mit niedrig gelegenen Küsten in der Alliance of Small Island States (AOSIS) zusammengeschlossen, um auf eine Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 °C hinzuwirken (AOSIS 2019a). Kuba ist Mitglied dieser Allianz (AOSIS 2019b). Denn auch auf Kuba werden ein Anstieg der Lufttemperatur und Veränderungen bei der Niederschlagsverteilung und -menge verzeichnet. So lag die Jahresmitteltemperatur von 2016 in der Karibik um 1,01 °C über dem Durchschnitt der Jahresmitteltemperaturen im Zeitraum von 1910 bis 2000 (NOAA 2019). Zudem weisen ursprünglich regenreiche Orte Kubas nun oftmals Niederschlagsdefizite auf und vice versa. Außerdem steigt die Niederschlagshäufigkeit in Küstengebieten, während sie im Landesinneren zurückgeht (Salomón 2019). Insgesamt

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wirken sich die klimatischen Veränderungen deutlich nachteilig auf die Insel aus. Sie bringen allen voran häufiger auftretende Hitzewellen, Dürren, Überschwemmungen und Hurrikans mit sich (Cashman, Nagdee 2017:158–160). Infolge der in ihrer Intensität und Auftrittshäufigkeit zunehmenden Dürren und Hitzewellen treten auf Kuba vermehrt Wassermangel, Bodenversalzung, eine schlechtere Grundwasserqualität und Vegetationsbrände auf. Die damit verbundenen Folgen können Ernte- und Biodiversitätsverluste, die Zerstörung von Infrastruktur sowie mehr Hitzetote sein. Obgleich es paradox erscheinen mag, so können aufgrund der erhöhten saisonalen Variabilität der Niederschläge auch Starkregenereignisse – und damit verbunden Überschwemmungen – häufiger auftreten. Diese können materielle Schäden und Ernteeinbußen verursachen und zur Verunreinigung von Trink- und Grundwasser führen. Auf Kuba können neben Starkregenereignissen auch der steigende Meeresspiegel sowie Hurrikans für Überschwemmungen verantwortlich sein (CITMA 2017:6–12). Ausgehend von einer globalen Erwärmung von 1,5 °C wird bis zum Jahr 2100 ein Meeresspiegelanstieg von 26 bis 77 cm erwartet. Wird eine globale Erwärmung von 2,0 °C angenommen, würde sich der Meeresspiegel um weitere 10 cm heben (IPCC 2018:11). Welches Ausmaß der Meeresspiegelanstieg jedoch bei einer aktuell prognostizierten globalen Erwärmung von 3,0 °C bis 4,0 °C annimmt, ist bislang unklar (Pötter 2019:5). Unzweifelhaft ist, dass daraus resultierende temporäre und permanente Überflutungen, erodierende Küsten sowie erhöhte Salzwasserintrusion Kubas Bevölkerung und Ökologie erheblichen Schaden zufügen können (IPCC 2018:11–12). So besteht einerseits die Gefahr, dass für die Wirtschaft und den Verkehr relevante Infrastruktur- und Industrieanlagen sowie Wohngebäude und touristisch genutzte Orte in Küstennähe beschädigt oder zerstört werden (IturraldeVinent, Serrano Méndez 2015:54). Auf Kuba liegen insgesamt 262 Siedlungen auf einer Höhe von unter einem Meter über NN und maximal einen Kilometer von der Küste entfernt. Von diesen Siedlungen werden bis zum Jahr 2100 voraussichtlich 122 teilweise oder gänzlich von Überflutungen betroffen sein, wobei Orte wie Las Canas, Playa Cajío und Tunas de Zaza sowie die Verbindungsstraße zwischen Santiago de Cuba und Pilón besonders gefährdet sind (Iturralde-Vinent, Serrano Méndez 2015:35, 52). Andererseits stellt der steigende Meeresspiegel eine Gefahr für das kubanische Ökosystem dar, insbesondere, aber nicht ausschließlich, für Korallenriffe und Mangrovenwälder. In Kuba gelten rund 94 % der Korallenriffe bereits seit 2012 als beschädigt. Gründe hierfür sind vorrangig die Wasserversauerung und die Wellenerosion (Iturralde-Vinent, Serrano Méndez 2015:11–12), die beide mit Voranschreiten des Klimawandels zunehmen. Mittlerweile sind 70 % der kubanischen Korallenriffe als stark gefährdet deklariert (CITMA 2017:11). Ihre Zerstörung nimmt nicht nur der Meeresfauna ihren Schutzraum (Iturralde-Vinent,

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Serrano Méndez 2015:11), sondern erhöht gleichzeitig das Überflutungsrisiko der Küsten sowie die damit zusammenhängende Schädigung besiedelter Räume. Die Mangrovenwälder, die ebenfalls eine Schutzfunktion für die Küsten ausüben (Naciones Unidas 2018:25), werden aufgrund des steigenden Meeresspiegels und des veränderten Salzgehalts des Wassers Stress ausgesetzt (Alongi 2015:30). Obwohl zunächst keine vollständige Destruktion der kubanischen Mangroven, die über 50 % der Küste säumen, erwartet wird, kann ein schlechter Gesundheitszustand der Wälder ihre Anpassungsfähigkeit an die Auswirkungen des Klimawandels bedeutend mindern. Zu den gefährdetsten Regionen zählen hierbei die Südküsten der Provinzen Artemisa und Mayabeque (Iturralde-Vinent, Serrano Méndez 2015:17–18; CITMA 2017:10). Im atlantischen Becken, in dem Kuba liegt, herrschen ideale Bedingungen für die Entstehung von tropischen Wirbelstürmen: Passatwinde, hohe Sonneneinstrahlung und große Wasserflächen mit einer Oberflächen-Mindesttemperatur von 26 °C (DWD 2019). Seit den 1990er Jahren treten dort in vermehrtem Maße tropische Wirbelstürme auf (Walsh et al. 2016:69). Der Klimawandel wird diese Entwicklung voraussichtlich weiterhin verstärken, da durch ihn die Wassertemperatur im atlantischen Becken ansteigt, sodass tropische Wirbelstürme mehr Energie schöpfen können. Damit verbunden ist ein häufigeres Auftreten von schweren tropischen Wirbelstürmen der Kategorien vier und fünf der SaffirSimpson-Skala (de Coninck et al. 2018:203–204). Durch ihre hohen Windgeschwindigkeiten und schweren Niederschläge führen Hurrikans neben Sturzund Sturmfluten auch zu Windbrüchen, Küstenerosion und Erdrutschen (Wachnicka et al. 2020). Für die Bevölkerung vor Ort bedeuten die Auswirkungen der tropischen Wirbelstürme meist hohe materielle bzw. finanzielle Schäden. So traf im September 2017 der Kategorie 5-Hurrikan Irma (höchstmögliche Kategorie der Saffir-Simpson-Skala) mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 297 km/h auf die kubanische Nordküste (Fonseca-Rivero et al. 2018:229). Die Folgen waren unter anderem über 150.000 als beschädigt gemeldete Gebäude, eine über mehrere Tage hinweg unterbrochene Strom- und Wasserversorgung und rund 338.000 Hektar verwüstete Zuckerrohranbaufläche. Zudem führen Hurrikans immer wieder zu Todesopfern, deren Zahl in Kuba vor allem aufgrund des zentral organisierten Katastrophenschutzes und des – im Vergleich zu vielen anderen karibischen Staaten – sehr guten Gesundheitssystems zumeist relativ niedrig bleibt (Zakrison et al. 2020:14). Kuba wird somit auf vielfältige Art und Weise vom Klimawandel betroffen sein bzw. ist dies bereits. Anschließend an die Diskussion der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel in Kuba und seine Konsequenzen wird der Blickwinkel der Environmental Humanities auf den Klimawandel erläutert, die als mögliches Bindeglied zwischen Natur- und Geistes- bzw. Gesellschaftswissenschaften verstanden werden.

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Der Klimawandel aus dem Betrachtungswinkel der Environmental Humanities Spätestens mit den kontrovers geführten Debatten um den (durchaus zu kritisierenden) Begriff des Anthropozäns (Crutzen 2002:23) setzte sich die Perspektive durch, dass Mensch und Umwelt nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern untrennbare Teile eines gemeinsamen Systems sind (Neimanis et al. 2015:68). Insbesondere die immer rascheren und extremeren Veränderungen, die unter anthropogenem Einfluss auf dem Planeten ablaufen (z. B. der Klimawandel), machen eine Revision des Denkens über die Umwelt sowie über die Beziehungen zwischen Umwelt und Gesellschaft unumgänglich. Dass hierzu die humanistische Trennung zwischen Naturgeschichte und menschlicher Geschichte überwunden werden muss (Chakrabarty 2009), erscheint konsequent. Hier knüpfen auch Haraways (2008) „Naturecultures“ an: Ontologien des (menschlichen) Lebens in, als, und durch Umwelt, die untrennbar mit menschlicher Kultur verwoben ist. Relativ lange Zeit wurden die Untersuchungen zum Klimawandel und die Diskussionen darüber von den Naturwissenschaften dominiert, während geistesund gesellschaftswissenschaftliche Beiträge eher randständig waren (Hulme 2011:177). Immer exaktere Modellierungen und Projektionen bilden die physikalische (Klima-)Realität und deren potenzielle Zukünfte zwar immer genauer ab, lassen aber gleichzeitig nur wenig Raum für gesellschaftliche Initiative und Partizipation (Robin 2018:3). Gleichzeitig scheinen technische Reports und naturwissenschaftliche Folgenabschätzungen nur unzureichend dazu beizutragen, gesellschaftliche und individuelle Verhaltensänderungen zu induzieren. Vielmehr sind es gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Bedingungen, die das persönliche Verhältnis zum Klimawandeldiskurs prägen – oder Menschen zu Skeptikern bzw. Leugnern des Klimawandels machen können, wie Soentgen und Bilandzic (2014) zeigen. Veränderungen im menschlichen Verhalten scheinen Impulse zu benötigen, die neben naturwissenschaftlich-technischen auch soziale Komponenten enthalten. An dieser Stelle setzen die Environmental Humanities an. Sie versuchen, disruptive Phänomene wie den Klimawandel in die Lebenswirklichkeiten der Menschen einzubetten und sie somit, trotz der raumzeitlich hochgradig unterschiedlichen Verteilung ihrer Folgen, erklär- und erfassbar zu machen (Robin 2018:2). Hierbei soll die Perspektive insofern verschoben werden, als dass globale Umweltveränderungen nicht mehr ausschließlich als ökologische Phänomene, sondern als fundamental gesellschaftliche und auch menschliche Herausforderungen wahrgenommen werden sollen (Palsson et al. 2011:5). Der Klimawandel und andere Umweltphänomene sind nach Lesart der Environmental Humanities

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folglich nicht unabhängig vom Menschen zu denken. Die Environmental Humanities fokussieren explizit die Überlappungen von politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen mit Umweltfragen (Neimanis et al. 2015:69). Eine damit verbundene Herausforderung besteht unter anderem in den Unterschiedlichkeiten und Gleichzeitigkeiten von Weltanschauungen, Subjektivitäten und Praktiken menschlicher und nicht-menschlicher Gesellschaften – diese müssen akzeptiert und detailliert beschrieben werden, um Interpretationen der Welt und der Beziehungen des Menschen zur Umwelt zu ermöglichen, die notwendigerweise nie abgeschlossen sind bzw. sein können (Neimanis et al. 2015:69). Aus Sicht der Environmental Humanities ist die Auseinandersetzung mit rahmenden (framing) Narrativen und Darstellungen in Medien, Literatur und Alltagsdiskursen essenziell notwendig, um den Klimawandel sowie seine Folgen und Interpretationen zu verstehen und darüber hinaus mögliche Handlungsansätze entwickeln zu können (Hulme 2011:177). Die Erkenntnisse von van Renssen (2017) zeigen beispielsweise, dass das viszerale Erleben des Klimawandels (z. B. in Form von Musik, Bildern oder Filmen) klimafreundliches oder klimaschädliches Verhalten induzieren kann, kulturelle Erfahrungen somit ganz praktisch Einfluss auf den Klimawandel nehmen können. Zudem sind Bedeutungszuschreibungen, Werte und Verantwortung sowie individuell und gesellschaftlich sinnbildende Prozesse zu berücksichtigen (Rose et al. 2012:1). Nur durch die Einbettung und Einordnung von Daten, Modellierungen und Prognosen zum Klimawandel in menschliches Handeln bzw. in gesellschaftliche Strukturen können Handlungsstrategien (die durchaus auch technischer Natur sein können) wirksam erarbeitet und implementiert werden. Wissen über historisch-sozioökonomische Zusammenhänge ist grundlegend, um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse hin zu mehr Klimaschutz verstehen und letztlich moderieren zu können (Robin 2018:2; Hulme 2011:178). Ein weitreichendes Verständnis für (zukünftige) Mensch-Umwelt-Prozesse ist somit nur unter Berücksichtigung von menschlichen Imaginationen, kulturellen und sozialen Praktiken sowie von Institutionen möglich (Neimanis et al. 2015:80). Wie Appadurai (2013) feststellt: Die Zukunft ist ein kulturelles Faktum. Dabei greifen die Environmental Humanities methodologisch auf ein der Komplexität der Mensch-Umwelt-Verhältnisse angemessen breites Instrumentarium zurück (Robin 2018:11), das sich in expliziten Forderungen nach Transbzw. Postdisziplinarität niederschlägt (Rose et al. 2012; Neimanis 2015:86). Die Grenzen von Wissenschaftsdisziplinen sollen nicht nur überschritten, sondern zugleich der Einbezug der Öffentlichkeit in Forschung und Praxis vollzogen werden, bspw. durch Formen der Citizen Science, die insbesondere im Umweltund Naturschutz erfolgreich Anwendung finden (McKinley et al. 2017).

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Die Environmental Humanities streben danach, durch ihr breites theoretisches und methodisches Fundament weitere Erklärungsebenen der MenschUmwelt-Verhältnisse zu erschließen, die nach Neimanis et al. (2015:74–77) von vier wesentlichen Herausforderungen erschüttert werden: 1) Entfremdung bzw. Unzugänglichkeit von Umweltfragen (etwa aufgrund zu hoher Abstraktheit); 2) Post-politische und post-faktische Verhältnisse; 3) Negatives Framing von Umweltwandel (insb. Klimawandel), das die aktive Partizipation der Gesellschaft hemmen kann; 4) Gedankliche Abtrennung der Umwelt von anderen Problemfeldern. All diese Herausforderungen können durch die Environmental Humanities zwar nicht zwangsläufig entschärft, jedoch zumindest in ihrer sozioökonomischen, politischen und ökologischen Tiefe erfasst und adressiert werden. Jedoch sind die Environmental Humanities nicht die einzige Denkschule, die krisenhafte, komplexe und planetar ausgedehnte Problemlagen in den MenschUmwelt-Beziehungen in Form von Narrationen framen können (Robin 2018:11). Und auch wenn die Rolle der Geisteswissenschaften aus Perspektive der Environmental Humanities deutlich über die eines Vermittlers von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen hinausgeht (Hulme 2011:178), so sind sie doch kein „Allheilmittel“. Stattdessen sind Human- und Naturwissenschaften in Klimawandeldiskursen von gleicher Wichtigkeit und nur in (richtiger) Kombination geeignet, um dem Klimawandel entgegenzuwirken (Hulme 2011:178). Durch das Verweben der Geisteswissenschaften mit ökologischen und post-humanen Fragestellungen werden diese potenziell transformiert, wie auch ökologische Perspektiven verändert werden, weshalb Neimanis et al. (2015:90–91) die Environmental Humanities als „kritische Posthumanities“ bezeichnen. Doyle (2016:8) betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit aufzuzeigen, wie der Klimawandel das Leben von Menschen beeinflusst; und dies nicht in einer fernen, abstrakten Zukunft, sondern im reellen Hier und Jetzt, eingebettet in gesellschaftliche Strukturen, Wertvorstellungen und Normen. Dies kann unter anderem durch die lebensnahe Thematisierung von Klimawandeldiskursen, abseits von IPCC-Berichten und Reports, geschehen. Beispielsweise werden der Klimawandel und seine Folgen für den Menschen in der Literatur fiktional als sogenannte „cli-fi“, non-fiktional, oder in Lyrik und Theater verständlich und durch einen lebensweltlichen Bezug zugänglich (Trexler 2015). Auch und besonders die mediale Berichterstattung über den Klimawandel formt dessen gesellschaftliche Wahrnehmung und den Möglichkeitsraum, innerhalb dessen Handlungsstrategien entworfen oder verworfen werden können. So zeigt Boykoff (2013) in seiner Untersuchung der Berichterstattung über den Klimawandel in den US-amerikanischen Medien, dass die Skeptiker des anthropogenen Klimawandels in überproportionalem Maße Aufmerksamkeit erhalten – mit unmittelbaren Folgen für Klima- und Umweltschutzpolitik.

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Bei der nachfolgenden Analyse des Framings des Klimawandeldiskurses durch die kubanische Führung wird die soeben skizzierte Perspektive der Environmental Humanities eingenommen. Die Darstellung und Verhandlung des Klimawandels in Kuba wird so nicht nur als ökologische und soziale Herausforderung interpretiert, sondern es wird der Versuch unternommen, durch die Aufdeckung der genutzten Frames, die politischen und ideologischen Intentionen dieses Diskurses nachzuzeichnen.

Methodik Zur Untersuchung der von der kubanischen Regierung gerahmten Klimawandeldiskurse wird eine Textanalyse herangezogen, die sich an der Kritischen Diskursanalyse (KDA) nach Jäger (2012) sowie an Foucaults Diskursbegriff orientiert. Foucault (1972:49) beschreibt Diskurse als „practices that systematically form the objects of which they speak. Of course, discourses are composed of signs; but what they do is more than use these signs to designate things. It is this more that renders them irreducible to the language (langue) and to speech. It is this ‚more‘ that we must reveal and describe.“

Jäger und Jäger (2007:23) greifen Foucaults Diskursbegriff auf und bezeichnen einen Diskurs als „rhyzomartig verzweigte[n] mäandernde[n] ‚Fluss von ‚Wissen‘ bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit‘, der […] die Vorgaben für die Subjektbildung und die Strukturierung und Gestaltung von Gesellschaften [schafft]“. Die Diskursanalyse geht damit über die ‚bloße‘ Kommunikation hinaus. Sie beschäftigt sich mit der Institutionalisierung von Diskursen und ihrer Machtwirkung bzw. Einbettung in Machtgefüge. Über die Analyse sozialer Praxis hinaus sollen mittels der Kritischen Diskursanalyse somit auch die Machtwirkung und die Kontexte (Jäger 2012:38; Keller 2007:33) von Diskursen beleuchtet werden (vgl. auch die zugrundeliegenden Überlegungen Foucaults zum Zusammenhang von Wissen und Macht; z. B. in Foucault 1992:32–33). In der durchgeführten Textanalyse wurden zwar die Kontexte der untersuchten Beiträge und Äußerungen teilweise herausgearbeitet und beschrieben, auf die konkrete Machtwirkung auf Institutionen und Subjekte konnte durch die Analyse der im Korpus enthaltenen Texte jedoch nicht oder nur bedingt rückgeschlossen werden. Dies könnte in einer stärker diskursanalytisch orientierten Anschlussuntersuchung umgesetzt werden, die über Texte und Textpassagen hinaus auch die Konsequenzen der Texte auf Machtverhältnisse und das Wirken von Macht durch das Sprechen bzw. Schreiben über den Klimawandel fokussiert. Beispielhafte Fragen könnten hierbei sein: ‚was kann/konnte wann von wem wie gesagt werden?‘ – oder auch nicht gesagt werden? (Jäger 2019:63).

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Die vorliegende Studie basiert auf der Analyse von zweierlei Texttypen. Auf der einen Seite werden Äußerungen (Reden, Manuskripte, veröffentlichte Briefe und Beiträge, Diskussions- und Gesprächsprotokolle) der drei de facto Staatsführer Kubas seit der Kubanischen Revolution in die Untersuchung einbezogen. Dies sind: Fidel Castro (Ministerpräsident ab Februar 1959, Präsident ab 1976 bis 2008), sein jüngerer Bruder Raúl Castro (Präsident von 2008 bis 2018) und Miguel Díaz-Canel (Präsident seit 2018). Auf der anderen Seite werden Artikel und Beiträge der kubanischen Tageszeitung Granma analysiert.

Abbildung 1: Ausschnitt der Titelseite der Granma des 24. 09. 2019. Quelle: Granma (2019)

Die Granma ist das „offizielle Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas“ (siehe auch den Titelkopf in Abbildung 1). Obwohl die im Februar 2019 in Kraft getretene neue kubanische Verfassung die Freiheit der Presse anerkennt (República de Cuba 2019:Artículo 55), sind Medien und Presse in Kuba ausschließlich Eigentum des „ganzen Volkes“ oder der „politischen, sozialen und

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Massenbewegungen“ (República de Cuba 2019:Artículo 55) und unterliegen somit staatlicher Kontrolle. Die Presse hat damit weiterhin die ihr seit den 1960er Jahren von staatlicher Seite zugedachte (und kontrollierte) Rolle als „fuerza militante al servicio de la opinión pública, la Revolución y el socialismo1“ (García Luis 2013:132). Die in der Granma publizierten Darstellungen und Ansichten können daher als kongruent mit den Positionen der Kommunistischen Partei – ergo der Regierung – angesehen werden. Der gesamte Textkorpus der Untersuchung wurde zunächst einer Strukturanalyse unterzogen. Der Korpus umfasst 38 mehr oder weniger umfangreiche, schriftliche und mündliche Äußerungen der Staatsoberhäupter (29 von Fidel Castro, vier von Raúl Castro und sieben von Miguel Diáz-Canel) sowie 129 ebenfalls in Form und Umfang heterogene Beiträge aus der Granma. Die präsidialen Äußerungen stammen aus den Jahren 1990 bis 2019, die Zeitungsbeiträge aus den Jahren 2002 bis 2020. Abbildung 2 zeigt die Anzahl der untersuchten Berichte bzw. Reden nach Erscheinungsjahr.

Abbildung 2: Analysierte Beiträge nach Jahr und Quelle. Quelle: eigene Abbildung

Da der Klimawandel in einigen dieser Texte lediglich angesprochen, aber nicht vertieft wurde, fanden nicht alle aufgeführten Texte Eingang in die abschließende Analyse und die nachfolgende Diskussion. Die eingehend begutachteten Textstellen sind mitsamt Veröffentlichungsdatum und vollem Titel im Anhang einzusehen. Im Folgenden sind die jeweiligen Textstellen mit nummerierten Kürzeln versehen, wobei z. B. „FC_16“ für „Fidel Castro – Text Nummer 16“ steht, „G_056“ für „Granma – Text Nummer 56“. 1 Übersetzung: „kämpferische Kraft im Dienste der öffentlichen Meinung, der Revolution und des Sozialismus.“

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Das Framing des Klimawandels in Kuba – Arena von Süd-Nord-Konflikten Die Struktur der Berichterstattung über den Klimawandel in der kubanischen Granma sowie in den Reden und Schriften kubanischer Präsidenten weist eine Reihe von wiederkehrenden Mustern auf, die im Folgenden dargelegt werden. Dabei erfährt das Framing des Klimawandels im Verlauf des betrachteten Zeitraumes teilweise einen Wandel. So verändert sich beispielsweise der Schwerpunkt der räumlichen Maßstabsebene, auf der die Konsequenzen des voranschreitenden Klimawandels beschrieben werden. In den 2000er Jahren beschrieb die Granma den Klimawandel vorrangig auf globaler Maßstabsebene mit relativ allgemein formulierten Folgen (u. a. G_001, G_012, G_043). Insbesondere Fidel Castro betonte wiederholt die Globalität des Klimawandels und seiner Folgen (u. a. FC_06, FC_19). Auch die Auswirkungen für größere räumliche Einheiten wie etwa Kontinente (z. B. Afrika in G_023, G_028 und G_081) oder Ozeane (G_041, G_042) wurden häufig thematisiert, Konsequenzen für Kuba im Speziellen jedoch nicht. In Bezug auf Kuba vollzog das Framing jedoch in den 2010er Jahren einen deutlichen Perspektivwechsel, beginnend mit einem ausführlichen Granma-Bericht über die lokalen Auswirkungen des Klimawandels am Beispiel von Hurrikan-Schäden an der Küstenstraße zwischen Santiago de Cuba und Pilón (G_055). Immer häufiger und ausführlicher schilderte insbesondere die Granma in der Folge die Auswirkungen des Klimawandels auf die kubanische Gesellschaft (u. a. G_124), Ökonomie (u. a. G_074, G_085) und Umwelt (u. a. G_069). Auch einige andere Frames veränderten im Verlauf des untersuchten Zeitraums ihren Schwerpunkt oder gewannen bzw. verloren an Bedeutung. Diese Dynamiken unterschiedlicher Frames werden im Folgenden ebenfalls beschrieben, sofern sie durch entsprechende Textbelege evident erscheinen. Angesichts aktueller Anlässe und zeitweiliger Trends gibt es eine Reihe von Themen und Frames, die für jeweils relativ kurze Zeitabschnitte (wenige Wochen bis Monate) intensiv thematisiert wurden bzw. werden, anschließend aber nicht mehr oder nur in stark reduziertem Umfang. Dies kann zum einen daran liegen, dass auslösende Anlässe vorüber sind (z. B. Naturkatastrophen oder Klimakonferenzen), oder eine Gewöhnung an einen neuen Gleichgewichtszustand eingesetzt hat. Ein Beispiel für eine Thematik, die im Rahmen des Klimawandeldiskurses kurzzeitig sehr intensiv bearbeitet wurde, anschließend aber nicht mehr in Erscheinung trat, ist die kritische Haltung Fidel Castros (FC_21, FC_28) und der Granma gegenüber Biokraftstoffen (G_011, G_028, G_032), die in den Jahren 2007 und 2008 intensiv diskutiert wurden. Hintergrund waren die global stark steigenden Nahrungsmittelpreise, wofür oftmals die energetische Verwer-

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tung landwirtschaftlicher Produkte verantwortlich gemacht wurde. Tatsächlich spielten Spekulationen von Finanzinvestoren eine weitaus größere Rolle für den ausgeprägten Anstieg der Rohstoffpreise zwischen den Jahren 2006 und 2008 (Baffes, Haniotis 2010:18). Da solch kurzfristig intensiv diskutierte Themen oftmals spezifische Hintergründe und Ursachen haben, die eine Einbettung in übergeordnete Diskurse erschweren können, wurden sie in Reden und Zeitungsartikeln lediglich dann einbezogen, wenn sie argumentativ in einen superioren Zusammenhang einzuordnen waren. Um die in Artikeln, Beiträgen und Reden vertretenen Positionen und Deutungsmuster zu untermauern und als objektive und wertungsfreie Berichterstattung zu framen, führen die Redakteur*innen und Redner häufig internationale Institutionen und Medien als Quellen an und zitieren diese teilweise direkt. Insbesondere die Vereinten Nationen (u. a. G_004, G_027, G_071) und das IPCC sind hier zu nennen (u. a. G_013, G_029). Bis 2009 beschreiben die Beiträge in der Granma die Rolle der UN und des IPCC durchweg als positiv; sie bringen den internationalen Institutionen offenbar ein hohes Maß an Vertrauen entgegen. Dies gilt auch für UN-Klimakonferenzen, denen die Autor*innen der entsprechenden Texte bis 2009 eine große Bedeutung im Kampf gegen den Klimawandel beimessen. Dies ändert sich jedoch merklich mit der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen, die in ihren Ergebnissen nur mäßig erfolgreich war und die die Granma als ernüchternd beschreibt (u. a. G_058, G_096). In der kubanischen Berichterstattung werden hierfür zuvorderst die USA verantwortlich gemacht – die Formulierung „La cita terminó secuestrada por un reducido grupo de países con Estados Unidos a la cabeza y solo produjo una llamada declaración impuesta por Washington y los anfitriones daneses y de la cual Naciones Unidas se limitó a tomar nota2“ (G_053) drückt dies emotiv aus. Das Framing der USA wird an späterer Stelle nochmals vertieft diskutiert. Auch die Rolle des IPCC sowie das Gremium selbst werden in späteren Berichten kritischer bewertet, etwa für den geringen Anteil an Forscherinnen innerhalb der Expertengruppe (G_090). Die Granma zitiert bisweilen auch ausländische Politiker*innen und Wissenschaftler*innen, etwa den sozialistischen Ex-Präsidenten Boliviens, Evo Morales (G_032) oder Felipe Calderón (G_060). Hierbei wird die kubanische Perspektive zumeist untermauert bzw. durch Referenzieren als objektiv und international anerkannt gerahmt, sowohl in politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Durch die Verschachtelung fachlicher Aussagen von Expert*innen und Interpretationen bzw. Sichtweisen der kubanischen Präsidenten 2 Übersetzung: „Das Treffen wurde schließlich von einer kleinen Gruppe von Ländern unter der Führung der Vereinigten Staaten gekapert und brachte nur eine sogenannte Erklärung hervor, die von Washington und den dänischen Gastgebern auferlegt wurde und die die Vereinten Nationen einfach zur Kenntnis nahmen.“

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und Redakteur*innen ist es teilweise schwierig zu differenzieren, welche Beitragselemente Fakten und welche Interpretationen sind. Die Rolle der Medien bei der Vermittlung und Einordnung von Prozessen und Folgen des Klimawandels wird nur selten thematisiert. Gleichwohl greift die Granma teils auf ausländische Medien bzw. Presseagenturen zurück (z. B. Russia Today: G_028, G_077) und zitiert oder diskutiert deren Berichte. In den analysierten Reden und Texten werden der anthropogene Klimawandel und seine Folgen meist drastisch bewertet. So verknüpft die Granma-Redaktion die Frage nach der Zukunft des Planeten (G_009) und/oder der Menschheit (G_037) mit der zukünftigen Entwicklung des Klimas. Hierbei greift sie häufig auf illustratives Vokabular zurück, das den Klimawandel beispielweise als „alarmierend“ (G_096), als „Katastrophe“ (G_056) oder als „Tragödie“ (G_116) bezeichnet. Besonders eindrücklich sind jedoch die Passagen, in denen die Redakteur*innen den Kampf gegen den Klimawandel als notwendig zur Rettung bzw. Verteidigung des Planeten bezeichnen (u. a. G_123, G_099). Hier stellen die Autor*innen die Reaktion auf den Klimawandel als Frage von „vida o muerte3“ (G_032) dar. In anderen Texten charakterisieren sie die Klimafrage als wichtiges Element zur Wahrung des Weltfriedens (G_012, G_018, G_029). Die wohl drastischste Beschreibung des anthropogenen Klimawandels stellt die Aussage dar, die Folgen des Klimawandels seien nur mit denen eines potenziellen Nuklearkrieges zwischen den USA und der Sowjetunion während des Kalten Krieges vergleichbar (G_018). Ebenso deutlich fällt meist auch die Beschreibung der Konsequenzen des Klimawandels aus. Besonders häufig beschreiben Reden und Zeitungsartikel hierbei ab Anfang der 2010er Jahre solche Folgen des Klimawandels, von denen auch Kuba betroffen ist bzw. sein könnte. Viele dieser potenziellen Klimawandelfolgen wurden bereits im Abschnitt Folgen des Klimawandels in Kuba beschrieben wie beispielsweise der Anstieg des Meeresspiegels (FC_10, G_018, G_037, G_062, G_085, G_088, G_095), die Zerstörung von Korallenriffen (G_043), Meerwasserintrusion (G_085) sowie die gesteigerte Auftrittshäufigkeit und Intensität von Hurrikans und Extremwettereignissen (G_037, G_066, G_075, G_088). Die Granma thematisiert auch negative ökonomische Folgen, zum Beispiel für die Landwirtschaft (G_037, G_070, G_094), die Fischerei (G_025) oder die gesamte kubanische Volkswirtschaft (G_074, G_088). Darüber hinaus beschreiben die Redakteur*innen und Redner viele Folgen des Klimawandels, die vorrangig auf Staaten des Globalen Südens bezogen werden, etwa die Gefahr der Knappheit von Nahrungsmitteln und Hunger (G_002, G_023, G_028, G_038, G_043, G_044), von Wasserknappheit (G_002, G_017, G_028), Dürren (FC_19, G_018, G_023, G_057, G_075) und Desertifika3 Übersetzung: „Leben oder Tod“.

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tion – vor allem in Afrika (G_028) – sowie von humanitären Krisen und Umweltmigration (G_012, G_032, G_043). Zudem sprechen sie einige räumlich nicht weiter differenzierte Herausforderungen an, etwa Gefahren für die Gesundheit (G_016, G_023, G_126) oder das Artensterben (G_002, G_025, G_038, G_075, G_088). Dagegen thematisieren nur vergleichsweise wenig Artikel die Folgen des Klimawandels, die Kuba und die meisten Staaten des Globalen Südens nicht direkt betreffen, z. B. das Abschmelzen von Hochgebirgsgletschern (G_031, G_078). Die gehäufte Thematisierung von Klimawandelfolgen, die Staaten des Globalen Südens treffen, schlägt sich in einem weiteren Frame nieder: Hierbei betont vor allem die Granma die Vergleichbarkeit der Situation, in der sich die Staaten des Globalen Südens befinden. Diese werden zumeist zu einem Block zusammengefasst und umfassen teilweise auch die BRICS-Staaten. In der Regel beschreiben die entsprechenden Zeitungsbeiträge die Staaten des Globalen Südens als jeweils ähnlich von den Folgen des Klimawandels betroffen (G_017, G_022, G_029), während sie nicht für diesen verantwortlich sind (G_020). Hiermit beschwört die Granma die Einigkeit der Staaten des Globalen Südens in Bezug auf ihre Sichtweisen und Forderungen (G_063). So scheint die Konfrontation mit dem Klimawandel den Zusammenhalt der Staaten des Globalen Südens sowie den Willen zur Kooperation zu verfestigen (G_059, G_088, G_093). Auch die Befürchtung, der Klimawandel erhöhe die Abhängigkeit des Südens gegenüber dem Norden, etwa bezogen auf Ernährungssicherheit, wird gemäß den Darstellungen in der Granma von anderen Staaten geteilt (G_047, G_081). Zugleich äußern die Redakteur*innen wiederholt Forderungen, die Belange der Entwicklungsländer stärker zu berücksichtigen (z. B. G_063). Durch diesen Frame erscheint die kubanische Position nicht als isoliert, sondern wird eingebettet in eine breite Bewegung von Staaten, die gegen negative Auswirkungen des Klimawandels gemeinsam vorgehen möchten. In scharfem Kontrast hierzu steht die Darstellung des Globalen Nordens. Mehrere Artikel der Granma bezeichnen die Gruppe dieser Länder bisweilen als „entwickelte Staaten“ (G_020, G_051) bzw. „Industriestaaten“ (G_019, G_021) oder schlichtweg „reiche Staaten“ (G_046, G_061). In der großen Mehrheit der untersuchten Texte benennen die Autor*innen diese Staaten als Verantwortliche für das Voranschreiten von Klimawandel und Umweltzerstörung (u. a. G_037, G_078, G_089). Besonders häufig führt die Granma die USA an, die vor allem während der Regierungszeiten von George W. Bush (G_026, G_036) und Donald Trump (G_089, G_096, G_127) als klimafeindlich dargestellt werden. So beschreiben einige Artikel die USA als „máximos agresores al ambiente4“ (G_037) und „el país 4 Übersetzung: „größte Aggressoren gegen die Umwelt“.

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más contaminante del planeta5“ (G_026). Andere Beiträge brandmarken das Verhalten der US-amerikanischen Regierung als „skandalös“ und „unmoralisch“ (G_036) und inszenieren es als antagonistisch zu einer rationalen und an einem globalen Gemeinwohl orientierten Klimapolitik (G_051). Auch die Weigerung der US-Regierungen, internationale Klimaschutzabkommen zu ratifizieren, greifen die Redakteur*innen wiederholt auf und kritisieren diese scharf (u. a. G_051). So richten sie bisweilen Forderungen an die USA, ihre Klima- und Umweltpolitik zu überarbeiten. Ein Beispiel hierfür ist folgender Appell: „Cesen los egoísmos, cesen los hegemonismos, cesen la insensibilidad, la irresponsabilidad y el engaño.6“ (G_087)

Zudem stellen einzelne Granma-Beiträge eine Verbindung zwischen US-amerikanischer Politik und der US-Wirtschaft her, etwa am Beispiel von Petro-Konzernen wie Exxon-Mobile (G_036), die zugleich als Feinde des Globalen Süden bezeichnet werden (G_036). Abgesehen von den USA benennt und kritisiert die Granma nur selten Staaten aus dem Globalen Norden konkret. Eine der seltenen Ausnahmen sind Japan (G_061) sowie Brasilien (G_099), wobei die Autorin des Artikels in diesem Fall vielmehr auf dessen rechtskonservativen Präsidenten Jair Bolsonaro abzuzielen scheint. Interessanterweise beschreibt die Granma das Verhalten Russlands hingegen durchweg als positiv und sensibel für die Belange des Klima- und Umweltschutzes (G_050). Auch aus Russland wird eine die USA kritisierende Expertenmeinung zitiert (G_050), um wiederum die kubanische Perspektive durch das Anführen gleichlautender Meinungen auf internationaler Ebene zu untermauern. Die Granma konkretisiert die Kritik an den Staaten des Globalen Nordens in vielen Texten und Beiträgen. So machen die Redakteur*innen Konsumgesellschaften bzw. den Konsumismus in den entwickelten Staaten (G_051) und das kapitalistische Wirtschafts- und Produktionsmodell für den anthropogenen Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt verantwortlich (G_052, G_100, G_116), eine Argumentation, die Fidel Castro bereits im Jahr 1998 in einer Rede vorbrachte (FC_18). Die negativen Folgen der „Irrationalität und Nicht-Nachhaltigkeit“ des Kapitalismus (G_078) für das Klima und die Umwelt bringen einzelne Beiträge darüber hinaus mit negativen Folgen für die Volkswirtschaften des Globalen Südens in Verbindung (G_078), sodass es zu einer Verschneidung der Diskurse über Klimawandel und internationale Abhängigkeiten kommt.

5 Übersetzung: „das am stärksten umweltbelastende Land der Erde“. 6 Übersetzung: „Schluss mit dem Egoismus, Schluss mit dem Hegemonismus, Schluss mit Gefühllosigkeit, Verantwortungslosigkeit und Betrug.“

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Ein in diesem Zusammenhang häufig gezeichnetes Bild stellt den Globalen Norden als Verursacher der Klimakrise dar, weshalb dieser auch die finanziellen Lasten zur Bewältigung ebendieser tragen soll. Hierbei fordern die Autor*innen der Granma die Industriestaaten auf, für klimawandelbedingte Schäden aufzukommen und einen Technologie- und Kapitaltransfer in den Globalen Süden zu initiieren, sodass die dortigen Gesellschaften eine Chance auf Mitigation und Adaptation haben (u. a. G_086, G_088). Auch diese Forderung hatte Fidel Castro bereits in den 1990er Jahren formuliert (FC_19). Als Parteiorgan der Kommunistischen Partei Kubas nutzt die Granma den Klimawandeldiskurs auch zur ideologischen Abgrenzung und Profilierung. Das sozialistische System Kubas, durch das Umweltzerstörung vermindert und der anthropogene Klimawandel abgebremst werden könnte, deklariert die Granma als Alternative zu den klimafeindlichen Staaten des Globalen Nordens und ihrem kapitalorientierten Wirtschaftssystem (u. a. G_051, G_068, G_071). Auch in diesem Fall dient die Zitation eines UNO-Experten zur Bestätigung der kubanischen Sichtweise (G_051, G_068, G_071). Ferner beschreibt die Granma den Beitrag Kubas zum Schutz des Klimas sowie die kubanischen Maßnahmen zur Mitigation des Klimawandels und zur Anpassung an diesen durchweg als positiv und vorbildlich. Neben der wiederholten Forderung an die Staaten des Globalen Nordens, ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren (u. a. G_026, G_051, G_088), artikulieren die analysierten Texte eine Reihe von aktiven Schritten zur Bekämpfung des Klimawandels. So bietet Kuba der Weltgemeinschaft etwa an, Wissenschaftler*innen und Forschungskapazitäten zur genaueren Untersuchung des Klimawandels und seiner Folgen bereitzustellen (G_037). Der Großteil der vorgeschlagenen bzw. durchgeführten Maßnahmen beinhaltet jedoch technisch-organisatorische Lösungen zur Bewältigung der Klimakrise (G_004, G_088). So werden technische Innovationen (G_001) und Verbesserungen an Kraftwerken (G_050) beschrieben und weitere Investitionen in Technologie und Infrastruktur als notwendig erachtet (G_067). Auch fordern die Redakteur*innen in deutlichen Worten den Transfer von Technologien und Finanzmitteln aus dem Globalen Norden in den Süden (G_112), um die Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen in Kuba zu erzielen. Auffällig ist, dass der Suffizienzgedanke nicht oder nur subliminal in Erscheinung tritt. Die meisten für Kuba in Betracht gezogenen Gegenmaßnahmen beziehen sich auf technologische Lösungen, wie etwa die Revolución Energética (G_003, FC_22, G_038), in deren Rahmen alte, energieineffiziente Haushaltsgeräte vom kubanischen Staat gegen neuere, energiesparsame Geräte ausgetauscht wurden. Ein interessanter Ansatz ist das staatliche Programm

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Tarea Vida7, das zunehmend auch auf nicht-technische Maßnahmen setzt und das die Granma seit seiner Verabschiedung im Jahr 2017 bislang zwölfmal thematisierte (u. a. G_068, G_106, G_115). Zusammenfassend beschreibt das folgende Zitat aus einem Granma-Beitrag das kubanische Selbstverständnis in Bezug auf seine Maßnahmen gegen den Klimawandel treffend: „El experto [Tomás Gutiérrez Pérez, director del Instituto de Meteorología de Cuba] dijo […] que Cuba, a pesar de ser una nación pequeña cuyo aporte a la eliminación de gases de efecto invernadero resulta casi insignificante, se alza en las tribunas internacionales como ejemplo.8“ (G_037)

Grundsätzlich scheint der von der kubanischen Führung dirigierte Klimawandeldiskurs als Arena des internationalen Klassenkampfes zu dienen (G_022, G_073), wobei die Rollen klar verteilt sind. Die Staaten des Globalen Nordens und Südens treffen hier aufeinander, wobei ihre Interessen und Absichten in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklung, Klima- und Umweltschutz als scheinbar unvereinbar beschrieben werden (G_020, G_056). Die Staaten des Globalen Südens befinden sich dabei in einer unverschuldeten, nicht direkt bzw. aus eigener Kraft auflösbaren Opferrolle (u. a. G_017, G_028, G_032, G_052). Die hierbei aufgezeigten Querverbindungen zwischen Klima- und Umweltschutz und entstehenden bzw. fortbestehenden Abhängigkeiten des Südens gegenüber dem Norden ordnete insbesondere Fidel Castro in bereits existierende Diskurse um Kolonialismus und Unterentwicklung ein (FC_06, FC_13, FC_19). Bei der Reflektion der bisherigen Ausführungen gilt es zu beachten, dass es neben der Vielzahl an Zeitungsartikeln und Reden, die ein intentionales Framing des Klimawandeldiskurses nahelegen, auch eine Reihe von Beiträgen gibt, die sachlich-nüchtern über den Klimawandel berichten. Diese Beiträge (u. a. G_008) erfüllen über die Information der Rezipienten hinaus offenbar keinen ideologisch-instrumentellen Zweck.

Fazit Die kubanische Führung bettet den Klimawandel und die damit verbundenen Phänomene in Framings und Interpretationen ein, die teils zur Erreichung anderer, nicht-umweltbezogener Ziele dienen. Zwar fußen die analysierten Texte und Reden fast ausnahmslos auf international anerkannten, naturwissen7 Übersetzung: „Aufgabe Leben“. 8 Sinngemäße Übersetzung: „Der Experte [Tomás Gutiérrez Pérez, Direktor des kubanischen Instituts für Meteorologie] sagte […], dass Kuba, obwohl es eine kleine Nation ist, deren Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasemissionen fast unbedeutend ist, auf der internationalen Bühne als Beispiel steht.“

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schaftlichen Erkenntnissen, doch die hieraus von den kubanischen Präsidenten und der Granma abgeleiteten und der kubanischen Bevölkerung zugetragenen Schlussfolgerungen zeigen, dass für die konkrete Auseinandersetzung mit dem Klimawandel und seinen Folgen sowie für seine intellektuelle Einordnung dessen Interpretation und Deutung von großer Bedeutung sind. Die in der Granma entworfenen Perspektiven auf den Klimawandel und seine Verursacher sowie die von den Präsidenten skizzierten Ideen zum Umgang mit sich verändernden klimatischen Bedingungen bilden eine wichtige Grundlage für die diskursive Auseinandersetzung und Bewertung in der kubanischen Gesellschaft. Durch die Einordnung des Klimawandels in bekannte ideologische Koordinatensysteme, in denen die verschiedenen Akteure und ihre Rollen bereits bekannt sind, wird der Klimawandeldiskurs politisch vereinnahmt und zugleich produktiv gemacht, da erst diese Rahmung den Horizont der möglichen praktischen Herangehensweisen absteckt und bestimmte Praktiken des (Nicht)Handelns legitimiert. So werden etwa monetäre Forderungen gegenüber dem Globalen Norden insbesondere durch dessen Framing als Verursacher des Klimawandels gerechtfertigt. Grundsätzlich kann demzufolge eine instrumentell-ideologische Rahmung des Klimawandeldiskurses in der Berichterstattung der Granma und in präsidialen Reden attestiert werden. Zentral scheinen dabei folgende Intentionen zu sein: – Eine zumeist drastische Bewertung des Klimawandels und seiner Konsequenzen in wortmächtigen Formulierungen, zunächst vor allem auf globaler, später auch auf nationaler Maßstabsebene. – Die durchaus objektive, naturwissenschaftlich begründete Diskussion des Klimawandels in vielen Beiträgen. – Die Zusammenfassung der Staaten des Globalen Südens in der Rolle der nichtverantwortlichen, teils ohnmächtigen Opfer des Klimawandels. – Im Kontrast hierzu die Staaten des Globalen Nordes als für den Klimawandel Verantwortliche, die zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen aufgefordert werden. – Die Kritik an Kapitalismus und Konsumismus als ursächlich für den anthropogenen Klimawandel. – Die Präsentation des kubanischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems als klima- und umweltfreundliche Alternative zu diesen. – Die Aufforderung zur Finanzierung der vorgeschlagenen Maßnahmen und technischen Lösungsansätze zur Mitigation und Adaptation in Kuba durch die Weltgemeinschaft bzw. den Globalen Norden. Verglichen mit der Granma und Fidel Castro äußerten sich Raúl Castro und Miguel Díaz Canel dabei deutlich seltener zum Klimawandel und lassen in ihren Reden und Schriften keine derart klare Haltung erkennen, wie sie sich bei Fidel

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Castro abzeichnet. Allerdings könnte dieser Umstand auch den deutlich weniger umfangreichen Textkorpora geschuldet sein, die von Raúl Castro und Miguel Diaz Canel für die Analyse zur Verfügung standen. Der vorliegende Beitrag möchte nicht als Kritik an der kubanischen Berichterstattung über den Klimawandel aufgefasst werden. Stattdessen soll er eine weitere Facette zur politischen und gesellschaftlichen Interpretation des Klimawandels in einem globalen Diskurs hinzufügen. Quasi jede Äußerung über den Klimawandel (und darüber hinaus) ist gerahmt und mit Interessen und Absichten verwoben. Insofern ist die Erkenntnis, dass dies auch in Kuba geschieht, nicht weiter erstaunlich. Interessant ist jedoch die Identifikation verschiedener Frames, die über das Sujet des Klimawandels hinausreichen, etwa die Beschwörung des Zusammenhaltes unter den Staaten des Globalen Südens, die häufig als einheitlicher Block konstruiert werden – sowohl in ihrer Betroffenheit vom Klimawandel als auch in den gestellten Forderungen gegenüber dem Globalen Norden. Auch die explizite Abgrenzung gegenüber dem als klimafeindlich stilisierten Globalen Norden sowie die Forderung, von diesem bei Mitigation und Adaptation finanziell und technologisch unterstützt zu werden, tritt als zentrales Motiv des Klimawandeldiskurses in Kuba wiederholt auf. Den aufgezeigten kubanischen Perspektiven auf den Klimawandel soll nicht mit im Geiste erhobenem Zeigefinger begegnet werden. Vielmehr möchte ihr Verständnis dazu dienen, die Palette der Deutungen der Klimakrise zu erweitern und dazu beizutragen, dass die Environmental Humanities der Obliegenheit gerecht werden, die Emmett und Nye (2017:176) folgendermaßen beschrieben haben: „The environmental humanities help sort out the merely fanciful from the urgently possible futures, enabling the public to move past denial, anger, and negotiation to action. The imagination of disaster is not necessarily the prelude to apocalypse but rather a stimulus to avoid it.“

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Niklas Völkening / Mona Dürner

Anhang Im Text zitierte Reden und Zeitungsartikel Kürzel Datum der Ver- Textgattung Originaltitel öffentlichung FC_06 28. 01. 1994 Rede Discurso pronunciado por el Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz en la clausura del IV Encuentro Latinoamericano y del Caribe, efectuada en el Palacio de las Convenciones, FC_10 15. 01. 1997 Rede Discurso pronunciado por el Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz en el acto central por el Dia de la Ciencia Cubana, efectuado en la Sala Universal de las FAR FC_13 03. 07. 1998

Rede

FC_18 28. 09. 1998

Rede

FC_19 21. 11. 1998

Rede

FC_21 03. 04. 2007

Memorandum

FC_22 30. 04. 2007

Memorandum

Discurso pronunciado por el Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz en la clausura del evento internacional Economía’98, efectuada en el Palacio de las Convenciones Discurso pronunciado por el Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz en la clausura del V Congreso de los Comités de Defensa de la Revolución, efectuada en el Palacio de las Convenciones Discurso pronunciado por el Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz en la clausura del XII Foro Nacional de Ciencia y Técnica, efectuada en el Palacio de las Convenciones La internacionalización del genocidio Lo que se impone de inmediato es una Revolución Energética Lula(Cuarta y última parte)

FC_28 31. 01. 2008

Memorandum

G_001 28. 11. 2002 G_002 20. 02. 2003 G_003 23. 12. 2003 G_004 15. 12. 2004

Zeitungsbeitrag Zeitungsbeitrag Zeitungsbeitrag Zeitungsbeitrag

G_008 10. 01. 2007

Zeitungsbeitrag Vinculan temperaturas récord en EE.UU. con cambio climático Zeitungsbeitrag Propone ONU siembra masiva árboles para mitigar cambio climático

G_009 18. 01. 2007

¿Energía verde? Vigías del clima La otra cara del petróleo Valiente discurso de Presidente argentino en foro cambio climático

G_011 10. 04. 2007 G_012 17. 04. 2007

Zeitungsbeitrag Los biocombustibles y el cambio climático Zeitungsbeitrag Discutirá Consejo de Seguridad tema cambio climático

G_013 01. 05. 2007

Zeitungsbeitrag Instan a gobiernos a actuar frente al cambio climático

Das Framing von Klimawandeldiskursen in Kuba

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(Fortsetzung) Im Text zitierte Reden und Zeitungsartikel Kürzel Datum der Ver- Textgattung Originaltitel öffentlichung G_016 23. 10. 2007 Zeitungsbeitrag Debatirán sobre impacto del cambio climático en la salud G_017 17. 11. 2007 Zeitungsbeitrag El Cambio Climático es el reto, Ban Ki Moon G_018 21. 11. 2007 G_019 08. 12. 2007 G_020 11. 12. 2007 G_021 15. 12. 2007 G_022 16. 12. 2007 G_023 22. 01. 2008 G_025 10. 03. 2008 G_026 30. 03. 2008 G_027 30. 03. 2008 G_028 31. 03. 2008 G_029 09. 04. 2008 G_031 24. 04. 2008 G_032 25. 04. 2008 G_036 06. 06. 2008 G_037 18. 06. 2008 G_038 15. 10. 2008 G_041 04. 05. 2009

Zeitungsbeitrag El que más contamina no escapa a efectos del cambio climático Zeitungsbeitrag Ecologistas marchan contra cambio climático a propósito de Cumbre Zeitungsbeitrag Necesarios 86 mil millones dólares para adaptación a cambio climático Zeitungsbeitrag Preocupado Estados Unidos por acuerdos sobre cambio climático Zeitungsbeitrag Profundas diferencias obligan a posponer acuerdo en cumbre sobre cambio climático Zeitungsbeitrag La Humanidad: especie más amenazada por cambio climático Zeitungsbeitrag Industria pesquera caribeña podría colapsar por cambio climático Zeitungsbeitrag Apagarán luces en EE.UU. en lucha por cambio climático Zeitungsbeitrag Más de mil participantes en próxima ronda sobre cambio climático Zeitungsbeitrag Advierte agencia de ONU impacto cambio climático en países pobres Zeitungsbeitrag Elogian labor de grupo de expertos en cambio climático Zeitungsbeitrag Cambio climático en agenda de parlamentarios en Venezuela Zeitungsbeitrag Cambio climático es asunto de vida o muerte Zeitungsbeitrag Documentales sobre política de Bush hacia el cambio climático, hoy en la Mesa Redonda Zeitungsbeitrag Priorizan en Cuba los estudios sobre cambio climático Zeitungsbeitrag Expone Cuba estrategias ante cambio climático Zeitungsbeitrag Cambio climático volverá al Ártico navegable en verano

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Niklas Völkening / Mona Dürner

(Fortsetzung) Im Text zitierte Reden und Zeitungsartikel Kürzel Datum der Ver- Textgattung Originaltitel öffentlichung G_042 12. 05. 2009 Zeitungsbeitrag Llaman a incluir océanos en Panel sobre Cambio Climático G_043 13. 05. 2009 Zeitungsbeitrag Advierten cambio climático traerá grandes pérdidas al mundo G_044 30. 05. 2009 G_046 01. 10. 2009 G_047 05. 10. 2009 G_050 11. 12. 2009 G_051 17. 02. 2010 G_052 26. 03. 2010 G_053 12. 04. 2010 G_055 02. 06. 2020 G_056 16. 06. 2010 G_057 24. 09. 2010 G_058 19. 11. 2010 G_059 05. 12. 2010 G_060 06. 12. 2010 G_061 10. 12. 2010 G_062 21. 01. 2011 G_063 25. 02. 2011 G_066 10. 11. 2011 G_067 11. 12. 2011

Zeitungsbeitrag Consecuencias del cambio climático originan más muertes en el mundo Zeitungsbeitrag Tifones en Asia detonan alarma mundial por cambio climático Zeitungsbeitrag FAO asegura que cambio climático castigará más a los pobres Zeitungsbeitrag Rusia destaca importancia de bosques para contener cambio climático Zeitungsbeitrag Acciona Cuba contra las consecuencias del cambio climático Zeitungsbeitrag Bolivia insta a buscar causas de cambio climático antes que efectos Zeitungsbeitrag Quiere ONU evitar nuevo fracaso sobre cambio climático Zeitungsbeitrag Lo que provoca el cambio climático Zeitungsbeitrag Critica Bolivia texto negociador de cambio climático Zeitungsbeitrag Bolivia afronta los efectos del cambio climático Zeitungsbeitrag Llaman a crear orden fiscal sobre cambio climático Zeitungsbeitrag Iberoamérica definirá acciones frente a cambio climático Zeitungsbeitrag Es hora de emprender acciones contra el cambio climático, afirma Calderón Zeitungsbeitrag Países más vulnerables al cambio climático claman por acuerdo Zeitungsbeitrag Debaten sobre cambio climático y cuidado del medio ambiente Zeitungsbeitrag BASIC se reúne en India para abordar cambio climático Zeitungsbeitrag Readaptación agrícola ante cambio climático Zeitungsbeitrag ONU saluda Plataforma de Durban sobre cambio climático

Das Framing von Klimawandeldiskursen in Kuba

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(Fortsetzung) Im Text zitierte Reden und Zeitungsartikel Kürzel Datum der Ver- Textgattung Originaltitel öffentlichung G_068 11. 05. 2012 Zeitungsbeitrag Modelo cubano, estrategia para enfrentar cambio climático G_069 27. 05. 2012 Zeitungsbeitrag Influye cambio climático en intensas lluvias en Cuba G_070 12. 01. 2013 G_071 23. 09. 2013 G_073 20. 11. 2013 G_074 29. 11. 2013 G_075 13. 01. 2014 G_077 20. 06. 2014 G_078 24. 09. 2014

G_081 28. 04. 2016 G_085 26. 05. 2017 G_086 19. 07. 2017 G_087 01. 12. 2017 G_088 01. 12. 2017

Zeitungsbeitrag Cambio climático afecta producciones de café Zeitungsbeitrag Pondera la ONU adaptación al cambio climático de Cuba Zeitungsbeitrag Solicitan en Cumbre sobre Cambio Climático liberar a los países en desarrollo del peso de la contaminación Zeitungsbeitrag Región del Caribe entre las más afectadas por el cambio climático, revelan expertos Zeitungsbeitrag El cambio climático ya no es asunto del futuro Zeitungsbeitrag Decálogo del calentamiento global Zeitungsbeitrag El cambio climático agravará los problemas ambientales globales acumulados, inclusive la pobreza y la inseguridad alimentaria Zeitungsbeitrag Clima: otra espada de Damocles sobre África Zeitungsbeitrag Multiplicar las acciones frente al cambio climático Zeitungsbeitrag Nuestra América en pie de lucha Zeitungsbeitrag Conductas inadecuadas hacen tanto daño como el cambio climático Zeitungsbeitrag ¿El enemigo invisible del Caribe?

G_089 18. 01. 2018 G_090 12. 02. 2018

Zeitungsbeitrag „Fuego y furia“ contra el medioambiente Zeitungsbeitrag Cajas negras, cambio climático, hamburguesas de insectos y envejecimiento

G_093 05. 09. 2018

Zeitungsbeitrag Frente al cambio climático, reconocen que Cuba tiene mucho que enseñar Zeitungsbeitrag ¿Cómo asegurar los cultivos en tiempos de cambio climático?

G_094 01. 10. 2018 G_095 19. 10. 2018 G_096 12. 11. 2018

Zeitungsbeitrag ¿Sobrevivirán las playas caribeñas al cambio climático? Zeitungsbeitrag La negación de una verdad o la insensatez de un gobierno

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Niklas Völkening / Mona Dürner

(Fortsetzung) Im Text zitierte Reden und Zeitungsartikel Kürzel Datum der Ver- Textgattung Originaltitel öffentlichung G_099 11. 12. 2018 Zeitungsbeitrag Cambio climático o „conspiración marxista“: de la realidad al delirio G_100 14. 12. 2018 Zeitungsbeitrag Enaltecen la continuidad del ALBA como bastión frente al imperialismo G_106 04. 04. 2019 G_112 28. 08. 2019 G_115 23. 09. 2019 G_116 24. 09. 2019 G_123 04. 12. 2019 G_124 06. 12. 2019 G_126 21. 12. 2019 G_127 26. 12. 2019

Zeitungsbeitrag Tarea Vida y preservación de la memoria histórica en la agenda del Gobierno cubano Zeitungsbeitrag Adaptarnos al cambio sin generar más vulnerabilidades Zeitungsbeitrag Cuatro datos útiles sobre Cuba en el contexto de la Cumbre de Acción Climática Zeitungsbeitrag Nos estamos quedando sin tiempo frente al cambio climático Zeitungsbeitrag Cuba insiste en la defensa del planeta y sus recursos naturales ante la COP25 Zeitungsbeitrag Proteger la salud humana del cambio climático Zeitungsbeitrag Termina la década más terrible del cambio climático con fenómenos extremos más frecuentes Zeitungsbeitrag En lo que va de su gestión, Donald Trump ha arremetido contra 85 medidas ambientales

Sebastian Transiskus

Umweltmigration und Immobilität am Urmiasee (Iran)

Abbildung 1: Gleichsam Zeugnis besserer Zeiten und des Anthropozän – Das Wrack des Schiffs „Noah’s Ark“, nahe der Hafenstadt Sharafkhaneh im Nordosten des Urmiasees. Quelle: Eigenes Foto, September 2019.

Stand des Wissens zum Thema Umweltmigration Klima- und Umweltveränderungen und deren Auswirkungen auf die menschliche Mobilität zählen zweifellos zu den großen Themen der Gegenwart. Die erhöhte Wahrscheinlichkeit plötzlicher Umweltkatastrophen wie Flutwellen oder Stürme gehört zu den offensichtlichsten Folgen des Klimawandels, die Millionen Menschen in ihrer Sicherheit bedrohen. Aber auch schleichende Folgen des Klimawandels, wie wiederholte Dürren sowie anthropogen beschleunigte Umweltdegradation, wie bspw. Bodendegradation, wirken sich zunehmend negativ auf Ressourcenverfügbarkeit und damit auf Wirtschafts- und Lebensweisen

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Sebastian Transiskus

vieler Menschen aus, insbesondere im Globalen Süden (IPCC 2014).1 Das steigende Interesse am Thema „Umweltmigration“ aus Forschung und Politik spiegelt sich bis heute in der Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Definitionen wider. Begriffe wie „Umweltflüchtling“, „Klimamigrant“ oder „Umweltmigrant“2 werden teils nebeneinander, teils in Abgrenzung zueinander genutzt (Piguet, Laczko 2014:2–3; Tangermann, Kreienbrink 2019). Sie sind mitunter politische Konstrukte, die nicht immer mit der empirischen Realität übereinstimmen. So wird die Debatte um die Zusammenhänge von Klimawandel, Umweltveränderungen und Migration bis heute von gegensätzlichen Standpunkten bestimmt, die auch verschiedene politische Perspektiven widerspiegeln (Ionesco et al. 2017:22; Piguet 2013).

Alarmisten vs. Skeptiker Das aufkommende gesellschaftliche Bewusstsein für Umweltfragen und das gesteigerte Wissen über den anthropogenen Klimawandel in den 1980er und 1990er Jahren ließen „Klimaflüchtlinge“ erstmals zur Metapher einer nahenden Katastrophe werden. Ihre Schicksale machen den Klimawandel greifbar (Sakdapolrak 2019). Politik und Medien bedienen sich nicht selten apokalyptischer Schätzungen, was das künftige Ausmaß einer vermeintlichen Massenflucht von Menschen aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden anbelangt (Gemenne 2011). Die wohl meistzitierte Prognose stammt vom Umweltwissenschaftler Norman Myers, wonach bis Mitte des 21. Jh. über 200 Millionen Menschen aufgrund von Klimawandel und Umweltdegradation aus ihren Heimatregionen fliehen würden (Myers 1997). Als weiteres Beispiel kann der deutsche Youtuber 1 Die Begriffe „Globaler Norden“ und „Globaler Süden“ sind keine geographischen Bezeichnungen, sondern verweisen auf die weltpolitische und -wirtschaftliche Stellung einzelner Gesellschaften. Der Begriff „Globaler Süden“ wird heute vorwiegend als neutrale Alternative zu Kategorien wie „Schwellen- und Entwicklungsländer“ oder „Dritte Welt“ verwendet (Brand, Wissen 2011:78; Sachs 2002). 2 Es gibt keine juristische Definition von „Umweltflüchtlingen“ oder „Umweltmigranten“. Nach der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind Umweltmigranten „Personen oder Personengruppen, die aufgrund plötzlicher oder fortschreitender deutlicher Veränderungen der ihr Leben beeinflussenden Umwelt-und Lebensbedingungen gezwungen sind oder sich veranlasst sehen, ihr Zuhause zu verlassen, sei es zeitweise oder permanent, und die sich innerhalb ihres Heimatlandes oder über dessen Grenzen hinweg bewegen“ (Ionesco et al. 2017:17). Der Begriff umfasst alle möglichen Differenzierungen klima- und umweltbedingter Migration auf zeitlicher wie räumlicher Ebene sowie die Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit dieser Bewegung. In der Wissenschaft wird die Definition zum Teil kritisiert, da sie sehr viele Menschen miteinschließt, was das Konzept von Umweltmigranten bedeutungslos erscheinen lasse (Bose, Lunstrum 2014). Kritisiert wird auch, dass eine weite Definition Regierungen veranlassen könnte, weniger Geld bereitzustellen (Ionesco et al. 2017:17).

Umweltmigration und Immobilität am Urmiasee (Iran)

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„Rezo“ genannt werden, dessen berüchtigtes Video „Die Zerstörung der CDU“ die Klimawandeldebatte in Deutschland befeuerte und das bis Anfang April 2020 bereits 17 Millionen Mal auf der Internetplattform YouTube angesehen wurde. Darin spricht Rezo vor dem Hintergrund der Klimakrise von rund 400 Millionen Flüchtlingen3, die „dann kommen werden“, und setzt diese Zahl vielsagend ins Verhältnis zur aktuellen Einwohnerzahl der EU von 500 Millionen Menschen. „Also wenn Ihr glaubt, dass die Flüchtlinge in den letzten Jahren schon eine Flüchtlingskrise war [sic!], dann freut Euch da drauf“ (Rezo 2019). Wissenschaftler wie Myers, Influencer wie Rezo, aber auch NGOs und viele Politiker stehen dabei stellvertretend für die Fraktion der sogenannten „Alarmisten“, der seit Beginn der Diskussion um Umweltmigration in den 1990er Jahren das Lager der „Skeptiker“ gegenübersteht (Ionesco et al. 2017: 22; Piguet 2013). Alarmisten vertreten als Ausgangspunkt ihrer Analysen zum Thema Umwelt und Migration die Prämisse, dass durch den anthropogenen Klimawandel verursachte Umweltveränderungen und Naturkatastrophen eine dominante Rolle bei Migrationsentscheidungen einnehmen, da Lebensräume zunehmend unbewohnbar werden und Menschen in die Flucht getrieben würden. Diese Form der Argumentation zielt auf eine Sensibilisierung der Gesellschaft oder politischer Entscheidungsträger für die Folgen des Klimawandels. Migration wird im alarmistischen Diskurs meist negativ dargestellt. Als etwas, das es zu verhindern gilt oder als gescheiterte Anpassung der Migranten, die als passive Opfer angesehen werden. Piguet (2013:155) fasst die Sichtweise der Alarmisten folgendermaßen zusammen: „According to the alarmist stance, migration is not only a consequence of environmental degradation but represents a catastrophe in itself. Migration is thus seen as a proof of the necessity to act against climate change.“ Die Gruppe der Skeptiker, zu denen Vertreter der Migrationsforschung, der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gehören, lehnen den Umweltdeterminismus der Alarmisten ab und betonen die Multikausalität von Migration: Umwelteinflüsse wirkten sich zusammen mit verschiedenen wirtschaftlichen (z. B. Einkommen, Jobperspektiven), sozialen (u. a. Wunsch nach Bildung, Familie) und politischen Treibern auf die menschliche Mobilität aus (Black et al. 2011). Jedoch bedeuteten der Umfang und die Komplexität der Interaktionen dieser Treiber, dass es nur in seltenen Fällen möglich ist, Umweltfaktoren als 3 Rezo bezieht sich dabei auf Zahlen der IOM, die für das Jahr 2050 mit weltweit 405 Millionen internationalen Migranten rechnet. Die IOM stellt diese Zahl allerdings nicht in monokausalen Zusammenhang mit zu erwartenden Klimaveränderungen. Die Prognose für 2050 gilt für Migrationsbewegungen allgemein und wird vorrangig mit einem „zunehmenden Grad der Vernetzung“ sowie den Erfahrungen mit einem steigenden Aufkommen internationaler Migration der letzten Jahre begründet. Beispiel: Im Jahr 2015 gab es nach Schätzungen der IOM bereits 244 Millionen internationale Migranten (IOM 2018:2).

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Sebastian Transiskus

zentrales auslösendes Moment für Migrationen zu identifizieren (Foresight 2011). Skeptiker kritisieren daher auch den Begriff des „Umweltflüchtlings“, der bspw. von Castles (2002:8) als „simplistic, one-sided and misleading“ bezeichnet wird. Die oftmals von Alarmisten angeführten Schätzungen zur künftigen Zahl eben dieser Umweltflüchtlinge werden von Skeptikern als nicht haltbar und methodisch fragwürdig angesehen, da es praktisch unmöglich sei zu definieren, welche Personengruppen unter welchen Umständen überhaupt unter eine solche Kategorie fallen könnten (Black 2001; Piguet 2013). Ein weiterer Kritikpunkt der Skeptiker ist darüber hinaus die Sorge, dass eine neue Migrationskategorie Teile der Gesellschaft und Regierungspolitiker aufschrecken und einzelne Länder veranlassen könnte, eine noch restriktivere Einwanderungspolitik zu beschließen (McGregor 1993). In der wissenschaftlichen Debatte über Klima-und Umweltveränderungen und Migration spiegelt sich die beschriebene Kluft zwischen Alarmisten und Skeptikern besonders bis in die frühen 2000er wider. Das steigende Interesse aus Politik und Gesellschaft und der Ruf nach wissenschaftlichen Erkenntnissen führte jedoch in den letzten 15 Jahren zu einem stark steigenden Forschungsinteresse4 und begünstigte die Durchführung zahlreicher internationaler Forschungsprojekte und Flaggschiffstudien wie das EU-Projekt EACH-FOR, das UNProjekt „Where the Rain Falls“ oder den von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Foresight-Bericht5 zu Migration und globalen Umweltveränderungen. Auf diese Weise entstand ein „gewisser wissenschaftlicher Konsens hinsichtlich der Muster und Hauptcharakteristika des Nexus Umwelt-Migration“ (Ionesco et al. 2017:22), der die skeptische Perspektive untermauerte und von dem Geographen Etienne Piguet (2013:155) als „The Pragmatic Stance“, als wissenschaftlich fundierte, pragmatische Haltung in der Forschung bezeichnet wurde.

Die wichtigsten Erkenntnisse zur umweltbedingten Mobilität der letzten Jahre Heute herrscht in der Wissenschaft weitgehend Einigkeit darüber, dass Migration auch im Kontext von Klimawandel und Umweltdegradation ein äußerst komplexes, multikausales soziales Phänomen darstellt. Mit Ausnahme plötzlich eintretender Naturkatastrophen, wie z. B. Stürme oder Fluten, stellen Umwelt4 In den 1990er Jahren gab es jährlich durchschnittlich etwa zehn Veröffentlichungen im Kontext Umweltveränderungen und Migration, seit 2008 liegt dieser Wert bei über 100 (Ionesco et al. 2017:26; Piguet, Laczko 2014). 5 Im Kontext der drei genannten Forschungsinitiativen wurden über mehrere Jahre hinweg zahlreiche internationale Fallstudien zum Nexus Umweltveränderungen und Migration durchgeführt, auf deren Erkenntnisse und Empfehlungen die weitere Forschung aufbauen konnte.

Umweltmigration und Immobilität am Urmiasee (Iran)

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stressoren meist nur einen von vielen migrationsauslösenden Faktoren dar (Black et al. 2011; Foresight 2011). In den meisten Fällen sind es die Interaktionen von Umweltveränderungen mit wirtschaftlichen, sozialen, demographischen und politischen Treibern (Faktoren der Makroebene, vgl. Sichtweise der Skeptiker), mit einer Reihe individueller/familiärer Charakteristika (Faktoren der Mikroebene, z. B. Alter, Geschlecht, Ausbildung, Finanzkapital) sowie mit weiteren Faktoren (Faktoren der Mesoebene, z. B. Soziale Netzwerke, Technologien, Transportmittel), die Migrationsentscheidungen beeinflussen (Hunter et al. 2015; McLeman, Gemenne 2018). Dabei wird der Umweltfaktor zumeist indirekt über ökonomische, soziale und politische Impulse sichtbar. Beispielsweise kann der fortschreitende Verlust von Ökosystemdienstleistungen (z. B. Trinkwasser, Agrarpotential) in Folge wiederholter Dürren in eine wirtschaftlich und persönlich prekäre Lage führen und so indirekt zu Abwanderungen beitragen. Was als wirtschaftliche Migration erscheint, kann – auf den ersten Blick nicht erkennbar – durch Umweltstressoren motiviert sein (Ionesco et al. 2017:50). Renaud et al. (2011) verstehen Umweltmigration vor diesem Hintergrund als Kontinuum zwischen erzwungener und freiwilliger Migration. Eine angeordnete Evakuierung im Falle einer Naturkatastrophe würde eindeutig eine erzwungene Migration darstellen, während Menschen im Verlauf einer langjährigen Dürre anfangs noch eher über eine gewisse Handlungsfreiheit verfügen und (freiwillige) Migration zunächst eine von mehreren Anpassungsmöglichkeiten darstellen kann. In einem späteren Stadium kann Abwanderung aber womöglich als alternativlos und somit erzwungen erscheinen (Hunter, Nawrotzki 2016:6). Eine klare Unterscheidung zwischen erzwungener und freiwilliger Migration ist aber selbst im Einzelfall häufig nur sehr schwer zu treffen. Ferner zeigen Studien, dass Umweltmigration heute wie in Zukunft eher landesintern (auch als Binnenmigration oder interne Migration bezeichnet) oder zwischen benachbarten Ländern stattfindet. Insbesondere ärmere Bevölkerungsgruppen im Globalen Süden, die häufig in hohem Maße von Landwirtschaft und Zugang zu natürlichen Ressourcen abhängig sind, werden von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein und sind aufgrund mangelnder Ressourcen wie finanzieller Mittel nicht in der Lage, über größere Distanzen zu migrieren. Eine Welle von „Klimaflüchtlingen“ Richtung Europa erscheint daher mehr als fraglich (Schraven 2019). Klima- und Umweltveränderungen können jedoch nicht nur einen treibenden Faktor für Migration darstellen, sondern Migration verhindern. Wird durch Umweltdegradation das Einkommen von Kleinbauern aus der Landwirtschaft nach und nach geschmälert, verfügen diese möglicherweise nicht mehr über die finanziellen Mittel, um auf den Wandel mit Abwanderung zu reagieren. Eine Folge des Klimawandels kann also auch sein, dass vielerorts diejenigen, die am stärksten unter Umweltveränderungen zu leiden haben, gar nicht in der Lage

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sind zu migrieren – eine Thematik, die bis heute in Untersuchungen zum Nexus Migration-Umwelt kaum erforscht ist. Der Foresight-Bericht sprach in diesem Zusammenhang erstmals von sogenannten „trapped populations“, also verwundbaren oder vulnerablen6, schutzbedürftigen Individuen oder Gemeinschaften, die im Angesicht von Umweltveränderungen „in der Falle“ sitzen und nicht über die Fähigkeit und Ressourcen verfügen zu migrieren (Black et al. 2013:36). Dabei handelt es sich in der Regel um Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, geringem materiellen und finanziellen Kapital und ohne soziales Unterstützungsnetzwerk (Foresight 2011). Entsprechend werden in der Forschung heute vier Formen von Mobilität im Zusammenhang mit Umweltveränderungen unterschieden:7 1) Freiwillige Migration, 2) erzwungene Migration oder Vertreibung (engl. forced migration oder displacement), 3) erzwungene Immobilität8 sowie 4) freiwillige Immobilität9 (Black et al. 2013; Foresight 2011). Die Bezeichnung „freiwillig“ betont die aktive Wahlmöglichkeit bzw. Wahlfreiheit bei der Entscheidung für oder gegen Migration und ergänzt sich mit der relativ jungen Wendung in der Diskussion, die eine singuläre Fokussierung auf negative Aspekte von Migration bzw. die Opferrolle von Migranten ablehnt. 6 Allein zu dem Begriff Vulnerabilität – engl. vulnerability und oftmals mit „Verletzlichkeit“ oder „Anfälligkeit“ übersetzt – lassen sich in der Literatur dutzende Definitionen und Konzepte ausmachen. Diese haben erheblich dazu beigetragen, dass Naturkatastrophen nicht mehr als physisches Ereignis, sondern als vielfältiges Mensch-Umwelt-Interaktionsproblem wahrgenommen werden. Im Kontext dieses Artikels wird der Begriff Vulnerabilität vorrangig im sozialwissenschaftlichen Verständnis der „Social Vulnerability“ verstanden. Dieses Konzept betrachtet primär soziale bzw. gesellschaftliche Aspekte und bezieht sich auf Fragen der Anfälligkeit, Risikoexposition und Bewältigungskapazität sozialer Gruppen gegenüber Naturgefahren/Umweltdegradation und deren Folgen (Birkmann 2008:7–8). 7 Die Betrachtung dieser verschiedenen Dimensionen mit ihren komplexen, kontextspezifischen Ausprägungen verdeutlicht, warum bislang keine der vorgebrachten Begriffe wie „Umweltmigrant“ oder „Umweltflüchtling“ und dazugehörige Definitionen vollumfänglich akzeptiert wurden. Neben politischen Herausforderungen bei der Begriffsbestimmung sind mit jedem Begriff auch definitorisch-empirische Probleme verbunden. Ionesco et al. (2017:17) fassen die Problematik treffend zusammen: „Geht man davon aus, dass jede Migration multikausal ist, sollte dann die Definition alle umfassen, die aus Umweltgründen wandern – auch jene, deren Entscheidung zur Migration nur am Rande durch Umweltgründe beeinflusst wurde? Oder nur jene, für die Umweltschäden der ausschlaggebende Faktor sind? Sollte sie nur Fälle der erzwungenen Mobilität abdecken oder alle Formen der Mobilität? Und wie sieht es aus mit der erzwungenen Immobilität? All diese Fragen sind nicht rein methodologischer, sondern auch politischer Natur, denn Charakter und Wortwahl der Definition haben Einfluss auf die Lösungen.“ 8 Gerade in neueren Publikationen ersetzt der Begriff „erzwungene Immobilität“ immer mehr den zuvor erwähnten Begriff der „trapped populations“. Er schließt Individuen ein, die von Umweltdegradation betroffen sind und die Notwendigkeit und den Wunsch zur Migration haben, diesen aber aufgrund mangelnder Ressourcen nicht umsetzen können. 9 Hierzu zählen Menschen, die möglicherweise vulnerabel sind, aber nicht migrieren wollen, bspw. aus kulturellen Gründen, Heimatverbundenheit oder familiären Verpflichtungen.

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So sind die Potentiale von Migration als Anpassungsstrategie inzwischen verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt (Melde et al. 2017). Umweltmigranten werden als aktive Akteure wahrgenommen, die ihre Mobilität nutzen, um ihre Lebensgrundlagen zu verbessern (Hunter et al. 2015). Im besten Fall profitieren neben den Migranten auch deren Familien, beispielsweise durch Geldrücksendungen oder Wissenstransfer, die dazu beitragen können, die Resilienz10 der zurückgebliebenen Haushaltsmitglieder zu erhöhen. Migration stellt allerdings nicht die einzige Anpassungsstratege an sich verändernde Umweltbedingungen dar. Ähnlich wie Migration kann auch Immobilität erzwungen und freiwillig sein (Ionesco et al. 2017:34; Zickgraf 2018). Nicht alle Personen, die beispielsweise von einer Dürre betroffen sind, müssen oder wollen migrieren. Für resiliente Individuen oder Haushalte, die sich gegenüber den Folgen von Umweltveränderungen auf eine bestimmte Art und Weise anpassen können – „in situ Adaption“, also eine Form der Anpassung „vor Ort“ – oder aufgrund ihres Berufs oder sozialen Stellung weniger stark betroffen sind, besteht möglicherweise weder die Notwendigkeit noch der Wunsch zur Migration (McLeman, Gemenne 2018:9–10; Sakdapolrak 2019).

Forschungslücken im Zusammenhang mit Umweltmigration Die Erkenntnisse bisheriger Forschungsprojekte und Initiativen lassen viele Rückschlüsse über das (globale) Verhältnis zwischen Klimawandel, Umweltveränderungen und menschlicher Mobilität zu. Tatsächlich ist die Forschungslandschaft mittlerweile so groß und unübersichtlich geworden, dass Überblickswerke erscheinen, die den Forschungsstand zusammenfassen (vgl. Ionesco et al. 2017; McLeman, Gemenne 2018). Allerdings gibt es viele von der Wissenschaft vernachlässigte Forschungsgebiete sowie zahlreiche ungeklärte Fragen – in empirischer, theoretischer und methodischer Hinsicht. Ein großes Defizit stellt die global sehr ungleiche „Forschungsgeographie“ dar (Piguet et al. 2018). Klimawandel und Umweltzerstörung existieren auf der ganzen Welt, deren Auswirkungen auf menschliche Lebensgrundlagen und 10 Der Begriff Resilienz – häufig lediglich gleichgesetzt mit Widerstandsfähigkeit oder Robustheit – stammt ursprünglich aus der Ökologie und bezeichnet die Fähigkeit von Individuen, einer Gesellschaft oder Systemen, externe Störungen und Schocks (z. B. eine Naturgefahr) zu erkennen, sich vorzubereiten, diese zu bewältigen und die Funktions-und Handlungsfähigkeit schnell wiederherzustellen (Birkmann 2008:10; Munich Re 2017:6). Im Bereich der Vorsorge und des Managements von Naturkatastrophen ist Resilienz auf internationaler Ebene zum meistgebrauchten Schlagwort geworden. Von der UN wurde Resilienz als wesentliche Komponente einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung definiert (Höppe 2016:17).

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damit auf die menschliche Mobilität ist geographisch aber ungleich verteilt. Ebenso ist die Erhebung empirischer Daten bislang regional sehr unausgewogen, wobei sich diese beiden „Geographien“ – also „Hotspots“ der Umweltmigration und Forschungsinteresse – nicht notwendigerweise überschneiden. Piguet et al. (2018) untersuchten knapp 1200 wissenschaftliche Publikationen zur Thematik der Umweltmigration, die derzeit von der Universität Neuenburg in der Datenbank „CliMig“11 gelistet werden. Davon stellen 463 Veröffentlichungen empirische Fallstudien dar, die von den Autoren unter anderem auf Standort, akademische Zugehörigkeit der Forscher, Art der untersuchten Umweltstressoren sowie verwendete Methodik (qualitativ oder quantitativ) geprüft wurden. Dabei stellten die Autoren neben einigen „überstudierten Gebieten“12 einen Mangel an Studien in verschiedenen Regionen des Globalen Südens fest, die als sehr anfällig für globale Umweltveränderungen gelten. Darunter fallen z. B. die karibische Küste Südamerikas, Nordafrika und Zentralasien (Piguet et al. 2018:370). Lediglich acht Fallstudien wurden in Ländern des Nahen Osten durchgeführt (Ionesco et al. 2017:26), was unter anderem einer erschwerten Zugänglichkeit für Forscher geschuldet ist (Piguet et al. 2018:374). Die Region ist somit ein „blinder Fleck“ in der Forschung, obwohl entsprechende Klimadaten nahelegen, dass Wasserknappheit, Trockenheit und Dürren schon heute Risiken für sozioökonomisch unterentwickelte, vulnerable Gemeinschaften in diesen Regionen darstellen (Piguet, Laczko 2014:11). „While significant research and reporting exists (…) in many parts of the world, similar resources for the Middle East remain limited, revealing significant gaps in our understanding of environmental change in the region, as it relates to migration and displacement“ (MMP 2017:1). Ebenfalls großer Forschungsbedarf innerhalb des Nexus Migration-Umwelt besteht zu den Auswirkungen langsam fortschreitender Umweltdegradation („slow-onset environmental change“) auf die menschliche Mobilität. Umweltkatastrophen werden überwiegend mit plötzlich eintretenden Ereignissen wie Waldbränden, Flutkatastrophen oder Hurrikanen assoziiert, die oftmals zum plötzlichen Verlust von Menschenleben und Lebensräumen führen und erzwungene Migration/Vertreibung als Folge haben können. Ereignisse wie der 11 Die bibliographische Datenbank „CliMig“ ist ein Projekt des Geographie-Instituts der Universität Neuenburg (Schweiz). Die Datenbank kann bspw. nach Forschungsregion, Methodik, Themenschwerpunkt und Umweltgefahr gefiltert werden und erlaubt auf diese Weise einen schnellen Überblick zum Stand der Forschung eines gesuchten Themas. Link: https://www. unine.ch/geographie/climig_database. 12 Länder wie Bangladesch oder die kleinen Inselstaaten in der Karibik haben viel mediale wie wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten und wurden so „zu Symbolen für Klimawandel und Migration“ (Ionesco et al. 2017:26). Auch zu einzelnen Katastrophen in Nordamerika, wie z. B. zu Hurrikan-Katrina und dessen Auswirkungen auf Gemeinschaften, existieren viele Veröffentlichungen. Ebenfalls großes Interesse galt bislang Westafrika und dem Horn von Afrika, die mit Dürre und Desertifikation zu kämpfen haben.

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Meeresspiegelanstieg, Gletscherrückgang, Versalzung, Landdegradation, Dürreperioden oder Desertifikation erfolgen hingegen sehr viel langsamer (UNFCCC 2012). Führen langsam fortschreitende Katastrophen zu einem Rückgang von Ökosystemleistungen, insbesondere von Versorgungsleistungen wie dem Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen wie Wasser oder Nahrung, können ländliche Lebensgrundlagen zusehends untergaben werden. Ist die Fähigkeit von Individuen oder Gemeinschaften, mit den Veränderungen umzugehen, begrenzt, kann sich die Situation langfristig in eine Katastrophe verwandeln (IDMC 2018:6). Im Verlauf einer progressiven Umweltdegradation können daher alle zuvor genannten Formen der Mobilität eintreten – freiwillige Migration, erzwungene Vertreibung, freiwillige und erzwungene Immobilität. Nicht nur der Gesellschaft, auch der Politik bleibt zumeist eine gewisse Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, um den negativen Umweltveränderungen vorzubeugen (Mitigation) oder die Vulnerabilität von Gemeinschaften zu verringern. Allerdings sind die Auswirkungen langsam einsetzender Ereignisse für politische Entscheidungsträger gerade zu Beginn fast unsichtbar. Das Hauptproblem ist die scheinbar mangelnde Dringlichkeit des Ereignisses: langsam einsetzende Klimaereignisse qualifizieren sich selten für Katastrophenhilfe, da Schäden nicht auf ein einzelnes „triggerndes“ Ereignis zurückgeführt werden können (Alonso 2017; Matias 2017:10). Unzureichende empirische Forschung zu Immobilität und individuellen Wahrnehmungen von Umweltveränderungen (engl. „immobility“ und „perceptions“, vgl. van Praag, Timmerman 2019; Zickgraf 2018) stellt die vermutlich bedeutendste Lücke in der Literatur zum Thema Umweltmigration dar. Auf den ersten Blick scheinen Menschen, die nicht migrieren, wenn sie von Umweltveränderungen betroffen sind, nicht in unseren Interessenbereich zu fallen. Diejenigen, die nicht zu „Umweltmigranten“ oder „Klimaflüchtlingen“ werden, erscheinen unproblematisch und damit unserer kollektiven akademischen oder politischen Aufmerksamkeit unwürdig (Zickgraf 2018:71). Immobilität ist jedoch untrennbar, wenn auch oft unsichtbar, mit unserem Verständnis von menschlicher Mobilität verbunden. Gerade im Zusammenhang mit langsam fortschreitendem Umweltwandel wird deutlich, dass ein tieferes Verständnis von Immobilität und deren Folgen unbedingt erforderlich ist. Einerseits, um die Hintergründe oder das Bestreben zu verstehen, warum manche Menschen an einem Ort bleiben (freiwillig oder unfreiwillig), während andere den Wunsch hegen („migration aspirations“) abzuwandern bzw. sich auch dafür entscheiden, den Ort zu verlassen (van Praag, Timmerman 2019:2). Andererseits, um zu verstehen, welche „in-situ“-Anpassungsstrategien in bestimmten Kontexten von Umweltveränderungen wirksam sein können. Im Einklang mit anderen konzeptionellen Studien (z. B. Hunter et al. 2015; Koubi et al. 2016; van Praag, Timmerman 2019) bin ich der Überzeugung, dass

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Migrationsentscheidungen und -wünsche mehr von der individuellen Wahrnehmung von Umweltveränderungen und dem damit verbundenen, wahrgenommenen Risiko beeinflusst werden, als von dem, was bspw. von außenstehenden Experten objektiv im Zuge einer „wissenschaftlichen Risikoanalyse“ identifiziert wurde. Umweltwahrnehmung ist dabei das Mittel, mit dem Individuen versuchen, ihre Umwelt zu verstehen, um zu einer effektiven Reaktion auf Umweltgefahren zu gelangen. Die Umweltwahrnehmung umfasst sowohl eigene, direkte Erfahrungen mit der Umwelt als auch indirekte Informationen von anderen Menschen, der Wissenschaft und den Massenmedien (wahrgenommene Diskurse13 über die Umweltveränderungen), die wiederum auf persönlicher Ebene mit individuellen Erfahrungen und Werten, Rollen und Einstellungen verarbeitet werden (Koubi et al. 2016:7).

(Im)mobilität im Kontext von Umweltwandel als interdisziplinäres Forschungsfeld Zunehmende Forschungsanstrengungen sind für das Verständnis der Triebkräfte hinter Mobilitätsentscheidungen, die in einem komplexen ökologischen und sozialen Kontext auftreten können, von maßgeblicher Bedeutung (Hunter et al. 2015:14). Eine Wahlmöglichkeit vorausgesetzt, ist die Entscheidung zu migrieren oder vor Ort zu verbleiben bzw. sich „in situ“ anzupassen, auf eine letztlich subjektive Wahrnehmung der Risiken dieser beiden Möglichkeiten zurückzuführen, die wiederum von der Wahrnehmung des Umweltwandels beeinflusst werden (IDMC 2018:4). Die Frage, die die Forschung daher stellen sollte, lautet: Wie kommen der Wunsch und die Entscheidung für oder gegen Migration zustande? Wie nehmen Menschen oder Haushalte ihre Umwelt wahr, wie interpretieren sie diese und wie hängen diese Wahrnehmungen mit Migrationsentscheidungen zusammen? Die Erforschung von (Im)mobilität und Wahrnehmungen erfordert jedoch eine Abkehr von bislang vorherrschenden wissenschaftlichen Denkmustern und Forschungsansätzen. Die Mehrheit der veröffentlichten Untersuchungen zu den Wechselbeziehungen zwischen Umweltveränderungen und menschlicher Mobilität zielte darauf, durch quantitative Erhebungen die statistische Signifikanz eines bestimmten Umweltfaktors oder einer Naturkatastrophe als Ursache für Migration auf Haushaltsebene zu testen. Die Antwort auf die Forschungsfrage 13 Studien in Kambodscha ergaben zum Beispiel, dass individuelle Wahrnehmungen bezüglich der Landwirtschaft als unsichere Lebensgrundlage im Kontext von Umweltveränderungen die Migrationsentscheidungen vieler Menschen prägten, auch wenn diese selbst keine Einkommensverluste erlitten hatten (Bylander 2013).

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„Beeinflussen Umweltfaktoren die Migration?“ lautete dabei häufig „Es kommt darauf an“, da – wie zuvor bereits erwähnt – Migration ein multikausales Phänomen darstellt und es schwierig ist, eine eindeutig umweltbedingte Kausalität von Migration nachzuweisen. Statt zu fragen, ob z. B. Dürre Migration verursacht, sollten Forscher vielmehr untersuchen, in welchen „Kombinationen von Kontexten“ (Hunter et al. 2015:9) Dürre die Wahrscheinlichkeit für Migration erhöht oder auch verringert. Was sind die wichtigsten Wechselwirkungen zwischen wahrgenommenen Umweltveränderungen und Faktoren auf der Mikro-, Meso- und Makroebene, die Einfluss auf Mobilitätsentscheidungen von Individuen oder Haushalten nehmen? Diese wachsende Aufmerksamkeit für die jeweiligen spezifischen Kontexte hat dazu beigetragen, dass sich die Forschung nach und nach von umweltdeterministischen Forschungsansätzen verabschiedet – hin zu einer nuancierteren Erforschung der Mensch-Umwelt-Interaktionen. Noch ist diese Betrachtungsebene in der Forschung aber unterrepräsentiert und aufgrund der schwer zu fassenden Komplexität des Phänomens gibt es unterschiedliche konzeptionelle Rahmen und methodische Ansätze. Versuche, die Zusammenhänge zwischen Umweltveränderungen und Migration zu generalisieren oder über eine kohärente Theorie zu erklären, gelten als gescheitert. So appelliert etwa Hunter (2018:432) an die Wissenschaftsgemeinde, sich von diesem Wunschdenken zu verabschieden: „It’s time for us to let go of ambitions for a broadly applicable theory. Local context is so critical in shaping the migration-environment connection that we may be best served expanding and refining conceptual frameworks (…) to usefully guide future research.“ Hunter und andere renommierte Forscher auf dem Gebiet (z. B. Matias 2017; McLeman, Gemenne 2018:12; Piguet et al. 2018; Warner 2011:22) plädieren daher für mehr qualitative Forschung sowie interdisziplinäre Forschungsansätze und Untersuchungen, gerade vor dem Hintergrund, dass das Forschungsinteresse an der Thematik stetig zunimmt. „Environmental migration was once a relatively obscure corner of scholarship, primarily of interest to small numbers of demographers, economists, ecologists, geographers, and the occasional political scientists. The subject now engages researchers from an everwidening spectrum of disciplines such as computer modelling, gender studies, history, human rights, international development, law, media studies, medicine, philosophy, and psychology“ (McLeman, Gemenne 2018:12). Wissenschaftliche Barrieren müssen überwunden werden, um multidisziplinäre Datenerhebung, Datenanalyse und Interpretation zu ermöglichen. Die theoretischen und konzeptionellen Ansätze meiner Forschung am Urmiasee bewegen sich dabei innerhalb der Kompetenzbereiche der Humangeographie, der Soziologie, der Ethnologie und den Wirtschaftswissenschaften.

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Hintergründe zur Wasserkrise am Urmiasee Die Wasserkrise am Urmiasee (Nordwest-Iran) stellt ein Beispiel für eine „schleichende“ Naturkatastrophe dar. Das deutlichste Symptom dieser Wasserkrise ist die Austrocknung des Urmiasees, der noch Mitte der 1990er Jahre eine Fläche von ca. 5200 km² aufwies. Als größter Binnensee des Iran und zweitgrößter Salzsee der Erde war er damit ca. zehnmal so groß wie der Bodensee, ehe sich seine Fläche im Verlauf der letzten 20 Jahre um bis zu 80 % reduzierte (vgl. Abbildung 2). Dabei verlor der See über 90 % seines Wasservolumens, das zeitweise auf eine halbe Milliarde Kubikmeter sank – weit unterhalb des ökologischen Gleichgewichts, das von offiziellen iranischen Umweltbehörden mit 14,5 Milliarden Kubikmetern angegeben wird. Im selben Zeitraum sank der Wasserspiegel des ohnehin flachen Salzsees um etwa sieben Meter (ULRP 2017; Schmidt et al. 2020).

Abbildung 2: Entwicklung der Fläche des Urmiasees im zeitlichen Verlauf. Quelle: USGS 2019

Klimavariabilitäten und unregelmäßige Niederschläge im semi-ariden Nordwesten des Iran führten in der Vergangenheit immer wieder zu Schwankungen des Seespiegels, der aktuell extreme Rückgang stellt jedoch ein einzigartiges Ereignis dar. Die Ursachen für die Austrocknung des Urmiasees sind vielfältig und bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Der (anthropogene) Klimawandel sowie eine starke Übernutzung lokaler Wasserressourcen durch die Landwirtschaft wurden jedoch als die beiden Hauptursachen ausgemacht (Khazaei et al. 2019; Schulz et al. 2020; Taheri et al. 2019). So konnten verschiedene Studien für die letzten Jahrzehnte eine erhebliche Abnahme der Niederschläge, höhere Temperaturen und ein verstärktes Auftreten von Dürreperioden in der Region nachweisen (Taravat et al. 2016). Folglich verringerte sich der natürliche Zufluss in den abflusslosen Urmiasee, der selbst von steigenden Verdunstungsraten betroffen war. Shadkam et al. (2016) verbinden mit den stärkeren und langanhaltend auftretenden Dürren zudem einen erhöhten Bewässerungsbedarf in der Landwirtschaft, die als zweiter Haupttrei-

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ber für die Austrocknung des Urmiasees gilt (Ghale et al. 2017; Talebi et al. 2016). So kam es im Zusammenhang mit einem starken Bevölkerungswachstum im Iran seit der Islamischen Revolution 1979 zu einer Verdreifachung der landwirtschaftlich genutzten Fläche rund um den Urmiasee (Dalby, Moussavi 2017). Begleitet vom Bau zahlreicher Staudämme sowie zehntausender legaler und illegaler Brunnen, wurden ferner viele ursprünglich durch Regenwasser gespeiste Böden in künstlich bewässertes Ackerland umgewandelt: die Fläche bewässerten Agrarlands erhöhte sich zwischen 1984 und 2014 von 3035 km² auf 5086 km², ein Zuwachs von 67,5 %. Zusätzlich verschoben sich die Anbaustrategien vieler Bauern hin zu ertragreicheren, jedoch wasserintensiveren Kulturen, wie z. B. Äpfeln, was den Wasserbedarf zusätzlich erhöhte. Heute entfallen auf den Agrarsektor jährlich 90 % des gesamten Wasserverbrauchs der Region – in der Summe viele Milliarden Kubikmeter Wasser, die den Urmiasee nicht mehr über seine natürlichen Zuflüsse erreichen (Hesami, Amini 2016; Ouria, Sevinc 2016). Weitere menschliche Einflüsse, die sich negativ auf den Wasserhaushalt des Urmiasees auswirkten, stellen der Bau eines 15 km langen Damms dar, der einen schnelleren Automobilverkehr zwischen den Millionenstädten Urmia (im Westen) und Täbris (im Osten) ermöglicht und den See in einen südlichen und nördlichen Teil abtrennt; Wasseraustausch findet nur noch über eine 1,25 km lange Brückenöffnung statt. Durch das stehende Wasser werden die ohnehin hohen Verdunstungsraten im Sommer weiter beschleunigt. Der Bau von Wasserpipelines, die Jahr für Jahr Milliarden Kubikmeter Wasser aus Zuflüssen des Urmiasees zur Versorgung der Bevölkerung in den genannten Großstädten ableiten, gilt als weitere Maßnahme, die sich nachteilig auf die Wasserökologie des Sees auswirkt (Talebi et al. 2016). Als letzter Punkt – in der wissenschaftlichen Debatte bislang kaum diskutiert – ist der Bauboom am Rande von städtischen Ballungsräumen wie Urmia zu nennen: viele wohlhabende Stadtbewohner kauften in der jüngeren Vergangenheit Land auf, um Wochenendhäuser zu errichten, die über wasserhungrige Obst- oder Ziergärten verfügen und somit weiteren Druck auf die ohnehin begrenzten natürlichen Wasserressourcen ausüben (Schmidt 2018:40). Die Austrocknung des Urmiasees und der zunehmende Salzgehalt des verbleibenden Wassers (deutlich über 300 g/Liter) haben katastrophale Auswirkungen auf die Biodiversität des Ökosystems. Tausende Quadratkilometer einstiger Seefläche haben sich in eine Salzwüste verwandelt, und gerade in den Randbereichen des Urmiasees haben sich Dünen gebildet. Aquatische Lebensräume sind stark beeinträchtigt und Nahrungsketten werden unterbrochen. Selbst an hohe Salzkonzentrationen angepasste lokale Spezies, wie bspw. die Krebsart Artemia Urmiana, wiesen zuletzt eine starke Verlangsamung ihrer Reproduktionsraten auf (Schulz et al. 2020; UNEP 2012).

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Negative Konsequenzen ergeben sich ferner für Gesellschaft und Ökonomie. Im Einzugsgebiet des Urmiasees (Urmiabecken) leben 5,2 Millionen Menschen, wovon nach Maleki et al. (2018) rund 1,5 Millionen Menschen im ländlichen Raum leben. Kleinbäuerliche Haushalte sind in besonderem Maße von natürlichen Ressourcen wie Wasser und fruchtbarem Boden abhängig. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die Wasserkrise am Urmiasee auf das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen, auf Migrationsentscheidungen oder Immobilität der betroffenen Individuen und Gemeinschaften auswirkt. Diese Dimensionen der Wasserkrise wurden bis heute nur bruchstückhaft bzw. überhaupt nicht wissenschaftlich untersucht und stehen im Mittelpunkt meines Forschungsprojekts am Urmiasee.

Forschungsfragen und Methodik meiner Untersuchungen am Urmiasee Der vorliegende Artikel soll dazu beitragen, bestehendes Wissen über den Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und deren Auswirkungen auf die menschliche Mobilität zu erweitern. Die Erforschung aller Formen von (Im)mobilität (erzwungen wie freiwillig) und individueller Wahrnehmungen stellt in Einklang mit meinen vorherigen Ausführungen ein zentrales Element meiner Untersuchungen dar. Meine übergeordneten Forschungsfragen lauten dabei wie folgt: 1. „Wie nehmen ländliche Dorfbewohner am Urmiasee verschiedene Umweltveränderungen wahr, wie interpretieren sie diese und wie hängen diese Wahrnehmungen mit Migrationsentscheidungen oder Immobilität zusammen?“ 2. „Was sind die Folgen von Migration und Immobilität für Individuen, ihre Familien und Gemeinschaften? Demnach möchte ich einerseits die Hintergründe bzw. das Bestreben verstehen, warum manche Menschen freiwillig oder unfreiwillig in von Umweltveränderungen betroffenen Regionen verbleiben, während andere den Wunsch hegen abzuwandern bzw. sich dafür entscheiden, aus ländlichen Regionen am Urmiasee wegzuziehen. Andererseits möchte ich das Ausmaß sowie die Konsequenzen von Migration und Immobilität erforschen: Wie erfolgreich ist Migration als Anpassungsstrategie am Urmiasee? Können zurück gelassene Familien von Rücküberweisungen profitieren und gegebenenfalls ihre Anpassungsfähigkeit gegenüber Umweltveränderungen erhöhen? Im Falle eines großen Migrationsaufkommens gilt es darüber hinaus zu untersuchen, welche Auswirkungen Mi-

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gration auf Gemeinschaften im Herkunftsgebiet hat. Zu guter Letzt stellt sich auch die Frage nach dem Ausmaß und den Folgen „erzwungener Immobilität“. Ist die Situation für „gefangene“ Individuen oder Gemeinschaften bedrohlich? Für eine erfolgreiche Bearbeitung dieser Fragestellungen ist es wichtig, Teile der ländlichen Bevölkerung am Urmiasee direkt zu befragen. Empirische Feldforschung im Iran ist ein sensibles Thema und kann nur mit Unterstützung offizieller Institutionen durchgeführt werden. Ein im Vorfeld geschlossenes „Memorandum of Understanding“ zwischen der Universität Augsburg und der Universität Urmia ermöglichte mir die Durchführung empirischer Feldforschung vor Ort. Die Darstellungen im vorliegenden Beitrag beruhen auf den Ergebnissen meiner 6-wöchigen Feldphase zwischen August und Oktober 2019. Methodisch stützen sich meine Forschungen auf qualitative und quantitative Daten, die mit Hilfe offener und halbstrukturierter Interviews erhoben wurden. Zusammen mit meiner iranischen Kollegin Monir Gholamzadeh führte ich 76 Gespräche mit Personen aus Haushalten, die wir in ländlichen Regionen sowohl westlich (Provinz West-Aserbaidschan) als auch östlich (Provinz Ost-Aserbaidschan) des Urmiasees persönlich antrafen. Zudem wurden acht Gruppeninterviews sowie fünf Experteninterviews durchgeführt. Auf diese Weise konnte ich verschiedene sozialräumliche Kontexte kennenlernen und Erfahrungen der Bewohner aus verschiedenen Regionen vergleichen, um ein möglichst umfassendes Verständnis über die Situation am Urmiasee zu erhalten. In den Interviews wurde Wert darauf gelegt, den Gesprächsablauf offen zu gestalten und eine entspannte und persönliche Gesprächsebene zu schaffen, um die Befragten zu ermutigen, über sich selbst und ihre Erfahrungen zu erzählen. Auch stellte ich viele Rückfragen, die sich aus der Situation heraus ergaben und nicht im Standarddesign des Fragebogens abgedeckt waren. So dauerten die Befragungen zwischen 45 Minuten und in Einzelfällen bis zu zwei Stunden. Da ich meine Interviews in Begleitung einer weiblichen Dolmetscherin durchführte, war es auch möglich mit Frauen zu sprechen (ca. 30 % unserer Gesprächspartner waren weiblich). Ergänzend zu den Interviews stellen Beobachtungen im Feld eine weitere angewandte Methodik dar. Persönlich wahrgenommene bzw. sichtbare lokale Umweltbedingungen oder Aspekte wie den Zustand der Infrastruktur besuchter Dörfer hielt ich in Notizen und Fotos fest.

Auswirkungen der Wasserkrise auf ländliche Lebensgrundlagen Die Bewohner der ländlichen Regionen am Urmiasee sind von verschiedenen Umweltveränderungen betroffen. Nahezu alle Interviewpartner gaben an, verstärkt unter der generellen Wasserkrise in der Region zu leiden, mit der zunehmende Wasserknappheit, abnehmende Wasserqualität, Veränderung der

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Niederschlagsmuster, höhere Temperaturen und häufigere Dürren assoziiert werden. Ferner hat die fortschreitende Austrocknung des Urmiasees das Auftreten salzhaltiger Staubstürme verstärkt, die eine Schädigung der Landwirtschaft durch Salzablagerungen verursachen und Gesundheitsprobleme in der Bevölkerung hervorrufen. Im Folgenden werden die wahrgenommenen Umweltprobleme und deren gesundheitliche und sozioökonomische Konsequenzen für die Bewohner genauer dargestellt.

Gesundheitliche Konsequenzen Die Wasserkrise am Urmiasee hat schwerwiegende Auswirkungen auf das gesundheitliche Wohlergehen ländlicher Anwohner. Tausende Quadratkilometer einstiger Seefläche haben sich in eine Salzwüste verwandelt, wodurch es in der Region immer häufiger zu Staubstürmen kommt, die Salze und andere toxische Elemente über die umliegenden Dörfer verteilen. Inzwischen konnten verschiedene Studien nachweisen, dass die Feinstaubbelastung im Zusammenhang mit der Austrocknung des Urmiasees zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck und Blutarmut (Samadi et al. 2019; Tabrizi et al. 2019) sowie verschiedenen Haut-, Augen- und Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung führt (Mohammadi et al. 2019; Mousapour 2019). „Die Menschen hier nennen ihn ‚den weißen Wind‘. Er kommt aus westlicher Richtung und bringt giftige Luft voller Staub und Salz ins Dorf. Er macht die Menschen krank – von Asthma bis hin zu Krebs. (…) Wir könnten hier gerade nicht sitzen, wenn es windig wäre. Manchmal können wir nichts anderes machen als im Haus zu bleiben. Auch die Tiere sind betroffen (…). Die Leute klagen über Fehlgeburten bei ihren Tieren. Diese Luftverschmutzung ist unser schlimmstes Problem hier und im Dorf der Hauptgrund, warum immer mehr Menschen wegziehen“, erklärt ein Mann mittleren Alters aus dem Dorf Teymourlou, östlich des Urmiasees. Durch die überwiegend vorherrschende West-Ost-Windrichtung sind besonders Regionen auf der Ostseite des Urmiasees durch Emissionen belastet (ULRP 2017), was ich während meiner Feldforschung sowohl aus Gesprächen mitnehmen als auch am eigenen Leib erfahren konnte: Ein Interview mussten wir kurzerhand vom Straßenrand ins Auto verlegen, da wiederholt auffrischender, staubbeladener Wind das Atmen und Sehen im Freien unmöglich machte. Bei vielen Gesprächspartnern stellte ich rote Augen und Hautkrankheiten fest. „Gestern habe ich mit meiner Schwester erst die eine Seite des Hauses geputzt und sind dann zur anderen gegangen. Als wir fertig waren, war die erste Seite schon wieder verstaubt. Abends habe ich 10 Minuten gebraucht, um das Salz aus meinem Gesicht zu waschen“, klagt eine junge Frau aus dem Dorf Gamici. „Unsere Farm liegt in der Nähe des Sees. Letztes Jahr habe ich dort gearbeitet und wurde

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daraufhin krank. Wir gingen zu einem Doktor nach Täbris, er sagte, ich hätte mir eine schwere Atemwegserkrankung von der giftigen Luft am See zugezogen. Dieses Jahr kann ich nicht auf die Felder gehen, um zu arbeiten. (…) Ich habe keine Energie, ich kann nicht einmal Fleisch oder Joghurt kaufen. Mein Mann muss die ganze Hausarbeit machen. Wir müssen so viel Geld für meine Gesundheit ausgeben, dass wir kein Geld mehr haben, um unseren Sohn auf die Universität zu schicken. Wir haben so viel zu kämpfen, und jetzt kann ich nicht einmal mehr atmen“, erzählt eine Frau aus Balderlou schluchzend. Die Regierung finanziert derzeit lokale Umweltbehörden, die in den Randregionen des ehemaligen Seebetts kleine Bäume und Sträucher pflanzen. Sie sollen das Entstehen von Salzstürmen erschweren, indem sie das Aufwirbeln von Sand und Staub unterdrücken. Weitere Gesundheitsprobleme ergeben sich für viele Menschen daraus, dass es mit fortschreitendem Verlauf der Wasserkrise in vielen Dörfern keinen (uneingeschränkten) Zugang zu frischem Trinkwasser mehr gibt. Viele Flüsse sind in manchen Jahren ausgetrocknet, die immer tiefer gegrabenen Brunnen haben mit Salzwasserintrusionen zu kämpfen. Andere Menschen berichten, dass ihre Qanate14 trockenfallen. „Ich habe in diesem Augenblick Durst, weil es hier kein trinkbares Wasser gibt (…). Die Leute bekommen Probleme mit ihren Nieren von diesem salzigen Wasser aus den Brunnen. Ich kenne mindestens 20 Leute, die schon operiert wurden, um diese kleinen Steine aus ihren Lungen holen zu lassen“, erklärt eine ältere Frau. „In unserem Dorf sind etwa 50 Brunnen ausgetrocknet, 24 haben wir noch. Von diesen bekommen wir aber kein Trinkwasser (…). Wir müssen zu den Flüssen in den Bergen, um Wasser zu holen. Nur Leute mit Autos können das machen, andere müssen Taxis bezahlen, um an Gallonen mit Trinkwasser zu kommen“, empört sich ein Mann im Dorf Kulungi. Insgesamt gaben ca. 30 % aller interviewten Personen und Haushalte an, über keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser zu verfügen. Rund 45 % der Haushalte erklärten, mindestens ein chronisch krankes Familienmitglied zu haben – wenngleich hier auch Krankheiten genannt wurden, die augenscheinlich nicht in Zusammenhang mit der Umweltkrise stehen, wie z. B. Kriegsverletzungen.

14 Die Qanat-Wassergewinnung ist eine traditionelle Form der Frischwasserförderung im Iran. Ein Qanat besteht aus einem Mutterbrunnen, unterirdischen Bewässerungskanälen mit geringem Gefälle und vertikalen Zugangsschächten. Im Iran werden heute noch ca. 20.000 bis 25.000 Qanate unterhalten (Khaneiki, Yazdi 2016).

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Untergang der Tourismusbranche Die Umweltveränderungen am Urmiasee stellen einen gravierenden Einschnitt in die wirtschaftliche Entwicklung der Region dar. Der Niedergang der Tourismusbranche – ein wertvoller Arbeitgeber für viele Menschen im ländlichen Raum – kann seit Beginn der 2000er Jahre beobachtet werden, als sich der See Jahr für Jahr weiter von seinen ehemaligen Ufern zurückzog. In vielen Dörfern, die direkt am See lagen, können die Relikte aus besseren Zeiten aufgesucht werden: Inmitten der Salzwüste gestrandete Touristenschiffe (vgl. Abbildung 1), verwahrloste Touristenvillen und kleine Boote, die von Anwohnern vermietet wurden. „Als ich klein war, hatten wir einen Garten am See. Ich erinnere mich genau. Alles war voller Menschen, Ferienhäuser für Touristen überall. Viele sind mit Zelten angereist. Sogar aus Deutschland waren Besucher da. Die Bewohner von hier haben ihr Obst und Gemüse, ihr Fleisch und Eis an die Touristen verkauft. Das war für viele ein gutes Einkommen. (…) Jetzt ist der See weg, die Touristen sind weg, die Landwirtschaft ist tot, unser Geld ist verschwunden, unsere Ländereien sind vertrocknet und nichts mehr wert“, berichtet eine ältere Frau aus dem kleinen Küstenort Sheikh Wali. Hier verloren viele Menschen ihre Arbeit, zogen weg oder konzentrierten sich in der Folge verstärkt auf die Landwirtschaft, um ihren Lebensunterhalt zu sichern – was den ohnehin schon hohen Druck auf die Wasserressourcen noch verstärkte.

Konsequenzen für die Landwirtschaft Schon vor dem Niedergang der Tourismusbranche stellten landwirtschaftliche Aktivitäten die wichtigste Lebensgrundlage für Bewohner in ländlichen Regionen am Urmiasee dar. Bei den meisten Haushalten handelt es sich um Kleinbauernfamilien, die für ihren Lebensunterhalt Produktion zum Eigenbedarf mit einem gewissen Anteil Vermarktung kombinieren. Allen voran wirkt sich die Wasserknappheit in der gesamten Region heute gravierend auf diese Lebensgrundlagen aus. Sowohl Trinkwasser als auch das Wasser für Vieh und Bewässerungszwecke wird in Folge der jahrelangen Übernutzung der Grundwasserressourcen und der Klimaveränderungen knapp und verliert an Qualität. Viele Bauern berichten vom kompletten Trockenfallen zahlreicher Brunnen, gerade in den vergangenen Jahren. Brunnen, die noch Wasser führen sind oftmals zu salzig, um sie für Bewässerungszwecke nutzen zu können. „Egal aus welchem Brunnen wir das Wasser nehmen, es trocknet unsere Bäume aus“, klagt ein Bauer aus dem Dorf Au Beyglou. Durch Winde verursachte Salzablagerungen vermindern besonders im Osten des Urmiasees die Fruchtbarkeit von Böden, machen Bäume krank und führen zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen

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Erträge. In den meisten besuchten Dörfern im Osten ist die Salzproblematik ein noch größeres Problem als der Wassermangel: „Wenn du heute einen Baum pflanzt, ist er nach drei Jahren trocken. Man kann das Salz auf den Blättern sehen. Vor zwei Jahren war es mit den Salzstürmen so schlimm, die Bauern haben es nicht einmal ausgehalten, in ihrem eigenen Feld zu stehen“, berichtet ein anderer Mann des Dorfes. Viele Bauern erzählen von der Wahrnehmung sich ändernder klimatischer Verhältnisse in der Region: heißere und trockenere Sommer nähmen zu, früher seien Regenfälle regelmäßiger aufgetreten. „Die Jahreszeiten haben sich verändert. Sogar der Monat, in dem wir unser Saatgut ausbringen, ist heute ein anderer! (…) Vor 30 Jahren war das Klima hier so mild. Heutzutage haben wir extreme Hitze und Dürren im Sommer und Kälteeinbrüche im Frühjahr, die unsere Feldfrüchte zerstören. Alles, was wir anbauen, ist so verletzlich!“, schildert ein Mann aus Joshanlou. In vergangenen Zeiten hatte der Urmiasee eine ausgleichende Wirkung auf das Mikroklima – ein Effekt, der mit dem Verschwinden des Wasserkörpers verloren geht.

Die kleinbäuerliche Lebensführung steckt in der Krise Obwohl alle befragten Haushalte nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, gaben ca. 80 % an, entweder vollständig oder teilweise von den Erträgen aus der Landwirtschaft und/oder der Viehzucht zu leben. Zu den Hauptkulturen der meisten Kleinbauernfamilien in der Region zählen Gras für Vieh sowie Weizen, Tomaten, Trauben, Äpfel, Pfirsiche, Sonnenblumen, Gurken, Bohnen und Mais. Einige Familien mit etwas mehr Land konzentrieren sich verstärkt auf die Viehzucht. Viele Familien der Haushaltsstichprobe (61 %) besitzen mindestens eine oder zwei Kühe für die Eigenversorgung mit Milch und Käse sowie einige Schafe. Aus diesen Haushalten gaben wiederum 63 % an, komplett von ihren Tieren abhängig zu sein, da sie den größten Teil der eigenen Ernährung oder den größten Teil des Einkommens des Haushalts durch den Verkauf viehwirtschaftlicher Produkte generieren, wie z. B. Milch oder Fleisch. Wie im Verlauf der Feldstudien deutlich wurde, erwirtschaften die kleinbäuerlichen Haushalte kaum Überschüsse und können somit weder Geld sparen noch investieren. Im Gegenteil: Die Umweltbedingungen für die Produktion bergen ein hohes Verlustrisiko aufgrund des Wassermangels und der Gefahr von Dürren. „Unser Leben heutzutage beruht auf Glück: Wenn wir guten Regen haben, haben wir ein ausreichendes Einkommen, ansonsten ist es schrecklich“, betont ein Bauer aus dem Dorf Sarai. Rund 90 % der Haushalte gaben an, dass die Produktivität ihrer Farm bzw. ihr Einkommen in den vergangenen zehn Jahren zurückgegangen seien, in einigen

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Jahren gingen Ernten sogar vollständig verloren. Für 72 % der Befragten stellte dieser Umstand nach eigenen Angaben große Probleme dar. Dürre und Wasserknappheit, die es den Bauern nicht erlauben, ihre gesamte agrarische Nutzfläche ausreichend zu bewässern und daher Ernteausfälle zur Folge haben, wurden dabei als häufigste Ursache genannt (77 %). Darauf folgten Versalzung (49 %), Krankheiten und Schädlingsbefall (35 %). Gegen Ernteausfälle sind nur wenige Bauern versichert, und diejenigen, die es sind, berichten meist von negativen Erfahrungen: „400 Aprikosenbäume sind gestorben, die Versicherung hat nichts bezahlt. Deswegen haben wir jetzt keine mehr“, beschwert sich ein Mann aus Gamici. „Es dauert zwei Jahre, bis man endlich Geld von der Versicherung bekommt. Aber das gezahlte Geld ist viel geringer als unsere Schäden“, berichtet ein Mann aus Saltan Ahmad. Um Dürreschäden sowie der Erkrankung von Bäumen durch Salzablagerungen vorzubeugen, greifen viele Bauern auf den Einsatz von Pestiziden zurück. Deren Preis hat sich im Zuge der Inflation jedoch stark verteuert, viele können sich diese nicht leisten. Wieder andere Bauern beschweren sich über die schlechte Qualität der Pestizide. Weitere Belastungen ergeben sich aus den geringen Marktpreisen beim Verkauf der Produkte (44 %), gerade was die gängigsten Feldfrüchte anbelangt. „Wir können einfach nichts zu einem guten Preis verkaufen. Die Verkaufspreise für manche Früchte sind so niedrig, wir können sie genauso gut wegwerfen. Rechnet man die Ausgaben für Düngemittel, Pestizide und Saatgut dazu, bedeutet deren Anbau ein Netto-Minusgeschäft für uns“, erklärt ein Bauer aus dem östlich gelegenen Haft Cheshmeh. Tatsächlich sorgt die enorme Überproduktion beliebter Anbauprodukte wie Äpfel oder Tomaten dafür, dass deren Preis in Jahren mit besserer Ernte abstürzt. „Wir verkaufen das Kilo Tomaten im Sommer für 900 Toman, im Winter müssen wir es uns für 5000 Toman kaufen“, klagt ein Kleinbauer aus Tabat. „Was wir ausgeben, um Landwirtschaft machen zu können, ist teuer. Was wir hinterher verkaufen ist billig“, ergänzt sein Bruder. Probleme ergeben sich auch im Unterhalt des Viehbestands. 56 % der befragten Haushalte mit Vieh gaben an, in der Vergangenheit bereits Probleme gehabt zu haben, ihre Tiere mit ausreichend Futter zu versorgen. Hintergrund war meist die zu geringe Eigenproduktion von Futter, was von den Bauern mit dem Wassermangel, Dürren und dem Rückgang von Weideflächen begründet wurde. Reicht die eigene Futtermittelproduktion nicht aus, muss teuer hinzugekauft werden: „Ein Kilogramm Futter kostet uns 1000 Toman, das ist schrecklich für uns! Bei Dürren ist das Gras besonders teuer“, beschreibt eine Frau aus Ossalu. „Das Geld, das ich ausgeben muss, um meine Kühe zu füttern, wird nicht durch die Erträge durch den Verkauf von Milch oder Käse gedeckt. Wir können uns kein Fleisch leisten. (…) Wir sind sehr arm, wir haben in der Vergangenheit Hilfe von

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Nachbarn bekommen, um etwas essen zu können“, schildert ein älterer Bauer aus Buracalu, einem verlassenen Dorf östlich des Urmiasees. Anpassungsmöglichkeiten an die sich ändernden Umweltbedingungen vor Ort sind begrenzt. Als unmittelbare Maßnahme gaben viele Bauern an, bestehende Brunnen immer weiter zu vertiefen, um irgendeine Form der Feldbewässerung zu gewährleisten und die Trinkwasserversorgung aufrechtzuerhalten – mit wenig Erfolg: Zum einen stellt dieses Vorgehen keine nachhaltige Form der Anpassung an die Wasserkrise der Region dar, da Wasserressourcen somit weiter unter Druck gesetzt werden. Zum anderen ist das Wasser aus tieferen Brunnen in Jahren der Dürre nach Angaben der Bauern meist salzig und daher unbrauchbar, zudem bergen sehr tiefe Brunnen die Gefahr einzustürzen. Die landwirtschaftliche Produktion kann auf dieser Grundlage nicht langfristig gewährleistet werden. Ein Mann aus Gamici schildert sein Vorgehen der Anpassung: „Dieses Ökosystem ist völlig ungeeignet für Nutzpflanzen. Ich und viele andere hier wechselten deswegen zu Vieh. Der Verkauf von Wolle und Fleisch bringt ein besseres Einkommen, aber es ist immer noch schwierig über die Runden zu kommen und zu überleben.“ Viele andere Kleinbauern gaben wiederum an, Teile ihres Lands oder Viehbestands verkauft zu haben, um schnell an Geld zu kommen, um sich selbst zu versorgen oder den Rest des Tierbestands ernähren zu können. „Anpassung? Ich könnte mir vielleicht ein Grab buddeln. Denn wir Bauern können nichts tun, außer dazusitzen und zu weinen“, antwortet ein Bauer aus Yovalar. – Ein Satz, der während der Feldforschungen in ähnlicher Form immer wieder fällt. „Wir befinden uns in einem schrecklichen Zustand, wir können uns nicht entwickeln. Wir müssten Geld ausgeben, um unsere angebauten Kulturen auszutauschen, aber wir haben nicht die Mittel dazu, wir können es nicht tun. Bis zu unserem Tod werden die Probleme nicht aufhören“, fasst eine Frau aus Joshanlou ihre Situation zusammen. Zusätzlich zu den widrigen Produktionsbedingungen, finden es Kleinbauern oft schwierig, Geld für Betriebsmittel wie Saatgut, Düngemittel und Pestizide aufzuwenden, anfällige Kulturen auszutauschen oder in der Produktion auf Tröpfchenbewässerung umzustellen. Kredite zur Finanzierung dieser Betriebsmittel sind zwar privat verfügbar, aber sie sind teuer und werden von den Kleinbauern mit einem hohen Verschuldungsrisiko behaftet wahrgenommen. „Die Bank zieht den Menschen die Haut von den Knochen. Ich habe einen Kredit über 20 Millionen Toman aufgenommen, aber verdiene nicht genug, um ihn zurückzuzahlen. Meine Einnahmen reichen gerade, um meine Ausgaben zu decken. Ich schulde der Bank jetzt 52 Millionen und jeden Tag wird es mehr“, schildert ein Kleinbauer aus Sadaghian. „Wir können es uns nicht leisten einen Kredit aufzunehmen: Die Bank verlangt 18 % Zinsen. Wie sollten wir das je zurückzahlen?“, beschreibt ein Mann aus Ardesha seine missliche Lage. 61 % aller

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Befragten gaben an, sich in der jüngeren Vergangenheit bereits kurzfristig Geld von Freunden oder der erweiterten Familie geliehen zu haben, in der Regel aber nur für kleinere Investitionen. „Es ist schwierig, sich heutzutage Geld zu leihen. Niemand hier ist wohlhabend, das Leben von jedem ist voller Unglück, genau wie meins“, sagt eine Frau in Ossalu. Im Dorf Gamici treffen wir auf ein Ehepaar, das in der Kommunalverwaltung tätig ist. Die Frau berichtet von den Problemen des Dorfs, das in den letzten 15 Jahren mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung durch Abwanderung verloren hat. „Dieses Dorf liegt direkt am Urmiasee und hatte früher ein großartiges Klima für die Landwirtschaft. Heute ist die Luft voll giftigem Salz und Staub, die Leute wurden krank und haben in Scharen das Dorf verlassen. (…) Ich versuche den Bauern zu helfen und habe dafür ein Projekt für den Anbau von Safran gestartet. Zur Kommunikation mit den Bauern habe ich einen Telegram-Kanal eröffnet, an dem sich viele beteiligen. (…) Die traditionellen Anbauprodukte funktionieren hier heute einfach nicht mehr, sie gehen unter der Umweltbelastung ein und bringen beim Verkauf sowieso keinen Gewinn.“ Mandelbäume waren eine der Haupteinnahmequellen für viele Bauern. Allerdings weisen diese eine geringe Resistenz gegenüber den Umweltveränderungen auf. Unter dem Einfluss von Salzablagerungen, salzigem Wasser aus Brunnen und wiederholten Dürren sind die Bäume in der Region großenteils verendet, was für viele Bauern herbe Verluste bedeutet.15 „Die Menschen wechseln hier von Mandel, Apfel, Pfirsich – einfach von allem zu Pistazien, um Wasser zu sparen. Pistazien können mit Wassermangel und dem Salz etwas besser umgehen, außerdem bringen sie beim Verkauf mehr Geld als die meisten anderen Früchte“, erklärt ein junger Bauer aus Sarai.

Umweltmigration als Anpassungsstrategie? Im Durchschnitt gaben drei von vier befragten Haushalten an, dass mindestens ein Familienmitglied in den vergangenen 20 Jahren das Dorf verlassen habe. Viele machen die schwierigen Umweltbedingungen als Ursache zur Notwendigkeit der Arbeitsmigration aus: Auf die Frage, welche Faktoren die Hauptgründe für den Wegzug des Familienmitglieds darstellten, gaben 78 % der Befragten ökonomische Gründe an (z. B. schlechtes Einkommen aus der Landwirtschaft, Arbeitslosigkeit), wobei von diesen sehr viele in ihrer Antwort direkt auf die schlechten Umweltbedingungen verwiesen (Wasserknappheit, Dürre, Versalzung). Für rund 15 In fast jedem der 30 Interviews auf der Ostseite des Sees wurde vom Absterben der Mandelbäume und den katastrophalen Konsequenzen für das eigene Einkommen berichtet, weshalb dieses Beispiel hier Erwähnung findet.

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60 % der Befragten stellen Umweltstressoren den Hauptgrund für Migration dar, bspw. neben ökonomischen Faktoren.16 Verglichen mit Fallstudien anderer Autoren im Bereich Umweltmigration, stellt dies einen ausgesprochen hohen Wert dar. Dies liegt einerseits an der von mir angewandten, qualitativen Methodik der offenen Interviewführung, in dem sich die Befragten nicht für einen „Haupttreiber“ entscheiden mussten, sondern Mehrfachnennungen sowie erweiterte Beschreibungen möglich waren. Zum anderen kann das Ergebnis aber auch als Ausdruck der Tatsache gewertet werden, wie sehr kleinbäuerliche Haushalte durch fortschreitende Umweltdegradation unter Druck geraten, und dass Migration eine mögliche Form der Anpassung darstellen kann. „In diesem Dorf sind die Umweltveränderungen der Hauptgrund für die Abwanderung der Menschen. Ihr Einkommen aus der Landwirtschaft ist schlecht. Ich vermute, dass 70 % der Leute aus diesem Grund hier weggezogen sind. Früher konnten die Bauern ein oder zwei Ackerflächen bestellen, es war ein gutes Einkommen, jetzt können sie kaum noch ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie MÜSSEN weggehen! Hier gibt es kein Wasser! Landwirtschaft, die nur auf Regenfälle angewiesen ist, ist so schlecht. (…) Wir hatten Touristen hier, sie nahmen Schlammbäder und erholten sich, wir konnten durch sie gut verdienen, heute ist unser Leben schwierig. (…) Ich habe meine Kinder sehr unterstützt, damit sie von hier fortgehen können. Ich habe sie auf eine weiterführende Schule geschickt und schließlich 35 Kühe verkauft, um ihre Migration zu finanzieren, erzählt ein anderer Mann aus Sarai. Viele der besuchten Dörfer wirken wie ausgestorben und entvölkert. Junge Menschen sind in den Straßen kaum zu sehen. Viele Gesprächspartner erzählen, dass sich die Zahl der Bewohner in den letzten 20 Jahren mehr als halbiert hat. Teilweise sind Familien gesammelt weggezogen, häufig aber auch nur die Kinder. Gerade am Wochenende treffen wir in den Dörfern immer wieder auf Migranten, die gerade ihre Familien besuchen. „Trockenheit, Wassermangel, fehlendes Einkommen, die Menschen mussten gehen! Es gibt hier keine Infrastruktur mehr, warum sollten wir bleiben?“, fragt ein Mann aus Mighitabo, der heute in der Stadt Urmia wohnt. Um den Prozess der Migration einzelner Familienmitglieder oder ganzer Haushalte zu ermöglichen, spielen finanzielle Ressourcen und Netzwerke eine entscheidende Rolle. „Ich habe eine Kuh verkauft, meinem Sohn das Geld gegeben und gesagt: Geh!“, erzählt ein Mann in Jabal Kandi schmunzelnd.

16 Welche Gründe stellen Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür dar, dass ein Familienmitglied/mehrere Familienmitglieder Ihren Haushalt verlassen haben (Mehrfachnennungen möglich)? Ökonomische Gründe: 77,6 %, Umweltstressoren: 60 %, Bildung: 25 %, Hochzeit/ Familie: 45 %, besseres Gesundheitssystem im Zielort: 8 %. In Bezug auf das Geschlecht wurde deutlich, dass die Migration von Männern von wirtschaftlichen Motiven dominiert wurde und Frauen eher aus Heirats- und familiären Gründen migrierten.

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„Wir hatten Geld aus besseren Zeiten gespart, als wir von Landwirtschaft und Viehzucht gut leben konnten. Das haben wir genommen, um an unseren jetzigen Wohnort zu ziehen, wo die Kinder auch eine weiterführende Schule haben. Ich bin so froh, dass wir weggegangen sind, hier ist es jetzt schrecklich“, erklärt eine Frau, die wir im gleichen Dorf antreffen. „Normalerweise läuft der Prozess so ab: Die Jungen kennen oder finden jemanden, der einen Job für Sie findet. Dann mieten sie sich ein Zimmer in der Stadt und ziehen weg. Bei unseren Kindern war es auch so. Natürlich hatten sie zu Beginn kein Geld, wir haben ihnen geholfen und ihnen etwas geliehen“, schildert eine Frau in Sheikh Wali. Arbeitsmigration im Kontext der Umweltveränderungen ist insbesondere bei jungen Menschen stark verbreitet und mit dem vorrangigen Ziel verbunden, Geld zu verdienen, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Stadt sind jedoch begrenzt und viele Jobs sind schlecht bezahlt, wie z. B. die Beschäftigung als Tagelöhner in der Baubranche. In den Gesprächen mit Migranten und ihren Familien wird schnell deutlich, dass die Folgen der Abwanderung für die Migranten sehr unterschiedlich ausfallen: „Es war gut für meine Kinder, dass sie weggezogen sind. Sie haben Arbeit, hier würden sie vor dem Nichts stehen. Jetzt leben sie in Urmia, mit Zugang zu allen wichtigen Einrichtungen. Sie haben Schulen, und zwei meiner Enkelkinder gehen sogar auf die Universität. Hier im Dorf hätten sie nicht einmal zur Schule gehen können. (…) Urmia ist ein Ort des Fortschritts. Wenn jemand von hier mit einem hungrigen Magen aufbricht, arbeitet er zwei Jahre lang in Urmia und ist satt“, erzählt ein älterer Bauer aus Buracalu. Neben positiven Eindrücken wie diesen bekomme ich während der Befragungen auch häufig das Gegenteil zu hören: „Junge Leute studieren hart in ihren Büchern, nur um am Ende noch schlechter dazustehen als wir“, berichtet eine Frau in Sheikh Wali traurig: „Unser Sohn hat Architektur studiert, mein Mann musste dafür viel Geld ausgeben, um ihn auf die Universität zu schicken. Doch dann konnte er keine Arbeit finden, das hat ihn sehr belastet. (…) Er arbeitet jetzt in einem Supermarkt in Teheran. Aber sein Einkommen ist sehr schlecht, obwohl er gebildet ist – und er kann nicht heiraten. Wie soll er Geld für noch eine Person verdienen?“ Eine Mutter von fünf migrierten Kindern aus Ossalu berichtet: „Meine Kinder können nicht einmal Dinge für ihre eigenen Kinder kaufen, wie z. B. Kleidung oder einen Laptop. Sie sind zur Schule gegangen und kämpfen trotzdem ums Überleben.“ Migration ist also auch oft problembehaftet. Sie kompensiert zwar das Fehlen von Arbeit und Einkommen auf dem Land, aber sie kommt nicht annähernd einer ganzheitlichen Strategie gleich, die für alle gut funktioniert. In diesem Zusammenhang soll kurz auf die Rolle von Rücküberweisungen eingegangen werden. In der Theorie können Verdienste von Migranten als Remissen übermittelt werden und sich positiv auf die Resilienz der zurückgebliebenen Familienmitglieder auswirken. Geldsendungen kommen im Rahmen einer „Diversi-

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fizierung“ der Haushaltsstrategie eine wichtige Rolle zu und sie finden entsprechend in der Literatur zu „Umweltmigration als Anpassungsstrategie“ viel Beachtung. Am Urmiasee gaben 25 % der Haushalte mit Migranten an, regelmäßig Geld aus Rücküberweisungen zu erhalten, knapp 40 % in unregelmäßigen Abständen. Diese Gelder werden von den Familien zu Hause für den Kauf von Nahrungsmitteln (50 %) und anderen Gütern des täglichen Bedarfs verwendet (44 %), außerdem werden die Einnahmen zur Finanzierung der kleinbäuerlichen Produktion (Pestizide, Saatgut, Boxen für Transport und Lagerung etc.) gebraucht (32 %). Ein Viertel der Haushalte gab das Geld in der Vergangenheit für Gesundheitsvorsorge aus. „Mein Bruder hat einen Freund im Irak. Er hat das Land, die Arbeit und das Einkommen dort gelobt und meinem Bruder geholfen nachzukommen. Jetzt arbeitet er dort als gut verdienender Bauarbeiter. Er schickt regelmäßig Geld nach Hause, das ist die Haupteinnahmequelle für uns hier“, erzählt ein junger Mann aus Isakaan. Seine Geschichte ist eine der wenigen, in denen von internationaler Migration berichtet wird. Am Urmiasee findet Migration in den allermeisten Fällen (95 %) landesintern statt, in den meisten Fällen in die nächstgrößere Stadt (Urmia, Täbris, Salmas, Teheran). In der Regel fällt der Umfang der Geldrücksendungen aber sehr gering aus. Häufig machen Remissen des Sohns oder der Tochter nur einen Bruchteil dessen aus, was die Eltern ursprünglich aufwenden mussten, um die Migration zu finanzieren. Ungeachtet des potenziellen Nutzens von Migrationseinkommen und ihrer positiven Rolle für die Nahrungsmittelproduktion und -sicherheit, unterscheiden sich Migrantenhaushalte als Gruppe hinsichtlich sozioökonomischer Aspekte insgesamt nicht wesentlich von Haushalten ohne Migrationshintergrund. Zudem wirkt sich die emotionale Belastung durch die Familientrennung sowie das Fehlen einer Arbeitskraft im Haushalt für viele Familien mit ausgewanderten Kindern negativ aus. „Mein Bruder ist wegen der Wasserknappheit und des schlechten Einkommens aus der Landwirtschaft in die Stadt gezogen, um etwas Besseres zu finden. Aber es geht ihm dort auch nicht viel besser. Im letzten Jahr hat er dreimal den Job gewechselt. (…) Gelegentlich schickt er etwas Geld, aber es ist nicht viel. Und wir bräuchten ihn hier. Sein Fortgang hat einen negativen Einfluss auf uns! Wir fühlen uns einsam und uns fehlt seine Hilfe im Alltag“, klagt ein Bauer aus Qezeljeh. Die meisten meiner Gesprächspartner gaben an, in regelmäßigen Abständen von ihren Kindern und deren Familien besucht zu werden, für viele ist das aber nicht genug: „Es ist ein großes Unglück für uns, dass unser Sohn weg ist. (…) Wenn ich älter werde, wer bringt mich dann nachts zum Arzt, wenn es mir schlecht geht? Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder ihnen nahe sind“, klagt ein Mann aus Ghelmansaray.

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Diese negativen Auswirkungen von Migration sind in der Literatur der Migrationsforschung gut dokumentiert, insbesondere für Süd-Nord-Migration über längere Zeiträume. Umso interessanter ist es, dass Migration selbst über kurze Entfernungen – wie hier im Falle der Migration aus ländlichen Regionen am Urmiasee – ganz eigene negative Konsequenzen aufweisen kann.

Das Leben in erzwungener Immobilität wird durch Migration verschärft „Warum sollten wir hier noch sitzen, wenn wir wegziehen könnten? Wir sind gefangen hier und leben mit vielen Schwierigkeiten. Diejenigen, die weggegangen sind, haben ein besseres Leben. Wir können lediglich versuchen, irgendwie damit fertig zu werden. Wir Bauern haben nicht die Mittel, um wegzugehen. Nur gutverdienende Menschen können das – diejenigen, deren Lebensunterhalt nicht an der Landwirtschaft hängt“, erzählt ein Mann während eines Gruppeninterviews in Sarai. Aussagen wie diese sind während der Feldforschungen oft zu hören. In den Interviews äußerten rund 60 % der Befragten den Wunsch bzw. die wahrgenommene Notwendigkeit für Migration. Viele gaben dabei an, jedoch nicht über die notwendigen finanziellen Mittel oder sozialen Kontakte zu verfügen. Vielerorts sind die Bodenpreise so stark gesunken, dass selbst aus dem Verkauf des eigenen Landes nicht viel Einkommen erzielt werden könnte. Früher war dies noch anders, wie etwa in Sheikh Wali wiederholt berichtet wird, einem kleinen Dorf an der Ostküste. Hier war die Nachfrage nach Grund einst sehr hoch. Menschen seien aus Täbris und Teheran gekommen, um sich für viel Geld Land zu kaufen und Strandhäuser zu errichten. Diese Gebäude verfallen heute. „So viele Dorfbewohner sind weggezogen, heute ist das ein kleiner Ort. Wenn du hier lebst, wird auch dein Verstand klein. Ich möchte auch weggehen. Aber ich habe nicht die Mittel, es zu tun. Niemand würde unser Land mit seinem salzigen Wasser in unseren Brunnen kaufen, wir würden nicht einmal fünf Quadratmeter Wohnfläche in der Stadt durch den Verkauf bekommen“, erzählt ein junger Mann. Nur jede dritte befragte Person gab an, keinen Wunsch bzw. keine Notwendigkeit für Migration zu verspüren, also freiwillig immobil zu sein. Dabei handelte es sich zumeist um ältere Menschen, die zum einen ohnehin nicht über die notwendigen Mittel zur Migration verfügen und zum anderen ihr Leben und ihre sozialen Kontakte im Dorf nur ungern gegen das Abenteuer des Stadtlebens eintauschen würden. Ebenfalls keinen Migrationswunsch äußerten Menschen, deren Haupteinkommen nicht in der Landwirtschaft lag sowie wohlhabendere Personen, die ihre landwirtschaftliche Produktion im Laufe der Krise leichter

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anpassen konnten, etwa mit Hilfe von Tröpfchenbewässerung oder dem Wechsel der Anbaukulturen. Weitere Gründe für Immobilität stellen insbesondere familiäre Verpflichtungen vor Ort dar. „Alle fünf Brüder meines Mannes sind mit ihren Familien weggezogen. Ich frage mich so oft, warum nicht auch wir? Ich bedaure es so sehr, dass wir nicht von hier weggegangen sind. Der Vater meines Mannes hatte einen Unfall, einer der Söhne musste dableiben und sich um ihn kümmern, auf sein Land und Vieh aufpassen – und das waren wir. Alle Brüder und ihre Familien haben ein besseres Leben in Täbris oder Teheran und haben perfekte Schulen für ihre Kinder“, schildert eine Frau in Sheikh Wali. Für zahlreiche Dörfer werden die hohe Auswanderungsraten zusehends zum Problem. Der öffentliche Nahverkehr zwischen kleineren Dörfern sowie LandStadt Verbindungen sind vielerorts komplett eingestellt worden. Für den Weg zur Arbeit oder die Schule bleiben oftmals nur das eigene Auto oder ein Taxi. „Hier gibt es einfach keine Infrastruktur im Dorf mehr, es wird nicht mehr investiert, seit so viele Menschen weggezogen sind. Wir haben kein Trinkwasser, es gibt kein Gesundheitswesen mehr, ein Arzt kommt nur noch einmal in der Woche ins Dorf“, erzählt eine Frau in Buracalu. Im Schulwesen sind die Konsequenzen besonders dramatisch. Die meisten Dörfer verfügen – wenn überhaupt – nur über eine Grundschule. „Hier sind kaum noch Menschen im Dorf übrig. In die Grundschule gehen acht Kinder, die eigentlich in drei verschiedene Klassen gehören (…). Ich bringe mein Kind mit dem Auto zur weiterführenden Schule nach Shabestar, andere machen es mit dem Taxi“, berichtet eine Frau in Sheikh Wali. Schließen Schulen wegen des geringen Bedarfs, müssen Eltern entweder viel Geld für Taxifahrten aufwenden, um ihre Kinder auf die Sekundarschule schicken zu können, oder mit ihnen wegziehen – wodurch das Problem für die verbleibenden Menschen weiter verschärft wird. Viele können sich aber weder das eine noch das andere leisten. So etwa im Dorf Khorkhor östlich des Urmiasees, wo meine Übersetzerin und ich eine der sozial schwächsten Gemeinschaften vorfinden. Es ist das letzte von uns besuchte Dorf – eines, das abermals stark unter den Umweltveränderungen zu leiden hat. Es gibt kein Trinkwasser, und wer noch da ist, ist arm. Viele Menschen können hier nach eigenen Angaben keine drei Mahlzeiten pro Tag zu sich nehmen. Wir begegnen jungen Mädchen, die inmitten staubiger Straßen herumsitzen oder spielen. Man erzählt uns, dass sie hier sehr jung verheiratet werden. Nach der Grundschule kommen viele nicht in den Genuss einer weiteren Ausbildung. Ein Taxi, das die Kinder zu einer weiterführenden Schule bringen würde, kostet 150.000 Toman pro Monat (umgerechnet etwa zehn Euro) – zu teuer für die meisten Familien. „Die kleinen Mädchen im Dorf bleiben zu Hause und knüpfen Teppiche. (…) Das Einkommen ist nicht nur schlecht, es ruiniert auch noch die Augen. Ohne Bildung bleibt man wie ein Blinder zurück“, sagt eine

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ältere Frau. Für unser Interview, das wir aufgrund vereinzelter staubiger Windböen mehrmals unterbrechen müssen, dürfen wir auf ihrem Teppich Platz nehmen und bekommen Tee. Es sind Interviews und Begebenheiten wie diese, die mir und meiner Begleiterin Monir noch lange nach unseren Feldforschungen im Gedächtnis bleiben. In the last village I ever went dust pebbles home after home „We have an elementary school here“ „girls are mostly married after having finished elementary school“ the old woman lived alone with her three sheep She kissed me three times to make her feel her poor seven children Toiling in nearby villages I began to think we are sea creatures The women were always waiting gathering cheerfully around a man He brought them grocery in his pickup car I was gasping for breath The dust bath a passing livestock a maximum selling price spaghetti and oil A smiling married girl I never noticed the tiny dancing boy I barely could see why – Auszug aus dem Gedicht „The Rest of the World“ von Monir Gholamzadeh

Die Abwanderung vieler Menschen wirkt sich nicht nur über den Niedergang lokaler Dorf-Infrastrukturen und ausbleibende Investitionen auf die verbleibenden Gemeinschaften aus. In vielen Dörfern beklagen die Menschen den Verlust ehemaliger Traditionen. „Das Leben hier ist trist, ohne Momente der Freude. Es passiert nichts Spannendes oder Aufregendes mehr, wie z. B. schöne Hochzeiten. Die Gemeinschaft zerstreut sich“, sagt ein Mann in Jabal Kandi.

Zwischen Heimatverlust und neu entdecktem Zusammenhalt Das Bedauern über den Verlust des Sees und den negativen Einfluss der Umweltveränderungen auf die eigenen Lebensgrundlagen war in den Erzählungen und Erinnerungen der Bewohner allgegenwärtig. Viele Menschen assoziierten mit der Austrocknung des Urmiasees wachsende Armut, Perspektivlosigkeit, mangelnde Anpassungsfähigkeit an den Umweltwandel und allgemeine Hilflosigkeit. Jedoch wurde mir in den zahlreichen Begegnungen und Gesprächen auch bewusst, dass der See in den Köpfen vieler Bewohner mehr als nur eine Erinnerung an bessere Tage darstellt, die mit einem besseren Leben in Wohlstand verbunden werden. Mit dem Verlust des Sees ging für viele ein Stück Heimat verloren. Zwei Männer aus Gol Tappe erinnern sich zurück: „Nachts sind wir draußen gesessen und haben den Wellen des Sees gelauscht. Wir konnten vor unserem Haus schwimmen gehen und die Schiffe vorbeifahren sehen. Manchmal waren diese weißen Seevögel hier, sie haben so schöne Geräusche gemacht.“

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Besonders während Gruppendiskussionen neigten die Teilnehmer dazu Erinnerungen auszutauschen und Anekdoten aus alten Zeiten vorzubringen. Einige zeigen uns Bilder aus alten Zeiten (Abbildung 3). Als bemerkenswert fiel mir in vielen Dörfern – besonders in jenen, die von starker Abwanderung geprägt waren – der starke Zusammenhalt unter der verbleibenden Bevölkerung auf, gerade unter den älteren Bewohnern. „In diesem Dorf hilft jeder dem anderen, die Leute sind so freundlich zueinander, obwohl es vielen schlecht geht. In der Moschee nutzt der Kleriker sogar das Mikrofon, um auf die Probleme der Leute aufmerksam zu machen, damit ihnen geholfen werden kann. (…) Es wurde wieder eine Schule und eine Einrichtung zur Gesundheitsversorgung durch die Spenden von Menschen errichtet“, erzählt ein Mann in Kulungi. „Es ist schlimm für uns, dass die jungen Leute weg sind. Aber wir sitzen alle im selben Boot. Deswegen sind die Leute sehr nett zueinander hier, fast so als wären wir alle eine Familie.“ Rund 88 % der befragten Haushalte gaben an, in persönlichen Notfällen die Familie oder Freunde um Geld oder andere Formen der Hilfe bitten zu können. Enge Bindungen zu anderen Dorfbewohnern und die Abneigung, Familienmitglieder und Freunde zurückzulassen, stellen positive Formen der Ortsbindung dar, die einige Menschen die Entscheidung treffen ließ, im Dorf zu bleiben – oder sogar zurückzukehren.

Abbildung 3: Stolz auf bzw. Identifikation mit dem „Juwel“ Urmiasee sind in Erzählungen und Fotos der Bewohner ein wiederkehrendes Motiv. Quelle: Eigene Aufnahmen.

Das zuvor zitierte Ehepaar aus Gamici, das Bauern dabei helfen will, Produktionsweisen umzustellen und salz- und dürreresistente Kulturen anzubauen, war bspw. bereits in die Stadt gezogen, nur um nach ein paar Jahren wieder zu-

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rückzukehren: „Wir sind wegen der giftigen Luft weggezogen. Wie viele andere auch: von 5500 Menschen leben heute noch 500 im Dorf. Aber in der Stadt haben wir gemerkt, dass wir nicht loslassen können. Wir wollten zurück und den Menschen hier helfen. Wir haben all das Wissen. Was uns momentan fehlt, sind die finanziellen Ressourcen, um weitere Projekte zu starten, die vielen Bauern hier das Leben verbessern könnten.“ Wie viele andere teilt das Paar die Hoffnung, dass sich in Zukunft wieder bessere Zeiten einstellen könnten und weitere Familien zurückkehren. Die Mehrzahl der migrierten Haushalte hätte ihr Land im Dorf nicht verkauft: „95 % der Menschen wollten ihr Land nicht verkaufen, um wegzuziehen. Es ist nichts mehr wert und sie wollten ihre Heimat nicht für Nichts verkaufen.“

Fazit Die Wasserkrise am Urmiasee stellt eine schwere soziale und ökologische Katastrophe dar. Die weitreichenden Folgen der Wasserkrise für die Bevölkerung, lokale Wahrnehmungen und Adaptionsstrategien sowie Aspekte wie Migration oder Immobilität wurden in der wissenschaftlichen Literatur bislang nicht untersucht – eine Lücke, die im Rahmen der Weiterführung meiner Forschung weiter geschlossen werden soll. Damit langfristige Lösungen gefunden werden können ist es wichtig, die gegenwärtige Situation der betroffenen Menschen zu verstehen. Dies kann nur geschehen, wenn die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Menschen in Lösungsansätze miteinbezogen werden. Durch die Interviews mit Menschen aus verschiedenen Regionen rund um den See wurde deutlich, dass das Gros der lokalen Bevölkerung nur über begrenzte Ressourcen und Fähigkeiten verfügt, um sich an die ändernden Umweltbedingungen anzupassen. Die ländlichen Regionen sind durch eine dramatische Verschlechterung der Boden- und Süßwasserressourcen, Gesundheitsprobleme, wirtschaftlichen Niedergang und steigende Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Wo bis vor kurzem die Wellen an die Ufer ländlicher Dörfer schwappten, sieht man heute Wüste. Stürme tragen Salz und Staub über die Dörfer und Felder der Bewohner und bedrohen – zusammen mit der weit verbreiteten Wasserknappheit – die Gesundheit der Menschen und lassen ihre Ernte vertrocknen. In der Krise stecken insbesondere kleinbäuerliche Haushalte, die im Kontext der Umweltveränderungen wenig bis gar keine Möglichkeit haben, zu sparen, zu investieren oder Vermögen aufzubauen. Im Gegenteil: Die Umweltbedingungen erschweren die Produktion und bergen ein hohes Verlustrisiko – wie sich in der jüngeren Vergangenheit immer wieder gezeigt hat. Migration als eine Form der Anpassung spielt in der Region eine wichtige Rolle, besonders für jüngere Menschen. In den Migrationsentscheidungen erscheint die Präsenz des Um-

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weltfaktors dabei allgegenwärtig. Finden Migranten einen guten Arbeitsplatz in der Stadt und können sogar Geld an Familienmitglieder am Herkunftsort schicken, kann das als Erfolg gewertet werden. Doch viele Migranten haben mit großen Problemen zu kämpfen und können ihre Familien in der Heimat nicht unterstützen. Entscheidender als die Frage nach Erfolg oder Misserfolg von Migration im konkreten Fall, ist jedoch vielmehr die Frage nach dem Grad der Handlungsfreiheit, die Individuen und Haushalte in ihrer Entscheidung besitzen, zu migrieren oder nicht zu migrieren. Umweltdegradation hat im Laufe der Zeit zum Verlust von persönlichen Ressourcen wie Geldrücklagen oder Vieh beigetragen und somit Armutsfallen ausgelöst. Viele verfügen nicht über das notwendige soziale oder ökonomische Kapital, um potentiell mit Abwanderung zu reagieren und fühlen sich „gefangen“. Unter diesen Menschen gelten diejenigen als am verwundbarsten, die ferner keine Rücküberweisungen von Familienmitgliedern erhalten und gleichzeitig unter der Abwanderung anderer zu leiden haben. Setzt sich der Trend der Umweltdegradation am Urmiasee fort, ist es wahrscheinlich, dass sich bestehende Armutsrisiken weiter verschärfen und das Auftreten erzwungener Immobilität verstärkt auftritt. Diese Erkenntnisse machen deutlich, dass es notwendig ist, so schnell wie möglich nachhaltige Lösungen zu finden, um der Umweltkatastrophe entgegenzuwirken und Chancen für die lokale Bevölkerung zu schaffen. Dafür ist eine längerfristige institutionelle Unterstützung erforderlich, wobei auch größere strukturelle Probleme berücksichtigt werden müssen, die überhaupt zur Wasserkrise in der Region beigetragen haben – wie z. B. dem übermäßigen Wasserverbrauch in der Landwirtschaft. Bauern würden in diesem Zusammenhang von Beratung und dem Zugang zu erschwinglichen und dürreresistenten Nutzpflanzen profitieren, die eine Sicherung eines gewissen Mindestertrags gewährleisten.

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Matthias Schmidt

Politische Ökologie in den Environmental Humanities

Einführung Klimawandel, Bodendegradation, Flächenversiegelung, Artenschwund, Luftverschmutzung etc. sind Krisenphänomene unserer Zeit, die spätestens seit dem Modernisierungsschub der 1950er Jahre an Fahrt aufgenommen haben. Die Umwelt scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, jedenfalls hat sie sich durch das Wirken des Homo Sapiens in den vergangenen Jahrtausenden mit stetig sich steigernder Intensität und Geschwindigkeit verändert. Obgleich die Vorstellung eines ökologischen Gleichgewichts spätestens durch die Erkenntnisse der Nonequilibrium Ecology (Rohde 2006) stark umstritten ist, so ist es offenkundig, dass das menschliche Agieren zu massiven Umweltveränderungen führte, die neue Probleme und Krisen auslösten. Ob die Menschheit auf eine Katastrophe zusteuert oder sich nur in einer – überwindbaren – Krise befindet, sei zunächst einmal dahingestellt. Unzweifelhaft nimmt die Thematik von Umweltveränderung, -verschmutzung und -degradierung in Gesellschaft, Politik und Wissenschaften seit vielen Jahren einen zunehmend breiten Raum ein. Eine Schlüsselstellung kommt hier den Umweltwissenschaften zu. In ihnen dominieren seit Jahrzehnten natur-, bio- und geowissenschaftliche Zugänge, Expertinnen und Experten der entsprechenden Fachrichtungen erhalten Gehör und Aufmerksamkeit in Medien, Politik und Gesellschaft. Dies ist nachvollziehbar und wichtig. Zweifellos sind die Analyse von Umweltschäden oder – neutraler ausgedrückt – von Umweltveränderungen sowie die Modellierung und Prognose künftiger Folgen sehr hilfreich und extrem wichtig, eine Bekämpfung der Ursachen oder gar eine Trendwende des Mensch-Umwelt-Verhältnisses ergeben sich daraus nicht zwangsläufig. Von einer Lösung der größten Umweltprobleme und -herausforderungen ist die Menschheit noch weit entfernt. Hier sind die Geistes- und Sozialwissenschaften gefragt. Sie beschäftigen sich nicht erst in jüngster Zeit mit der Umweltproblematik und haben bereits wertvolle und wichtige Denkanstöße und Initiativen geliefert. Dass Ökologie und Umwelt nicht alleine vom Standpunkt der Natur gedacht werden sollten, ist lange

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bekannt. Einen zentralen Ansatz eines Weiterdenkens des Ökologiekonzeptes unter Einbeziehung des Menschen bietet beispielsweise die Humanökologie (Barrows 1923) bereits ab den 1920er Jahren. Später kamen die Kulturökologie oder Cultural Ecology in den Spielarten der Ethnologie (Steward 1955) und der Literatur- und Kulturwissenschaft (Zapf 2016) hinzu sowie die Soziale Ökologie (Becker, Jahn 2006) und die Politische Ökologie, über die in diesem Beitrag ausführlich gesprochen wird. Als sozial- und geisteswissenschaftliche Umweltwissenschaften haben sich zudem beispielsweise die Umweltsoziologie, Umweltpolitik und Umweltökonomie sowie die Umweltgeschichte, Umweltphilosophie und Umweltethik etabliert. Die Environmental Humanities sind nun ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Auseinandersetzung der oft als erklärende Wissenschaften oder Soft Sciences titulierten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften mit der Umweltthematik. Darunter ist jedoch weniger eine neue Disziplin, als vielmehr eine Denkrichtung zu verstehen, die ihren Impuls aus den Geisteswissenschaften erhielt, deren Grenzen, Zielrichtung und Forschungsfeld aber keineswegs als sakrosankt zu betrachten sind, sondern sich viel eher als offenes Format mit einem klar erkennbaren Kernanliegen darbietet. Als Humangeograph, der sich seit einigen Jahren verstärkt mit dem Ansatz der Politischen Ökologie beschäftigt, möchte ich in diesem Beitrag ausloten und begründen, weshalb die Politische Ökologie ebenfalls als Teil der Environmental Humanities zu begreifen ist und welchen Beitrag sie zu liefern imstande ist. Die Frage lautet also: Warum sollte und wie kann die Politische Ökologie einen Beitrag zu den Environmental Humanities leisten? Hierzu möchte ich zunächst die Entwicklung und die zentralen Prämissen, Forderungen, Konzeptionen und Ziele der Politische Ökologie vorstellen. Anschließend wird vor dem Hintergrund zentraler Konzepte der Environmental Humanities skizziert, in welchen Feldern und mit welchen Fragestellungen und methodischen Herangehensweisen die Politische Ökologie hierzu beitragen kann.

Was ist Politische Ökologie? Der Terminus der Politischen Ökologie wird auf vielerlei Art und Weise und in unterschiedlichen Kontexten genutzt und kann auf eine längere Geschichte zurückblicken. Im deutschsprachigen Raum führte vermutlich erstmals Hans Magnus Enzensberger (1974) den Begriff der Politischen Ökologie in die Debatte ein. Spätestens mit der politischen Umweltbewegung, institutionalisiert durch den Einzug der Grünen in die Landesparlamente und schließlich in den Deutschen Bundestag 1983, wurden die beiden Begriffsteile Politik und Ökologie im

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Sinne einer normativ ausgerichteten Umweltpolitik miteinander verbunden. Seit 1987 erscheint die vom auf Umweltthemen spezialisierten Oekom-Verlag herausgegebene Zeitschrift „Politische Ökologie“, in der Konzepte von Nachhaltigkeit und die Folgen politischen und wirtschaftlichen Handelns für Mensch und Umwelt debattiert werden. Einen stärker politikwissenschaftlich orientierten Ansatz der Politischen Ökologie vertritt Peter Cornelius Mayer-Tasch (1999), während Bruno Latour (2009) in seinem viel rezipierten Werk „Parlament der Dinge“ mit der Forderung nach einer politischen Ökologie die Frage aufwirft, was Natur, Wissenschaft und Politik miteinander zu tun haben. In der Geographie und in verwandten Sozialwissenschaften hat sich ein Verständnis von Politischer Ökologie bzw. Political Ecology durchgesetzt, das auf eine Initiative von Wissenschaftler:innen der Geographie, Ethnologie und Entwicklungsforschung aus dem angloamerikanischen Raum zurückgeht. Als prominentester Vertreter der Politischen Ökologie (PÖ) gilt der britische Geograph Piers Blaikie, dessen „Political Economy of Soil Erosion in Developing Countries“ (1985) als eine Art Ursprungswerk gesehen wird. Eine erste ausführlichere Konzeption als eigenständiger Forschungsansatz erfuhr die PÖ in „Land Degradation and Society“ (1987) von Piers Blaikie und Harold Brookfield. Angetreten war die PÖ als Gegenbewegung zu und Kritik an einer praktizierten ‚apolitischen Ökologie‘, die sich zu sehr auf naturwissenschaftliche Phänomene und Prozesse konzentriert und Fragen von Macht und Politik ausklammert. Stattdessen postuliert die PÖ, dass der Umgang mit der Umwelt und folglich sämtlicher Umweltwandel politisiert sowie Ausdruck und Folge von Machtverhältnissen und politischen Konflikten ist. Denn die massiven und sich weiter intensivierenden Prozesse von Umweltzerstörung, Bodendegradation oder Biodiversitätsverlust der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart sind nicht Folgen natürlicher Prozesse, die ‚einfach so passieren‘. Vielmehr hängen diese Prozesse eng mit menschlichen Handlungen zusammen, denen stets Entscheidungen vorausgehen. In ihrem Handeln können Menschen in der Regel zwischen verschiedenen Optionen wählen. Sobald sie eine Naturressource nutzen, einen Baum pflanzen oder Wasser zur Bewässerung aus einem Fluss abzweigen, gehen diesen Handlungen Entscheidungen voraus, die auf tradiertem oder gelerntem Wissen, Kenntnissen und Fähigkeiten sowie unter Berücksichtigung – oder Missachtung – bestehender Regelungen und Gesetze vor dem Hintergrund konkreter Intentionen erfolgen. Sobald mehrere Menschen eine Ressource in Anspruch nehmen, müssen sie dies verhandeln, was in den meisten Fällen stillschweigend geschieht, aber niemals ‚natürlich‘ oder ‚selbstverständlich‘ ist; denn es bestehen normalerweise verschiedene Handlungsoptionen. Daraus schließen die Vertreter der PÖ, dass jeglicher Umgang mit der Umwelt, sei es die Entnahme von Ressourcen, die Versiegelung von Flächen durch Bau-

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aktivitäten oder der bewusste Schutz von Biotopen immer intentional und interessengeleitet erfolgt. Und selbst unerwünschte Folgen, wie die Verschmutzung von Gewässern oder die Schadstoffbelastung der Luft, lassen sich auf Handlungen zurückführen, die einem bestimmten Ziel und Zweck dienten. Welche Interessen oder auch Nöte und Notwendigkeiten im Vordergrund stehen, die zur Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption führen, hängt wiederum stark von ökologischen, politischen und sozialen Kontexten ab, die sich im Zeitverlauf verändern. Eine zentrale Überlegung der PÖ besteht darin, das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen von Prozessen auf verschiedenen räumlichen Ebenen zu betrachten. So zeigt bereits Blaikie (1985) auf, inwieweit Bodenerosionsprozesse im Globalen Süden eine Folge von lokaler Bodenbearbeitung, traditionellen Erbrechten, nationaler Agrarpolitik und internationalen Handelsabkommen ist. Im Fokus der PÖ stehen deshalb Handelnde und Strukturen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene sowie die entsprechenden sozialen Organisationsformen wie Haushalt, Klan, Dorf oder Nationalstaat. Angetreten als neomarxistische Kritik (Watts 1983) an der apolitischen Ökologie und der Modernisierungstheorie erfuhr und erfährt die PÖ vielfältige Modifikationen, indem sie im Laufe der Zeit verschiedenste theoretische Ansätze und aktuelle Herausforderungen aufgegriffen hat. Während zu Beginn insbesondere akteursorientierte Perspektiven dominierten (Blaikie, Brookfield 1987), gewannen in den 1990er und 2000er Jahren post-strukturalistische Ansätze (Peet, Watts 1996; Adger et al. 2001; Escobar 2008; Fletcher 2010) zunehmend an Bedeutung. Hinzu kamen Einflüsse der Gender Studies (Rocheleau et al. 1996) oder der Science and Technology Studies (Gesing et al. 2019; Goldman et al. 2011). Anfangs standen das Management von erneuerbaren natürlichen Ressourcen wie Böden, Wälder oder Wasser im Globalen Süden sowie die damit verbundenen Prozesse und Folgen im Fokus vieler politisch-ökologischer Studien (Bryant, Bailey 1997). Die ungleiche Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen, im Sinne einer „accumulation by dispossession“ (Harvey 2004), ist ein vielfach behandeltes Thema, etwa der Konflikt zwischen (externen) Investoren, die auf der Suche nach Rendite Land oder Bergbaulizenzen erwerben und Rohstoffe ausbeuten, was oftmals mit Einschränkungen der Zugänglichkeit zu Land oder anderen natürlichen Ressourcen für die angestammte Bevölkerung einhergeht, deren Lebenssicherung gefährdet und zu größerer Ungleichheit führt. Ergänzt wurden solcherart Forschungen durch Studien in urbanen Räumen (Heynen 2014; Swyngedouw, Heynen 2003) und zu Umweltfragen im Globalen Norden (McCarthy 2002; Schroeder et al. 2006), zu Umweltbewegungen (Peet, Watts 1996) sowie zu Naturschutzkonflikten (Benjaminsen, Bryceson 2012; Fletcher 2010).

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Die PÖ vertritt eine explizit kritische Perspektive. Das manifestiert sich unter anderem darin, dass sie die Umweltwissenschaften allgemein (Neimark et al. 2019) und dabei Konzepte wie ‚Naturschutz‘ (Adams, Mulligan 2003), ‚Entwicklung‘ (Wainwright 2008) oder ‚Food Justice‘ (Bradley, Herrera 2016) dekonstruiert und dekolonisiert. Dabei wird gleichzeitig der Vorwurf laut, die PÖ müsse selbst dekolonisiert werden (Schulz 2017). Zudem verfolgt die Politische Ökologie einen normativen Ansatz mit sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechten und Nachhaltigkeit als zentralen Werten (Robbins 2019) und strukturellem politischen Wandel als Ziel unter besonderer Berücksichtigung der Interessen und Nöte marginalisierter Bevölkerungsgruppen (Perreault et al. 2015). In methodischer Hinsicht sind politisch-ökologische Studien oftmals empirisch angelegt unter Anwendung sowohl quantitativer als auch qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung, wobei eine Präferenz für Fallstudien und qualitative Ansätze besteht. Zusammenfassend zeichnet sich die Politische Ökologie durch einen theoretischen Bezug zur Kritischen Gesellschaftstheorie und ein post-positivistisches Verständnis von Natur und Wissensproduktion aus. Zentral beschäftigt sie sich mit der Frage, wie sich Macht sowohl in diskursiven als auch in materiellen Umweltkonflikten manifestiert. Bei einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Umweltfragen ist es deshalb naheliegend, dass Erkenntnisse und Perspektiven der Politischen Ökologie die Environmental Humanities bereichern, wie im Folgenden näher ausgeführt wird.

Beiträge der Politischen Ökologie zu den Environmental Humanities Die Environmental Humanities (EH) sind ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das kulturelle, historische, gesellschaftliche und naturwissenschaftliche Dimensionen ökologischen Denkens zusammenbringt (DeLoughrey et al. 2015). Auf Basis von Konzepten, Theorien und Methoden aus den Geistes- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich die EH mit grundlegenden Fragen nach Sinn, Wert, Verantwortung und Zweck im Zusammenhang mit Umwelt und Umweltkrisen in einer Zeit sich beschleunigenden Wandels (Rose et al. 2012). Dabei verstehen Rose et al. (2012:2) die EH auch als Antwort auf „die Notwendigkeit einer stärker integrierten und konzeptionell sensiblen Herangehensweise an Umweltfragen“, mit dem Bemühen, die Umweltforschung mit einem umfangreicheren begrifflichen Vokabular anzureichern. Mit diesem Ansinnen wollen die EH auch die Trennung zwischen den Disziplinen, die sich entweder mit ‚Natur‘ oder mit ‚Kultur‘ befassen, überbrücken und Ansätze und Lösungen entwickeln, die jenseits eines solch dichotomen Verständnisses von Gesellschaft und Umwelt liegen (O’Gorman et al. 2019). In

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diesem Sinne sehen auch Neimanis et al. (2015:70) die EH als einen „Begriff für eine Reihe von vielschichtigen wissenschaftlichen Ansätzen, die Umweltprobleme als untrennbar mit sozialen, kulturellen und menschlichen Faktoren verbunden verstehen“. Übereinstimmend wird auch als ein Ziel der EH gesehen, die Geistes-, Sozialund Naturwissenschaften in Dialog zu setzen, um mit verschiedenen Perspektiven und Ansätzen transdisziplinär und kreativ auf die Herausforderungen durch die Umweltkrise zu reagieren (Bath Spa University 2020; Schmidt et al. 2020). Gleichzeitig verfolgen die EH damit einen normativen Anspruch, einen menschlichen und verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt voranzubringen, um eine bewohnbare Umwelt zu erhalten. Angesichts dieser formulierten Offenheit und weitgefassten Ansprüche ist es naheliegend, auch die Politische Ökologie als einen Teilbereich der Environmental Humanities zu akzeptieren. Was aber kann die PÖ zu den EH beitragen? Hierzu sollen im Folgenden einige konzeptionelle Perspektiven und Schwerpunkte sowie methodische Ansätze genannt werden, die besonders markant, keineswegs jedoch exklusive Kennzeichen der Politischen Ökologie sind.

Macht Eine der fundamentalen Prämissen der PÖ besteht in der Feststellung, dass Eingriffe in den Naturhaushalt, Transformationen der Erdoberfläche oder Umweltdegradationen eng mit Fragen der Macht verbunden sind. Ob ein Waldgebiet durch staatliche Gesetze geschützt oder zur Abholzung freigegeben wird, basiert auf einer Entscheidung, die beispielsweise entweder Gesichtspunkten des Naturschutzes oder ökonomischen Interessen stärkeres Gewicht einräumt. Dies erfolgt in der Regel durch zuständige Entscheidungsträger, deren Perspektive gespeist ist aus Informationen und Kenntnissen, aber auch auf Basis von interessengeleiteter Einflussnahme oder der Debatte verschiedener Akteure. Meist setzt sich jene Sichtweise oder Gruppe durch, die am überzeugendsten auftritt oder die größere Macht innehat. Vielfach ergeben sich Machthierarchien bereits durch die mit unterschiedlichen Befugnissen und Reichweiten ausgestatteten Akteure: Eine gesetzgebende bundesbehördliche Instanz verfügt entsprechend über mehr Machtpotential als eine Dorfbewohnerin am Mount Cameroon, die im kommunalen Waldgebiet auf Basis oral tradierter Nutzungsrechte Früchte und Brennholz für ihren Lebensunterhalt sammelt (Ntoko 2020), denn staatliche Verbote, etwa zur Durchsetzung des Nationalparkgedankens, können ihren Aktivitäten schnell ein Ende bereiten. Die Analyse und das Aufzeigen von Machtpotentialen, von struktureller Handlungsmacht sowie materieller oder diskursiver Macht durch eine politisch-

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ökologische Analyse (Svarstad, Benjaminsen 2020) kann somit wesentlich dazu beitragen, konfligierende Sichtweisen auf Fragen des Umweltmanagements oder der Umweltinterpretation in den EH besser zu verstehen.

Akteursorientierung und Interessen Von Anbeginn an und auch heute immer noch für zahlreiche politisch-ökologische Studien konstituierend ist die Fokussierung auf Akteure und deren Interessen. Hierbei kann zwischen Einzelakteuren, Akteurskollektiven und Interessengruppen unterschieden werden, wobei sich letztere durch das Ausmaß ihres Organisierungsgrades unterscheiden (Schmidt 2013). Von zentraler Bedeutung ist die Frage, welche Akteure welche Interessen verfolgen sowie welche Handlungsspielräume und Durchsetzungsstrategien ihnen bei der Verfolgung ihrer Interessen zur Verfügung stehen. Beim Ausbau erneuerbarer Energien stoßen beispielsweise unterschiedlichste Akteursgruppen und Interessen aufeinander (Bosch, Schmidt 2020). Während die nationale Klimapolitik den Ausbau von Windrädern fördert, Produzenten von Windenergietechnik und Eigentümer geeigneter Flächen vom Ausbau ökonomisch profitieren und lokale Kommunen durch erhöhtes Steueraufkommen finanzielle Vorteile erwarten, sorgen sich betroffene Anwohner um die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes und Naturschützer um die Zerstörung von Naturräumen oder den Tod durch Vogelschlag. Auch die Einstellung gegenüber Windkraft und der zugehörige Diskurs zeigen deutliche räumliche und gesellschaftliche Unterschiede, was sich etwa in dem bekannten Nimby-Phänomen (Not-In-My-Backyard) äußert. Die PÖ verfolgt hier bewusst politisierende Fragestellungen, etwa in wessen Interesse Eingriffe in die Natur akzeptiert oder verboten, welches Wissen herangezogen und reproduziert sowie welche sozialen und ökologischen Folgen toleriert werden und wer davon profitiert. Rechtliche Ordnungsrahmen, gesellschaftliche Strukturen oder externe Interventionen fördern, eröffnen oder limitieren den Handlungsspielraum der Akteure unterschiedlich, so dass die einzelnen Akteure sehr ungleich mit Handlungsmacht ausgestattet sind. Neben der Analyse von Machtpotentialen und deren strukturellen Gründen steht auch die Analyse von Akteuren mit sich überschneidenden Interessen und Affinitäten im Fokus der PÖ.

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Räumliche Dimensionen Ein besonderes Merkmal politisch-ökologischer Analysen ist die Berücksichtigung von Strukturen und Akteuren unterschiedlicher räumlicher Maßstabsebenen und deren Interaktionen. Das Ziel besteht darin, Wechselwirkungen zu analysieren und im Sinne von Chains of Explanation (Blaikie, Brookfield 1987) offenzulegen. Angesichts der Schwierigkeit, räumliche Ebenen zu definieren und voneinander abzugrenzen, und der mit einer solchen Ebenen-Konfiguration verbundenen Gefahr, in sozio-räumlichen Containern zu denken, sowie der damit impliziten Hierarchisierung von Ebenen, aber auch der Linearität, die mit der Vorstellung einer Kette einhergeht, wird in jüngeren Arbeiten der PÖ weniger von Erklärungsketten, sondern eher von Web of Relations (Robbins 2019; Rocheleau 2008) gesprochen, was als wertneutral gilt sowie der Mehrdimensionalität und Reziprozität von Wechselbeziehungen Rechnung trägt. Das Handeln in und mit der Umwelt, die Nutzung von Wasser oder die Beweidung eines Areals mit Nutztieren geschieht innerhalb von Strukturen und Rahmenbedingungen, die jenseits der lokalen Ebene existieren und trotzdem für diese konstituierend sein können. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Beweidung einer Alm im Alpenraum führt auf unmittelbarer lokaler Ebene zu Einflüssen auf die dort vorzufindende Fauna und Flora sowie die Böden. Die Dauer der Beweidung und die Anzahl der Weidetiere üben einen unterschiedlich intensiven Druck auf diese Weideökosysteme aus. Sie sind jedoch abhängig von Entscheidungen der Agrarbetriebe bzw. der Vieh züchtenden Akteure – Blaikie (1985) spricht von Land Managern –, die wiederum politische Rahmenbedingungen, Naturschutzgesetze und ökonomische Kalkulationen berücksichtigen. Gesetze und Richtlinien zu Agrarwirtschaft und Naturschutz werden jedoch auf anderen Ebenen, etwa von den Bundesländern oder vom Bundestag beschlossen und in Kraft gesetzt. Die Subventionierung landwirtschaftlicher Betriebe wiederum hängt maßgeblich von Entscheidungen ab, die in Brüssel im Rahmen der Europäischen Union getroffen werden. In welcher Form die durch die Beweidung des Viehs gewonnenen Produkte wie Fleisch, Milch oder Häute vermarktet werden dürfen, hängt ebenfalls von Bundes- und EU-Gesetzen ab, während ihre Konkurrenzfähigkeit heute kaum mehr unabhängig von globalen Märkten zu bewerten ist. Somit ist die lokale Beweidung auf einer Alm mit Strukturen, Akteuren und Prozessen nicht-lokaler Ebenen eng verknüpft. Für das Verständnis von Umweltdegradation, die Bewertung von Umwelthandeln nach seiner Sinnhaftigkeit oder die Evaluierung von Verantwortlichkeiten, was unter anderem in den EH diskutiert wird, erscheint somit die Berücksichtigung dieser Interdependenzen von nicht unerheblichem Nutzen zu sein.

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Ungleiche Verwundbarkeiten Die anthropogen verursachten Umweltänderungen sind weder die Folge des Wirkens aller Menschen gleichermaßen noch betreffen sie sämtliche Gesellschaften regional, zeitlich und innergesellschaftlich in gleichem Ausmaß. Die PÖ untersucht explizit die Ursachen und die Verursacher von Umweltdegradation und nimmt die besonders Betroffenen, die verwundbaren und marginalisierten Gruppen, in den Blick. Das Konzept des Anthropozän betont zurecht die Wirkmächtigkeit menschlichen Agierens, die geologische Kraft anthropogener Einflussnahme und Transformationen des Ökosystems Erde. Kritisiert am Anthropozän-Konzept wird jedoch die Subsumierung und Nivellierung des menschlichen Faktors auf ‚die Menschheit‘ oder ‚die Gesellschaft‘. Denn vielmehr sind es bestimmte Gruppen und Gesellschaften, die besonders gravierend zur Great Acceleration, dem enormen Anstieg von Ressourcenverbrauch und Schadstoffbelastung seit den 1950er Jahren, beigetragen haben. Vornehmlich die europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften sind verantwortlich für den Ausstoß von Treibhausgasen, für die Ausbeutung von Ressourcen und die Transformierung der Erdoberfläche, insbesondere unter Einbezug der historischen Dimension. In Europa begann die Industrialisierung bereits vor über 200 Jahren, während sie erst viel später in anderen Weltregionen und dort zumeist weniger ausgeprägt einsetzte. Im Zuge von Kolonialismus und Imperialismus trugen die europäischen Mächte und ihre Bevölkerungen ihren Hunger nach Rohstoffen in die gesamte Welt und profitierten von den dort gewonnenen Rohstoffen und der Ausbeutung der lokalen Bevölkerungen. Auch heute noch ist der ökologische Fußabdruck zwischen Menschen wohlhabender Schichten – die oftmals, aber nicht ausschließlich mit den Gesellschaften des Globalen Nordens korrelieren – signifikant größer als jener der weniger wohlhabenden Menschen, insbesondere im Globalen Süden. Die PÖ fokussiert insbesondere diese Ungleichheiten. Besonders relevant erscheint ihr hierbei der normative Anspruch, den Übersehenen, den Überhörten und Marginalisierten Gehör zu verschaffen und deren Nöte und Bedürfnisse zu berücksichtigen und zu artikulieren. Dies steht unzweifelhaft auch in Konkordanz mit den Ansprüchen der EH, die mit Blick auf die Formen des Umgangs mit Umweltveränderungen auch Fragen von Gerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung fokussiert (O’Gorman et al. 2019).

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Kritik an Naturschutznarrativen und Entwicklungsdiskursen Mit ihrem explizit kritischen Ansatz tritt die Politische Ökologie gelegentlich als ‚Spielverderber‘ auf. Sie kritisiert Entwicklungs- oder Naturschutzvorhaben massiv, die doch eigentlich Gutes bewirken sollen, indem sie dem Wohl von Natur und Menschheit oder der positiven Entwicklung bestimmter Bevölkerungsgruppen dienen sollen. Das liegt an dem nicht selten konfliktreichen Verhältnis zwischen diesen Interessensfeldern. Gleichzeitig sind die Zerstörung der Natur und die ökonomische und gesellschaftliche Ungleichheit Kernanliegen der PÖ. Dennoch übt sie oftmals scharfe Kritik an der Entwicklungspolitik (Escobar 1995) oder an Naturschutzbemühungen (Fletcher 2010). Gerade Naturschutzvorhaben im Globalen Süden werden häufiger als Green Grabbing tituliert und kritisiert, wenn zum Wohle der Natur und letztendlich des globalen Umweltschutzes die Interessen lokaler Bevölkerungen ignoriert werden (Fairhead et al. 2012). Beispielsweise fungieren umfangreiche Landakquisitionen in Chile durch nordamerikanische Investoren und die Unterschutzstellung immenser Territorien als Maßnahmen zum Schutz der Natur, schränken aber gleichzeitig die Rechte lokaler Anwohner massiv ein und lassen deren Bedürfnisse weitgehend unberücksichtigt (Holmes 2014; Hora 2018). An solchen Vorhaben und Aktivitäten artikuliert die PÖ explizit Kritik, indem sie die Interessen und Bedürfnisse der jeweiligen Akteursgruppen analysiert und die konfligierenden Positionen aufzeigt sowie Kompromisslösungen auslotet. Kritik von Seiten der PÖ wird auch an oftmals romantisierenden Gleichgewichtsvorstellungen von Natur geübt, in deren Verständnis der Mensch als Störfaktor auftritt und das harmonische Gleichgewicht der Natur störe. Solcherart Vorstellungen lassen zwei Aspekte unberücksichtigt: Zum einen ist vom Menschen unberührte Wildnis weltweit nur noch an wenige Orten zu finden oder spätestens mit dem anthropogen induzierten Klimawandel nur noch eine heute unzutreffende Idealvorstellung. Zum anderen bleiben dabei die schöpferischen Akte der Menschen vielfach unberücksichtigt. Denn die hohe Artenvielfalt bestimmter Ökosysteme, etwa in Weideökosystemen, ist oftmals auch die Folge menschlichen Agierens. Kritik übt die PÖ zudem ganz grundsätzlich an der Entwicklungspolitik (Escobar 1995) sowie an konkreten Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, womit sie einerseits die Kritik der Post-Development-Debatte vorweggenommen hat und andererseits deren Fundamentalkritik aufmerksam verfolgt und in die eigenen Arbeiten rückspiegelt (Hornborg 2019; Sidaway 2007). Mit einer solchen fundamentalen Kritik am Entwicklungsparadigma zeigt sich das Dilemma, in dem sich die gegenwärtige Entwicklungszusammenarbeit befindet, die jegliches Agieren im Nord-Süd-Kontext als hochproblematisch erscheinen lässt.

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Empirische Fallstudien Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sind verschiedenste konzeptionelle und theoretische Auseinandersetzungen und (Selbst)Reflexionen zur Politischen Ökologie erschienen (vgl. Bryant 2015; Perreault et al. 2015). Das Gros der politisch-ökologischen Studien basiert jedoch auf empirischen Arbeiten. Regionale Fallbeispiele werden mit Hilfe von empirischer Sozialforschung behandelt, meist unter Anwendung qualitativer Erhebungsinstrumente wie leitfadenzentrierte Interviews, biographische und narrative Interviews sowie teilnehmende und nicht-teilnehmende Beobachtungen. Obgleich die PÖ die Vernetzung verschiedener räumlicher Ebenen explizit hervorhebt, beginnen die meisten empirischen politisch-ökologischen Studien auf der lokalen Ebene, von wo aus die Chains of Explanation bzw. das Web of Relations aufgespannt werden. Insbesondere Geographinnen und Geographen verorten ihre Studien an konkreten Räumen und untersuchen spezifische, meist lokal oder regional zu verortende Umweltkonflikte (Benz, Völkening 2019). In den diskursiven, aber auch politischen Auseinandersetzungen mit der Umweltkrise sind gerade in Zeiten stellenweise aufgeheizter postfaktischer Debatten (Neimark et al. 2019) empirische Belege von unschätzbarem Wert.

Fazit Gegenwärtige Umweltprobleme lassen sich innerhalb von Disziplingrenzen weder beschreiben noch lösen. Sie erfordern sowohl das Überschreiten von Disziplingrenzen als auch eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit (Schmidt et al. 2020). Sowohl der Ansatz der Politischen Ökologie als auch das Forschungsfeld der Environmental Humanities halten sich nicht an etablierte Disziplingrenzen und adressieren eine große Vielfalt umweltbezogener Forschungsfragen sowie sozioökologischer Herausforderungen. In ihren konzeptionellen Ansätzen, theoretischen Bezügen, vielfältigen Fragestellungen, angewandten Methoden sowie in ihren Zielen und Ansprüchen weisen die PÖ und EH durchaus zahlreiche Überschneidungen auf. Eindeutige Abgrenzungen der beiden Forschungsfelder erscheinen hierbei weder möglich noch notwendig. Allerdings bringen die Vielfalt und Offenheit der PÖ und EH die Gefahr einer Fuzziness mit sich, einer Unschärfe, die sämtliche Problem- und Fragestellungen im Feld von Umweltkrise und Mensch-Umwelt-Beziehungen inkorporiert und unter ihren Bannern subsummiert. Hier sind möglicherweise weitere Nachjustierungen und Klärungen notwendig. Die in diesem Aufsatz dargelegte Erläuterung einiger besonderer Merkmale der Politischen Ökologie, die keineswegs auf die PÖ beschränkt sind, leistet hierzu einen Beitrag und

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möchte bei der Etablierung der Environmental Humanities als Bereicherung verstanden werden.

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IV. Diskurse der Nachhaltigkeit

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Die Kunst der Nachhaltigkeit: Agnes Denes’ „Wheatfield – A Confrontation“

Weizen in Manhattan: Zwischen Land-Wirtschaft und AgriCulture Weizen ist seit seinen Ursprüngen im fruchtbaren Halbmond ein Sinnbild für Gerechtigkeit und Wohlstand. Gleichzeitig bestimmte er ganze Gesellschaftsentwürfe: Die berühmte Vase von Warka (3000 v. Chr.) zeigt durch die hierarchische Anordnung von Wasser, Getreide, Nutztieren, Bauern und Priestern ein Gemeinwesen, das „um die Organisation des Ackerbaus herum entstanden ist: der Staat mit Priester- und Beamtenkaste, mit Militär, Handwerkern, Kaufleuten, und vor allem den Bauern, die das Getreide anbauen, von dem alle leben“ (Seifert 2008:12). Auf einem von Europas bekanntesten Weizengemälden, Breughels d. Ä. „Kornernte“ (1565) ordnen Weizenfelder die Landschaft zu einer pastoralen Ernteszene, in der niemand reich ist, aber alle ihre Rolle in einem funktionierenden Ganzen einnehmen. Sowohl der Kommunismus als auch der Nationalsozialismus feierte die Bauern als Rückgrat der Gesellschaft. Anton Zischka (1938:5–7), ein während des Nationalsozialismus sehr bekannter Sachbuchautor, sah in der Landwirtschaft „eine organische Einheit aus Mensch und Erde“ (Zischka 1938:5) und warb für eine „große[…] Synthese zwischen Stadt und Land“ (Zischka 1938:7), in der moderne, der neuesten Technik positiv gegenüberstehende Bauern einen zentralen Platz einnehmen. Zischkas (1938:61–84) „neuer, deutscher Bauer“ ist ein dem Boden- und Tierschutz verpflichteter AntiStädter und definiert sich in Abgrenzung zu den „Hunderttausenden“, die in den USA „zu Sklaven von Spekulanten und Ausbeutern“ geworden seien, und die nun ihrerseits den Boden rücksichtslos ausbeuteten, als gäbe es kein Morgen. Obwohl Zischka Frank Norris, den Verfasser der beiden bekanntesten amerikanischen „Weizenromane“, The Octopus (1901) und The Pit (1903) nicht nennt, vertritt er ganz ähnliche Positionen. Auch Norris idealisiert die Figur des modernen, boden- und gemeinschaftsverbundenen Farmers, der von jüdischen Spekulanten aus dem „natürlichen“, die Volksgemeinschaft erhaltenden Kreislauf herausgerissen wird. Auf ganz andere Weise als Zischka scheint auch Peter Kriegs preisgekrönter Dokumentarfilm Septemberweizen (1980), der die sozialen Fol-

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gen des Weizentermingeschäfts inszeniert, von Norris beeinflusst. Im Gegensatz zu Zischka (1939:60), der die Ideologie von „Blut und Boden“ zum Ausgangspunkt für die Schaffung von „Lebensraum“ im Osten und die Beendigung der „russischen Agrarkatastrophe“ erklärt, oder zu Kriegs Anklage an den von Welternährungsfragen abgekoppelten Weizenhandel, delegiert Norris das Expansionsstreben des Weizens jedoch an das Getreide selber. In Anlehnung an den Vitalismus des späten 19. Jahrhunderts und im Einklang mit dem deterministischen Weltbild des Naturalismus drängt das goldene Korn in The Octopus als monströs-gefühllose Welle in Richtung Asien. Diese alles verändernde Energie des Weizens ist eine kulturelle Konstante: Bereits Bibel und Abendmahl sprechen dem Weizen transformierende Kräfte zu. Das ist auch in der Produktwerbung angekommen: Die US-Firma Wonder Bread verbindet seit den 1920er Jahren die chemischen Besonderheiten des Weizens (genauer: die enorme Vergrößerung des Teigvolumens durch Beigabe von Hefe und Wasser) mit dem Versprechen starker, gesunder Körper (Thomas 2018). Diese kulturellen Schlaglichter verdeutlichen sowohl einige der wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Dimensionen des industriell hergestellten Weizens als auch die enorme mythische Aufladung dieses Getreides. Als die Künstlerin Agnes Denes 1982 auf 1,5 Morgen Land in Lower Manhattan Weizen pflanzte, tat sie dies im Wissen um diese kulturelle Vorgeschichte. „Wheatfield – A Confrontation“ ist eine Intervention in eingeschliffene Sichtweisen auf den Weizen als monetarisiertes Zeichen (Seifert 2008:18–24), aber auch in etablierte Vorstellungen, die „country from city, improved land from wilderness, and human activity from natural processes“ separieren – eine Raumaufteilung mit weitreichenden Folgen für die Wahrnehmung der Landbevölkerung als „aus der Zeit gefallen“ und umweltpolitisch unterinformiert (DuPuis, Vandergeest 1996:1–2). Denes unterbricht diese Klischees, indem sie für ihren Acker jene städtische Müllhalde auswählte, die beim Bau des World Trade Center entstanden war. Die Schicht aus „rubble, dirt, rusty pipes, automobile tires, old clothing and other garbage“ (Denes 1987:85) wurde mit einer dünnen Lage Mutterboden versehen, um die für das Vorhaben minimal notwendige Bodenqualität zu erzielen. Es handelte sich dezidiert um eine Zwischennutzung, die bald einem „billion-dollar luxury complex“ (Denes 1987:86) Platz machen sollte. In seiner unmittelbaren Nähe zur Wall Street und dem World Trade Center wirkte „Wheatfield“ wie ein Fremdkörper: Der Blick auf die Freiheitsstatue, die auf Fotos direkt aus dem Weizen herauszusteigen scheint, thematisiert ein Versprechen, das mit dem entkoppelten Profitstreben, das durch die gesichtslosen Fassaden an der Wall Street versinnbildlicht wird, wenig gemein hat. Allerdings geht es der mittlerweile 90-jährigen Künstlerin um weit mehr als um Symbolik: In einem der Interviews, die das Interesse an ihren Arbeiten belegen, erklärt Denes den Pflanzvorgang als

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gemeinschaftlichen, bewusst entschleunigten Prozess: „The planting consisted of digging 285 furrows by hand, clearing off rocks and garbage, then placing the seed by hand and covering the furrows. Each furrow took two to three hours“ (Denes 1987). Die von Freiwilligen eingefahrene Ernte wurde im Rahmen einer International Art Show for the End of World Hunger in 28 Ländern an die Besucherinnen und Besucher verteilt, verbunden mit der Bitte, ihn in der Nähe des eigenen Wohnorts auszusäen. Dieser Fokus auf Pflanzen als global mobile „Sinnbilder der Kontinuität“ (Stobbe 2019:254) hat „Wheatfield – A Confrontation“ zu einem bekannten Beispiel der Eco-Art gemacht. Aber ist dieses Weizenfeld damit auch ein Beispiel für kulturelle Nachhaltigkeit? Inwiefern trägt das Projekt zur Lösungsfindung an der Schnittstelle zwischen Welternährung und Erhalt der natürlichen Umwelt bei? Um das beantworten zu können, muss „Wheatfield – A Confrontation“ in seiner Prozesshaftigkeit, im Kontext der angrenzenden Räume und auch in seiner expansiven Dimension in den Blick genommen werden. Genau darum geht es auf den folgenden Seiten. Die kurze Beschreibung von „Wheatfield – A Confrontation“ hat deutlich gemacht, dass hier Nachhaltigkeit als Entwicklung begriffen wird und weit über herkömmliche Vorstellungen von sustainability hinausgeht. Anders als es heute von einer nachhaltigen Landwirtschaft gefordert wird, setzt Denes jedoch nicht auf die Integration von Ertrag, Biodiversität, Bodenschutz und Erholungswert (Kassemeyer 2019:115), sondern auf Irritation, hervorgerufen durch Konfrontationen, die über einfache Gegensätze (Stadt versus Land, Maschine versus Handarbeit, Moderne versus Tradition etc.) hinausweisen. Deutlicher als in vielen jüngeren künstlerischen Auseinandersetzungen ist Nachhaltigkeit hier keine Prämisse, sondern eine Suche inmitten von Widersprüchen und Mehrfachkonflikten, zu denen die Welternährung ebenso gehört wie die Wohnungspolitik und Müllentsorgung. Der vorliegende Beitrag interessiert sich weniger für die (politisch zweifellos sinnvolle) Tendenz zum Manifesthaften, das nicht nur politische, sondern auch geisteswissenschaftliche Nachhaltigkeitsdebatten teilweise prägt, sondern analysiert das Veränderungspotential der Kunst an einem exemplarischen Fall. Damit soll auch die Rolle der Geistes- und Kulturwissenschaften für die Nachhaltigkeitsziele, gerade mit Blick auf fachfremde Leserinnen und Leser, verdeutlicht werden. „Wheatfield“ ist ein künstlerischer Beitrag, der viele der Fragen, die bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele im Raum stehen, vorwegnimmt und Antworten gibt, die jenseits einer linearer Abwägungslogik stehen. Um zu verdeutlichen, welche relevanten Impulse von diesem Kunstprojekt ausgehen, soll zunächst der Begriff der Nachhaltigkeit mit Fokus auf Landwirtschaft und Raumplanung umrissen werden. In einem zweiten Schritt geht es um die Rolle und das Potential des Kulturellen innerhalb der von wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Kategorien dominierten Diskussion zur nachhaltigen

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Entwicklung. Anstatt sich vage auf eine allgemeine Kraft der Kunst zu beziehen, soll am Beispiel von „Wheatfield – A Confrontation“ gezeigt werden, wo und wie sich kulturelle Artefakte in eine primär natur-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Diskussion einmischen und in einem jeweils spezifischen Kontext ihre potentiell transformierende Wirkung entfalten können.

Nachhaltigkeit als kultureller Transformationsprozess Auch wenn der Nachhaltigkeitsgedanke in den 1970er Jahren kein neuer war, nahm damals die Suche nach einem konkreten Entwicklungsmodell, bei dem das menschliche Überleben in Abhängigkeit vom Erhalt des globalen Ökosystems gesetzt wurde, an Fahrt auf. Eine international wichtige Wegmarke stellte 1987 der von der UN initiierte sogenannte „Brundtland Report“ dar, mit dessen Ausarbeitung die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED) seit 1982 (dem Jahr, in dem Agnes Denes ihr Weizenfeld einsäte und erntete) beschäftigt gewesen war. Zentral an diesem Bericht ist die Verpflichtung gegenwärtiger Generationen, ihre eigenen Lebensgrundlagen auch für die folgenden Generationen zu erhalten und dafür Einschränkungen in Kauf zu nehmen (Taylor 2014:xxxi–xli). Um die Bevölkerung für diese Ziele zu gewinnen, fordert der Report die stärkere Miteinbeziehung betroffener Communities bei der Durchsetzung der Nachhaltigkeitsziele. Entgegen verbreiteter Annahmen formuliert er kein Umweltschutzprogramm, sondern eine Leitidee, die dabei helfen soll, verschiedene, für den Menschen lebensnotwendige Belange auf zukunftssichernde Weise miteinander in Einklang zu bringen. Diese Belange sind als die drei Säulen des Brundtland Reports bekannt geworden: Danach gilt es, bei allen Entwicklungsentscheidungen die ökologische, ökonomische und soziale Dimension miteinander zu harmonisieren. Die Dringlichkeit dieses Anliegens ergibt sich vor allem aus demographischen Berechnungen: Die Vereinten Nationen gehen aktuell für das Jahr 2050 von einem Anwachsen auf fast zehn Milliarden Menschen aus, mit sehr unterschiedlichen Folgen für die einzelnen Regionen (Heise 2008:69). Dieser Trend geht einher mit einem erhöhten Konsum (u. a. von Fleisch) und der Abwanderung aus dem ländlichen Raum. Zusammen mit einem hohen Bedarf an nachwachsenden Rohstoffen für die Energiegewinnung haben diese Faktoren die Nachfrage nach Weizen, Mais oder Reis immens steigen lassen. Zusätzlich zu den etwa vierzig Prozent der Erdoberfläche, die momentan landwirtschaftlich genutzt werden, kommen täglich weitere, bislang agrarisch als uninteressant erachtete Anbauareale. Möglich wird das durch die Intensivierung und Spezialisierung der Landwirtschaft mit technischen und chemischen Mitteln und mit immer neuen, auf Extrembedingungen zugeschnittene Züchtungen, auch und

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vor allem beim Weizen. Trotz der von Verfechtern der Gentechnologie angeführten Ertragssteigerung durch neue Sorten (und der davon abgeleiteten geringeren Bedarfsfläche) sind die negativen Folgen für Böden, Wasservorräte, und Artenvielfalt enorm und wirken sich auch auf die Menschen aus, die in Abhängigkeit von Saatgutfirmen, aber auch von Ernährungsweisen geraten, die nicht nur gesundheitlich verheerende Folgen zeitigen. Obwohl heute „die Bedeutung der Biodiversität in einem Agroökosystem für die Produktivität von Kulturpflanzen außer Frage“ steht (Kassemeyer 2019:115), entpuppt sich die Abstimmung zur Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele in der Praxis als extreme Herausforderung: Wie Craig Meisner (2012:412–414) am Beispiel des ländlichen Bangladesch aufzeigt, sind die sozialen Folgeerscheinungen eines Umstiegs auf eine umweltverträgliche Landwirtschaft im Einzelfall nicht zu kompensieren. Meisners Beitrag wurde in Taking Sides abgedruckt, einem Buch, das „Clashing Views in Sustainability“ repräsentiert und zu einer abschließenden Synthese bringt. Wie so häufig enthält dieser Lösungsansatz auch den Ruf nach Bildungsoffensiven, ganz im Sinne der 1992 im Zusammenhang mit der UNKonferenz in Rio de Janeiro entstandenen „Agenda 21“. Seither wurde diese jedoch um einen signifikanten Aspekt erweitert: Angesichts des zähen Ringens um die Einhaltung der Nachhaltigkeitsziele wird seit Ende der 1990er Jahre auf UNESCO-Konferenzen und im nationalen Rahmen der Ruf nach „unkonventionellen“ Ansätzen immer lauter. Parallel dazu entdecken immer mehr Kulturschaffende und Kulturvermittler das lange vernachlässigte Thema Nachhaltigkeit (Rippl 2019:314–329) und fordern im „Tutzinger Manifest“ (2001) eine „strukturelle Einbeziehung der kulturell-ästhetischen Dimension in die Strategien zur Umsetzung Nachhaltiger Entwicklung“. Kultur wird in diesem Aufruf in einem soziologischen / anthropologischen Sinne als „quer liegende Dimension“ theoretisiert; das „Leitbild Nachhaltige Entwicklung“ wird dabei als „kulturelle Herausforderung“ gefasst. In einem zweiten Schritt wird argumentiert, dass „Nachhaltigkeit attraktiv sein und faszinieren soll.“ Elementar wichtig wird die (erstaunlich normativ verwendete) Kategorie „Schönheit“, und die Künstlerinnen und Künstler, welche diese sinnlichen Aspekte vermitteln können, treten in den Vordergrund. Einige Vertreter dieses kulturpolitisch motivierten Vorstoßes leiten von diesen Überlegungen ein erweitertes Vier-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit ab (Hawkes 2001; Kreiner, Trattnigg 2007) und werben für konkrete Projektförderung und Förderung im kulturellen und inter- und transdisziplinären wissenschaftlichen Bereich (Brocchi 2017:9–10). Aus dieser allgemeinen Aufmerksamkeit für die kulturelle Dimension nachhaltiger Entwicklung entstand ein neues Interesse für die Arbeiten der 1931 geborenen Agnes Denes; vor allem „Wheatfield – A Confrontation“ gilt heute als Schlüsselwerk einer Künstlerin, die ihrer Zeit weit voraus war (Cotter 2019; Jacobs 2018).

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Das Versprechen der Kultur Ein Kernelement in der Debatte zur kulturellen Nachhaltigkeit, das von Kulturschaffenden, Kulturverwaltenden und den Geisteswissenschaften gleichermaßen betont wird, ist, dass Menschen kultureller Erfahrungen bedürfen, um sich an neue ökologische, soziale oder emotionale Umweltbedingungen anzupassen. Kunst und Literatur, Theater und Musik sind, so gesehen, ein Trainingsinstrument, das hilft, die menschliche „Empfindsamkeit gegenüber der Umwelt“ zu schulen, um in der Folge ethisch und nachhaltig handeln und gestalten zu können (Brocchi 2017:7–9). Als eine Art Labor für das „gute Leben“ (Brocchi 2017:10) verspricht die Kultur gerade den Veränderungswilligen Unterstützung bei der „mentalen Programmierung“ und emotionalen Verankerung eines nachhaltigen Handelns (Brocchi 2017:5;9) und beschleunigt damit potentiell den „Wandel zu einer nachhaltigen Gesellschaft“ (Rippl 2019:317). An dieser Stelle soll das Potentielle und zeitlich nicht Abschätzbare dieses Adaptionsprozesses hervorgehoben werden. Programmatische Zuweisungen an das Schöpferisch-Kreative erscheinen aus der Sicht einer in Rezeptionsästhetik, Dekonstruktion und psychoanalytischer Literaturtheorie geschulten Geisteswissenschaftlerin allzu funktionalistisch. Auch lassen sich bildende Kunst, Literatur, das Theater usw. nicht auf emotionale Wirkungen reduzieren, sondern sprechen, je nach Ausrichtung des individuellen Werkes, auch die Kognition und den Körper an – und das oft auf unvorhersehbare Weise. In der Tat wird Kunst häufig da am interessantesten, wo sie (anders als die schulische Bildung, mit der sie in Nachhaltigkeitsdebatten meist im selben Atemzug genannt wird) Mehrdeutigkeiten und Ambivalenz produziert und auf ein Publikum trifft, das ganz unterschiedliche Verstehenskontexte einbringt. Wenn das Lösungsversprechen der kulturellen Dimension in einer Sensibilisierung der Menschen und vielleicht sogar in der Umformung unserer Wahrnehmung von Umweltthemen und Nachhaltigkeit besteht, so liegt das eigentliche Potential kultureller Artefakte in der Ermöglichung sinnlicher Erfahrungen, kognitiver Einsichten und normativer Adjustierungen, die geeignet sind, die ritualisierten Diskussionsmuster und Entscheidungsabläufe im Bereich Nachhaltigkeit zu verunsichern, umzuleiten und zu durchbrechen und damit eine Haltung zu fördern, die einem grundsätzlichen Umdenken vorgelagert ist, indem sie Ambivalenzen überhaupt aushaltbar macht und ein Denken in Alternativen erst in Gang bringt. Die vorherrschende Logik der Abwägung, die die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele kennzeichnet, wird gerade vor dem Hintergrund der komplexen narrativen Verfahren, mittels derer die Literatur die Vielschichtigkeit und Dynamik menschlichen Fühlens und Handelns abzubilden vermag, der menschlichen Realität nicht gerecht. Das dialektische Vorgehen in nachhaltigkeitsbezogenen Entscheidungsprozessen beruht auf einem relativ statischen Menschen-

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bild, in dem ein grundsätzliches Umdenken kaum vorstellbar ist. Das bedeutet nicht, dass die in Robert W. Taylors (2014) Clashing Views of Sustainability gegenübergestellten Möglichkeiten und Grenzen einer nachhaltigen Landwirtschaft oder Kompromisse im konkreten Einzelfall falsch wären (International Fund for Agricultural Development 2012:399–411; Meisner 2007:412–414). Was hier jedoch fehlt, ist eine Vision, die die Vorläufigkeit und potentielle Korrektur des Einzelfalls an zentraler Stelle mittransportiert. Zudem fällt auf, wie begrenzt das Vertrauen in das Veränderungspotential der beteiligten Player sowohl in als auch jenseits der Anbaugebiete ist (Taylor 2014:415–416). Zwar werden Partizipation und Bildungsprogramme als explizite Voraussetzungen für notwendige landwirtschaftliche Reformen mit Nachdruck eingefordert; der Möglichkeit, dass sich (tradierte) Haltungen unter dem Eindruck inspirierender kultureller Eindrücke und Initiativen zumindest auf längere Sicht ändern können, wird jedoch kaum Aufmerksamkeit eingeräumt. Das liegt an der auf unmittelbare praktische Handlungsweisen zielenden Fragestellung, aber auch an der fehlenden Linearität und Messbarkeit emotionaler Beweggründe: Änderungen von Einstellungen und Werten erfolgen häufig graduell und langsam (Weik von Mossner 2017). Hinzu kommt die weit verbreitete Einordnung des kulturellen Sektors als Instrument der Unterhaltung, Illustration oder (im schlechtesten Falle) Manipulation. Es ist ausgesprochen schwierig, einem Kunstwerk konkrete Auswirkungen nachzuweisen. Dass Romane und Gemälde, Fotografien und Filme, Theaterstücke und Land Art vorhandene Stimmungen beflügeln oder latente Konflikte in öffentliche Diskussionen verwandeln können, ist jedoch eine Grundeinsicht literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Ebenso klar ist, dass die Bedeutung eines kulturellen Artefaktes sich über die Zeit hinweg ändert – wer heute Shakespeare inszeniert, legt den Fokus auf andere Themen als man es vor hundert Jahren tat. Beides gilt es zu bedenken, wenn wir jetzt einen Blick zurück auf Agnes Denes’ „Wheatfield – A Confrontation“ werfen.

Ein Experiment in „Urban Farming“? Fast vierzig Jahre nach „Wheatfield – A Confrontation“ gilt Agnes Denes als Pionier der Environmental Art (Artishock 2020). 2018 erklärt die New York Times die Künstlerin zur „queen of Land Art“ und lässt sie mit ihrer Vision selbst zu Wort kommen: „Creativity and innovation is the answer in a troubled world to swing the pendulum. Be creative. Never stop. Creativity is hope“ (Jacobs 2018). Um zu erklären, warum die Reaktionen auf „Wheatfield“ heute lauter ausfallen als 1982, verweist derselbe Artikel auf gegenwärtige städtebauliche Entwicklungen, Gender, Ageism, einen durchökonomisierten Kunstmarkt und das Verhältnis zwischen Kunst und Theorie:

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Maybe „Wheatfield“ was just too ephemeral; it wasn’t a triumph of heavy equipment over dirt like the best-known earthworks of the day, but a meditation on the tension between the man-made and the natural. It was also an experiment in urban farming that was a solid 30 years ahead of its time. Denes had a lot working against her: She was an artist whose signature work existed for only three months; a woman – and, in her early 50s at the time of „Wheatfield,“ not even a young woman – whose peers in the earthworks movement were defined by their heedless machismo; and a conceptual artist with huge ideas at a time when galleries and museums were more interested in the bright canvases of the Neo-Expressionists. (Jacobs 2018)

Der Hinweis auf „urban farming“ verschiebt den primär ökonomiekritischen Rahmen, der das Verständnis von „Wheatfield – A Confrontation“ in den 1980er Jahren prägte, in Richtung Partizipation, Aneignung und Gestaltung des städtischen Umfelds durch die Bürgerinnen und Bürger. Dabei sollte nicht unterschlagen werden, dass sich bereits Mitte der 1970er Jahre eine kleine, aber durchaus einflussreiche Bewegung gebildet hatte, die eben diese demokratischpartizipative Herangehensweise an das Thema Nachhaltigkeit nahegelegt hatte, allerdings mit Fokus auf Entwicklungsländer (Diefenbacher 2001:68). In Fortsetzung dieses Ansatzes ist die partizipative Vision von „Wheatfield“ kosmopolitisch orientiert und setzt bei den USA als einflussreiche Handelsmacht an. Wie die abschließende Verteilung der Ernte zeigt, geht es dabei jedoch nicht primär um ökonomische Teilhabe, sondern um Kooperation und Austausch. Der im Kontext des globalisierten Saatguthandels orts- und beziehungslos gewordene Weizen wird durch dieses (eher symbolische) Guerilla Gardening zum sprichwörtlichen „Samen“ für eine auf Verteilungsgerechtigkeit aufbauende, international zusammenarbeitende und sowohl untereinander als auch mit ihren Lebensmitteln emotional verbundene, „nachhaltige“ Weltgemeinschaft. Damit positioniert sich „Wheatfield“ ausdrücklich gegen die nationalistische Logik, welche die Kritik am internationalen Weizenhandel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte. Was heute State of the Art in der Nachhaltigkeitsdebatte ist, war 1982 ein definierendes Element in diversen Formen der Aktionskunst (Schilling 1978). Ungewöhnlich war aber bereits damals die Genese landwirtschaftlicher Arbeit zur Kunst. Denes verbindet damit einerseits die Aufforderung, die vermeintlich „ländliche“ Szene auf ihre normativen Grundkonstanten hin zu hinterfragen, andererseits gilt es, sich in einem direkten, körperlichen Sinne einzubringen. Diese performative Kollaboration zwischen Nutzpflanzen und Menschen bildet Arbeitsprozesse nicht einfach ab, sondern wandelt sie in eine öffentliche Frage über die Zukunft der Landwirtschaft um. Damit entspricht „Wheatfield“ jener von Rasheed Araeen (2009) in „Ecoaesthetics: A Manifesto for the Twenty-First Century“ beschriebenen, intervenierenden Kunst, die sich in den Dienst einer nachhaltigen Entwicklung gestellt hat:

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Art must now go beyond the making of mere objects meant for art museums and/or be sold as precious commodities in the art market. Only then can it enter the world of every day life and the collective energy which is struggling not only to improve life itself but to save this planet from total destruction. (Araeen 2009:681)

Um diesen hohen Anspruch genauer ausleuchten zu können, bedarf es einer Präzisierung des Gegenstands der vorliegenden Analyse. Das New Yorker Weizenfeld von 1982 ist ja ein gänzlich anderes als das, von dem wir hier sprechen. Damals lenkte ein sinnlich erfahrbares Feld, das sich durch biochemische Transformationsprozesse und menschliche bzw. technische Interaktion in einem beständigen Wandel befand, den Blick auf ein ganzes Bündel an Zukunftsproblemen und anstehenden Entscheidungen. „Wheatfield – A Confrontation“ stellte nicht nur Fragen zur Rolle der Kunst, sondern auch zur Welternährung und zum Global Market und rückte das Verhältnis zwischen Stadt und Land sowie lokale Themen wie Grundstücksspekulation und Abfallwirtschaft in den Fokus. Das erschließt sich heute nicht mehr so unmittelbar. Fast alles, was wir heute über dieses Projekt sagen können, ist eine Reaktion auf eine damals entstandene Fotoserie, die den Entstehungsprozess von „Wheatfield“ dokumentierte. Es sind die Bilder, die uns in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln begegnen – das frisch angelegte Feld aus der Vogelperspektive, die mithilfe von Ausschnitt und Kameratechnik hervorgehobenen „Konfrontationen“ (mit der Freiheitsstatue, den Bürohäusern der Wall Street, dem World Trade Center) und der von schräg unten fotografierte knallrote Mähdrescher im gelben Weizen (vgl. Abbildung 1). Andere, ebenso wichtige Facetten des Projekts, sind selten oder gar nicht zu besichtigen. Dazu gehört das Düngen und das Verspritzen von Herbiziden, von dem auch in den Begleittexten nur am Rande die Rede ist. Doch auch jenseits dieser Verzerrungen ist der Medienwechsel zunächst problematisch; wie Suzaan Boettger (2016:666) feststellt, ist nämlich die sinnliche Wahrnehmung für ein wirkliches Durchdringen eines visuellen Kunstwerks unerlässlich. Umso bemerkenswerter ist es, dass „Wheatfield – A Confrontation“ fast vierzig Jahre nach dem Original eine neue Wucht entfaltet. Das Medium der Fotografie ist daran nicht unbeteiligt; es pflegt bekanntermaßen ein besonders inniges Verhältnis zur Vergangenheit. Als zwangsläufig nachträgliche Spur vergangener Ereignisse ermöglicht es eine (durch die Gegenwart gefilterte) Rekonstruktion des Gewesenen, aber auch alternative Ideen für eine andere Zukunft. Letzteres trifft auf „Wheatfield“ in besonderem Maße zu, da die Idee eines ganz anderen New York, die das Projekt für einige Monate real werden ließ, im Nachklang von 9/11 aktualisiert und mit neuer Bedeutung aufgeladen wird: A piece that was once about the contrast between the man-made and the natural environment is now more about the vulnerability of everything. The two behemoth

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Abbildung 1: Agnes Denes: Wheatfield – A Confrontation: Battery Park Landfill, Downtown Manhattan – The Harvest, 1982. Quelle: Copyright Agnes Denes, courtesy Leslie Tonkonow Artworks + Projects, New York.

skyscrapers in the background of the photos unexpectedly proved as perishable as the artwork in the foreground. (Jacobs 2018)

Jacobs nutzt also den Blick auf das damals noch hinter dem Weizen aufragende World Trade Center für einen ungewöhnlich elegischen Kommentar auf die Terroranschläge von 2001 und ersetzt dadurch das gewohnt Politische durch eine allgemeinere Sensibilität für die Verletzlichkeit von Welt und Leben. Dieses überzeitliche Narrativ von Flüchtigkeit und Veränderung war sicherlich nicht im Sinne der Künstlerin; legitim ist es allemal. Was jedoch in dieser Nachschau verloren geht, ist die 1982 noch deutlich mitschwingende Erinnerung an die Entstehungsgeschichte des World Trade Center: Gerade den heute älteren New Yorkern waren die massiven Türme lange ein Dorn im Auge. Da umfangreiche Umsiedlungen mit dem Bau der beiden Wolkenkratzer verbunden waren und die Gebäude den Blick aufs Wasser blockierten, waren die Arbeiten daran von massiven Protesten begleitet. Bedenkt man, dass Landschaftsästhetik und soziale Balance zentrale Werte nachhaltiger Entwicklung darstellen, setzte man sich also bereits damals für etwas ein, was ein paar Jahre später im Brundtland Report und seinen Folgedokumenten allgemein und auf globaler Ebene gefordert wurde (Whitman 1967:49; Alexiou 2006:78–79). Damit ist angedeutet, dass sich die Gefühle und Assoziationen, die „Wheatfield“ auf der New Yorker Retrospektive des Gesamtwerks (November 2019 bis

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März 2020) hervorruft, von denen der 1980er Jahre unterscheiden. Gleichzeitig geht es heute wie damals um Aspekte von Nachhaltigkeit. Das gilt auch für die Behauptung von Phoebe Hoban (2019), die zur Eröffnung der Retrospektive schreibt, Denes habe ihr Weizenfeld als „protest against climate change and economic inequality“ angepflanzt. Ersteres ist durch Aussagen der Künstlerin ebenso wenig verbürgt wie die Behauptung, es gehe bei „Wheatfield – A Confrontation“ um eine Gegenüberstellung von „the man-made and the natural environment“ (Jacobs 2018). Diese Interpretationen sagen viel über die aktuellen Erwartungen an eine nachhaltige Kunst und Kultur. „Wheatfield – A Confrontation“ ist jedoch deutlich komplizierter (und aus heutiger Sicht widersprüchlicher) angelegt. So bekennt sich Denes explizit zur industriellen Landwirtschaft: Wie man aus der Vogelperspektive sehr gut erkennt, wächst der Weizen auf einer maschinengerechten, rechteckigen Fläche, wie sie für auf Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzfähigkeit ausgerichtete Monokulturen typisch ist (Kassemeyer 2019:113). Der rote Mähdrescher, der in Denes eigenem Textbeitrag zu The International Art Show for the End of World Hunger gleich zweimal gezeigt wird, verleiht dem Modernitätsgedanken des Projekts zusätzlich Gewicht. Mit seiner monotonen Ästhetik, die durch den Einsatz von Herbiziden und Fungiziden verringerte Biodiversität und die durch Kunstdünger verursachte Belastung der Böden und des Grundwassers erscheint „Wheatfield“ heute fast schon als ein Gegenmodell zu einer ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft. Es fehlen Übergänge zwischen landwirtschaftlicher Fläche und den „angrenzenden Lebensräumen“, wie sie moderne Nachhaltigkeitskonzepte fordern (Kassemeyer 2019:114); im Zusammenhang mit einer auf Konfrontation abzielenden Ästhetik sind sie nicht Teil des Konzepts. Auch der „Erholungswert“, der die „Erhaltung einer intakten Kulturlandschaft“ mitbegründet (Kassemeyer 2019:114–115) ist bei einer Agrarfläche nicht gegeben. Lediglich das Nachhaltigkeitskriterium „Landschaftsästhetik“ ließe sich als „immaterielle Dienstleistung“ dieser ungewöhnlichen räumlichen Konfrontation einordnen (Kassemeyer 2019:115). Trotz dieser teilweise enttäuschenden Ökobilanz ist „Wheatfield – A Confrontation“ ein besonders interessanter Beitrag zu einer Kultur der Nachhaltigkeit. Denn anders als viele künstlerische, literarische und mediale Beiträge zum Thema Pflanzen und Nachhaltigkeit widmet sich Denes nicht dem, was wir gemeinhin als „Natur“ begreifen oder entdeckt wechselseitige Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Lebewesen. Stattdessen setzt sie eine dezidiert menschengemachte botanische Spezies an den Anfang ihres Projekts und illustriert mithilfe des Weizens eine unumstößliche Konstante im Umgang des Menschen mit den Pflanzen – die Ernährung (Stobbe 2019:347–348). Ausgehend von dieser schonungslos-realistischen Grundaussage hinterfragt Denes jedoch die Legitimität des Ernährungsarguments im Kontext der freien Marktwirtschaft. Indem sie die Entkopplung zwischen den beiden Paradigmen sichtbar macht,

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spricht sie eines der großen Probleme an, die bis heute die Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen massiv behindern: Das Problem der Strukturerfassung zeigt sich […] in einem völlig anderen Licht, wenn als Zielvorgabe nicht Anpassung an ein absolut gesetztes Prinzip einer Wirtschaftsordnung – der freie Markt – verstanden wird, sondern die Aufgabe, ökologisch und sozial verträgliches Wirtschaften nachhaltig und unter regional sehr unterschiedlichen Grundvoraussetzungen zu sichern. (Diefenbacher 2001: 239)

In der räumlich-ästhetischen Anordnung von „Wheatfield – A Confrontation“ wird die etablierte, rein auf seine materielle Verwertbarkeit aufbauende Funktion des Weizens durch zusätzliche, nicht-materielle Bedeutungsdimensionen aufgestockt. Indem das Kunstprojekt irritiert, fasziniert und zu alternativem Denken und Handeln anregt, erhält dieses extrem hochgezüchtete Getreide (Weizen besitzt aufgrund seiner über Jahrtausende veränderten DNA äußerst ungewöhnliche genetische Eigenschaften) eine Würde, die aus philosophischer Sicht eigentlich nur Wildpflanzen zuteilwird (Flannery 2017; Head et al. 2012:2). Ganz im Einklang mit der sich in jüngerer Zeit stärker durchsetzenden Einsicht, dass „alle Lebewesen immer in einer wechselseitigen Beziehung zu anderen stehen“, steht der damit verbundene „Eigenwert“ des Weizens also in keinem Widerspruch zum „instrumentellen“ und „relationalen“ Wert“ dieser Pflanze (EKAH 2008:8). Dass dieser „Eigenwert“ auch das Publikum erreicht, zeigt sich z. B. bei Jacobs, die das Manhattan „Wheatfield“ als „a meditation on the tension between the man-made and the natural“ begreift – „natürlich“ ist in dieser Wahrnehmung eine der Kulturpflanzen überhaupt: der Weizen.

Die Zukunft des Weizens „Wheatfield – A Confrontation“ greift die seit Einführung der industriellen Landwirtschaft in den USA und Europa prominent diskutierte ethische Problematik des Weizenanbaus und der Weizenspekulation auf, äußert diese Kritik jedoch auf völlig neue Weise: In Sichtweite der Wall Street wird der Weizen selber zum Ankläger einer durchökonomisierten Landwirtschaft. Wie diese konkret verändert werden kann, und welche ordnungspolitischen Rahmenbedingungen dazu geändert werden müssten, wird durch die Nutzung einer städtischen Brache und der Beteiligung lokaler Bevölkerungen immerhin angedeutet.1 Gerade die jüngeren Reaktionen auf „Wheatfield – A Confrontation“ zeigen, dass dieses Kunstprojekt einiges zu dem nötigen Umdenken beigesteuert hat. Das, was

1 Zu der im Sinne der Nachhaltigkeitsziele notwendigen „deutlichen Verringerung der Handelsströme“ und neuen Exportregeln siehe Diefenbacher 2001:232.

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Denes bereits 1987 als „our misplaced priorities and deteriorating human values“ (Denes 1987:85), bezeichnet hat, steht heute zunehmend im Fokus von Nachhaltigkeitsdebatten Im Kontext des mittlerweile spürbaren Klimawandels ist diese Mahnung, verbunden mit der Warnung vor einem umfassenden Kollaps ökologischer Zusammenhänge (Denes 1987:85), aktueller denn je zuvor. Wie die Autorinnen und Autoren in dem von Allan Carlson und Sheila Lintott (2008) herausgegebenen Band Nature, Aesthetics, and Environmentalism überzeugend darlegen, hat insbesondere der visuelle Eindruck der Umwelt auf den sie betrachtenden Menschen einen enormen Einfluss auf unser Verhalten. Malerei, Fotografie oder Land Art machen die Schönheit eines Gebietes sichtbar und tragen direkt dazu bei, dass ein solches Gebiet als schützenswert erachtet und entsprechend behandelt wird. Das schließt interessanterweise zerstörte Landschaften mit ein. Auch „Wheatfield“ gibt nicht vor, vom Menschen unabhängige Natur zu sein, im Gegenteil: Denes (1978) betont die Ansiedlung des Projekts auf einer Müllhalde und den Einsatz chemischer Herbizide und Düngemittel. Dennoch umgibt „Wheatfield – A Confrontation“ ein Nimbus, der es „um seiner selbst willen“ schützenswert macht und der totalen Instrumentalisierung durch den Markt entreißt. Möglich wird das durch das Mittel des Kontrasts und die Ergänzung traditionell monetär geprägter Weizenvorstellungen durch Bilder und Aktivitäten, die zeigen, was wir durch diese reduzierte Wahrnehmung verlieren, von menschenfreundlichen Städten zu agrarischem Wissen. Der so im engeren Sinne „gesäte“ Zweifel an der Alternativlosigkeit der Landwirtschaftspolitik (aber auch der städtischen Bauplanung) beruht auf der ästhetischen Wahrnehmung eines in anderen Kontexten profan wirkenden Weizenfeldes. Durch den auf der ästhetischen, sozialen und ökologischen Ebene probehalber vollzogenen Bruch zu dem, was ist, macht „Wheatfield“ eine an den lokalen Gegebenheiten orientierte, nachhaltige Alternative zu dem seit Jahrtausenden monetarisierten Weizen vorstellbar. Dass diese Gegebenheiten ökologisch betrachtet äußerst ungünstig sind, fordert von den Betrachtenden die Bereitschaft zum Kompromiss: Die Herbeischaffung von Mutterboden und die Verwendung von Herbiziden lässt einen Prioritätenwechsel zwar ökonomisch unvernünftig erscheinen, geht aber einher mit einem spürbaren Zugewinn auf der sozialen und ökologischen Ebene. Gemeinschaft, Sinnstiftung, ästhetischer Genuss, Verbesserung des Bodens, bessere Luftqualität – das sind nur einige Stichworte, die die Aufwertung des Landes durch das Manhattan „Wheatfield“ belegen. Sich solcher Werte neu zu besinnen und daraus Alternativen zur gegenwärtigen Entwicklung der globalen Landwirtschaft zu entwickeln, ist angesichts der radikalen Abnahme der Nutzpflanzendiversität, tiefer genetischer Eingriffe in das Saatgut und stetig ausgeweiteter Anbaugebiete ein ganz realer Ansatzpunkt. Agnes Denes hat das bereits weitergedacht: 2015 pflanzte sie (mit deutlich mehr

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Freiwilligen als 1982) in Mailand ein 5 Hektar großes zweites Weizenfeld und verzichtete diesmal auf Herbizide und Fungizide, aus Rücksicht auf die umliegenden Wohngebiete. Das Ergebnis – botanische Diversität – ist auch auf Fotos deutlich zu erkennen. Um den Gesamteindruck zu gewährleisten, war Kunstdünger jedoch unerlässlich. Auch dieses Weizenfeld ist also ein Kompromiss. Diesmal jedoch weist die Zwischennutzung den Weg in eine städtebauliche Alternative zum Wohnungsbau im Luxussegment: Heute befindet sich auf dem Gelände die Biblioteca degli Alberi, ein öffentlicher, auf bewusstes Umwelterleben ausgerichteter moderner Park. Wer ihn durchquert, wird veranlasst, sich immer wieder zwischen einer Vielzahl an sich kreuzenden Wegen zu entscheiden: Welcher Weg ist der beste? Wie sollen wir uns zu einer zunehmend von Menschen geschaffenen biologischen Umwelt positionieren? Wie lässt sich das Wissen, das in den Stämmen, Ästen und Blättern dieser „Bibliothek der Bäume“ gespeichert ist, für die Nachwelt erhalten?

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Individuelle Nachhaltigkeitsorientierung und Unternehmertum: Eine empirische Validierungsstudie

Einführung und thematische Verortung Die Wurzeln des Leitbilds der Nachhaltigkeit lassen sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Im Jahr 1713 veröffentlichte der deutsche Forstwissenschaftler Hans Carl von Carlowitz in der Reihe „Sylvicultura oeconomica“ einen Aufsatz über das richtige Vorgehen bei der Waldbewirtschaftung. Er forderte damals, dass Rodung und Wiederbepflanzung in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen sollten (Carlowitz 1713:105–106). In der Literatur herrscht meist Einigkeit darüber, dass das heutige Leitbild der Nachhaltigkeit seinen Ursprung in der Veröffentlichung von Carlowitz findet (Wilderer, Hauff 2014:19). Wilderer und Hauff (2014:19) sind der Meinung, dass der historische Fokus hauptsächlich auf ökonomischen Interessen lag. Auch Thomaschewski und Völker (2016:15) beschreiben, dass erst in viel späteren gesellschaftlichen Diskursen der schonende Umgang mit Ressourcen gefordert wurde. Durch den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome1 im Jahr 1972 wurde erstmals eine öffentliche Diskussion über den Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Bevölkerung, dem Wachstum der Wirtschaft und der Verfügbarkeit bzw. Verknappung von Ressourcen angestoßen und es wurde sichtbar, dass die Menschheit ökologische Grenzen möglicherweise überschreitet (Council on Environmental Quality 1980; Meadows et al. 1972). Soziale Aspekte wurden insbesondere durch den 1987 veröffentlichten Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen, in das Nachhaltigkeitskonzept integriert (WCED 1987). Meadows et al. (1992) veröffentlichten im Jahr 1992 einen Folgebericht zu ihrer ursprünglichen Untersuchung mit dem Namen „Die neuen Grenzen des Wachstums“, in dem sie zusätzlich zur Ressourcenknappheit auch das Problem 1 Der Club of Rome ist eine 1968 gegründete Vereinigung von Vertretern aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik aus der ganzen Welt (Deutsche Gesellschaft des Club of Rome 2017).

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beschrieben, dass immer mehr schwer abbaubare Schadstoffe in die Biosphäre gelangen. Angeregt durch diesen Folgebericht und den Brundtland-Bericht fand 1992 in Rio de Janeiro die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) statt. Dort wurde von internationalen Regierungsvertretern die „Agenda 21“ beschlossen, welche eine „nachhaltige Entwicklung“ als Leitbild des 21. Jahrhunderts festschreibt (UNCED 1992). Darauf aufbauend forderte die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ die Bundesregierung dazu auf, eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland zu entwerfen (Enquete-Kommission 1998: 30ff.). Der Konferenz in 1992 folgten eine Reihe weiterer internationaler Konferenzen, z. B. 1997 in New York, 2000 in New York, 2002 in Johannesburg und 2012 wieder in Rio de Janeiro. Im Jahr 2015 beschlossen die Vereinten Nationen dann 17 „Sustainable Development Goals“ (SDG) welche die „Milleniums-Entwicklungsziele“ aus dem Jahr 2000 ablösen und als aktuelle Ziele bis 2030 gelten sollen (Mayer 2017:2–3). Die aktuelle deutsche Nachhaltigkeitsstrategie greift diese Ziele auf und legt Maßnahmen zur Umsetzung dar. Der integrative Ansatz nachhaltiger Entwicklung wird auch in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung betont (Deutsche Bundesregierung 2020). Die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED) definiert eine nachhaltige Entwicklung als nachhaltig „[…] wenn sie den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (Hauff 1987:9–10 basierend auf WCED 1987:24). Für die vorliegende Untersuchung an der Schnittstelle der Environmental Humanities und der Wirtschaftswissenschaften wird darauf aufbauend unter Nachhaltigkeit daher ein Leitbild verstanden, welches auf verantwortungsvollem, zukunftsorientierten Simultanverhalten in den drei Bereichen Ökologie, Soziales und Ökonomie basiert. In der Wirtschaft (etwa bei Unternehmer-, Unternehmens- und Konsumverhalten), der Wissenschaft und gerade im Kontext der Environmental Humanities gewinnt dabei das Thema der individuellen Nachhaltigkeitsorientierung in diesem Zusammenhang immer mehr an Relevanz und konnte in den letzten Jahren eine verstärkte Resonanz verzeichnen. So zeigen Kuckertz und Wagner (2010) auf, dass sich eine hohe individuelle Nachhaltigkeitsorientierung positiv auf die Absicht, ein Unternehmen zu gründen, auswirken kann, dies aber durch Erfahrungen der Wirtschaftspraxis moderiert wird. Auch Bazerman et al. (1996:256) führen aus, dass die Einstellung gegenüber Umweltthemen eine große Rolle für eine nachhaltige Entwicklung spielt. Weiterhin gibt es in letzter Zeit vermehrt Versuche, Unternehmensverhalten anhand der Theorie der „Upper Echelons“ zu erklären (Klotz et al. 2014:226ff.; Nambisan, Baron 2013:1091; Short et al. 2009:173). Diese Theorie besagt, dass die

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obersten Führungspersonen eines Unternehmens auf Basis ihrer persönlichen Werte und Orientierungen die strategischen Entscheidungen und Handlungen des gesamten Unternehmens beeinflussen (Hambrick 2007:334ff.; Hambrick, Mason 1984:193ff.). Darüber hinaus zeigen Studien, dass eine umweltfreundlichere Einstellung das Umweltverhalten positiv beeinflusst (Scheuthle et al. 2010:644; Smith et al. 1994:359f.). Laut Bruyere und Rappe (2007) versuchen etwa Personen mit einem starken Umweltbewusstsein ihr Verhalten an ihren ökologischen Werten auszurichten, weil sie ihre Werte leben möchten. In Summe zeigt daher die Auswertung der Literatur, dass persönliche Werte und die Einstellungen von Personen ihre Handlungen im Nachhaltigkeitskontext beeinflussen können, was insbesondere im Unternehmens- und Unternehmerkontext zunehmend von Bedeutung ist (Hambrick 2007; Kuckertz, Wagner 2010; Myers 2014:598). Daher soll folgend in diesem Kontext die Kongruenz individueller Nachhaltigkeitsorientierungen und -einstellungen geprüft werden, denn das Entstehen neuer Unternehmen kann nicht allein auf äußere Umstände zurückgeführt werden, sondern ist ebenfalls von den wesentlichen Einstellungen eines Individuums bestimmt (DiMaggio 1988). Dies liegt insbesondere in der spezifischen Definition nachhaltigen Unternehmertums begründet, die von Dean und McMullen (2007) vorgeschlagen wurde, und welche auf den engen Zusammenhang von Marktunvollkommenheiten und unternehmerischen Gelegenheiten abzielt. Aus Sicht der neoklassischen Ökonomie wäre die Lösung derartiger Marktunvollkommenheiten mit negativen sozialen oder ökologischen Konsequenzen in verstärkten Aktivitäten des Gesetzgebers, etwa im Rahmen der Umweltpolitik, zu sehen (Jaffe, Stavins 1994). Wenn solche Marktunvollkommenheiten jedoch nicht nur durch politische Entscheidungen gemäß dem Ideal der Umweltökonomie ausgeräumt werden können, sondern gleichzeitig Gelegenheit zum unternehmerischen Handeln bieten, so besteht Grund zu der Annahme, dass nachhaltigkeitsorientierte Individuen nicht nur verstärkt politisch, sondern ebenfalls unternehmerisch aktiv werden (Dean, McMullen 2007). Diese Überlegungen verdeutlichen nochmals die Relevanz der individuellen Nachhaltigkeitsorientierung im Unternehmens- und Unternehmerkontext und damit für die Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung. Bevor deren empirische Messung und Messbarkeit aufgegriffen wird, soll zunächst im nächsten Abschnitt der relevante Unternehmens- und Unternehmerkontext näher beleuchtet werden.

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Der themenrelevante Unternehmerkontext in Deutschland und Bayern Seit Beginn der 2000er-Jahre ist ein Rückgang der Gründerquote in Deutschland zu verzeichnen. Die Entscheidung ein Unternehmen zu gründen, wird von Pushund Pull-Faktoren beeinflusst. So wirken sich etwa eine positive konjunkturelle Entwicklung und eine Steigerung der Arbeitslosenquote auf die Gründungsabsicht und -aktivität aus (Metzger 2017:1). Mit durchschnittlich rund elf Mitarbeitern, die ein gegründetes Unternehmen langfristig beschäftigt, ist dieses System ein wichtiger Treiber bei der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen (Zypries 2017:4). Im Vergleich zu den USA gibt es in Deutschland keine regionale Szene, sondern ein „gesamtdeutsches Ökosystem“. Dieses System ist in dem 1988 gegründeten Bundesverband der deutschen Innovations-, Technologie- und Gründerzentren (BVIZ) organisiert. Dieser ist unabhängig von Parteien und staatlichen Institutionen und vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber der Politik, Wirtschaftsverbänden und der Presse (BVIZ 2018). In Bayern gibt es die regionale Arbeitsgemeinschaft der Technologie- und Gründerzentren in Bayern (ARGE-TGZ), welche als wirtschaftspolitisches Instrument regional Unternehmensgründungen fördert und durch günstige Mietpreise, eine umfassende Gründerberatung oder moderne Informationstechnologie- und Kommunikationsinfrastrukturen eine optimale Entwicklungsumgebung schafft. Diese Zentren werden von kommunalen und öffentlich engagierten Gesellschaftern getragen und finanziell gefördert (ARGE-TGZ 2018b). Dies soll am Beispiel des Umwelttechnologischen Gründerzentrum (UTG) in Augsburg vertieft werden2. Das UTG wurde 1998 in Augsburg in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) und einem Schwerpunkt auf Umwelttechnologieunternehmen gegründet (Hehl 2010a). Bis 2010 wurden rund 120 Unternehmen im UTG gefördert, deren Geschäftsaktivitäten die Bereiche Abfall, Abwasser, Lärm, Altlastenbehandlung, Energieerzeugung und Biotechnologie abdecken (Hehl 2010b, 2011). Der Freistaat Bayern begründete 2006 ein Clusterprogramm, um wichtige Zukunftstechnologien zu fördern. Er griff dabei auch auf bestehende Inkubatoren und Technologiezentren wie das UTG zurück. Das UTG bildet mit anderen Zentren (insbesondere Hof, Nürnberg, Straubing und München) den Umweltcluster Bayern. Der Umweltcluster Bayern selbst ist Mitglied des europaweiten Netzwerks der Umwelttechnologiecluster EcoCluP, welches über 3500 Unternehmen und 430 Forschungsinstitute aus zehn EU-Staaten verbindet (Anon. 2011). 2 Siehe auch Wagner et al. (2019) für eine vertiefende Darstellung und Diskussion dieses Fallbeispiels.

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Im Durchschnitt verblieben die 120 bis 2010 im UTG geförderten Unternehmen rund 4,7 Jahre im Inkubator, wobei Gründungen in der Informationstechnologie eher zwei bis drei Jahre verweilen, Umwelttechnologiefirmen dagegen durchschnittlich rund acht Jahre gefördert wurden. Das UTG ist auch Standort für das überregionale Umweltnetzwerk KUMAS. Vorteile für die Zentrumsfirmen sind insbesondere ein attraktiver Standort mit vielfältigen, flexiblen Räumen, eine umfassende Betreuung mit vielfältigen Services und die interne und externe Integration in die o.g. Netzwerke, die den Clustereffekt verstärken. Allgemein sind kommunale und technologieorientierte Gründerzentren in Bayern teilweise koexistent (z. B. in Schweinfurt und wie später noch erläutert auch in Augsburg) und üblicherweise in einen der Cluster des o.g. bayerischen Programms eingebunden. Hinsichtlich der Finanzierung verfolgten die meisten der 1000 Gründerfirmen, die durchschnittlich in bayerischen Gründerzentren angesiedelt sind, eine eher langfristige Strategie, wobei die insgesamt schwierige Finanzierungssituation von 2008 bis 2010 das durchschnittliche Unternehmenswachstum insgesamt verlangsamte, was auch für das UTG zutraf (Hehl 2010b, 2011). Auf der Makroebene kann dennoch festgehalten werden, dass Bayern in Deutschland der Marktführer im Bereich Umwelttechnologie war und auch noch ist (Roland Berger 2007, Anon. 2011). Aufgrund dieser Relevanz ist es wichtig, für die relevanten Unternehmer detaillierter ihre individuelle Nachhaltigkeitsorientierung empirisch zu untersuchen, wofür im folgenden Abschnitt die Grundlagen gelegt werden.

Empirische Erfassung und Messung der individuellen Nachhaltigkeitsorientierung Myers (2014:598) versteht unter Einstellungen „Gefühle, die auf unseren Überzeugungen beruhen und uns dazu prädisponieren, gegenüber Dingen, Menschen und Ereignissen in einer bestimmten Weise zu reagieren“. Eine damit im Zusammenhang stehende weit verbreite Definition der Einstellung in der psychologischen Fachliteratur ist bei Eagly und Chaiken (1993:1) zu finden, die eine Einstellung als eine psychologische Tendenz sehen, die einer bestimmten Entität mit einem bestimmten Ausmaß zustimmt oder nicht zustimmt. Zum Zweck der empirischen Erfassung und Messung der individuellen Nachhaltigkeitsorientierung werden darauf aufbauend in der vorliegenden Untersuchung zwei Skalen involviert. Als erste Skala wird die von Kuckertz und Wagner (2010) verwendet. Diese misst die Nachhaltigkeitsorientierung anhand von sechs Items, die sich auf Umwelt- und Sozialthemen beziehen. Diese sechs Items spiegeln die innere Einstellung und Überzeugung der Personen gegenüber

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den Themen Umweltschutz und sozialer Verantwortung wieder. Sie lauten wie folgt: „Deutsche Firmen sollten eine führende Rolle in dem Bereich des Umweltschutzes übernehmen“, „Umweltorientierte Firmen haben Vorteile in der Beschaffung und Haltung von qualifizierten Arbeitnehmern“, „Die umweltorientierte Leistung eines Unternehmens wird durch die Finanzinstitute immer mehr in Betracht gezogen“, „Ich glaube, dass Umweltprobleme eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft sind“, „Wie stehen Sie zu der Aussage, dass CSR ein Bestandteil bei jeder Unternehmensgründung sein sollte“ und „Glauben Sie, dass Unternehmensgründer und Unternehmen mehr soziale Verantwortung übernehmen sollen?“ Die zweite Skala zur Messung der Nachhaltigkeitsorientierung wurde aus Items der Naturverträglichkeitsskala von Scherhorn et al. (2014a) sowie der Sozialverträglichkeitsskala von Scherhorn et al. (2014b) erstellt. Für die vorliegende Arbeit wurden folgende drei Items aus der Naturverträglichkeitsskala ausgewählt: „Ich bin dafür, dass man von Firmen, die sich nachweislich umweltschädigend verhalten, keine Produkte mehr kauft, auch wenn man dann in Zukunft auf einige Dinge verzichten müsste.“, „Ich habe mich informiert, welche Waschund Reinigungsmittel wirklich umweltverträglich sind, und kaufe bevorzugt diese Produkte.“ und „Ich würde einen höheren Strompreis in Kauf nehmen, wenn ich wüsste, dass zur Stromerzeugung alternative Energien eingesetzt werden.“ Aus der Sozialverträglichkeitsskala wurden die folgenden Items übernommen: „Ich glaube, dass man auch als einzelner eine Menge bewegen kann, um anderen Menschen zu helfen“, „Ich kümmere mich regelmäßig um ”Außenseiter” der Gesellschaft (z. B. Ausländer, Asylanten, Behinderte, Alte, Kranke)“ und „Bei meiner Arbeit ist vor allem wichtig, dass ich anderen helfen kann“. Diese Skala wird hier verwendet, weil sie nach Meinung der Verfasser wichtige soziale Aspekte und Umweltthemen enthält und somit einem ganzheitlichen Ansatz in Bezug auf Nachhaltigkeit gerecht wird. Alle Items werden auf einer Likert-Skala mit fünf Abstufungen gemessen.

Datenerhebung Aus pragmatischen Gründen wurde die Population auf Unternehmer aus dem Raum Augsburg eingegrenzt, da sich hier der Forschungsstandort der Verfasser befindet. Von den über die Homepage der ARGE-TGZ 50 identifizierten Gründungszentren in Bayern, sind drei im Raum Augsburg angesiedelt. Diese sind das schon beispielhaft vorgestellte Umwelttechnologische Gründerzentrum (UTG) Augsburg, der Augsburger Informationstechnologie-Park (aiti-Park) und das

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Technologiezentrum im Augsburger Innovationspark (TZA) (ARGE-TGZ 2018a). Über die Homepage der Gründungszentren wurden insgesamt 92 Unternehmen identifiziert3 (aiti-Park 2017; TZA 2017; UTG 2017). Um abzuklären, ob grundsätzlich Interviewbefragungen mit den Gründern der in den Zentren angesiedelten Firmen möglich sind, wurde Kontakt mit den Zentrumsleitungen aufgenommen. In einem ersten Telefonat stimmten alle Zentrumsleiter einer Befragung ihrer Mieter zu. Nachdem die Erlaubnis zur Befragung der Mieter eingeholt wurde, konnten mit Hilfe der Internetseiten der drei Gründungszentren und der Homepage der 92 Unternehmen alle wichtigen Informationen gesammelt werden. Anschließend wurden Kriterien aufgestellt, um zu bestimmen, welche Unternehmen aus der Grundgesamtheit in die Zielpopulation aufgenommen werden konnten. Nur wenn ein Unternehmen alle folgenden Kriterien erfüllte, wurde es in die Zielpopulation aufgenommen. Das Unternehmen sollte insbesondere seinen Firmensitz in einem der drei Gründerzentren haben, nicht älter als zwölf Jahre sein, nicht mehr als 25 Mitarbeiter beschäftigen, keine Tochter oder Niederlassung einer anderen Firma und kein Verband, Institut oder eine Forschungseinrichtung sein. Die folgende Tabelle stellt die Übersicht über das Entstehen der Zielpopulation dar. Tabelle 1: Übersicht zur Unternehmensauswahl für die Generierung einer Zielpopulation

Gesamtzahl Unternehmen laut Homepage und Firmenliste Tochterfirmen / Niederlassungen Verbände Institut / Forschungseinrichtung Unternehmen zu etabliert (Alter und Größe) Firmensitz nicht mehr im Gründungszentrum Unternehmen, die Kriterien für eine Befragung erfüllen Quelle: Eigene Darstellung

UTG

aitiPark

TZA Summe

30

30

32

92

4

2

10

16

3 0

3 1

5 7

11 8

0

2

3

5

1

3

0

4

22

19

7

48

Schlussendlich erfüllten 48 Unternehmen die Bedingungen, um an der Studie teilzunehmen. Da aus forschungsökonomischen Gründen eine Vollerhebung nicht möglich war, wurde eine Teilerhebung durchgeführt. Es wurde also nur eine 3 Stand November 2017.

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Auswahl von Fällen untersucht. Für die vorliegende Untersuchung wurde im ersten Schritt ein Quotensampling durchgeführt (Misoch 2015:195). Mit Hilfe des Quotenplans in Tabelle 2 wurde die Quote festgelegt. Tabelle 2: Quotenplan für das Sampling

Zielpopulation Quote

UTG 22 41,67 %

aiti-Park 19 41,67 %

TZA 7 41,67 %

Summe 48 41,67 %

Interviewziel Anzahl Interviews

9,17 9

7,92 8

2,92 3

20 20

Quelle: Eigene Darstellung

Die Maximalanzahl an Befragungen wurde auf 20 festgesetzt, um die Studie im vorgegebenen Zeitraum realisieren zu können. Im Hinblick auf die 48 Unternehmen der Zielpopulation entspricht das einer Quote von 41,67 %. Anhand dieser Quote wurde die Anzahl an zu befragenden Gründern in den jeweiligen Gründungszentren bestimmt. So konnte eine anteilsmäßig gleiche Anzahl an Interviews in den verschiedenen Gründungszentren sichergestellt werden. Aus dem, auf ganze Zahlen gerundetem Zwischenergebnis, ergaben sich neun Befragungen im UTG, acht im aiti-Park und drei im TZA.

Quantitative Analyse der Nachhaltigkeitsorientierung mit SPSS Die aus der quantitativen Befragung gewonnenen nummerischen Daten über die individuelle Nachhaltigkeitsorientierung im Unternehmenskontext wurden statistisch mit Hilfe der Computersoftware SPSS ausgewertet. Wie beschrieben, entsprechen die im Fragebogen gestellten Fragen einer der beiden verschiedenen Skalen zur Messung der Nachhaltigkeitseinstellung. Bei der Mittelwertberechnung der Nachhaltigkeitsorientierung pro Gründerzentrum zeigt sich, dass die untersuchten Unternehmer aus dem UTG für die Skala von Kuckertz und Wagner (2010) am stärksten nachhaltigkeitsorientiert waren. Die Unternehmer aus dem aiti-park haben für die Skala zur Messung der Nachhaltigkeitsorientierung auf Basis von Items der Naturverträglichkeitsskala von Scherhorn et al. (2014a) und der Sozialverträglichkeitsskala von Scherhorn et al. (2014b) die höchste Nachhaltigkeitsorientierung gezeigt. Das TZA hat immer die niedrigsten Durchschnittswerte. Die Ergebnisse der anschließenden Korrelationsberechnungen (Greene 2003) zeigen sowohl für die Korrelation nach Pearson als auch die Korrelation nach Spearman einen signifikanten Zusammenhang der beiden verwendeten Skalen zur Messung der individuellen Nachhaltigkeitsorientierung. Die Korrelation

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nach Spearman ist 0,54, wobei die Korrelation auf dem Niveau von 0,01 (zweiseitig) signifikant ist. Die Korrelation nach Pearson ist 0,712 und ebenfalls auf dem Niveau von 0,01 (zweiseitig) signifikant. Die Werte beider Korrelationen zeigen somit einen mittelstarken positiven, bidirektionalen Zusammenhang zwischen der aus Scherhorn et al. (2014a) und Scherhorn et al. (2014b) abgeleiteten Skala und der Skala von Kuckertz und Wagner (2010). Das bedeutet, dass ein höherer Wert auf der einen Skala mit einem ähnlich hohen Wert auf der anderen Skala einhergeht, was die eingesetzten Skalen validiert.

Zusammenfassung und Ausblick Zu Beginn der Arbeit wurden dem Leser die Aktualität und die interdisziplinäre Relevanz des Themas der individuellen Nachhaltigkeitsorientierung in der Wirtschaftspraxis verdeutlicht. Anschließend wurde aus der Darstellung bereits bestehender Erkenntnisse über das Thema noch weiterer Forschungsbedarf identifiziert. Im Rahmen der Datenerhebung wurde die Zielpopulation auf insgesamt 48 Unternehmen in den drei Gründungszentren in Augsburg festgelegt. Mit Hilfe eines Quotensamplings wurde auf dieser Basis eine Befragung von 20 Probanden zur Messung von deren Nachhaltigkeitsorientierung durchgeführt. Die verwendeten Items basierten dabei auf etablierten Skalen und fragen sowohl Umwelt- als auch Sozialaspekte der Nachhaltigkeit ab. Für die Datenanalyse wurden die mit Hilfe der Befragung generierten quantitativen Daten mit der Computersoftware SPSS statistisch ausgewertet, um die Validität der Skalen für weiterführende Untersuchungen abzusichern. Der zentrale Erkenntnisgewinn aus der Datenanalyse besteht darin, dass eine Konvergenz unterschiedlicher Messkonzepte für die individuelle Nachhaltigkeitsorientierung nachgewiesen werden konnte, die Basis für weitere Forschungsaktivitäten sein kann. So konnte etwa eine Aussage über den Einfluss von verschiedenen Branchen auf die Nachhaltigkeitsorientierung aufgrund der kleinen Fallzahl bisher noch nicht hinreichend verlässlich getroffen werden, dies soll aber auf Basis der vorliegenden Befunde zukünftig noch weiterführend untersucht werden. Weiterhin sollen auf Basis von Vorarbeiten (Kolb, Wagner 2015, 2018; Wagner et al. 2019) auch Bezüge zu universitären Ausgründungen zukünftig stärker beleuchtet werden. Schließlich dient die vorliegende Validierungsstudie auch als Ausgangspunkt für eine tiefere Verzahnung der Environmental Humanities mit den Wirtschaftswissenschaften. Diese soll in weiterführenden Arbeiten in interdisziplinärer Zusammenarbeit in Zukunft umfassender vorangebracht und institutionalisiert werden.

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Nachhaltigkeit und Autarkie. Versuch der fruchtbaren Ergänzung räumlicher und zeitlicher Qualitäten zweier Konzeptionen

Kurzzusammenfassung In diesem Beitrag soll eine Betrachtung der räumlichen und zeitlichen Komponenten des Nachhaltigkeitsbegriffs vorgenommen werden. Vor dem Hintergrund des Anthropozän wird argumentiert, dass Nachhaltigkeit als handlungsleitendes Konzept zum Umgang mit der natürlichen Umwelt Verantwortung vorwiegend in zeitlicher Perspektive und planerisch auf die Zukunft hin betrachtet. Durch diese stark temporale Konzeption entstehen jedoch auch gewisse Schwachstellen beziehungsweise „blinde Flecke“. Für eine stärker räumliche und gegenwartszentrierte Betrachtung wird ein neukonzeptionalisierter Autarkiebegriff vorgeschlagen. Dieser wird knapp umrissen und im Anschluss soll geprüft werden, inwieweit die beiden Konzepte Nachhaltigkeit und Autarkie miteinander fruchtbar verknüpft und ergänzt werden könnten. In einer Interjektion soll auf die besondere Problematik des „Zurück“ eingegangen werden. Die Verknüpfung der beiden Konzepte Autarkie und Nachhaltigkeit soll dazu beitragen, Antworten auf die drängenden Fragen des Anthropozän zu finden, oder zumindest andere Fragen stellen zu können.

Hinführung Wir leben im Anthropozän1. Der Mensch ist zum bedeutendsten oder zumindest einem der bedeutendsten Geofaktoren2 geworden. Was zuvor allein die Naturgewalten vollbrachten, das vollbringen inzwischen Menschen.3 Ganze Flusssys-

1 Das Anthropozän ist – stark vereinfacht – das aktuellste erdgeschichtliche Zeitalter, welches soviel bedeutet wie: Zeitalter des Menschen. Zur Einführung in den Begriff siehe Crutzen, Müller (2019). 2 Mit Geofaktor bezeichnen die Geographie, Geomorphologie, Hydrologie und verwandte Disziplinen jene Kräfte, die das Erscheinungsbild der Erde maßgeblich beeinflussen.

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teme werden reguliert, große Flächen ehemals natürlicher Vegetation, wie beispielsweise tropische Regenwälder, werden in monostrukturierte Anbauflächen umgewandelt, dem Meer werden Siedlungsflächen abgetrotzt und dort, wo Berge uns den Zugang zu Ressourcen erschweren, werden diese abgetragen und andernorts werden durch Bergbau Kraterlandschaften gestaltet. Die Erkenntnis, dass die Handlungen des Menschen4 dramatische Auswirkungen auf die natürliche Umwelt haben, hat zu einem stetig wachsenden Problembewusstsein gegenüber bestimmten Wirtschaftsweisen und – wie jüngst Jaeggi (2013) und vor ihr erstmals Vidal de la Blache5 passend und umfassend bezeichnen – Lebensformen geführt, das – zu Beginn sogenannten Experten vorbehalten – inzwischen in breiten Bevölkerungsschichten und weltweit vorhanden ist. Die große Aufmerksamkeit für Fridays for Future zeigt dies eindrücklich. Die Frage nach dem Umgang mit den Auswirkungen und Folgen menschlichen Handelns ist eine bedeutende philosophische Frage, denn sie betrifft den Bereich unserer Verantwortung für die Folgen unserer Handlungen. Sie ist nicht zuletzt aber auch eine zutiefst geographische6 Frage in dem Sinne, dass sie unseren Planeten Erde und uns als seine Bewohner in existentieller Weise betrifft. Darüber hinaus ist damit die Frage nach dem Guten Leben verknüpft und damit relevant für uns alle, wie schon Sokrates erkannte7:

3 Dabei ist der Begriff des Anthropozän in einem seiner wesentlichen Kernbestandteile eher unscharf. Ausgegangen wird von menschlichen Einflüssen auf einer globalen Skala, doch die sozial- und politikwissenschaftliche Differenzierung in Akteure und Akteursgruppen ist damit nicht befriedigend abgebildet. Ebenso ist die räumliche Differenzierung, die unter anderem für die Geographie eine wichtige Rolle spielt, unzureichend berücksichtigt. Auch aus anderen Disziplinen wird berechtigte Kritik am Begriff des Anthropozän geäußert. In der Hoffnung, gerade aufgrund der großen Resonanz in verschiedenen Disziplinen und durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff eine Annäherung an einen „Common Ground“ zu ermöglichen, werde ich den Begriff im Folgenden jedoch beibehalten und sozusagen als erd- und zeitgeschichtliches Setting verwenden, anhand dessen sich die großen Herausforderungen unserer Zeit beschreiben lassen. 4 Im Folgenden soll aufgrund der Kürze des Texts die eher globale Betrachtung menschlicher Zivilisationsauswirkungen vorwiegend durch technologische Eingriffe in Ökosysteme beibehalten werden in Erinnerung daran, dass eine solche generalistische Betrachtung einer Konkretisierung bedarf. 5 Wie etwa im Tableau de la Géographie de la France (1995), welches 1905 erstmals veröffentlicht wurde. 6 Da ich ausgebildeter Humangeograph bin, liegt es wohl an dieser Stelle nahe, dass ich der Betrachtung der Autarkie die, wie ich im Folgenden Aufsatz argumentieren will, eine stärker räumliche Perspektive einnimmt, eine grundsätzliche Sympathie entgegenbringen kann. 7 Obwohl es in der Antike nicht in gleichem Maße en vogue gewesen sein mag, die Frage nach dem Umgang mit den Rechten von Tieren und nicht-menschlichem Leben zu stellen, so finden sich bereits hier wichtige Reflexionen zur (Sonder-)Stellung des Menschen und moralischen sowie ethischen Implikationen (vgl. Hoerster 2004). Da von Sokrates keine schriftlichen

Nachhaltigkeit und Autarkie

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„Denn es ist so, dass es sich nicht um eine Kleinigkeit handelt, worüber wir uns uneins sind, sondern beinahe um Dinge, über die Bescheid zu wissen das Schönste, nicht Bescheid zu wissen hingegen das Schändlichste ist. Denn die Hauptsache daran ist, zu erkennen oder nicht zu wissen, wer glücklich ist und wer nicht.“ (Platon 1982: 472c6ff.)

Damit verweist Sokrates darauf, dass das Gute Leben immer ein Gutes Leben für alle meint, und ein Gutes Leben auf Kosten anderer ein Widerspruch in sich ist. Das oben beschriebene Problembewusstsein um Verantwortung und Folgen des eigenen Lebenstils wäre dann nach Sokrates eine Reaktion auf das Erkennen eines mangelnden Glücklichseins anderer und / oder unseres eigenen mangelnden Glücklichseins. Der Lösungsvorschlag, der sich aus der Problemlage von übermäßigem Ressourcenverbrauch, Umweltdegradation, Klimawandel, Verlust von Lebensgrundlagen und (sozialer) Ungerechtigkeit heute ergeben hat, ist vor allem einer: Nachhaltigkeit. Damals (zu Sokrates Zeiten) wäre dieser vermutlich vor allem jener gewesen: Autarkie.8

Problemstellung und Aufbau Prima facie könnte also die Vermutung naheliegen, dass Nachhaltigkeit und Autarkie sich insbesondere aus einem unterschiedlichen Kontext ergeben, aber ansonsten viele Gemeinsamkeiten haben. Auch wenn ich diese Gemeinsamkeiten in Form von Ergänzungsmöglichkeiten folgend herausarbeiten und bejahen möchte, so gilt es, diese nicht in Form einer Vereinheitlichung zu verstehen, sondern die Stärken und Schwächen der beiden Konzeptionen herauszustellen. Ein wichtiger Kern von Nachhaltigkeit ist die inter- und intragenerationale Betrachtung, indem derjenige Umgang mit Ressourcen als nachhaltig bezeichnet wird, der die (natürlichen) Ressourcen nicht über ihre Regenerationsfähigkeit hinaus belastet und auch für künftige Generationen erhält. Die Berücksichtigung gegenwärtigen Handelns für die Zukunft ist zweifellos sehr bedeutsam. Dies betrachte ich als eher zeitliche Orientierung. Jedoch bieten besonders auch Konzepte der schwachen Nachhaltigkeit dadurch auch Möglichkeiten der Externalisierung9. Die räumlichen Aspekte von Nachhaltigkeit werden dabei oft unterrepräsentiert.

Originalquellen überliefert sind, lässt ihn sein Schüler Platon in seinen Schriften zu Wort kommen. 8 Hierzu werden im Kapitel „zum Begriff Autarkie“ noch weitere Ausführungen gemacht. 9 Das Konzept schwacher Nachhaltigkeit ist geradezu „ausgerichtet“ auf Externalisierung. Schwache Nachhaltigkeit bedeutet, dass Naturkapital durch andere Kapitalien prinzipiell unbegrenzt substituiert werden kann (vgl. hierzu Meyer-Abich 2001; Döring 2004; Corsten, Roth 2012). Dabei ist die Substitution sowohl in der Sache, der Zeit als auch im Raum möglich.

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Eine stärkere räumliche Orientierung bietet dabei die Autarkie-Perspektive. Autarkie bedeutet im Wesentlichen (Selbst-)Beschränkung. Dabei sind im Konzept der Autarkie die zeitlichen Beschränkungen nicht derart im Vordergrund, sondern eher „räumliche“. Damit ist nicht primär der physische Raum gemeint, sondern vor allem der Lebensraum und damit auch soziale und politische Räume. Mit dem Konzept der Autarkie möchte ich den Versuch unternehmen, eine weniger zeitliche, sondern vielmehr räumliche, eine weniger zukunftsorientierte-planerische als vielmehr gegenwartsgesteuerte-dynamische Perspektive einzunehmen. Dieser Aufsatz unternimmt den Versuch, Autarkie und Nachhaltigkeit in dieser Hinsicht miteinander zu vergleichen und Autarkie als Nachhaltigkeit im Raum und Nachhaltigkeit als Autarkie in der Zeit miteinander konstruktivkritisch in Dialog zu bringen. Da das Ziel dieses Vorhabens nun kurz umrissen wurde, möchte ich dabei wie folgt vorgehen: I. Knappe Einführung in den Nachhaltigkeitsbegriff II. Knappe Einführung in den Autarkiebegriff III. Herausarbeiten der zeitlichen und räumlichen Aspekte der beiden Konzepte IV. Identifikation von Schwachstellen in beiden Konzepten V. Versuch der Ergänzung der beiden Konzepte VI. (Selbst-)kritische Diskussion des Vorgehens und Ausblick Wenn ich im Folgenden von räumlich und zeitlich spreche, dann meine ich dies approximativ und nicht kategorial im Sinne von „eher räumlich“ beziehungsweise „eher zeitlich“.

Gegenüberstellung der Begriffe Nachhaltigkeit und Autarkie Unter dem Titel „Autarkie und Nachhaltigkeit“ wurde bereits in einem Beitrag in 1996 die Frage aufgeworfen, ob angesichts der Tatsache, dass Autarkiediskussionen und Nachhaltigkeitsdiskussionen dieselben Themen aufgreifen, diese sich nicht auf dasselbe beziehen würden und man somit nicht beispielsweise Autarkie durch Nachhaltigkeit ersetzen könnte (Büchi, Ruh 1996: 347). Zugespitzt: Sind Nachhaltigkeit und Autarkie Synonyme? Diese Frage habe ich zum Anlass genommen, einige Teilergebnisse meines laufenden Promotionsvorhabens für diesen Beitrag aufzubereiten. Anlässlich eines Kolloquiums im Rahmen der Environmental Humanities auf der Umweltforschungsstation Schneefernerhaus im Oktober 2017 hatte ich einen Teil meiner Erkenntnisse damals vorgestellt und möchte im Folgenden vor allem einen Punkt meines damaligen Vortrags mit diesem Beitrag elaborieren: Welche

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Bedeutung haben zeitliche beziehungsweise räumliche Dimensionen jeweils in Bezug auf die Konzepte Nachhaltigkeit und Autarkie? Die „Diskussion10“ von Büchi und Ruh (1996) kam bereits zu einem relativ eindeutigen Ergebnis mit der klaren Antwort: Nein, Nachhaltigkeit und Autarkie sind keine Synonyme. Die relativ unversöhnliche Diskussion, vermutlich besonders aufgrund von sehr unterschiedlichen Grundperspektiven wie Planung versus Lebenskunst oder Dynamik versus Statik empfand ich jedoch nicht als besonders befriedigend. Obwohl deutliche Versuche der „Versöhnung11“ der beiden Konzepte in Vertretung der beiden „Diskutanten“ zu erkennen waren, schienen diese doch merkwürdig „unversöhnlich“ zu bleiben und die „Diskussion“ endet relativ abrupt. Vor dem Hintergrund meines neukonzeptionalisierten Verständnisses von Autarkie, das ich im Folgenden grob vorstellen werde, ergeben sich meines Erachtens nach wesentlich mehr Anknüpfungspunkte an Nachhaltigkeitskonzepte und die Perspektive der Ergänzung mutet sinnvoller an, als dies die Frage nach der Differenzierung und Abgrenzung tut.

Zum Begriff Nachhaltigkeit Mit dem Konzept der Nachhaltigkeit hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ein handlungsleitendes Prinzip in nahezu allen politischen, ökologischen, sozialen, ökonomischen und weiteren Diskursen etabliert. Es wird dabei als Antwort auf die oben aufgeworfenen „großen“ Fragen verwendet. Nachhaltigkeit ist zu einem Schlüsselbegriff der heutigen Zeit geworden (Gabler Wirtschaftslexikon 2018b). Das Problem, dass sich manche komplexen wissenschaftlichen Diskussionen nur schwerlich in eine breite Öffentlichkeit transportieren lassen, ohne dass diese dabei an „Exaktheit“ und „Komplexität“ verlieren, ist bekannt. So argumentiert beispielsweise Wullenweber (2000) und kritisiert gleichzeitig, dass Nachhaltigkeit dadurch zu einem „Gummiwort“ geworden sei, wobei dieser Begriff beschreibt,

10 Den Begriff setze ich hier nur deshalb in Anführungszeichen, da in meinem Verständnis eine Diskussion wesentlich aus einer Unmittelbarkeit und Leibhaftigkeit konstituiert ist. Die (Ko-) Präsenz der Diskutanten und ihre jeweilige Leiblichkeit machen einen bloßen Austausch von Positionen, beispielsweise in schriftlicher Form, erst zu einer Diskussion. Obgleich dieser Austausch zwischen Büchi und Ruh schriftlich erfolgte, so hat er gewisse Anzeichen von „echter“ Diskussion, aber bleibt doch aufgrund der Schriftform seiner Leiblichkeit und Unmittelbarkeit merkwürdig beraubt. 11 Dabei bedeutet Versöhnung ja bereits den Bruch oder den Widerspruch. Im Sinne Hegels sollen Widersprüche durch Vermittlung (in Hegels Sinne synonym mit Versöhnung) zur Synthese aufgehoben werden.

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dass ein Begriff dehnbar und knetbar bis zur Formlosigkeit geworden ist und somit alles und / oder nichts bedeuten kann12 (vgl. auch Uekötter 2014). Grundsätzlich ergibt sich jedoch ein sehr diverses Bild bei der Frage nach dem, was Nachhaltigkeit ist (Jörisen et al. 1999; Pufé 2014; Wullenweber 2000). Gemeinhin wird Nachhaltigkeit als ein Querschnittsthema verstanden. Die bekanntesten Modelle sind die des sogenannten Drei-Säulen-Modells, aus dem später ein Dreiklangmodell wurde, das wiederum im bekannten Nachhaltigkeitsdreieck mündete. Keines dieser Modelle erscheint mir besonders geeignet. Vielmehr ist eine wesentliche Differenzierung darin zu suchen, ob ein Konzept starker oder schwacher Nachhaltigkeit gemeint ist. Während bei der schwachen Nachhaltigkeit beispielsweise im Drei-Säulen-Modell die drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales gleichberechtigt nebeneinander stehen, so wird bei der starken Nachhaltigkeit, beispielsweise in Form von sich gegenseitig beinhaltenden Kreisen, der Ökologie bewusst die größte Bedeutung eingeräumt, mit dem Argument: ohne Ökologie kein Soziales und keine Ökonomie. Die Frage, welche Darstellungsform die geeignete sei, soll in diesem Aufsatz ebenso wie eine Unterscheidung zwischen Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung13 nicht weiter detailliert werden. Pufé (2014: 20) macht folgende Prinzipien als Gemeinsamkeiten aller Konzeptionen von Nachhaltigkeit aus: – Intragenerationelle Gerechtigkeit – Intergenerationelle Gerechtigkeit – Ganzheitlichkeit und Integration – „Glokalität“ – Partizipation, Verantwortung und Stakeholderbeteiligung – Präventive Langzeitorientierung – Charakter eines normativen Leitbildes Bei dieser Zusammenstellung der gemeinsamen Prinzipien fallen wiederum die häufigen und sehr prominenten zeitlichen Aspekte auf. Auf diese soll im Weiteren fokussiert werden. Der Duden (o. J.) beispielsweise definiert Nachhaltigkeit als das „Prinzip, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils 12 Der Sprachwissenschaftler Pörksen (1988) erarbeitete dafür den Begriff der „Plastikwörter“. Als Beispiele nannte er u. a. Entwicklung, System und Identität. Auch Nachhaltigkeit erfüllt nach Pörksen die Kriterien eines „Plastikwortes“. 13 Die enge Verknüpfung und gleichsam merkwürdige Gleichsetzung von Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung lässt sich vielleicht auch exemplarisch am Beispiel der sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs) der UN nachvollziehen. Die „Dehnbarkeit“ des Nachhaltigkeitsbegriffs wird nicht nur in diesem Kontext bis zur Grenze der „Zugfestigkeit“ gedehnt. Auf die unterschiedlichen Konnotationen von „sustainable“ und „nachhaltig“ kann ich jedoch an dieser Stelle nicht weiter eingehen.

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nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann“. Diese Bedeutung wird um eine andere ergänzt, die Nachhaltigkeit als eine „längere Zeit anhaltende Wirkung“ (Duden o. J.) bezeichnet. Die zeitliche Dimension des Nachhaltigkeitsbegriffs wird dabei sehr deutlich. Sowohl „nachwachsen“, „regenerieren“, „künftig“ als auch ganz offenkundig „längere Zeit anhaltend“ sind zeitlich aufgeladen. Zudem wird der zeitliche, auf die Zukunft ausgerichtete Charakter besonders bei den verwandten Begriffen der nachhaltigen Entwicklung oder der „Zukunftsverträglichkeit14“ deutlich (vgl. Verwendung in Lexikon der Geographie o. J.; Theisen 1995; Jörissen et al. 1999; Maderthaner 2001; Scheffran 2011; Brunner 2016; Busse 2017). Der Duden mag zwar „nur“ das Abbild unserer Alltagssprache sein, doch diese hat durchaus Konsequenzen für die Wahrnehmung des Nachhaltigkeitsdiskurses und spiegelt sich auch in neueren Nachhaltigkeitskonzepten wider, wie etwa im später beschriebenen integrativen Konzept der Nachhaltigkeit der HelmholtzGemeinschaft (Jörissen et al. 1999). Ursprünglich wurde der Begriff in dieser Bedeutung erstmals als nachhaltige Forstwirtschaft von Hans Carl von Carlowitz im Jahr 1713 in der heute weithin bekannten „Sylvicultura oeconomica“ gebraucht. Heute ist der Begriff in der Ökonomie als nachhaltige Wirtschaft vertreten. Diese meint dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg sowie fortgesetztes Wirtschaftswachstum. Die Begriffe dauerhaft und fortgesetzt werden hier mit nachhaltig gleichgesetzt. Durchaus über den zeitlichen Aspekt der „Idee“ von Nachhaltigkeit hinausgehend wird als ökonomische Nachhaltigkeit „die Maximierung des ökonomischen Ertrags bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der benötigten Eingangsressourcen“ (Gabler Wirtschaftslexikon 2018a) verstanden. Dagegen meint ökologische Nachhaltigkeit einen Umgang mit natürlichen Ressourcen, der diese möglichst langfristig erhält, und soziale Nachhaltigkeit die bewusste Gestaltung sozialer Systeme und Auswirkungen, so dass diese langfristig erhalten werden können. Allen gemeinsam ist die starke Betonung des Zeitlichen. Nachhaltigkeit ist heute aber auch ein Geschäftsmodell geworden.15 In Anspielung auf den New Deal, der in den Jahren nach der größten Finanz- und Weltwirtschaftskrise in den USA von Präsident Roosevelt initiiert wurde, werden 14 Oft noch ergänzt zum Begriff der „nachhaltigen Zukunftsverträglichkeit“ oder „nachhaltig zukunftsverträglicher Entwicklung“. 15 Im Übrigen gilt dies auch für Autarkie. Besonders im Bereich der Energieautarkie haben sich viele Firmen Autarkie als Werbebegriff zu eigen gemacht, der von autarken Häusern bis zu autarken Siedlungen reicht. Dabei wird der Begriff Autarkie hier meist als Unabhängigkeit gedeutet, die eben genau jene als fragil und schwer berechenbaren globalisierten Verhältnisse zu beheben sucht. Auch im Bereich der Nahrungsmittelversorgung und in der Szene der Selbstversorger und „Prepper“ (also sich auf eine große Katastrophe mit dem Zusammenbruch der Gesellschaft einstellende Personen) ist Autarkie in einem auf Abschottung und Unabhängigkeit vom Außen bedachten Sinne sehr verbreitet und kommerzialisiert.

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heute sogenannte „Green New Deals16“ vorgeschlagen. Dabei können die treibenden Kräfte Umweltschutzorganisationen und Graswurzelbewegungen wie in den USA sein oder top-down Bewegungen wie in der EU, die den „European Green Deal“ vorantreibt. Als PR-Strategie (vgl. hierzu Bojanowski 2014) hat sich das sogenannte „Greenwashing“ etabliert, womit sich Unternehmen ein „grünes Mäntelchen“ umlegen, um die eigenen Produkte und Dienstleistungen angesichts wachsenden Problembewusstseins für Umweltfragen attraktiv erscheinen zu lassen beziehungsweise diese sogar als Teile der Lösung der Probleme17 zu vermarkten (Hartmann 2015, 2018). In dem umfassenden Maße, wie Nachhaltigkeit heute gebraucht wird, stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass PhilosophInnen und WissenschaftlerInnen ein solch zentrales Thema bis ins Jahr 1713 hin quasi entgangen ist? Handelt es sich hier „lediglich“ um eine Frage der Begrifflichkeit? War es lediglich der alles beherrschende und jede Kritik betäubende Fortschrittsglaube, jene lineare Erzählung des „immer-weiter, immer-höher, immer mehr, immer besser“? Oder gab es vielleicht bereits zuvor Versuche auf die anfangs genannten großen Fragen nach Verantwortung und den Folgen eigener Handlungen für den Planeten und die Umwelt zu antworten, die zu betrachten es sich erneut lohnen könnte?

Zum Begriff Autarkie Die Voraussetzungen für ein gutes Leben wurden bereits von den Philosophen der Antike – also vor gut 2500 Jahren – untersucht. Dabei herrschte damals eine fast umfassende Einstimmigkeit darüber, dass eine notwendige jedoch nicht hinreichende Voraussetzung für ein gutes Leben Autarkie sei. Autarkie ist ein griechisches Wort, das in den philosophischen Debatten der Antike eine große Bedeutung hatte. Es setzt sich zusammen aus „selbst“ (αὐτο) und „genügen“ (ρκέω), was zusammen in etwa „Selbstgenügsamkeit“ (αὐτάρκεια) bedeutet. Dabei beschreibt Autarkie im weiteren Sinne eine Qualität einer idealen Ordnung, eines Zustands des absoluten Glücks, der von Platon, Aristoteles, Sokrates und anderen bis in die (damalige) Alltagssprache mit dem Oberbegriff Eudaimonie18 (εὐδαιμονία) bezeichnet wurde.

16 Siehe dazu auch den Band 159 der Zeitschrift politische ökologie (2019/4) mit Beiträgen zum Thema: „Green New Deal. Fassadenbegrünung oder neuer Gesellschaftsvertrag?“ Die Bandbreite der abgebildeten Meinungen reicht auch hier von Optimismus bis Pessimismus. 17 Der bekannte Vortrag von Paul Watzlawick zum Thema „Wenn die Lösung das Problem ist“ aus den späten 1980er Jahren nahm solche Entwicklungen schon voraus. 18 Der Begriff Eudaimonie lässt sich nur schwerlich ins Deutsche übersetzen. Er bedeutet am ehesten „Glückseligkeit“, ist jedoch nicht nur Beschreibung des Zustands, sondern immer

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Der Begriff Autarkie findet sich sowohl in den Werken von Aristoteles „Staat“ (1989) und „Metaphysik“ (1991) als auch insbesondere Platons „Politeia“ (1982) wieder und wird von diesem als wichtiger Baustein für das gute Leben eingeführt. Dabei spannt Platon den Bogen vom Individuum bis zum „Staat“, der Polis19. In seinem Werk beschrieb Platon dabei den Aufbau der Polis im Vergleich mit dem Lebenslauf des Menschen20 und umgekehrt und stellte fest, dass Polis und Mensch nicht voneinander zu trennen seien, sich gegenseitig bedingen und diese Verflechtung der Menschen in der Polis, deren Ursprung sie in sich tragen, gleichsam dem „[…]Gewicht auf der Waage alles nach sich herziehen“ (Politea, 544d,e). Damit setzt Autarkie in diesem frühen Verständnis bereits einen deutlichen Fokus auf das Räumliche. Das einzige „Wesen“, das im Verständnis der antiken Philosophen vollkommen autark ist, wäre eine Gottheit. Die theologische Frage nach Autarkie als Eigenschaft Gottes soll hier jedoch nicht behandelt werden. Ebenso muss darauf verwiesen werden, dass Autarkie als Begriff heute als materielle21 Unabhängigkeit verstanden wird. Diese Engführung möchte ich im Folgenden verneinen. Im Folgenden will ich meine Neukonzeptionierung des Autarkiebegriffs im Anschluss an die zuvor erwähnten „tiefen Wurzeln“ sehr komprimiert und – der Kürze des Beitrags geschuldet – mit Auslassungen darstellen. Die drei Dimensionen von Autarkie, die ich vorschlage, sind im Einzelnen: (Selbst-)Versorgung in22 (Selbst-)Genügsamkeit durch (Selbst-)Beschränkung Dies ist die materielle Dimension, die in klassischen Nachhaltigkeitsmodellen meist als ökonomische Dimension bezeichnet wird. Kern ist die materielle Basis der Versorgung von Entitäten, seien es Individuen, Haushalte oder Städte etc.

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auch mit dem Weg zu diesem Zustand verbunden, der ein gelungenes Leben im Sinne philosophischer Ethik meint. Der Begriff Polis ist sehr diffizil in ein heutiges Verständnis von Begriffen (bspw. Stadt oder Staat) zu übersetzen, da er mehrere Begriffe inkorporiert und gleichzeitig wesentliche Teile dieser Begriffe exkorporiert. Er meint sowohl Stadt, Staat und Gemeinschaft, meint all dies und doch nicht und zugleich mehr. Deswegen muss der Begriff unübersetzt bleiben. Dies wird im Abschnitt „Besondere Problematik des ‚Zurück‘“ nochmals aufgegriffen. Gemeint ist dezidiert keine rein materielle Autarkie, wie diese spätestens seit der Perversion des Begriffs im Nationalsozialismus als Autarkiepolitik in vielen Betrachtungen vorherrscht: Geschlossenheit, Abwesenheit von Handel, Grenzen, Abwehr, Selbstzentrierung. Diese Interpretationen von Autarkie kann ich leider nur als bis ins Gegenteil der tatsächlichen Intention verkehrt bewerten / bezeichnen. Bei der Durchsicht der Dimensionen wird ein Muster erkennbar, das sich in doppelter Weise durch die nachfolgende Betrachtung zieht. Neben der ersten Dreiteilung in materielle, immaterielle und Sinndimension wird eine zweite Dreiteilung vollzogen, die jeweils die erstgenannten Dimensionen mittels „in“ und „durch“ bindet und verschränkt beziehungsweise konkretisiert. Das „in“ ist dabei eine notwendige Restriktion. Ohne diese Einschränkung

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Dabei ist hier besonders auch die (Selbst-)Genügsamkeit entscheidend, die zweierlei Grenzen aufzeigt: zum einen die Selbstversorgung mit Ressourcen und Gütern (untere Grenze), zum anderen aber auch die Fähigkeit, die Grenzen des eigenen Konsums erkennen und akzeptieren zu können (obere Grenze). Möglich wird dies durch die (Selbst-)Beschränkung, die konkret auch als (Selbst-)Begrenzung verstanden werden kann. Die materielle Dimension ist somit vor allem für die materielle beziehungsweise biologische (Re-)Produktion und die Sphäre der Ökonomie bedeutsam. (Selbst-)Bestimmung in (Selbst-)Verantwortung durch (Selbst-)Organisation Diese Dimension kann man auch mit Autonomie bezeichnen. In klassischen Modellen ist dies die soziale / politische / immaterielle Sphäre, die voraussetzt, dass eine autarke Einheit aus eigenem Willen23 heraus selbstbestimmt handeln kann. Dabei ist jedoch kein Handeln aus der alleinigen Tatsache der Befähigung heraus zu verstehen, sondern solches Handeln, das sich der eigenen Verantwortung für das Ganze bewusst ist. Dies wird durch den Begriff der (Selbst-) Verantwortung ausgedrückt. Zusätzlich muss jedoch der regulatorische Druck dergestalt sein, dass der Zwang der regelnden Systeme nicht die (Selbst-)Bestimmung und (Selbst-)Erhaltung des Einzelnen in unzulässiger Weise behindert oder sogar verhindert. Das Konzept der (Selbst-)Organisation tritt an diese Stelle und zeigt einen möglichen Weg auf. Die immaterielle Dimension ist bedeutsam bei der sozialen / kulturellen / immateriellen (Re-)Produktion und umfasst neben der Sphäre der Politik auch die Kultur und die Gesetzgebung. (Selbst-)Erhaltung in (Selbst-)Erkenntnis durch (Selbst-)Reflexion Diese Dimension ist sicherlich die abstrakteste, für das Verständnis aber umso entscheidender. Autarkie ist nicht auf konstantes Wachstum, endlose Produktion oder die Verfolgung eines festgelegten „Entwicklungspfades“ ausgelegt. Es ist um das Prinzip der strukturellen (Selbst-)Erhaltung aufgebaut. Dabei ist die Fähigkeit der strukturellen (Selbst-)Erhaltung im Sinne einer Autopoiesis zu

kann nicht von Autarkie in meinem Verständnis gesprochen werden. Das „durch“ bezeichnet dabei eine Art Grundhaltung, die jedoch keine (Selbst-)Verständlichkeit ist, sondern erst erlernt und erfahren werden muss. Hierfür wähle ich das Bild des Menschen, der im Laufe seines Lebens diesen Kreislauf der drei Dimensionen mehrfach durchläuft und dabei ein erfülltes, ein gutes Leben dann führt, wenn er in den verschiedenen Abschnitten Autarkie erfährt und realisieren kann. 23 An dieser Stelle sei auf den Autonomiebegriff bei Kant verwiesen, der Autonomie als Fähigkeit des Willens bezeichnete, sich selbst Gesetze zu geben.

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verstehen: Leben entsteht aus sich selbst heraus und erhält sich selbst.24 Wirkungen führen zur Erhaltung der Ursache und werden so zirkulär-kausal. Dies widerspricht nicht grundsätzlich der Möglichkeit von Wachstum oder auch technologischem Fortschritt, aber begreift diese nicht als das Ziel, sondern ordnet diese der (Selbst-)Erhaltung unter. Diese Sphäre korrespondiert mit der ökologischen Sphäre in klassischen Nachhaltigkeitskonzeptionen. Daraus und aus dem zirkulären Verlauf resultiert das Verhältnis der einzelnen Entitäten untereinander und mit der Natur aus der Einsicht, dass Ursache und Wirkung nicht umgekehrt werden können, gleichzeitig aber alle Handlungen in einer zirkulären Logik stattfinden und das Individuum Teil des Ganzen ist.25 Die drei Dimensionen von Autarkie sind dabei voneinander abhängig und aufeinander angewiesen. Ähnlich wie im Konzept der starken Nachhaltigkeit ist dabei die (Selbst-)Erhaltung (korrespondierend mit der Ökologie) Grundlage und damit bedeutsamer26 als die anderen beiden Dimensionen. Als Autarkie wird in meinem Verständnis nur die Kombination der drei Dimensionen bezeichnet. Sie ist damit eine (System-)Eigenschaft struktureller (Selbst-)Erhaltung, die jeweils nicht nur auf die Erhaltung des Selbst abzielt, sondern auch auf die Erhaltung der (Selbst-)Erhaltungsfähigkeit (vgl. Büchi, Ruh 1996: 347f.). Dabei steht die Anpassung des Systems an das Umfeld im „Fließprozess in der Gegenwart“ (Büchi, Ruh 1996: 348) im Vordergrund. Einmal gelungene (Selbst-)Erhaltung ist damit kein Garant für die Wiederholbarkeit und Gültigkeit in der Zukunft.

Zeitliche und räumliche Dimensionen der Begriffe Aus den bisherigen Ausführungen möchte ich im Folgenden die wesentlichen zeitlichen und räumlichen Aspekte der beiden Konzepte herausarbeiten. Dabei beziehe ich mich auf die angegebenen Quellen und die dortigen Begriffsverwendungen.

24 In einer solchen Betrachtung ist der Tod nicht nur das Ende von Leben, sondern die Voraussetzung für neues Leben. Die Ursache wird in diesem Punkt zur Wirkung und umgekehrt. 25 Damit ist beispielsweise die Subjekt-Objekt-Trennung der modernen Wissenschaften abzulehnen und zu überwinden. Diese Erkenntnis, die selbst von Vertretern der Naturwissenschaften wie beispielsweise Schrödinger (1986) geäußert wird, erlangt im sogenannten NewMaterial-Turn oder auch den Existenzweisen nach Latour (2018b) immer stärkere Bedeutung. 26 Gemeint ist hier aber keine Hierarchie im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein System „stufenloser Stufen“, wie dies beispielsweise Plessner (2003) gebraucht hat. Es geht also nicht um eine „Überhöhung“ und „Erniedrigung“, sondern um eine Kausalkette, die noch dazu zirkulär geschlossen ist. Die drei Dimensionen lassen sich also nicht ohne Sinnverlust trennen und sind daher eher „Hilfskonstruktionen“, die nicht einzeln „zu fassen“ sind.

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Wie in der Betrachtung zum Nachhaltigkeitsbegriff in vielen seiner Facetten festgestellt, ist ein wesentlicher, wenn nicht der wesentliche Bedeutungsteil von Nachhaltigkeit ein zeitlicher. Nachhaltigkeit basiert auf dem Gedanken, dass aufgrund der Auswirkungen von Handlungen in der Vergangenheit unsere Handlungsmuster in der Gegenwart angepasst werden müssen, um sowohl im Hier-und-Jetzt als auch in der Zukunft Lebensgrundlagen zu erhalten. Oder wie es Büchi und Ruh (1996: 348) formuliert: vom Gestern auf das Morgen schließen. Bei dieser Betonung der zeitlichen Aspekte und der Zukunftsorientierung ergeben sich drei grundsätzliche Probleme. Zum einen werden dadurch Externalisierungen möglich und zum anderen sind die resultierenden Bearbeitungsstrategien anfällig für Lösungen innerhalb bestehender Prozesse und somit tendenziell statisch. Diese „Statik“ ist dabei wesentlich im deutschen Verständnis von Nachhaltigkeit angelegt, das eine starke Betonung auf die zeitliche Sinndimension des „Erhaltens“ und der „Dauerhaftigkeit“ legt. In dieser Betonung liegt jedoch die Gefahr, dass sie zu sehr die Lösungen in einer Umgestaltung und aktiven Anpassung der Umwelt sucht, die eben nicht mehr die gewünschte Aufrechterhaltung des „Status Quo“ ermöglicht. Dies begünstigt wiederum technologische, institutionelle oder gar technokratische und bürokratische Herangehensweisen (Büchi, Ruh 1996: 348). Diese sind, aufgrund ihrer Größe und der damit einhergehenden Abstraktion, weit „entfernt“ von lokalen Kontexten, in denen eine flexible Anpassung an die Umwelt möglich wäre.27 Um es mit Scott (1998: 262) zu formulieren: „The necessary simple abstractions of large bureaucratic institutions […] can never adequately represent the actual complexity of nature or social processes. The categories that they employ are too coarse, too static, and too stylized to do justice to the world that they purport to describe.“

Diese These ist für das Verständnis zentral: Die Betonung von Dauerhaftigkeit begünstigt Positionen, die eine aktive Anpassung der Umwelt (meist mittels technologischer und institutioneller Lösungen) zu erreichen suchen. Diese neigen dazu, sich zu „Verselbständigen“ und durch ihre (Selbst-)Beschäftigung zu einem Verständnis von Dauerhaftigkeit, das dann als statisch beschrieben werden muss. Darüber hinaus sind damit die Eintrittspunkte für eine Vernachlässigung der räumlichen Aspekte beispielsweise in Form eines Verlustes des menschlichen Maßes gesetzt. Diese Aspekte sollen im Folgenden begründet und ausgearbeitet werden. 27 Darüber hinaus wird in vielen dieser „Lösungsmuster“ eine Hegemonie westlicher Sichtweisen perpetuiert, die wiederum angepasste Lösungen verhindert oder bestenfalls geringschätzt (vgl. hierzu Sachs 1993).

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Das allgemeinere Problem, ob überhaupt ein Schließen vom Gestern auf Morgen möglich ist, mit der Prämisse eines kontinuierlichen, linearen Verlaufs der Zeit sei hier nur angemerkt, jedoch nicht weiter ausgeführt.28 Dies ist das grundlegende Merkmal von Planung: Über die Festlegung eines zu definierenden Zielzustands werden aus Betrachtungen vergangener Zustände im Jetzt umzusetzende Maßnahmen entwickelt, um den erwünschten Zielzustand zukünftig zu erreichen. Dies ist dann kein gegenwartsgesteuerter, auf die Besonderheit der scheinbaren Zufälligkeit – die aus unserer Leiblichkeit in einer sich ständig im Wandel befindlichen Um- und Mitwelt resultiert – ausgerichteter Prozess mehr. Büchi und Ruh (1996) beschreiben die unterschiedliche Betonung der Orientierung in folgendem Absatz klar: „Sobald wir […] diese ‚Zufälligkeit‘ verlassen und Entwicklungen als besser oder schlechter kategorisieren, sind wir in die Planung eingetreten. Wir bestimmen Ziele und definieren die Wege nach den Zielen. Dies gilt auch für die nachhaltige Entwicklung. Damit gehört sie aber in eine grundsätzlich andere Kategorie von Prozessen als die Autarkie. Autarkie ist rein gegenwartsbezogen, nachhaltige Entwicklung hat einen zeitübergreifenden Horizont, Selbsterhaltung ist hoch dynamisch, nachhaltige Entwicklung ist schon per definitionem statisch […]“ (Büchi, Ruh 1996: 348).

Der Unterscheidung zeitlicher und räumlicher Horizonte kommt somit eine entscheidende Bedeutung zu. Alle weiteren wesentlichen Unterschiede resultieren in gewisser Weise aus diesem „Grunddissens“ in der Ausrichtung zwischen zeitlich und räumlich. Dabei ist das räumliche, wie bereits angeführt, vor allem auch das Leibliche und auf die Lebenswelt als Um- und Mitwelt bezogene gemeint. Tabelle: Gegenüberstellung von Nachhaltigkeit und Autarkie ausgehend von einer Differenzierung in zeitliche und räumliche Aspekte

zentraler Aspekt

Nachhaltigkeit zeitlich

zeitliche Orientierung zukunftsorientiert zeitliche Betrachvon Gestern auf Morgen tungsrichtung räumliche Orientierung räumliche Betrachtungsrichtung

Autarkie räumlich gegenwartsorientiert Hier-und-Jetzt

global, „glokal“

lokal, regional

vom Ganzen zum Selbst

vom Selbst zum Ganzen

28 Dazu liegen zahlreiche physisch-theoretische beziehungsweise philosophische Abhandlungen vor. Einen vielleicht interessanten Beitrag etwas älteren Datums lieferte Davies (1979). Die Implikationen der (wissenschaftsgeschichtlich) jungen Quantenphysik stellen hier ohnehin das Standardmodell der Physik und die allgemeine Relativitätstheorie auf den Prüfstand.

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(Fortsetzung) Nachhaltigkeit (mögliche) Schwächen

(mögliche) Stärken Individualismus/ Kollektivismus Bedeutung von Technologie

Autarkie schwer zu instrumentalisieren, Externalisierung, Statik, Maßschwer zu implementieren, stabsverlust, mangelnde Un„Ziellosigkeit“, als „rückstänmittelbarkeit, Vereinheitlidig“ wahrgenommen, Indivichung, Plastikwort dualisierung, Definition Instrumentalisierbarkeit, Im- Internalisierung, Dynamik, plementierbarkeit, als „state of zentrale Frage nach dem Maß, the art“ wahrgenommen Unmittelbarkeit eher kollektivistisch

eher individualistisch

eher zentral

eher kritisch

Quelle: eigene Zusammenstellung.

In der obigen Tabelle sind, ausgehend von der unterschiedlichen Betonung des zentralen Aspekts der Zeitlichkeit oder Räumlichkeit die möglichen Schwächen der beiden Konzepte sowie deren mögliche Stärken zusammengefasst. Einige davon wurden bereits aufgegriffen und erläutert, die übrigen Punkte sollen hier aufgeführt werden. Die auf die Zukunft ausgerichtete Orientierung von Nachhaltigkeit macht die räumliche Externalisierung zu einer Handlungsoption. Dabei werden eigene Verfehlungen – wie beispielsweise das Verfehlen von Emissionsreduktionszielen – räumlich „kompensiert“, indem beispielsweise Zertifikate für Verschmutzung gekauft oder andernorts Projekte zur ökologischen Nachhaltigkeit gefördert werden. Obwohl daran per se nichts Schlechtes zu finden ist, besteht die Gefahr, dass diese räumliche Ausweichstrategie zur Dauerlösung wird. Ebenso ist dieses Vorgehen nicht universalisierbar, das bedeutet diese Option steht nicht jedem Akteur von vornherein beziehungsweise gleichzeitig offen. Obwohl die Nachhaltigkeitskonzepte mit der sogenannten Glokalität „globale [.] und lokale[.] Phänomene[.] und Entwicklungen nach dem Motto think global, act local“ (Pufé 2014: 20) – das skalenübergreifende Handeln betonen, so besteht hier doch das Risiko des Maßstabsverlustes. Dieser lehnt sich an das Phänomen der Externalisierung an, beschreibt jedoch das Phänomen, dass im Zweifel auch großmaßstäbige bis hin zu planetaren Lösungen zur Zielerreichung durchaus denkbar sind. Lange (2008: 7) konstatiert, dass beispielsweise der Gedanke der Agenda 21 als ein Kerndokument des Nachhaltigkeitsdiskurses „einen gerichteten, schnellen und tiefgreifenden Wandel ‚der Verbrauchsgewohnheiten von Industrie, Staat, Handel und Einzelpersonen‘“ fordert. Der Agenda 21 ginge es „nicht so sehr darum, die Geschwindigkeit des Zuges in die Zukunft zu verlangsamen, sondern seine Richtung zu ändern. Dieser Gedanke zu Ende gedacht,

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läuft auf nichts Geringeres als eine umfassende ‚Erdsystem-Governance‘ (Biermann 2007) hinaus – eine Zielstellung, die geradezu Schwindel erregend anspruchsvoll ist.“ (Lange 2008: 7) In der Kombination mit der zentralen Stellung von Technologie werden hier auch Vorstellungen wie die des Geo-Engineering denkbar, die jedoch aufgrund der massiven Eingriffe in die verbleibenden natürlichen Kreisläufe wiederum andere schwerwiegende Probleme mit sich brächten. In der Kombination erklärt sich auch die mangelnde Unmittelbarkeit, die auch darauf hinweisen will, dass die Nachhaltigkeit des einen – beispielsweise eines gutsituierten Mitteleuropäers – nicht mit den vermeintlich nicht-nachhaltigen Livelihoods und Überlebensstrategien eines beispielsweise unter der Armutsgrenze lebenden Bewohners im subsaharischen Afrika verglichen werden kann. Dies korrespondiert auch mit dem Punkt der Vereinheitlichung, denn trotz großer Erfolge bei der Diversifizierung der Konzepte ist ein großer Teil der Konzepte nachhaltiger Entwicklung immer noch stark Nord-Süd gerichtet. Die Einordnung von Nachhaltigkeit als eher kollektivistisch ergibt sich vor allem aus der Geschichte des Konzepts als Strategie von Staaten oder NGOs. Die gegenwartszentrierte räumliche Orientierung des Autarkiekonzepts eröffnet die mögliche Schwäche einer Ziellosigkeit. Der Fokus auf die Unmittelbarkeit kann Aufgaben, die einen langen Zeithorizont erfordern, schwer umsetzbar machen. Die betonte Ablehnung von Wiederholbarkeit, Vereinheitlichung und Planung machen Autarkie schwer instrumentalisierbar und in der vorherrschenden Struktur der politischen, ökonomischen und juristischen Systeme, die allesamt auf Permanenz ausgelegt sind, wird Autarkie darüber hinaus auch schwer implementierbar. Diese Individualisierung beziehungsweise mangelnde Übereinstimmung der jeweiligen autarken Systeme könnte dann zu einem „Klein-Klein“ führen, das die Bearbeitung von globalen Herausforderungen behindern könnte. Weiterhin wird Autarkie – teils bewusst, teils unbewusst – in vielen Diskursen als etwas „rückständiges“, „zu überwindendes“ oder „archaisches“ dargestellt. Autarkiekonzeptionen zeichnen sich durch eine kritische Betrachtung von Technologie im Sinne von Großtechnologie aus und bevorzugen sogenannte „angepasste Technologien“, wie Schumacher (1993) sie beschreibt, oder „konviviale Technologie“, wie Illich (2011) dies bezeichnet.

Besondere Problematik des „Zurück” An dieser Stelle soll eine kurze Interjektion die Schwachstellen der beiden Konzepte in Bezug auf deren Wahrnehmung und oder Fehldeutungen untersuchen. Eine besondere Problematik ergibt sich bei der Betrachtung einiger „Gegenreaktionen“ auf das von mir angesprochene gewachsene Problembewusstsein

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für Themen der Nachhaltigkeit, dem Verlangen nach Transformationsprozessen und dem Wandel im Allgemeinen.29 Wie Krugman (2020) argumentiert, gibt es eine Vielzahl von Menschen, die sich in eben jenen Strukturen und jenen Systemen eingerichtet haben, gegen die beispielsweise die Jugend von Fridays for Future marschiert. Interessanterweise formulieren sich die angesprochenen „Gegenreaktionen“ oftmals als extrem verkürzte Autarkiedebatten und nehmen dabei einen merkwürdigen Charakter des Bedürfnisses eines „Zurück“ ein, das jedoch nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich zu verstehen ist. Bauman hat dies mit dem Begriff der Retrotopie beschrieben. Diese „[…] ‚Zurück zu‘ Strömungen führen […] zurück zu Hobbes, an die Stammesfeuer, zur Ungleichheit oder in den Mutterleib“ (Bauman 2017: 202). Oftmals sind diese ein „Zurück“ zu alten und neuen Nationalismen und Regionalismen, in autoritäre Verhältnisse oder anderweitig „geschlossene“ Verhältnisse.30 In dem Bedürfnis des „Zurück“ liegt dann das Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit und Bestand. Damit sind solche Gegenreaktionen auf absolute Statik und Planbarkeit – wenngleich auch totalitärer Art – ausgerichtet und somit auch problematisch für das Nachhaltigkeitskonzept. Denn die Planung und Zielvorstellungen dieser – wie Krugman es formulieren würde – „Zombies“ sind nicht wie die der Nachhaltigkeitsdenker nach vorne, sondern in die vermeintlich „heile“ Vergangenheit gerichtet, die durch das Bedürfnis nach tiefgreifendem und umfassendem Wandel – also nach Transformation – sich unmittelbar bedroht fühlen.31 Latour (2018a) beschreibt das Phänomen, dass manche Eliten (in seinen Ausführungen vor allem die globalen Finanzeliten) heute bereits in einer anderen Welt – wie auf einem anderen Planeten – leben. Die Probleme und die Herausforderungen des Anthropozän sind für sie deswegen irrelevant, weil sie sie nicht zu erreichen vermögen. Dieses Erreichen ist dabei eher räumlich, aber ebenso merkwürdig zeitlich. Latour nennt die Orientierung dieser Eliten nicht mehr global – wobei das der gegenwärtig gebräuchliche Begriff ist, dessen Überwindung Latour sowohl fordert als auch vorwegnimmt –, sondern außererdig. Dieses Außererdige ist dabei das begriffliche Gegenstück zum Terrestrischen, also auf den Planeten gleichsam Zurückgeworfene wie Beschränkte. Sowohl räumlich – mit Villen oder Häusern an verschiedensten Orten, der Möglichkeit unbegrenzter 29 Wobei ich hier auch darauf verweisen möchte, dass besonders das Konzept der starken Nachhaltigkeit durch die starke Betonung des Gedankens des Bewahrens auch als Überbetonung von Stabilität und Sicherheit missverstanden werden könnte. 30 Hier wird der schon angesprochene extrem verkürzte und pervertierte Gebrauch des Begriffs Autarkie durch den Nationalsozialismus, die Anwendung auf das heutige Nordkorea oder durch die Ökonomie als „Höhlenmenschenzustand“, in dem Handel und Austausch noch nicht die „Segnungen“ des Fortschritts gebracht hatten, deutlich. 31 Die kurzgegriffene und polemische Rede von der „Ökodiktatur“ lässt hier grüßen.

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und unbeschränkter Mobilität, frischen und qualitativ hochwertigen Nahrungsquellen – als auch zeitlich – mit Gesundheits- und Altersvorsorge mit Wellnesscharakter, Freiheit von Zukunftsängsten, übermäßigem Profit durch neue Technologien – sind die Außererdigen längst nicht mehr an denselben Fragen interessiert wie die Terrestrischen (vgl. Latour 2018a). Ein „Zurück“ zu den alten Debatten mit ihren Fronten wie „lokal versus global“ oder „rechts versus links“ ist also bei Latour (2018a) ebenso unmöglich wie bei Bauman (2017), jedoch scheint es für die nun bekannten Krugmanschen Zombies wiederum eine erstrebenswerte Strategie, da sie den unabwendbaren Wandel wiederum als abwendbar erscheinen lässt. Interessanterweise wäre Nachhaltigkeit im rein zeitlichen Sinn in der Bedeutung von fortdauernd nämlich die genaue Verkehrung in das Gegenteil der Idee der Autarkie, die ja die beständige Anpassung fordert und somit Planung – zumindest langfristiger und eher totalitaristisch32 orientierter Planung – vollkommen gegenübersteht. Ansonsten droht die mangelnde Rechtfertigung von Konzepten der nachhaltigen Entwicklung der (gegenwärtigen) Mitwelt gegenüber zu Gunsten eines immer wiederkehrenden Verweises auf die Zukunft. Autarkie im Sinne einer nur räumlichen Betrachtung verliert die Erhaltung der Mitwelt aus den Augen und öffnet Egoismen und der Übergriffigkeit auf andere Tür und Tor, da sie der Forderung der Rechtfertigung gegenüber anderem (räumlich) oder künftigem Leben (zeitlich) völlig unempfänglich wäre. Oder, um es mit Sloterdijk (2005: 412) auszudrücken, es muss gelingen, „[…] die Semantik des Eigeninteresses und der Selbstpräferenz mit der Semantik der Freiheit für anderes und des Etwas-zu-geben-Habens zum Ausgleich […]“ zu bringen. Somit muss den Vertretern der jeweiligen Konzepte – Autarkie oder Nachhaltigkeit – dieses Potential der Perversion immer bewusst sein. Ein „immer mehr“ an Nachhaltigkeit oder Autarkie führt nicht auf einer geraden Linie in eine Richtung „besser“, sondern an bestimmten Punkten drohen diese auf merkwürdige Art in ihr Gegenteil verkehrt zu werden und bewegen sich in die Richtung „schlechter“. Auf diese Gefahr hinzuweisen war die Intention dieser Interjektion.

32 Dies wird besonders beim Technologieverständnis deutlich. Im Sinne von Scott (1998) bilden Planung (insbesondere in Form von Raumordnung und State-Building) als konstitutive Elemente der Moderne und des Projekts der Moderne auch den totalitären Anspruch des Staates gegenüber „seinem“ Raum und den Individuen in diesem Raum.

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Ergänzung der Begriffe Wie lassen sich nun die beiden Konzepte Nachhaltigkeit und Autarkie dergestalt ergänzen, dass die kombinierte Betrachtung neue Perspektiven auf die Herausforderungen des Anthropozän ermöglicht? In einem ersten Schritt will ich anhand jeweils eines Beispiels verdeutlichen, wie diese von mir identifizierten Schwachstellen innerhalb der jeweiligen Konzepte aufgedeckt und zu „beheben“ oder „heilen“ versucht werden. Sogenannte integrative Nachhaltigkeitskonzepte wie das von Jörissen et al. (1999) vorgeschlagene „Integrative Nachhaltigkeitskonzept der Helmholtz-Gemeinschaft“ versuchen, über die Schwachstellen des bestehenden Nachhaltigkeitsbegriffs hinauszugehen. Dabei spielt einmal mehr auch der Konflikt zwischen Säulen und Dimensionen eine bedeutende Rolle, der im Wesentlichen der Konflikt zwischen schwacher und starker Nachhaltigkeit ist. Dieser konstitutive Bruch wird als kontrovers empfunden. Durch ein „ganzheitliches und integratives Verständnis von nachhaltiger Entwicklung“ (Jörissen et al. 1999) werden generelle Ziele formuliert, die dieses Verständnis ergänzen sollen. Diese generellen Ziele sind (Jörissen et al. 1999; Schultz et al. 2008): – Sicherung der menschlichen Existenz – Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotentials – Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten Aus diesen generellen Zielen werden dann substantielle und instrumentelle Regeln abgeleitet, die ich nur unvollständig aufzähle (Jörissen et al. 1999): – Selbständige Existenzsicherung – Internalisierung externer sozialer und ökologischer Kosten – Reflexivität der Gesellschaft – Resonanzfähigkeit der Gesellschaft – Steuerungsfähigkeit – Selbstorganisation Diese eher auf das hic et nunc, das Leibliche, die räumliche Dimension ausgerichteten Ziele und Regeln sind meiner Auffassung nach dem Sinn, nicht dem Wort33, nach gleichzusetzen mit wesentlichen Begriffen meiner Autarkiekonzeption. Das Bedürfnis einen „fix“, also eine Lösung für bestehende Lücken im Konzept der nachhaltigen Entwicklung zu präsentieren, ist klar zu erkennen.

33 Wobei einige der Begriffe auch dem Wort nach identisch oder sehr ähnlich sind. So verwende ich die Begriffe (Selbst-)Reflexion, (Selbst-)Erhaltung, (Selbst)-Begrenzung und (Selbst-) Organisation.

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Auch das Bedürfnis eines neuen Verhältnisses und neuer Positionierung zur Zeitlichkeit ist auf der anderen Seite bei den Konzeptionen von Autarkie zu „verorten“. Hierbei sei jedoch gesagt, dass diese Autarkie hierbei in einem ökonomischen Verständnis als Selbstversorgung und Unabhängigkeit von Importen verstanden wird. Autarkie wird also als geschlossenes System betrachtet. Aufgrund dieser Tatsache und des Fakts, dass es bisher kein „aktualisiertes“ Begriffsverständnis von Autarkie gibt, das die unterschiedlichen Bedeutungen einbezieht, sind die historischen Beispiele meist sehr stark ideologisch überprägt. Die am ehesten an materieller beziehungsweise ökonomischer Unabhängigkeit orientierten Beispiele von Autarkie sehen durchaus explizit Planungen auf die Zukunft hin vor. Am Beispiel der Autarkie im Ernährungsbereich, also der Nahrungsmittelsouveränität lässt sich dies historisch gut nachvollziehen (so z. B. Lawo 1984). So haben – ironischerweise34 – zentralistisch gelenkte Staaten über Mehrjahrespläne versucht, Autarkie zu „steigern“ beziehungsweise „auszubauen“. Durch Planvorgaben wie zum Einsatz von Düngemitteln, Arbeitskräften, Bioziden oder der Zuteilung von Forschungsgeldern zu Pflanzenzuchtprogrammen sollte Autarkie zu einem planbaren Zielzustand mit zeitlich prüfbaren quantitativen Zielvorgaben gemacht werden. Dazu gibt es mehrere historische Beispiele wie Indien nach der Unabhängigkeit unter Nehru (vgl. Panagariya 2004: 2–5), Spanien im Franquismus (vgl. Gorostiza, Cerdà 2016) oder die ehemalige Sowjetunion (vgl. Broner 1976). Einer der wenigen Fälle, in dem auch heute noch nach diesem Muster vorgegangen wird, ist das Beispiel Nordkorea mit der sogenannten Juche-Ideologie. Neben dem Versuch einer internen Erweiterung können die beiden Konzepte Autarkie und Nachhaltigkeit jedoch auch in Ergänzung betrachtet werden. Dies erscheint mir deshalb besonders sinnvoll, da die jeweiligen Versuche der internen Bearbeitung teilweise die ursprünglichen Stärken in zu großem Maße zu beinträchtigen scheinen.35 Wie in Tabelle 1 ersichtlich wird, sind die Schwächen und Stärken von nachhaltiger Entwicklung und Autarkie teilweise dergestalt, dass sie einander komplementär ergänzen könnten.

34 Ironisch deshalb, weil Autarkie in meinem vorgestellten Verständnis eine dezidiert dezentrale Perspektive vertritt und den Nationalstaat als „Ort“ für Autarkie als vollkommen ungeeignet bis gefährlich betrachtet. Hier sei nur in aller Kürze auf die verheerenden Folgen eines zentralistisch-nationalistischen Autarkieverständnisses durch die Autarkiepolitik des Nationalsozialismus hingewiesen. 35 Dazu habe ich im vorigen Abschnitt zur Gefahr des „Zurück“ Stellung genommen. Im übrigen war es auch Popper, der mit seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (2003a) sowie „Das Elend des Historizismus“ (2003b) das „Zurück“ bereits bei Platon scharf kritisiert hat, obwohl diese Kritik in vielerlei Hinsicht nicht zutreffend ist, denn Platon wollte kein „Zurück“ im Sinne eines zurück in die Vergangenheit, die vermeintlich gute Zeit, sondern ein Zurück in die Zukunft, die aus der Vergangenheit lernt.

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So wurden als mögliche Schwächen von Nachhaltigkeitskonzepten deren Statik, Externalisierung, mangelnde Unmittelbarkeit und Maßstabsverlust zugunsten von großen Lösungen aufgeführt. Die potentiellen Stärken der Autarkie liegen gerade in ihrer aus der leiblichen und gegenwartsorientierten Perspektive resultierenden Fähigkeit der Internalisierung durch ihren (Selbst-)Bezug, die daraus resultierende Unmittelbarkeit sowie ihre hohe Dynamik. Auch bei der Frage nach dem richtigen Maß beziehungsweise der richtigen Skalenebene bei der Betrachtung von Problemen kann Nachhaltigkeit von dem eher individualistisch und vom lokalen her Gedachten der Autarkie profitieren. Die besonderen Schwächen der Autarkiekonzepte werden komplementär ergänzt von den Stärken der Nachhaltigkeitskonzeptionen. Die konkreten und im Laufe der Jahrzehnte verfeinerten Handlungsstrategien, wie beispielsweise die Implementierung von lokalen Agenda-Gruppen, bieten ebenso Vorteile wie die Wahrnehmung und die rein begriffliche Bekanntheit, denn Autarkie kämpft sowohl mit der Wahrnehmung als „rückständig“ als auch mit der bloßen Unbekanntheit jenseits akademisch gut vorgebildeter Kreise.36 Aus den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass die Ergänzungsmöglichkeiten der beiden Konzepte vielfältig sind. Dabei sind meines Erachtens diese gegenseitigen Ergänzungen dem stetigen Inkorporieren von Alternativen in die jeweilig einzelnen Konzepte und damit einer Zunahme an Unschärfe vorzuziehen. Dies wäre auch im Sinne einer Pluralität von Theorien und Herangehensweisen.

Reflexion In Form einer (Selbst-)Reflexion sollen im Folgenden die wesentlichen methodischen, inhaltlichen und begrifflichen Schwierigkeiten der angestellten Betrachtung (selbst-)kritisch betrachtet werden. Das Sprichwort „Gut Ding will Weile haben“ zeigt, dass alle Transformation oder Veränderung per Definitionem (Wechsel von Zustand A zu Zustand B) Zeit benötigt. Ebenso gilt die Tatsache, dass wir in einer Raum-Zeit existieren, womit jeder mögliche Zustand A oder B oder X auch eine räumliche Dimension haben muss. Wir sind als Menschen leibliche Wesen und unsere Leiblichkeit37 bedeutet 36 Selbst bei „akademisch vorbelasteten“ Personen ist Autarkie oftmals kein bekannter Begriff. Wenn, dann sind meist Assoziationen zu Bereichen wie „Energieautarkie“ oder der „Autarkiepolitik“ dominant. Diese Erfahrung habe ich auf einigen Veranstaltungen gemacht, auf denen ich Seminar- oder Konferenzteilnehmern immer wieder nach ihrem Verständnis des Autarkiebegriffs frage. 37 Zum Verständnis des Begriffs „Leib“ und seinen zahlreichen Implikationen siehe Böhme (2019).

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zugleich zwangsläufig eine räumliche Extension. Wenn ich also bisher zwischen Zeitlichkeit und Räumlichkeit unterschieden habe, ist mir wohl bewusst, dass dies keine Abwesenheit oder Negation des jeweils anderen bedeutet, sondern lediglich eine unterschiedliche Akzentuierung. Daneben lässt sich sicherlich auch feststellen, dass die intensiven Debatten und Diskurse im Bereich Nachhaltigkeit bereits zu Veränderungen in Politik, Ökonomie und Gesellschaft geführt haben. Andere gewünschte und in vielen Nachhaltigkeitsdiskursen geforderte Entwicklungen blieben aus oder verlaufen sogar gegenläufig. So ist die Zahl der zugelassenen PKW beispielsweise im Jahr 2019 auf einen Höchststand geklettert und besonders die großen und ökologisch keineswegs nachhaltigen Sport Utility Vehicles (SUVs) waren weit überdurchschnittlich gefragt, wobei gleichzeitig der Anteil der Elektrofahrzeuge bei unter einem Prozent verweilt (Kraftfahrtbundesamt 2020). Mein Vorschlag war es, Autarkie und Nachhaltigkeit miteinander zu vergleichen und Autarkie als Nachhaltigkeit im Raum und Nachhaltigkeit als Autarkie in der Zeit miteinander konstruktiv-kritisch in Dialog zu bringen. Es hat sich gezeigt, dass beide Konzepte die gleichen Grundthemen behandeln. Des Weiteren ist ersichtlich geworden, dass besonders in den Dimensionen Zeit beziehungsweise Raum jeweils Schwachstellen beziehungsweise Lücken vorzufinden sind. Ebenso habe ich herausgearbeitet, dass in den jeweiligen Konzepten „intern“ diese Schwachstellen – auf vermutlich anderem Wege – identifiziert wurden und es gewisse Bearbeitungsstrategien gibt, die wiederum der Art und Weise geschuldet sind, wie die Konzeptionen grundsätzlich „gestrickt“ sind. Im Feld der Nachhaltigkeit wird versucht, durch sogenannte „integrativen Konzepte“ die Lücken zu schließen, im Bereich Autarkie wird versucht, durch „philosophisches Mäandern38“ weitere Impulse einzufangen. Dabei sind beide umfangreiche Unterfangen. Der Brückenschlag zwischen Nachhaltigkeit und Autarkie, der sich daraus ergibt, könnte aber auch eine statisch wenig belastbare Brücke hervorbringen. Daher würde ich, wie zu Beginn meines Aufsatzes ausgeführt, dafür plädieren, nicht eine „Inkorporation“ des jeweils anderen anzustreben, also nicht den Weg eines sich immer mehr „aufblähenden“ und „immunisierenden“ Ideenkomplexes zu machen. Dabei sollte es nicht das Ziel sein, Konzepte scheinbar „unangreifbar“, „allumfassend“ oder „universell“ einsetzbar zu machen. Vielmehr sollte die Chance genutzt werden, die Gemeinsamkeiten und Ergänzungsmöglichkeiten zu identifizieren, sich der eigenen Schwächen und Stärken des jeweiligen Theoriegebildes zu vergewissern und dann im Sinne von Pluralität zu lernen, sich auf das jeweils andere Konzept 38 Damit meine ich hier das eher intuitive Verhalten, nachempfunden der natürlichen Bewegungen von Fließgewässern, sich stets neue Wege zu suchen in Abhängigkeit von Topographie, Untergrund etc.

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einzulassen. Aus diesem Sich-Einlassen-Aufeinander kann dann ein konstruktiv-kritischer Dialog folgen, der unsere Perspektiven sowie Handlungsmöglichkeiten vermehrt und nicht reduziert. Autarkie als Nachhaltigkeit im Raum und Nachhaltigkeit als Autarkie in der Zeit müssen zusammen gedacht werden, um diesen Erkenntniszuwachs zu ermöglichen.

Ausblick Mit der Feststellung, dass die Diskussionen im Bereich Nachhaltigkeit und Autarkie im Wesentlichen dieselben Themen aufgreifen und dieselben Ideen umkreisen, stehen beide Konzepte inhaltlich nahe beisammen. Dabei sind diese jedoch keineswegs als Synonyme zu betrachten. Vielmehr lassen sie sich als fruchtbare Ergänzungen beschreiben, die die jeweiligen Schwachstellen zu stützen vermögen. Angesichts der Tatsache, dass trotz jahrzehntelanger Arbeit an Nachhaltigkeitskonzepten und entsprechenden Transformationsbemühungen wesentliche Probleme auf allen Maßstabsebenen – sowohl räumlich als auch zeitlich – noch ungelöst sind, sowie aufgrund der immer stärker zunehmenden ideologischen „Abwehrbemühungen39“ gegen jene Transformationen, erscheint es mir notwendig und dennoch vermutlich nicht hinreichend, die hegemoniale Stellung des Nachhaltigkeitsbegriffs positiv aufzulösen. Eine solche positive Auflösung kann nur in einem Plädoyer für Vielfalt und Offenheit erfolgen, wenn der Konsens zumindest im wissenschaftlichen Diskurs besteht, dass gerade Vereinheitlichung und allzu „anspruchslose“ Alternativen eines „Weiter-So“ zu dem Zustand geführt haben, der heute Kinder und Jugendliche an vielen Orten der Welt freitags auf die Straßen treibt, um für sich eine lebenswerte Zukunft (zeitlich) auf unserem Planeten (räumlich) einzufordern. Wie ich versucht habe aufzuzeigen, lohnt sich eine intensive (Neu-)Beschäftigung mit dem Autarkiebegriff heute mehr denn je. Im Angesicht der bevorstehenden Transformationsprozesse im Anthropozän, wie etwa Digitalisierung oder künstliche Intelligenz, könnten die vielen Nachhaltigkeitsdiskurse von den tiefen Wurzeln des Autarkiebegriffs und umgekehrt der Autarkiebegriff von den zahlreichen Früchten der sehr intensiven rezenten Nachhaltigkeitsdiskurse und Nachhaltigkeitsbemühungen profitieren. Ein gemeinsamer Stamm – um im Bilde zu bleiben – müsste vermutlich jenseits der wissenschaftlichen Beschäftigung von uns allen gemeinsam herausgebildet werden. Wenn uns dies nicht gelingt, so können wir zumindest versichert sein, dass die Natur als solche 39 Diese Abwehrbemühungen reichen von Leugnen wissenschaftlicher Erkenntnis wie dem Klimawandel bis zu neu befeuerten Nationalismen wie beispielsweise dem sogenannten Brexit.

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nachhaltig sein und als Ganzes ihre Autarkie nicht verlieren wird. Wenn nicht in der bildlichen Vorstellung als Baum, dann sicherlich durch andere Formen des Lebens, wie dies zuletzt Lowenhaupt-Tsing (2017) wissenschaftlich und intellektuell erfrischend und erkenntnisreich beschrieben hat in der Figur des Pilzes am Ende der Welt auf den Ruinen des Kapitalismus. Mit Fromm (und vor ihm Kant) dürfen wir hoffen, hoffen zu dürfen, dass es uns Anthropoi gelingen wird, den existentiellen Herausforderungen der Menschheit im Anthropozän (und darüber hinaus) für unsere Um- und Mitwelt im Sinne einer gleichberechtigten Ergänzung von Nachhaltigkeit und Autarkie in Vielfalt zu begegnen.

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Madeleine Hugai

Wie nachhaltig ist die Gaia-Theorie nach James Lovelock? Eine philosophische Betrachtung

Einleitung Eine Untersuchung des Beitrags der holistischen Umweltethik zur Entwicklung der Nachhaltigkeit führt unweigerlich zur Gaia-Theorie Lovelocks, die im Metier holistischer Theorien zum Umweltschutz einen populären Platz einnimmt. Die Gaia-Hypothese ist stark naturwissenschaftlich orientiert. Sie befürwortet die fortschreitende Technologisierung und beschreibt das eigenständige Bewusstsein von Gaia – dem Lebewesen Erde, das bestrebt ist, mit der Unterstützung des technologischen Fortschritts, das Ziel einer kosmischen Selbsterkenntnis zu erreichen (Lovelock 2019). Obwohl Lovelocks Überlegungen in der Öffentlichkeit stark rezipiert werden und interessante Ideen aufbringen, möchte dieser Beitrag aufzeigen, warum die Gaia-Theorie dennoch nicht den erforderlichen Kriterien einer angemessenen Definition von Nachhaltigkeit nachkommt. Denn Lovelocks funktionale Betrachtung ist nicht fähig, philosophisch gültige Aussagen zu treffen, wenn man – wie hier beschrieben – davon ausgeht, dass sich der Nachhaltigkeitsbegriff auf den Schutz einer ökologischen und sozialen Umwelt bezieht, die nicht lediglich durch physikalische Prozesse bestimmt werden kann, sondern auch einen qualitativen Innenraum besitzt (Nagel 1974; Soentgen 2018; Voigt 2019). Dies wirkt sich in Folge negativ auf den Anteil aus, den diese Theorie zur Schärfung des Begriffs der Nachhaltigkeit beisteuern kann. Dafür soll zunächst der Begriff der Nachhaltigkeit, wie ich ihn für diesen Beitrag voraussetzen möchte, näher erläutert werden. Anschließend folgt eine kurze Darstellung der Gaia-Hypothese, auf deren Grundlage die Argumente vorgetragen werden. Diese sollen begründen, warum Lovelocks Ansatz der Auffassung von Nachhaltigkeit, zu welcher wir aktuell gelangen sollten, nicht nachkommen kann.

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Zum Begriff der Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit wird im wissenschaftlichen Diskurs sehr vielfältig definiert und die Forschung in diesem Bereich ist längst nicht abgeschlossen. Da die Wirkmächtigkeit bisheriger Modelle und Theorien überschaubar ist, soll der Begriff hier nach aktuellen Erkenntnissen in einer Variante zugrunde gelegt werden, die eine philosophische Bewertung einbezieht und wie sie zum Beispiel von Vogt in seiner Habilitation diskutiert wird. „Der revolutionäre Anspruch des Nachhaltigkeitskonzepts, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu begründen, kann nur eingelöst werden, wenn man sich über die formalen Bestimmungen hinaus auf die komplexen Fragen nach seinem ethischen Strategiekern einlässt.“ (Vogt 2013:133)

Vogt kritisiert, dass normative und metaphysische Aspekte in der Nachhaltigkeitsforschung, die weitgehend durch die Naturwissenschaften bestimmt ist, oftmals vernachlässigt werden und dass ein funktionales Bild der Natur gezeichnet wird (Vogt 2013:219)1. Daher soll in diesem Beitrag der philosophische Blickwinkel – insbesondere auch unter Einbezug ontologischer und erkenntnistheoretischer Aspekte aus der Philosophie des Geistes – miteinbezogen werden, dessen Rolle innerhalb der Naturethik und folglich bei der Entwicklung nachhaltiger Lebenswelten zum Tragen kommt. Im weiteren Sinn orientiert sich diese Abhandlung außerdem am Terminus der Nachhaltigkeit als Handlung oder Prozess, als „fortdauernd[es] [G]ewähren“ im Sinne einer „Nutzung“ und einem „aktive[n], planende[n] Sorgen für künftige Bedarfe“ (Soentgen 2016:118–119; von Carlowitz 2000:106–111; Weber 1838:382). Daneben wird „Nachhalten“, das den Kreislauf von Anbau und Ernte meint, von der Bezeichnung des „Vorhalten[s]“ unterschieden, das sich eher auf eine reine „Vorratsbewirtschaftung“ bezieht (Soentgen 2016:118; von Carlowitz 2000:106–111). Zudem orientiere ich mich, statt an den bekannten Bezeichnungen der „starken“ und „schwachen“ Nachhaltigkeit nach Konrad Ott und Ralf Döring (Ott, Döring 2008), vielmehr an einem „mittleren“ Begriff der Nachhaltigkeit, wie ihn Vogt nach Ulrich Körtner vorschlägt: „Sie [die mittlere Nachhaltigkeit; Anm. d. Verf.] zielt auf eine Erhaltung der Funktionsfähigkeit und Tragekapazität ökologischer Systeme, berücksichtigt aber neben produktiven Naturfunktionen auch beispielsweise kulturell-symbolische. Das Konzept der mittleren Nachhaltigkeit basiert auf einem dynamischen Naturbegriff, der die kulturelle Evolution des Menschen mit einbezieht.“ (Körtner 2002:21; zit. in: Vogt 2013:136) 1 Ähnliche Ansichten werden vertreten von Reis (2003:91), Sachs (1994:95–96) und Rink et al. (2004:12, 26–30).

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Der Nachhaltigkeitsbegriff soll auf der Grundlage bereits existenter Definitionen hier ganz bewusst nur spärlich skizziert werden. Da sich diese Begriffsbestimmungen vordergründig auf natur- und sozialwissenschaftliche Größen beziehen, betrachte ich dies als notwendig, um Raum zu lassen für eine Entfaltung des philosophischen Gehalts der Nachhaltigkeitsidee.

Nachhaltigkeit in Lovelocks Gaia-Theorie In aller Kürze lässt sich Lovelocks Theorie als holistischer Ansatz beschreiben, der in seinen Grundzügen einen funktionalistischen Weg einschlägt. Der Fokus liegt auf physischen2 Prozessen, während qualitative Eigenschaften zweitrangig behandelt werden. Konkret spiegelt sich diese Behauptung in Lovelocks Affinität zur Technologie, in seiner Betrachtung der Erde als physikalisches System und in seinem besonderen Vergleich von Mensch und Erde wider. Die nachstehenden Argumente sollen nun zeigen, warum Lovelocks GaiaTheorie im Detail keinen relevanten Beitrag zur Nachhaltigkeitsdiskussion leisten kann.

1.

Lovelocks Darstellung des technologischen Fortschritts als Allheilmittel ist falsch.

Als erstes möchte ich erläutern, welcher Stellenwert dem Aspekt der Technologie in der Gaia-Theorie zukommt und darstellen, wie sich dieser Sachverhalt auf den Begriff der Nachhaltigkeit auswirkt. Lovelock geht davon aus, dass moderne technologische Innovationen die durch den Menschen verursachten Schäden an der Umwelt ausgleichen oder reduzieren und somit ein umweltfreundliches Wirtschaften und Leben ermöglichen können (Lovelock 2016:105–114). Im Jahr 1979 prophezeite er, dass im Zuge der Etablierung von Massenmedien mehr Menschen Zugang zu umwelt-

2 „Physisch“ wird hier als Eigenschaft von Zuständen oder Prozessen begriffen, mit dem sich die Naturwissenschaften, respektive die Physik, beschäftigen. Es wird synonym zum Begriff „physikalisch“ verwendet. In der englischsprachigen Literatur wird bedeutungsgleich das Wort „physical“ verwendet: „Physicalism is the thesis that everything is physical, or as contemporary philosophers sometimes put it, that everything supervenes on the physical. […] The general idea is that the nature of the actual world (i. e. the universe and everything in it) conforms to a certain condition, the condition of being physical. Of course, physicalists don’t deny that the world might contain many items that at first glance don’t seem physical — items of a biological, or psychological, or moral, or social nature. But they insist nevertheless that at the end of the day such items are either physical or supervene on the physical.“ (Stoljar 2017)

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relevanten Informationen haben würden und folglich eine Annäherung an die Natur stattfinden könne: „[…] television will soon provide everyone with a window on the world. […] Let us hope that this alienation is coming to an end and that the many splendid natural-history and wild-life films shown on television may help to dispel it.“ (Lovelock 2016:127)

Weiterhin wird Atomkraft als sinnvoller Ersatz für Energie aus fossilen Brennstoffen betrachtet. In Lovelocks aktuellem Werk „Novacene“ (Lovelock 2019) treibt er seine Technikaffinität auf die Spitze, indem er eine Zukunftsvision zeichnet, in welcher Cyborgs den Menschen in seiner Existenz als herrschendes Wesen ablösen und aufgrund ihrer dem Menschen überlegenen Vernunft und Intelligenz die Erde retten werden. Obwohl die Hoffnung auf eine Lösung der Umweltproblematik durch technologischen Fortschritt zunächst berechtigt wirkt, können folgende Aspekte dagegen angeführt werden: a) Während Lovelock die moderne Technologie als Ausweg aus der Umweltkrise sieht, wird zur selben Zeit, unter anderem im Bericht des Club of Rome und im Bericht „Global 2000“ dargelegt, dass Technologie allein die Folgen der Zerstörung der Natur nicht auffangen kann, ja diese unter Umständen sogar noch verschlimmert (Grunwald, Kopfmüller 2012:20). Beispielsweise kommt es zum sogenannten Rebound-Effekt, der vor allem auch in Bezug auf einen reflektierten Umgang mit Technologie eine große Rolle spielt. Dieser Bumerangeffek führt dazu, dass eine erhöhte Nachfrage nach Produkten aus nachhaltiger Herstellung und stetiges Wirtschaftswachstum letztendlich zu einem höheren Ressourcenverbrauch führen. Eine neue und ressourcenschonende Technik verfehlt somit ihre Wirkung, wenn Hersteller in Folge der Kostenersparung sowie aufgrund höherer Nachfrage, die durch politische Einwirkung oder durch entsprechende Marketinganreize beim Konsumenten erwirkt wurde, mehr produzieren (von Weizsäcker et al. 2010:289). So kann auch die Nutzung innovativer Technologien zu einem enormen Mehrverbrauch an Energie und anderen natürlichen Rohstoffen führen. Dieses in der Folge destruktive Verhalten ist mitunter auf ein falsches und einseitiges Naturverständnis zurückzuführen, nach welchem lediglich physikalische Wirkungszusammenhänge betrachtet und ethische sowie metaphysische Fragen ausgeklammert werden (Woyke 2013:79). Vor allem die von Lovelock favorisierte Computertechnologie verbraucht eine steigende Anzahl spezifischer Metalle, wie etwa der Seltenen Erden, deren Vorkommen räumlich und quantitativ sehr begrenzt ist. Der Abbau und die Aufbereitung dieser Rohstoffe sind mit hohem Aufwand verbunden, da sie zumeist verstreut, in geringer Ansammlung und in Verbindung mit anderen Elementen vorkommen. Zudem werden bei der Förderung häufig auch radioaktive Elemente freigesetzt (Marschall, Holdinghausen 2017:12–20). Ähnlich umstritten ist der Einsatz von

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Atomkraft. Dieser wird in der Gaia-Theorie befürwortet, ohne die weitreichenden Folgen eines flächendeckenden Einsatzes für zukünftige Generationen, wie zum Beispiel die ungeklärte Entsorgung des radioaktiven Abfalls, zu bedenken (Whipple 2018). Auch aufgrund der Endlichkeit ihrer Ressourcen kann die Kernenergie nicht als regenerativ verstanden werden. Obwohl sie als klimaneutral gilt, da sie als Ersatz für fossile Energieträger den CO2-Ausstoß verringert, ist sie jedoch, genau wie die Nutzung der Seltenerdmetalle, nicht umweltfreundlich und nicht nachhaltig, da hier die Folgen für Mensch und Umwelt, die sich aus dem Abbau von Uran und der Entsorgung der nicht nutzbaren radioaktiven Stoffe ergeben, nicht berücksichtigt werden. b) Des Weiteren kann das Versprechen innovativer Technologie nicht eingelöst werden, wenn die Bereitschaft einer der Nachhaltigkeit dienenden Nutzung (noch) nicht vorhanden ist. Ohne Frage können technologische Entwicklungen durch eine philosophische, anti-reduktionistische Reflektion in Bezug auf die Einschätzung der Möglichkeiten in der Technologie präzisiert werden und somit zu einem besseren Verständnis für die Notwendigkeit nachhaltiger Prozesse beitragen (Woyke 2013:77–78). Die Endlichkeit oder zumindest lange Entstehungszeit natürlicher Ressourcen sowie die ebenso eher langsame geistige Entwicklung des Menschen stehen dem rasanten technologischen Fortschritt unserer Zeit gegenüber. Hartmut Rosa spricht dabei von einer „Desynchronisation“ der heutigen Gesellschaft. Diese Behauptung beruht unter anderem auf der Tatsache, dass sich materielle Prozesse, wie zum Beispiel der Rohstoffverbrauch in der Industrie, immens beschleunigen lassen, die Regeneration der Natur, die diese Rohstoffe zur Verfügung stellt, ist dagegen nur in beschränktem Ausmaß zu beeinflussen. Eine stetig wachsende Wirtschaft mit schneller werdenden Produktionsabläufen, welche immer mehr Rohstoffe verbrauchen, steht somit der langsamen Entstehung oder dem gänzlichen Verschwinden natürlicher Rohstoffe und „psychischer Ressourcen“3 entgegen. In Folge kommt es zu einer Desynchronisation der menschlichen „Seele“ oder „Psyche“. Diese geht einher mit der Angst des Menschen vor den Auswirkungen der zunehmenden Rationalisierung und Technisierung der weltlichen Gegebenheiten. Umso mehr der Mensch seine äußere Umgebung mit ihren Lebewesen ausbeutet, desto mehr schwelt auch die Angst vor den schweren, unumkehrbaren Folgen, die diese machtergreifende Übernahme nach sich ziehen könnte, so Rosa (2018:124).

3 Unter „psychischen Ressourcen“ verstehe ich die „psychologischen Einflussfaktoren“, die „für eine Orientierung an immateriellen Zufriedenheitsquellen und nachhaltigen Lebensstilen“ notwendig sind, wie sie von Marcel Hunecke in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kulturelle Erneuerung (ehem. Stiftung Denkwerk Zukunft) benannt wurden (Hunecke 2013:7). Dazu zählen vor allem die „Genussfähigkeit“, die „Selbstakzeptanz“, die „Selbstwirksamkeit“, die „Achtsamkeit“, die „Sinngebung“ und die „Solidarität“ (Stiftung Kulturelle Erneuerung 2017).

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Dies kann am Beispiel der Digitalisierung noch verdeutlicht werden: Auch wenn die Digitalisierung eine Vielzahl an positiven Effekten mit sich gebracht hat, ist bekannt, dass allein durch das Vorhandensein von Informationstechnologie keine nachhaltigen Praktiken verwirklicht werden. Ein Schlüssel zum Erfolg könnte in der Ausarbeitung und dem Erlernen von Werten und Normen in Bezug auf einen der Umwelt dienenden Umgang mit der Vielzahl an Informationen zu finden sein. Moralität in der Handhabung persönlicher Informationen und eine angemessene Bewertung und Einschätzung medialer Inhalte, die pausenlos auf den Menschen einwirken, sind nur einige der Fähigkeiten, die es zu erlernen gilt. Die digitale Entwicklung hat nicht, wie von Lovelock prophezeit, zu einer Annäherung an die natürliche Umwelt, sondern im Gegenteil eher zu einer zunehmenden Entfremdung oder, nach Max Weber, zu einer „Entzauberung der Welt“ (Weber 1919:488), beigetragen, indem die künstliche virtuelle Welt die natürliche reale Existenz als Hauptbezugspunkt abgelöst hat (Rosa 2018:125).

2.

Gaias Identität ist unklar, da Lovelocks Definition der Erde nicht greifbar ist.

Als zweites Argument soll die Schlüssigkeit von Lovelocks Beschreibung und Bewertung der Erde als Gaia untersucht werden. Dadurch soll belegt werden, dass in dieser Darstellung der Bezug zum aktuellen Verständnis von Nachhaltigkeit nicht gelingt. In der Gaia-Theorie wird die äußere natürliche Umwelt des Menschen aufgeteilt in die Vorgänge der Natur und die Vorgänge von Gaia, welche als „the largest living creature on Earth“ bezeichnet wird (Lovelock 2016:31). Sie wird beschrieben als eine „Verteilung [von Molekülen; Anm. d. Verf.], die sich ausreichend vom Hintergrund abhebt, um als Einheit erkennbar zu sein“ (Lovelock 1984:57). Weiterhin orientiert sich Lovelocks Betrachtungsweise der Erde als kybernetisches System stark an technischen Zusammenhängen und ist als naturwissenschaftlich zu betrachten (Lovelock 1993; Lovelock 2016). Ferner sind „das Klima, die chemische Zusammensetzung und die Topographie der Erde“ als Bauteile Gaias zu verstehen (Lovelock 1984:95). Pflanzen und Tiere tragen lediglich dazu bei, dass diese Bauteile im Stande sind, ihre Funktion auszuführen (Lovelock 1984:95). Der Subjektivität einzelner Lebewesen wird hingegen wenig Aufmerksamkeit geschenkt: „The only difference between non-living and living systems is in the scale of their intricacy […]“ (Lovelock 2016:58). Außerdem heißt es: „It seems almost as if our galaxy were a giant warehouse containing the spare parts needed for life“ (Lovelock 2016:13). In dieser funktionalen und holistischen Anschauung wird eine Objektivität suggeriert, die so nicht existieren kann. Ein vom übrigen Leben losgelöstes Bild

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der Erde scheint kontraintuitiv, denn es gibt keine zwingenden Gründe für die Annahme, dass die Eigenschaften eines Gegenstands (hier: der Erde) ohne eine subjektive Färbung durch den Betrachter dargestellt werden können. Zwar wird der Aspekt der Perspektive berücksichtigt, indem vom „besonderen Charakter“ und von der „besonderen Perspektive“ des Menschen auf die Erde die Rede ist (Clark 1997:160), jedoch zieht Lovelock daraus keine eindeutigen Konsequenzen für seine Denkweise. Obwohl er den Anspruch hat, Gaia als eigenständiges Subjekt zu identifizieren, ist zudem unklar, wo genau der Schnitt zu setzen ist, der die Erde von der Natur abgrenzt. Und selbst wenn Lovelock die Erde als physikalisches System mit irgendeiner Art von Bewusstsein beschreibt, bleibt es fraglich, wer oder was Gaia letztendlich sein soll. Konsequenterweise zielt die Gaia-Theorie nicht auf das Überleben des Menschen und auch nicht auf das Fortdauern seiner natürlichen Umwelt ab. Ziel ist das Überleben der Erde als Lebewesen, auch wenn dies lediglich unter der Herrschaft von Cyborgs gelingen kann (Lovelock 2019). Ein vernünftiges, planvolles Handeln unter dem Vorsatz der Nachhaltigkeit geschieht jedoch immer – zumindest aktuell – durch den Menschen und aus dessen Perspektive: Es ist somit anthropozentrisch. Hier wird eine Schwäche aufgedeckt, die im Grunde alle holistischen Denkansätze betrifft: Selbst wenn die Konzentration sich innerhalb der Theorie nicht auf den Menschen als Bezugspunkt richtet, ist es, trotz alldem, dieser, der diesen Ansatz entwickelt hat und ihm damit seine notwendigerweise subjektiv-menschliche Perspektive verleiht. Das Konzept der Nachhaltigkeit wurde durch den Menschen gedacht und findet auf einer Erde ohne Menschen, regiert von Cyborgs, letztlich keine Anwendung. Für die weitere Existenz der Erde ist ein Vorhandensein des Menschen, der Tiere und der Pflanzen (wie wir sie heute kennen) vielleicht nicht notwendig. Ob die Rettung der Erde um jeden Preis jedoch als oberstes moralisches Prinzip einer Theorie gelten kann, welche die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung anstrebt, ist zu bezweifeln. Denn eine solche Vision wirkt weder handlungsmotivierend noch ist eine allgemeine Anerkennung zu erwarten.

3.

Lovelocks Betrachtung der Mensch-Erde-Beziehung ist widersprüchlich.

An eben ausgeführtes Argument lässt sich direkt anschließen mit der fraglichen Gleichsetzung der körperlichen Vorgänge im Menschen mit den physikalischen Prozessen auf der Erde. Lovelocks Mensch-Erde-Beziehung entspricht nicht den Anforderungen des oben definierten Nachhaltigkeitsbegriffs, da er die Wesensmerkmale des Menschen und der Erde nur unzureichend ausarbeitet. a) Lovelock beschreibt Gaia als Organismus und als System abhängiger Strukturen, welche den Prozessen im Körper des Menschen entsprechen. Für ihn

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gleicht das Erlernen von Fähigkeiten beim Menschen, dem Streben der Erde danach, ihre Vorgänge zu optimieren und mittels Erfahrung sowie „trial and error“ zu lernen (Clark 1997:152; Lovelock 2016:47). b) Beide werden von Krankheiten befallen und können diese bis zu einem gewissen Ausmaß ausgleichen. Im Falle der Erde handelt es sich bei diesen Krankheiten um Naturkatastrophen und durch Menschen verursachte Schäden (Clark 1997:152–153). Zu a): Betrachtet man zunächst einmal die Behauptung, dass sich strukturelle Gemeinsamkeiten bei den Vorgängen im menschlichen Körper und den Prozessen der Erde finden lassen, ist diese These aus dem Blickwinkel der Systemtheorie zunächst richtig. Das kybernetische System Gaia, wie es von Lovelock beschrieben wird, ist ebenso wie der Organismus des Menschen gekennzeichnet durch komplexe Strukturen und Dynamiken gegenseitiger Beeinflussung und Abhängigkeit. Beide sind geprägt durch physikalische und (bio-)chemische Prozesse der Informationsvermittlung (z. B. Wiener 1989). Der Aufbau und die Funktionsweise der Erde und des Menschen sind somit zumindest vergleichbar. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich bei einer detaillierten Untersuchung auf der naturwissenschaftlichen Ebene ergeben, entstehen zudem Probleme, sobald man den Menschen nicht lediglich als körperliches, sondern ebenso – es wäre seltsam dies nicht zu tun – als Wesen mit mentalen Eigenschaften betrachtet. Von physikalischen Strukturen und Dynamiken lässt sich wiederrum nur auf physikalische Strukturen und Dynamiken schließen und nicht plötzlich auf die Konstitution eines bewussten Wesens, so Chalmers (2009:147–148). Nach ihm beschreiben die Naturwissenschaften in ihren Theorien „komplexe raumzeitliche Strukturen und deren komplexe Verhaltensmuster“, dennoch lässt sich daraus nicht auf die Funktionsweise des Bewusstseins schließen (Chalmers 2009:149). Dies fällt besonders bei den von Lovelock erwähnten Lernprozessen ins Gewicht. Einflussgrößen, wie die Erfahrung und Wahrnehmung qualitativer Aspekte prägen das Lernen beim Menschen maßgeblich. Die „Eigenschaften“ des Erlebens beim Menschen, die sogenannte „Qualia“ spielen auch beim Erwerben von Fähigkeiten eine Rolle und sind mit Blick auf die Erde als rein physikalisches System so nicht vorhanden (Bieri 2009:38; Chalmers 2009:254). Zu b): Ähnlich verhält es sich hinsichtlich störender Einflüsse. Der Vergleich einer Verschmutzung der Natur mit einer Erkrankung beim Menschen ist zu einfach und oberflächlich. Beide mögen Belastungen auf der Erde und im menschlichen Körper verursachen, die tiefgründigen Auswirkungen und Konsequenzen einer solchen Schädigung können sich jedoch erheblich unterscheiden. Dies lässt sich ebenso zurückführen auf eine Betrachtung der Erde als physikalisches, kausal geschlossenes System und des Menschen, der zudem

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phänomenales4 Bewusstsein besitzt und daher Krankheiten nicht lediglich auf körperlicher, sondern auch auf der Ebene des subjektiven Erlebens wahrnimmt (Bieri 2009:38–39). Somit sind gestörte Prozesse auf der Erde und im Körper und / oder Geist des Menschen nicht vergleichbar. Man könnte im Gegenzug davon ausgehen, dass beide – Gaia und der Mensch – geprägt sind durch physikalische und phänomenale Eigenschaften. Der „mikrophysische Bereich“ wäre kausal geschlossen, phänomenale Eigenschaften jedoch wirksam. Somit wären allen physischen Entitäten phänomenale Eigenschaften inhärent (Chalmers 2009:153–154). Folglich wären menschliche Lebewesen und Gaia besser vergleichbar, wobei sie sich hinsichtlich der Qualität ihres Erlebens wohl weiterhin unterscheiden würden. Eine solche Herangehensweise, die auf monistischen Überlegungen beruht, ist jedoch bei Lovelocks Ansatz aufgrund bereits diskutierter Argumente nicht anzunehmen. Diese Möglichkeit ist somit zu vernachlässigen. Zudem bleiben in Bezug auf das Bewusstsein Gaias viele Fragen offen. Die Erforschung des menschlichen (und auch tierischen) Bewusstseins stellt die Wissenschaft vor große Herausforderungen und hinterlässt nach wie vor ungeklärte Fragen. Die Behauptung, ein System wie die Erde habe ein Bewusstsein, stellt mit Sicherheit eine interessante Forschungsfrage dar, ist bis auf weiteres jedoch nicht zu belegen.

Schlussfolgerungen Zusammenfassend sprechen folgende Gründe dafür, dass ein Beitrag der GaiaTheorie zu einem schlüssigen Nachhaltigkeitskonzept angezweifelt werden muss: Im ersten Argument habe ich aufgezeigt, dass Nachhaltigkeit mit der Entwicklung und Nutzung innovativer Technologie allein nicht wirksam werden kann. Hier bleiben die Aspekte der geistigen Reflektion in Bezug auf die Art und Weise der Nutzung der Technologie – und somit auch moralische Überlegungen – unberücksichtigt. Der Rebound-Effekt und der gegenwärtige Umgang mit der Digitalisierung wurden hier beispielhaft angeführt. Im zweiten Argument wird Lovelocks Beschreibung der Erde als eigenständiges, von subjektiver Wahrnehmung und Bewertung losgelöstes System als verfehlt kritisiert, da ein Schutz der Erde nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit nur aus der Perspektive des Menschen und somit auf der Grundlage subjektiver Bewertungskriterien umsetzbar ist. Der letzte Kritikpunkt behandelt die fehlerhafte Gleichsetzung von Mensch und Erde als funktionale Entitäten, wodurch phänomenale Aspekte vernachlässigt werden, 4 „Ein Wesen ist […] „phänomenal bewusst“, […] wenn es irgendwie ist, dieses Wesen zu sein. Ein mentaler Zustand ist bewusst, wenn es irgendwie ist, in diesem Zustand zu sein.“ (Chalmers 2009:121)

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was dem vorausgesetzten Begriff von Nachhaltigkeit wiederum nicht gerecht wird. Dennoch verdient Lovelocks Denkansatz durchaus Anerkennung, da er gängige Annahmen der Natur-Mensch-Beziehung und des Verständnisses von der Erde hinterfragt und unkonventionelle Alternativen aufzeigt. Er tut dies jedoch nur unvollständig, da die Frage nach der Richtigkeit des Vergleichs von Mensch und Erde gar nicht erst aufgeworfen wird. Die Gleichstellung der Erde, als biologisches, und des Menschen, als zudem geistiges Wesen, wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich. Bei näherer Betrachtung passt sie jedoch gut in Lovelocks materialistische Theorie: Der Glaube an die Technik und an eine Welt, die vordergründig durch physikalische Eigenschaften geprägt ist. Hier reiht sich als Konsequenz auch sehr gut der Vergleich zwischen Mensch und Erde ein, indem man phänomenale Zustände als nicht wirksam behandelt oder auf physikalische Zustände zurückführt. Die Natur ist jedoch keine Maschine und der Mensch integriert in ihr sein Wesen als vernünftiges, emotionales und bewusstes Individuum. Vernunft und Emotionen sowie das Vorhandensein von „Bewusstsein im Sinne von Erleben“ sind die Voraussetzungen für die Möglichkeit moralischen Verhaltens (Bieri 2009:39; Hume 1978:210). Ohne den korrekten Einbezug geistiger und emotionaler Eigenschaften existieren in einer Theorie keine oder nur eingeschränkte Möglichkeiten, nachhaltig zu handeln.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Andreas Benz ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Humangeographie und Transformationsforschung der Universität Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Geographischen Entwicklungs- und Transformationsforschung mit den Schwerpunkten Gesellschafts-Umwelt-Verhältnisse, Entwicklungs- und Umweltdiskurse, Migration und Translokalität sowie Bildung. Regionale Arbeitsschwerpunkte sind Kuba, Pakistan und Südasien. [email protected] Helena Bilandzic ist Professorin für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Rezeption und Wirkung an der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Umwelt-, Wissenschafts- und Gesundheitskommunikation, Medienwirkungen in Bezug auf soziale Realität und Moral sowie das Erleben und die Wirkung medialer Geschichten. [email protected] Christina Caupert ist Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Amerikanistik der Universität Augsburg und arbeitet an einem Promotionsprojekt mit dem Titel „Ecological Ethics and Aesthetics of Drama: An Ecocritical Study of Contemporary Anglophone Plays“. Zu ihren Veröffentlichungen zählen eine Reihe von Aufsätzen aus den Bereichen Kulturökologie und Ecocriticism. [email protected] Mona Dürner studiert Geographie an der Universität Augsburg. Ihre Interessensschwerpunkte liegen auf nachhaltiger Entwicklung und partizipativer Stadtplanung. Ferner fokussiert sich Frau Dürner auf Methoden der empirischen Sozialforschung sowie GIS-Anwendungen. [email protected]

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Claudia Foltyn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Augsburg und arbeitet im DFG-Forschungsprojekt „Kontroversen um Hydraulic Fracturing in Frankreich, Deutschland und Polen. Eine vergleichende Analyse zur Rolle von ökologischen Rechtfertigungsordnungen und Civic Epistemologies in aktuellen Risikokonflikten“ mit dem regionalen Schwerpunkt Polen. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Umweltsoziologie, Diskurs- und Risikoforschung. [email protected] Johanna Hartmann ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In ihrer Forschung setzt sie sich u. a. mit dem amerikanischen Drama und Theater des 19. und 20. Jahrhunderts, der amerikanischen Gegenwartsliteratur und Intermedialitätsfragen auseinander (z. B. literarische Visualität oder die Beziehung zwischen Performativität und Fotografie). [email protected] Madeleine Hugai studierte Ökonomie und Umweltethik in Augsburg. Im Rahmen ihrer Promotion in Philosophie an der Universität Augsburg untersucht sie, wie der Nachhaltigkeitsbegriff unter Einbezug philosophischer Fragen neu definiert werden kann. Sie arbeitet in der Unternehmensentwicklung. [email protected] Anja Kalch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Wissen und Kommunikation an der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Umwelt- und Gesundheitskommunikation, sowie der Medienwirkungsforschung, im Besonderen der Narrativen Persuasion. [email protected] Reiner Keller ist Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der PhilosophischSozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Diskursforschung, Wissens- und Kultursoziologie, soziologische Theorie, interpretative Methoden, gesellschaftliche Naturverhältnisse sowie französische Soziologie. [email protected]

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Matthias Sebastian Klaes war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Augsburg im DFG-Forschungsprojekt „Kontroversen um Hydraulic Fracturing in Frankreich, Deutschland und Polen. Eine vergleichende Analyse zur Rolle von ökologischen Rechtfertigungsordnungen und Civic Epistemologies in aktuellen Risikokonflikten“ mit dem regionalen Schwerpunkt Deutschland. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Risiko- und Umweltsoziologie sowie der Science and Technologie Studies (STS) und der Wissenssoziologischen Diskursforschung. [email protected] Lisa Kolb forscht am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Augsburg zu Wissenszirkulation und Cultural Translation in der Schweizer Aufklärung. Im Rahmen eines Promotionsprojekts untersucht sie Strategien der Oekonomischen Gesellschaft Bern zur medialen und sprachlichen Vermittlung ökonomischer Reformvorhaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. [email protected] Simone Ines Lackerbauer war bis Ende Juli 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Augsburg im DFG-Forschungsprojekt „Kontroversen um Hydraulic Fracturing in Frankreich, Deutschland und Polen. Eine vergleichende Analyse zur Rolle von ökologischen Rechtfertigungsordnungen und Civic Epistemologies in aktuellen Risikokonflikten“ mit dem regionalen Schwerpunkt Frankreich. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Techniksoziologie, Diskurs- und Risikosoziologie sowie der Science and Technologie Studies (STS). [email protected] Serge Leopold Middendorf studierte in München und Augsburg unter anderem Geographie, Soziologie, Philosophie und Politologie. Seine Interessen liegen besonders im Bereich der Kritischen Humangeographie, der Philosophie der Geographie und der Politischen Ökologie. Derzeit promoviert er zum Thema „Autarkie im Anthropozän“. [email protected] Valentin Ostarhild ist Head of Marketing bei cioplenu. Er studierte informationsorientierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Augsburg.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Sebastian Purwins ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Humangeographie und Transformationsforschung. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen vor allem in den Bereichen Politische Ökologie, Politische Geographie, Transformationsforschung und Kritische Geographie. Sein Promotionsprojekt befasst sich mit dem Thema „Political Ecology of Bauxite extraction in Ghana“. [email protected] Senta A. Sanders arbeitet derzeit an ihrer Doktorarbeit zum Thema „Northern Exposure: Slow Violence Fast-forwarded and the Power of Environmental Storytelling of the Arctic“ (Arbeitstitel), die zeitgenössische Erzählungen der Arktis aus den Perspektiven von Postkolonialismus, Kulturökologie und Environmental Justice untersucht. Sie ist Mitherausgeberin eines Buchs zu Border Stories (2018) und gewann den ersten Preis für creative non-fiction für ihren Text „Forget Me Not“, der 2013 im Literaturmagazin der Indiana University veröffentlicht wurde. Sie ist Mitglied der Augsburg Cultural Ecology Research Group. [email protected] Christopher Schliephake ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Alte Geschichte, Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind ecocriticism, Kulturökologie sowie antike Religionsgeschichte und antike Rezeptionsgeschichte. In den letzten Jahren hat er dazu beigetragen, theoretische und methodische Ansätze der Environmental Humanities auf die Vormoderne auszuweiten. Seine jüngste Publikation „The Environmental Humanities and the Ancient World: Questions and Perspectives“ erschien 2020 bei Cambridge University Press. [email protected] Matthias Schmidt ist Inhaber des Lehrstuhls für Humangeographie und Transformationsforschung der Universität Augsburg. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich Politische Ökologie, Mensch-Umwelt-Verhältnisse und Geographische Transformationsforschung mit Fokus auf den Globalen Süden. Er ist Sprecher des über das Elitenetzwerk Bayern geförderten Internationalen Doktorandenkollegs „Um(welt)denken. Die Environmental Humanities und die Ökologische Transformation der Gesellschaft“. [email protected]

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Astrid Schwarz forscht und lehrt zu Technikphilosophie und Umweltanthropologie. Im Sinne einer philosophischen Feldforschung untersucht sie das Wechselspiel von Technik und Umwelt, von künstlerischem und wissenschaftlichem Experimentieren. Sie ist Professorin für Allgemeine Technikwissenschaft an der BTU Cottbus-Senftenberg. Aktuellere Buchpublikationen sind „Experiments in Practice“ (2014) und als Mitherausgeberin „Research Objects in their Technological Setting“ (2017). [email protected] Jens Soentgen ist seit 2002 wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg. Er ist Chemiker und Philosoph; seine Arbeitsschwerpunkte sind Umweltphilosophie, Wissenschaftsphilosophie (der Chemie) sowie die stoffgeschichtliche Forschung. [email protected] Sebastian Transiskus ist Doktorand am Lehrstuhl für Humangeographie und Transformationsforschung der Universität Augsburg. Sein Dissertationsprojekt ist im Iran angesiedelt, wo er die Auswirkungen der Wasserkrise am Urmiasee auf ländliche Lebensgrundlagen und Migrationsprozesse empirisch untersucht. [email protected] Kirsten Twelbeck studierte Nordamerikastudien in Erlangen, Berlin und Bloomington, Indiana (USA). Sie promovierte an der FU Berlin im Bereich Postcolonial Studies und habilitierte sich an der Universität Hannover mit einer Arbeit zu literarischen Selbstverständigungsprozessen im Nachklang des amerikanischen Bürgerkrieges. Nach Stationen u. a. in Göttingen, Berlin und Regensburg forscht sie jetzt am Wissenschaftszentrum Umwelt der Universität Augsburg (WZU) zu kulturwissenschaftlichen Dimensionen des Weizens. [email protected] Niklas Völkening studierte Geographie an der Universität Augsburg und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Humangeographie und Transformationsforschung der Universität Augsburg, wo er derzeit zum Thema „Commodification of Revolutionary Legacies – Changing Cuban Identities“ promoviert. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die Geographische Transformationsforschung, Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen sowie Tourismusgeographie in Kuba und Süddeutschland. [email protected]

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Marcus Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Innovation und Internationales Management an der Universität Augsburg und assoziiertes Mitglied des BETA in Strasbourg. Seine Forschung an der Schnittstelle von Innovation und globaler Nachhaltigkeit wurde u. a. im Journal of International Business Studies, im Journal of Business Venturing und in Research Policy veröffentlicht. [email protected] Hubert Zapf ist em. Professor für Amerikanistik und einer der Leiter der Environmental Humanities an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ecocriticism, Kulturökologie und Literatur sowie amerikanische Literatur und Literaturtheorie. [email protected]