Entwicklung unterstützen - Unterstützung entwickeln: Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell 9783666462276, 9783525462270, 9783647462271

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Entwicklung unterstützen - Unterstützung entwickeln: Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell
 9783666462276, 9783525462270, 9783647462271

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Christian Hawellek /Arist von Schlippe

Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell

Mit 32 Abbildungen und 8 Tabellen 2. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462270 — ISBN E-Book: 9783647462271

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46227-0 ISBN 978-3-647-46227-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Franz Marc, Abstraktes Aquarell, 1914, Mischtechnik, 22 × 16,5 cm, Privatbesitz. © 2011, 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: O Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort von Heidi Keller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Arist von Schlippe und Christian Hawellek Entwicklung unterstützen und Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell . . . . . . 17

Die »Philosophie« und Standortbestimmung von Marte Meo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Maria Aarts im Gespräch mit Christian Hawellek und Arist von Schlippe Von der Botschaft hinter den Problemen . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Christian Hawellek Ein-Sichten – Marte Meo in der Erziehungsund Familienberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Die Marte-Meo-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Christian Hawellek und Kai Meyer zu Gellenbeck Die »Kunst der kleinen Schritte«. Marte Meo: Ein Modell und eine Methode sozialer Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

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Inhalt

Monica Hedenbro und Annette Liden Die Elternbeziehung als Basis für das Kind. Ein systemischer Blick auf die Marte-Meo-Familienberatung . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Colette O’Donovan Der Aufbau einer »zweiten Bindung« in Pflegefamilien. Marte Meo und »Second Attachment« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Terry Hofmann-Witschi und Paul Hofmann Marte-Meo-Assessment – Ein Instrument zur Einschätzung elterlicher Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Ingeborg Kristensen Der Einsatz der Marte-Meo-Methode in der öffentlichen dänischen Gesundheitsversorgung – eine Effektund Prozessauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Jörn Borke, Anne Werchan, Monika Abels und Verena Kantrowitsch Das Konzept der Babysprechstunde Osnabrück. Theorie und Praxis eines klinisch-entwicklungspsychologischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Kai Meyer zu Gellenbeck und Arist von Schlippe »Wahrnehmen, folgen, lenken«. Ein Analyseschema als Orientierungshilfe für die Arbeit mit Müttern von Kleinkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Thomas Mittler, Jana Grobel, Judith Berkenheide und Arist von Schlippe Sprach- und beziehungsförderliche Elternkompetenzen. Eine Integration des Marte-Meo-Ansatzes in die Beratungsarbeit mit Eltern sprachauffälliger Kinder . . . . . . . . 211

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Inhalt

Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell? . . . . . . . . . . 225 Annegret Sirringhaus-Bünder Marte Meo – videogestützte Beratung und systemische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Arist von Schlippe Psychoedukative Ansätze und systemische Perspektive . . . . . . 242 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

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Vorbemerkung

Marte Meo ist ein innovatives und aktuelles Arbeitsmodell psychosozialer Intervention und Prävention. Mit dem vorliegenden Buch wird dem deutschsprachigen Fachpublikum ein Blick auf den »Stand der Kunst« von Expertinnen und Experten aus sechs europäischen Ländern gegeben. Alle Artikel eröffnen verschiedene Blickwinkel. Der Band gibt einen Einblick in die »Philosophie« des Ansatzes, beschreibt Erfahrungen in der Arbeit mit Familien kleiner Kinder und Pflegefamilien, liefert die Darstellung eines MarteMeo-Assessments, gewährt Einblicke in Besonderheiten der Methodik, gibt Aufschlüsse über wissenschaftliche Instrumentarien sowie Untersuchungsergebnisse zu Effekten und zur Kundenzufriedenheit mit Marte Meo. Schließlich schlägt er Standortbestimmungen der Methode vor und diskutiert ihren Stellenwert in der aktuellen Beratungs-, Coaching- und Therapielandschaft. Um das »Menü« für die Leserinnen und Leser übersichtlich zu gestalten, haben wir das Buch in vier Abschnitte gegliedert: – Die »Philosophie« und Standortbestimmung von Marte Meo – Die Marte-Meo-Methode – Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo – Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell? Die Abschnitte können je nach Interesse auch unabhängig voneinander gelesen werden. Jedem Abschnitt ist ein einführender Text vorangestellt, aus dem hervorgeht, was der Leser von dem Abschnitt erwarten kann. Da es weder möglich noch nötig ist, alles über ein Thema zu wissen, und da es oft hilfreich ist, zu erfahren, wo etwas gewusst wird, hoffen wir, die Lektüre so lesefreundlicher

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Vorbemerkung

und schmackhaft zu machen. Für hilfreiche Hinweise und Rückmeldungen zum Manuskript bedanken wir uns sehr herzlich bei Dipl.-Psych. Jürgen Hargens aus Meyn. Wir wünschen diesem Buch viele neugierige Leserinnen und Leser. Christian Hawellek Arist von Schlippe

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Vorwort

Das vorliegende Buch baut eine wichtige Brücke, nämlich die Bündelung von Expertise aus Entwicklungspsychologie und Klinischer Psychologie. Während es in den USA eine lange Tradition hat, dass wissenschaftliche Entwicklungspsychologen auch eine klinische, meist psychoanalytische Ausbildung haben, tat man sich im deutschsprachigen Raum lange Zeit sehr schwer mit dieser Verbindung. Psychoanalyse und akademische Psychologie lieferten sich regelrechte Grabenkämpfe. Leo Montada war in Deutschland der Erste, der 1979 auf der Berliner Tagung für Entwicklungspsychologie einen Vortrag mit dem Titel »Entwicklungspsychopathologie« hielt. Auch danach fand eine Annäherung zwischen Klinischer Psychologie und Entwicklungspsychologie nur sehr zögerlich statt. In den letzten Jahren hat sich das jedoch grundlegend geändert. Viele Entwicklungspsychologen, besonders solche, die sich mit der Entwicklung von Beziehung und Bindung in der frühesten und frühen Kindheit beschäftigen, haben die Variationen im Beziehungsgeschehen systematisch beobachtet. Es lag nahe, dieses Wissen auf die Beratung junger Familien anzuwenden. Die entwicklungspsychologischen Theorien, das methodische Repertoire, insbesondere Interviews und Beobachtungsmethoden, die Videographie, all das bietet ein hervorragendes Rüstzeug für das Erkennen, Analysieren und Bearbeiten von familiären Schwierigkeiten. Aber dieser Zugang ist oft nicht ausreichend. Viele entwicklungspsychologische Berater und Beraterinnen sind an Punkte gekommen, wo sich Themen aus der Geschichte der Eltern schnell in den Vordergrund schoben beziehungsweise die familiäre Dynamik das ursprüngliche Anliegen (z. B. das Säuglingsschreien) überdeckte. Dort war und ist klinisch therapeutisches Wissen gefragt und unabdingbar not-

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Vorwort

wendig für problemorientierte Hilfestellungen. Aber auch die klinischen Praktiker haben Interesse an den entwicklungspsychologischen Zugängen gefunden. Das Wissen über Ablauf und Variabilität von Entwicklungsprozessen erlaubt eine neue Sicht auf vermeintlich abweichende Muster; das methodische Repertoire erweitert die Möglichkeiten der Diagnose und Analyse. Inzwischen hat das Fach viele Namen: Entwicklungspsychopathologie, Klinische Entwicklungspsychologie, Angewandte Entwicklungspsychologie, Entwicklungsorientierte Beratung und viele andere mehr. In diesem Buch geht es um die Beratung, das Coaching von Familien, eine Thematik, die im Zentrum dieses neuen Faches steht. Familiäre Beziehungen sind grundlegend und bedeutsam für die Entwicklung jedes Menschen. Wir sind mit einem angeborenen Repertoire ausgestattet, um Beziehungen von Geburt an, und möglicherweise auch schon vorher, mit den Personen unseres sozialen Umfelds zu entwickeln. Die Bildung einer Beziehungsmatrix ist die erste integrative Entwicklungsaufgabe des Säuglings. Babys wie auch Erwachsene sind mit intuitiven Programmen ausgestattet, diese Beziehungen aufzubauen und auf dieser Grundlage kompetente Erwachsene zu werden. Wie kommt es nun, dass dabei häufig Schwierigkeiten auftreten? Eine mögliche und scheinbar paradoxe Antwort ist, dass unsere Kultur hier einiges durcheinander bringt. Die Kultur formt zum einen aus dem angeborenen Repertoire einen Verhaltensstil, der Anpassungswert an eben diese Umgebung besitzt. Unser westliches kulturelles Umfeld ist aber häufig so gestaltet, dass wir unserer Intuition nicht so recht glauben wollen und erst einmal lesen, was die Experten sagen. Das kann für Säuglinge gravierende Auswirkungen haben. Eltern, die in der Interaktion zu viel nachdenken, was das Beste für ihr Kind ist, reagieren eher nicht responsiv und intuitiv auf die Signale des Kindes. Die Kultur macht sich auch noch anders bemerkbar. Die deutsche Gesellschaft, ebenso wie viele andere europäische und die nordamerikanischen, ist an der soziokulturellen Orientierung der Independenz orientiert. Das bedeutet, dass kompetente Erwachsene als autonom, separat von anderen, konsistent und kompetitiv gelten und primär an den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen orientiert sind. Diese Vorstellungen bilden die Folie ab, auf

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Vorwort

die Sozialisationsziele projiziert werden. Entsprechend sind viele Vorstellungen und elterliche Praktiken auf frühe Selbstständigkeit (durchschlafen, am besten im eigenen Zimmer, allein spielen, sich allein beruhigen können) ausgerichtet. In Deutschland hat sich dieses kulturelle Modell seit den 1970er Jahren zunehmend verstärkt und wird in der Soziologie als »Individualisierungsthese« diskutiert. In eigenen Untersuchungen, die das elterliche Verhalten im Umgang mit Säuglingen vor 25 Jahren und heute analysieren, konnten wir feststellen, dass Körperkontakt erheblich reduziert wurde, wogegen Blickkontakt und Objektspiel deutlich gesteigert wurden. Elterliches Verhalten ist also zunehmend durch Distanz und kognitive Stimulation gekennzeichnet und weniger durch Wärme und Verbundenheit. Das ist natürlich adaptiv für eine erfolgreiche Durchsetzung auf dem engen Arbeitsmarkt. Aber bleibt nicht eine wichtige Dimension der Natur des Menschen auf der Strecke? Vielleicht gibt es eine kritische Menge an Körperkontakt, die ein Säugling braucht, und die, wenn sie unterschritten wird, zu Unruhe, Schlafproblemen und Schreien führt. Wir haben afrikanischen Frauen Videos von deutschen Frauen gezeigt, die mit ihren dreimonatigen Babys spielen. Die meisten deutschen Mütter legen ihr Baby auf den Rücken, beugen sich darüber, haben Blickkontakt und stimulieren mit Objekten. Die afrikanischen Frauen hatten für diese Haltung wenig Verständnis. »Ist es in Deutschland verboten, Körperkontakt zu haben?«, war die Standardfrage der Afrikanerinnen. Umgekehrt fanden auch die deutschen Frauen, denen wir Videos von afrikanischen Mutter-Kind-Interaktionen zeigten, die in Afrika typische heftige motorische Stimulation merkwürdig. »Man sollte ein Baby nicht so schütteln«, war der Standardkommentar. In diesen Beurteilungen kommen natürlich in erster Linie kulturelle Überzeugungen zum Ausdruck. Dennoch: Viele persönlichkeitspsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Menschen am zufriedensten sind und sich am wohlsten fühlen, bei denen Autonomie und Verbundenheit in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Im Zentrum dieses Buches steht das von Maria Aarts entwickelte Marte-Meo-Konzept, durch welches es den Eltern ermöglicht werden kann, zu ihrem intuitiven Elternverhalten zurückzufinden und auf die jeweiligen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes al-

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Vorwort

tersangemessen einzugehen. Ihre eigenen Fähigkeiten werden den Eltern anhand von Videoaufnahmen alltäglicher Interaktionssituationen vorgeführt und erweitert. Der Blickkontakt zwischen Eltern und Säugling wird oft als biologischer Spiegel bezeichnet. Der Säugling sieht sein Verhalten im Blick der Mutter oder des Vaters gespiegelt, eine sozialisatorische Schlüsselsituation in unserer Gesellschaft. Das Video hat eine ähnliche Funktion – es zeigt subjektive Realität. Darüber hinaus hat es noch eine weitere wichtige Aufgabe: Durch die Präsentation gezielt ausgesuchter Szenen bietet es auch neue Informationen. Das Video stellt eine eigene Ebene des Lernens bereit, Bilder kommunizieren Inhalte direkt, ohne sprachliche Vermittlung – das Video erlaubt eine andere Wahrnehmung, sozusagen aus der Distanz, und schafft doch Identität. Kurt Lewin, einer der Pioniere im Einsatz der Filmtechnik in der Psychologie, hat bereits 1926 geschrieben: »Die Möglichkeit des Filmstreifens, einen Geschehensablauf festzuhalten, macht ihn zu einem verlockenden Hilfsmittel für die wissenschaftliche Erforschung und Demonstration auf allen Gebieten, wo charakteristische Eigentümlichkeiten nicht im einzelnen, momentanen Zustand, sondern erst im Ganzen des Geschehensablaufs zutage treten« (Lewin 1926/1982, S. 414). Diese Sichtweise ist bis heute unbestritten. Was der Wissenschaft so sehr genutzt hat, kann und soll auch in der Praxis Wichtiges leisten. Schließlich war es auch Kurt Lewin, der gesagt hat, »es gibt nichts praktischeres als eine gute Theorie«! Das Buch, das Christian Hawellek und Arist von Schlippe herausgeben, kann hier einen wesentlichen Beitrag liefern. Heidi Keller

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Vorwort

■ Literatur Lewin, K. (1926): Filmaufnahmen über Trieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder, verglichen mit Normalen und Schwachsinnigen. Zeitschrift für Kinderforschung 32: 414-447, wieder abgedruckt in: Graumann, C. F. (Hg.) (1982): Kurt-Lewin-Werkausgabe. Bd. 6. Bern, S. 77-99.

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■ Arist von Schlippe und Christian Hawellek Entwicklung unterstützen und Unterstützung entwickeln Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell

■ Von der Therapeutisierung des familiären Alltags zu Beratung und Coaching von Eltern Die Bilder von Elternschaft in unserer Kultur haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt. Es kam zu einer zunehmenden Psychologisierung, Pädagogisierung und Therapeutisierung der Elternrolle. Dies ist alles andere als negativ zu werten, ging doch damit eine Liberalisierung der elterlichen Rollen einher, wie sie es wohl in der Geschichte bislang nicht gegeben hat. Viel weniger als früher sind Eltern durch enge Regeln festgelegt, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Es eröffnet sich ein Universum an Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung mit unbestreitbaren Vorteilen gegenüber starren Rollen, doch ist auch dies nicht frei von »Risiken und Nebenwirkungen«. So ist der Platz der Eltern als Zentrum und Mittelpunkt der Familie, der ihnen und den Kindern gleichermaßen Sicherheit und Orientierung gibt, heute nicht mehr selbstverständlich. Eltern sehen sich so vielen unterschiedlichen Einflüssen gegenüber, was »richtige Erziehung« ist, dass die Gefahr besteht, dass sie unsicher werden, sich zunehmend hilflos fühlen und langsam »an den Rand der Familie« geraten. Psychosoziale Hilfen für Familien mit Sorgenkindern standen dabei in der Vergangenheit häufig im Zeichen einer Entwicklung, die treffend mit dem Etikett »Psychoboom« versehen wurde (Bach u. Molter 1979): Kindliche Schwierigkeiten wurden unter den Lupen vielfältig boomender Therapieformen zu Störungen, sei es von Einzelnen oder von ganzen »Systemen«, denen je nach Schule wiederum verschiedene Therapien angeraten wurden. All dies führte zu einer »Therapeutisierung des familiären Alltags« und,

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Arist von Schlippe und Christian Hawellek

damit verbunden, einer nachhaltigen Verunsicherung von Eltern (vgl. Levold 2002). In der Folge dieser Verunsicherung entstand die Tendenz, die Bewältigung aufkommender Probleme an Therapeuten und/oder Spezialistinnen zu delegieren. Genährt vom geballten Expertenwissen um sie herum, verschwand das Zutrauen vieler Eltern in die eigenen Fähigkeiten, Schwierigkeiten mit den Kindern selber kompetent zu bewältigen. Pleyer (2003) beschreibt die Tendenz vieler hilfloser Eltern zur Abgabe von Verantwortung an professionelle Dienste: Nur andere, nur Fachleute kämen noch »an das Kind heran«. So suggerieren die Eltern sich selbst und anderen, dass nur Experten mit ihrem Kind umgehen könnten, und verstärken so den Verlust der eigenen Präsenz. Der Ruf nach Psychotherapie ist dann der offene Ausdruck der Hilflosigkeit (ähnlich wie der nach Medikamenten oder Heimeinweisungen). Die Definition als »therapiebedürftig« von professioneller Seite aus ist daher in solchen Fällen möglicherweise weniger eine gute Lösung als vielmehr Teil des Problems.1 Eine solche Empfehlung an die Eltern stellt auch eine Beziehungsdefinition dar, die lautet: »Wir sehen es ebenfalls so, dass Sie nicht in der Lage sind, die Angelegenheiten in der Familie in die Hand zu nehmen.« Die Wahl eines therapeutischen Zugangs mit entsprechenden Fragen (»Wie war es denn in Ihrer eigenen Kindheit?«) stellt eine Form der Problemdefinition mit einer implizit als verdeckte Anklage verstehbaren Konnotation dar – mit der Gefahr, einen Teufelskreis zu erzeugen. Wohl gemeinte Angebote können so den Zugang zu den eigenen Ressourcen durchaus erschweren. Alon und Omer (2005) sprechen in diesem Zusammenhang von »dämonisierenden Narrativen«, die den Blick einseitig auf die »dunklen Seiten« richten und eine konstruktive Arbeitsbeziehung eher erschweren als erleichtern. In jüngerer Zeit beginnen sich diese Bilder deutlich zu verschieben und die Beratungslandschaft zu erweitern und zu ergänzen. Statt nur auf Defizite zu schauen, rückten die Fähigkeiten und 1 Wir schreiben dies hier bewusst vorsichtig, denn natürlich ist Psychotherapie in vielen Fällen wichtig, hilfreich und indiziert. Skeptisch sind wir nur gegenüber der Idee, dass »Therapie« in jedem Fall richtiger sei als »keine Therapie«.

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Qualitäten von Eltern, Kindern und Familien mehr in den Vordergrund, die »Resilienz« (Widerstandsfähigkeit«) auch und gerade angesichts problematischer Lebensumstände begann zu interessieren (Tiet et al. 1998; Scheithauer et al. 2003). In diesem Zusammenhang wurde auch die »Rolle der Eltern umgeschrieben« (Degen 2004, S. 95). So wurden beispielsweise aus der Babyforschung heraus Impulse gegeben, die die elterlichen Kompetenzen als natürliche Ressourcen herausstellen: Eltern sind durchaus in der Lage, intuitiv und angepasst an die Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder diese in ihren Entwicklungsprozessen zu unterstützen. Sie sind »vorbereitete Eltern«, die mit spezifischem Verhaltensrepertoire ausgestattet sind, um angemessen auf ihre Kinder zu reagieren. Ergänzend zu den Befunden der Babyforschung, die die Fachwelt auf den »kompetenten Säugling« (Dornes 1993) aufmerksam gemacht haben, gibt es neue Einsichten in natürliche elterliche Kompetenzen, eine »intuitive elterliche Didaktik« und ein »implizites Beziehungswissen« von Eltern – gemeint sind damit intuitive, biologisch verankerte Verhaltensbereitschaften, die sich sowohl von Reflexen als auch von bewusst und rational gesteuerten Verhaltensweisen unterscheiden (z. B. Keller 2001, 2003; Papousek 1996, 1999; Papousek u. Papousek 1992). Die revidierten Erkenntnisse über Säuglinge, die deren hohe Kompetenzen würdigten und ältere Mythen über ihre Vulnerabilität zurechtrückten, trugen dazu bei, allmählich die professionellen Meinungen über angemessene Hilfen für Kinder und Familien, die Probleme haben oder bereiten, zu verändern. Eltern werden weniger als »Verursacher« kindlicher Auffälligkeiten gesehen, da Kinder über ein großes Potential an Möglichkeiten des konstruktiven Umgangs auch mit sehr belastenden Umständen verfügen (Ernst 1992; HofmannHausner u. Bastine 1995). Vielmehr rückt heute oft die Hilflosigkeit der Eltern (Pleyer 2003) gegenüber ihren Kindern ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Kinder schaffen ihre Umwelten (auch) selbst und sie können durchaus aktiv an der Gestaltung einer problematischen zwischenmenschlichen Umwelt mitwirken. Im Kontext einer Schwächung der Eltern durch Schuldgefühle, Anklagen und einseitig kindorientierte Erziehungskonzepte kann so die »elterliche Präsenz« verloren gehen. Das Konzept der »Präsenz«, wie es von Haim Omer entwickelt wurde, liegt dem von Omer und

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Arist von Schlippe und Christian Hawellek

v. Schlippe (2002, 2004) vorgestellten Konzept des Elterncoaching nach dem Modell des »gewaltlosen Widerstands« zugrunde: Auch hier wird unter Verzicht auf die Zuschreibung von Therapiebedürftigkeit danach gefragt, wie die selbstverständliche Fähigkeit der Eltern, ihren »Platz« in der Mitte der Familie einzunehmen, wiederhergestellt und ihre Hilflosigkeit verringert werden kann. In all den genannten Modellen steht der Berater den Eltern nicht mehr als »kritische Instanz« gegenüber und sucht nach den Ansatzpunkten, die für das problematische Verhalten des Kindes verantwortlich zu machen wären, sondern er steht neben und hinter den Eltern, unterstützt sie, ihre Aufgaben wieder oder noch besser übernehmen zu können. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Beratung nach dem »Marte-Meo-Modell«, der dieses Buch gewidmet ist: Das Konzept ist durch eine bestimmte Form von Szene gekennzeichnet, in der die Beraterin explizit mit den Eltern gemeinsam auf den Bildschirm blickt und mit ihnen einen Blick auf die Ressourcen und Qualitäten entwickelt, die sich in den Videoaufnahmen familiärer Alltagssituationen finden lassen. Zunehmend wird für all diese Beratungsangebote die Bezeichnung »Coaching für Eltern2« verwendet. Im Gegensatz zur therapeutischen Arbeit versteht sich Coaching als die zielgerichtete, zeitbegrenzte Unterstützung von Personen bei der Bewältigung besonderer Herausforderungen oder Aufgaben: Coaching soll »Selbstmanagement befördern« (Schreyögg 2003, S. 21). In dieser Perspektive sind Eltern für ihre Kinder so etwas wie »natürliche Expertinnen und Experten«, die für die »Erledigung ihres Jobs« kurzzeitig Unterstützung anfragen. In Coachingprozessen geht es nicht um eine »Generalsanierung« von Individuen oder ganzen Familien, auch nicht um die Bearbeitung tiefer liegender Konflikte, sondern immer darum, geeignete Bedingungen für gelingende Selbstorganisationsprozesse von Eltern-Kind-Systemen zu schaffen. Coaching ist per definitionem eine kontinuierliche, zeitlich begrenzte und partnerschaftlich ablaufende Begleitung und Unterstützung in der Verbindung von Berufsrolle und Person. Es ist zielorientiert und situativ ausgerichtet, der/die zu Coachende ist 2 Natürlich richtet sich das Coaching auch an Erzieher, Betreuerinnen in Heimen und Pflegeeinrichtungen und so weiter.

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für Lernen und Entscheidungen verantwortlich, Aufgabe des Coaches ist, ihn/sie bei der Zielfindung zu unterstützen (Schreyögg 2003, S. 310). Im Mittelpunkt der Beratung steht also zunächst die (Berufs-)Rolle oder Aufgabe des Klienten, die Person zwar auch, aber nur in Verbindung mit dieser Rolle oder Aufgabe. Es werden also die Eltern in ihrer Rolle als Eltern angesprochen. Die Frage, wie sie diese möglichst gut beziehungsweise »gut genug« (vgl. Winnicott 1974) ausfüllen können, steht im Vordergrund. Kompetentes Elterncoaching schlägt eine Brücke zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Entwicklungsanforderungen von Kindern und der konkreten Lebenspraxis von Familien. Beraterinnen bedienen sich einer für die jeweiligen Eltern verständlichen Sprache und vermitteln den jeweiligen Entwicklungsanforderungen von Kindern und Eltern angepasste praktische Handlungskonzepte, die in ihrer Wirkung für alle Beteiligten erfahrbar sind. Berater und Helfer stehen vor der Aufgabe, den »missing link« zwischen ihren Fachkenntnissen und der konkreten Erziehungs- oder Beziehungssituation zwischen ihnen, den Eltern und dem Kind/den Kindern zu schließen. Coaching verlangt eine besondere Form von Kontrakt. Wenn Therapie, klassische Beratung und Coaching zu unterscheiden sind, dann finden sich als Ausgangspunkt unterschiedliche Aufgabenstellungen (s. Abb. 1). Durch das Konzept des Coaching wird noch eine andere Brücke geschlagen, nämlich die zwischen den klassischen Therapieschulen. Diese stehen sich – vor allem nach der Einführung des aus vielen Richtungen ausgiebig kritisierten Psychotherapeutengesetzes – bis heute kritisch, gelegentlich sogar feindlich gegenüber; im günstigen Fall werden vorsichtige Annäherungsschritte vollzogen3. Coachingkonzepte dagegen vermitteln und fördern »Querschnittskompetenzen«, die sozusagen quer zu den bisherigen Schulen stehen, oft aber explizit in den jeweiligen Theoriesprachen reformulierbar sind. Sie ermöglichen somit einen entscheidenden und pragmatischen Schritt zur Überwindung der Spaltungen in der Beratungs- und Therapielandschaft. So beziehen sich Omer u. von 3 Hier verweisen wir beispielhaft auf das Projekt der Zeitschrift »Psychotherapie im Dialog«.

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Arist von Schlippe und Christian Hawellek

Abbildung 1: Das Verhältnis von Beratung, Therapie und Coaching

Schlippe (2002, Kap. 4) ausführlich auf Quellen aus allen theoretischen Modellen, die sich problemlos in das Konzept des »gewaltfreien Widerstands« integrieren lassen. Dies gilt auch für das methodische Instrumentarium, das sich im Coaching pragmatisch von unterschiedlichen Modellen nutzen lässt. Was die auf diesen Prämissen aufbauende Form des Coaching insbesondere für Eltern von kleinen Kindern anbetrifft, bietet es sich an, die Bedeutung der audiovisuellen Medien, insbesondere von Video, für die Entwicklung von Konzepten zu betrachten. Gerade in dieser Hinsicht sind zwei für die Beratung von Eltern kleiner Kinder besonders wichtige Fächer der Psychologie betroffen: die Entwicklungspsychologie und die Klinische Psychologie. Beide haben sich lange eher nebeneinanderher entwickelt, in der jüngsten Zeit bewegen sie sich aufeinander zu.

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■ Die Bedeutung audiovisueller Medien für die Klinische Psychologie und die Entwicklungspsychologie Unsere Gegenwart ist geprägt von der Allgegenwart von Medien – und kaum ein Mensch wird bestreiten, dass uns die neuen Medien in einer Weise beeinflusst und verändert haben, die dazu führt, dass unsere Lebenswelten mit denen unserer Vorfahren nur noch sehr schwer zu vergleichen sind. Auch in der Wissenschaft haben Medien schon lange Einzug gehalten und diese verändert. In der Psychologie, vor allem in der Klinischen Psychologie und der Entwicklungspsychologie, haben sie uns eine neue Dimension hinzugewinnen lassen, durch die unser Verständnis von uns selbst verändert wird. Das Ausmaß dieser Veränderung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Durch den Einsatz neuer Technologien können psychologische Prozesse genau und unmittelbar beobachtet werden, wo früher nur nachträgliche Rekonstruktionen in Form von Erzählungen und Geschichten als Basis für theoretische Überlegungen herangezogen werden konnten. Den Einsatz der Medien in der Psychotherapie und Beratung kann man am ehesten mit der Erfindung des Mikroskops vergleichen: Plötzlich werden Facetten der menschlichen Entwicklung (insbesondere Stern 1992, 1996; vgl. auch Hawellek 1995) und der therapeutischen Interaktion (Buchholz u. Streeck 1994; Streeck 2004) erkennbar, die der nachträglichen Rekonstruktion aus der Erinnerung entweder gar nicht zugänglich waren oder in der Detailtreue nicht zur Verfügung standen (s. a. Petzold 1993, 1995). Hier hat die Entwicklungspsychologie für die Klinische Psychologie und das Studium klinischer Prozesse entscheidende Impulse gegeben. Beide Fächer haben sich lange Zeit nebeneinanderher entwickelt, doch seit einigen Jahren gibt es zunehmend mehr Berührungen zwischen ihnen auf dem Weg zu einer »Klinischen Entwicklungspsychologie« (Oerter et al. 1999; Rollett u. Werneck 2003; s. a. Abels et al. 2003).4 4 Das Modell des Kooperationsprojekts zur »Klinischen Entwicklungspsychologie« an der Universität Osnabrück ist in diesem Band vorgestellt, siehe dazu den Beitrag von Borke et al. Vgl. dazu auch das Vorwort von Keller.

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Arist von Schlippe und Christian Hawellek

Die Entwicklungspsychologie wurde durch das Medium Video tief greifend revolutioniert. Gleichzeitig sind die angesprochenen Anstöße für die Veränderung des Blicks auf psychotherapeutische Prozesse ohne die Impulse von der Säuglings- und Bindungsforschung nicht denkbar. Die bahnbrechenden Studien von Daniel Stern machten es möglich, dass Annahmen über die Kindheit und die kindliche Entwicklung, die lange aus der rekonstruierenden therapeutischen Arbeit heraus entwickelt worden waren, einer genauen Überprüfung zugänglich wurden. Viele dieser Annahmen haben sich in der Folge als Mythen erwiesen. Babys werden heute als »kompetente Partner« wahrgenommen, die vom ersten Lebensmoment an aktiv an der Gestaltung ihrer Umwelt mitwirken (Dornes 1993); viele alte Entwicklungstheorien mussten umgeschrieben werden (Petzold 1993, 1995). Ein Konzept wie das der »sicheren Bindung« entstand auf der Basis von Feinanalysen von Videoaufnahmen, die zeigen, wie die vom Kind erlebte Sicherheit einer »secure base« exploratives Verhalten ermöglicht und so die Grundlage für Entwicklung darstellt (z. B. Suess 2001; v. Schlippe et al. 2001). Schauen wir uns die Bedeutung audiovisueller Medien in der Klinischen Psychologie und in der Psychotherapie an, so stoßen wir zuallererst sicher auf Carl Rogers, der als einer der Ersten schon in seinen frühen Untersuchungen in den 1940er Jahren das neue Medium Schallplatte beziehungsweise Tonwalze, später das Tonband einsetzte. Auf diese Weise wurden viel präzisere Rekonstruktionen therapeutischen Geschehens möglich. Bekanntlich führte sein Versuch, ein vertieftes allgemeines Verständnis therapeutischer Prozesse zu erarbeiten (damals gab es praktisch nur die tiefenpsychologische Therapie), zu einem eigenen Psychotherapiemodell, der personenzentrierten Psychotherapie (z. B. Kriz 2001). Rogers konnte zeigen, dass konstruktive therapeutische Prozesse mit bestimmten, beobachtbaren Qualitäten des Therapeuten einhergehen: mit bedingungsloser Wertschätzung, einfühlendem Verstehen und Kongruenz – Qualitäten, die auch für die Entwicklung von Kindern positive Rahmenbedingungen darstellen. Heute ist der Einsatz von Medien in der Psychotherapie selbstverständlich. Insbesondere durch den Gebrauch von Video ist es in vielen Therapiemodellen möglich geworden, nicht nur »über den Klienten« zu sprechen, sondern die therapeutische Beziehung und ihre Fa-

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Entwicklung unterstützen und Unterstützung entwickeln

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cetten recht unmittelbar zu beobachten. Video-Live-Supervision ist beispielsweise in der Systemischen Therapie Standard geworden (v. Schlippe u. Schweitzer 1996). Die Verbindung zwischen entwicklungspsychologischem und psychotherapeutischem Wissen wurde insbesondere von D. Stern vorangetrieben, der als Entwicklungspsychologe und gleichzeitig als Psychoanalytiker in einer ganzen Reihe von Studien die in Mutter-Kind-Beziehungen wirksamen Mikromechanismen auch in der therapeutischen Interaktion zu beobachten versuchte (Stern et al. 1998; Stern et al. 2001). Und so wird heute immer deutlicher, dass es nicht nur die Veränderungen der Narrative, der Erzählungen sind, die mit konstruktiven Veränderungen in Beziehung zu setzen sind, auch nicht nur die Entwicklung neuer Kognitionen, sondern dass vielmehr die interaktionellen Prozesse zwischen Therapeut und Klient durch minimale und äußerst kurzlebige Signale die therapeutische Interaktion ganz wesentlich regulieren und gestalten: »An erster Stelle steht Interaktion, nicht Erzählen« (Streeck 2004, S. 12). Die Bedeutung minimaler, in Sekundenbruchteilen auftretender affektiver Signale für die Qualifizierung kommunikativer Angebote ist in der Regel beiden Interaktionspartnern unbewusst und kann durch ihre Narrationen nur sehr grob abgebildet werden. Sie kann erst durch das unbestechliche Medium Video erkannt werden. In der Systemischen Therapie wurde die therapeutische Beziehung lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt.5 Heute sind auch in diesem Modell die Impulse aus der Entwicklungspsychologie aufgenommen worden, insbesondere was die Ausgestaltung der affektiven Rahmenbedingungen der therapeutischen Situation anbetrifft (Levold 1997; Loth u. v. Schlippe 2004). Neben die klassischen therapeutischen Techniken rückte daher die Bedeutung des »Rahmens« in den Vordergrund, durch den therapeutische Prozesse gestaltet und »gesteuert« werden. Da das Wort Steuerung auch Lenkung impliziert, hat Loth (1998) vorgeschlagen, von Prozess(bei-)steuerung zu sprechen. Ein solcher Rahmen lässt sich als Spannungsbogen zweier ganz unterschiedlicher Funktionen beschreiben (v. Schlippe 2003): 5 Watzlawick (z. B. 1977) redete beispielsweise offen der Manipulation das Wort.

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Arist von Schlippe und Christian Hawellek

Metastabilität: Vermittlung von Sicherheit Hier geht es um die »affektive Rahmung« der Gesprächssituation (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 1996, 1998; Levold 1997). Nicht nur durch die Sprache, sondern durch eine sorgfältige Beachtung affektiver Abstimmungsprozesse mit dem Gesprächspartner soll signalisiert werden, dass der Berater »beim Anderen« ist. So wird der Andere einer stabilen emotionalen Basis versichert. Die Stabilität der Beziehung (Metastabilität) ermöglicht es dem Gegenüber, sich auf die Instabilität der Auseinandersetzung mit schmerzhaften und negativen Gefühlen einzulassen. Erzeugung von Instabilität Auf der »sicheren Basis« der therapeutischen Beziehung geht es darum, eine Qualität von Spannung aufrechtzuerhalten, die es möglich macht, dass die Familie sich tatsächlich an die kritischen Punkte in ihren Auseinandersetzungen heranwagt. Ein gutes Beratungsgespräch braucht sowohl Neugier und Interesse als auch Aufregung und Mut. Veränderungsrelevante Auseinandersetzungen sind alles andere als ruhig und sachlich geführte Gespräche, denn es geht um affektiv hoch geladene Inhalte – umso wichtiger ist dabei das Bewusstsein, durch das Fundament des sicheren Rahmens getragen zu sein.

■ Beziehungsarbeit mit dem Video: Das Marte-Meo-Modell Wie im ersten Abschnitt beschrieben, haben Medien die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Rekonstruktion von Entwicklungs- und klinischen Prozessen stark beeinflusst. Medien können aber auch in der konkreten Beratungsarbeit eingesetzt werden und hier als Feedback für die Ratsuchenden fungieren. Vor allem in der Elternberatung ersetzt die Prä-sentation selbst die Reprä-sentation, statt auf Geschichten können sich Berater und Eltern direkt auf das Geschehen zentrieren. Die Therapeutin muss hier nicht mehr »konfrontieren«; die Konfrontation wird vom Medium übernommen. Klienten und Therapeuten gehen nicht mehr von ihren eigenen Meinungen und Einstellungen aus, sondern von

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Entwicklung unterstützen und Unterstützung entwickeln

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dem, was sie beobachten. Beide sind viel mehr mit dem konfrontiert, was geschieht, als mit dem, was sie denken, was geschehe. So kommt die Alltagsrealität in das Sprechzimmer hinein und damit werden neue Formen der Entwicklung von Unterstützungsmöglichkeiten zugänglich – vorausgesetzt, das Video wird professionell gehandhabt. Denn noch sind Therapeuten oft zögerlich im Einsatz von Video, vielfach auch zu Recht, denn das nötige Handwerkszeug fehlt meist. Erst seit ungefähr zehn bis fünfzehn Jahren werden Medien auch in größerem Maß direkt in der Arbeit mit den Betroffenen eingesetzt. Hierzu muss die Technik gut beherrscht werden, man muss wissen, was man in welchem Kontext aufzeichnet und wie das Feedback auf konstruktive und kunstvolle Weise eingesetzt wird. Hiervon wird im weiteren Verlauf des Buchs vielfach die Rede sein. Marte Meo ist eine Wortschöpfung, die Maria Aarts 1987 zur Beschreibung ihrer Arbeitsweise mit Eltern und ihren Kindern gewählt hat. Die Worte sind dem Lateinischen entlehnt und beschreiben programmatisch die Philosophie des Ansatzes: Es geht darum, dass Eltern lernen, ihre Kinder aus eigener Kraft in ihrer Entwicklung zu unterstützen und zu fördern. Im Lauf der Jahre hat sich Marte Meo zu einer speziellen Form des Coaching von Eltern und Betreuern (kleiner) Kinder entwickelt. Eltern und Betreuer lernen in diesem Modell zunächst die Entwicklungsanforderungen ihrer Kinder kennen und bekommen dann konkrete und praktische Hinweise, was genau sie in ihrem Alltag tun können, um die Kinder in einem nächsten Entwicklungsschritt zu unterstützen. Dazu werden im Marte-Meo-Ansatz gezielt Videoaufnahmen von Alltagssituationen mit den Kindern benutzt. Diese werden vom Berater im Hinblick auf das elterliche Anliegen analysiert und es werden Clips herausgesucht, die den Eltern zunächst zeigen, dass der Berater das Problem sieht. Danach werden den Eltern Clips präsentiert, die einen konkreten Schritt zur Lösung des Problems beinhalten. Es wird ihnen erläutert, warum sie mit der gezeigten Verhaltensweise ihr Kind in der konkreten Situation unterstützen. Dann wird ein Kontrakt vorgeschlagen, der die Eltern ermutigt, das präsentierte Verhalten einzuüben. In einem Followup-Video werden die Wirkungen des veränderten Elternverhaltens gezeigt und so weiter (siehe dazu auch den Beitrag von Hawellek

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und Meyer zu Gellenbeck »Die Kunst der kleinen Schritte« in diesem Band). Auf diese Weise kann eine therapeutische Spirale (Petzold u. Sieper 1988/89) entstehen, in der Entwicklung unterstützt und Unterstützung entwickelt wird. Bei der Betrachtung von Entwicklungsverläufen, in denen Probleme gut bewältigt werden und bei denen die Kinder keine besonderen Entwicklungsanforderungen stellen, wird deutlich, dass Eltern ihre Kinder durch natürliche entwicklungsunterstützende Dialoge (Øvreeide u. Hafstad 1996) begleiten. Die Formen der elterlichen Unterstützung entwickeln sich mit den Entwicklungsschritten der Kinder weiter. So wird eine Form der Entwicklungsunterstützung eingestellt, wenn das Kind die entsprechende Fähigkeit und Fertigkeit hat, aus eigener Kraft eine bestimmte Anforderung zu bewältigen. Als ein Beispiel kann elterliches Verhalten gelten, das im Marte-Meo-Modell auch detailliertes Anleiten (detailed guidance) genannt wird. Beispiel: Wenn ein Kind gerade lernt, eine Schleife zu binden, unterstützen die Eltern die Herausbildung eines Handlungsmodells »Schleife binden«, indem sie jeden Aktionsschritt des Kindes, der zum Handlungsmodell passt, benennen, und zwar in dem Moment, in dem das Kind ihn vornimmt. Darüber hinaus konkretisieren sie die nächsten kleinen Schritte: »Ja, du legst die beiden Enden übereinander, so, jetzt führst du dieses Ende da unten durch (häufig geben die Erwachsenen auch praktische Hilfe), genau, jetzt machst du mit diesem langen Ende einen Bogen, genau so. Jetzt … usw …, ok, super! Jetzt probieren wir das gleich noch mal« (o. Ä.). Während der Entwicklung neuer Handlungsmodelle gibt es viele Übungsphasen, die dazu dienen, die neuen Abläufe zu trainieren. Wenn das Kind die Abläufe beherrscht, das heißt ein Handlungsmodell entwickelt hat, stellen die Eltern bei diesem Kind diese Form der Unterstützung ein. Auf diese Weise entwickelt sich die elterliche Unterstützung mit den jeweiligen Entwicklungsschritten der Kinder. Damit können die familiären Entwicklungsprozesse treffend als koevolutiv charakterisiert werden. Durch die Präsentation konkreter Szenarien anhand von Videoclips liefert

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Entwicklung unterstützen und Unterstützung entwickeln

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die Marte-Meo-Arbeit ein praktisches Wissen über die jeweilige Unterstützung von Entwicklungsprozessen und die jeweilige Entwicklung von Unterstützungsprozessen. In der Regel führen Schwierigkeiten bei der Koppelung beider Prozesse zum Aufsuchen professioneller Hilfen. Das Marte-MeoModell bietet an dieser Nahtstelle ein »Anwendungswissen« (im Gegensatz zum eher theoretischen »Erklärungswissen«), das durch die Abfolge: Beobachten k Analysieren k Auswahl von Clips zur Information k Videoberatung k Einübung k Beobachtung der Wirkungen und so weiter ein Lernen am eigenen Modell ermöglicht. Ähnlich wie beim oben genannten Beispiel sind im MarteMeo-Modell Idee und Aktion, Theorie und Praxis direkt verkoppelt. Auf diese Weise wird eine Brücke zur jeweiligen Praxis geschlagen, was dazu geführt hat, dass Marte Meo in allen psychosozialen Arbeitsfeldern zum Einsatz kommen kann beziehungsweise kommt, in denen es um die Aktivierung und Förderung sowie Unterstützung und Begleitung von Entwicklungs- und Lernprozessen geht. Darüber hinaus bietet es gezielte Hilfestellungen für unterstützende und substitutive Kommunikation, da, wo die Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt sind, also etwa in der Arbeit mit Altersdementen, Behinderten, Frühgeborenen oder Psychotikern (vgl. Aarts 1996). Maria Aarts hat aus den Video-Trainingsmodellen6, an deren Entstehung sie selber maßgeblich beteiligt war, mit Marte Meo ein modernes Analyse-, Beratungs- und Coachinginstrumentarium für verschiedenste Adressatengruppen und Arbeitsfelder entwickelt (Aarts 2002). War in den Anfängen die Idee des Videotrainings leitend, so ist es inzwischen die gezielte, passgenaue Unterstützung von Entwicklungsprozessen bei Kindern und andern, gekoppelt mit der Entwicklung darauf abgestimmter Unterstützungsformen. Der Trainingsaspekt ist in diesem Modell immer noch bedeutsam, aber an untergeordneter Stelle (vgl. das Kapitel »Ein-Sichten« in diesem Band). Marte Meo hat sich in den letzten 6 Maria Aarts hatte in den siebziger Jahren als Direktorin des niederländischen Orion-Projekts die videogestützte Beratungsarbeit ins Leben gerufen. Aus diesem Projekt ging später auch das in Deutschland bekannte VideoHome-Training hervor.

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Jahren über die ganze Welt ausgebreitet und wird inzwischen in unterschiedlichen Formen, Projekten und Arbeitsfeldern in 22 Ländern praktiziert. Durch das Videofeedback werden die konkreten Abläufe zwischen Eltern und Kindern wieder mehr im wahrsten Sinn des Wortes »in den Blick genommen«. Damit stehen viel weniger die Fragen danach, »wo alles begann« und wo die »eigentliche Störung« liege, im Zentrum der Beratung. Viel weniger als früher geht es um die Suche nach dem, »was dahinter« steckt, viel mehr wird das konkrete Geschehen selbst gesehen, ohne pathologisierende – und damit potentiell kränkende – Verknüpfungen. Das klassische pathologieorientierte diagnostische Instrumentarium wird ersetzt durch eine pragmatische »Entwicklungsdiagnostik« (Aarts 2002, s. auch den Beitrag »Die Kunst der kleinen Schritte« in diesem Band). Dabei sind typische Entwicklungsschritte für verschiedene »Problemgruppen« aufgelistet, die als »Listen für Entwicklungsgelegenheiten« das Beratungsgeschehen strukturieren, indem sie die Aufmerksamkeit darauf richten, wie die anstehenden Entwicklungsgelegenheiten am besten ausgelöst werden können. Durch Standbilder und »Slow-Motion« wird eine »Entschleunigung« möglich, die das therapeutische Feedback mit neuen Qualitäten ausstattet. Der Rhythmus zwischen Schauen, Beschreiben und Schlussfolgern bietet eine Form der Komplexitätsreduktion für die Betroffenen – mit aus unserer Erfahrung oft erstaunlichen Resultaten. Wir wissen aus der Selbstorganisationstheorie, dass durch die Einführung neuer Rückkoppelungsmodi in ein System (so genannte Iterationen) neue Systemqualitäten entstehen können (Kriz 1999). Die vielfach berichtete hohe Plastizität der Eltern-Kind-Beziehung, die Schnelligkeit, mit der konstruktive Veränderungen gezeigt werden können (z. B. Fries 2001), könnte ihren Hintergrund auch darin haben, dass durch die audiovisuelle Rückmeldung in besonderem Maß Selbstorganisationsprozesse angeregt werden. Die Eltern sehen sich nicht nur in ihrer Alltagsrealität, sondern sie lernen auch, sich und ihre Kinder »mit neuen Augen« anzusehen. Das Konzept einer Mutter, dass ihr Kind sie nur und ausschließlich ablehne, kann durch die Kraft des Bildes (vgl. Hawellek 1997) erschüttert werden – etwa wenn ihr der offene und aufmerk-

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Entwicklung unterstützen und Unterstützung entwickeln

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sam zugewandte Blick ihres Kindes in Zeitlupe und/oder in Großaufnahme vorgespielt wird. Solch eine Intervention hat mehr »Kraft« als alle freundlichen Interventionen der Beraterin. So können auch klinische Plots7 dekonstruiert werden, indem eine »schöpferische Distanz« zum Geschehen eingenommen wird. Videos, wenn sie professionell eingesetzt werden, können zu »Augenöffnern« werden (hierzu verweisen wir vor allem auf die Texte von Hedenbro u. Liden und Hofmann u. Hofmann-Witschi in diesem Band). Das Betrachten von Bildern fördert neue Lernprozesse, man erinnert anders, es kommt zu einer ganzheitlicheren Form des Lernens (vgl. z. B. die Skulpturarbeit in der Familientherapie). Narrative Strukturen sind zwar die am höchsten entwickelten Formen, aber nicht unbedingt die, die am besten memoriert werden. Es geht um das Ergänzungsverhältnis und das Zusammenwirken beider: Das Video verbindet die Narrationen mit neuen Geschehensabläufen, das Entwickeln eines neuen Plots wird erleichtert. Ein weiterer Aspekt des videogestützten Marte-Meo-Coachings soll hier noch hervorgehoben werden: die emanzipatorische Funktion. Anders als in vielen klassischen Modellen ist es nicht erforderlich, sich in die Abhängigkeit von Spezialisten zu begeben, die über eine besondere Qualität von »geheimem Wissen« verfügen. Durch die Orientierung an konkreter Beobachtung können auch die Gefahren von impliziten Machtstrukturen unterbunden werden, wie sie etwa in der paradoxen Verschreibung kritisiert wurden (Boscolo et al. 1988) oder in Aussagen liegen wie: »Sie sind noch nicht so weit …«. Der Berater tritt neben den Klienten und ist mit ihm gemeinsam Beobachter der sich entwickelnden Szene. Die Interventionen sind einfach (wenn auch professionell) und ergeben sich direkt aus dem Geschehen selbst. Die Eltern werden in der Umsetzung der aus der Beobachtung heraus entstandenen Verhaltensanregungen unterstützt und begleitet, doch die Veränderungen »gehören« ihnen selbst. 7 Ein »Plot« ist in der narrativen Therapie der »zentrale Punkt«, um den sich kritische oder konstruktive »Geschichten« herumlagern können (z. B. »Ich habe nie genug Liebe bekommen« wäre ein solcher klinischer Plot, der sich durch die Videobeobachtung verschieben könnte: »Vielleicht muss ich lernen, genauer die Signale zu lesen, durch die mir mein Kind seine Liebe zeigt«) (ausführlich s. Boeckhorst 1994).

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Arist von Schlippe und Christian Hawellek

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Entwicklung unterstützen und Unterstützung entwickeln

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Arist von Schlippe und Christian Hawellek

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Die »Philosophie« und Standortbestimmung von Marte Meo

Maria Aarts, die Begründerin von Marte Meo, stellt zu Beginn die Essentials sowie die Philosophie dar, die hinter Marte Meo steht. Uns erschien die Form eines Gesprächs am geeignetsten, die Person hinter der Methode vorzustellen. Maria Aarts spricht im ersten Beitrag von der Botschaft hinter dem (kindlichen) Problemverhalten und von den konkreten Hilfen, die Eltern benötigen, um diese Botschaft zu verstehen und zu »übersetzen«. Sie nimmt auch zu den ethischen Grundannahmen der Methode Stellung und spricht über ihre Grenzen, Möglichkeiten und das Verhältnis zu anderen Formen der Hilfe. Das Gespräch wurde von den Herausgebern durch Zwischentitel gegliedert, die nachträglich eingefügt wurden und der besseren Lesbarkeit dienen sollen. Christian Hawellek vermittelt in seinem Beitrag Ein-Sichten korrespondierend zu dem Gespräch mit Maria Aarts Einblicke in die Struktur und innere Logik von Marte Meo. Er zeigt am Beispiel des Arbeitsfelds Erziehungs- und Familienberatung, dass diese Art von Arbeit zu vier grundlegenden Umorientierungen im professionellen Arbeits- und Selbstverständnis führt. Schlagwortartig lassen sie sich folgendermaßen zusammenfassen: – Marte Meo nimmt natürliche entwicklungsunterstützende Eltern-Kind-Dialoge als Vor-Bilder und orientiert sich nicht an Störungsmodellen kindlichen Verhaltens. – Marte Meo nimmt die Alltagsrealität als Interventionsraum, nicht ein klinisches Setting. – Marte Meo aktiviert die Eltern und Bezugspersonen im Sinne eines Coaching und kompensiert keine Probleme durch therapeutische Spezialistinnen.

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Die »Philosophie« und Standortbestimmung von Marte Meo

– Marte Meo zeigt zuerst Lösungsschritte und erklärt sie erst nachrangig. Der Artikel zeigt Verbindungen zu parallelen Entwicklungen in psychosozialen Hilfekonzepten auf und bietet ausführliche Literaturhinweise.

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■ Maria Aarts im Gespräch mit Christian Hawellek und Arist von Schlippe1 Von der Botschaft hinter den Problemen

Beginne, wo sie sind, und baue auf dem auf, was sie haben. (Lao-tse) 1

Maria, wie würdest du Fachleuten und anderen interessierten Leserinnen und Lesern erklären, was das Besondere an Marte Meo ist? Als ich begann mit Familien zu arbeiten, entdeckte ich, dass ich vor allen Dingen praktische Informationen brauchte, die in den alltäglichen Umgang der Familien passten, Informationen, die für die Eltern verständlich und brauchbar waren. In Einrichtungen, in denen man professionell Kinder erzieht, haben wir immer wieder erlebt, dass wir in einer abstrakten Sprache redeten. Wenn wir zum Beispiel sagten: »Er braucht mehr Struktur«, dann waren manche Eltern so klug zu fragen: »Wie macht man das?«

■ Zeigen, nicht erklären Genau das ist Marte Meo: Wir zeigen, wie Ideen in die Tat umgesetzt werden. Wir haben nach guten Vorbildern gesucht und haben Videoclips von gut entwickelten Familien analysiert. Dabei haben wir viel gelernt, zum Beispiel wie Kinder Selbstvertrauen, emotionale, soziale und sprachliche Fähigkeiten entwickeln. Durch das sorgfältige Angucken bekamen wir viele Informationen, die wir denjenigen Eltern weitergeben konnten, die Schwierigkeiten mit den Kindern hatten oder Fragen nach Möglichkeiten, die Entwicklung ihrer Kinder zu unterstützen. In der Familienberatung ist es wichtig, dass die Eltern verstehen, was sie genau für ihre Kinder 1 Das Gespräch fand im Juli 2004 in Harderwijk statt. – Bearbeitet und durch Zwischentitel strukturiert von Christian Hawellek.

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tun können. Für die Elternberatung reicht es nicht aus, wenn wir abstrakt sprechen. Eltern brauchen praktische und konkrete Informationen. Das ist eine zentrale Überlegung von dir: Es kommt auf Information an. Ja, verständliche und für den Alltag brauchbare Informationen für Eltern zu entwickeln, das ist der Kern von Marte Meo. Darüber hinaus gibt es noch einen zweiten Schritt, den wir in der MarteMeo-Arbeit machen:

■ Aktivieren und stärken, nicht stellvertretend Probleme lösen Wir wollen die Informationen so vermitteln, dass es die Eltern stärker macht, dass sie selber die Probleme lösen und dass man als Beraterin oder Berater den Eltern die Arbeit nicht abnimmt, also die Probleme in einer Familie nicht professionell kompensiert. Das ist eine wichtige Unterscheidung: »Aktivieren statt kompensieren«. Es gibt natürlich auch Familien, bei denen man zeitweise einen Teil der Erziehungsaufgaben übernehmen muss. Aber auch in diesen Fällen kann man etwa mit der Mutter arbeiten und ihr helfen, elterliche Fähigkeiten zu entwickeln. Ist es dann eher eine pädagogische oder eine therapeutische Art von Praxis oder spielt diese Unterscheidung für dich gar keine Rolle?

■ Entwicklungsorientierte Praxis Das ist eine entwicklungsorientierte Praxis. Viele Leute nennen das »pädagogisch«, ich denke nie darüber nach. Ich weiß auch nicht, was genau damit gemeint ist. Entscheidend ist doch nicht so sehr, wie es genannt wird, sondern dass wir den Leuten mit Informationen helfen, elterliche Fähigkeiten zu entwickeln, die sie benötigen, um die eigene Familiensituation zu verbessern und die Kinder ihren Anforderungen entsprechend zu unterstützen. Es

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gibt Familien, in denen die Kinder spezielle Anforderungen stellen, und es kann auch sein, dass die Eltern entdecken, dass sie selber keine Fertigkeiten entwickelt haben, die sie bräuchten, um die Kinder zu erziehen oder eine gute familiäre Situation zu bekommen.

■ Die Botschaft hinter dem Problemverhalten Das ist ein Marte-Meo-Blickwinkel: Wir wollen nicht vorrangig Probleme lösen, sondern wir schauen nach der Botschaft hinter dem Problemverhalten. Die Botschaft heißt meistens: Mein Kind braucht mehr Unterstützung bei der Bewältigung bestimmter Situationen oder Entwicklungsschritte. Oder auch: Ich, Vater oder Mutter, habe noch nicht genug entwickelt, um das Kind positiv zu lenken. Wir lösen keine Familienprobleme, wir arbeiten mit der Botschaft hinter dem Problem. Was denkst du von Menschen, die die Fähigkeiten zwar entwickelt haben, aber nicht in den Momenten zeigen, in denen sie gefragt sind? Das würde ich nicht so hervorheben, weil das problematische Folgen haben kann. Ich denke, wenn deutlich wird, was genau das Kind braucht, setzen sich alle Eltern gern ein.

■ Eigene Stärken entdecken Ich würde es mehr ins Positive wenden und fragen, ob die Leute ihre eigene Kraft überhaupt kennen. Manche Leute denken nicht genug Gutes über sich selbst und können dann mit Hilfe der Videos entdecken: »Guck, das habe ich ja doch gut gemacht!« Es geht eher darum, die eigene Kraft kennen zu lernen, und da bietet das Video phantastische Möglichkeiten. Vielleicht geht es dann auch darum, die Bedeutung von dem zu entdecken, was ich tue und kann.

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■ Bedeutungen erkennen – ein Bild sagt mehr als 1000 Worte (Lao-tse) In dem Film von Tom2 sage ich zum Vater: »Können Sie verstehen, Papa, was es bedeutet, wenn Tom das schöne Gesicht von Ihnen sieht?« – »Ja«, sagt der Vater, denn er kann sich selber betrachten. So wird ihm deutlich: »Gott, das ist so wichtig«, und nachher sagt er zu mir: »Das ist so einfach.« Im ersten Film hatte man sehen können, wie er sich die ganze Zeit über seinen Sohn geärgert hatte: Er fragt: »Junge, kommst du mit mir das neue Auto abholen?« Und Tom antwortet: »Nee«. Das tut dem Vater weh, denn er denkt: »Ich habe keinen Sohn, mit dem ich schöne Momente teilen kann.« Er macht das dazu passende Gesicht, das bekommt Tom mit und denkt: »Ich bin kein guter Sohn.« In diesem Moment weiß der Vater nicht, wie bedeutsam sein Gesicht ist und was es für Tom bedeutet, wenn Papas Gesicht ihm sagt: »Du bist o. k., es ist schön mit dir zusammen zu spielen!« Genau das nimmt Tom in seinem Selbstbild mit, wenn er zu seinen Freunden geht: »Hey, was hat Papa mir gespiegelt: Ich bin attraktiv – und nicht nur autistisch!«

■ Gemeinsam die Wirklichkeit betrachten Das Video ist dein wichtigstes Werkzeug. Was bedeutet es für dich? Erstens dient es dazu, dass die Leute ein gutes Bild von ihrer eigenen Wirklichkeit bekommen. Wenn man mit Kindern Schwierigkeiten bekommen hat, ist der ganze Raum im Kopf meistens von den Problemen besetzt. Wenn die Leute mit mir zusammen das Video anschauen, sehen sie, dass auch noch viele gute Momente da sind. So bekommt man mehr Hoffnung und einen klareren Blick auf die Wirklichkeit, zum Beispiel darauf, was das Kind noch nicht entwickelt hat. Man entdeckt aber auch positive Momente und so wird alles nuancierter. Es entsteht ein viel facettenreicherer Blick, nicht nur ein emotional gefärbter. Wenn man Informationen vermitteln will, ist das Video ein hervorragendes Werkzeug, 2 Gemeint ist ein Film über die Marte-Meo-Arbeit mit einem autistischen Jungen, erhältlich über Marte Meo Productions, Muntplein 1, NL-3841 EE Harderwijk.

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auch um den Blick in der Wirklichkeit zu steuern: Diese Bilder benutze ich um diese Information zu vermitteln: »Guck, hier zeigt dein Junge, dass er etwas Schönes gemacht hat, guck, wie er den Kopf zum Papa dreht: Papa, das war doch phantastisch!« Wenn man diesen Moment hervorhebt, dann denkt der Vater: »Ja, das ist genau, was ich wollte: Bestätigung geben!« Das ist mit dem Video so klar und so viel einfacher, als wenn man Worte benutzen müsste. Außerdem hilft das Video auch dem Berater oder Therapeuten bei der Wirklichkeit zu bleiben, nicht nur den Eltern. Mit Wirklichkeit meinst du das, was geschieht, und nicht Konzepte oder Narrationen über das, was geschieht?

■ Verbindungen zwischen »Kopf und Bild«, nicht zwischen »Kopf und Kopf« So viele Male haben mir Therapeuten Filme gezeigt und vorher gesagt: »Das ist eine schreckliche Familie!« Dann schauen wir das Video zusammen an und bekommen ein viel nuancierteres Bild. Wenn wir über die Bilder sprechen, schauen wir nicht »von Kopf zu Kopf« auf die Familie, sondern von »Bild zu Kopf«. Wir sind gezwungen, unser Bild von der Familie konkret zu halten: dieser Vater, diese Mutter, dieses Kind und zwar in dieser Situation. Es gibt viele Gelegenheiten und Übungsmöglichkeiten, die Leute sehen zu lassen, was ist und nicht, was man alles im Kopf hat. Einer deiner Wahlsprüche heißt: »Keep your head clear!« Bedeutet das, dass es dir darum geht, die Bilder im Kopf erst einmal zu vergessen und sich auf das zu konzentrieren, was man gemeinsam sehen und miteinander teilen kann? Also, dass der Therapeut jemand ist, der einem etwas zeigt, das mit dem Betreffenden teilt und dann die Informationen hervorhebt, die zur Entwicklung führen?

■ Auftragsorientierung Viele Leute vergessen, was genau die Frage oder das Anliegen der Eltern war. Oft wird noch über viele andere Dinge geredet und ich denke dann zum Beispiel: »Moment, eigentlich haben die Eltern

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doch wissen wollen, was sie tun können, damit dieses Kind besser auf sie hört. Stattdessen gibt es jetzt 100 neue Probleme.« Also, den Kopf klar zu halten, bedeutet eigentlich eine sehr sorgfältige Auftragsorientierung, genau im Blick zu haben: Was ist eigentlich der Kontrakt, was ist die Frage? Das Video hilft dabeizubleiben und das nicht in andere Bereiche auszuweiten. Diese Art von Vorgehen, würde ich sagen, ist für die Systemische Therapie sehr anschlussfähig, Auftragsorientierung ist da eine ganz wesentliche Rahmenbedingung.

■ Vom Problem zur Entwicklungsgelegenheit Man fängt mit der Frage an, was die Eltern wollen. Ich denke auch, dass das zur systemischen Arbeit passt. Das heißt auch, dass eine Motivation da ist. Die kann verschieden aussehen: Man kann Wünsche haben oder man kann sich über ein Kind beklagen, all das sind Ausgangsbedingungen für die Marte-Meo-Arbeit. Man kann daran anschließen, indem man zum Beispiel sagt: »Ich kann Ihnen Informationen darüber geben, wie sich Kinder normalerweise entwickeln.« Wenn dann eine Klage kommt, wie: »Er hört nicht auf mich«, dann sagen wir: »Dahinter ist eine Botschaft, dass er bestimmte Dinge noch nicht entwickelt hat, und ich denke, dass wir ihm helfen sollten, diese zu entwickeln.« Da sehe ich einen Unterschied zur klassischen systemischen Arbeit. Du siehst die Botschaft hinter den Verhaltensproblemen in noch nicht vollzogenen Entwicklungsschritten. Wir fragen in der Therapie auch nach der Botschaft, aber eher in dem Sinn: »Worauf macht ein Symptom in der Familie aufmerksam, was ist sein kommunikativer Stellenwert?« Mit der Entwicklungsperspektive hast du natürlich auch Ideen darüber, was das Kind jetzt braucht, und ich denke, dass es für viele systemische Therapeuten schwierig ist, diese Frage zuzulassen. Wer hat eigentlich eine Idee darüber, wie es richtig ist?

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■ Die Rolle des Marte-Meo-Therapeuten Der Spezialist natürlich! Wenn ich zu einer Schneiderin gehe, um mir ein Kleid machen zu lassen, dann hoffe ich, dass sie alles darüber weiß. Ich weiß allein, was ich will. Ich will ein schönes Kleid, um zu einem Fest zu gehen, und ich bin sehr froh, dass sie weiß, wie man es näht. Ich bin eine Spezialistin für Marte Meo und das will ich auch sein. Aus diesem Grund trainiere ich Fachleute darin, zu sehen und zu verstehen, was uns die Natur an Modellen für Entwicklungsverläufe anbietet: Wie baut ein Kind normalerweise Selbstvertrauen auf, wie lernt es mit anderen zu spielen, in welchen Situationen übt ein Kind Verhaltensmodelle ein und welche Unterstützung bekommt es in diesen Momenten? Wenn man solche Momente kennt, dann kann man diese Kenntnis nutzen und bei einem Verhaltensproblem fragen: Hat das Kind das Modell entwickelt? Wenn die Eltern beklagen, dass es sich immer mit anderen Kindern streitet, steckt darin meistens die Botschaft: »Ich habe noch keine Spielfähigkeiten entwickelt.« Dann haben wir eine Vorstellung, wie man das lernen kann. Der Therapeut kann dann danach schauen, ob die Eltern dem Kind die passende Unterstützung geben, damit es Spielfähigkeiten entwickeln kann. In dieser Hinsicht möchte ich Spezialistin sein. Der Anschluss an die Systemische Therapie ist, dass wir von dem ausgehen, was die Eltern möchten. Damit beginnt der maßgeschneiderte Teil von Marte Meo, der darin besteht, dass wir genau diese Eltern mit diesem Kind aufnehmen und danach schauen, was zeigt es, wenn es mit seinem Bruder zusammen spielt, was kann es schon und was hat es noch nicht entwickelt? Wir wissen von anderen positiven Vorbildern, die wir in normalen alltäglichen Spielsituationen gefilmt und analysiert haben, was Kinder tun, die schön zusammen spielen können. Wenn Eltern dann in der Marte-Meo-Arbeit auf das Kind schauen und sehen, dass es etwas gelernt hat, können sie mit Hilfe des Marte-Meo-Therapeuten auch verstehen, wie es das lernt. So bleibt man nicht nur beim Problem stehen.

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■ Marte Meo: eine sinnvolle Ergänzung systemischer Arbeit In der Praxis haben wir oft gesehen, dass Leute sehr erfolgreich mit dem systemischen Ansatz arbeiten und mit Marte Meo den Entwicklungsteil ihrer Arbeit machen, etwa wenn ein Kind besondere Anforderungen stellt und den Eltern dann gezielt geraten wird, wie sie eine positive Entwicklung beim Kind aktivieren können. Im Grunde geht eine systemische Perspektive von einem Querschnitt aus, während die Entwicklungsperspektive eine »Längsschnittoptik« hat. So könnten sie sich eigentlich optimal verbinden. Du hast ein Bild von Entwicklungsverläufen, als Systemiker guckt man erst mal mit dem Scheinwerfer in die Runde, man erfragt, wer welche Perspektive auf das Problemkind hat, wer es dramatisch oder weniger dramatisch sieht und so weiter. So könnte es eine ganz interessante Verbindung sein, die gut zusammenpasst.

■ Passungen, praktisch gesehen Ich bin eine praktische Person. Wenn es passt, dann passt es. In der Praxis sehe ich, dass die Leute die Ansätze kombinieren und es klappt. Ich selber brauche gar nicht so viel von systemischer Theorie zu wissen, aber Leute, die das gelernt haben, denken, dass es gut zusammenpasst. Die haben sowohl von der systemischen als auch von der Marte-Meo-Arbeit mit Familien sehr profitiert. Das Besondere an Marte Meo ist, das sagen auch diese Leute, dass es sehr detaillierte Informationen liefert, wie man etwas ändern kann.

■ System und Person Ich erinnere mich an einen Ausspruch, ich glaube von Bunny Duhl: »You can never kiss a system.« Ein Kommunikationssystem ist einerseits etwas Lebendiges, andererseits etwas Nichtsubstanzielles. Du kannst eine Person küssen, aber nicht ein System, weil ein System aus Kommunikation und Kommunikation über die Kommunikation entsteht. So habe ich das Zitat verstanden. »Das System« ist eine Ab-

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straktion. Marte Meo ist eher ein Modell, das auf Personen und nicht so sehr auf Kommunikation fokussiert. Es fokussiert auf Konkretion und nicht auf Abstraktion. Ja, Marte Meo ist konkret. Ich denke, dass es sehr wichtig ist konkret zu bleiben, sodass die Eltern die ganze Zeit testen können, ob die Dinge, die sie in der Marte-Meo-Arbeit tun, auch wirken. Wir haben viele Forschungsarbeiten, in denen Eltern zu Effekten der Marte-Meo-Arbeit befragt wurden, bei denen sie gesagt haben: »Das war genau das, worauf wir gewartet haben, nicht dass Leute kommen, um uns etwas zu erklären, sondern dass sie uns sagen, was wir tun können, um morgen ein etwas besseres Leben zu haben.« Ich erinnere mich, wie die Mutter eines autistischen Kindes mir zuschaute und erlebte, wie gut ich mit ihrem Kind zurechtkam. Sie sagte zu mir: »Wie machst du das? Warum vermittelst du mir das nicht? Ich habe Zeit, Liebe und Energie genug, mir fehlt nur das Wissen!«

■ Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson) So hat es angefangen, als ich, angestoßen von der Erfahrung mit dieser Mutter, dachte, ja, Informationen sollten wir entwickeln und zwar Informationen, die verständlich und brauchbar sind. Marte Meo ist konkrete Information darüber, wie Entwicklungen unterstützt werden, die in den verschiedensten Ländern dann, wenn es um Entwicklungsfragen geht, benutzt wird. Im MarteMeo-Ansatz suchen wir nach Informationen, die die Eltern gern anhören und direkt gebrauchen können, die also nicht problemorientiert sind. Die Eltern nehmen die Informationen meistens positiv auf. Ich denke an die türkische Mutter, die ich fragte: »Warum bist du mit deinem kleinen Jungen zu mir gekommen und nicht weiter zur Beratungsstelle gegangen?« Sie konnte nicht gut holländisch und antwortete, dass sie die Beratungsstelle verlassen hätte, da dort zwar sehr viel geredet worden sei, was ihre Probleme aber nicht verringert hätte, ganz im Gegenteil. Auf die Empfehlung einer anderen türkischen Frau sei sie zu mir gekommen. Diese habe ihr gesagt, dass ich wirklich helfen würde, anstatt neue Probleme zu schaffen.

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»Bitte nicht helfen, es ist allein schon schwer genug.« … Du beziehst dich auf Natur. Ich weiß gar nicht, ob es so etwas überhaupt noch gibt. Wir sind doch über Jahrtausende hinweg kulturelle Wesen, jede Handlung ist kulturell überformt und geprägt.

■ Natur – Kultur »Nature survives« – die Natur ist immer da. Ich habe in 22 Ländern gearbeitet. Auch wenn vieles anders gemacht wird, entdeckt man, wenn man intensiv genug die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern anschaut, immer das gleiche grundlegende Muster – ob man will oder nicht. Würdest du sagen, dass deine Perspektive kulturunabhängig ist? Das Basismuster der Kommunikation sieht vielleicht einfach aus, es ist aber schwer zu entdecken. Was würdest du als die grundlegenden Informationen über kulturunabhängige elterliche Fähigkeiten, mit Kindern zu kommunizieren, bezeichnen?

■ Elterliche Fähigkeiten: Anschluss finden In allen Kulturen wollen die Eltern Anschluss an das Kind finden und es kennen lernen. Darüber hinaus wollen sie, dass es sozial gut zurechtkommt und die Fähigkeiten entwickelt, die es braucht, um sich der jeweiligen Umgebung anzupassen und gut darin zu leben. Da gibt es natürlich Unterschiede, zum Beispiel zwischen Indien und Holland. In Indien oder auch in Afrika sehen wir, dass die Leute viel mehr Wert auf soziale Fähigkeiten legen und sie mit den Kindern üben, damit sie lernen, sich in der Gemeinschaft zu bewegen. So ist die Ausprägung dessen, was eingeübt wird, in den verschiedenen Ländern unterschiedlich, aber was die Menschen in Bezug auf die Kinder beabsichtigen, ist gleich. Das, was die Eltern an Entwicklung jeweils »inhaltlich« unterstützen, ist kulturell, dass sie das tun, ist natürlich. In Indien oder Afrika muss ein Kind sehr viel mehr soziale Fähigkeiten entwickeln, anders überlebt man nicht. In unserer individualisierten Kultur wird das Kind viel mehr

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darin unterstützt, seine Individualität zu entwickeln: »Was fühle ich, wie kann ich es in Worte kleiden, wie kann ich schöne Geschichten erzählen« und so weiter. Da sieht man zwei verschiedene Abläufe. Zwei vierjährige Kinder gehen zur (Vor-)Schule und die Mutter fragt: »Sag mir, was hast du heute erlebt?« Das europäische Kind antwortet »Ich habe dies und das erlebt« und plaudert munter drauflos. Das gleichaltrige Kind in Afrika sitzt mit 80 Kindern in einer Klasse. Die Lehrerin sagt: »Tatatata«, und die Kinder sitzen still da und hören zu, denn anders geht es nicht. Und dann sagen die Kinder eben bei der entsprechenden Frage »Tatatata«. Und so müssen diese Kinder auch etwas anderes von Mama und Papa lernen als die europäischen Kinder. Du würdest also sagen, dass es Kulturunterschiede gibt, aber die Art, wie diese unterschiedlichen Inhalte von den Eltern jeweils vermittelt werden, das Natürliche ist? Beschreib doch mal die natürlichen Kompetenzen der Eltern.

■ Den Initiativen folgen Eltern folgen den kindlichen Initiativen, stellen sich so auf das Kind und sein Verhalten ein, um es kennen zu lernen. Das, denke ich, tun alle Eltern: die Welt des Kindes kennen lernen, um Anschluss an das Kind zu finden, denn das heißt, das Kind zu lieben, zu sehen, was es nötig hat, für es zu sorgen. Das geschieht in Afrika natürlich anders als in Holland oder Deutschland. Aber wenn es darum geht, das Kind kennen zu lernen, tun alle das Gleiche: der kindlichen Initiative folgen, mal mehr und mal weniger. Die nächste natürliche elterliche Kompetenz nenne ich »taking turns«, »Reihe machen«. Das bedeutet, das Kind wissen zu lassen, dass man es sieht. Das tun ebenfalls alle Eltern.

■ Benennen ist die Mutter aller Dinge (Lao-tse) Die Eltern benennen für das Kind, was sie wahrnehmen, sodass das Kind mitbekommt: »Sie sehen mich. Ich bin eine Person, ich werde wahrgenommen!« Auf etwas, was das Kind sagt, zu reagieren, gibt ihm die Idee: »Das, was ich sage, ist wichtig für die andere

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Person.« Die antwortet und das Kind lernt, anzuhören, was andere sagen. »Taking turns« ist ein wichtiges Element aller Beziehungen. Eine weitere elterliche Kompetenz nenne ich »positiv leiten« oder »positiv lenken«.

■ Positiv lenken Auf diese Weise helfen Eltern den Kindern, soziale Modelle zu entwickeln. Konkret sieht das so aus, dass sie den Kindern vorsagen, wie man etwas haben will: »Du kannst jetzt aufstehen, ja, du drehst den Wasserhahn, ja, nimm ein bisschen Seife, die Hände unter das Wasser und abspülen.« Das sind Verhaltensmodelle, die Eltern in allen Kulturen ihren Kindern vermitteln. In diesem Fall folgen sie den kindlichen Initiativen nicht, sondern sagen, wie sie es haben wollen. Das vermitteln wir alle, in Deutschland, Holland, Indien, überall; aber wie viel man davon macht, hängt auch davon ab, wie viel Raum man in seinem Leben erhält.

■ Verlorene Werte Ich verstehe das jetzt so, dass du sagst: Die Struktur ist jeweils das Natürliche und die Inhalte sind kulturell. Die Struktur ist, wie du etwas gesagt bekommst, der Inhalt ist, was du gesagt bekommst. Als Kind hörte ich oft: »Nun sag auch Danke.« Bei uns ist heute fast verloren gegangen, dass die Kinder dazu angehalten werden. Das ist etwas, was zurückkommen sollte. Die neue Generation sollte ein bisschen mehr von den alten Formen beibehalten. Sich bedanken, höflich sein, beachten, was »man tut«; dies haben wir bei all unserer Freiheit vernachlässigt.

■ Das Eigene, die anderen und das Glück Für mich sind in der Erziehung zwei Dinge sehr wichtig: sich selber kennen zu lernen, die eigene Lebensfreude und alles, was aus deiner eigenen Persönlichkeit kommt. Mit der muss man lernen umzugehen, sie zu nutzen, zu präsentieren, zu genießen. An diesem Aspekt haben wir viel gearbeitet. Die andere Seite ist, die sozialen Fähigkeiten zu entwickeln, ein gutes Auge dafür zu bekom-

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men, was andere Leute brauchen. Die Bedürfnisse der anderen werden gegenüber den Kindern ebenfalls in allen Kulturen hervorgehoben. Das ist ein weiteres Basisprinzip, das Eltern nutzen, um dem Kind zu helfen, wahrzunehmen, was andere für Bedürfnisse haben: »Oh, er kann die Tür nicht öffnen.« Wenn man denkt, dass das Kind allein im Mittelpunkt steht, dann lernt es, in erster Linie nur an sich zu denken und sich nur mit sich zu beschäftigen. Es lernt dann nicht mehr wahrzunehmen, was erwartet wird und was man für andere tun kann. In manchen Familien ist ein solches soziales Modell entwickelt, in anderen nicht mehr. In diesen Fällen entwickeln auch die Kinder die soziale Seite nicht mehr und dann bekommt man eine Gesellschaft, in der alle nur mit dem eigenen Glück beschäftigt sind. Die Idee von Glück ist dann, alles zu bekommen, was man sich wünscht. In diesem Fall haben wir die Kinder verwöhnt, haben vielleicht zwei Kinder und die Idealvorstellung, dass es am wichtigsten ist, dass die Kinder glücklich sind und immer einen schönen Tag haben. Nein: Man muss nicht so schöne Tage haben, um sich zu entwickeln und zu lernen, und wenn die Eltern dann noch alle Schwierigkeiten und Probleme von den Kindern fern halten, nehmen sie ihnen auch die Möglichkeiten zu lernen, mit Problemen fertig zu werden, selber damit umzugehen. Noch einmal das Stichwort »aktivieren statt kompensieren«. Das führt uns zur nächsten Frage: Dieses Konzept der eigenen Stärke oder der eigenen Kraft – was ist das eigentlich, was Menschen stärkt, was ist es, was Menschen schwächt?

■ Die eigene Kraft Die Leute, die es schaffen, das, was sie jeden Tag herausfordert, zu meistern, entwickeln Stärke. Schwierigkeiten sind grundsätzlich Entwicklungsgelegenheiten. Die Natur ist weise: Am Anfang hast du noch Eltern, die für dich sorgen, und du bekommst viele Gelegenheiten Problemlösungsmodelle zu entwickeln: »Ach ja, das ist ein Problem und so kann ich damit umgehen.« Zu einem Problemlösungsmodell gehört auch, die Lösung zu feiern: »Ich habe das gelöst, toll!« Die eigene Kraft zu entdecken, das fängt an, wenn

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man klein ist und die Eltern erkennen, worin deine Kraft besteht. Sie helfen dir dann, diese weiterzuentwickeln, und bekräftigen die Initiativen, die vom Kind kommen: »Ja, das kannst du gut!« Aufgrund dieser Erfahrungen glaubt das Kind an die eigene Kraft. Das, was kompetente Eltern den ganzen Tag tun: die Initiativen der Kinder erkennen, ihnen folgen, sie regulieren, strukturieren und zielgerichtet lenken – das lernt man bei solchen Eltern später auch mit sich selber zu tun. Auf diese Weise lernt man die eigene Kraft kennen und im Alltag benutzen. Nun ist das Leben erfahrungsgemäß so, dass es Dinge gibt, die gut laufen und wiederum einige Dinge, die nicht so gut laufen. Hier liegen die Ansätze, um etwas Neues zu entwickeln. Wenn ich jeden Tag meinen Bus verpasse, dann sollte das ein Hinweis darauf sein, meine Zeitplanung zu verbessern. Vielleicht muss ich den Wecker zehn Minuten früher stellen. Wenn man das dann auch tut, hat man wieder einen Schritt in Richtung Problemlösekompetenz getan. Wenn Leute keine Gelegenheiten hatten, geeignete Modelle zu entwickeln, und es kommen einige Belastungen hinzu, vielleicht ein Kind, das besondere Anforderungen stellt, dann ist das nicht mehr zu verkraften. Wenn solche Eltern kommen und Unterstützung benötigen, findet man in den Videoclips manchmal nur kleine Momente von Kraft und überwiegend ist diese nicht da. Dann ist es wichtig, genau diese Momente zu zeigen: »In diesem Moment haben Sie es geschafft, etwas zu machen, das gut für die Familie ist. Können Sie sich vorstellen, davon mehr zu machen?« Dann haben die Leute die eigene Kraft kennen gelernt, wie sie im eigenen Leben aussieht, und können das am nächsten Tag wiederholen.

■ Probleme zerlegen – Schritt für Schritt vorgehen – beim Einfachen beginnen Familien sollten ihre Probleme in Stücke zerlegen. Man könnte vielleicht mit dem Kind, mit dem die Eltern am besten zurechtkommen, beginnen, neue elterliche Fähigkeiten einzuüben: »Wie kann ich es leiten; wie kann ich ihm sagen, wie ich es haben möchte?«

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Ich denke, da ist es wichtig, die Kraft und das Bewusstsein der eigenen Kraft zu unterscheiden. Menschen haben ja Kraft, aber manchmal kein Bewusstsein dafür. Wenn du per Video Rückmeldung gibst, hilfst du den Leuten, das zu entwickeln, was in der Psychologie Selbstwirksamkeitsüberzeugung genannt wird, also die Überzeugung, etwas bewirken zu können. Wenn sie die Kraft nicht hätten, dann könnten sie diese im Video nicht sehen. Du gibst ihnen wieder ein Bewusstsein dafür, diese Kraft zu haben. Beides! Man verbindet das Bewusstsein der eigenen Kraft mit den Bildern ihrer Alltagsrealität, nicht lediglich mit Worten. Anderenfalls könnten die Eltern denken: »Ja, sie meint, dass wir Fähigkeiten haben und die Kinder unterstützen«, aber sie wissen nicht, wie genau das geschieht.

■ Interaktionsanalysen An dieser Stelle werden die Interaktionsanalysen wichtig, denn auf diese Weise wird anschaulich, wie genau Eltern etwas Positives erreichen. Die Interaktionsanalyse dient dazu, neue Verhaltensmodelle zu veranschaulichen, ihre genauen Abläufe zu erfassen und zu verstehen. Ich verdeutliche das immer am Beispiel des Strickens. Um stricken zu können, muss man die Abläufe kennen und schrittweise üben: einstecken, Faden rumwickeln, durchholen und loslassen. Wenn man dann genau weiß, wie man erfolgreich üben kann, ist es wie beim Stricken; man fängt Feuer und übt und übt und übt. Dann ist auch die Kraft der Motivation da. Und es gibt noch etwas Schönes bei dieser Metapher: Wenn jemand sieht, wie ich stricken übe, dann sieht das nicht sofort elegant aus, es ist zunächst unbeholfen, nicht so leicht wie bei meiner Mutter, da sieht alles immer einfach und richtig aus. Genauso ist es bei den Eltern, die neue Verhaltensweisen einüben, um die Erziehung zu meistern.

■ Übungsmodelle Dann kann man schrittweise sehen, was gut und was noch nicht ganz gut, sozusagen auf dem Wege ist. Es muss, wenn die Arbeit erfolgreich sein soll, ein Übungsmodell für die Eltern oder Bezugs-

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personen geben, davon bin ich überzeugt. Das wissen wir von den natürlichen Entwicklungsverläufen. Die funktionieren nicht so, dass für die Erlangung einer neuen Fertigkeit ein einmaliger Versuch ausreicht, nein, alles muss hundert- oder tausendmal geübt sein, um die Anforderungen zu meistern und ins Leben zu integrieren. Ich denke, dass genau das in vielen Therapien zu kurz kommt.

■ »Zweite Natur« Wenn man neue elterliche Fähigkeiten in der Alltagswirklichkeit übt, dann kann man nach einer Weile sagen: »Das ist mir zur zweiten Natur geworden.« Dann fragen manche Leute: »Ist das überhaupt noch natürlich, wenn man so übt?« Die Antwort lautet: »Man hat keine andere Chance, erfolgreich zu sein.« Irgendwann ist die Frage »natürlich oder nicht?« nicht mehr sinnvoll. Was macht das noch für einen Unterschied? Wenn es wirkt, dann wirkt es. Das Schöne am Begriff der Natur ist, dass Lebensanforderungen natürlicherweise mit einem normalen Maß von Energie bewältigt werden. Wenn man aber etwas übt, muss man die ganze Energie investieren, und wenn dann etwas zur zweiten Natur wird, war die Übung erfolgreich. Man benötigt wieder die normale Energie. Ich habe immer noch Schwierigkeiten mit dem Begriff der Natur. Es ist auch »natürlich«, dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen. Ich denke, vieles von dem, was du hier vermittelst, ist auch Kultur im besten Wortsinn.

■ Gleichgewichte Weißt du, wie ich das sehe? Ereignisse wie körperliche Auseinandersetzungen geschehen ausnahmsweise und überwiegend gibt es gute Momente. In den Familien, bei denen es Probleme gibt, die nicht weiterwissen, fehlt das Gleichgewicht völlig. Die Frage ist immer, ob es genügend Momente gibt, in denen die Kinder in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Darauf achten wir zum Beispiel in den Qualitätssicherungsprojekten von Kindergärten und

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Kindertagesstätten. Wir schauen darauf, ob die entwicklungsunterstützenden Momente ausreichend vorhanden sind, damit die Kinder genügend Gelegenheiten bekommen, sich sozial zu entwickeln. Die konkreten Fragen, die wir dann stellen, sind, ob die Kinder dabei unterstützt werden, Empathie zu entwickeln: »Oh guck mal, Fredrick hat schon alles aufgegessen.« Und wenn das Kind dann guckt: »Na, Fredrick, hat es gut geschmeckt?« Damit schaffen wir Verbindungen zwischen den Kindern und helfen ihnen, zu sehen, was in anderen Kindern vorgeht.

■ »Fehler« als Lernhilfen Du sagst immer, dass Fehler Gelegenheiten sind zu lernen. Ja, Schwierigkeiten sind Möglichkeiten zu lernen. Es ist aber auch möglich, dass man Fehler macht, aus denen man nichts lernt. Das gilt für Fehler, die unter Stress gemacht werden. In diesem Fall brauch ich nichts zu entwickeln. So etwas muss man dann schnell vergessen können und sich neu orientieren, beispielsweise in einer Paarbeziehung. Das zeigt sich auch in der Erforschung der Effekte von Marte Meo. In Dänemark wurde ein solcher Fehler entdeckt. Die Mutter sollte benennen, was das Kind tut, und so die Sprachentwicklung des Kindes unterstützen. Dann fand man heraus, dass die Mutter nach acht Monaten mit dem Benennen aufhörte, was als Rückfall bewertet wurde. Aber dann habe ich gesehen, dass das Kind angefangen hatte zu sprechen, und was es selber sagt, muss die Mutter nicht benennen. Ist das nicht interessant? Die Mutter hat sich intuitiv an den Entwicklungsstand des Kindes angepasst und die Forscher haben das als Fehler bewertet. Entwicklungsunterstützung hört auf, wenn sie nicht mehr benötigt wird.

■ Alles entwickelt sich Es ist schwierig, in ein Forschungsmodell hineinzubekommen, dass die Unterstützung wegfällt, wenn das Kind den entsprechenden Entwicklungsschritt gemacht hat. Es ist ein gesunder Schritt, dass die Mutter aufhört zu benennen, wenn das Kind spricht. Das gilt auch für Paarbeziehungen. Auch hier muss man nicht immer

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benennen, was man tut, um vorhersagbar zu sein. Wenn man einander gut kennt, braucht man das nicht. Wenn man hingegen einander noch nicht so gut kennt, ist Abstimmung erforderlich; in diesem Fall muss ich viel mehr benennen, was ich tue oder vorhabe. Wann man damit aufhören muss, unterliegt dem Gespür dafür, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht mehr natürlich sind, nicht mehr passen. Das würde heißen, Marte Meo bleibt letztlich ein Ansatz, der jeweils eine ganz individuelle Indikation braucht. Wie etwas passt, kann man eigentlich nur dadurch erkennen, dass man es ausprobiert oder dass man eine Situation, die schief gelaufen ist, analysiert und neue Ansatzpunkte findet. Eine weitere kritische Frage ist: Wie normativ ist der Ansatz eigentlich?

■ Normativität – Freiheit Sehr normativ! Da sind ja die Systemiker immer besonders skeptisch. Ich glaube aber, in dem Moment, in dem du genau auf der individuellen Ebene schaust, ist es eben nicht normativ. Du stellst keine Regeln für alle Familien auf, sondern suchst den individuellen Anschluss. Man schaut sehr sorgfältig auf die Signale in der Familie. Wenn etwa eine Mutter denkt, die Tochter kann dem Bruder nicht folgen, sagen wir zur Mutter: »Wenn Sie gern in diesem Moment Ihre Tochter dabei unterstützen wollen, zu verstehen, was in ihrem Bruder vorgeht, können Sie das hervorheben und benennen!« Diese Freiheit ist sehr zentral für uns. Wenn die Leute sagen, dass sie etwas nicht wollen, dann ist das o. k.

■ Möglichkeiten finden! Gibt es eine zentrale Botschaft, die du familientherapeutisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen gern mitgeben würdest? Marte Meo ist interessant, wenn Sie gerne praktische Informationen haben möchten, wenn Eltern Sie fragen: »Was kann ich tun?« Alles andere kann man mit anderen Methoden lösen.

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Maria Aarts im Gespräch mit Christian Hawellek und Arist von Schlippe

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Ist das auch ein Plädoyer, bei konkreten Fragen auch ruhig konkret zu sein, nach der Devise: Traut euch, die Familie zu bitten, ein Video einer Alltagssituation der Familie mitzubringen und es gemeinsam anzuschauen? Aber dann muss man wissen, wie man das Video analysiert, wohin man schaut und was man hervorhebt, anderenfalls nutzt das Video nichts. Wenn Leute Video nutzen ohne trainiert zu sein, kann das auch negative Wirkungen haben. Das Video ist ein sehr starkes Werkzeug. Du würdest also davor warnen, das einfach mal explorativ zu machen. Ja, in Videosequenzen sind viele und reichhaltige Informationen. Wenn man dann problemorientiert vorgeht, sieht man »mehr desselben«. Man sollte genau wissen, welche Bilder was vermitteln können. Herzlichen Dank für das Gespräch!

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■ Christian Hawellek Ein-Sichten – Marte Meo in der Erziehungsund Familienberatung

■ Vorbemerkung Dieser Beitrag stellt die Integration der Marte-Meo-Videoberatung in das Arbeitsfeld der Erziehungs- und Familienberatung dar und reflektiert inzwischen zehnjährige praktische Erfahrungen mit diesem Arbeitsmodell. Es handelt sich dabei um Erfahrungen unterschiedlichster Art. Am Anfang stand eine intensive Ausbildungszeit bei Maria Aarts, die im Wesentlichen aus einem Learning by Doing und kontinuierlichen Supervisionen bestand. In den internationalen Ausbildungsgruppen des Marte-Meo-Netzwerks bot sich die Möglichkeit, die Integration des Marte-Meo-Modells in den unterschiedlichsten kulturellen und professionellen Kontexten kennen zu lernen und die Wirkungen dieser Integration in vielen Videoaufnahmen zu sehen (Aarts 1996). Zum Ende der ersten Ausbildungsphase wuchs das Interesse, den neuen Erfahrungen einen Platz im fachlichen Know-how zu geben, das heißt, sie in den bestehenden professionellen Wissensfundus einzuordnen, um sie den Fachkolleginnen und -kollegen zu präsentieren und danach zur Diskussion zu stellen. In dieser Phase ging es auch darum, das Arbeitsmodell in die geläufigen bestehenden klinischen Konzepte einzuordnen (Hawellek 1995; 1997). Neben der praktischen Marte-Meo-Videoberatungsarbeit in der Erziehungs- und Familienberatung begann ich, die Methode in Vorträgen, Workshops, und Tagesveranstaltungen verschiedensten Fachkolleginnen und Fachkollegen vorzustellen. Von 1997 an starteten die ersten Supervisions- und Ausbildungsgruppen sowie einige »In-House-Trainings«. Diese Arbeit dauert an, entwickelt sich weiter und trägt Früchte, die die Weiterentwicklung steuern

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und unterstützen. In dieser Phase wurde die fachliche Arbeit detaillierter dargestellt, sowohl was Fallbeispiele (Sirringhaus-Bünder et al. 2001) als auch die Darstellung der eigenen Lern- und Umlernprozesse (Hawellek 2000) betraf. Als ein bedeutsamer Schritt kann die Mitarbeit und Mitgestaltung bei der deutschen Fassung des Marte-Meo-Handbuchs (Aarts 2002a) gelten. Inzwischen glaube ich, dass dieses Arbeitsmodell eine andere Art des »Lernens von Therapie« in einer Art »therapeutischem« Lernprozess ermöglicht; sehr viel direkter und einfacher als gewohnt – jedoch keineswegs leichter (Bünder 2002). Dadurch, dass das Lernen am eigenen Modell und anhand der eigenen Praxis geschieht, bleiben Berater und Therapeutinnen zugleich Entdecker, die diese Form der Arbeit als eine permanente »Einladung zur Neugier« (Cecchin 1988) erleben können. Auch von daher sollte dieser Artikel als eine – zwangsläufig – kurze Zwischenbilanz gelesen werden. Die Integration des Marte-Meo-Modells in die Erziehungsund Familienberatung führte zu vier tief greifenden Veränderungen in den bisherigen Gewohnheiten, sich im Arbeitsfeld zu orientieren, fachliche Schwerpunkte zu setzen und die praktische Arbeit zu gestalten. Diese bestehen in: – der Orientierung an positiven entwicklungsunterstützenden Dialogen, – der Orientierung an der Aktivierung von Entwicklungen, – der Orientierung an der Alltagskommunikation der Familien und – der Rückkehr zur Beobachtung der Interaktionen.

■ Die Vorbilder: natürliche, entwicklungsunterstützende Dialoge Das Selbstverständnis und die Arbeitsweise der Erziehungs- und Familienberatung wurzeln im Wesentlichen in den Traditionen der Psychotherapie. Diese Tradition ist, zumindest noch in weiten Teilen, dem »medizinischen Modell« entsprechend, davon geprägt, störungs- beziehungsweise problemfokussiert zu beobachten, zu

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explorieren und zu denken. Die zugrunde liegende Logik fußt auf der Idee, zunächst die Störung oder Krankheit zu diagnostizieren und dann die dazu passende Therapie durchzuführen. Dieses traditionelle Modell psychotherapeutischen Denkens und Handelns wurde seit den 1960er Jahren vielerorts als ein Problem sui generis ausgemacht. Man denke etwa an die programmatischen Schriften von Thomas Szasz (1972), Abraham Maslow (1973) oder anderen Leitfiguren der humanistischen Psychologie. Frühe Publikationen von Familientherapeuten der Palo-Alto-Gruppe (Watzlawick et al. 1971, 1974) sparten nicht mit Kommentaren über die konventionelle psychoanalytische Therapie, die direkt an die bekannte Polemik des Karl Kraus anknüpften: »Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält« (Kraus 1968, S. 44). Vielerorts entstanden neue Konzepte, die sich zum Vorsatz gemacht hatten, nunmehr »lösungsorientiert« und »ressourcenorientiert« (vgl. dazu kritisch Bünder 2002a) sowie »kurz« zu arbeiten. Dafür stehen insbesondere im weiteren Sinne systemische Ansätze sowie die »lösungsorientierte Kurzzeittherapie« der Gruppe um de Shazer (1986) und ihre europäischen Anhänger. Ende der 1990er Jahre begann man, eine alte Idee Maslows aufgreifend, gesundheitsfördernde Faktoren systematischer zu beschreiben. Als stellvertretend hierfür kann das Salutogenesekonzept Antonovskys gelten (Antonovsky 1997; Zusammenfassung bei Bengel et al. 1998). Ein weiterer starker Impuls für Erziehungs- und Familienberater, sich positiven Entwicklungsprozessen zuzuwenden, kam aus der empirischen Säuglingsforschung (Stern 1992; Papousek u. Papousek 1995) und aus der Bindungsforschung (Zusammenfassung bei Suess 2001). Die Fortschritte in der Videotechnik machten es möglich, klinische Ideen über Entwicklungsprozesse in der frühen Kindheit durch Beobachtung zu überprüfen und zu revidieren. Es entstanden neue positive klinische Orientierungen, etwa am »kompetenten Säugling« (Dornes 1993) und – mit Blick auf die Eltern – der »intuitiven Elternschaft« oder des »impliziten Beziehungswissens« (Papousek 2000). Ebenso wurden die Vorstellungen über Mütter und Mütterlichkeit einer Revision unterzogen. So beschrieb Stern (1998) mit der »Mutterschaftskonstellation« ein klinisches Konzept, das neue Orientierungen in der Beratungsarbeit mit Müttern bietet.

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In der Marte-Meo-Ausbildung wird gelehrt, die beschriebenen Konzepte nicht nur als »theoretische Information«, sondern als ein je konkretes Szenario zu sehen. Mit Hilfe von Videointeraktionsanalysen ist es möglich, das, was als Theorie gelernt wurde, in seinen quasi »mikroskopischen« Abläufen (Hawellek 1995) im Leben wiederzuentdecken. So ist zu sehen, wie Mütter zur »secure base« (Bowlby 1975) für ihr Kind werden oder wie Eltern eine »Affektabstimmung« (Stern 1992) mit ihrem Baby erzielen. Die Interaktionsanalysen ermöglichen es, Verlaufsmuster in positiven Entwicklungen zu sehen. Mit Hilfe von Interaktionsanalysen wird es möglich, die Praxisseite der Theorien kennen zu lernen, etwa, dass eine »sichere Basis« kein Zustand ist, sondern so etwas wie hundertfach sich wiederholende »Variationen über ein Thema«, nämlich das der »gefühlten Sicherheit« von Mutter und Kind. So wird beispielsweise sichtbar, wie Eltern ihre Kinder in konkreten Alltagssituationen dabei unterstützen, Empathie (Kohut 1976) zu entwickeln, oder ihnen helfen, Frustrationstoleranz auszubilden. Es ist faszinierend zu entdecken, wie Eltern ihre Unterstützung intuitiv auf das jeweilige Entwicklungsalter der Kinder zuschneiden. Eine systematische Nutzung von Videointeraktionsanalysen hilft hervorragend dabei, den abstrakten Ideen regelrecht Anschauungsunterricht zu geben und sie damit im Leben zu verankern. So ist es beeindruckend zu sehen, wie unbeeinträchtigte Eltern in einer ständigen Improvisationsleistung positive Atmosphären schaffen und für eine auf die soziale Situation und die Entwicklungsanforderungen der Kinder zugleich abgestimmte Unterstützung sorgen können (Stern 1996). Bei Schwierigkeiten geben sie den Kindern Ideen für konkrete Lösungen und verstehen es dabei, ihnen das Gefühl zu vermitteln, selber eine Lösung zu finden. In den frühen Entwicklungsphasen versorgen diese Eltern ihr Kind mit tausendfacher variantenreicher Zustimmung. Videos verdeutlichen die starke Wirkung der Stimmen auf die Stimmungen und schließlich die »Grundstimmung« beziehungsweise das familiäre Klima. Die Betrachtung der intuitiven elterlichen Kommunikation verdeutlicht, dass Eltern häufig – auch inhaltlich – die Ausdrücke und Initiativen der Kinder bejahen. Diese Verhaltensweisen können als Wege »positiver Gegenseitigkeit« (Simon et al. 1999) bezeichnet werden, die deutlich machen, wie Urvertrauen (Erickson 1971) sozialisiert

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wird. Die Interaktionsanalysen früher Beziehungsgestaltungen durch kompetente, unbelastete Eltern veranschaulichen Prozesse, in denen das entsteht, was Winnicott (1974) den primären Halt genannt hat. Derartige Erfahrungen sichern als »Metastabilität« (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 1998; s. a. Hawellek u. v. Schlippe in diesem Band) die späteren, zum Teil unausweichlichen Belastungen ab. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Einblicke auch für Reflexionen über die Gestaltung therapeutischer Rahmen bedeutsam sind. Die Untersuchung unterstützender elterlicher Verhaltensweisen lässt eine Vielzahl positiver »working-models« (Bowlby 1975) zur Bewältigung von scheinbar »kleinen« Schwierigkeiten im Alltag erkennen. Die Interaktionsanalysen der familiären Alltagskommunikation verdeutlichen darüber hinaus die herausragende Bedeutung von Geschwister- und anderen Peerbeziehungen (Schneider u. Wüstenberg 2001) für die sozialen und emotionalen Lernprozesse der Kinder. Häufig ist zu sehen, wie Eltern ihre Kinder und wie Geschwister ihre jüngeren Geschwister bei neuen Lernschritten regelrecht coachen und dies miteinander genießen können. Einsichten in entwicklungsunterstützende und -fördernde Dialoge (Øevreeide u. Hafstad 1996) zu gewinnen, heißt auch, an Szenarien von Konfliktmanagement und positiver Lenkung teilzuhaben. Eine erfolgreiche Lenkung von Kindern, insbesondere, wenn sie klein sind, ist nur positiv möglich. Kinder benötigen Information, was genau sie jetzt tun können. Kompetente Eltern geben diese Information in den Momenten, in denen sie benötigt wird, in einem kooperativen Ton und geben den Kindern auf diese Weise konkrete Orientierungen. Das Wort »positiv« kommt aus dem Lateinischen vom Verb »ponere«, das soviel heißt wie »stellen, setzen, legen«. Demnach stellen die Eltern dem Kind die je benötigten Informationen zur Bewältigung einer (schwierigen) Situation zur Verfügung. Die Videoclips vermitteln auch die Kraft »positiver Beziehungsatmosphären« am eigenen Leib (Schmitz 1989). Strukturgebung und Beziehungsatmosphären sind so etwas wie Form und Inhalt dessen, was Berater und Therapeuten über die konkreten Einsichten, sozusagen durch Beobachtungslernen, in die Gestaltung der eigenen Dialoge mit ihren Klienten übertragen können. Entwicklungsunterstützende Dialoge können damit zu

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anschaulichen Vorbildern gelingender Kommunikation werden und eigene Entwicklungsprozesse von Beratern unterstützen. Wie Kinder natürlicherweise an den Vorbildern des elterlichen Verhaltens lernen, lernen Klienten und Berater in der Marte-Meo-Arbeit am eigenen Vorbild (Hawellek 1995, 1997). Die organisierende Idee des Marte-Meo-Modells ist die der Entwicklung. Das Arbeitsmodell ist ein entwicklungsunterstützendes Arrangement, das entwicklungsunterstützende Kommunikation in unterschiedlichsten Lebensbereichen und professionellen Arbeitsfeldern möglich machen will. Entwicklungsprozesse sind natürlicherweise positiv (selbst-)organisiert. Daher werden in diesem Konzept »Störungen« als Entwicklungsstörungen und damit als (noch) nicht hinreichend entwickelte Fähigkeiten beziehungweise (noch) nicht hinreichend praktizierte Fertigkeiten verstanden. »Probleme« sind dann Herausforderungen und Gelegenheiten zur (Weiter-)Entwicklung (Aarts 2002, S. 53). Folgerichtig gibt es im Sprachgebrauch des Marte-Meo-Modells keine »gestörten Kinder«, sondern Kinder, die besondere Anforderungen stellen, »children of special needs«.

■ Der Weg: Die Aktivierung von Entwicklungen Entwicklungsunterstützende Dialoge kompetenter Eltern machen auf vielfältige Weise deutlich, wie Eltern Entwicklungsprozesse anstoßen, aktivieren und begleiten.1 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Eltern die Neugier ihrer Kinder anregen, ihrem natürlichen Explorationsdrang Raum geben, sie zur Erkundung von Un1 Es lässt sich eine tief verankerte Verbindung zwischen der intuitiven Praxis kompetenter Eltern und Klassikern der pädagogischen Tradition ausmachen; etwa wenn man an die erziehungswissenschaftlichen Prinzipien der frühen Fichtianer wie Sauer (1798) und Johannsen (1804) denkt, die hervorhoben, dass alle pädagogische Arbeit ihrem Kern nach eine »Aufforderung zur Selbsttätigkeit« (vgl. Benner 1973, S. 92ff.) ist. Gleiches gilt für die programmatische Aufforderung Maria Montessoris »Hilf mir, es selber zu machen«. Diese Ideen wurden später in ihren verschiedenen Facetten in der Sozialpädagogik als »Hilfe zur Selbsthilfe« aufgegriffen und erläutert und erfahren im Marte-Meo-Modell eine moderne Ausprägung.

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bekanntem einladen, sie mit kleinen Aufgaben oder Rätseln »kreativ verstören« und ihnen dann dazu verhelfen, Probleme »aus eigener Kraft« zu bewältigen und ebenso eigene Lösungen zu finden. Das Alltagsgeschehen ist voller Gelegenheiten, Kinder bei der Bewältigung überschaubarer und handhabbarer Schwierigkeiten zu begleiten. Wenn ein Kind beispielsweise die Schnürsenkel seiner Schuhe selber zubinden möchte, bekommt es während der Entwicklung dieser Fertigkeit elterliche Unterstützung während seiner Aktionen, sozusagen von Moment zu Moment, indem die Eltern beziehungsweise Betreuer die passenden Initiativen positiv benennen: »Ja, das ist richtig, du legst die Enden übereinander, ja genau, jetzt ziehst du den Schnürsenkel unten durch, das ist schon ein Knoten, prima, jetzt kommt die Schleife …« und so weiter. Wenn das Kind die entsprechende Fertigkeit entwickelt hat, stellen die Eltern oder Bezugspersonen diese Form der detaillierten Lenkung ein (Aarts 2002b). Ähnliche Formen von Unterstützung zeigen Eltern auch, wenn es darum geht, Fragen zu klären oder Probleme zu lösen. All diese Prozesse unterliegen der Feinabstimmung zwischen den Befindlichkeiten von Eltern und Kindern und der jeweiligen Situation. So kann jedes »kleine Problem« mit Unterstützung kompetenter Eltern zugleich eine Entwicklungschance sein, deren Bewältigung die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein der Kinder stärkt. Die Verhaltensweisen der Eltern machen auch dann deutlich, dass die Aktivierung von Kindern am besten gelingt, wenn Eltern den spontanen Initiativen der Kinder folgen, passende Initiativen auswählen, daran anknüpfen, Handlungsmöglichkeiten und -optionen benennen, die in die Richtung einer Lösung oder Zwischenlösung weisen, diese aber nicht gleich für die Kinder bereitstellen, dann auf die weiteren Initiativen warten und die zu einer Lösung passenden Initiativen bestätigen und (Teil-)Erfolge mit einer deutlichen Bestätigung sozusagen »feiern«. Auf diese Weise lernen Kinder ein Denken in Lösungsmustern, das ihnen, möglicherweise in einer Art »Deuterolernen« (Bateson 1985), also einem »Lernen, wie man lernt«, helfen kann, spätere »größere Probleme« mutig und optimistisch im Sinne von Herausforderungen (siehe Abschnitt »Das Arbeitsfeld: die Alltagskommunikation«) zu verstehen.

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Auch in der Erziehungs- und Familienberatung ist es ein Ziel, die Eltern zu aktivieren, ihre Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen. Auch aufgrund einer Fülle von Experten und Expertenmeinungen zu Themen wie Erziehung, Entwicklung und Entwicklungsunterstützung sind manche Eltern verunsichert und haben verlernt, der eigenen Intuition zu vertrauen. Bisweilen wird auch durch Fachleute die Überzeugung genährt, sie und/oder ihr Kind/ihre Familie »bräuchten Therapie« und zunächst keine eigenen Aktivitäten, um »das Problem« zu lösen. Wenn sich eine solche Idee festsetzt, entwickelt sich leicht eine Haltung analog zu einem Reparaturauftrag an den Experten: »Sie sind der Experte, bringen Sie mein Kind in Ordnung!« An dieser Stelle ist es hilfreich, den Eltern zu sagen, dass man zwar Experte für Entwicklung und Entwicklungsunterstützung ist, dass aber die Eltern diejenigen sind, die die intensivste Beziehung zu ihrem Kind haben und es – im Gegensatz zu Experten – täglich in seiner Entwicklung unterstützen können, wenn sie genau wissen, wie, wo, wann und warum. Die Experten und Expertinnen können den Eltern diese Informationen am besten anhand von Videoaufnahmen von deren Interaktion mit dem Kind vermitteln und so den Prozess begleiten. In aller Regel sind Eltern sehr motiviert, ihre Kinder zu unterstützen, und froh, wenn sie für die Kinder eine positive Rolle spielen können. Durch einen solchen Prozess werden sowohl das Selbstbewusstsein als auch die Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Eltern nachhaltig gestärkt. Für Beraterinnen ist eine derartige Haltung ebenfalls hilfreich: Die Eltern verrichten die »Beziehungsarbeit« mit den Kindern, während die Beraterinnen eine ähnliche Rolle wie ein »Coach« oder bisweilen auch wie ein Supervisor einnehmen. Ein solches Modell trägt der realen Verteilung der Verantwortung Rechnung. Die Kinder haben die Möglichkeit, »gestärkte Eltern« zu erleben, und gewinnen so die für positive Entwicklungsprozesse erforderliche Sicherheit. Die Arbeit von Experten, spezielle Therapien oder auch kinderpsychotherapeutische Interventionen sind in diesem Modell, beispielsweise bei gravierenden klinischen Problemen, notwendige und sinnvolle Ergänzungen.

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■ Das Arbeitsfeld: die Alltagskommunikation In den traditionellen klinischen Ausbildungen wurde gelehrt, in den Explorations- und Anamnesegesprächen mit unseren Klienten oder Patienten besonders auf traumatische Erfahrungen, Beziehungsabbrüche, Krankheiten, kritische Lebensereignisse und andere biographisch relevante Übergänge und Veränderungen zu achten. Eine Berücksichtigung des Alltagsgeschehens im Leben der Kinder war zwar auch gegeben, stand aber gegenüber den anderen Gesichtspunkten häufig an zweiter Stelle. Mit der Integration des Marte-Meo-Modells in die Arbeit veränderte sich diese Gewichtung. Die Aufmerksamkeit wurde hier mehr auf den Alltag, das »Gewöhnliche« im Leben der Klienten gerichtet. Wir sahen zunehmend, dass »große Veränderungen« zwar bedeutsame Folgen haben können, dass der Nährboden der kindlichen Entwicklungen jedoch in deren Alltagsleben zu finden ist. Hier werden die Grunderfahrungen gesammelt oder vermisst, die es Kindern ermöglichen, mit Krisen und Übergängen in ihrem Leben zurechtzukommen. Hier werden schrittweise – begleitet, vermittelt und moderiert von den Eltern und Bezugspersonen – die Welt und »das Leben« verstanden, so dass sich ein Gefühl der Verstehbarkeit (Bengel et al. 1998) im Kind entwickeln (Aarts 2002a) kann. Mit entsprechender Unterstützung entwickeln Kinder die Fähigkeit, auch zunächst unbekannte Informationen strukturiert zu verarbeiten. In ihrem Alltag lernen sie durch »feinfühliges« (Suess 2001), »abgestimmtes« (Stern 1992) Verhalten der Bezugspersonen, ein Gefühl der Handhabbarkeit und Bewältigbarkeit (Antonovsky 1997; Bengel et al. 1998) von Problemen zu entwickeln (Aarts 2002a). Sie lernen dann, darauf zu vertrauen, dass Schwierigkeiten lösbar sind und dass sie oder Personen oder Kräfte, denen sie vertrauen, genügend Ressourcen haben, um die Anforderungen des Lebens zu bewältigen. Schließlich können die Kinder auf dem Nährboden ihrer Alltagsinteraktionen mit »hinreichend guten« (Winnicott 1974) Eltern oder Bezugspersonen ein Gefühl der Sinnhaftigkeit (Frankl 1977) entwickeln, das die Probleme des Lebens und der Welt als Herausforderung versteht und annimmt und eine Haltung hervorbringt, die auf der Überzeugung beruht, dass es sich lohnt, Engagement zu investieren. Die be-

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zeichneten Gefühle der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit beziehungsweise Bewältigbarkeit sowie der Sinnhaftigkeit gelten als Komponenten dessen, was Antonovsky (1997) als »Kohärenzgefühl« beschrieben hat. Das Kohärenzgefühl gilt in der Salutogeneseforschung als zentraler Faktor der seelischen Gesundheit. Die Ausbildung dieser Gefühle basiert auf einer in sensiblen Entwicklungsphasen alltäglich gefühlten Sicherheit. Diese wiederum wird durch feinfühlige Bezugspersonen über Tausende »passender« Interaktionen vermittelt. Es liegt auf der Hand, dass es auch die alltäglich wiederholten Interaktions- und Kommunikationsmomente sind, die den Nährboden für defizitäre, geschädigte oder gestörte Entwicklungen bilden (vgl. Petzold 1993). Stern schreibt über die Identifikation klinisch bedeutsamer Ereignisse im Leben kleiner Kinder: »Wir können von der Grundannahme ausgehen, dass die klinisch bedeutsamen Ereignisse und Momente aus den sehr kleinen, gewöhnlichen, alltäglichen, wiederholsamen, nonverbalen Ereignissen bestehen, die sich – objektiv gesprochen – ereignet haben. Vielleicht stellen sie sogar die einzigen menschlichen Vorgänge überhaupt dar, die zu Beginn für den Säugling existieren« (Stern 1998, S. 79). Damit wird klar, dass die scheinbar gewöhnlichen, unspektakulären, unscheinbaren Alltagsabläufe und die Alltagskommunikation nicht an die Peripherie, sondern ins Zentrum des beraterisch-therapeutischen Interesses gehören. Es gerät auch in den Blick, dass die Anforderungen an die Kommunikation der Eltern zum einen von den Eltern und Kindern, zum anderen aber auch von der jeweiligen Alltagssituation abhängen. So macht es einen Unterschied, ob Eltern mit einem Kind eine freie Spielsituation, eine Wickel-, Essens-, Hausaufgaben- oder Zu-Bett-geh-Situation gestalten. Jeder Alltagssituation entspricht eine bestimmte »innere Logik«, die erfolgreiche Bewältigung der Situation verlangt, sowie in der Regel ein bestimmter familiärer Umgangsstil mit der Situation. Dieser wird von den unterschiedlichen Personen und Persönlichkeiten mitbestimmt, geprägt und weiterentwickelt, abgestimmt auf das Alter der Kinder. Die Kinder erleben im Lauf ihrer Sozialisation ganze Sets möglicher Situationsabläufe und entsprechender Verhaltensmodelle. Dieses Angebot möglicher Modelle und Szenarien wächst mit der Anzahl

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der beteiligten Kinder und Bezugspersonen. In den Videoanalysen verschiedener Alltagssituationen lässt sich erkennen, ob die Kinder geeignete Modelle zur Bewältigung der entsprechenden Situation entwickelt haben oder ob sie dabei noch Hilfe benötigen. Dadurch, dass den Eltern in den Videoberatungen der eigene Alltag in den Blick gerät, kann jede Intervention, die ihnen Einsichten in positive Kommunikationsformen ermöglicht, auch direkte praktische Effekte zur Erleichterung des täglichen Lebens mit sich bringen.

■ Lernschritte: Von der Vorstellung zur Betrachtung Die vielleicht einschneidendste Neuorientierung in der beraterisch-therapeutischen Arbeit mit dem Marte-Meo-Modell besteht meines Erachtens in dem, was »die Rückkehr zur Beobachtung« genannt werden kann. Am Anfang der Ausbildung steht eine systematische Videobeobachtung von Alltagsinteraktionen in »normalen«, klinisch nicht auffälligen Familien. Es wird gelehrt, wie man von dem, was in den Videos zu sehen ist, Interaktionsanalysen erstellen kann. Dies führt bei vielen Ausbildungskandidaten zu Schwierigkeiten, weil man gewohnt, ja sogar langjährig geschult war, das, was man sah und hörte, als »szenische Information« interpretativ zu verarbeiten und das Ergebnis, einen Gedanken oder eine Idee, dann in Worte zu kleiden. Zu Beginn der Arbeit mit Videointeraktionsanalysen sind oft nur minimale bildhafte Informationen erforderlich, um schnell zu Schlussfolgerungen zu gelangen: »Das Kind sucht die Aufmerksamkeit der Eltern« oder »Die Eltern können dem Kind keine Grenzen setzen« und Ähnliches. In der Regel folgt einer solchen Gelegenheit die Bitte der Supervisorin anhand der Bilder Schritt für Schritt zu zeigen, was man sehen und wie man das beschreibend, nicht interpretativ benennen kann. Die Ausbildungskandidaten sind in der Regel gewohnt, schneller zu ihrer Vorstellungswelt von Gedanken, Theorien und Hypothesen, kurz, zu den Repräsentationen zu gelangen, als wahrzunehmen und zu beschreiben, was zu sehen ist. Dem entspricht, dass in

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der normalen Beratungsarbeit, die ausschließlich narrativ strukturiert ist, offenbar auch andere, stammesgeschichtlich jüngere Hirnregionen aktiviert sind. Bei der Betrachtung von Videosequenzen wird das prozedurale Gedächtnis aktiviert. Im prozeduralen Gedächtnis als der entwicklungsgeschichtlich frühesten Gedächtnisform sind frühe Beziehungserfahrungen in Erwartungsmustern repräsentiert, die wiederum den Umgang mit anderen Menschen anleiten. Daran sind gleichermaßen Gefühle, Einschätzungen über das vermutete Verhalten des anderen sowie eigenes Verhalten beteiligt. Diese frühen Erfahrungen sind wiederholte und generalisierte Erfahrungen, die als vorsprachliche sensumotorische Informationen abgespeichert und nicht bewusst sind. Prozedurale Gedächtnisinhalte leiten vermutlich einen Großteil alltäglichen Verhaltens an, und dabei solche Verhaltensweisen, die sich selbst prozedural entwickelt haben. Dazu gehören etwa die eigenen Beziehungserfahrungen von Eltern (Fries 2002, persönl. Mitteilung). Zuweilen erlebt man, in den eigenen Ideen und Repräsentationen »gefangen« zu sein, das heißt diese für »realer« zu halten als das, was vor den Augen ist. Dies ähnelt fatalerweise den Abläufen in Klientenfamilien, in denen jeder schon »weiß«, was der andere denkt, und die darunter leiden, dass sie sich in »kalibrierten Kommunikationsschleifen« aufhalten, in die letztlich keine Information, »die einen Unterschied bilden kann« (Simon 1988), hineingelangen kann. Auf diese Weise verhilft die Beobachtung konkreter Szenarien jeweils auch zu einer Realitätsprüfung. Die Ideen sind dabei manchmal auch hilfreich, aber während des Lernens präziser Beobachtungen erfahrungsgemäß eher hinderlich. Es ist in der Anfangsphase mühsam, in der Beratungsarbeit an die Stelle von Interpretationen eine exakte Beobachtungssprache zu setzen. Idealerweise sollte man »die Bilder sprechen lassen« und auf diese Weise die entwicklungsunterstützende Information an die Eltern vermitteln. Es ist wichtig, darauf zu achten, welche Informationen die Eltern aufnehmen und wie sie diese verarbeiten. Ausbildungskandidaten sollten lernen, ihre Informationen so mitzuteilen, dass die Eltern sie gern aufnehmen, und, wo es passt, den Eltern Raum zu geben, um ihre Ideen, Beschreibungen und Bewertungen der Situation kennen zu lernen, sie zu bestätigen, um den Fokus der

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Aufmerksamkeit anschließend wieder zurück zu denjenigen Bildern zu lenken, die die neue Information (Hawellek 1997) enthalten. Es ist wichtig, eine Beobachtungssprache präzise und neutral benutzen zu können und positive Atmosphären zu gestalten. Ausbildungskandidaten sollten lernen, einfach zu formulieren und dann darauf zu warten, welche Wirkungen ihre Worte zeigen. Schließlich ist es hilfreich, mit scheinbar kleinen Schritten der Klienten anerkennend umzugehen und die Bilder dazu zu nutzen, sie – im Blick auf die kindlichen Entwicklungsanforderungen – angemessen »groß« zu machen. Ein weiterer Lernschritt ist, herauszufinden, wie verschiedene Alltagssituationen diagnostisch zu nutzen sind und wie die Eltern dabei unterstützt werden können, wahrzunehmen, wie genau ihre Kinder auf sie reagieren, und das, wo es möglich ist, auch zu genießen. Dabei lernt man die Entwicklungsanforderungen der Eltern kennen und lernt beispielsweise zu unterscheiden, ob eine elterliche Fähigkeit (noch) nicht hinlänglich entwickelt oder »verschüttet« ist, eine Unterscheidung, die jeweils verschiedene therapeutische Vorgehensweisen erfordert.

■ Veränderte Praxis Wenn Marte Meo in der Erziehungs- und Familienberatung praktiziert wird, ist es erforderlich, die konventionelle »Komm-Struktur« der Beratungsstellen zugunsten eines »Reißverschlusssystems« zu verändern; Termine finden – zumindest über gewisse Zeiträume – abwechselnd im Alltag der Familien und in der Beratungsstelle statt. Die Besuche in der Alltagswelt der Familien liefern viele Informationen »live«, die für die Einschätzung einer passenden Unterstützung und die Planung des weiteren Vorgehens wertvoll sein können. Sie geben Aufschlüsse über den Lebensstil, die Atmosphären und die Umgebung der Familien. Im Unterschied zu den »Home Trainings« (Schepers u. König 2000) haben wir es schätzen gelernt, die Beratung dennoch nicht in der häuslichen Umgebung, sondern in der Beratungsstelle durchzuführen. Dieses Setting erleichtert den Eltern den Wechsel vom »Teilnehmer« zum »Beobachter« einer Familiensituation (Hawel-

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lek 1995) und unterstreicht die Bedeutung der Beratung als einer spezifischen Gesprächssituation, die sich von den alltäglichen Gesprächen unterscheidet. Dieses Setting ermöglicht auch ein Gleichgewicht zwischen Familie und Beratern, das wechselseitig die Autonomie der jeweiligen Sphäre unterstreicht; einmal ist man zu Gast in der Familie, ein andermal sind die Eltern Gäste der Berater. Bei besonders belasteten Familiensituationen kann es zudem angezeigt sein, auch die Videobeobachtung in der Beratungsstelle durchzuführen, um die Eltern von ihrer Gastgeberrolle und dem damit möglicherweise verbundenen Stress zu entlasten. In der Marte-Meo-Arbeit behandeln wir unsere Klienten wie Gäste. Wir bieten Tee oder Kaffee an und sorgen für eine entspannte, angenehme Atmosphäre, die es erleichtert, einen Abstand zu einer (Problem-)Situation auf Video einzunehmen. Auf diesem Weg ist es einfacher, Gelassenheit im Sinn einer »koregulatorischen« Unterstützung (Fries 2001, S. 83) der Eltern zu ermöglichen. Wir sehen unsere Klienten auch als »Kunden« (Schweitzer 1995). Wir gehen davon aus, dass sie ihre Lebensgeschichte, ihre Lebensgestaltung, ihre Wertvorstellungen und Lebensziele besser kennen als die Berater. Wir gehen auch davon aus, dass Eltern ihre Kinder besser »kennen« als die Berater, da sie über ein »implizites Beziehungswissen« (Papousek 2000) verfügen. Das schließt ein, dass sie, ebenfalls besser als alle Berater, »wissen«, wo die »Schwachstellen« ihrer Beziehungsgestaltung mit den Kindern liegen (Stern 1996). Wenn Eltern Beratung suchen, wollen sie daher in der Regel nicht so viel über ihre Probleme erfahren, sondern herausfinden, wie sie diese am schnellsten »aus eigener Kraft« lösen können (Aarts 1995, 2002a, 2000b; s. a. das Gespräch in diesem Band). Die Berater sollten »im Bilde« darüber sein, wie kindliche Entwicklungen normaler- und »gestörterweise« verlaufen und wie Eltern oder Bezugspersonen das jeweilige Kind mit seinen Entwicklungsanforderungen unterstützen können. Die Eltern sind die Experten für ihr Leben und das ihrer Familien, während Berater Experten für die Unterstützung in (schwierigen) (Ko-)Entwicklungsprozessen sind. Berater sollen Wege kennen, die die Familien aus den Schwierigkeiten herausführen, und in diesem (traditionellen) Sinn »e-ducation« (im Unterschied zum Begriff der so genannten Psychoedukation, vgl. v. Schlippe bzw. Sirringhaus-Bün-

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Die »Philosophie« und Standortbestimmung von Marte Meo

der in diesem Band) betreiben. Sie sollten den Erfahrungen von Selbstwirksamkeit beziehungsweise »Urheberschaft« (Stern 1992) oder der »Marte Meo Erfahrung« (Aarts 2002a) ihrer Klienten breiten Raum geben und auf diese Weise einem wesentlichen Grundprinzip von Entwicklungsprozessen den Boden bereiten. Die dazu passenden Interventionen sind klar und einfach, jedoch nicht leicht – ganz im Sinn des klassischen Ausspruchs von Virginia Satir: »It’s simple, but not easy.« Sie erfolgen »Schritt für Schritt«. Ihre Wirkungen sind häufig unmittelbar und einsichtig.

■ Literatur Aarts, M. (1995): Aus eigener Kraft. Systhema 10 (1): 29-34. Aarts, M. (1996): Marte Meo Guide. Harderwijk. Aarts, M. (2002a): Marte Meo. Ein Handbuch. Harderwijk. Aarts, M. (2002b): Marte Meo Programme for Autism. Harderwijk. Antonovsky, A. (1997): Salotugenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen. Bateson, G. (1985): Sozialplanung und der Begriff des Deutero-Lernens. In: Bateson, G.: Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M. Benner, D. (1973): Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft. München. Bengel, J.; Strittmeier, R.; Willmann, H. (1998): Was erhält den Menschen gesund? Köln. Bowlby, J. (1975): Bindung. München. Bowlby, J. (1976): Trennung. München. Bünder, P. (2002a): Geld oder Liebe. Verheißungen und Täuschungen der Ressourcenorientierung in der Sozialen Arbeit. Münster u. a. Bünder, P. (2002b): Einfach heißt nicht leicht. In: Informationen für Erziehungsberatungsstellen, 1/02 Cecchin, G. (1988): Zum gegenwärtigen Stand von Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität – eine Einladung zur Neugier. In: Familiendynamik 13 (3): 190-203. Dornes, M. (1993): Der kompetente Säugling. Frankfurt a. M. Erickson, E. (1971): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart. De Shazer, St.; Berg, I. K.; Lipchik, E. et al. (1986): Kurztherapie – Zielgerichtete Entwicklung von Lösungen. Familiendynamik 11 (3): 182-205. Frankl, V. (1977): Das Leiden am sinnlosen Leben. Freiburg u. a. Fries, M. (2001): Schwierige Babys, erschöpfte Eltern – Möglichkeiten früher Intervention. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, Ch. (Hg.): Früh-

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kindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung – Die Chancen des Anfangs. Münster, S. 79-90. Øevreeide, H.; Hafstad, R. (1996): The Marte Meo Method and Developmental Supportive Dialogues. Harderwijk. Hawellek, Ch. (1992): Das Konzept der Grenzen. Frankfurt a. M. Hawellek, Ch. (1995): Das Mikroskop des Therapeuten. Systhema 10 (1): 6-28. Hawellek, Ch. (1997): Von der Kraft der Bilder. Systhema 12 (2): 125-135. Hawellek, Ch. (2000): Die Nutzung von Videointeraktionsanalysen in der Arbeit mit depravierten Familien. Vortrag auf der 47. Arbeitstagung österreichischer Jugendamtpsychologinnen Wien: Selbstverlag, S. 68-89. Johannsen (1804): zit. n. Benner (1973) a. a. O. Kohut, H. (1976): Narzissmus. Frankfurt a. M. Kraus, K. (1968): Nachts. Aphorismen. München. Maslow, A. (1973): Psychologie des Seins. München. Papousek, H.; Papousek, M. (1995): Vorsprachliche Kommunikation: Anfänge Formen Störungen. In: Petzold, H. G. (Hg): Die Kraft liebevoller Blicke. Psychotherapie und Babyforschung. Bd. 2. Paderborn, S. 123-143. Papousek, M. (2000): Der Einsatz von Video in der Eltern-Säuglingsberatung und Psychotherapie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 49: 611-627. Petzold, H. G. (Hg.) (1993): Frühe Schädigungen – späte Folgen? Psychotherapie und Babyforschung. Bd. 1. Paderborn. Petzold, H. G.; Goffin, J.; Oudhof, J. (1993): Protektive Faktoren und Prozesse. In: Petzold, H. G. (Hg.): Frühe Schädigungen – späte Folgen? Psychotherapie und Babyforschung. Bd. 1. Paderborn, S. 345-499. Sauer (1798): zit. n. Benner (1973) a. a. O. Schepers, G.; König, C. (2000): Video Home Training. Weinheim u. Basel. Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, Ch. (Hg.) (2001): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung – Die Chancen des Anfangs. Münster. Schlippe, A. v.; Schweitzer, J. (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen u. Zürich. Schmitz, H. (1989): Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Paderborn. Schneider, K.; Wüstenberg, W. (2001): Entwicklungspsychologische Forschung und ihre Bedeutung für Peerkontakte im Kleinkindalter. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, Ch. (Hg.): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung, S. 67-79. Schweitzer, J. (1995): Kundenorientierung als systemische Dienstleistungsphilosophie. Familiendynamik 20 (3): 292-313. Simon, F. (1988): Unterschiede, die Unterschiede machen. Berlin u. Heidelberg. Simon, F.; Clement, U.; Stierlin, H. (1999): Die Sprache der Familientherapie. 5. völlig überarb. Neuaufl. Stuttgart. Sirringhaus-Bünder, A.; Hawellek, Ch.; Bünder, P.; Aarts, M. (2001): Die Kraft entwicklungsfördernder Dialoge. Das Marte Meo Modell im Praxisfeld

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Die »Philosophie« und Standortbestimmung von Marte Meo

Erziehungsberatung. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, Ch. (Hg.) (2001): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung – Die Chancen des Anfangs. Münster, S.104-120. Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart. Stern, D. (1996): Die Bedeutung der Kinderbeobachtung für die klinische Theorie und Praxis. Kongressvortrag World of Psychotherapy. Wien. Stern, D. (1998): Die Mutterschaftskonstellation. Stuttgart. Suess, G. (2001): Eltern-Kind-Bindung und kommunikative Kompetenzen kleiner Kinder – die Bindungstheorie als Grundlage für ein integratives Interventionskonzept. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, Ch. (Hg.): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung – Die Chancen des Anfangs. Münster, S. 39-66. Szasz, T. (1972): Der Mythos von der seelischen Krankheit. In: Keupp, H. (Hg.): Der Krankheitsmythos in der Psychopathologie. München u. a., S. 44-56. Watzlawick, P.; Beavin, J. H.; Jackson, D. D. (1971): Menschliche Kommunikation. Bern u. a. Watzlawick, P.; Weakland, J.; Fisch, R. (1974): Lösungen. Bern u. a. Welter-Enderlin, R.; Hildenbrand, B. (1998): Gefühle und Systeme. Heidelberg. Winnicott, D. (1974): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München.

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Die Marte-Meo-Methode

Die Beiträge dieses Abschnitts befassen sich mit den methodischen Besonderheiten von Marte Meo. Christian Hawellek und Kai Meyer zu Gellenbeck beschreiben das Herzstück der Methode, die systematische Nutzung von Videointeraktionsanalysen, als die Kunst der kleinen Schritte. Das Erlernen von Marte Meo ist ein Learning by Doing und ein Lernen am eigenen Modell. Das gilt insbesondere für die Marte-Meo-Therapeutinnen, für diejenigen Beraterinnen also, die Marte Meo in der Beratungs- und Coachingarbeit nutzen. Maria Aarts hat verschiedene Listen von Entwicklungsgelegenheiten – Checklisten – vorgelegt, in denen konkretisiert wird, wonach die Erstellerinnen von Videointeraktionsanalysen (VIAs) unter einer bestimmten Fragestellung schauen können. Dieser Artikel stellt exemplarisch eine Liste von Entwicklungsgelegenheiten für Kinder vor, die sozial isoliert sind und nicht mit anderen Kindern zusammen spielen können. Monica Hedenbro und Annette Liden aus Stockholm waren Mitglieder der so genannten Trilogiegruppe um Daniel Stern in Lausanne. Sie untersuchen die Bedeutung der Elternbeziehung als Basis für das Kind und werfen einen systemischen Blick auf die Marte-Meo-Familienberatung. Sie unterstreichen die herausragende Bedeutung einer guten Kooperation der Eltern für die Entwicklung der Kinder. Sie zeigen, wie eine Kooperation durch Marte Meo gebahnt werden kann und auf welche Weise die Präsentation von Videobildern dazu verhelfen kann, auch die RePräsentationen, die »inneren Bilder« der Eltern – sowohl vom Kind als auch voneinander –, zu verändern und den Realitäten anzupassen. Die Autorinnen veranschaulichen ihre Überlegungen am Beispiel einer klinischen Arbeit mit einem Schreibaby

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Die Marte-Meo-Methode

und seinen Eltern. Dieser Beitrag wird mit Comics von Björn von Schlippe illustriert, dem wir an dieser Stelle herzlich danken.

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■ Christian Hawellek und Kai Meyer zu Gellenbeck Die »Kunst der kleinen Schritte« Marte Meo: Ein Modell und eine Methode sozialer Intervention

Do it step by step! (Maria Aarts) It’s simple but not easy. (Virginia Satir) Lang ist der Weg durch Lehren, kurz und erfolgreich durch Beispiele. (Seneca)

Die Marte-Meo-Methode (Aarts 2002; Sirringhaus-Bünder et al. 2001) beruht auf einem praxisorientierten Arbeitsmodell, durch das die Ressourcen von Familien bei der Lösung von Erziehungs-, Kommunikations- und Schulproblemen freigelegt und genutzt werden sollen. Der Name Marte Meo soll verdeutlichen, dass es darum geht »aus eigener Kraft etwas zu erreichen«. Die Klienten werden motiviert und darin unterstützt, durch ihr eigenes Potential Entwicklungsprozesse zu begünstigen und anzuregen. Maria Aarts, die Begründerin von Marte Meo, beschäftigt sich seit 1976 mit der videogestützten Arbeit mit Kleinkind-Familien. Sie ist Mitbegründerin der ORION-Methode, aus der das Video-Home-Training hervorging. Auf der Basis dieser Erfahrungen entwickelte sie ab 1987 das Marte-Meo-Konzept, das bis 1996 in mehr als 20 Ländern Verbreitung gefunden hat. Ein Schwerpunkt liegt in Skandinavien, aber auch in Asien, Afrika, Neuseeland und Mittelamerika wird mit Marte Meo gearbeitet (Übersicht bei Aarts 1996). Marte-Meo-Programme werden bei einer sehr unterschiedlichen Klientel angewandt, bis hin zur Arbeit in Altenheimen, Kinderpsychiatrien, Behinderteneinrichtungen und Schulen (Aarts 1996). Der Schwerpunkt liegt in der Arbeit mit Kindern, die auch historische Grundlage der Entwicklung von Marte Meo ist. Ziel-

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gruppe sind insbesondere die Eltern von Säuglingen und Kleinkindern sowie Eltern, die eine Alternative zum Beratungsgespräch benötigen, um zu einer Problemlösung zu kommen. Im Folgenden sollen zunächst methodische Aspekte beleuchtet und im Anschluss die Ziele und grundlegenden Prinzipien beschrieben werden. Eine zentrale Annahme wird mit dem »natürlichen entwicklungsunterstützenden Dialog« (Øvreeide u. Hafstad 1996) beschrieben, um dann Anforderungen an den Therapeuten zusammenzufassen.

■ Methodische Aspekte Zum Einsatz von Marte Meo kommt es im Regelfall dann, wenn Eltern wegen eines Kindes, das Probleme hat oder bereitet, Hilfe suchen und eine Erweiterung des üblichen Beratungskontextes im Sinne eines »Coachings für Eltern« fruchtbar zu sein scheint. Bei einem entsprechenden Kontrakt mit den Eltern läuft der MarteMeo-Prozess in folgender Form ab (nach Sirringhaus-Bünder et al. 2001): 1. Klärungsphase 2. Schriftliche Vereinbarung 3. Zyklen aus: a) Videobeobachtung b) Videointeraktionsanalyse c) Videoberatung Die Klärungsphase dient dazu, den Eltern zu vermitteln, was sie erwartet und welche Möglichkeiten ihnen Marte Meo eröffnet. Ein wichtiges Element dieses Klärungsgesprächs besteht in einer (schriftlichen) Zusicherung, aus der hervorgeht, dass die Videoaufnahmen ausschließlich im Rahmen des Beratungs- beziehungsweise Coachingkontextes verwendet werden. Im weiteren Verlauf werden Videos von alltäglichen Interaktionen aufgenommen, im Regelfall in der häuslichen Umgebung (vgl. dazu auch den Beitrag von Hawellek »Ein-Sichten« in diesem Band). Das erste Video dient der Diagnose des kindlichen Entwicklungsstandes und der elterlichen Unterstützungsmöglichkeiten (Aarts 2002).

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Die anschließende Videointeraktionsanalyse hat das Ziel, Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine positive Interaktion zu finden, zu aktivieren und zu entwickeln. Der Blickwinkel liegt auf Elementen gelungener Kommunikation; Ausgangspunkt der Arbeit ist das Anliegen der Eltern. Dies gilt sowohl für die Interaktionsanalyse, die die Berater allein oder mit einem Supervisor durchführen, als auch für die anschließende Videoberatung, die in der Regel etwa eine Woche später mit der Familie beim Berater durchgeführt wird. Dabei sind zunächst Momente, in denen »das Problem« bestätigt wird, und dann Momente, in denen die Eltern unterstützendes Verhalten zeigen, Gegenstand der Betrachtung. Dieser therapeutische Ansatz könnte als »Lernen am eigenen Modell« bezeichnet werden. Im weiteren Durchlaufen dieser Zyklen können auch Momente aufgezeigt werden, in denen die Eltern Gelegenheiten hätten, förderliches Verhalten zu zeigen. Den Abschluss eines Zyklus bildet dann ein Kontrakt, der an weitere aktuelle Anliegen der Eltern anknüpft. Daran orientiert sich die Auswahl weiterer Kontexte, in denen Videos aufgenommen werden.

■ Grundlegende Ziele und Prinzipien Als vorrangiges Ziel in der Arbeit mit Marte Meo wird genannt, die Fähigkeiten der Eltern zu stärken. Es wird davon ausgegangen, dass die Eltern das Beste für ihr Kind wollen, gerade auch dann, wenn sie selbst eine schwierige Kindheit hatten. Probleme gibt es in dem Moment, in dem die Eltern erkennen, dass es ihnen nicht gelingt, ihre guten Absichten in die Tat umzusetzen. Das kann dadurch erklärt werden, dass sie möglicherweise nie vorgelebt bekommen haben, wie man positiv mit den Kindern interagieren kann. Die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Aufbau einer guten Beziehung fehlen (Aarts 2002). Eine weitere Zielgruppe sind Eltern, die spezielle Fertigkeiten benötigen. Bei behinderten Kindern beispielsweise sind besondere Kenntnisse erforderlich, die Eltern nicht von ihren eigenen Eltern lernen konnten, sofern sie nicht selbst behindert sind. Die Aufgabe des Therapeuten liegt darin, konkrete Informationen über unter-

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stützende Möglichkeiten zu sammeln. Dazu gehört insbesondere ein Überblick hinsichtlich wissenschaftlicher Erkenntnisse, der Eltern im Regelfall nicht möglich ist. Eine weitere Aufgabe besteht darin, den Transfer dieser Informationen in elterngerechte und konkrete problemlösende Handlungsalternativen zu ermöglichen. Das sollte in Form detaillierter, konkreter, kleiner und praktischer Schritte erfolgen (Aarts 2002; Sirringhaus-Bünder et al. 2001). Aarts hat den Begriff des »missing link« geprägt, um die Notwendigkeit zu betonen, ein Verbindungsglied zwischen akademischer Information und alltäglicher Sprache zu schaffen. Maria Aarts spricht in ihren Seminaren gern von »Marte-MeoInformationen«, das heißt, dass ihr Ansatz von konkreten Informationen über gelungene Entwicklungsprozesse ausgeht und auf diesen beruht. Darüber hinaus lehrt sie eine bestimmte Art mit den Informationen umzugehen, also den Menschen, die man berät, handhabbares Wissen zu vermitteln. Welche Art von Informationen damit gemeint ist, sollen die nachstehenden Gedanken erläutern. Wenn Eltern einen Rat haben wollen, suchen sie nach der Möglichkeit, ein »Problem« einzuordnen und dann zu lösen. Dieses »Problem« wird in der Regel in Form einer Erzählung, einer Geschichte berichtet, also »narrativ strukturiert« vorgetragen. Viele Beratungs- und Therapieansätze bewegen sich auf genau dieser Ebene der Narrationen und bieten, je nach Ausrichtung, Deutungen, Umdeutungen (Reframings) oder Problemanalysen, das heißt, sie bewegen sich auf der Ebene der Veränderung von Bedeutungen und widmen sich in der beraterisch-therapeutischen Kommunikation den Prozessen der Bedeutungsgebung von Phänomenen. Man kann auch sagen, dass sich die »normale Beratungsarbeit« in erster Linie auf der Ebene von sprachlich erschlossenem Sinn bewegt, wobei bisweilen auch die Sprache der Aktionen (Psychodrama), des nonverbalen Ausdrucks (Skulpturarbeit), der kreativen Medien und anderes genutzt wird, um neuen Sinn zu erschließen. Ähnliches geschieht – unter Nutzung anderer Kommunikationstechniken – in Gruppen-, Paar- und Familientherapien oder in der Arbeit mit Reflektierenden Teams. Die Marte-Meo-Arbeit fußt auf einer Prämisse, die es erlaubt, Verhaltensprobleme von Kindern als Gelegenheiten zur Entwicklung zu verstehen. Dies ist dann möglich, wenn Kommunikations-

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und Interaktionsphänomene im Kontext von Entwicklungsprozessen gesehen und eingeordnet werden. Auf diese Weise schaut Maria Aarts auf »die Botschaft hinter dem Problem« (siehe das Interview mit ihr in diesem Band) und betrachtet ein Verhaltensproblem als einen (noch) nicht vollzogenen Entwicklungsschritt von Kindern. Eine weitere Prämisse der Marte-Meo-Arbeit besagt, dass die verantwortlichen Erwachsenen das Kind in seinen anstehenden Entwicklungsschritten alltäglich in konkreten Situationen unterstützen können. Voraussetzungen hierfür sind: – die Bereitschaft, das Kind zu unterstützen, – die Möglichkeit, dem Kind ausreichend Zeit und Aufmerksamkeit zu geben, – die passenden Informationen zu bekommen und – bei der Umsetzung der Informationen die Möglichkeit zu bekommen, kompetent begleitet zu werden. Hier stellt sich die Frage, wie sich hilfreiche entwicklungsunterstützende Marte-Meo-Informationen charakterisieren lassen. Die Erwachsenen benötigen Informationen, die sich konkret und präzise auf die jeweiligen Personen und Situationen beziehen. In diesem Sinn bieten Videoclips, die den Betroffenen gezeigt werden, die geeigneten Informationen, denn Bilder der eigenen realen Situation mit dem Kind sind am eindrücklichsten. Die Videoclips wirken auch insofern nachhaltig, als sie ganz offensichtlich besser erinnert werden als Beratungsgespräche (siehe auch den Beitrag von Hawellek »Ein-Sichten« in diesem Band). Darüber hinaus können sie von den Eltern und Beraterinnen gemeinsam betrachtet, kommentiert und besprochen werden. Für die Beraterinnen ist es von Bedeutung, wie sie die Videos analysieren und welche Clips sie benutzen, um den Eltern zu zeigen, dass man »das Problem« sieht, um die Botschaft hinter dem Problem zu benennen und den Eltern deutlich zu machen, wo sie Verhaltensweisen gezeigt haben, die ihrem Kind einen nächsten Entwicklungsschritt ermöglichen und/oder wo gute Gelegenheiten wären, diese Verhaltensweisen zu zeigen. Für viele Eltern ist es auch bedeutsam zu erfahren, warum sie das Kind auf diese Weise unterstützen können.

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So erfahren Eltern eines Kindes, das Schwierigkeiten mit anderen Kindern hat und ängstlich ist, dass sie es unterstützen können, indem sie ihm im Alltag immer sagen, was sie gerade tun oder vorhaben. Die Eltern lernen, dass sie so für ihr Kind vorhersagbar werden. Dies ist eine Voraussetzung dafür, Ängste, die auch als negative Zukunftsphantasien beschrieben werden können, zu verringern. Gleichzeitig bieten sie damit ihrem Kind ein Verhaltensmodell, das eine Voraussetzung für Kooperation ist, das heißt auch für gemeinsames Spielen. Ein Kind, das gelernt hat, anderen Kindern in einer Spielsituation zu sagen, was es tut und was es vorhat, schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich andere Kinder dem Spiel anschließen können. Maria Aarts hat typische Entwicklungsschritte, die im alltäglichen Miteinander zu beobachten sind, für verschiedene »Problemgruppen« aufgelistet (Aarts 2002). Es existieren »Listen für Entwicklungsgelegenheiten« für Schreibabys, ADHS-Kinder sowie eine Liste zur Selbstevaluation für Beraterinnen. Diese Listen sind aus der praktischen Marte-Meo-Arbeit heraus entwickelt worden. Sie sollten von daher nicht als ein »abgeschlossenes System« betrachtet werden, sondern als ein nützliches Instrumentarium für Berater. Daher können sie sinnvollerweise fortlaufend weiterentwickelt werden. Anhand der aufgelisteten Verhaltensweisen können Beraterinnen Rückschlüsse auf den Entwicklungsstand von Kindern und sodann auf die Entwicklungsgelegenheiten für die Kinder ziehen. In einem weiteren Schritt lässt sich anhand dieser Listen entwicklungsunterstützendes Elternverhalten konkretisieren. In Tabelle 1 sind beispielhaft Verhaltensweisen aufgeführt, die ein Kind befähigen, mit anderen zu spielen.1

1 Die anderen Listen sind ausführlich bei Aarts (2002) aufgeführt.

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tensweisen, die ein Kind befähigen, mit anderen zu spielen )

ann die eigenen Initiativen benennen: »Ich nehme hre Fahrrad …« t für die Initiativen anderer aufmerksam. ann eigene Initiativen stoppen, um jemand anderem mkeit zu widmen. at ein Selbstbild und eine Fähigkeit zur Selbstregistickelt. ann die eigenen Initiativen auswählen: »Ist das die sich in diesem Moment zu verhalten?« ann seine Initiativen strukturieren und sie in ein übertragen. ann umherschauen und soziale Informationen auf-

ann die Spielsituation überblicken. ann »Spieltöne« machen und sie mit anderen aus-

ann anderen Kindern nonverbal Emotionen zeigen. st nonverbalen Initiativen anderen gegenüber aufnd zeigt, dass es sie wahrgenommen hat. ann geben und nehmen. ann sich abwechseln, auf verbalem und nonverba-

at »Kooperationstöne« entwickelt. ann eine klare Spielgeschichte präsentieren. at Verhaltens- und soziale Modelle entwickelt. ann mit Frustration und Kritik fertig werden. at Problemlösemodelle entwickelt. ann sich mit anderen in einem »sozialen Tanz« be-

ann sich konzentrieren. at mehrere Spielmodelle zur Verfügung. kann neue Worte von anderen lernen, um seine auszudrücken. ann genießen, mit anderen zusammen zu sein, und eit verbringen.

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Die Marte-Meo-Methode

ann Gefühle ausdrücken und austauschen. ann zusammenarbeiten, aushandeln und sich ein-

ann mit verschiedenen Persönlichkeiten umgehen. ntwickelt Vertrauen in die eigene Selbstdarstellung. rnt sich besser kennen, indem es die Reaktionen anch beachtet. ird mit Enttäuschung und Verlieren fertig. ann mit Hoffnung und Gewinnen umgehen. kann anderer Menschen Freude genießen (das erEinfühlung und hilft, sich nicht in eigenen Geführen). ann sich auf den Bewegungsrhythmus eines anderen

deointeraktionsanalysen lässt sich erkennen, ob ein prechende Verhaltensweise entwickelt hat und nuthand jeder aufgelisteten Verhaltensweise kann konen, was die verantwortlichen Erwachsenen in ihrem m Kind tun können, um einen (!) nächsten Entwicku unterstützen. Für den Verlauf der Beratung ist es e ein Berater die Information vermittelt. Dies gegsgemäß am besten, wenn er egen oder die Frage der Eltern anknüpft, indem er nd der Clips zeigt, dass er sie verstanden hat, Problem die Entwicklungsmöglichkeit benennt, eigene entwicklungsunterstützende Verhaltensweie dem Kind bei der Bewältigung anstehender Enthritte helfen, und ihnen damit Mut macht, das ProAnleitung selber in kleinen Schritten zu lösen, chfolgenden Videoberatung den Eltern die Auswirr unterstützenden Verhaltensweisen zeigt und ihnen Weise bestätigt, dass sie ihrem Kind »aus eigener te Meo) weiterhelfen.

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■ Der natürliche entwicklungsunterstützende Dialog In Anlehnung an die Erkenntnisse von Papousek (1996) und Trevarthen (1979) ist eine Grundannahme von Marte Meo, dass Eltern und Kind natürliche »intuitive Kompetenzen« haben, die sie befähigen, auf eine entwicklungsfördernde Art und Weise miteinander zu kommunizieren. Es wird von einem Prototyp eines entwicklungsunterstützenden Dialogs (Øvreeide u. Hafstad 1996) ausgegangen, der sich schematisch in drei Phasen gliedern lässt, die Anfangsphase, die Interaktionsphase und ein deutliches Kommunikationsende. Sieben grundlegende Elemente kommunikativer Entwicklungsförderung dienen dabei als Basis für eine Analyse elterlicher Kompetenzen und kindlicher Bedürfnisse (nach Øvreeide u. Hafstad 1996, dt.: Sirringhaus-Bünder et al. 2001): 1. Der Erwachsene lokalisiert den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes. 2. Der Erwachsene bestätigt den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes. 3. Der Erwachsene wartet aktiv darauf, wie das Kind auf ihn reagiert. 4. Der Erwachsene benennt die ablaufenden Ereignisse, Erfahrungen und Gefühle. Darüber hinaus antizipiert er nahe liegende Erfahrungen. 5. Der Erwachsene bestätigt erwünschtes Verhalten unmittelbar. 6. Der Erwachsene setzt das Kind in Beziehung »zur Welt«, indem er ihm Personen, Objekte und Phänomene vorstellt. 7. Der Erwachsene sorgt für angemessene Anfangs- und Endsignale der Situation. Einige strukturelle Elemente zielen demnach darauf ab, die Erlebenswelt des Kindes wahrzunehmen sowie ihr gegenüber Interesse zu zeigen. Darüber hinaus wird darauf geachtet, ob anregende Inhalte in der Interaktion enthalten sind, die den Kindern neues Wissen und Erfahrungen erschließen (Punkt 4 und 6). In der unmittelbaren Bestätigung des Verhaltens (Punkt 5) wird zudem ein verhaltensformendes pädagogisches Element angesprochen.

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■ Anforderungen an den Therapeuten/ die Therapeutin Aarts charakterisiert den Therapeuten als einen »Jongleur mit den drei Bällen Technik, Kommunikation und Information« (Aarts 2002). Eine wesentliche Funktion des Therapeuten besteht darin, den Eltern das Kommunikationsverhalten modellhaft vorzuleben. Er sollte also die Interaktionsprinzipien kennen und in eigenes Verhalten umsetzen können. Darüber hinaus ist er der Experte für weitergehende Kenntnisse und Informationen zum Entwicklungsstand und -verlauf. Bei speziellen Problemfeldern sind vertiefte Kenntnisse notwendig, um Marte Meo erfolgreich nutzen zu können. Aarts nennt als Beispiel Drogensucht (Aarts 2002, S. 57f.). Bedeutsam ist eine hohe Kompetenz des Therapeuten hinsichtlich der richtigen Auswahl förderlicher Interaktionssequenzen. In Marte-Meo-Trainingskursen wird erlernt, Informationen gemäß den Entwicklungserfordernissen des Klienten auszuwählen. Als richtig werden Sequenzen in hierarchisch gegliederter Bedeutung angesehen: Zuerst wird der Blick auf diejenigen Clips gerichtet, in denen Eltern spontan das gewünschte Verhalten zeigen. Es folgen Sequenzen, in denen die Erfordernis einer speziellen Unterstützung beim Kind deutlich sichtbar wird. Im dritten Schritt interessieren die Szenen, in denen Eltern die Möglichkeit hatten, unterstützendes Verhalten zu zeigen, wobei sie dies aber nicht getan haben. Die Therapeutin kann verschiedene Formen von kindlichen Initiativen unterscheiden und so den Eltern helfen, ihre Wahrnehmung zu differenzieren. Aarts benennt drei Ebenen, auf denen Initiativen ergriffen werden können: die Handlungsebene, die Gefühlsebene und die verbale Ebene. Ein Grundidee liegt darin, Marte-Meo-Informationen mit eigenen Erfahrungen, Informationen, eigener Weisheit, Denkweise und Vorlieben zu kombinieren. Das Konzept wird nicht als in sich abgeschlossenes Verfahren gesehen, sondern soll eine Grundlage zur Erweiterung des Spielraums psychosozialer Hilfen darstellen.

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C. Hawellek u. K. Meyer zu Gellenbeck · »Kunst der kleinen Schritte«

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■ Literatur Aarts, M. (1996): Marte Meo Guide. Harderwijk. Aarts, M. (2002): Marte Meo. Ein Handbuch. Harderwijk. Øvreeide, H.; Hafstad, R. (1996): The Marte Meo Method and Developmental Supportive Dialogues. Harderwijk. Papousek, M. (1996): Die intuitive elterliche Kompetenz in der vorsprachlichen Kommunikation als Ansatz zur Diagnostik von präverbalen Kommunikations- und Beziehungsstörungen. Kindheit und Entwicklung 5: 140146. Sirringhaus-Bünder, A.; Hawellek, C.; Bünder, P.; Aarts, M. (2001): Die Kraft entwicklungsfördernder Dialoge. Das Marte Meo Modell im Praxisfeld Erziehungsberatung. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, C. (Hg.): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung. Die Chancen des Anfangs. Münster, S. 104-120. Trevarthen, C. (1979): Communication and Cooperation in Early Infancy: A Description of Primary Intersubjectivity. In: Bullowa, M.: Before Speech. Cambridge, S. 321-347.

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■ Monica Hedenbro und Annette Liden Die Elternbeziehung als Basis für das Kind Ein systemischer Blick auf die Marte-Meo-Familienberatung

In den letzten zehn Jahren hat sich Marte Meo als eine Methode in vielen Feldern etabliert, in denen es um Veränderung und Verbesserung von Interaktion und Kommunikation geht. In der Beratungsarbeit mit Familien liegt in Schweden der Schwerpunkt häufig auf der Beziehung zwischen einem Elternteil und einem Kind. Die Intervention ist daher oft auf die Eltern-Kind-Dyade als Subsystem der Familie gerichtet und lässt das System der Elternbeziehung außer Acht. Als Maria Aarts uns bat, etwas darüber zu schreiben, was uns in der Marte-Meo-Arbeit der letzten Jahre wichtig erschien, haben wir uns daher entschieden, einen systemischen Blick auf das Marte-Meo-Modell und die Methode zu richten, so wie wir auch unsere Arbeit betrachten und die unserer Ausbildungskandidaten. Wir arbeiten als lizenzierte Supervisoren und ausgebildete Marte-Meo-Therapeuten mit Eltern und anderen primären Bezugspersonen, Lehrern und anderen professionellen Betreuerinnen und Betreuern in Vorschulen und Schulen. In den letzten zehn Jahren haben wir uns verstärkt um die Anleitung der Interaktion mit Kleinkindern und Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren gekümmert, die verschiedene Entwicklungsschwierigkeiten aufwiesen. In diesen Jahren ist das Video ein sehr wichtiges Instrument unserer Arbeit geworden. Für uns ist es ermutigend, mit Marte Meo zu arbeiten. Die Erfahrung, ein entwicklungsförderndes Training und eine Unterstützung für neue Therapeuten anbieten zu können, verleiht der Arbeit höchste Priorität. Die Fähigkeit der Therapeuten auf ihre eigene Kraft und die der Familien zu bauen, ist das, was die Methode erfolgreich macht. Der systemische Blick wird für uns zur Brücke zwischen der

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Entwicklung der Kinder und der Familienberatung. Das ist die Stärke von Marte Meo. Dabei wird zweierlei deutlich; zum einen, dass die Methode anspruchsvoll ist, und zum anderen, dass sie sehr wichtig und hilfreich ist. In einem Lehrfilm über das Schreibaby Christian führt Maria Aarts auf sehr natürliche und intuitive Weise ihre Arbeit vor. Im Gespräch mit der Familie hilft sie den Eltern, sich in ihrer Kommunikation mit dem Baby wechselseitig zu ergänzen. Sie tut dies, indem sie deutlich ihre Zeit und Aufmerksamkeit wechselseitig dem Baby und den Eltern widmet. Dies führt zu einer erhöhten Aufmerksamkeit der Eltern für das Kind, seine Bedürfnisse und Initiativen und zeigt mögliche »Antworten« auf die kindlichen Initiativen. In der Videoberatung, dem so genannten »Review«, ist Maria dann auch in der Lage, dem Elternpaar zu helfen, aufeinander zu hören und ihre Gefühle miteinander zu teilen. Als Mitglieder einer entwicklungspsychologischen Forschergruppe, die aus Teams aus Lausanne, Basel, Seattle und Stockholm gebildet wurde, haben wir uns auf das Studium triadischer Interaktionen spezialisiert. Die schwedische Gruppe hat die Bedeutung eines systemischen Zugangs auf interaktionale Anleitungen hervorgehoben. Vom Ergebnis her hat diese Forschungsgruppe, auch »Trilogiegruppe« genannt, verschiedene Elemente gefunden, die zeigen, dass Dyaden und Triaden in ganz ähnlicher Weise im Gleichgewicht gehalten werden. Der Zweck beider Interaktionsformen, der dyadischen wie der triadischen, ist es, dem Kind den für die eigene Entwicklung erforderlichen Raum zu geben. Unsere Ergebnisse zeigen in allen vier Forschungsgruppen, dass die Eltern ihre Initiativen mit Rücksicht aufeinander und auf das Kind ausbalancieren, sodass das Kind in der triadischen Interaktion den gleichen Raum erhält wie in einer dyadischen Interaktion. Natürliche entwicklungsunterstützende Kommunikation ist wie ein Musikstück, in dem Kind und Eltern miteinander harmonieren und in dem es schwer fällt, nur die Individuen zu sehen. Das Kind ist nicht nur »Gegenstand« der Interaktion, es beeinflusst sie: Es initiiert, antwortet und wechselt den Fokus der Aufmerksamkeit. In einer triadischen Situation wird das Kind herausgefordert, sich in die Kommunikation »einzuschalten«, und die Fähigkeiten der Kinder, das zu tun, variieren in erstaunlicher Wei-

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se. Bei älteren Kindern ist es einfacher als bei Kleinkindern, ihre Beiträge zur Interaktion zu bestimmen. Umgekehrt sind die Interaktions- und Kommunikationsmuster Teil des Systems. Die Schwierigkeiten, die auftreten können, liegen daher nicht nur in der individuellen Charakteristik des Kindes, wie im individuellen Tempo und Temperament, sondern auch darin, wie die Eltern oder das erweiterte System sich selbst organisieren und strukturieren, vor allem aber auch zusammenarbeiten. Wenn eine Interaktion einen harmonischen Rhythmus hat, nehmen alle Mitspieler teil, indem sie verschiedene Rollen zu verschiedenen Zeiten einnehmen. Wenn dies nicht auf natürliche Weise geschieht, können wir den Erwachsenen helfen, ihre »Werkzeuge« im Umgang mit den Kindern und ihr emotionales Engagement durch die Videoberatung zu stärken, um die Interaktionen lebendig werden zu lassen. Eine triadische Interaktion stellt die erhöhte Anforderung an das Baby, zeitweise außerhalb der Interaktion zweier Menschen zu sein. Sie stellt auch Anforderungen an die Eltern, ihre Initiativen auszubalancieren und Raum für das Kind zu lassen sowie Raum füreinander, um mit dem Kind in einer unterstützenden Weise zu kommunizieren. Am Beginn einer Beratung machen wir uns ein Bild und nehmen die ganze Familie auf Video auf, um zu sehen und zu verstehen, wie die Familie miteinander interagiert. Videobilder vermitteln einen klaren Eindruck der familiären Interaktions- und Kommunikationsmuster. Wenn man nur auf Teile der Familie, zum Beispiel nur auf die Mutter oder ein Kind schaut, ist man nicht darüber im Bilde, wie die Familie als Ganzes miteinander interagiert. Das heißt nicht, dass wir notwendigerweise mit allen Familienmitgliedern arbeiten müssen. Die Kenntnis des ganzen Systems hilft uns jedoch, in den Videoberatungssitzungen Interventionen zu finden, die nicht nur auf die Eltern-Kind-Interaktion, sondern auch auf das System der Elternschaft ausgerichtet sind. Das nachstehende Schaubild macht deutlich, welchen Bezugsrahmen und welche Perspektive wir im Kopf haben, wenn wir Marte Meo als systemische Arbeit sehen.

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Abbildung 1: Fokus der Videoberatung im Review

Eine familiensystemische Perspektive in der Interaktionsanleitung kann eine Kombination ermöglichen: Sie kann den Fokus auf das Kind und seine Entwicklungsbedürfnisse ebenso wie auf die Elternschaft legen und für beides entwicklungsförderliche Umgangsformen in einer kooperativen Weise entwickeln helfen. In der Videoberatung oder Reviewsitzung möchten wir, dass beide Eltern anwesend sind, auch wenn nur ein Elternteil auf dem Video zu sehen ist. Die systemische Sichtweise beachtet die Rollenverteilung und die Aufmerksamkeitsverteilung der Familie, die Art und Weise, wie Gefühle geteilt werden, und den Rhythmus der Interaktion. Dies betrifft sowohl das elterliche als auch das eheliche oder partnerschaftliche System. Für das Kind ist die Triade der Kontext, in dem soziale Interaktion sich entwickelt und eine Brücke zu anderen sozialen Kontexten schlägt. Für das Kind ist der Vater »die Brücke aus der Symbiose mit der Mutter hin zur äußeren Welt«. Der Vater bestätigt hier auch die Mutter in ihrer Identität als Frau, sowohl ihr gegenüber als auch dem Kind und sich selbst gegenüber. Dies wiederum ist bedeutend für die mütterliche Beziehung mit dem Kind. Es erlaubt dem Kind, neugierig zu sein auf die Welt außerhalb des Mütterlichen und der dyadischen Interaktion. Ein Mann, der in der Beziehung mit seiner Frau unzufrieden ist, tendiert dazu, sich aus der Beziehung mit dem Kind zurückzuziehen. Bei der Frau ist das Gegenteil der Fall: Sie kompensiert die schlechte Beziehung zu ihrem Mann, indem sie näher mit dem Kind in Kontakt kommt. Keine von beiden Verhaltensweisen ist

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für das Kind entwicklungsunterstützend, ebenso wenig für die Familiendynamik. Für die meisten Männer und Frauen ist es auch erforderlich, sich beim anderen in der Rolle als Mutter und als Vater wertgeschätzt zu fühlen. Ein klinisches Beispiel soll verdeutlichen, wie sich eine systemische Sichtweise in der Marte-Meo-Arbeit auswirkt: Filippa ist ein sechs Monate altes Mädchen, die Erstgeborene in einer Familie. Als Problem wurde benannt, dass Filippa während ihres ganzen bisherigen Lebens Schlafprobleme hatte und dass sie sehr schreit, wenn sich der Vater ihr nähert. Sie klammert sich dann an die Mutter, ihre Beziehungen seien voller Ambivalenzen. Die Eltern hatten Unterstützung bei der Child Health Unit (BVC) gesucht, und die Mutter hatte einige Wochen stationär im Krankenhaus verbracht, mit dem Ziel, die Schlafstörungen des Kindes zu korrigieren. Außerdem hatte sich die ganze Familie einen Monat in einer 24-Stunden-Institution aufgehalten. Es wurden neun Videoaufnahmen in der familiären Umgebung gemacht. Acht Videoberatungen wurden im Büro der Marte-MeoTherapeutin durchgeführt. Film 1: Filippa liegt auf dem Boden. Die Mutter sitzt nah bei ihr. Der Vater kniet und beobachtet seine Frau und das Kind aus einer gewissen Entfernung. Anhand der Videoanalyse wird deutlich, dass fast alle Interaktionen zwischen der Mutter und Filippa stattfinden. Die Eltern scheinen unfähig zu sein, zusammenzuarbeiten. Stattdessen schließt die Mutter den Vater aus der Interaktion aus, indem sie ihm den Rücken zuwendet, woraufhin er sich zurückzieht. Beide Eltern zeigen, dass sie eine Unterstützung dabei benötigen, Filippas Initiativen zu sehen, zu folgen und zu bestätigen, und die Mutter benötigt eine Hilfe dabei, ihre eigenen Initiativen zurückzuhalten. Da die Eltern wenig oder selten den Initiativen des Kindes folgen und diese auch nicht bestätigen, findet kein Austausch und kein Sich-Abwechseln in der Interaktion statt. Die Eltern greifen auch nicht auf das »Benennen« (naming) gegenüber dem Baby zurück, um ihm emotional näher zu kommen. Nach der ersten Videoberatung mit den Eltern wird die Arbeit

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für einen längeren Zeitraum wegen des Ausscheidens der Therapeutin unterbrochen. Nach einigen Monaten hat die Familie noch die selben Probleme. Die Schwierigkeiten des Paares haben sich verschärft und ein neuer Anlauf mit Marte Meo beginnt. Film 2: Dieser Film zeigt Filippa mit ihrer Mutter. Die Eltern sind mitten in einer Diskussion darüber, ob sie sich scheiden lassen oder nicht. Der Vater möchte nicht aktiv an der Beratung teilnehmen. Die Therapeutin entscheidet sich, mit dem zu arbeiten, was möglich ist, nämlich mit der Mutter-Kind-Dyade. Ein Ziel ist es, den Vater für die Mitarbeit zu gewinnen. Videoberatung: Beide Eltern sind anwesend. Die Therapeutin widmet sich in der Beratung zum einen Filippa und den Initiativen, die sie zeigt, sowie den Gelegenheiten, die sich den Eltern bieten, den Initiativen zu folgen, um sie zu bestärken. Zum anderen fokussiert die Therapeutin die Elternbeziehung, indem sie beide Eltern abwechselnd direkt persönlich anspricht. Ziel dieser Beratung ist, die Bedeutung der Elternschaft hervorzuheben und den Eltern den jeweiligen Partner in seiner Elternfunktion zu präsentieren, die elterliche Kompetenz herauszustellen und so positive Ansätze für die weitere Arbeit zu verankern. Darüber hinaus zielt diese Arbeit darauf ab, den Eltern Gelegenheit zu geben, den anderen zu sehen und auch dessen Interaktionen mit Filippa zu genießen. Während dieser Videoberatung teilen die Eltern keine Gefühlsregungen miteinander, ebenso wenig wie mit der Therapeutin. Film 3: Dieser Film zeigt Mutter und Tochter. Die Eltern überlegen immer noch, ob sie sich trennen sollen oder nicht. Sie haben ein Angebot erhalten, an ihrer Paarbeziehung zu arbeiten, und haben dieses Angebot auch akzeptiert. Es sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass in dieser Art von Beratungsarbeit Therapeuten für parallele Interventionsstränge offen sein sollten. In diesem Fall war zu hoffen, dass eine Paarberatung auch die Möglichkeiten positiver Effekte der Marte-Meo-Intervention verbessern würde.

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Videoberatung: An dieser Videoberatung nimmt nur die Mutter teil. Der Fokus liegt auf Filippa, ihren Initiativen und der mütterlichen Fähigkeit, diese zu bestätigen. Die Therapeutin bezieht auch den Vater in den Dialog mit der Mutter als ein Thema ein. Die Mutter beginnt, der Therapeutin ihre Gefühle und Gedanken mitzuteilen. Film 4: Dieser Film zeigt die ganze Familie. Es ist zu sehen, dass die Mutter den Vater immer noch von der Interaktion mit dem Kind abschirmt, aber nicht mehr so klar wie im ersten Film. Der Vater zieht sich zwar zurück, aber versucht auch, seine Möglichkeiten zu finden, am Geschehen teilzunehmen. Beide Eltern sind aufmerksamer für die Initiativen Filippas, folgen ihnen besser und bestätigen sie mehr als zuvor. Videoberatung: Das Ziel dieser Beratung ist für die Therapeutin zum einen, Filippa und ihre Interaktion mit ihren Eltern zu betonen, und zum anderen, für das Elternpaar den jeweiligen Partner als Elternteil hervorzuheben, also die Elternschaft (und nicht die Paarbeziehung) in den Blick zu nehmen. Der Vater beginnt, sich der Therapeutin mitzuteilen; die Eltern haben immer noch keinen emotionalen Austausch miteinander. Film 5: Der Film zeigt beide Eltern jeweils in einer Einzelsituation mit Filippa. Die ganze Familie ist zwar zusammen, aber die Interaktionen laufen dyadisch ab. Videoberatung: Die Therapeutin zeigt den Eltern, wie sie die Initiativen Filippas sehr viel häufiger und deutlicher bestärken als zuvor, wie sie begonnen haben, ihre Aktionen zu benennen, was zu einem klareren Austausch zwischen ihnen und Filippa führt. Die Eltern sitzen relativ nah beieinander. Beide haben einen Austausch mit der Therapeutin über ihre Emotionen und Gedanken. Die Mutter hat eine Videoszene zwischen Filippa und ihrem Vater wahrgenommen

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und spricht darüber, sie bezieht den Vater also mit ein. Sie wendet sich an ihn, teilt ihre Emotionen mit ihm. Der Vater antwortet der Mutter, lächelt zuerst sie an und dann die Therapeutin, und am Ende teilen sie alle diesen besonderen Moment miteinander. In dieser Videoberatung zeigen sich die Eltern zum ersten Mal dazu in der Lage, die Freude über ihr Kind und ihre Interaktion mit ihm miteinander zu teilen. Film 6 bis Film 8: Die Arbeit geht weiter und die Eltern machen Fortschritte, sowohl in der individuellen Interaktion mit Filippa als auch in der triadischen Interaktion. Nach der Videoberatung, in der der fünfte Film besprochen wurde, beginnt Filippa, besser zu schlafen. Die Beziehung des Vaters zu Filippa hat sich nach dem sechsten Film zu einer »hinreichend guten Beziehung« (etwa im Sinne Winnicotts) mit dem Kind entwickelt. Diese Veränderungen stehen in Verbindung mit der Arbeit, die mit Mutter und Kind, Vater und Kind, der Elternbeziehung und der Paarbeziehung geleistet wurde. Während all der Filme entwickelt sich die Bindung und Beziehung zwischen Mutter und Kind kontinuierlich weiter. Film 9: Dieser Film ist ein Follow-up-Film. Die ganze Familie sitzt auf dem Boden und spielt miteinander. Kind, Mutter und Vater platzieren sich in Form eines Dreiecks. Diese Anordnung erlaubt ihnen, den gleichen Fokus zu haben und zu sehen, was jeder tut. Das hilft den Eltern zusammenzuarbeiten. In der Kommunikation benutzen sie alle Marte-Meo-Elemente. Videoberatung: Die ganze Familie ist anwesend. Folgende Szene wird mit dem Elternpaar durchgesprochen: Filippa sitzt auf dem Schoß der Mutter. In einer Sequenz spricht die Mutter mit der Therapeutin. Filippa sagt etwas, der Vater hört es sofort und antwortet ihr. Filippa reagiert, indem sie sich zu ihm dreht und die Arme nach ihm ausstreckt; er geht sofort auf sie ein, indem er ihre Hand nimmt. Die Arbeit mit älteren Kindern und Geschwistern ist normalerwei-

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se ein komplexerer Vorgang. Hier ist es noch bedeutsamer, sich von der Familiendynamik leiten zu lassen, um dem Kind in seiner Entwicklung weiterzuhelfen. Bei Familien mit älteren Kindern sind die Interaktionsmuster gut eingespielt. Die Arbeit nimmt einen ähnlichen Verlauf wie oben geschildert; unserer Erfahrung nach ist der Fokus auf die gemeinsame Beelterung auch hier notwendig. Wenn die Paarbeziehung beziehungsweise Ehe nicht gut funktioniert, können wir das normalerweise in den Videos sehen. Selbst wenn diese Probleme nicht im Vordergrund stehen, ist es notwendig mit dem »Spy Lover Effect«1 umzugehen, der in der elterlichen Beziehung entstehen kann. Auch wenn die Paarbeziehung oder Ehe harmonisch ist, kann es sein, dass die elterliche Beziehung nicht kooperativ und komplementär ist. Ein solcher Prozess kann schnell in Gang kommen, wenn es sich um ein Kind handelt, mit dem der Umgang schwierig ist. Indem sie sich sehr um das Kind bemühen, hören die Eltern auf, die Kommunikation des jeweils anderen mit dem Kind zu unterstützen. Das aktiviert das Kind in verschiedene Richtungen. Es kann in eine Position gelangen, in der es die Eltern lenken kann, anstatt von ihnen gelenkt oder reguliert zu werden. Manchmal kommt es vor, dass ein Kind ein sehr langsames Tempo hat und man lange auf seine Reaktionen und Initiativen warten muss. Wenn ein Elternteil dem Kind die erforderliche Zeit gibt, während der andere ein schnelleres Tempo hat und mit neuen Initiativen anfängt, ist es für das Kind schwierig, einen Interaktionsrhythmus zu finden. Wenn die Eltern nicht zusammenarbeiten und nicht auf den Beitrag des jeweils anderen zur Interaktion aufbauen, besteht die Gefahr, dass es einen Wettbewerb unter ihnen gibt. Sie schließen einander aus, unterbrechen einander, anstatt sich wechselseitig zu unterstützen, wenn der Partner mit dem Kind in einer Interaktion ist. Dies kann ebenfalls starke negative Effekte auf die kindliche Entwicklung haben. In der Beratungsarbeit liegt der Fokus dann darauf, den Eltern zu zeigen, welche positiven Effekte eine Zusam1 Hier ist offenbar der Effekt gemeint, der entsteht, wenn ein Elternteil den anderen Elternteil und dessen Interaktionen mit dem Kind argwöhnisch beobachtet. (C. Hawellek)

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menarbeit auf das Kind hat und wie es in Interaktionsmomenten reagiert. In der Videoberatung kann man das gut herausarbeiten. Das Vorgehen soll anhand einer Bildfolge verdeutlicht werden. Das erste Bild der Beratungssequenz zeigt den Moment, in dem der Therapeut den Eltern hilft, auf die sorgfältig ausgewählten Schlüsselmomente der Interaktion mit dem Kind zu fokussieren und zu sehen, wie die Eltern zusammenarbeiten.

Bild 1

Das Ziel der Videoberatung (Review) besteht immer darin, den Eltern Gelegenheit zu geben, ein neues Bild von dem Kind zu entwickeln und – unter der Familienperspektive – ebenfalls ein neues Bild vom jeweiligen Partner als Elternteil. Wenn wir Eltern zum ersten Mal sehen, haben sie ihre eigenen Bilder oder Repräsentationen von ihnen als Eltern, ihrem Kind, ihrem Partner als Elternteil und der ganzen Familie.

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Bild 2

In diesem Beispiel hat der Vater das Bild, dass die Mutter wie eine Wand zwischen ihm und dem Kind steht. Die Mutter hat ihrerseits das Bild, dass der Vater weggeht und sie mit dem Kind allein lässt. Während der Videoberatung helfen wir den Eltern, mit den Videoclips, die wir für sie ausgewählt haben, neue Bilder zu entwickeln.

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Wir suchen zum Beispiel Szenen aus, in denen ein Elternteil mit dem Kind interagiert und der andere emotional unterstützend ist.

Bild 3a

Bild 3b

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Oder wir zeigen eine Szene, in der ein Kind Kontakt mit einem Elternteil sucht, der die innere Repräsentation hat, dass er für das Kind nicht bedeutsam ist.

Bild 4

Anschließend sieht das Paar gemeinsam das Video an und arbeitet daran, durch die angeschauten Bilder neue innere Bilder vom Kind, von sich selbst und vom jeweiligen Partner als Elternteil zu entwickeln.

Bild 5

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Ein entscheidender Punkt in der Beratung ist erreicht, wenn die Partner einen emotionalen Moment miteinander teilen und sich Unterstützung und Wertschätzung geben, während sie die Bilder gemeinsam betrachten.

Bild 6

Die Eltern werden darin unterstützt, neue Repräsentationen der Familienbeziehungen zu bilden.

Bild 7

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Wir müssen uns immer bewusst sein, dass die Arbeit mit Teilen eines Systems alle anderen Mitglieder beeinflusst. Dies ist in besonderer Weise auch für die inneren Bilder zutreffend, die die Familienmitglieder entwickeln. Aus diesem Grund ist es notwendig, in der Marte-Meo-Arbeit der Familiendynamik des ganzen Systems zu folgen. Aus dem Englischen von Christian Hawellek. Zeichnungen von Björn von Schlippe.

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

Colette O’Donovan aus Dublin hat Marte Meo in Irland in verschiedenen psychosozialen Arbeitsfeldern erfolgreich etabliert. Sie verfügt über eine reichhaltige Erfahrung in der Einführung und Anwendung der Methode. In diesem Band beschreibt sie, wie Marte Meo zum Aufbau einer »zweiten Bindung« in Pflegefamilien eingesetzt wird. Der Begriff des »second attachment« wurde von Maria Aarts geprägt. Kinder, deren primäre Bindungen zerbrochen sind, sind in einer besonderen Weise verletzlich. Eine erste Bindungserfahrung ist bereits negativ verlaufen, das kindliche Vertrauen ist oft tief greifend erschüttert. Eine zweite Bindung muss daher sorgfältig gestaltet werden. Das stellt besondere Anforderungen an die neuen Bezugspersonen (Pflege- oder Adoptivfamilien), aber auch an das professionelle Umfeld. Die auf Marte Meo aufbauenden Interventionen sind hier besonders geeignet, die Gestaltung der Prozesse auf der Mikroebene auf angemessene Weise vorzunehmen. Anhand eines Fallbeispiels leitet Colette O’Donovan die Leser und Leserinnen durch den Prozess des Aufbaus einer solchen »zweiten Bindung« zwischen einem »Kind mit besonderen Bedürfnissen« und seiner Pflegefamilie. Darüber hinaus verdeutlicht sie, wie diese Form der Unterstützung in Irland organisiert wird. Terry Hofmann-Witschi und Paul Hofmann leiten eine heilpädagogische Lebensgemeinschaft in Bern. Sie nutzen Marte Meo seit vielen Jahren als Instrument für die Qualitätsentwicklung und -kontrolle ihrer fachlichen Arbeit. In ihrem Beitrag Marte-MeoAssessment – ein Instrument zur Einschätzung elterlicher Fähigkeiten stellen sie, illustriert mit Fotos aus Videoclips, ein eindrucksvolles Fallbeispiel in den Mittelpunkt. Es schildert die syste-

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

matische Unterstützung einer minderjährigen Mutter und ihres Kleinkinds mit Marte Meo. Zu diesem Beitrag gibt es auch einen Videofilm, der über das Berner Marte-Meo-Zentrum angefordert werden kann. Ingeborg Kristensen aus Rinkøbing schreibt über den Einsatz der Marte-Meo-Methode in der öffentlichen dänischen Gesundheitsversorgung. In einer Studie, in der die Effekte und die Prozesse mit Marte Meo dargestellt werden, macht sie deutlich, wie die frühzeitige präventive Arbeit mit Familien, die Säuglinge oder Kleinkinder haben, Früchte trägt. Die Studie stellt die Arbeit mit elf dänischen Familien vor, die mit Marte-Meo-Interventionen begleitet wurden. Anhand von Auszügen aus Interviews mit den Eltern werden die Wirkungen der Interventionen beschrieben und ihre Effekte charakterisiert. Darüber hinaus präsentiert Ingeborg Kristensen typische Merkmale erfolgreicher und nicht erfolgreicher Interventionen. Sie ist mit der zugrunde liegenden Forschungsarbeit in Dänemark mit einem Preis für die »Public Health Nurse of the Year 2003« ausgezeichnet worden. Abgeschlossen wird dieser Teil mit drei Berichten. Seit einigen Jahren arbeitet eine Arbeitsgruppe an der Universität Osnabrück um Heidi Keller, Jürgen Kriz und Arist von Schlippe daran, zwischen den Fächern Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie theoretische und praktische Verbindungen herzustellen. Sichtbarster Ausdruck dieser Kooperation ist die »Osnabrücker Babysprechstunde«, deren Konzept die Mitarbeitergruppe vorstellt. Es folgen zwei Versuche, die Marte-Meo-Konzepte operationalisierbar und damit gut für die Forschung nutzbar zu machen: Kai Meyer zu Gellenbeck und Arist von Schlippe stellen in ihrem Beitrag »Wahrnehmen, folgen, lenken«. Ein Analyseschema als Orientierungshilfe für die Arbeit mit Müttern von Kleinkindern ein Modell vor, das sich sowohl für die Forschung eignet, als auch dem Praktiker als Grundlage für ein Mikrointerview mit Eltern zur Verfügung steht. Thomas Mittler et al. beschreiben einen Ansatz, in dem dieses Modell auf die Arbeit mit sprachauffälligen Kindern und ihren Müttern bezogen wird. Das dabei entwickelte neue Analyseinstrument ELKINA wird kurz vorgestellt.

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■ Colette O’Donovan Der Aufbau einer »zweiten Bindung« in Pflegefamilien Marte Meo und »Second Attachment«

■ Einführung Die Inpflegenahme von Kindern ist von alters her in Irland bekannt, wie wir aus den volkstümlichen Geschichten und aus unseren Mythen wissen. Heute beschreibt der Begriff Pflegefamilie eine Situation, in der ein Kind im Rahmen einer Familie in einem Privathaushalt betreut wird. Bei den Betreuern handelt es sich meistens, aber nicht immer, um ein verheiratetes Paar, das entweder eigene Kinder hat oder auch nicht. Im Allgemeinen haben Menschen, die sich Pflegekindern widmen, Erfahrungen damit, eigene Kinder großzuziehen. Im Rahmen ihrer Vorbereitung durchlaufen zukünftige Pflegefamilien einen Trainingskurs und es wird geprüft, ob sie geeignet sind, die Verantwortung für ein Kind anderer Eltern zu tragen. Während der Schulungen und der Eignungsprüfung wird viel Wert darauf gelegt, die Entwicklungsanforderungen der Kinder, die ihre Herkunftsfamilien verlassen müssen, genau kennen zu lernen. Trotz aller Bemühungen, eventuelle Schwierigkeiten vorher zu besprechen, kann sich die Alltagsrealität im Umgang mit solch einem Kind anderer Eltern noch anders darstellen, als in der Vorbereitungsphase vermutet. Die Ursache hierfür können negative Erfahrungen der Pflegekinder und ihre zerbrochenen frühen Bindungen sein (Bowlby 1975, 1976). Die Erfahrungen mit den Trainings und Eignungsprüfungen für Pflegeeltern haben gezeigt, dass diese unbedingt zusätzliche Informationen darüber benötigen, wie sie am besten eine Verbindung zum Pflegekind knüpfen können, damit neue überdauernde Bindungen wachsen können und der Wiederbeelterungsprozess Erfolg haben kann. Pflegeeltern müssen darauf vorbereitet wer-

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

den, das kindliche Verhalten zu verstehen und es auf eine angemessene Art zu beantworten. Die »Lebenslinie des Kindes«, ein Begriff, den D. W. Winnicott geprägt hat (1974), ist unterbrochen und im Fokus der Arbeit mit dem Pflegekind sollte ein Wiederanknüpfen dieser Lebenslinie in der und an die neue Familie stehen. Kinder, die in Pflegefamilien kommen, fühlen sich von ihren Eltern zurückgestoßen und verlassen. Aufgrund ihrer schmerzvollen Abhängigkeitserfahrungen macht ihnen die Aussicht, von neuen Eltern abhängig zu werden, große Angst. Ihr Verhalten, das im Kontext der Herkunftsfamilie entwickelt wurde, zielt daher häufig darauf ab, die Pflegeeltern auf Distanz zu halten. Aus diesen Gründen sind die Erziehungserfahrungen, die die Pflegeeltern mitbringen, häufig nicht auf so ein Kind übertragbar. Ein kreatives Herangehen zur Unterstützung des Bindungsaufbaus zwischen Kind und Pflegefamilie ist daher von essentieller Bedeutung. Die MarteMeo-Methode hat sich in diesem Bereich als besonders erfolgreich erwiesen. Der Einbezug von Videomaterial macht es möglich, die Veränderungen in den Interaktionen zwischen einem Pflegekind und seinen neuen Eltern zu erkennen, und zeigt auch, wann die Pflegeeltern beginnen, die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes wahrzunehmen. Dann wird ihnen auch klar, welche Art von Information und Unterstützung das Kind in verschiedenen, konkreten Alltagssituationen benötigt. 1993 ließen sich Sozialarbeiter in Irland, die Pflegefamilien betreuen, erstmals zu Marte-Meo-Therapeuten fortbilden. Sie erkannten, dass sich diese Methode auf kreative und innovative Weise in diesem Arbeitsfeld nutzen lässt. Seitdem wurde Marte Meo integrierter Bestandteil verschiedener Elemente in der Arbeit mit Pflegefamilien. Diese Elemente sind: – Einschätzung und Beurteilung, – Training, – Platzierung der Pflegekinder, – Unterstützung von Kurz- und Langzeitpflegefamilien sowie – Unterstützung von Pflegeelterngruppen.

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C. O’Donovan · Marte Meo und »Second Attachment«

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■ Einschätzungs- und Beurteilungsphase In dieser Periode lernt die Sozialarbeiterin die Familie kennen. Der Prozess kann zwischen einem halben Jahr und einem Jahr in Anspruch nehmen. In dieser Zeit kann, besonders dann, wenn die Zusammenarbeit gut ist und es sich abzeichnet, dass die Familie eine Pflegefamilie wird, ein kurzer Film von einer typischen Familiensituation aufgenommen werden, einer Essenssituation beispielsweise. Damit soll Folgendes erreicht werden: – Den künftigen Pflegeeltern soll ihre eigene entwicklungsunterstützende Kommunikation gezeigt und verdeutlicht werden, wie gut sie sich speziell in ihrer Familie auswirkt. – Der Film kann auch dazu verwendet werden, mögliche Themen für die geplante Inpflegenahme eines Kindes zu veranschaulichen. Die nachfolgenden Beschreibungen sind Auszüge aus einem Film von einer Essenssituation einer Familie, in der wir den Eltern ihr unterstützendes elterliches Verhalten gezeigt und sie darin bestätigt haben. Außerdem nutzten wir den Film, um über die besonderen Anforderungen an die elterliche Kommunikation zu sprechen, die Pflegekinder häufig stellen. – Atmosphäre: In einer der ersten Videosequenzen zeigt der Vater »gute Gesichter«, spricht mit positiver Stimme, bringt Gesprächsthemen ein, die zum Alter der Kinder passen, und zeigt, dass er an Antworten interessiert ist. Damit unterstützt er die soziale Achtsamkeit der Kinder, übt sie darin, sich mit anderen Gesprächspartnern abzuwechseln, auf deren Beiträge zu warten und auf diese Weise eine gute soziale Struktur zu entwickeln. An dieser Stelle eröffnet sich die Möglichkeit, über die Entwicklungsanforderungen von Pflegekindern zu sprechen, etwa darüber, dass es für diese Kinder besonders bedeutsam ist, ein Signal der Pflegeeltern zu erhalten, dass ihr Gesprächsbeitrag wichtig ist. Anhand des Films lässt sich das Gespräch auch auf die Bedeutung »guter Gesichter« als Zeichen von Bestätigung sowie auf die Wichtigkeit guter Atmosphären zur Unterstützung positiver Initiativen der Kinder lenken. – Klare Anfänge und Beendigungen: Die Mutter benutzt ihre Stim-

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me und gibt klare Signale, wenn ein Thema beendet ist und ein anderes beginnt. Dieses Leitungsverhalten unterstützt die Kinder darin, eine gute soziale Struktur zu entwickeln. Der Film ermöglicht, darüber zu sprechen, wie Strukturgebung und Vorhersagbarkeit der elterlichen Kommunikation das neue Kind in der Pflegefamilie unterstützen können. – Sich abwechseln: Wenn den Pflegeeltern ein Moment des SichAbwechselns gezeigt wird, kann dies ein Gespräch über die Bedeutung in Gang setzen, das neue Kind einzuladen, sich am Gespräch der Familie zu einem bestimmten Thema zu beteiligen. – Den kindlichen Initiativen folgen: Im Film wird deutlich, dass beide Eltern den kindlichen Initiativen folgen und sie unterstützen. Dies ist eine Gelegenheit herauszustellen, wie bedeutsam es ist, den Initiativen des neuen Kindes zu folgen. Auf diese Weise lernen die Pflegeeltern die Welt des Kindes kennen, und wenn sie die kindlichen Initiativen benennen, vermitteln sie dem Kind das Gefühl, dass sie ihm nah sind. Dies wird den Prozess der »zweiten Bindung« (second attachment, s. Aarts 2002) unterstützen. – Benennen: Wenn im Film Momente zu sehen sind, in denen sie ihre eigenen Aktionen und Vorhaben dem Kind gegenüber benennen, kann dies den Pflegeeltern gezeigt werden und zu einem Gespräch darüber führen, welche Rolle das Benennen der eigenen Handlungen für den Anschluss des neuen Kindes an die Familie spielt. Es ist das wiederholte Vor-Augen-Führen dieser entwicklungsunterstützenden elterlichen Verhaltensweisen, das die Unterstützung der Kinder in den Situationen des alltäglichen Zusammenlebens sicherstellt. Wenn die Informationen über förderliches Pflegeelternverhalten zu so einem frühen Zeitpunkt vermittelt werden, hat das vitale Bedeutung für das Gelingen des Übergangs in eine neue Lebenssituation.

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■ Training von Pflegeeltern Das Training, das wir in der Eastern Regional Health Authority in Dublin durchführen, nennen wir »Neue Horizonte«. Dieses Trainingsprogramm ist erforderlich, weil die Pflegschaft eines Kindes mehr erfordert als die Fähigkeiten, die nötig sind, die eigenen Kinder großzuziehen. Es geht darum zu lernen, wie man Kinder großzieht, die traumatische Erfahrungen, Brüche in ihrem Vertrauen und in ihrer Sicherheit erlebt haben. In diesem Training erscheint es uns wichtig, die folgenden Themen in einem ersten Modul zu besprechen: – Bindungstheorie, – Entwicklungstheorien, – Verständnis für die Herkunftsfamilien erarbeiten und – Verständnis für Trauerprozesse erarbeiten. Auf diese Weise werden bedeutende Themen der Bindungsprozesse beleuchtet. Für die zukünftigen Pflegeeltern ist es von ausschlaggebender Bedeutung, ein vertieftes Verständnis von Bindungsprozessen zu bekommen. Marte-Meo-Filme können das Bindungsmodul untermauern. Darüber hinaus können sie die normalen Entwicklungsprozesse veranschaulichen und deutlich machen, wie Kinder auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe unterstützt werden können. Während dieses Trainings kann den zukünftigen Pflegeeltern die Gelegenheit gegeben werden, selber die Fernbedienung des Videorecorders zu benutzen und zu üben, die kindlichen Initiativen wahrzunehmen. Solche Übungen haben zum einen den Sinn, erkennen zu lernen, was eine kindliche Initiative ist und in welchen verschiedenen Formen sie auftreten kann. Zum anderen hilft es den zukünftigen Pflegeeltern, selber in den Beobachtungsprozess einzusteigen.

■ Platzierung von Kindern Marte Meo kann auch bei der Fremdunterbringung von Kindern bedeutsam sein. Die Filme können zu einem hilfreichen Instru-

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ment in dieser störanfälligen Übergangsphase der Kinder werden. Ein erster Film kann dazu dienen, den zukünftigen Pflegeeltern das Kind in seiner bisherigen Umgebung zu zeigen, sei es in einer Kurzzeitpflegefamilie, einer stationären Jugendhilfeeinrichtung oder manchmal auch im Krankenhaus. Die Planung für den Übergang ist bei jedem Kind von seiner speziellen Situation, auch seinem Entwicklungsalter, abhängig.

■ Kinder, die von einer Kurzzeitpflege in eine Langzeitpflege wechseln Wenn ein Kind noch nicht sprechen kann, sind umfangreiche Absprachen zwischen abgebender und aufnehmender Pflegefamilie erforderlich, die die Übergabe der Verantwortung und die Angliederung an die neue Familie regeln. Es können Filme aufgenommen werden, um konkrete und detaillierte Informationen über den Entwicklungsstand und die Entwicklungsbedürfnisse des jeweiligen Kindes weiterzugeben, wie sie in den Alltagsinteraktionen deutlich werden. Auf diese Weise können die neuen Eltern erfahren, wie sie die »zweite Bindung« einleiten können, beispielsweise indem sie den kindlichen Initiativen, speziell den nonverbalen Signalen folgen. Bei älteren Kindern dauert die Übergangsphase zwischen dem abgebenden und dem aufnehmenden System länger als bei Babys oder Kleinkindern. Ältere Kinder sind auf eine andere Weise als Kleinkinder am Prozess des Neuaufbaus der Beziehungen beteiligt: Sie verfügen über eine höhere Sprachkompetenz und in der Regel über ein differenziertes Bild von ihrer eigenen Lebenssituation, ihren Beziehungserfahrungen und Beziehungswünschen. Babys und Kleinkinder benötigen unmittelbar stabile Bezugspersonen, die sie in ihrem sensiblen Entwicklungsgeschehen passend unterstützen können. Der erste Film, der in der Kurzzeitpflege aufgenommen wird, dient dazu, die kindlichen Initiativen kennen zu lernen und daraus die Art der Entwicklungsunterstützung, die das Kind benötigt, abzuleiten. Die Folgefilme zeigen die Langzeitpflegeeltern mit dem

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Pflegekind in seiner gewohnten Umgebung. Es werden so lange Filme aufgenommen und Informationen über die Anforderungen, die das Kind stellt, gegeben, bis es in die Langzeitpflegefamilie wechselt. Auf diese Weise unterstützt Marte Meo die Entwicklung der Beziehung zwischen dem Kind und den neuen Pflegeeltern schon bevor das Kind dort einzieht.

■ Entwicklungsunterstützung von Pflegekindern Marte Meo kann in alle Formen der Kinderbetreuung integriert werden – in die Langzeitpflege, die Kurzzeitpflege oder in Tagesgruppen. Es kann in Form eines fortlaufenden Prozesses von Entwicklungsunterstützung in Familien und als Interventionskonzept bei Pflegefamilien, die Sorgen oder Fragen wegen eines Kindes haben, genutzt werden.

■ Fortlaufende Unterstützung Die Filme können den Pflegeeltern zeigen, wie sie das Kind unterstützen und seinen Entwicklungsanforderungen entsprechen. Wenn Filme auf diese Weise genutzt werden, wirken sie präventiv. Die Filme können auch die Pflegeeltern in dem bestätigen, was sie leisten. Die folgende Fallstudie zeigt, auf welche Weise Marte Meo in den Betreuungselementen von Pflegefamilien genutzt wurde. Fortlaufende Marte-Meo-Entwicklungsunterstützung am Beispiel der Familie Sweeny Profil der Pflegefamilie Vater Liam, Mitte 50 Mutter Eileen, Mitte 50 Kinder Eithne, 18 Bill, 15 Ainne, 13 Es handelt sich um die erste Inpflegenahme dieser Familie. Der

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erste Film von Pflegekind Anthony und seiner Pflegemutter wurde aufgenommen, als er sechs Wochen alt war und von ihr gebadet wurde. Der Film sollte der Pflegemutter zeigen, auf welche Weise sie Anthony fortlaufend im Aufbau seiner Bindung an sie und auf anderen Gebieten seiner Entwicklung unterstützte. Wir zeigten ihr Momente, in denen sie Anthonys Fähigkeit zur Konzentration und Kontaktaufnahme unterstützt, indem sie ihm eine klare Orientierung bietet. Sie benutzt hohe Töne, wenn sie mit ihm spricht, und benennt seine aktionalen und emotionalen Initiativen dann, wenn er sie zeigt. Wir zeigten Momente, in denen die Pflegemutter für eine gute Atmosphäre sorgt, in der Kommunikation einen Bestätigungszirkel aufrechterhält, indem sie Anthony »gute Gesichter« und Töne zeigt. Der Einsatz des Films, verbunden mit den passenden Informationen, unterstützt die Kompetenz der Pflegeeltern, Beziehungsangebote zu machen, die Pflegekindern einen guten Platz in der Pflegefamilie geben.

■ Therapeutische Intervention Marte Meo kann ebenfalls Antworten auf Fragen oder Besorgnisse von Pflegeeltern über das Kind ermöglichen. Auf diese Weise können Gelegenheiten zur Veränderung schneller aufgegriffen werden. Marte Meo als therapeutische Intervention, ebenfalls bei Familie Sweeny (zu einem späteren Zeitpunkt) Als Anthony 2,9 Jahre alt war, berichteten die Pflegeeltern der Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes, dass sie sich Sorgen über seine Entwicklung machten. Sie beschrieben Anthony als einen Jungen, der sich kaum konzentrieren könne und wenig Selbstbewusstsein habe. Wenn er hinfiel oder sich verletzte, erschien er unglücklich, erlaubte aber niemandem, ihn zu trösten. Die Pflegeeltern baten um Beratung, wie sie diese Situationen besser verstehen und Anthony entsprechend unterstützen könnten. – Anzahl der Filme: 4 – Anzahl der Videoberatungen: 4 – Dauer der Intervention: 4 Monate mit einem Follow-up-Film vier Monate später.

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Erster Film: eine Spielsituation mit Anthony und seiner Pflegemutter Die Videointeraktionsanalyse des ersten Films zeigte, dass zentrale Elemente entwicklungsunterstützender Interaktion immer noch vorhanden waren, beispielsweise das Verfolgen und Benennen der kindlichen Initiativen. Die Pflegemutter konnte eine klare Struktur setzen. Sie sorgte für eine gute Atmosphäre, benutzte attraktive Töne und zeigte dem Kind »gute Gesichter«. Im Blick auf Anthonys Entwicklungsbedürfnisse und vor dem Hintergrund der Fragen und Sorgen, die die Pflegeeltern beschäftigten, wurde deutlich, dass die Pflegemutter dem Kind gegenüber sehr initiativ war. Anthony war dessen überdrüssig geworden, er war frustriert und verlor seine Konzentration. Die Pflegemutter konnte lernen, länger zu warten, und erhielt so die Gelegenheit, Anthonys Initiativen wahrzunehmen. Dies würde Anthony auf seinem eigenen Entwicklungsniveau unterstützen. Auf der Grundlage des ersten Films listeten wir Empfehlungen an die Pflegeeltern auf: – Anthonys Initiativen wahrnehmen, – den Initiativen folgen, seine Aktionen und emotionalen Initiativen benennen, – warten, um seine Initiativen wahrzunehmen, – seine Initiativen bestätigen, – Anthony bestätigen, wenn er etwas seinem Entwicklungsniveau entsprechend zu Ende bringt. Es war offensichtlich, dass die Pflegeeltern lernen mussten, Anthony auf seinem Entwicklungsstand als Zweijährigen zu sehen. Da sie ältere Kinder hatten, waren die Eltern daran gewöhnt, Kontakt und auch Diskussionen auf einem hohen Niveau zu haben. Anthony war sprachlich sehr weit entwickelt und die Pflegeeltern bestätigten ihn auf intellektueller Ebene. Es wurde für Anthony zunehmend schwierig, zu seinem kleinkindlichen Gefühlsleben Kontakt zu halten. Beide Pflegeeltern nahmen an der ersten Videoberatung teil. Ihre erste Aufgabe war zu warten und so Anthony Zeit zu geben, seine eigenen Initiativen zu entwickeln.

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Zweiter Film: eine Spielsituation mit Anthony und der Pflegemutter Die Pflegemutter hatte geübt zu warten, um Anthonys Initiativen zu sehen. Die Videoanalyse verdeutlichte, dass Anthony in der Lage war, fokussiert bei seinen eigenen Spielideen zu bleiben, wenn die Pflegemutter ihr Tempo verlangsamte. Die Pflegemutter benannte Anthony gegenüber die Handlungsschritte, mit denen er seine eigenen Initiativen entwickeln und zu einem guten Ende bringen konnte. Dies führte für Anthony zu kleinen »Freudenfeiern« anstelle der bisherigen Frustrationen. Auf diese Weise unterstützte die Pflegemutter Anthony auch dabei, sich auf seinem Niveau mit ihr abzuwechseln und seine eigenen Initiativen wahrzunehmen. Dies wiederum förderte die Entwicklung seiner »inneren Welt«, eines differenzierteren Selbsterlebens. Die Pflegemutter leistete eine gute Arbeit. Ihr wurde geraten, Anthonys Initiativen weiterhin zu unterstützen, indem sie ihnen folgte, sie benannte und wartete. Die Pflegeeltern berichteten, dass Anthony schon besser zurechtkam. Sie sagten auch, dass sie zu viel von ihm erwartet hätten und zu einseitig seinen Intellekt angesprochen hätten. Die konkreten Marte-Meo-Informationen halfen ihnen, an sein tatsächliches Entwicklungsniveau anzuknüpfen. Dritter Film: Anthony und sein Pflegevater Es wurde ein Film von Anthony und seinem Pflegevater aufgenommen, weil es bedeutsam ist, beide Pflegeeltern in ihrer je spezifischen Art, mit dem Pflegekind zu interagieren, in den Blick zu nehmen. Der Pflegevater hatte an beiden vorangegangenen Videoberatungen teilgenommen und die Informationen gut verstanden. Ebenso unterstützte er seine Frau darin, das Besprochene umzusetzen. Die Interaktionsanalyse verdeutlichte, dass er die gleichen Informationen für seine eigene direkte Interaktion mit Anthony benötigte. In diesem Film war der Pflegevater sehr aktiv und Anthony sehr isoliert. Es gab eine körperliche Nähe, aber keinen richtigen Kontakt zwischen den beiden. Der Vater arbeitete hart, um eine schöne Atmosphäre zu kreieren, aber da er sich mehr an seinen eigenen Initiativen orientierte als an dem, was für Anthony interessant war, übersah er dessen Signale. Das führte Anthony in eine Isolation und er wandte sich vom Spiel ab. Wir empfahlen dem Pflegevater zu warten, zu folgen und schließlich Anthonys Initiativen zu benennen.

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Vierter Film: Spielsituation mit Anthony und beiden Pflegeeltern Die Pflegeeltern setzten die Informationen gut um und berichteten, dass Anthony viel fröhlicher und konzentrierter spiele. Die Videointeraktionsanalyse zeigte, dass beide Pflegeeltern – Anthonys Initiativen folgten und sie auf seinem Niveau benannten. – ein langsameres Tempo hatten und Anthony ermöglichten, seine eigenen Ideen einzubringen. Sie unterstützten ihn dann, diese Ideen auf seinem Entwicklungsniveau weiterzuentwickeln und erleichterten so den Bindungsprozess. – Anthony auf positive Weise in sozial angemessenes Verhalten lenken konnten, sofern dies nötig wurde. – angemessenes Verhalten bestärkten, um Anthony zu helfen, positive Verhaltensmuster sowie sein Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen zu entwickeln. – Freude mit Anthony teilten, was ihn in seiner emotionalen Entwicklung unterstützte. Follow-up-Film mit Anthony und der ganzen Pflegefamilie vier Monate später Vier Monate später filmten wir die Familie, um einen Eindruck von Anthony und seiner familiären Situation zu bekommen. Ein Zweck dieses Films war, die Pflegeeltern darin zu bestärken, Anthonys Initiativen in der erweiterten Familiensituation zu unterstützen. Die Pflegeeltern hatten sich die Informationen über Anthonys Entwicklungsbedürfnisse zu Eigen gemacht. Sie konnten ihre Aufmerksamkeit stimmig zwischen Anthony und den anderen Familienmitgliedern aufteilen. Nachfolgend werden einige Kommentare der Pflegeeltern zu den Marte-Meo-Interventionen wiedergegeben: – »Es gibt eine entspanntere und ruhigere Atmosphäre in unserer Familie.« – »Das Kind ist viel glücklicher und kann eine längere Zeit ohne Unterbrechungen spielen.« – »Wenn wir den Eindruck bekommen, dass sich die Situation negativ entwickelt, können wir wieder bei den Informationen anknüpfen, die wir über die Filme bekommen haben.« – »Alle Pflegeeltern sollten diese Form der Hilfe bekommen.«

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– »Bei jeder Fremdunterbringung sollte diese Form der Unterstützung frühzeitig verfügbar sein.« – »Wir glauben, das würde die Arbeit der Sozialarbeiter in der Langzeitpflege verkürzen.« – »Wir denken, dass diese Methode erstens zeigt, was das Kind wirklich braucht. Zweitens zeigt sie den Pflegeeltern, was sie auf konkrete und einfache Weise für das Wohl des Kindes tun können.«

■ Gruppen für Pflegeeltern Marte Meo kann auch in Pflegeelterngruppen genutzt werden, um Elemente entwicklungsunterstützender Kommunikation zu zeigen, um zu zeigen, wie diese Methode therapeutisch wirkt, und um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass diese Methode Pflegeeltern unterstützen kann.

■ Fazit Marte Meo bietet Pflegeeltern ein praktisches Werkzeug, das sie in die Lage versetzt, auf eine Weise Anschluss an ihre Pflegekinder zu finden, die deren Entwicklungsbedürfnissen entspricht. Das wichtigste Ziel dieses Vorgehens ist die Unterstützung der sozialen und emotionalen Entwicklung der Kinder in der Alltagskommunikation während der Zeit der Fremdunterbringung, um auf diese Weise die Möglichkeit einer »zweiten Bindung« in einem Pflegesystem zu erleichtern. Aus dem Englischen von Christian Hawellek.

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■ Literatur Aarts, M. (2002): Marte Meo. Ein Handbuch. Harderwijk. Bowlby, J. (1975): Bindung. München. Bowlby, J. (1976): Trennung. München. Winnicott, D. (1974): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München.

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■ Terry Hofmann-Witschi und Paul Hofmann Marte-Meo-Assessment – Ein Instrument zur Einschätzung elterlicher Fähigkeiten

■ Vorbemerkung Seit über zwei Jahrzehnten leben wir als offene Familie. In der Form einer Heilpädagogischen Lebensgemeinschaft (HPLG) – einer Art »therapeutischen Sippe« – haben wir Kinder, Erwachsene und Familien bei uns aufgenommen und teilen das Leben mit ihnen. Wir arbeiten seit fast zehn Jahren mit Hilfe von Marte Meo und haben in dieser Zeit eine Fülle von Erfahrungen gesammelt. Die Beziehungen der Eltern mit ihren Kindern entwickelten sich erstaunlich positiv – und das oft auch in kurzer Zeit. Allerdings gab es vereinzelt auch Fälle, in denen wir die Entwicklungsmöglichkeiten der Eltern-Kind-Beziehung überschätzt hatten. So suchten wir nach Möglichkeiten, Marte Meo und unsere Erfahrungen mit Eltern in einem Verfahren zusammenzuführen, das einerseits Aussagen über die aktuelle Situation der Eltern-Kind-Beziehung ermöglicht und andererseits auch die Entwicklungsmöglichkeiten der Eltern einschätzen hilft. In den letzten Jahren entstand in der HPLG das Marte-Meo-Assessment. Wir nennen das Verfahren »Assessment«, um zu betonen, dass die Beurteilung auf der Basis von Interaktionen im Alltag und unter »Normalbedingungen« stattfindet. Es handelt sich um eine Prozessdiagnostik, bei der die Entwicklungsressourcen in den Blick genommen werden. Dieses Verfahren möchten wir in diesem Beitrag darstellen. Es bietet eine Möglichkeit, Entscheidungen zum Wohl des Kindes, der Eltern und auch der Eltern-Kind-Beziehung zu treffen, die fachlich gut abgestützt und dokumentiert sind.

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T. Hofmann-Witschi u. P. Hofmann · Marte-Meo-Assessment

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■ Die Videointeraktionsanalyse: sehen, was da ist ■ Einführung Beim Marte-Meo-Assessment geht es darum zu sehen, wie die Eltern und das Kind im Alltag zusammenleben. Am Anfang stehen demnach kurze Videoclips aus dem Alltag: beim Wickeln …

… oder beim gemeinsamen Essen. Hier lässt sich mit Hilfe der in Marte Meo verwendeten Beobachtungskriterien (s. u.) schon sehr viel feststellen.

Dabei ist zu beachten, dass es im Alltag mit Kindern immer wieder zu kleineren oder größeren Stressmomenten oder Unstimmigkeiten kommen kann. Erst die dauernde Wiederholung von Unstimmigkeiten und Machtkämpfen macht aus dem Alltag einen alltäglichen Kampf.

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Für die Eltern kann das Filmen am Anfang eine gewisse Belastung sein. Sie wissen: »Was jetzt passiert, wird gefilmt und kann über unsere Zukunft entscheiden.« Bei der Videointeraktionsanalyse geht es aber nicht in erster Linie darum, Defizite aufzuzeigen. Es wird vielmehr darauf geachtet, welche Unterstützung das Kind von den Eltern braucht, was diese ihm schon geben und wie sie lernen können, ihr Kind noch besser zu unterstützen. Nach dem Erstellen der Videointeraktionsanalyse zeigen wir den Eltern in der Regel nicht den ganzen Film, sondern ausgewählte Bilder oder Sequenzen. Es ist nicht sinnvoll, die Eltern mit Bildern von Unzulänglichkeiten und Fehlern zu belasten. Es geht darum, den Weg für Entwicklungsschritte zu bereiten und die Abwärtsspirale zu durchbrechen.

■ Die Beobachtungskriterien Um eine Videointeraktionsanalyse vornehmen zu können, benötigen wir verschiedene Videoclips von Alltagsszenen mit Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Jede Situation verlangt von den Eltern andere Fähigkeiten. 1. In einer Situation braucht das Kind Struktur: – Können die Eltern die Situation strukturieren? – Setzen sie klare Signale von Anfang (»So, jetzt werden wir …«) und Ende (»Fertig! Prima!«)?

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T. Hofmann-Witschi u. P. Hofmann · Marte-Meo-Assessment

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2. In einer anderen Situation geht es darum, eine positive Atmosphäre zu schaffen: – Sprechen die Eltern mit einer warmen Stimme? – Zeigen sie dem Kind ein freundliches Gesicht? 3. In einer dritten Situation ist es wichtig, die Initiativen des Kindes gut wahrzunehmen. – Sehen die Eltern das Kind? – Können sie sich auf das Kind einlassen? – Reagieren sie auf Interaktionen des Kindes? Der folgende Abschnitt illustriert, wie diese Kriterien jeweils in konkreten Situationen beobachtet werden.

■ Beobachtungssituationen ■ Spielsituationen In Spielsituationen oder beim Plaudern wird vor allem darauf geachtet, wie gut die Eltern den Initiativen des Kindes folgen können. – Nehmen sie das Kind wahr und können sie zum Beispiel eine Spielidee des Kindes aufnehmen? Oft erleben wir, dass Eltern ihre Kinder nur ungenügend wahrnehmen. Sie sind isoliert in ihrer eigenen inneren Welt und haben nicht die Fähigkeit erworben, sich in andere zu versetzen. So sieht man in Spielsituationen kein Zusammenspiel von Elternteil und Kind, sondern zwei Menschen, die nebeneinander zwei verschiedene Dinge tun. – Ist es den Eltern möglich, mit dem Kind einen Dialog aufzubauen? – Wie oft wechseln Eltern und Kind sich im Gespräch ab? Das Kind sagt etwas, die erwachsene Person erwidert etwas, das Kind bleibt am Thema, baut es weiter aus und so weiter. So entsteht eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit. Wenn Eltern diese Fähigkeit nicht entwickelt haben und selber auch keine Muster aufbauen konnten, bleibt der Dialog einsilbig und beschränkt sich auf kurze Fragen und Antworten.

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■ Aufgabenorientierte Situationen In einer aufgabenorientierten Situation, zum Beispiel einer Essenssituation, wird speziell darauf geachtet, wie die Eltern Leitung und Struktur geben können. Das gewährleistet dem Kind Sicherheit und Vorhersagbarkeit. – Ist es den Eltern möglich, dem Kind Struktur zu geben und ihm zu sagen, was es machen kann? – Können die Eltern dem Kind positive Leitung geben? – Können sie die positiven Initiativen des Kindes wahrnehmen und darauf reagieren? Essenssituationen können eine gewaltige Nervenprobe sein. Schnell geschieht es, dass chaotische Zustände am Tisch herrschen und die Eltern mit ihren Interventionen dem Geschehen hinterherhinken. Sie schimpfen nur noch und weisen das Kind zurecht. Das Essen wird so zu einem Kampf, anstatt zu einer Zeit, die man genießen kann. – Ist es den Eltern möglich, eine angenehme Atmosphäre aufzubauen? – Kommen alle zu Wort? – Kann das Kind merken, dass das Essen ein Moment ist, den man gemeinsam genießt? In einer Pflegesituation wie zum Beispiel dem Wickeln wird darauf geachtet, ob die Eltern ihre eigenen Handlungen benennen und dem Kind sagen, was sie tun. Das Benennen der eigenen Handlungen ist unter anderem eine wichtige Unterstützung für die Sprachentwicklung des Kindes. So lernt es in der Handlung die entsprechenden Worte. Die Eltern werden für das Kind vorhersehbar. Ihm wird nicht ohne Vorwarnung ein kalter Waschlappen ins Gesicht geklatscht, sondern es weiß, dass es jetzt gleich nass und kalt wird. Das Kind hat die Möglichkeit zu kooperieren, zum Beispiel die Arme hochzustrecken, wenn die Eltern sagen, dass sie jetzt den Pullover ausziehen wollen. – Benennen die Eltern, was sie machen und fühlen? – Benennen die Eltern, was das Kind macht und fühlt? Die Eltern erleichtern dem Kind die Orientierung, indem sie Ab-

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läufe klar strukturieren, etwas gut zu Ende bringen und danach mit etwas Neuem anfangen. Mit Worten wie »So«, »Jetzt sind wir fertig«, »Gut, jetzt kommt das Nächste« begleiten sie das Kind und vermitteln Sicherheit. – Ist es für das Kind klar, wann eine Handlung beginnt und wann sie endet? Oft sind die Eltern nicht gewohnt, über ihre eigenen Gefühle zu sprechen. Deshalb fällt es ihnen auch schwer, die Gefühle des Kindes wahrzunehmen und zu benennen (»Oh, du hast das gern!«). Für die Entwicklung eines Kindes ist es aber eminent wichtig, dass es lernt, seine Gefühle wahrzunehmen, auszudrücken und Worte dafür zu kennen sowie später die Absichten und Gefühle anderer wahrzunehmen. – Benennen die Eltern, was das Kind fühlt? – Benennen die Eltern, was sie selbst fühlen? – Können die Eltern dem Kind helfen, seine eigenen Gefühle auszudrücken? Die verschiedenen Filmausschnitte ermöglichen es, Fähigkeiten und Möglichkeiten der Eltern im Alltag zu sehen. In allem fragen wir uns: – Was braucht das Kind? – Was machen die Eltern? – Was müssen die Eltern noch lernen, damit sie dem Kind das geben können, was es braucht? – Wie schätzen wir die Fähigkeiten der Eltern ein, genau das noch zu lernen? – Was muss durch das Umfeld (durch wen?) übernommen werden?

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■ Claudia und Kelly: Ein Fallbeispiel1

■ Vorgeschichte Mit dem Fallbeispiel von Claudia und ihrer Tochter möchten wir zeigen, wie sich die Abläufe im Assessment gestalten und wie mit Claudia gearbeitet wurde. Zuerst ein paar Informationen zu Claudia: Claudia lebte zusammen mit ihren zwei Schwestern von ihrem ersten Lebensjahr an in Portugal bei ihrer Großmutter. Als sie etwa zwölf Jahre alt war, kamen sie und ihre Schwestern zu ihren Eltern und ihren Brüdern in die Schweiz. Dort wurde Claudia von Anfang an regelmäßig sexuell missbraucht. Mit 14 Jahren wurde sie schwanger. Obwohl die Familie wahrscheinlich vom Missbrauch wusste, wurde verschwiegen, von wem das Kind ist. Die Familie drohte ihr, sie umzubringen, falls sie jemandem davon erzählen würde. Sie wurde gezwungen, einen anderen Mann als Vater anzugeben. Kelly, Claudias Tochter, wuchs in der Familie auf als wäre sie eine weitere Schwester von Claudia. Die Mutter übernahm die Pflege, die Ernährung und die Erziehung von Kelly. Erst als Kelly 1 ½ Jahre alt war, traute sich Claudia, ihrem betreuenden Sozialarbeiter die Wahrheit zu sagen. Sie musste anschließend vor der Familie versteckt werden und kam zu uns. 1

Anmerkung der Autoren und der Herausgeber: Ursprünglich war geplant, den Text zu anonymisieren – was auch den Verzicht auf die meisten Fotos bedeutet hätte. Claudia hat sich explizit dafür eingesetzt, dass der Text nicht anonymisiert veröffentlicht wird. Für sie bedeutet das eine Würdigung ihres Emanzipationsprozesses.

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T. Hofmann-Witschi u. P. Hofmann · Marte-Meo-Assessment

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Als Beispiel für das Marte-Meo-Assessment ist die Geschichte von Claudia insbesondere geeignet, da sich hier viele Risikofaktoren finden lassen, die der Entwicklung einer guten Eltern-KindBeziehung entgegenstehen.

■ Videointeraktionsanalyse Die Videos von Claudia und Kelly aus der ersten Zeit sind oft schwer zu ertragen: Mutter und Kind hatten fast keine gemeinsamen Erfahrungen und die Vorgeschichte holte die beiden im Alltag immer wieder ein. Mit den Bildern aus der ersten Zeit können wir zeigen, was Kelly braucht, was Claudia ihr schon geben kann und was sie noch lernen muss.

Claudia wickelt ihre Tochter. Die Szene wirkt wie ein Zweikampf. Kelly schreit, windet sich und dreht sich von der Mutter weg. Diese hantiert wortlos und mit abrupten Bewegungen mit dem Kind und der Kleidung. Ihre Aktivitäten sind für das Kind überhaupt nicht vorhersehbar. Kelly ist gefangen in ihren negativen Gefühlen. Claudia ist mit der Aufgabe des Wickelns stark beschäftigt. Beide sind isoliert. Kelly braucht Struktur. Diese kann erreicht werden, indem Claudia sagt, wann eine Handlung beginnt und wann sie abgeschlossen ist, zum

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Beispiel: »So, jetzt nehme ich die Windel und hebe deine Beine hoch«. Für Kelly würde die Mutter dadurch vorhersehbar werden. So könnte aus dem Kampf eine gemeinsame Zeit werden.

Claudia reinigt Kelly ohne Worte mit einem feuchten Tüchlein das Gesicht. Kelly windet sich, dreht sich weg und versucht Claudia auszuweichen. Zu einer gemeinsamen Zeit gehört auch, dass die Gefühle und der Körper des Anderen wahrgenommen werden. Claudia müsste Kelly Respekt entgegenbringen und ihre Gefühle sehen. Konkret bedeutet das, dass sie Kellys Initiativen benennen und ihr auch sagen muss, was sie tut.

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Während Claudia wortlos Kellys Kleider sorgfältig zusammenlegt, sucht Kelly verschiedene Male den Blickkontakt zu ihrer Mutter. Kelly muss merken, dass ihre Kontaktaufnahmen von Claudia wahrgenommen werden, etwa indem Claudia kurz zu ihr schaut und sie anlächelt, etwas sagt, einen Ton oder einen Gesichtsausdruck des Kindes aufnimmt und spiegelt. So entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Claudia legt Kellys Kleider sehr sorgfältig zusammen. Dieselbe Sorgfalt wird nötig sein im Umgang mit Kelly. Schauen wir uns jetzt noch an, wie sich Claudia mit Kelly in den ersten Tagen am Tisch verhalten hat. Gemeinsames Essen gehört zu den genussvollen Zeiten, in denen man Struktur positiv erleben und Emotionen teilen kann.

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Während Claudia längere Zeit wortlos damit beschäftigt ist, einen Schokoladenriegel auszupacken, hat Kelly ihr interessiert zugeschaut. Claudia übergibt Kelly den Riegel ohne Blickkontakt und dreht sich gleich weg. In dieser Szene wird deutlich, wie isoliert Mutter und Kind sind. Claudia kann von dieser Situation nicht profitieren und beide bleiben allein. Das Genießenkönnen von guten Momenten ist eine wichtige Ressource, die gerade allein erziehende Mütter dringend benötigen. Beide hätten den Moment der Übergabe genießen können, indem Claudia ihn für Kelly größer gemacht hätte: »So, schau einmal, was ich da Gutes für dich habe! Ja, das hast du gern!«

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Kelly isst Chips. Claudia will nicht, dass sie zu viel in den Mund nimmt. Sie hält Kelly die Hand, damit sie nicht noch einmal nehmen kann. Sie hindert sie mehrmals resolut und meist wortlos daran, sich mehr zu nehmen. In der Ablehnung sind Claudias Mimik und Körpersprache deutlich. Diese Deutlichkeit auch im positiven Sinn zu sehen, wird unser Ziel sein. Claudia zeigt Kelly, was sie nicht darf. Für Kelly ist es in dieser Situation aber viel hilfreicher, wenn sie erfährt, was sie darf, etwa indem Claudia zu ihr sagt: »Du darfst noch mehr Chips haben, aber schluck jetzt erst mal runter!« Das Sammeln aller noch zu lernenden Punkte ergibt eine umfangreiche Arbeitsliste. Anhand der Bilder wird überlegt, mit welchem Arbeitspunkt begonnen werden soll. Dieser Schritt erfordert viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung, da der weitere Verlauf des Assessments stark davon abhängt.

■ Trainingszeit Die folgenden drei Abschriften der Reviewsitzungen zeigen exemplarisch, wie mit Claudia während der Trainingszeit gearbeitet wurde. Dabei haben wir zwei Reviewings gewählt, die sehr kurz aufeinander folgten. Beim stationären Aufenthalt in der Heilpädagogischen Lebensgemeinschaft leben wir mit den Müttern und

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Kindern zusammen. Das ist eine intensive Zeit mit sehr vielen Analysemöglichkeiten. Das Leben in der Heilpädagogischen Lebensgemeinschaft zusammen mit anderen Müttern bietet auch die Möglichkeit, am Modell anderer zu lernen und selber Erfahrungen zu sammeln, bevor ein neues Video aufgenommen wird. Das dritte Reviewing erfolgte ungefähr drei Monate nach den beiden ersten. ■ Reviewing am 20. Oktober 2001 Terry: Claudia, wir haben zusammen gesprochen, gestern und schon vorher. Und du sagtest, dass du lernen willst, wie du mit Kelly umgehen kannst, wie du eine gute Mutter werden kannst. Wir haben vorletzte Woche gefilmt und heute schauen wir etwas davon an. Ich möchte es dir zeigen. Hast du schon einmal einen Film von dir und Kelly gesehen? Claudia: Ja, … am Geburtstag von Michael … T.: Michael ist wie alt? C.: Er ist jetzt drei Jahre, damals war er ein Jahr. T.: Jemand hat gefilmt, als ihr zusammen bei dem Geburtstag wart? Also, nun wollen wir etwas vom Video anschauen. Da musst du Kelly ausziehen und Kelly hat das nicht gern. Aber du weißt, du musst es trotzdem tun. Du nimmst Kelly auf und du musst hinten Knöpfe öffnen. Nun legst du Kelly wieder ab und ziehst die Arme raus. Du ziehst den Pullover über ihren Kopf und Kelly hat das nicht gern. Das ist normal, Kinder haben das nicht gern. Du nimmst den Waschlappen und putzt ihr das Gesicht. Und was machst du hier, Claudia? C.: Anziehen. T.: Ja, du ziehst sie wieder an. Tust die Hand hinein. Schau, nun lächelt Kelly ein wenig. Hast du gesehen? Schau dort, Kelly schaut dich an. Und du, schaust du gerade Kelly an? Ich sehe es nicht gut wegen der Haare. C.: Ja.

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(neue Sequenz) T.: Du sagst etwas, vielleicht sagst du Strumpfhose (auf Portugiesisch). Sagst du das? Wenn du das sagst, weiß Kelly, dass »Strumpfhose« das ist, was du ihr anziehst, wenn du es ihr immer wieder sagst. Wir schauen es nochmals an. Ich versuche den Ton etwas lauter zu stellen, damit wir verstehen können, was du genau zu Kelly sagst. Wir können es schlecht verstehen, was du genau zu ihr sagst, weil Kelly ab und zu noch weint. C.: Kelly war müde. T.: Ja, da war vieles neu. Es war, glaube ich, der erste oder zweite Tag, als ihr eben zu uns gekommen wart. (neue Sequenz) C.: Kelly krabbelt. T.: Ah, komm, wir schauen, ob du auch etwas machst. Hörst du? Sie sagt etwas. Komm, wir schauen noch einmal. Schau, jetzt ist es gut. Du hast eine Idee. Du siehst, Kelly ist traurig, und denkst: »Ich mache es für Kelly lustiger«. Was sagst du da? Hör gut hin und sag dann genau, was du sagst. C.: Hund. T.: Was bedeutet das, Hund? Wer macht wie ein Hund? C.: Der Hund kommt und macht »Wu, wu«. Ich sage zu Kelly, der Hund kommt, und dann hört sie. (Claudia krabbelt im Film Kelly am Bein und sagt: »Der Hund kommt.«) T.: Schauen wir es nochmals an. Ah, du machst »Wu, wu«. C.: Kelly macht zuerst »Wu, wu«. T.: Ah, Kelly macht es zuerst? Das will ich nochmals hören. Ja, genau. Da schau, das wollte ich dir zeigen. Dieses Bild ist jetzt für dich. Wenn du willst, dass Kelly gut reden lernt, kann ich dir helfen, dass du es sie lehren kannst. C.: Ja, Kelly lernt schnell reden. T.: Ja, jetzt müssen wir noch etwas gut überlegen. Du musst dich entscheiden, ob Kelly Deutsch lernen soll oder Portugiesisch. Ich weiß, das ist schwierig für dich zu entscheiden. Aber es ist wichtig, damit wir wissen, welche Sprache Kelly lernen soll. Zuerst Portugiesisch oder Deutsch?

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C.: Sie soll Deutsch lernen. T.: So könnt ihr gerade beide zusammen Deutsch lernen, du und Kelly. Das ist gut. (neue Sequenz) T.: Hier ist Kelly ganz wach, schaut in die Kamera. Und hier schaut sie zu dir. Jetzt wieder, Kelly schaut zu dir. Vorher hast du gesagt »ein Hund«. Kelly hat dir so gesagt: Ich habe dich verstanden (wu, wu). Und so machen wir jetzt noch mehr. Wenn du Kelly wickelst, dann sagst du etwas und dann weiß Kelly: Aha, das heißt so. Wir versuchen etwas Neues. Wir gehen jetzt wickeln. Ich sage dann auf Deutsch, wenn du etwas machst, und du sagst es mir nach. So lernt Kelly die Worte zu dem, was du machst. Das machen wir jetzt. Und so lernt ihr beide zusammen ganz leicht Deutsch. Kelly lernt es von dir, von ihrer Mama. Ich habe vorher gesehen, wie Kelly von dir lernt. Und sie lernt von dir am leichtesten, weil du ihre Mama bist. Also, fangen wir an! ■ Reviewing am 23. Oktober 2001 Claudia ist dabei, mit Kelly Deutsch zu lernen. Ihr momentaner Arbeitspunkt ist, Kelly zu sagen, was sie mit ihr macht. Sie hat Sätze zum Wickeln auf Deutsch gelernt. C.: Gestern habe ich es beim Wickeln so versucht: »Kelly, ich putze«, »Kelly, ich bin fertig«. T.: Soll ich das Papier mit den wichtigen deutschen Sätzen holen? Es ist im Badezimmer. (Terry holt das Papier.) T.: Also (Terry gibt Claudia das Papier). C.: (Claudia liest die Sätze laut vor.) Kelly, ich lege dich hin. (Terry macht mit einem Teddybären noch mal die einzelnen Handlungen nach.) Kelly, ich ziehe dir die Windel ab. Kelly, ich putze dich. So, jetzt bin ich fertig. (Die Sätze werden geübt.)

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T.: So, nun schauen wir das Video an. Gestern sind wir ins Bad gegangen und du hast Kelly gewickelt. Nun wollen wir hören, was du zu Kelly gesagt hast. Was hast du gesagt? C.: Kelly, i tue di wickle. T.: Und was sagt Kelly? C.: Ja. T.: Kelly hat verstanden. (nächster Clip) Hier hast du Kelly gewickelt, du hast ja den Film schon gesehen. Ich gehe etwas weiter nach vorne. Was sagst du hier? C.: »Es stinkt, Kelly.« Kelly schaut mich an. T.: Kelly schaut dich an. – Was sagst du hier? C.: Ich sage auf Portugiesisch »Nimm die Hand weg.« T.: Was macht Kelly, als du ihr sagst »Nimm die Hand weg«? C.: Kelly nimmt die Hand weg. T.: Gut, Kelly hat verstanden und sie denkt: Mama hat Recht, und nimmt die Hand weg. Wir schauen noch etwas weiter. Du sagst »putze«. Kelly lernt so sprechen. Wieso weint Kelly nun? C.: Ich weiß nicht. T.: Komm, wir schauen nochmals. Schau einmal auf die Beine und Füße von Kelly. C.: Ich sollte ihr alles ausziehen. Hosen sind in ihrem Gesicht. T.: Die Beine sind ganz über dem Kopf, etwas zu viel für Kelly. Doch du denkst: Ich putze, und das ist gut so, aber statt alles auszuziehen, könntest du die Beine etwas weniger hochdrücken. Schau, mit »wee, wee« will sie sagen: Weg mit den Beinen. Was sagt Kelly jetzt? C.: Spiele. T.: Ja genau, spielen will sie und zeigt in eine Richtung. Hast du es gemerkt? Komm, wir schauen es nochmals an. Ja, du hast es gemerkt: Kelly will spielen. Du gibst ihr das Telefon und Kelly schaut dich an. Kelly telefoniert und du sagst: Hallo. Was sagst du, wenn du mit Christian telefonierst? C.: »Ja.« T.: Du kannst auch »Hallooo« oder »Jaaa« sagen (Stimme verändern). Versuch das nächste Mal, bei Kelly die Stimme etwas zu verändern. Es klingt schöner für Kelly.

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Was sagst du da zu Kelly? Hast du es verstanden? Nochmals. Fertig! Es ist gut, dass du hier »fertig« sagst. Weißt du wieso? Nein. Es ist immer gut, wenn du sagst: »Fertig!« Auch nach dem Essen kannst du »Fertig!« sagen, bevor du dann Kelly aus dem Sitzli nimmst. So weiß Kelly, etwas ist fertig und nun kann etwas Neues anfangen. So kann Kelly immer schauen: »Was sagt meine Mama?« Was willst du in einem neuen Video machen? C.: Essen oder Schlafen. T.: Gut, machen wir das nächste Mal Essen. Morgen zum Beispiel. C.: T.: C.: T.:

Claudia erzählt, dass sie versucht, Kelly »Schlaf, Kindlein schlaf« zu singen. Terry schaut mit ihr noch ein paar Wörter an, ein Vergleich zwischen Portugiesisch und Deutsch. ■ Reviewing am 14. Februar 2002 T.: Wir schauen zuerst das Video an und dann kannst du mir erzählen, was du siehst. Nur das, was du auf dem Bild siehst. Was sagst du da? C.: »Komm zu Mama.« T.: Und Kelly? C.: »Ich komme.« – Ich wollte Kelly sagen, dass sie nicht so nah zum Video hingehen soll, und sagte »Nein.« T.: Du sagst »Nein«. Hat Kelly das verstanden? C.: Ja. T.: Bist du sicher? Komm, wir schauen nochmals. C.: Nein, sie hat nicht verstanden. T.: Nein, sie hat nicht verstanden. Was du machen kannst, ist das: Du kannst Kelly rufen »Komm zu mir«. Wenn du ihr nur »Nein« sagst, dann weiß sie nicht, was sie nicht machen soll. Schauen wir weiter. Was machst du hier? C.: Ich gebe Kelly den Stab. Dann überlege ich mir … wie heißt das Wort … »reintun«. T.: Schauen wir uns das an. Kann Kelly den Stab reintun? Ja, sie kann. Hast du etwas zu ihr gesagt?

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C.: Ja, »nochmals«. T.: Hören wir uns das an. Sagst du etwas? C.: Nein, hier nicht. Ich fragte nachher Doro, wie das Wort heißt (»reintun«). Sie hat es mir gesagt und ich konnte es dann zu Kelly sagen. (Sie hören es sich auf dem Video an.) T.: Und jetzt, was hast du gesagt? C.: »Boing.« T.: Und hier? Wieso hast du gewusst, dass sie noch mehr wollte? Was hat Kelly gemacht? C.: Kelly zeigt auf die Stäbe, schaut hin, macht »äh«. (neue Sequenz) T.: Kelly sagt dir nachher mit ihrem Ausdruck: »Mama, sag was, ich habe es doch gut gemacht.« Und du merkst es sofort und applaudierst ihr. Und sie will noch mehr Applaus von dir bekommen. Und was ich auch höre: Du hast so eine schöne Stimme. Weißt du noch am Anfang, wie du mit ihr gesprochen hast? (Mimt eine teilnahmslose Stimme.) C.: Ich sage: »Kelly sag dada.« T.: Ja genau, »Kelly sag dada.« (Spricht den Satz noch mal sehr melodiös.) (neue Sequenz, Kelly und Claudia lachen.) T.: Dazu sagt man: »Freude teilen«. Es ist so schön, schau dich und Kelly an, es ist so schön. Kelly hat gesehen, Mama sieht, dass ich alles rausnehmen kann. Sie sieht dich an. Und dann nimmt sie alles raus und schaut dich wieder an. Hier könntest du sagen: »Jawohl, alles rausgenommen.« Sie hat dich angeschaut, sie wollte es von dir hören. (T. zeigt die Sequenz noch mal.) Schau, hier macht sie »äh, äh«, als möchte sie sagen: »Sag noch etwas!« Da hast du es gerade nicht gemerkt, aber das ist nicht so schlimm. Da denkt sie wahrscheinlich »Ja, ja, schon o. k.« Und nachher? Claudia beschreibt Terry, was sie mit Kelly gespielt hat. Man hört vom Video Kellys fröhliches Lachen.

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(neue Sequenz) T.: Was du hier noch sagen könntest, ist: »Ja, so ist gut.« Wenn etwas fertig ist, kannst du das sagen. Siehst du, sie sieht dich an und wartet auf eine Antwort von dir. Immer wieder, wenn etwas fertig ist, kannst du sagen: »Ja« oder »Jetzt ist gut« oder »Jetzt ist fertig« oder »So«. Du musst ja jetzt gehen, aber du kannst das Video später noch fertig schauen. Es ist sehr schön!

■ Gemeinsamer Prozess statt einsamer Entscheid Der Entscheidungsprozess beginnt beim Marte-Meo-Assessment am Tag des Eintritts. Gerade das Leben im Alltag zeigt, wie die weitere Entwicklung verlaufen wird. Die Eltern haben die Möglichkeit, am Entscheidungsprozess maßgeblich beteiligt zu sein. Sie erfahren praktisch, was es heißt, Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen und sowohl die schönen als auch die schwierigen Momente gemeinsam mit ihm zu erleben, manchmal auch durchzustehen. Sie merken ganz direkt und praktisch, ob sie sich dieser Aufgabe gewachsen fühlen, und haben die Möglichkeit, sich dafür einzusetzen. Falls sich während des Prozesses abzeichnet, dass die Eltern die Verantwortung für ihr Kind nicht allein tragen können oder wollen, müssen gemeinsam Lösungen gesucht werden. Vielleicht brauchen die Eltern in der Erziehung und Begleitung ihres Kindes weiterhin Unterstützung. Eine Möglichkeit ist, dass Eltern und Kind (meist Mutter und Kind) gemeinsam in einer Institution weiterleben. Vielleicht reicht es aus, wenn sie weiterhin ambulante Erziehungsberatung bekommen oder eine sozialpädagogische Familienbegleiterin haben, die sie regelmäßig sehen.

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■ Eine praktikable Lösung für alle Beteiligten Der Ausgang des Entscheidungsprozesses ist offen. Natürlich kann es auch mit einem Marte-Meo-Assessment zu der Situation kommen, dass vormundschaftliche Maßnahmen zum Schutz des Kindes getroffen werden müssen, doch ist das angestrebte Ziel immer, eine für alle Beteiligten gute Lösung zu finden. Nicht alle biologischen Eltern können auch hinreichend gute soziale Eltern werden. Es geht darum, lebbare Rollen zu finden, die dem Kind eine ungestörte Entwicklung ermöglichen. Die Eltern selber sind oft klar in ihrem Urteil: »Mein Kind braucht noch ergänzende Beziehungen, ich kann und will ihm jetzt nicht alleinige Mutter/alleiniger Vater sein«. Wenn sich abzeichnet, dass Eltern und Kind eher getrennte Wege gehen werden, ist es eminent wichtig, die Familie und das Umfeld möglichst rasch am Entscheidungsprozess zu beteiligen. Nur so kann erreicht werden, dass diese nicht all ihre Kraft darauf investieren, gemeinsam ausgehandelte Lösungen zu bekämpfen. Wir haben es in den letzten Jahren mehrmals erlebt, dass Familien, die im Prozess beteiligt wurden, wenn nötig sogar Ja sagen konnten zur »Trennung« von Eltern und Kind, wenn sich dies als Ergebnis eines Assessment-Prozesses ergeben hatte. Allerdings gehört zu der gefundenen Lösung dann auch, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kind bestehen bleiben und gefördert werden.

■ Claudia und Kelly nach dem Marte-Meo-Assessment Das Assessment hat gezeigt, dass Claudia bereit ist, elterliche Fähigkeiten zu entwickeln und Verantwortung für ihre Tochter zu übernehmen. Es war aber sowohl Claudia als auch dem Sozialdienst während des Assessments klar, dass Claudia und Kelly noch eine längere, intensiv begleitete Zeit brauchen würden, bis sie gemeinsam ein selbständiges Leben führen können. Und zunächst stand auch eine erste berufliche Ausbildung für Claudia an. So wurde gemeinsam entschieden, dass Claudia und Kelly weiterhin

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in der Heilpädagogischen Lebensgemeinschaft, im Mutter-KindHaus, leben sollten. Dort wurde die Arbeit mit Marte Meo fortgesetzt. Die abschließenden Filmszenen zeigen die weitere Arbeit mit Claudia und Kelly. In der ersten, spielorientierten Situation war es Claudias Aufgabe, den Initiativen von Kelly zu folgen. Und in der zweiten, aufgabenorientierten Situation wollen wir überprüfen, wieweit es Claudia möglich ist, positive Leitung zu geben. Kelly und Claudia spielen.

Claudia wartet ab und folgt Kellys Initiativen.

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Claudia spricht mit einer warmen Stimme und zeigt Kelly ein freundliches Gesicht.

Claudia folgt Kelly und benennt, worauf Kelly blickt.

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Claudia hat gelernt Kelly zu sehen. Sie ist mit Kelly im Austausch und die beiden genießen das gemeinsame Spiel. Kelly und Claudia beim Frühstücken.

Claudia spricht Kelly an und macht einen klaren Anfang: »So Kelly. Z’morge essen.«

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Claudia sagt Kelly, was sie macht: »Esslatz anziehen.«

Claudia schafft eine gute Atmosphäre und aktiviert den emotionalen Austausch.

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Claudia wählt die passenden Initiativen von Kelly aus und sagt ihr, was sie tun kann. Sie setzt auch klare Grenzen: Mit dem Messer darf Kelly nicht hantieren. Diese Bilder zeigen, welche Fortschritte Claudia gemacht hat. Sie hat gelernt, Kelly positiv zu unterstützen, und ist für sie zu einer verlässlichen Mutter geworden.

■ Zusammenfassung Das Beispiel von Claudia und ihrer Tochter sollte aufzeigen, wie wir im Marte-Meo-Assessment die Fähigkeiten von Risikoeltern erfassen und helfen, diese gezielt auszubauen. Claudia war ein besonderer »Glücksfall«, weil sie trotz ihrer Vorgeschichte über starke Ressourcen verfügt. Wir hoffen, es wurde deutlich, wie das Marte-Meo-Assessment Zeit gibt, tragfähige Entscheidungen zu finden. Schritt für Schritt können Lösungen erarbeitet werden, die sich an den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder und an den Entwicklungsmöglichkeiten der Eltern orientieren und die gleichzeitig »verträglich« sind für das gesamte Familiensystem.

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■ Ingeborg Kristensen Der Einsatz der Marte-Meo-Methode in der öffentlichen dänischen Gesundheitsversorgung – eine Effektund Prozessauswertung

■ Einführung: Öffentliche Gesundheitsvorsorge und Erkenntnisse über die frühkindliche Entwicklung Die Arbeit der öffentlichen Gesundheitsvorsorge für Kinder hat sich in Dänemark mit neuen Kenntnissen über die kindliche Entwicklung verändert. Die ersten entwicklungspsychologischen Theorien, die man als »klassische Theorien« bezeichnen könnte, basieren auf Sigmund Freuds Annahmen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Diese Theorien betrachteten Kinder als unsozial, egozentrisch und unkommunikativ. Zu Beginn der 1970er Jahre tauchten andere Theorien auf, die Entwicklungsprozesse als Folge wechselseitiger Kommunikation und der Entwicklung von Beziehungen beschrieben. Die Bindungstheorie beispielsweise bezieht sich auf die Betrachtung der Mutterschaft im Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind. Sie beschreibt, in welchem Ausmaß das Kind über eine Vielzahl sozialer und kommunikativer Fertigkeiten und Fähigkeiten verfügt: Es kommuniziert durch Bewegung, Gesten und Mimik, und die Eltern oder andere Bezugspersonen reagieren darauf auf die gleiche Weise. Sie kommunizieren miteinander, indem sie sich abwechseln, indem einmal das Kind und einmal die Eltern kommunizieren (Klaus u. Kenell 1970; Bateson 1975; Ainsworth et al. 1978; Bowlby 1979). Später begründeten Stern und andere Entwicklungstheorien, die sehr deutlich machten, dass Kinder von Geburt an die Fähigkeit besitzen, Beziehungen zu anderen aufzubauen (Stern 1985, 1992, 1998). Diese Studien zeigen, dass das Kind und die Bezugsperson in eine Art Dialogspirale eintreten, in der der Erwachsene den Ton seiner Stimme an das

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Kind anpasst und auf die kindliche Antwort wartet. Als Schlüsselkonzepte der Beziehungsentwicklung zwischen Kind und Erwachsenen, die miteinander in Interaktion stehen, gelten die gemeinsame Aufmerksamkeit, die gemeinsame Absicht und die gemeinsame Affektabstimmung. Studien über die Kindesentwicklung von den Beziehungstheoretikern haben gezeigt, dass Kinder in den Beziehungen zu anderen Menschen ihre geistigen und sozialen Kompetenzen entwickeln. Heute ist weitgehend anerkannt, dass das Kind ein aktiver Mitspieler bei seiner eigenen Entwicklung ist, die ihrerseits durch eine Struktur von Beziehungen zu Mutter, Vater, Geschwistern und anderen Bezugspersonen des Kindes ermöglicht wird. Wenn diese Beziehungen schwach und unbalanciert sind oder schlicht nicht existieren, wird das Kind nicht fähig sein, Beziehungserfahrungen dazu zu nutzen, eine gesunde Persönlichkeit zu entwickeln. Aus diesem Grund legen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitssystems heutzutage gesteigerten Wert auf die Beziehungsentwicklung zwischen Kindern und Eltern, und sie suchen aktiv nach Methoden, die sie bei dieser Arbeit unterstützen können. Marte Meo ist eine neuere Methode, die hilft, die Mutter-KindBeziehungen zu entwickeln. Sie wurde von einer Praktikerin ins Leben gerufen und bezieht sich – zwar nicht explizit, aber indirekt – auf die erwähnten Entwicklungstheorien, und wie wir sehen werden, bestätigt sie diese auch.

■ Die Marte-Meo-Methode in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge Die Marte-Meo-Methode wird in Dänemark seit den frühen 90er Jahren im Bereich der Entwicklungsunterstützung von ElternKind-Beziehungen sowie in psychologischen und pädagogischen Bereichen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge eingesetzt. Praktikerinnen und Praktiker dieser Arbeitsfelder nutzen Marte Meo, um zu beobachten, zu analysieren und zu intervenieren und so positive Entwicklungsprozesse zu unterstützen. Maria Aarts entwickelte die Methode in den Niederlanden seit 1978, indem sie die

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Interaktionen von Menschen beobachtete und die Abläufe der Interaktionen mit Hilfe von Videoclips analysierte. Marte Meo entstammt dem Lateinischen und meint soviel wie »aus eigener Kraft«. Die Methode unterstützt die Entwicklungen von menschlichen Beziehungen durch Kommunikation. Sie geht von der Annahme aus, dass Menschen eine natürliche Kommunikationsfähigkeit besitzen, die normalerweise unbewusst wirkt und es Eltern und Kindern ermöglicht, zu interagieren und aus dieser Entwicklungsquelle die Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen von Kindern zu schaffen (Aarts 1996, 2002). Marte Meo bezieht sich auf zentrale Kommunikationsprinzipien, die helfen, die geistigen und sozialen Kompetenzen von Kindern zur Entfaltung zu bringen: – Der Erwachsene ist dem Kind gegenüber aufmerksam und folgt seinen Initiativen. – Der Erwachsene erkennt und bestärkt die kindlichen Initiativen. – Der Erwachsene gibt dem Kind Zeit zu reagieren. – Der Erwachsene baut auf dem auf, was das Kind in die Kommunikation einbringt. – Der Erwachsene kleidet seine eigenen, aber auch die Aktionen und Gefühle des Kindes in Worte. – Der Erwachsene benutzt warme Töne und »gute Gesichter«, um eine wohlige Atmosphäre zu ermöglichen. – Der Erwachsene informiert das Kind darüber, was er möchte, bevor das Kind eine Aktion beginnt. – Der Erwachsene erkennt und bestärkt das Verhalten des Kindes in den Momenten, in denen es das zeigt, was er von ihm möchte. – Der Erwachsene wechselt sich mit dem Kind ab und gibt ihm Gelegenheit, an seiner eigenen Entwicklung zu arbeiten. – Der Erwachsene ist dafür verantwortlich, den Beginn und das Ende von Aktivitäten zu benennen. All diese Kommunikationsprinzipien passen zu den erwähnten Beziehungstheorien. Sie geben konkrete Hinweise, wie man gemeinsame Aufmerksamkeit, gemeinsame Absicht und gemeinsame Affektabstimmung in die Praxis umsetzen kann. Die MarteMeo-Kommunikationsprinzipien harmonieren auch mit den Bin-

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dungstheorien, die besonders die Wechselseitigkeit innerhalb der Kommunikationsspirale betonen. Das bedeutet auch, dass der Zeitfaktor für das Herausbilden von Beziehungen bedeutsam ist, in denen Aufmerksamkeit, Absicht und Gefühle miteinander geteilt werden. Eine Marte-Meo-Intervention erfolgt in mehreren Grundschritten: Die PHN1 nimmt einen Videoclip von fünf bis zehn Minuten auf, in dem die Interaktion zwischen Eltern und Kind in einer Alltagssituation dokumentiert wird. Die Mitarbeiterin analysiert dann den Videoclip im Hinblick auf die erwähnten Kommunikationsprinzipien und gibt den Eltern eine Rückmeldung. Sie zeigt ihnen, in welchen Momenten sie eine positive und unterstützende Kommunikation verwirklichen, in der sie aufmerksam sind, das Kind beachten, seine Aktionen benennen und so weiter, und sie sagt ihnen dann, wie sie ihre Beziehung zum Kind gegebenenfalls weiterentwickeln können und welche Ressourcen sie und das Kind haben. Die Beratungsarbeit mit den Eltern zielt darauf, die Bindung und Beziehung zwischen ihnen und dem Kind positiv weiterzuentwickeln. Die Marte-Meo-Methode kann auf der primären, sekundären und tertiären Ebene der primären Gesundheitsversorgung angewendet werden. Die PHNs arbeiten schwerpunktmäßig auf der ersten Ebene; hier liegt der Fokus auf der Vorbeugung von Brüchen in der Eltern-Kind-Beziehung. Sie arbeiten auch auf der zweiten Ebene, wo Brüche oder Belastungen der Eltern-Kind-Beziehung bekannt sind, aber bevor sich pathologische Symptome entwickelt haben. Auf der tertiären Ebene, auf der eine Behandlung pathologischer Zustände der Eltern-Kind-Beziehung erfor1 Das Berufsbild der »Public Health Nurse«, im Folgenden PHN genannt, heißt wörtlich übersetzt soviel wie »Krankenpflegerin/Krankenpfleger in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge«. Obwohl es an die früher in Deutschland tätigen Gemeindeschwestern erinnert, ist dieses Berufsbild in den skandinavischen Ländern nicht ohne weiteres mit Krankenschwestern/ -pflegern vergleichbar. PHNs verfügen dort in der Regel über eine Hochschulausbildung, in die auch ein intensives Studium psychosozialer Theorien integriert ist, wie es inzwischen in den Studiengängen der Pflegewissenschaften in Deutschland der Fall ist.

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

derlich ist, muss sich das primäre Gesundheitsversorgungssystem gemeinsam mit einem Kinderpsychotherapeuten oder Kinderpsychiater um den Fall kümmern. Da die Marte-Meo-Methode neu ist und bis dato nur wenig Beachtung durch die Forschung erfahren hat, gibt es relativ wenig Dokumentationen ihrer Ergebnisse. Da keine Effektauswertung der Marte-Meo-Intervention existiert, werden Effektauswertungen in zwei verwandten Interventionsformen hinzugezogen (Cramer et al. 1990; Weiner et al. 1994). Davon ist eine in der Familientherapie und eine in der Psychotherapie gebräuchlich. Drei Prozessevaluationen aus Irland (O’Donovan 1998), Norwegen (Rohde 1999, 2001) und Dänemark (Selander u. Molholm 1999) zeigen, dass die Eltern mit den Ergebnissen, die sie mit den Marte-Meo-Interventionen erreicht haben, zufrieden sind. Auf der ersten Ebene des Gesundheitssystems wurde Marte Meo bisher nicht evaluiert. Die Forschung bezieht sich eher auf die tertiäre Ebene, und es gibt bisher noch keine Effektstudie für die erste und zweite Ebene oder für die Prävention im primären Gesundheitssektor. Keine der Forschungen stellte negative Effekte der Intervention heraus, möglicherweise auch, weil die Methode so neu ist. Es gibt derzeit keine methodenkritische Diskussion und niemanden, der das existierende Material systematisch analysiert hat. Vor diesem Hintergrund ist es sowohl nötig, die Erfahrungen mit der Anwendung der Methode in der primären Versorgung des Gesundheitssystems weiter zu beachten als auch brauchbare Indikatoren und Forschungsmethoden zu finden, die Effekt und Prozess gleichermaßen messen können.

■ Die Evaluationsstudie ■ Ziele Das übergreifende Ziel der Evaluation ist, die Effekte von Marte Meo in der Eltern-Kind-Beziehung auszuwerten. Dabei wird versucht, Kriterien für erfolgreiche Interventionen der Methode herauszufiltern. Darüber hinaus wollen wir herausfinden, was einen

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I. Kristensen · Marte-Meo-Methode in Dänemark

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möglichen Misserfolg von Marte-Meo-Interventionen ausmacht. Schließlich soll die elterliche Zufriedenheit mit der Methode untersucht werden. Marte Meo wurde von Praktikerinnen entwickelt, die in der öffentlichen Erziehung von Kindern beschäftigt sind. Obwohl sich die Methode nicht direkt auf die erwähnten entwicklungspsychologischen Beziehungstheorien bezieht, besteht eine enge Verbindung zwischen ihren zentralen Kommunikationsprinzipien und entwicklungstheoretischen Erkenntnissen. Um ein effektives analytisches Werkzeug für die Auswertung zu erhalten, wurden die Konzepte und Indikatoren aus den Beziehungs- und Bindungstheorien übernommen. Die der Studie zugrunde liegende Annahme ist, dass Marte Meo eine Verbesserung in der Eltern-Kind-Beziehung bewirken kann, die zu einer gesunden Kindesentwicklung führt. Eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung wird die Persönlichkeit der Kinder stärken und der Entwicklung pathologischer Symptome vorbeugen.

■ Eingesetzte Methoden und Stichprobe Die Studie umfasst: – die Entwicklung eines Effekt-Messinstruments für die Bewertung der Eltern-Kind-Beziehung, – ein Messinstrument für die Effekte der Interventionen durch Vergleich von Videoclips einer Eltern-Kind-Interaktion jeweils am Anfang und am Ende der Marte-Meo-Intervention, – ein halbstrukturiertes Tiefeninterview mit den Eltern nach Abschluss der Interventionen. Die Studie umfasst Daten von elf Familien, die an einer MarteMeo-Intervention teilgenommen haben. Die Interviews wurden mit elf Müttern und zwei Vätern durchgeführt. Das Durchschnittsalter der Eltern zum Zeitpunkt der Intervention betrug 31 Jahre (Altersspanne: 23 bis 42 Jahre), das der Kinder ein Jahr und zwei Monate (Altersspanne: 2 Monate bis 3 Jahre). Im Rahmen von elf Interventionen wurden 20 Filme analysiert. Es handelt sich um Eltern mit kleinen Kindern oder Babys, die

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von einer PHN mit zertifizierter Marte-Meo-Therapeutenausbildung beraten wurden. In den ausgewählten Familien gab es weder für die Kinder noch für die Eltern eine zusätzliche psychologische oder psychiatrische Behandlung, auch war keine geplant. Wie in Tabelle 1 dargestellt, variieren die Teilnehmer nach Geschlecht, Alter, sozialer Gruppe, ethnischer Zugehörigkeit, rechtlichem Status (verheiratet, unverheiratet), Anzahl und Reihenfolge der Geschwister, Gleichstellung sowie den Elementen, die für die Intervention mit Marte Meo ausgewählt wurden. Tabelle 1: Charakteristika der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie Name und Alter der Elterna Cidem, 33; Sami, 37

Maria, 39; Peter, 38 Cindy, 25

Name, Alter, Geschwisterstellung des Kindes Nine, 12; Nibel, 8; Volkan, 5; Emir, sechs Monate Natalie, 1,2; Sofie, 1,2 Kasper, zwei Monate

Soziale Elemente der Marte-MeoGrup- Intervention peb

gesammelte Daten

3

Benennung der Handlungen.

1. Interview und Pre- und Posttest mit der Mutter

4

Den kindlichen Initiativen folgen. Die eigenen Handlungen benennen. Den kindlichen Initiativen folgen. Die kindlichen Initiativen erkennen und bestärken. Den kindlichen Initiativen folgen. Die kindlichen Initiativen erkennen und bestärken. Den kindlichen Initiativen folgen. Die kindlichen Initiativen erkennen und bestätigen. Eigene Handlungen benennen. Das erwünschte Verhalten bestärken. Anfang und Ende markieren. Den kindlichen Initiativen folgen. Die kindlichen Initiativen erkennen und bestärken.

2. Interview und Pre- und Posttest mit der Mutter 3. Interview und Pre- und Posttest mit der Mutter 4. Interview und Pre- und Posttest mit der Mutter 5. und 6. Interview mit Mutter und Vater und Pre- und Posttest mit der Mutter

4

Susanne, 26 Jeppe, 2,8

4

Ida, 41; Kurt, 42

4

Mikkel, 1

Marianne, 32; Kristian, 3; Peder, 33 Morten, 1

3

7. Interview mit Mutter und Vater und Pre- und Posttest mit der Mutter

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I. Kristensen · Marte-Meo-Methode in Dänemark Else, 27; Torben, 30

Ann, 5,5; Mia, 3; Emil, 1,5 Kristine, acht Monate

5

Signe, 23

Mads, vier Monate

5

Pernille, 32; Hans, 33

Maria, 2 sechs Monate

Julie, 32; Henrik, 35

Sara, 3; Lotte, 1,5

Karen, 27; Per, 30

4

2

Dem Kind sagen, was die Eltern möchten, das erwünschte Verhalten erkennen und bestärken. Den kindlichen Aufmerksamkeitsfokus erkennen und bestätigen. Den kindlichen Intensionen folgen, auf den kindlichen Initiativen aufbauen. Den kindlichen Initiativen folgen. Die kindlichen Initiativen erkennen und bestärken. Auf den kindlichen Initiativen aufbauen. Eigene Handlungen benennen. Beginn und Ende von Ereignissen benennen. Den kindlichen Initiativen folgen. Beginn und Ende von Ereignissen markieren.

8. Interview und Pre- und Posttest mit der Mutter 9. Interview und Pre- und Posttest mit der Mutter 10. Interview und Pre- und Post-test 11. Interview und Pre- und Posttest mit der Mutter

12. Interview mit der Mutter

a. Die Namen sind anonymisiert; in der Studie werden Vornamen verwendet. b. Soziale Gruppe von 1–5 geschichtet.

■ Methodische Überlegung zur Effektmessung in der Eltern-Kind-Beziehung Interintentionalität Damit ist die mütterliche Fähigkeit gemeint, die Intention des Kindes zu »lesen«, beziehungsweise die kindliche Fähigkeit, die Intentionen der Mutter zu verstehen. Die Tatsache, dass beide die Fähigkeit haben, die Intention des jeweils anderen zu sehen und zu verstehen, hat zur Folge, dass sie gemeinsame Erwartungen entwickeln und ihre Absichten so aufeinander abstimmen können, dass sie Erfahrungen miteinander teilen können. Der Indikator für Interintentionalität, den wir als Einschätzung benutzten, basiert auf der Annahme, dass es, um Interintentionalität zu entwickeln, nötig ist, die andere Person zu »lesen«. Aus diesem Grund definierten wir den Indikator, den wir zur Analyse der Videofilme benutzten, als Anzahl der Ereignisse, in denen das Kind die Eltern anschaut.

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Gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus Hiermit ist gemeint, dass das Kind den Augen der Mutter folgen kann, wenn sie ihren Kopf wendet. Wenn das Kind ausgemacht hat, wohin die Mutter schaut, sieht es in ihr Gesicht und benutzt ihren emotionalen Ausdruck, um zu zeigen, dass sie beide das Gleiche erblickt haben. Wenn Kinder damit beginnen, auf Dinge zu zeigen, schauen sie erst dorthin, wohin die Aufmerksamkeit geht, und dann auf das Gesicht der Mutter, um auszumachen, ob sie ihre Aufmerksamkeit haben und die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand teilen können. Die Mutter wiederholt dieses Verhaltensmuster. Für die Analyse haben wir in dreiminütigen Videoclips die gemeinsame Aufmerksamkeit zueinander oder zu einem dritten Objekt in Sekunden gemessen. Gemeinsame Affektabstimmung Das zentrale Kennzeichen besteht hier in der Fähigkeit, Gefühle miteinander zu teilen. Ein Kind zeigt affektive Signale und die emotionale Antwort der Mutter bestimmt, was das Kind in der Situation tun kann. Wenn die Mutter positiv antwortet, wird das Kind dazu ermutigt, in seiner Aktion fortzufahren. Wenn sie besorgt ausschaut und das Kind entmutigt, wird es die Aktion nicht weiterführen. Die Mutter antwortet durch ihre Körpersprache und Mimik sowie ihre Stimmgebung durch Tonhöhe, Betonung, Intensität und Dauer der Töne. Die Affektabstimmung ereignet sich unbewusst und meist automatisch. Das Kind entwickelt sein Selbsterleben mit der Fähigkeit, Gefühle mit einer anderen Person zu teilen. Gefühle, die nicht geteilt werden, verbleiben in einer einsamen inneren Welt. Bei der Analyse der Videofilme wählten wir als Indikator für Affektabstimmung eine generelle Einschätzung der gemeinsamen Affektabstimmung auf einer Skala von 0 bis 5; 0 bedeutet, dass keine Affekte gezeigt werden, 5 bedeutet volle Affektabstimmung. Die Einschätzung basiert auf dem Ausdruck der elterlichen Stimme, dem Tempo, der Mimik und der Distanz. Sich-Abwechseln oder Durchlaufen eines Kontaktzirkels mit Pause Dieses Ereignis definierten wir als Kommunikationsmuster zwischen Kind und Mutter, das dadurch charakterisiert ist, dass die Mutter etwas sagt und dann auf die Antwort des Kindes wartet, be-

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vor sie weiterspricht. Dasselbe Muster ist beim Kind zu beobachten und es ist sehr selten, dass die Mutter das Kind unterbricht. Jeder kommt an die Reihe. Bei der Codierung der Videofilme definierten wir unseren Indikator als die Anzahl der Ereignisse, in denen sich Eltern und Kind abwechselnd auf das gleiche Thema bezogen.

■ Auswertungsverfahren Die Filme wurden von vier Fachleuten ausgewertet: von einem Kinderpsychologen, zwei PHNs, die als Marte-Meo-Supervisoren ausgebildet sind, und von der Autorin, die Marte-Meo-Therapeutin ist. Keine dieser Personen hatte sonstige Verbindungen zu den Familien oder der Marte-Meo-Arbeit der Studie. Die 20 Videofilme von den Interventionen wurden in einer Zufallsprozedur gemischt und blind ausgewählt, sodass es nicht möglich war zu sehen, ob ein Film am Anfang oder am Ende der Intervention aufgenommen wurde. Alle vier Personen haben jeden Film unabhängig voneinander eingeschätzt, wobei die drei Indikatoren für gemeinsame Aufmerksamkeit, Interintentionalität und Affektabstimmung benutzt wurden. Der Indikator für »Sich-Abwechseln« wurde zu zweit eingeschätzt. Gemeinsame Intentionen wurden in der ersten Sichtung der Videos untersucht, gemeinsame Aufmerksamkeit in der zweiten. Nach diesen zwei Sichtungen wurde der Indikator für Affektabstimmung eingeschätzt und bewertet. Das »Sich-Abwechseln« wurde in einem dritten Durchgang eingeschätzt. Für eine qualitative Auswertung der Arbeit setzten wir ein halbstrukturiertes Tiefeninterview ein. Die Interviews waren in folgende Hauptthemen gegliedert: – die Gründe für die Teilnahme an der Marte-Meo-Intervention, – der Lern- und Veränderungsprozess, – die Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung und schließlich – die Kompetenz der PHN bei der Anwendung der Marte-MeoMethode. Die Interviews wurden nach der Datenerhebung mit den Eltern durchgeführt, die gemeinsam mit dem Kind an der Intervention

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teilgenommen hatten. Zu diesem Zeitpunkt gab es Interviews mit 13 Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern. Die Interviews dauerten 35 bis 105 Minuten, im Mittel 60 Minuten. Sie wurden transkribiert und auf der Basis der »Grounded Theory« von Strauss und Glaser beziehungsweise Strauss und Korbin (1990, 1998) ausgewertet. Die qualitativen Daten der Interviews wurden nach diesen Konzepten analysiert. Die Analyse wurde in drei Schritten durchgeführt, einer offenen, einer axialen und einer selektiven Codierung.

■ Die Ergebnisse der Blindstudie Die Effekte zwischen Pre- und Posttest der blind eingeschätzten Interventionen auf die Kategorien »Gemeinsame Aufmerksamkeit«, »Interintentionalität«, »Gemeinsame Affektabstimmung« und »Sich-Abwechseln« zeigt Tabelle 2. Tabelle 2: Effekte der Interventionen zwischen Pre- und Posttest auf die gemeinsame Aufmerksamkeit, die Interintentionalität, gemeinsame Affektabstimmung und Sich-Abwechseln

Gemeinsame Aufmerksamkeit Interintentionalität Gemeinsame Affektabstimmung Sich-Abwechseln

1 Pretest Durchschnitt 79 (Rang 33-124)

2 Posttest Durchschnitt 114 (Rang 83-147)

Effekt Durchschnitt % +45,0 %

4.7 (Rang 1,75-7,25) 7.1 (Rang 1,75-13) 2.8 (Rang 1-5) 3.7 (Rang 2-5)

+51,1 % +32,0 %

2.7 (Rang 1.4-5)

+78,0 %

4.8 (Rang 2.5-9.7)

Die Daten beruhen auf 20 Videofilmen und 10 Interventionen. Die Effektmessung der gemeinsamen Aufmerksamkeit zeigt ein durchschnittliches Ansteigen von 45 % zwischen den Pre- und Posttests. Für die gemeinsame Aufmerksamkeit gibt es einen durchschnittlichen Zuwachs der Anzahl von Situationen, in denen das Kind die Mutter anschaut, von 51 %. Für die Affektabstimmung ist ein Zuwachs von 32 % zu verzeichnen, beim »Sich-Abwechseln« beträgt der Zuwachs 78 %.

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In allen Videofilmen der Eltern-Kind-Interaktionen (außer bei Familie 3) waren positive Entwicklungen bei der gemeinsamen Aufmerksamkeit und der gemeinsamen Affektabstimmung zu verzeichnen. In allen Filmen, außer bei den Familien 3 und 8, gab es positive Entwicklungen bei der gemeinsamen Affektabstimmung. Die Datengrundlage ist nicht hinreichend, um einen statistisch signifikanten Anstieg der gemeinsamen Aufmerksamkeit in jeder Familie zu verzeichnen. Es gibt aber einen signifikanten Anstieg der gemeinsamen Aufmerksamkeit bei den Familien 1, 7, 8, 9, 10 und 11. Es lässt sich eine hohe Korrelation zwischen den Effekten der vier Indikatoren (gemeinsame Aufmerksamkeit, Interintentionalität, gemeinsame Affektabstimmung und Sich-Abwechseln) für ein und dieselbe Familie ausmachen. Ein großer Zuwachs bei einem Indikator erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Zuwachses bei den anderen Indikatoren. Bei allen Familien, außer bei Familie 8, bei der eine Abnahme der gemeinsamen Intention nach der Intervention zu verzeichnen war, gab es zumindest einen kleinen Effekt für alle Indikatoren. Die Reliabilität zwischen den Beobachtern wurde auf der Grundlage des Kappawertes eingeschätzt (Altajan 1991). Aufgrund dieser Bewertungen ist die Beobachterreliabilität wie folgt zu beurteilen: – sehr gute Reliabilität für »Gemeinsame Aufmerksamkeit« (Kappa 0.84 – 0.88), – sehr gute Reliabilität für »Interintentionalität« (Kappa 0.72 – 0.86), – sehr gute Reliabilität für »Gemeinsame Affektabstimmung« (Kappa 0.77 – 0.89), – gute Reliabilität für »Sich-Abwechseln« (Kappa 0.71).

■ Die Ergebnisse der Interviews In der Analyse mit der offenen Codierung wurden viele Phänomene in konzeptuelle Kategorien eingegliedert. Die Kategorien und die dazugehörigen Angaben sind in Tabelle 3 ersichtlich. Die ersten 14 Kategorien beschreiben erfolgreiche Interventionen, die letzten 4 Kategorien nicht erfolgreiche Interventionen.

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11. Übertragung 13. Unterstützung – aktive Unterstützung vom Partner – auf andere Situationen – passive Unterstützung vom Partner – auf andere Kinder – auf andere Beziehungen

12. Die Intervention als Lernprozess – einfach/schwierig, der Anleitung zu folgen – die konkreten Entwicklungsmöglichkeiten sehen – Fokussierung auf die Beziehungen in Fragen, die die Familie angehen – Erkennen der eigenen Ressourcen

10. Wirkungen, die die Eltern in der Beziehung zum Kind erfahren – zu den eigenen Handlungen – zu der Beziehung – persönlich – die Entwicklung betreffend – auf das Paar und die Familie

9. Verändertes Elternverhalten – das Kind gewinnt Einfluss und Verständnis – die Eltern können besser leiten – Zuwachs an gemeinsamer Aufmerksamkeit

18. Physische Symptome – die kindlichen Symptome haben physische, keine psychologischen Gründe

17. Elterliche Fähigkeiten 14. Bedeutung der Beraterin – Kenntnisse von der psychischen, – die Eltern nehmen die eigene Bedeutung für die kindliche Entwicksozialen und psychologischen Entlung nicht wahr wicklung von Kindern – Fähigkeit, die Methode anzuwen- – sie reflektieren ihre Elternrolle nicht den – Anpassung der Methode an den Entwicklungsstand des individuellen Kindes – Erkennen und Wahrnehmen der familiären Potenziale und Ressourcen – Anpassung an die jeweilige Familie

16. Veränderungswunsch – der Veränderungswunsch liegt bei der Beraterin/dem Berater

8. Veränderte Sicht auf die Kinder – Kenntnisse von der sozialen und emotionalen Entwicklung von Kindern – positive Gefühle

7. – – – –

6. Bewusstsein der eigenen Bedeutung für die Beziehung – Atmosphäre – Gefühle – Präsenz – Vorhersagbarkeit

5. Veränderungswunsch – Elternwunsch, die Beziehung zum Kind zu verändern

Reflexion der Elternrolle Vereinbarungen Konflikte Akzeptanz Verständnis

15. Information – die Eltern weisen die Informationen zurück

4. Zeitfaktor – Raum zur Überlegung – Vertrauensbildung

3. Gefilmt werden – Vertrauen – Zufriedenheit mit dem Prozess

2. Motivation

Nicht erfolgreiche Interventionen

1. Beziehung zur PHN

Erfolgreiche Interventionen

Tabelle 3: Kategorien und Merkmale

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I. Kristensen · Marte-Meo-Methode in Dänemark

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■ Merkmale erfolgreicher Interventionen: Kategorie 1: Beziehung zur PHN Alle Eltern sagten, dass ihr Vertrauen in die PHN ein wichtiger Grund war, der Marte-Meo-Intervention zuzustimmen. Pernille (11)2: »Du musst eine Vertrauensbeziehung zu der PHN haben, denn du wirst gefilmt, angeleitet und das Material wird die ganze Zeit analysiert in den verschiedensten Situationen.« Die Intervention kann die Beziehung zur PHN auch positiv verändern: Susanne (4): »Am Anfang dachte ich, dass sie (die PHN) mich für eine unerfahrene junge Mutter hielt (…) Das kannte ich schon von meinen Spaziergängen in der Stadt, da redeten viele Leute von oben herab zu mir (…) Als ich mit Marte Meo begann, habe ich eine sehr gute Beziehung zu meiner PHN entwickelt.« Kategorie 2: Motivation Eine unspezifische Erwartung an die Intervention bedeutet nicht unbedingt, dass diese nicht angenommen wird. Pernille (11): »Ich habe nichts Besonderes davon erwartet.« Kategorie 3: Gefilmt werden Das Gefilmtwerden wird als eine neue Art, sich selbst von außen zu sehen, betrachtet. Es ist nicht unbedingt unangenehm, wenn man daran gewöhnt ist. Alle Familien machten deutlich, dass sie zu der PHN Vertrauen hatten und aus diesem Grund bald vergaßen, dass sie gefilmt wurden. Peder (7): »Auf dem Video kriegst du eine unmittelbare Antwort. Es spricht dich in anderer Weise an. Am zweiten Film konnte ich sehen, dass es geholfen hat.« Signe (10): »Für mich war es wichtig aus meiner eigenen Welt herauszukommen und zu sehen, wie ich mit ihm zusammen war. Physisch war ich bei ihm, aber nicht mit meiner Aufmerksamkeit. Natürlich konnte er das merken, und aus diesem Grund weinte er auch.«

2 Die Nummern beziehen sich auf die jeweilige Familie.

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Kategorie 4: Zeitfaktor Allen Müttern wurde eine Marte-Meo-Intervention angeboten. Die meisten von ihnen hatten ein paar Tage Zeit darüber nachzudenken, bevor sie eine Entscheidung trafen. Diejenigen Mütter, die in einer Partnerschaft leben, wollten gern mit ihren Partnern darüber sprechen. Marianne (7): »Wir mussten eine lange Zeit darüber nachdenken. Zunächst sagte ich Nein, weil ich uns nicht als eine Problemfamilie gesehen habe.« Kategorie 5: Wunsch nach Veränderung Die Gründe dafür, eine Marte-Meo-Intervention anzunehmen, lagen im Wunsch der Eltern oder der PHN nach Veränderung, die entweder das kindliche Verhalten oder die Eltern-Kind-Beziehung betraf. Die Eltern sagten, dass ihre Entscheidung, Marte-Meo-Interventionen auszuprobieren, darin begründet war, dass sie das Verhalten ihrer Kinder in ihrem Alltag belastend fanden. Die Symptome reichten von Schwierigkeiten beim Schlafen, Essen und Sprechen über Probleme, die die Eltern-Kind-Interaktion betrafen, und Verhaltensprobleme wie übermäßig weinende Kinder, Schwierigkeiten im Umgang mit Frustrationen der Kinder, bis hin zu Problemen bei der Selbständigkeitsentwicklung des Kindes. Ida (5): »Mikkel wollte überhaupt nicht essen. Er weinte, schlug die Hände vors Gesicht und saß steif wie ein Brett da. In der Kindertagesstätte wollte er essen, aber zu Hause bereitete er damit immer Probleme. Du musstest so schnell es ging die Nahrung in ihn hineinbekommen, bevor er anfing zu weinen. Wir hatten nie eine schöne Zeit.« Der Vater formulierte es folgendermaßen: Kurt (6): »Es war einfach die Situation beim Abendessen. Es endete immer in einer Sackgasse. Mikkel weinte, und meine Frau ging in das Wohnzimmer.« Kategorie 6: Bewusstsein der eigenen Bedeutung für die Beziehung Für alle Eltern, bei denen die Interventionen erfolgreich waren, war es sehr bedeutend, sich selber mit ihrem Kind auf dem Video beobachten zu können. Sie nutzten die Gelegenheit, über ihre eigenen Verhaltensweisen nachzudenken, und erkannten, dass diese

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eine zentrale Rolle in der Eltern-Kind-Beziehung spielen, und dass sie diese Beziehung beeinflussen können. So erkannten die Eltern, dass sie Einfluss auf die Atmosphäre zu Hause ausüben können: Maria (2): »Es gab mir einen sehr klaren Eindruck von unserer Essenssituation. Ich saß am Küchentisch, die Hand unter meinem Kinn, seufzte und stöhnte. Es war deprimierend zu sehen, weil es eine herzzerreißende Situation bei jeder Mahlzeit war. Man kann wirklich sehen, wie deprimiert ich bin, ich sitze nur rum und schaue aus dem Fenster. Ich kümmere mich gar nicht darum, was bei Tisch geschieht. Ich möchte nur, dass es aufhört. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich so einen miserablen Eindruck mache. Ich saß da nur rum, stöhnte und seufzte laut. Diese Bilder stecken noch in meinem Kopf.« Andere Eltern nahmen wahr, dass sie die Gefühle der Kinder nicht beachteten: Marianne (7): »Wir haben zusammen Kuchen gebacken … Es war so, dass ich seine Gefühle nicht mitbekam. Ich sah ihn einfach nicht, er sah erstaunt aus, denn er wußte nicht, was ›etwas mehr Mehl‹ bedeutet. Oder auch seine Freude zu sehen, dass er stolz war, dass er nun die Sahne geschlagen hat und den Quirl halten durfte. Ich bin einfach seinen Gefühlen nicht nachgegangen, als er sie hatte und zeigte. Es wäre schön gewesen, wenn er eine Bestärkung bekommen hätte, ›das ist toll, was du machst‹. Ich habe seitdem oft darüber nachgedacht.« Kategorie 7: Reflexion der Elternrolle Wenn sich die Eltern selber auf dem Video betrachten, erhalten sie die Gelegenheit, über ihre Elternrolle nachzudenken, und sie müssen das, was sie sehen, akzeptieren. Signe (10): »Ich war irgendwo anders, ich habe zu Mads gesprochen, aber meine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Ich konnte ihn berühren, aber ich war gar nicht da. Eine enge Beziehung gab es einfach nicht. Als ich das Video gesehen hab, habe ich richtig Angst bekommen. Es war beängstigend zu sehen, dass ich mich auf diese Weise in der Beziehung zu meinem eigenen Kind verhalte. Diese Erfahrung bereitete mir eine komplette Veränderung von einem Tag auf den anderen. Ich konnte das einfach nicht ertragen so weiterzumachen, das würde komplett schief gehen.«

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Wenn die PHN den Eltern sagt, was sie für ihre Kinder tun, vermittelt sie ihnen ein gutes Gefühl davon, dass sie angepasst an ihre Kinder handeln können. »Mir wurde gesagt, dass das, was ich tue, meinem Kind gut tut. Das fühlte sich gut an …« Kategorie 8: Veränderte Sicht auf die Kinder Eltern erwerben ein bestimmtes Verständnis der psychosozialen Entwicklung von Kindern. Sie sind in der Lage, mit den Augen der Kinder zu sehen. Es ist bedeutsam, wie andere, besonders die Eltern, das Kind wahrnehmen. Eine der Mütter schrieb ihrem Sohn Eigenschaften zu, die dieser nicht hatte. Die Tatsache, dass sie durch Marte Meo einen positiveren Blick auf den Sohn vermittelt bekam, beeinflusste die Art und Weise, wie dieser sich selbst sah. Während dieser Zeit war das Kind durch einen Mangel an Verständnis und Akzeptanz seiner Mutter belastet. Der Vater wurde die Hauptbetreuungsperson des Kindes und konnte ihm Unterstützung geben. Ida (5): »Er ist so ein glückliches Kind. Vorher habe ich ihn für den Mühlstein um meinen Hals gehalten. Er wollte nicht schlafen, nicht essen, nichts. Aber nun kann ich ihn anders sehen, mit guten Gefühlen.« Die Gefühle des Vaters hatten sich nicht verändert. Er war eher bemüht, das Kind vor den negativen Gefühlen der Mutter abzuschirmen. Kurt (6): »Ich habe mich ihm immer sehr nah gefühlt. Er war mein Ein und Alles. Er sollte nicht belastet werden. Als ich den Zustand meiner Frau sah (die früher auch wegen einer postnatalen Depression behandelt werden musste), fühlte ich sehr mit ihm. Aus diesem Grund war ich ihm sehr nah. Ich war es, der seine Windeln wechselte, ihm Nahrung gab und ihn normalerweise ins Bett brachte.« Kategorie 9: Verändertes Elternverhalten Die Eltern haben ihre Verhaltensweisen verändert, sie gaben den Kindern mehr Anerkennung und Einfluss. Sich selber nahmen sie als bessere Führungspersönlichkeiten wahr, und es entstand eine gesteigerte Aufmerksamkeit zwischen ihnen und dem Kind. Einige Eltern berichteten, dass sie besser hörten, was mit dem Kind

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los war. Sie gestatteten dem Kind dann mehr Einfluss in verschiedenen Situationen. Marianne (7): »Als Kristian zu mir sprach, antwortete ich ihm, aber ich schaute ihn nicht an. Auf diese Weise bekam er keine Anerkennung durch mich. Ich müsste ihn anschauen, ich versuche das nun.« Einige Eltern berichteten, dass sie mehr Verantwortung übernahmen, insbesondere in den Situationen, in denen es passend ist, wenn Erwachsene die Entscheidungen treffen. Karen (9): »Ich sah, dass man nicht dasitzen sollte und mit einem Flugzeug spielen sollte, während man isst. Ich lernte Blickkontakt zu nutzen und ich lernte, dass ich diejenige war, die sagen sollte: ›Bitte fang an zu essen‹. Ich sollte die Aktive sein, nicht sie. Ich habe das nicht gut entwickelt. Ich habe gelernt zu sagen, schau auf mich, nun essen wir.« Einige Eltern lernten positive Lenkung, also den Kindern zu sagen, was sie tun können, anstatt ihnen immer nur zu sagen, was sie nicht tun sollen. Kategorie 10: Wirkungen, die die Eltern in der Beziehung zum Kind erfahren Die meisten Eltern fanden, dass sich ihre eigenen Verhaltensweisen in vielen anderen Alltagssituationen veränderten. Sie stellten einen positiven Effekt auf das Kind, sich selber, ihre Beziehung und die Beziehung zwischen ihnen und dem Kind fest. Die meisten Eltern berichteten auch, dass die Symptome der Kinder verschwanden. Cidem (1): »Inzwischen haben wir kein Problem mit Essenssituationen mehr. Er wurde auch ruhiger, weil ich merkte, ich verstehe ihn besser.« Einige Eltern erlebten auch, dass sie selber sich als Person weiterentwickelten. Sie wurden ruhiger und fühlten sich in ihrer Rolle als Eltern sicherer. Susanne (4): »Ich bin viel mehr dazu übergegangen auf mich selbst, anstatt auf andere zu hören, sodass dies eine sehr gute Entwicklung für mich persönlich war.« Einige Eltern berichteten von einer verbesserten Beziehung zum Kind.

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Signe (10): »Ich lege jetzt nicht mehr so viel Wert auf Dinge wie Saubermachen und Geschirrspülen. Nun sind wir beide es, die wichtig sind, und wir nehmen die Zeit, die wir uns nehmen wollen. Das half sicherlich.« Andere Eltern sagten auch, dass die Beziehung zu ihrem Lebenspartner beziehungsweise zu ihrer Lebenspartnerin sich positiv entwickelt hat. Kurt (6): »Ich denke, das hat unsere Beziehung verändert. Es hat sie 100 Prozent verbessert, und wir haben uns entschlossen, die Dinge weiter gemeinsam herauszuarbeiten.« Kategorie 11: Übertragung auf andere Situationen Alle Familien sagten, dass sie die Marte-Meo-Methode in anderen Beziehungen nutzen können und wollen, mit dem gleichen Kind in anderen Situationen, mit jüngeren oder älteren Kindern beziehungsweise mit ihrem nächsten Kind. Cidem (1): »Ich weiß, die ersten Male betraf es nur das Baby, aber wenn du über die Dinge nachdenkst, hilft es dir, eins nach dem anderen zu machen, langsam und ruhig, auch mit den (3) älteren Kindern.« Kategorie 12: Intervention als Lernprozess Die Eltern sagten, dass es für sie leichter sei, Dinge zu verstehen, wenn sie sie selber auf Video beobachten können. Else (8): »Es hat etwas damit zu tun, dass du nicht aus dir heraustreten und deine Aktionen mit anderen Augen betrachten kannst. Das kannst du tun, wenn du ein Video anschaust. Du bist immer noch du, aber du kannst dich von einem anderen Standpunkt aus betrachten. Du kannst außen stehen und sehen, du könntest auch anders handeln.« Die Eltern unterschieden sich darin, wie leicht oder schwer sie es fanden, von der PHN begleitet und informiert zu werden. Einige sagten, dass es leicht war zu verstehen; was die PHN sagen wollte, sei sehr schlüssig gewesen. Andere mussten es erst erklärt bekommen und konnten dann sehen, was gemeint war. Einige wenige waren nicht in der Lage die Anleitung zu verstehen, insbesondere, warum sie sich in bestimmten Situationen anders verhalten sollten, aber wenn sie den Instruktionen folgten, half es.

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Eine Familie änderte ihren Umgang miteinander nach der Rückmeldung aus dem ersten Film. Peder (7): »Als wir den ersten Clip, den die PHN ausgewählt hatte, sahen, wussten wir, was sie sagen wollte. Wir konnten es selber sehen und hören. Es war ein bisschen unglaublich.« Cidem (1): »Sie (die PHN) sagte mir, wonach sie schaute, und ich konnte sehen, was fehlte.« Susanne (4): »Mich in seine Schuhe zu stellen, war so schwierig für mich. Ich tat, was ich tun sollte, aber es war sehr, sehr schwierig. Du musst plötzlich komplett neu denken, und wenn du etwas sagst oder tust, musst du die ganze Zeit nachdenken.« Alle Eltern schätzten die Anleitung. Eine Mutter war nicht der Meinung, dass sie irgendetwas ändern sollte. Ihr wurde nur gesagt, dass sie warten muss, bis das Kind bereit ist zu essen. Auf die Reaktion des Kindes zu warten und dies in einer eigenen Aktion zu tun, hat einen großen Einfluss auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Julie (12): »Es gab nicht viel, was verändert werden musste. Ich wurde darin bestärkt, dass das, was ich tat, in Ordnung war. Das beruhigte mich. Ich musste nur auf sie warten, bis sie wirklich bereit war sich mir zu öffnen. Dass deine Handlungen wertgeschätzt werden und dass du siehst, dass du fähig bist, das, denke ich, macht den Unterschied. Es hat mich einen halben Meter größer gemacht, und ich denke, ja, ich kann es tun. Ich denke nicht mehr darüber nach, ob das der richtige Weg ist. Du wirst so schnell unsicher. Das war früher immer in meinen Gedanken. Es ist so gut, wenn man ruhiger wird.« Die Eltern schätzten es, dass die Methode flexibel war und an ihren Anliegen anknüpfte. Marianne (7): »Marte Meo bietet offensichtlich eine Menge mehr, als wir erwarteten. Wir haben es ausprobiert, wir haben keine Bücher darüber gelesen. Es war so, dass wir durch die PHN Hinweise dazu bekamen, was wir verbessern beziehungsweise entwickeln konnten. Diese waren total auf unsere familiäre Situation abgestimmt. Es gab nichts, was nicht funktionierte.« Alle Familien fanden, dass es sehr positiv war, einen Effekt zu sehen und zu erfahren und von der PHN bestätigt zu werden, die richtigen Dinge zu tun. Peder (7): »Vom ersten Film an, wo du erfährst, woran du arbei-

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ten solltest, bis zum nächsten Film, da kannst du sehen, wie es funktioniert, das ist schön. Auch zu hören, dass wir gute Dinge tun, tat gut. Es waren nicht nur die negativen Dinge, auf die wir Antworten bekamen. Du kannst dich nur weiterentwickeln, wenn du positive Kritik bekommst.« Kategorie 13: Unterstützung In allen Fällen war es die Mutter, die mit der Methode arbeitete. In einigen Familien nahm auch der Vater teil. Manche Väter nahmen passiv teil, indem sie positive Unterstützung gaben. Cidem (1): »Mein Mann hat nicht genau gesagt, dass sich die Dinge verändert haben, aber ich denke, dass er in mancherlei Hinsicht spürt, dass die Dinge anders laufen.« Kategorie 14: Bedeutung der Beraterin Für die Eltern ist es wichtig, dass sich die PHN mit der physischen, psychologischen und sozialen Entwicklung von Kindern gut auskennt. Julie (12): »Es ist bedeutsam, dass die PHN sehr erfahren ist.« Alle Eltern denken, dass sie etwas über Kinderentwicklung gelernt haben, und alle würden diese Methode anderen Eltern empfehlen. Sogar Eltern, bei denen die Methode keinen Effekt hatte, wo die Symptome nicht verschwanden, würden Marte Meo empfehlen. Maria (2): »Ich denke, dass die Anleitung grundlegend war und dass die pädagogischen Prinzipien von jedermann genutzt werden können.« Es wurde auch als bedeutsam erachtet, dass die PHN ihre Anleitung an das individuelle Kind, seinen Entwicklungsstand und sein Alter angepasst hat. Um Vorhersagbarkeit zu ermöglichen, haben die Eltern ihre Informationen an die Fähigkeiten des Kindes anzupassen. Peder (7): »Wenn ich jetzt sage, wir gehen raus um Gras zu mähen, dann ist es nicht genau das, was wir jetzt machen. Erst müssen wir unsere Hosen anziehen, unsere Schuhe anziehen, dann müssen wir den Rasenmäher aus der Garage holen.« Weiterhin ist bedeutsam, dass die PHN die Entwicklungsmöglichkeiten einer Familie einschätzt.

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Kurt (6): »Die PHN war sehr gut (im Gebrauch der Methode). Das Video lügt nicht. Du kannst es anhalten und immer wieder ansehen. Du kannst sehen, was gut war und was nicht so gut war. Das war sehr wichtig.« Wichtig ist auch, dass die Familien Vertrauen in die Entwicklung der verbesserten Beziehungen setzen konnten. Julie (12): »Ich war nicht vollkommen ehrlich zu ihr (zu der PHN), aber die Tatsache, dass sie mich wirklich sah und in meinen Fähigkeiten erkannte, machte es mir möglich, mich zu öffnen. Ich schenkte ihr mein Vertrauen und sie missbrauchte es nicht. Das veränderte unsere Beziehung gegenüber dem Anfang völlig.« ■ Merkmale nicht erfolgreicher Interventionen Kategorie 15: Information Unsicherheiten gegenüber der Methode können eine Barriere für die Intervention sein. Wenn es schwierig ist, die Marte-MeoMethode zu erklären, kann dieser Umstand selber einer der Gründe sein, warum einige Familien sie ablehnen. Susanne (4): »Ich lehnte es (anfangs) komplett ab, weil ich das Gefühl hatte, dass die Kameras die ganze Zeit überall sind. Das wollte ich nicht haben.« Kategorie 16: Veränderungswunsch In einer Familie, in der die Intervention nicht erfolgreich war, war es die PHN, die die Veränderung wollte, nicht die Eltern. Die PHN hatte schon lange mit dieser Familie gearbeitet, aber sie dachte, dass die bisherigen Interventionen keine positiven Effekte auf die mütterliche Fähigkeit, mit dem Kind umzugehen, hatten, und brachte das in Verbindung mit der begrenzten Lernfähigkeit der Mutter. Cindi (3): »Es war die PHN, die das vorgeschlagen hat. Es würde Spaß machen zu sehen, wie er sich benimmt. Und ich würde dabei lernen ihn zu beachten.« Kategorie 17: Elterliche Fähigkeiten Einige Eltern hatten nicht die Fähigkeit, über das nachzudenken, was sie sahen. In den Familien, in denen die Intervention nicht erfolgreich war, waren sich die Eltern ihres Einflusses auf die

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Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung nicht bewusst und sie reflektierten ihre Rolle als Eltern nicht. Cindi (3): »Es ist wichtig, eine sehr gute PHN zu haben. Sie wissen immer, wonach man schauen muss. Als Eltern weiß man das nicht so gut. Jemand muss dir sagen, wann du aufhören musst, anders merkst du das nicht.« Kategorie 18: Physische Symptome des Kindes Eine Mutter dachte, dass die Methode nicht hilft, weil sie keine Effekte auf die kindlichen Symptome feststellen konnte. Wie die Mutter es beschrieb, hatte die Essstörung körperliche Ursachen. Die PHN scheint das zur Kenntnis genommen zu haben: Sie überwies diesen Fall an einen Hausarzt, der ihn seinerseits an das Kinderkrankenhaus weitervermittelte. Pernille (11): »Ich habe daraus wirklich nichts gewonnen. Unsere Beziehung hat nichts mit ihren Essproblemen zu tun. Sie war beim Doktor, ihr Blut wurde untersucht und nun ist sie an das Krankenhaus überwiesen worden.«

■ Das konzeptuelle Modell der Analyse Die folgenden Überlegungen fassen die Verbindung zusammen, die wir während der axialen Codierung des Datenmaterials gefunden haben. Das Kernphänomen »Reflexion des Familienlebens« führt zu einer veränderten Wahrnehmung der Aktionen. Die Eltern ändern ihre Wahrnehmung des Kindes, ihre Bindungsgefühle ihm gegenüber und ihre eigene Rolle in der Entwicklung des Kindes. Dies wiederum führt zu einer Veränderung im Verhalten. Die Konsequenzen dieses Kernphänomens »Reflexion über das Familienleben« führen zu Veränderungen innerhalb des Familienlebens. Die Eltern erwarten, dass die Wirkungen in dem Verhalten von ihren neuen Strategien abhängen, im Hinblick auf das Kind, die Eltern-Kind-Beziehung, das Familienleben, einschließlich der Beziehung zum Lebenspartner. Die kindlichen Symptome verschwinden und die Eltern beschreiben dies als sehr positiv für das Familienleben.

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■ Zusammenfassende Diskussion Die erste Hauptfrage der Studie war, zu bestimmen, inwiefern die Marte-Meo-Methode zu einer Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung führen kann. Um dies zu analysieren, wurde eine quantitative Studie als Blindtest von Videobildern und Interventionen durchgeführt. Die Ergebnisse der quantitativen Datenauswertung aus zehn Familien zeigen, dass die Marte-Meo-Methode die Eltern-KindBeziehung verbessern kann. Die Studie zeigt ein durchschnittliches Wachstum in der gemeinsamen Aufmerksamkeit, der Interintentionalität und der gemeinsamen Affektabstimmung zwischen Eltern und Kindern. Darüber hinaus gab es einen durchschnittlichen Zuwachs an »Sich-Abwechseln«, gemessen an der Anzahl der Situationen, in denen Kind und Eltern sich aus dem gleichen Anlass abwechseln. Dies bedeutet auch einen Zuwachs an Aufmerksamkeit auf den selben Aufmerksamkeitsfokus. In einer der Familien gab es eine leichte Abnahme der gemessenen Effekte. Die zweite Hauptfrage der Studie war, falls Marte Meo die Eltern-Kind-Beziehung verbessern kann, was genau innerhalb des Marte-Meo-Prozesses diese Verbesserung bewirkt. Eine qualitative Untersuchung, die auf Interviews basierte, sollte diese Frage beantworten. Die Ergebnisse dieses Teils der Studie zeigen, dass alle Eltern, bis auf einen Fall, in dem es keinen messbaren Effekt gab, zufrieden mit der Intervention waren. Die Bedingungen der positiven Effekte wurden analysiert. Es erwies sich, dass die Eltern in eine Situation versetzt wurden, gewissermaßen auf eine Metaebene, die es ihnen ermöglichte, über das Familienleben nachzudenken. Sie schauten sich konkrete Situationen ihrer eigenen Beziehung zu ihrem Kind an. Sie nahmen seine Reaktionen und ihre eigenen Aktionen wahr und sahen die emotionalen Aktionen des Kindes, die sie vorher nicht gesehen hatten, als sie sich in den Situationen befanden und mit anderen Gedanken oder Gefühlen beschäftigt waren. Die Eltern reflektierten die Beziehung über einen längeren Zeitraum und wurden dabei begleitet. Dies kann als ein reflektierender Beobachtungsprozess beschrieben werden, in dem die Eltern selber, unterstützt von der PHN, bemerken konnten, wie sie sich benahmen und handelten. Auf dieser Basis konnten sie verstehen,

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wie sie ihre Handlungen und Verhaltensweisen verändern mussten, um eine positive Entwicklung im Familienleben zu bewirken. Die Eltern der zehn Familien erfuhren die folgenden Effekte der Marte-Meo-Intervention: – Die meisten Eltern erfuhren einen Zuwachs an gemeinsamer Aufmerksamkeit zwischen ihnen und dem Kind. – Viele Eltern berichteten, dass sie nun öfter auf ihr Kind schauen und dass das Kind aus diesem Grund häufiger Blickkontakt erwartet und selber aufnimmt. – Einige Eltern beschrieben eine Zunahme von Bindungsgefühlen gegenüber dem Kind und dass das Kind eine positive Haltung entwickelt habe. – Viele Eltern beschrieben auch, dass sich ihre Wahrnehmung des Kindes und seiner Entwicklungsbedürfnisse verändert habe. – Einige Eltern beobachteten, dass sich die Fähigkeit des Kindes zur Konzentration und zur Fokussierung auf eigene Aktivitäten verbessert hat. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der beiden Teile der Studie. Der codierte Videotest zeigte, dass sich die Eltern-Kind-Beziehung im Hinblick auf die vier Indikatoren »Gemeinsame Aufmerksamkeit«, »Interintentionalität«, »Affektabstimmung« und »Sich-Abwechseln« verbessert hat. Dies wurde in den Interviews bestätigt, in denen die Eltern die gleichen Veränderungen beschrieben (»Er ist besser in der Lage sich für eine längere Zeit zu konzentrieren«, »wir sind aufmerksamer füreinander«, »ich verstehe ihn besser«, »ich bin mir mehr darüber bewusst, wie es ihm geht«, »er schaut mich an und erwartet auch, dass wir einander anschauen«). Dies zeigt, dass die elterlichen Erfahrungen mit den quantitativen Ergebnissen übereinstimmen. In einer Familie, in der das Video keinen Effekt hatte, zeigte das Interview, dass die elterlichen Kompetenzen und Fähigkeiten zu reflektieren und zu lernen nicht ausreichten, um von den Interventionen zu profitieren. Weil dies ein Einzelfall war, war eine komplette Analyse nicht erfolgreicher Interventionen nicht möglich. Zusammenfassend zeigt die Studie, dass die Eltern mit der Methode zufrieden sind und sie anderen empfehlen würden. Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Intervention ist der Wunsch der

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Eltern nach Veränderung. In den meisten Fällen kam es zu einer deutlichen Verbesserung der kindlichen Symptome: Die Kinder konnten wieder besser essen und schlafen, sie wurden zufriedener und ruhiger. Schließlich sind es die Eltern, die ihren Kontakt mit dem Kind verändern und es in seiner Entwicklung unterstützen. Dies hat Konsequenzen für das Alltagsleben der ganzen Familie. Nach dem Stand der einschlägigen internationalen Literatur zielen Interventionen, die auf eine Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung gerichtet sind, dahin, den Eltern zu einem klaren Verständnis ihrer eigenen und der Gefühle des Kindes zu verhelfen. Dies betrifft auch das Nachdenken über die Interaktionen. Eine Veränderung im Verständnis beeinflusst nicht nur die Familie als Ganze, sie beeinflusst auch den Langzeiteffekt der Intervention. All diese Elemente sind Kennzeichen der Marte-Meo-Methode. Daraus kann geschlossen werden, dass diese Methode die positive Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung erleichtert und auf dieser Grundlage ein positives Familienleben ermöglicht.

■ Vergleich mit den Ergebnissen anderer Studien Idealerweise sollten die Resultate dieser Studie mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen verglichen werden. Leider stehen derzeit keine direkt vergleichbaren Studien zur Verfügung. Der Vergleich ist daher auf Studien beschränkt, die in eine ähnliche Richtung weisen wie die vorliegende. Veränderung in der Wahrnehmung des Kindes, in der Selbstwahrnehmung und Veränderung in den Bindungsgefühlen zum Kind: Stern-Bruschweiler und Stern (1989) zeigten in einer Analyse von Interventionen in Fällen gestörter Eltern-Kind-Beziehungen, dass die Art und Weise, wie Mütter ihre Kinder, aber auch sich selbst wahrnehmen, eine bedeutende Rolle in der Behandlung spielt. Sie fanden heraus, dass Veränderungen in der mütterlichen Wahrnehmung bedeutsam sind, wenn es um langfristige Verbesserungen der Eltern-Kind-Beziehung geht. In einer ähnlich strukturierten Studie fand McDonough (1993) heraus, dass Eltern sicherer in ihrer Elternrolle werden.

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Cramer et al. (1990) fanden heraus, dass Entwicklungen der Eltern-Kind-Beziehung Effekte auf die Beziehungen innerhalb der ganzen Familie hatten. Wenn die mütterliche Wahrnehmung eine positive Veränderung durchlief, veränderte sich nicht nur die Wahrnehmung des Kindes, sondern auch die väterliche Wahrnehmung des Kindes. Puckering et al. (1993) untersuchten, wie sich gemeinsame Aufmerksamkeit entwickelt. Ein Indikator für eine Zunahme war, dass die Fähigkeit der Mutter, den Initiativen des Kindes zu folgen, sich verbesserte. Weiner et al. (1994) fanden, dass die Orionmethode3 eine Verringerung von Kindesmisshandlung mit sich brachte (hier handelte es sich um eine nicht signifikante Studie aufgrund der niedrigen Prävalenz). In unserer vorliegenden Studie sagte eine Mutter ebenfalls, dass sie aufgehört hatte, ihr Kind zu schlagen. Verbesserung in der gemeinsamen Aufmerksamkeit und Sich-Abwechseln im Hinblick auf einen Gegenstand: Klein und Alony (1993) sowie Weiner et al. (1994) fanden heraus, dass die positive Kommunikation zunahm. Cramer et al. (1990) und Weiner et al. (1994) fanden, dass Kinder, die an der Intervention teilgenommen hatten, glücklicher waren. Klein und Alony fanden auch heraus, dass die kognitiven Fähigkeiten der Kinder nach der Intervention verbessert waren.

■ Unsere Studie im Blick auf die eigenen Hypothesen Vor der Studie erwarteten wir folgende Ergebnisse: – Wir nahmen an, dass die Marte-Meo-Methode die positive Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung unterstützt. Diese Annahme wurde von der Studie bestätigt. – Wir nahmen zweitens an, dass die Marte-Meo-Intervention aufgrund des Gefilmtwerdens den Familien mehr abverlangte 3 Bei der Orionmethode handelt es sich um eine Vorläufermethode von Marte Meo. Maria Aarts, die Marte Meo seit den 1980er Jahren entwickelte, war zuvor Direktorin des niederländischen Orion-Projekts.

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als normalerweise. Dies war nicht der Fall. Viele Familien nahmen die Gelegenheit zu einer Unterstützung bei Veränderungen schnell wahr. Aus diesem Grund nahmen viele Interventionen nur wenige Treffen in Anspruch. – Wir nahmen weiter an, dass Marte Meo in Familien angewendet werden kann, in denen die Bindungen belastet sind oder in denen die Eltern in ihrer Rolle unsicher oder unerfahren sind. Dies wurde von der Studie bestätigt. – Weiter vermuteten wir, dass Marte Meo in Familien mit einer hohen Arbeitsbelastung angewendet werden kann, in Familien also, die gegenüber den Gefühlen des Kindes nicht sehr aufmerksam sind. Auch dies wurde von der Studie bestätigt. – Wir nahmen an, dass der Einsatz des Videos in der Intervention eine Barriere für den Prozess sein kann. Dies war nur in einem Fall erkennbar. Manchmal war es anfangs eine Barriere, aber alle interviewten Eltern fanden, dass das Video ein notwendiges Werkzeug war, an das sie sich schnell gewöhnen konnten.

■ Validität der Studie Es wurden drei verschiedene Triangulationsmethoden benutzt, um die Studie zu validieren. Methodische Triangulation wurde dadurch gewährleistet, dass alle Interventionen sowohl anhand der Interviews mit den Eltern als auch mit der Effektmessung der Eltern-Kind-Beziehung aus den Videos untersucht wurden. Eine Beobachtertriangulation lag vor, weil vier Beobachterinnen und Beobachter unabhängig voneinander die Videos analysierten, bei einer Kategorie zusammen mit einer Kollegin. Es gibt wenig Beispiele für Daten- oder Quellentriangulation, zum Beispiel wenn zwei Väter dieselben Effekte der Marte-Meo-Intervention wahrgenommen haben wie ihre Partnerinnen. In Ergänzung dazu wurde die für die Studie verantwortliche PHN, die die Marte-Meo-Intervention durchführte, danach gefragt, ob die Methode einen Effekt auf die Familien hatte. Diese Studie hat ein relativ neues Forschungsgebiet beleuchtet, die Marte-Meo-Methode in der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Sie hat erwiesen, dass es möglich ist,

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ein videocodiertes Instrument zu entwickeln und zu nutzen, um Fortschritte in den Eltern-Kind-Beziehungen zu messen. Die Methode beruht auf Videoaufnahmen vor und nach der Intervention.

■ Ausblick Die Messinstrumente, die für die Effektevaluation dieser Studie entwickelt wurden, können auch in anderen Untersuchungen genutzt werden, um die Entwicklung in Beziehungsmustern zu untersuchen. Solche Messungen können in einer quasiexperimentellen Studie, die auf Pre- und Posttestdaten beruht und blind ausgewertet wurde, auch die Signifikanz des Effekts der Intervention bestimmen. Die Studie hat ergeben, dass die Marte-Meo-Methode für die positive Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung eingesetzt werden kann und dass sie Beziehungsstörungen in einer frühen Altersgruppe vorbeugen kann. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass die PHNs, die mit diesen Familien und Kindern arbeiten, die Eltern-Kind-Beziehung in den Blick nehmen und so früh unterstützen, dass Störungen verhindert werden. Die MarteMeo-Methode ist oft und erfolgreich in verschiedenen sozialen Gruppen eingesetzt worden. Aus dem Englischen von Christian Hawellek.

■ Literatur Aarts, M. (1996): Marte Meo Guide. Harderwijk. Aarts, M. (2002): Marte Meo. Ein Handbuch. Harderwijk. Ainsworth, M. D. S.; Lehar, M. C.; Waters, E.; Wall, S. (1978): Patterns of Attachment. A Psychological Study of Strange Situation. New Jersey. Altajan, G. A. (1991): Practical Statistics For Medical Research. London. Bateson, M. C. (1975): Mother Infant Exchanges: The Epigenesis of Conversational Interaktion. Annals of the New York Academy of Sciences 263: 101113. Bowlby, J. (1979): The Making and Breaking of Affectional Bonds. London.

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Cramer, B.; Robert-Tissot, C.; Stern, D. N.; Serpa-Ruscon, I. S.; DeMural, M.; Besson, G.; Palacio-Espasa, F.; Bachmann, J. P.; Knauter, D.; Bemey, C. (1990): Outcome Evaluation in Brief Mother-Infant-Psychotherapy: A Preliminary Report. Infant Health Journal 11 (3): 278-300. Klaus, M. H.; Kennell, J. H. (1970): Human Maternal Behavior at the First Contact with her Young. Pediatrics 46: 187-92. Klein, P. S.; Alony, S. (1993): Immediate and Substained Effects of Maternal Mediating Behaviors on Young Children. Journal of Early Intervention 17: 177-193. Klein, P. S. (2000): A Developmental Mediation Appoach to Early Intervention for Sensitising Caregivers (MISC). Educational and Child Psychology 17: 19-31. McDonough, S. C. (1993): Interaction Gudiance: Understanding and Treating Early Infant-Caregivers Relationship Disturbances. In: Zeanah, C. H. (Hg.): Handbook of Infant Mental Health. New York, S. 414-426. O’Donovan, C. (1998): The Evaluation of Marte Meo. Dublin. Puckering, C.; Rogers, J.; Mills, M.; Cox, A. D. (1993): Processes and Evaluation of a Group Intervention for Mothers with Parent Difficulties. Child Abuse Review 3: 299-310. Rohde, R. (1999): Etterundersokelse. Familieterapi hjelper det? Kristiansand. Rohde, R. (2001): Follow-Up Study at the Child Guidiance Clinic in Kristiansand, Norway. Marte Meo Newsletter 22: 10-11. Selander, L.; Molholm, H. (1999): En God Start. Tidlig Mor/bam Indsats. Greve. Stern, D. N. (1985): The Interpersonal World of the Infant. New York. Stern, D. N. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart. Stern, D. N. (1998): Die Mutterschaftskonstellation. Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Stuttgart. Stern, D. N. (2000): Spaedbarnets Interpersonelle Verden. Kobenhavn. Stern, D. N.; MacKain, K.; Raduns, K.; Hopper, P.; Kaminsky, C.; Evans, S.; Shilling, N.; Giraldo, L.; Kaplan, M.; Nachman, P.; Trad, P.; Polan, J.; Bamard, K.; Spieker, S. (1992): The Kiddie-Infant Descriptive Instrument for Emotional States (KIDIES): An Instrument for Measurement of Affective State in Infancy and Early Childhood. Infant Mental Health Journal 13: 107-118. Stern-Bruschweiler, N.; Stern, D. N. (1989): A Model for Conceptualising the Role of the Mothers Representational World in Various Mother-Infant Therapies. Infant Mental Health Journal 10: 142-156. Strauss, A.; Corbin, J. (1990): Basics of Qualitative Research. Grounded Theory Procedures and Techniques. London. Strauss, A.; Corbin, J. (1998): Grounded Theory in Practice. London. Weiner, A.; Kuppermintz, H.; Guttmann, D. S. (1994): Video Home Training (the Orion Project): A Short Term Preventive and Treatment Intervention for Families with Young Children. Family Process 33: 441-453.

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■ Jörn Borke, Anne Werchan, Monika Abels und Verena Kantrowitsch Das Konzept der Babysprechstunde Osnabrück Theorie und Praxis eines klinisch-entwicklungspsychologischen Ansatzes

■ Entstehungsgeschichte ■ Der Anfang Die Babysprechstunde Osnabrück entstand im Jahr 1998 aus einem Projektseminar zum Thema »Schreikinder«, das von Prof. Heidi Keller geleitet wurde. Ursprünglich war dieses Seminar als Forschungsprojekt angelegt, doch verlagerte sich die Ausrichtung von der Forschung schnell zur Beratung für betroffene Familien. Es sollten allgemein Familien mit Kindern bis zu drei Jahren angesprochen werden, ein Altersbereich, der von den meisten Erziehungsberatungsstellen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten nicht abgedeckt wird. In den darauf folgenden Semestern beschäftigten sich die Teammitglieder weitestgehend selbst organisiert mit verschiedenen Aspekten von Beratung. Von Anfang an wurde geplant, Videoaufzeichnungen als wesentliches Medium der Beratungsarbeit zu nutzen. Dies lag nahe, da die Arbeitsgruppe um Heidi Keller schon seit den 1970er Jahren videogestützte Forschung im Bereich der Eltern-Kind-Interaktion betreibt (z. B. Keller 1988). Eine wesentliche Erkenntnis lag darin, dass Eltern eine sowohl intuitive als auch reflektierende Haltung gegenüber den Videos einnahmen, die ihnen nach Abschluss einer Untersuchung vorgespielt wurden. So sahen sie beispielsweise gelungene Interaktionen wie auch Dysregulationen und konnten sie benennen. Auch die Beschäftigung mit Konzepten wie Marte Meo (Aarts 2002; Hawellek 1995) verdeutlichte den Nutzen von Videofeedback in der Beratung. Darüber hinaus wurde die Möglichkeit, im Team Fälle anhand von Videos zu besprechen, als positiv be-

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wertet. Auch das Setting der Beratungen begünstigt die Entscheidung, Videofeedback anzuwenden. Sie finden im Kinderbeobachtungslabor der Abteilung Entwicklungspsychologie statt, das mit drei Videokameras ausgestattet ist, die von einem Regieraum aus gesteuert werden können. Eine wesentliche wissenschaftliche Basis des Konzepts waren die von Heidi Keller formulierten »Komponenten des Elternverhaltens« (z. B. Keller et al. 2001). Dieser theoretische Hintergrund prägte entscheidend den Blick der Teammitglieder auf die Interaktionen zwischen Bezugspersonen und Kindern (siehe Abschnitt 3). Die Idee der Teammitglieder war, dass ein Problem im Säuglingsund Kleinkindalter immer auch verbunden ist mit den Interaktionen in der Familie. Die Familien sollten möglichst komplett zur Beratung erscheinen, um den Beraterinnen und Beratern ein Bild über die Familie als Ganzes zu vermitteln. Die erste Familie kam 1999 zur Beratung. Inzwischen besteht das Team aus diplomierten Psychologinnen, Psychologen und Studierenden, die sich in verschiedenen Stadien ihrer zweiten Studienhälfte befinden. Alle Beratungen werden kontinuierlich supervidiert.1 Im Zuge der Kooperation der Fächer Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie der Universität Osnabrück wurde außerdem ein Curriculum zum »systemischen Entwicklungsberater« erarbeitet, das Studentinnen und Studenten durchlaufen, ehe sie als Berater in das Team der Babysprechstunde aufgenommen werden. Das Curriculum besteht aus entwicklungspsychologischen und klinisch-systemischen Bausteinen. Zur entwicklungspsychologischen Ausbildung gehören ein Beobachtungspraktikum sowie Seminare in Entwicklungsdiagnostik und Entwicklungspsychopathologie. Für den klinischen Teil sind eine allgemeine Einführung in die Therapiemethoden und zunehmend spezifischere und anwendungsbezogenere Kurse zur systemischen Therapie vorgesehen. Nach zwei Semestern der theoretischen Auseinandersetzung mit beiden Themenbereichen kön1 In der Anfangsphase war Frau Prof. Keller als Ko-Beraterin oder Supervisorin bei den Gesprächen anwesend; auch Michael Grabbe vom Institut für Familientherapie Weinheim supervidierte das Team. Seit Juni 2002 wird die Babysprechstunde von Arist von Schlippe supervidiert, außerdem nahm das Team an einer Fortbildung mit Christan Hawellek teil.

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nen die Studierenden an den Teamsitzungen der Babysprechstunde teilnehmen und aus dem Regieraum die Beratungen durch einen Einwegspiegel verfolgen. Sie werden zunächst mit Aufgaben der Kameraführung betraut, aber später auch als reflektierendes Team eingesetzt, bis sie schließlich als Ko-Berater mit einer erfahrenen Beraterin beraten.

■ Angebote Die Babysprechstunde Osnabrück bietet für Familien mit Kindern bis zu drei Jahren Beratung zu Regulationsstörungen und Problemen mit der Elternschaft an. Die Beratung findet gewöhnlich in den Räumen der Universität Osnabrück statt, in einigen Fällen werden auch Videoaufnahmen der Familie zu Hause gemacht. Von Herbst 2002 bis Frühjahr 2004 bot die Babysprechstunde Osnabrück neben der Beratung in den Räumen der Universität zusätzlich eine wöchentliche offene Sprechstunde in der katholischen Familienbildungsstätte in Osnabrück an. Eine Krabbelgruppe für Schreikinder wird seit 2004 in den Räumlichkeiten der Universität angeboten. Die Idee dafür entstand aus der Beobachtung, dass viele Eltern, die das Angebot der Babysprechstunde wahrnehmen, sich als relativ isoliert und in Krabbelgruppen wegen der Auffälligkeiten ihrer Kinder als unwillkommen erleben. Die Schreikinder-Krabbelgruppe soll den Eltern die Möglichkeit geben, sich über ihre Probleme auszutauschen und so gemeinsam Lösungen und Unterstützung zu finden. Das Team der Babysprechstunde hält außerdem Vorträge zu Themen rund um Säuglinge und Kleinkinder und bietet Workshops an, zum Beispiel zur Interaktionsbeobachtung.

■ Theoretischer Rahmen der Babysprechstunde Osnabrück Wie bereits durch die Entstehungsgeschichte der Babysprechstunde erkennbar wird, setzt sich dieses Beratungskonzept aus Ele-

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menten der Entwicklungspsychologie sowie der systemischen Therapie und Beratung zusammen. Diese theoretischen Grundlagen und ihre Verknüpfungen sollen in diesem Abschnitt dargelegt werden. Der Entwicklungsbegriff, der der Beratungsarbeit zugrunde liegt, beschreibt menschliche Entwicklung als zeitlich nacheinander abfolgende sowie aufeinander bezogene Veränderungen (Keller 1997; Thomae 1959). Es ist leicht nachvollziehbar und allgemein anerkannt, dass Erfahrungen, die zu einer bestimmten Lebenszeit gemacht werden (vom Erleben als Fötus im Mutterleib bis ins hohe Erwachsenenalter), Einfluss auf spätere Lebensphasen haben. Dieser kontinuierliche Ablauf von Entwicklung ist aber nicht linear und monokausal. Er speist sich aus vielen Quellen und beschreibt damit immer auch einen individuell unterschiedlichen Weg. So konnte für viele Bereiche der menschlichen Entwicklung gezeigt werden, dass es zwar einen ungefähren Rahmen gibt, in dem neue Fähigkeiten hinzugewonnen oder gelernt werden, es wird aber immer wieder deutlich, dass es sowohl im zeitlichen Auftreten als auch in der Reihenfolge von Entwicklungsaufgaben eine große Varianz gibt. Dieser Entwicklungsbegriff ließe sich nun auf alle Phasen des menschlichen Lebens beziehen. Im weiteren Verlauf soll er aber auf die Bereiche konzentriert werden, die für die Arbeit der Babysprechstunde maßgeblich sind. Richard Michaelis zeigte beispielsweise, dass die einzelnen Stufen der motorischen Entwicklung nicht generell nach einer als normal zu bezeichnenden Reihenfolge ablaufen, sondern dass die verschiedenen Stadien (z. B. freies Sitzen, Krabbeln, Stehen mit Festhalten) durchaus in unterschiedlichen Abfolgen durchlaufen werden können, die allesamt zu den Facetten einer unproblematischen motorischen Entwicklung gehören (Michaelis 2003). Wenn man sich nun vor Augen führt, dass in diesen eher physiologischen Entwicklungsbereichen kein einheitlicher Verlauf auszumachen ist, wird deutlich, wie wenig sinnvoll und realitätsnah eine stark normative Annahme über die soziale oder emotionale Entwicklung von Kindern wäre. Der Kinderarzt Remo Largo hat deutlich gemacht, dass es eine

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große zeitliche Varianz bezüglich einzelner Entwicklungsleistungen und Verhaltensweisen von Säuglingen und Kleinkindern (und nicht nur bei denen) gibt. Er weist dies für sehr unterschiedliche Bereiche nach, beispielhaft sei hier das Schlafverhalten erwähnt. Die Schlafdauer von 9 Monate alten Kindern liegt im Mittel bei etwa 15 Stunden pro Tag. Es existiert aber eine natürliche Schwankungsbreite von 12 bis 18,5 Stunden (Largo 2001). Was hier für die Kindesentwicklung angeführt wurde, lässt sich auch auf die Situation und Entwicklung von Eltern-Kind- und Familiensystemen übertragen. Dieser Aspekt wird noch näher dargestellt werden. Daraus erwächst nun die vermeintlich triviale, jedoch für die Arbeit mit Eltern und deren Kindern sehr wichtige Erkenntnis, dass jede Familie einzigartig ist, dass sich eine ganz familienspezifische Zusammensetzung bezüglich Interaktionsverhalten, Ideen von gutem Familienleben und Umgang miteinander, Wünschen und Bedürfnissen aller Beteiligter sowie der sich daraus entwickelnden Ressourcen, Herausforderungen und möglicherweise auch Schwierigkeiten ergibt. Diese spezifischen Familieninteraktionen sowie die jeweiligen Persönlichkeiten aller beteiligten Familienmitglieder entstammen ebenso wie der gesamte Entwicklungsverlauf des Menschen sehr unterschiedlichen und vielfältigen Einflüssen. Betrachtet man diese Einflüsse näher, werden sich manche finden lassen, die sich aus einer sehr persönlichen Geschichte der Familienmitglieder entwickeln, zum Beispiel die so genannten »Gespenster in Kinderzimmer« (Fraiberg 1980), und andere, die eine eher gesellschaftliche oder kulturelle Grundlage haben und in diesem Sinne auch für eine größere Gruppe von Familien beeinflussend sein können.2 Diese bedeutsamen und häufig vernachlässigten kulturellen Quellen sollen im Weiteren näher erläutert werden, da sie besondere Bedeutung für den entwicklungspsychologischen Hintergrund des Konzepts der Babysprechstunde Osnabrück haben. Heidi Keller und ihre Mitarbeiter haben in zahlreichen Arbeiten gezeigt, dass das Verhalten gegenüber Säuglingen und Kleinkin2 Das stellt keinen Widerspruch, sondern eine Ergänzung zur Einzigartigkeit der Familie dar, denn es spielen neben den kulturellen Einflüssen eben immer auch die ganz persönlichen eine wichtige Rolle, und somit wird die Kultur nicht ungefiltert von den Familienmitgliedern übernommen.

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dern ebenso wie die Theorien von Eltern über Erziehung und Entwicklung kontextabhängig sind, und dies mit gutem Grund. Die frühen Erfahrungen eines Säuglings führen zu einem kontextspezifischen Entwicklungspfad, der wiederum einen an die jeweilige kulturelle Umgebung angepassten erwachsenen Menschen hervorbringt (z. B. Keller u. Eckensberger 1998). Dies soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Während die Säuglinge der in Kamerun lebenden Nso im ersten Lebensjahr sehr abhängig von ihren Pflegepersonen sind und nicht von ihnen erwartet wird, dass sie sich allein »beschäftigen«, werden sie anschließend sehr früh selbständig, leisten einen Beitrag zum Familieneinkommen, lernen eigenverantwortlich und nehmen früh einen traditionell definierten Platz in der Gesellschaft ein. Deutsche Babys sind oft im ersten Lebensjahr selbständiger als Nso-Babys, schlafen im Rhythmus der Eltern und liegen allein, es folgt allerdings eine lange Zeit der Abhängigkeit, mit einer Adoleszenz- und Ausbildungsphase, die der Suche nach einem eigenständigen Platz in der Gesellschaft dient (Keller et al. in Vorb.). Einer Nso-Mutter also zu raten, ihr Baby schreien zu lassen, wäre nicht nur sinnlos, es könnte auch den Entwicklungspfad des Kindes empfindlich stören. Damit ist zunächst jedoch nur geklärt, warum Menschen aus anderen kulturellen Kontexten nicht genauso wie die des eigenen kulturellen Umfelds beraten werden können. Was aber haben kulturelle Entwicklungspfade mit Beratungen innerhalb einer Kultur zu tun? Dazu soll der Kern unserer sogenannten westlichen (oder auch independenten) Kultur noch etwas genauer betrachtet werden. Während in sogenannten interdependenten Kulturen wie beispielsweise Kamerun oder Indien viel Wert darauf gelegt wird, durch die Einhaltung sozialer Normen die Meinungen und Einstellungen innerhalb von Gruppen zu harmonisieren, ist es für Menschen zum Beispiel in Deutschland eher wichtig, sich Meinungen, Werte, ja eine Identität unabhängig von der Umgebung zu erarbeiten. Individuelle Bedürfnisse und Interessen haben Vorrang vor kollektiven (Kagitçiba|i 1997; Keller u. Eckensberger 1998; Markus u. Kitayama 1991).3 Daraus ergibt sich, dass sich in 3 Deutlich betont sei, dass es sich hier um eine sehr vereinfachte und ausschnitthafte Darstellung der Begriffe Independenz und Interdependenz

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den independenten Kulturen sehr heterogene Wertvorstellungen finden lassen. Und diese haben wiederum eher heterogene Vorstellungen zur Säuglingspflege zur Folge, denn die Menschen passen ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern intuitiv an ihr Menschenbild an. So gibt es auch in Deutschland Eltern, die ihr Baby im Tragetuch tragen, während andere das nicht tun. Einige Eltern finden, dass ein Baby lernen muss, sich allein zu beruhigen, wenn es schreit, andere halten das für unnötig oder gar gefährlich. Alle diese Vorstellungen haben ihre Berechtigung, und erfolgreich erziehen können Eltern nur, wenn ihre Werte und die damit verbundenen Pflegepraktiken respektiert werden. Es kann in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen Familienkulturen gesprochen werden. Für die Beratung spielen diese Familienkulturen schon beim Besprechen des Anliegens eine wichtige Rolle. Welche Mittel können sich die Eltern vorstellen, um ihrem Kind beim Einschlafen zu helfen? Hier kann es für eine Familie möglich sein, eine Phase zu erleben, in der das Kind im Elternbett schläft. Für andere Familien ist es wichtig, dass das Elternbett nicht in das »Schlafproblem« einbezogen wird. Es ist also Abstand zu nehmen von einem normativen Entwicklungsbegriff, der universelle Annahmen über »gute« und »richtige« Entwicklung und damit auch Erziehung impliziert. Dadurch kann, entwicklungspsychologisch betrachtet, die Vielfalt und Plastizität des menschlichen Lebens nicht ausreichend erfasst und abgebildet werden, und in der konkreten Beratungsarbeit erschwert oder verhindert eine solche Sichtweise die angemessene Wahrnehmung und Würdigung der Familienkultur sowie der spezifischen Familiensituation. Die dargelegten Ergebnisse und Schlussfolgerungen der entwicklungspsychologischen und dabei vor allem der kulturvergleichenden Forschung machen deutlich, wie notwendig und hilfreich eine systemische Sichtweise auf Familienkulturen im Allgemeinen sowie auf elterliche Anliegen wie zum Beispiel das exzessive handelt. Auch soll auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass eine Wertigkeit zwischen verschiedenen kulturellen Modellen besteht, da alle in ihrem jeweiligen Rahmen als gleich wert- und wirkungsvoll anzusehen sind.

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Schreien ihres Säuglings im Besonderen ist, um die Dynamik zwischen Eltern, Kind und Gesellschaft annähernd gut verstehen zu können und durch das therapeutische beziehungsweise beraterische Handeln die Möglichkeiten der Familie (wieder) zu erweitern. Durch den reflektierten Umgang mit Kultur wird also einmal mehr das Erkennen der Subjektivität von Beschreibungen und ein Spiel mit verschiedenen Perspektiven möglich. Natürlich können Vorstellungen über Ziele, die Eltern und Kinder erreichen wollen, beziehungsweise die Mittel dazu nicht nur zwischen Familien, sondern auch zwischen Elternteilen unterschiedlich sein. Gerade dann zeigt sich, wie hilfreich die systemisch-sensitive Gesprächsführung zur Klärung und Akzeptanz oder auch zur Überwindung der Unterschiede ist und wie hilfreich in diesem Zusammenhang auch die Marte-Meo-Arbeit sein kann. Durch die Videointeraktionsanalyse erleben viele Paare gerade bei der Betrachtung von Elementen gelungener Interaktion gemeinsame Impulse und Ideen sowie auch sinnvolle Unterschiede. Gemeinsam begibt sich das Paar damit auf eine Metaebene, von der aus sich der Blick auf beispielsweise das Verhalten des schreienden Säuglings verändert und aus der selbst initiierte oder auch von den Beratern unterstützte Veränderungen im Elternverhalten gewürdigt werden können. So kann das Tor zu den »intuitiven Elternkompetenzen« (Papousek et al. 2004) weiter oder auch wieder geöffnet werden. Alle Eltern besitzen solche intuitiven Kompetenzen, die geeignet sind, ihr Kind bestmöglich in seiner Entwicklung zu unterstützen, zu denen sie aber beispielsweise bei einem manifesten Schreiproblem unter Umständen keinen Zugriff mehr haben. Diesen Zugriff wiedererlangen zu helfen, ist ein wesentliches Anliegen der Babysprechstunde. Uns geht es nicht darum, als Experten für allgemein gültige, »gute« Kindererziehung zu fungieren, sondern die vorhandenen Kompetenzen der Eltern zu stärken oder wiederentdecken zu helfen. Wir gehen davon aus, dass durch Interventionen keine beliebigen Veränderungen, sondern nur familieninhärente Entwicklungen möglich sind, dass folglich eine gute Familienkenntnis notwendig ist, um sinnvolle Veränderungen zu ermöglichen. Letztlich bewirkt also die Familie selbst diese Veränderungen – und zwar hauptsächlich aus eigener Kraft (Marte Meo).

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Ein systemisches Erfragen der Problemsituation ist schon vor dem Einsatz einer Videointeraktionsanalyse von Bedeutung, denn auf diese Weise ist es möglich, eine Familie in ihren unterschiedlichen Facetten kennen zu lernen und aus möglichen Teufelskreisen herauszubegleiten. Am Beispiel des exzessiven Schreiens soll eine solche Dynamik deutlich gemacht werden. Als begünstigend für anhaltend exzessives Schreien werden zum Beispiel das Temperament des Kindes, Stress und Ängste der Eltern (auch schon während der Schwangerschaft) sowie Partnerkonflikte, Konflikte mit den Herkunftsfamilien, wenig soziale Unterstützung oder sogar Isolation und Wochenbettdepressionen genannt (Papousek et al. 2004). Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Punkte wird deutlich, dass schwer auszumachen ist, ob es sich dabei tatsächlich um Ursachen für das Schreien, um Folgen des Schreiens oder auch um beides handelt. Denn die Auseinandersetzung mit einem exzessiv schreienden Säugling kann eben auch Konflikte begünstigen: zwischen den Eltern oder beispielsweise zwischen der Mutter des Kindes und ihrer eigenen Mutter. Durch den Stress und die Reaktionen der Umwelt gibt es außerdem nicht selten bestimmte »ErwartungsErwartungen« (Luhmann, zit. nach v. Schlippe u. Schweitzer 2002) auf Seiten der Eltern, also Phantasien darüber, was das Umfeld von ihnen als »gute Eltern« erwartet. Diese Befürchtungen, die genannten Konflikte und das lang anhaltende Schreien an sich sind Belastungsfaktoren, die die Eltern unter Stress setzen und es ihnen erschweren, Zugang zu ihren intuitiven Kompetenzen zu erlangen und ihr besonders sensitives Kind zu beruhigen. Der Säugling schreit womöglich noch mehr und der Stress von Kind und Eltern erhöht sich: Ein Teufelskreis ist im Gang, bei dem kein »Schuldiger« auszumachen ist. Das Erkennen (oder vielleicht besser: Fühlen) dieses systemischen Zusammenhangs kann für die Eltern eine Entlastung sein, denn sowohl der Zorn und die Enttäuschung über das Kind als auch das Gefühl des Versagens und der Schuld werden so relativiert, und »Verflüssigungen« der Problembeschreibungen in der Kommunikation über das Problem werden möglich (v. Schlippe u. Schweitzer 2002). Denn Menschen erzeugen durch Kommunikation Bedeutungen (Kriz 1999), weshalb das durch die Beratung möglich werdende Reframing, also die positive Umdeutung eines geschilderten Problems, so wichtig ist. Wenn beispiels-

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weise aus dem »Schreikind« ein »Kind mit besonderen Bedürfnissen« wird (Aarts 2002; Fries 2003), und aus den »versagenden Eltern« solche »mit besonderer Herausforderung«, dann verringern sich sprachliche Beschreibungen, die das komplexe Problem verdinglichen und Möglichkeiten eingrenzen (»Versagen« und »Schreikind«). Es können Sichtweisen entstehen, die von einengenden Teufelskreisen wegführen und durch hilfreiche Beschreibungen (»Kind mit besonderen Bedürfnissen«) neue Perspektiven, Ideen und Handlungsmöglichkeiten erkennbar werden lassen. Ein weiteres verbindendes Element des kultursensitiven Entwicklungsbegriffs, der systemischen Sichtweise und des MarteMeo-Konzepts ist die Ressourcenorientierung und der Blick auf die Ausnahmen. Welche Zeiten gab es, in denen das Problem etwas kleiner war? Wenn, um bei dem angeführten Beispiel zu bleiben, ein Säugling stundenlang schreit, fällt es den Eltern verständlicherweise oft nicht leicht, die Momente der Ruhe als gute Zeiten wahrzunehmen, es ist oft eher so, dass einfach etwas Störendes nicht mehr da ist. Gerade das Nutzen guter Zeiten ist jedoch eine Ressource für Eltern und Kind, denn in diesen Momenten ist gegenseitige Bezogenheit möglich, in denen die Eltern das Erleben der eigenen Kompetenz sowie der des Kindes verstärken können.4 Manchmal wird eine Wahrnehmung der besseren Momente (oder sogar guten Zeiten) durch das Gespräch schon möglich. Fragen zur Verdeutlichung von Unterschieden können zum Beispiel sein: Wie viel Prozent des Tages schreit das Kind? Wie viel Prozent davon quengelt es? Und was tut es in den restlichen X Prozent? Was tun Sie dann? Wer empfindet das Schreien stärker? Ersichtlich werden gute Momente auch durch das Führen eines »Schreitagebuchs« und durch die Videointeraktionsanalyse, die besonders in den ersten Schritten die Elemente gelungener Kommunikation zwischen Eltern und Kind in den Vordergrund stellt. Am Ende dieses Abschnitts soll einem möglichen Missverständnis vorgebeugt werden. Der hier vertretene, nichtnormative Ent4 Dass alle Eltern in solchen Momenten kompetent sein können, wurde bereits gezeigt (Papousek et al. 2004), ebenso dass auch exzessiv schreiende Säuglinge in solchen Ausnahmemomenten die gleichen Kompetenzen haben wie andere, was von den Eltern nicht selten überrascht zur Kenntnis genommen wird (Bensel 2003).

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wicklungsbegriff und die systemisch-humanistische Beratungsperspektive beinhalten nicht den Umkehrschluss, dass sämtliches Kindes- und Elternverhalten generell als gleich gut anzusehen und zu bewerten und damit beliebig ist. Es gibt viele bedeutsame Erkenntnisse, die förderliches Elternverhalten von eher ungünstigem oder sogar schädlichem Elternverhalten abgrenzen (z. B. Aarts 2002; Stern 1998). Und auch auf der Ebene der Kinder sind manche Auffälligkeiten sicher als schwerwiegender und als eher behandlungs- oder unterstützungsbedürftig anzusehen als andere (z. B. Abels et al. 2003; Bensel 2003; Papousek et al. 2004). Nur sollten eben in alle diese Überlegungen und Beobachtungen immer auch in besonderem Maß die individuellen Situationen, Sichtweisen sowie die persönlichen und kulturellen Hintergründe der Familienmitglieder einbezogen werden. Natürlich haben Eltern häufig den Wunsch nach einem klar abgesteckten Entwicklungs- und Erziehungsrahmen, der ihnen Orientierung und Sicherheit geben sowie Hilflosigkeit nehmen kann. Dieses Bedürfnis ist nachvollziehbar und sollte in der Beratung mit den Eltern auch sehr ernst genommen werden. Es kann dann im sensiblen Zusammenspiel mit den Eltern ein für ihre Möglichkeiten und Vorstellungen passender Rahmen erarbeitet beziehungsweise vermittelt werden.

■ Praktische Arbeit Wie sieht die praktische Arbeit der Babysprechstunde aus? Es lassen sich Diagnostik/Anamnese, Gespräch, 24-Stunden-Protokoll, Videofeedback, Verhaltensmodifikationen, Reflecting Team und Evaluation/Katamnese unterscheiden (Tab. 1). Nach einem Überblick über diese Arbeitsformen soll ein Fallbeispiel unsere Arbeit illustrieren.

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Tabelle 1: Systematik der Arbeitsformen der Babysprechstunde Osnabrück Arbeitsschritt

Arbeitsmethode

Diagnostik/Anamnese

Ausführliches Erstgespräch

Intervention

Gespräch 24-Stunden-Protokoll Videofeedback Verhaltensmodifikation Reflecting Team

Evaluation/Katamnese

Abschlussgespräch

Beim ersten Telefonkontakt werden neben der Terminabsprache bereits erste Informationen über den Beratungsablauf in der Babysprechstunde Osnabrück gegeben. Wir bitten den anrufenden Elternteil, möglichst die ganze Familie mitzubringen, und kündigen die Zusendung schriftlichen Informationsmaterials an. Im Erstgespräch wird zunächst abgeklärt, ob der Kinderarzt bereits alle möglichen körperlichen Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten des Säuglings ausgeschlossen oder aber diagnostiziert hat. Hier wären etwa Gendefekte (z. B. das seltene Katzenschreisyndrom) oder das KISS-Syndrom, die zu pathologischem Schreien führen können, zu nennen. Eine vorherige Abklärung aller organischen Faktoren ist Voraussetzung für eine Beratung in der Babysprechstunde, da diese wichtigen Informationen von unserem Team nicht erhoben werden können. Das bedeutet allerdings nicht, dass Familien mit Kindern mit organischen Auffälligkeiten nicht beraten werden. Ist das geschehen, berichten die Eltern zumeist frei und ohne Strukturvorgaben über ihr Anliegen. Dabei erhalten die Berater nicht nur wertvolle diagnostische Informationen zum Kind, sondern auch einen Überblick über die Belastung der Familie, Familienstrukturen und darüber, welche Teile des Anliegens der Familie besonders stark elaboriert werden und daher besonders wichtig zu sein scheinen. Schließlich wollen wir den Eltern auch das Gefühl vermitteln, sich bei uns aussprechen zu können ohne be- oder gar verurteilt zu werden. Ist diese Phase abgeschlossen, folgt eine genaue Anamnese, einschließlich Schwangerschafts- und Geburtsverlauf, Stillen/Ernährung, Paarbeziehung, Arbeitsbelastung bei-

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der Partner, bisheriger Erkrankungen des Kindes, sozialer Ressourcen der Eltern, Repräsentationen der Elternrollen, Ursprungsfamilien und vieles mehr. Natürlich steht uns in der Beratung auch die gesamte Bandbreite testpsychologischer Verfahren zur Verfügung. Sie werden jedoch sparsam eingesetzt, um eine Pathologisierung und Verunsicherung der Familien zu vermeiden und die intuitiven Kompetenzen der Eltern nicht zu schwächen. Schließlich muss im Erstgespräch auch das Anliegen der Familie genau abgeklärt werden. Denn keineswegs ist das Ziel jeder Beratung bei Schlafproblemen das Durchschlafen im Kinderbettchen im Kinderzimmer. Ein wesentlicher Punkt der Ausbildung unserer Berater besteht denn auch darin, eigene Präferenzen der Säuglingspflege zu erkennen und von denen der Familie abzugrenzen. Nur so ist unsere neutrale Position gegenüber verschiedensten Familienkulturen zu gewährleisten. Während einige Eltern das Ziel formulieren, das Kind solle möglichst von acht Uhr abends bis sieben Uhr morgens durchschlafen, ohne sich »zu melden«, wünscht sich eventuell eine stillende Mutter, nur zwei bis drei Mal pro Nacht geweckt zu werden. In Abhängigkeit vom Anliegen werden dann die Interventionen besprochen und meist schon erste Schritte empfohlen. Dabei handelt es sich oft um das 24-Stunden-Protokoll, ein dem jeweiligen Anliegen anpassbares Verhaltensprotokoll, das Schrei- oder Schlafzeiten für die Berater, aber auch für die Eltern selbst objektiviert, die Tagesstruktur des Kindes sichtbar macht und eventuelle Zusammenhänge zwischen Schlafen, Schreien und Essen verdeutlicht. In späteren Sitzungen wird dann zum Beispiel über Schreizeiten gesprochen, wie man sich auf sie vorbereiten oder ihnen vorbeugen kann, wenn man sie erst einmal erkennt; wie man schöne Zeiten wahrnehmen und ausnutzen kann, und was bessere Tage oder Nächte von schlechteren unterscheidet. Schließlich lassen sich an diesem Protokoll auch erste Fortschritte ablesen. In Absprache mit den Eltern arbeiten wir ab der zweiten Stunde häufig mit Videofeedback. Fünf bis zehn Minuten Interaktion zwischen Mutter und Kind oder Vater, Mutter, Geschwistern und Kind (es lassen sich fast beliebig viele weitere Konstellationen denken, die je nach ihrer Relevanz für die Videoarbeit ausgewählt werden können) werden gefilmt und in der darauf folgenden Sitzung

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mit den Eltern ausgewertet. Der gefilmte Kontext (Spielen, Füttern, Einschlafen etc.) ergibt sich aus dem Anliegen der Familie und der theoretischen Einschätzung durch die Berater. Die Auswertung des Filmmaterials lehnt sich an die MarteMeo-Techniken an, die gerade für Schrei-Babys konkret ausgearbeitet sind (Aarts 2002), zudem ist das Komponentenmodell des Elternverhaltens (Keller 2001) für uns eine wichtige Quelle, um die Videos zu bewerten. Dieses Modell spezifiziert fünf elterliche Verhaltenssysteme, die in verschiedenen Familienkulturen in unterschiedlichem Ausmaß entwickelt und betont werden: – primäre Pflege, – Körperkontakt, – Körperstimulation, – face-to-face und – Objektstimulation. Daneben werden fünf Interaktionsmechanismen beschrieben: – Wärme, – Kontingenz, – Sensitivität für positive Signale, – Sensitivität für negative Signale und – Aufmerksamkeit. Bei der Besprechung der Videoaufnahmen mit den Eltern sind außer unseren theoretischen Grundlagen vor allem Ressourcenorientierung und Behutsamkeit von allergrößter Bedeutung. Zu der Verunsicherung, die in den meisten von uns entsteht, wenn wir gefilmt und dann genau betrachtet werden, kommt bei unseren Klienten die beständige Sorge hinzu, schlechte Eltern zu sein. Daher fokussieren wir zunächst auf Interaktionssequenzen, die gelungen sind, und lassen die Eltern gelungene, aber auch weniger gelungene Verhaltensweisen selbst entdecken. Erst wenn die Beziehung zwischen Beratern und Klienten hinreichend gut und stabil ist, sprechen wir von uns aus Veränderungsmöglichkeiten an, die mit den Eltern konkretisiert und diskutiert werden. Aus dem 24-Stunden-Protokoll lassen sich abgestimmt auf die Familienkultur leicht Verhaltensmodifikationen bezüglich der Tagesstruktur und einzelner Beruhigungsstrategien ableiten. Diese

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beziehen sich sozusagen auf die Makroebene des Elternverhaltens. So kann etwa einer Familie geraten werden, den Tag für das Baby regelmäßiger und damit vorhersagbarer zu gestalten, einer anderen Mutter kann die Angst vor zu häufigem Stillen genommen werden. Auf der Mikroebene ergeben sich Verhaltensmodifikationen aus dem Videofeedback. Dem Kind die Gelegenheiten zu Initiativen zu lassen, eigene Initiativen zu benennen und positives Säuglingsverhalten widerzuspiegeln sind einige solcher Modifikationen. Wichtig ist bei allen konkreten Interventionen, dass sie auf die Familie abgestimmt sind. Eine Familie, die Schlaftrainings für grausam hält und bleibende Schäden für das Kind antizipiert, profitiert ebenso wenig von einem solchen Training, wie eine auf Autonomie bedachte Mutter von der Empfehlung, das Kind stundenlang in einem Tuch am Körper zu tragen. Beide werden das Verlangte vielleicht tun (oder die Beratung abbrechen), aber sie haben ein ungutes Gefühl bei der Umsetzung, das sich auf das Kind überträgt und außerdem of zu inkonsequentem und inkonsistentem Verhalten führt. Auch nach dem Erstkontakt bleibt natürlich das Gespräch das wichtigste Arbeitsmittel. Im Gespräch können die Repräsentationen der Eltern, ihre Wahrnehmungen und Einschätzungen offen gelegt und von ihnen selbst überprüft werden. Es werden »Gespenster im Kinderzimmer« (Fraiberg 1980) vertrieben – Repräsentationen, die den Eltern Selbstsicherheit nehmen und ihnen den Zugang zu ihrem intuitiven Wissen versperren. Typische »Gespenster« sind überkritische Mütter und Schwiegermütter in der unmittelbaren Umgebung, schwierige Erinnerungen an die eigene Kindheit oder der Gedanke: »Was denkt mein Partner von mir, wenn ich das Baby nicht beruhigen kann?«. Allen Gefühlen, auch Zweifeln und Wut, kann im Gespräch Raum gegeben werden. Technisch geben uns die Systemische Therapie und die Familientherapie hier vom zirkulären Fragen5 bis zur Wunderfrage6 wichtige Hilfsmittel an die Hand (v. Schlippe u. Schweitzer 2002). 5 Eine Form des indirekten Fragens, z. B.: »Was denken Sie, wie sich Ihr Mann in dieser Situation fühlt?« 6 Z. B.: »Wenn das Problem durch ein Wunder über Nacht weg wäre: Woran könnte man erkennen, dass es passiert ist?«

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Schließlich müssen aber auch Ressourcen gefunden und gestärkt werden. So lassen sich oft Freiräume für die Mutter oder den Vater finden, in denen sie ausspannen und Abstand gewinnen können, etwa indem die Großeltern einbezogen werden, ein fester Tag vereinbart wird, an dem der Vater nicht am neuen Eigenheim baut, sondern die Kinder hütet, oder beide Eltern zweimal im Monat gemeinsam ins Kino gehen. Es können auch Paarkonflikte angesprochen werden, denn nach der Geburt des ersten Kindes ist nicht nur die Elternrolle entscheidend. Wichtig ist auch hier, dass nichts thematisiert werden muss, aber alles angesprochen werden kann. Entschließt sich das Paar, einen solchen Konflikt unberührt zu lassen, ist das eine autonome Entscheidung, die in der Beratung akzeptiert wird. Zur Bearbeitung komplexer Regulationsprobleme bieten sich viele Ansatzpunkte an. Ziel ist es, die verschütteten intuitiven Elternkompetenzen wieder freizulegen. Neben dem Gespräch zwischen Beratern und Klienten ist noch ein anderes Gespräch für unsere Arbeit von Bedeutung: das Reflecting Team (Hargens u. v. Schlippe 1998). Dabei beobachten meist zwei Mitglieder des Teams der Babysprechstunde die Beratung durch die Einwegscheibe und werden im Laufe der Sitzung von den Beratern hereingebeten. Klienten und Berater haben sodann die Möglichkeit, den Gedanken des Reflecting Teams zuzuhören, das ohne Unterbrechung und unbedingt wertschätzend über sein Erleben des Beratungsprozesses reflektiert. Das Team wird den Eltern als eine Möglichkeit vorgestellt, neue Sichtweisen (z. B. aus anderen [Familien-]Kulturen) und unausgegorene Gedanken ins Spiel zu bringen, die angenommen werden können, aber nicht müssen. Es können hier auch ressourcenorientierte Elemente mit eher konfrontativen Elementen verbunden werden. Die Anerkennung der bisherigen Leistungen der Eltern, zum Beispiel trotz der übermächtigen Erschöpfung mit dem Baby zur Beratung zu kommen und sich auf diesen schwierigen Prozess einzulassen, steht beispielsweise neben Ideen, dass die Geschwister des Vaters mit ihren überbesorgten Ratschlägen nicht nur entlastend wirken, sondern auch Druck aufbauen, oder dass die Mutter bei der Erwähnung ihrer Partnerschaft bedrückt wirkte. Die Eltern, hin und wieder auch ältere Kinder, entscheiden dann selbst, welche Äußerungen sie aufnehmen und welche sie verwerfen wollen. Ziel die-

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ser Methode wie auch des Videofeedbacks und des Verhaltensprotokolls ist es, den Eltern eine fundierte Rückmeldung über ihr Verhalten und ihren Erziehungsstil zu geben. Gerade das empfinden viele Familien als besonders hilfreich. Am Ende des Beratungsverlaufs bitten wir zu einem Abschlussgespräch, in dem die Berater Feedback erhalten und auch geben und die Eltern noch einmal das Erreichte mit ihrem ursprünglichen Anliegen vergleichen. Evaluative und katamnestische Studien zu den kurz- und längerfristigen Auswirkungen der Beratungen sowie zur qualitativen Untersuchung von Erstgesprächen und Beratungsverläufen werden derzeit von unserer Arbeitsgruppe durchgeführt.

■ Fallbeispiel Unser Kapitel soll mit einem Fallbeispiel abgeschlossen werden, das einen relativ typischen Beratungsverlauf zeigt: Familie B. (Mutter, Vater und der acht Monate alte Sascha7) kam Anfang 2004 zu uns. Sascha hatte ab dem dritten Monat durchgeschlafen, fand aber nach einer Erkrankung mit vier Monaten nicht mehr in seinen alten Schlafrhythmus zurück. Seither wurde er jede Nacht alle zwei Stunden wach. Die Eltern wirkten erschöpft und übermüdet. Im Erstgespräch wurde zweierlei deutlich: Erstens sollte Sascha mittelfristig durch- und langfristig allein in seinem Zimmer schlafen, zweitens wollten die Eltern kein »hartes« Schlaftraining durchführen.8 Ihrem Empfinden nach »sanftere« Methoden, bei denen sie die Selbstregulation des Kindes kleinschrittig sowie durch unterstützende Anwesenheit förderten, hatten sie bereits angewandt und damit die Einschlafzeit ihres Kindes von 24 auf 20 7 Name geändert. 8 Der Elternratgeber »Jedes Kind kann schlafen lernen« (Kast-Zahn u. Morgenroth 2002) beinhaltet beispielsweise ein Programm zur Verhaltensmodifikation bei Schlafproblemen. Die Selbstregulation soll durch festgelegte Zeiten, in denen das Kind lernen soll, sich allein zu beruhigen, gefördert werden. Neben anderen Verhaltensrichtlinien beinhaltet es auch ein nicht unumstrittenes, zeitlich begrenztes Schreienlassen des Kindes.

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Uhr vorverlegt. Diese Kompetenzen bildeten ein Fundament für das weitere Vorgehen. Die Beziehungen zwischen allen drei Familienmitgliedern wirkte trotz der großen Belastung sehr liebevoll und die Zusammenarbeit zwischen Mutter und Vater war von gegenseitigem Respekt und Verständnis geprägt. Beides wurde den Eltern auch vom Reflecting Team rückgemeldet. Während der nächsten fünf Sitzungen wurden hauptsächlich die Schlafprotokolle und damit verbunden die Tagesstruktur der Familie besprochen. Da Sascha recht viel zu schlafen schien und der Verdacht bestand, dass er abends und nachts nicht müde genug sei, wurde seine Einschlafzeit um eine Stunde auf 21 Uhr nach hinten verschoben. Außerdem versuchten die Eltern, seine Nachmittagsschläfchen nicht zu spät anzusetzen, damit vor der längsten Schlaf- auch die längste Wachperiode liegen würde. Die Berater filmten eine Einschlafszene in häuslicher Umgebung, bei deren Besprechung die Eltern ihre großen Kompetenzen im Detail beobachten konnten. Nach diesen Interventionen besserte sich Saschas Schlafverhalten, war jedoch immer noch nicht zufrieden stellend, was sich auch an den Protokollen ablesen ließ. Schließlich griff die Familie auf eine Möglichkeit zurück, die schon länger in der Beratung diskutiert worden war. Herr B. zog vorübergehend zum Kind ins Kinderzimmer, sodass seine erschöpfte Frau ausreichend Schlaf fand. Hierdurch besserte sich die Situation nun in zweierlei Weise: Erstens konnte Frau B. mit frischen Kräften die Tagesbetreuung ihres Sohnes übernehmen, die guten Zeiten mehr genießen und die schlechten leichter meistern, zweitens schien Sascha nachts häufiger allein wieder einzuschlafen, da Herr B. dazu neigte, seltener zu intervenieren und erst bei deutlicheren Unmutsbezeigungen des Kindes zu reagieren (zum Teil durch seinen festeren Schlaf bedingt). Im achten Gespräch berichteten die Eltern, dass Sascha seit zwei Wochen mit dem Babyphon allein im Kinderzimmer schlafe, nur selten aufwache und schon drei Mal durchgeschlafen habe. Bei Bedarf werde er immer noch mit ins Elternbett genommen, das sei jedoch kein Problem. Alle drei wirkten zufrieden und entspannt. Sie wollten sich nun neuen Zielen zuwenden, etwa Sascha stundenweise fremdbetreuen zu lassen und wieder mehr Zeit als Paar zu gewinnen. Weiteren Beratungsbedarf sahen sie nicht.

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J. Borke, A. Werchan, M. Abels u. V. Kantrowitsch · Babysprechstunde

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Papousek, M.; Schieche, M.; Wurmser, H. (Hg.) (2004): Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehung. Bern. Stern, D. N. (1998): Die Mutterschaftskonstellation. Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Stuttgart. Schlippe, A. v.; El Hachimi, M.; Jürgens, G. (2003): Multikulturelle systemische Praxis. Heidelberg. Schlippe, A. v.; Schweitzer, J. (2002): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen. Thomae, H. (1959): Entwicklungsbegriff und Entwicklungstheorie. In: Thomae, H. (Hg.): Handbuch der Psychologie: Entwicklungspsychologie. Göttingen, S. 3-20.

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■ Kai Meyer zu Gellenbeck und Arist von Schlippe »Wahrnehmen, folgen, lenken« Ein Analyseschema als Orientierungshilfe für die Arbeit mit Müttern von Kleinkindern

»Als Mutter kann man nicht perfekt sein, die meisten Mütter werden für die normale Entwicklung des Kindes ›gut genug‹ sein. Es hat durchaus Vorteile, wenn man Fehler macht, während man lernt, eine Beziehung zu seinem Baby aufzubauen … ein Großteil der Erziehung setzt sich aus wiederholten Frustrationen zusammen, die das Baby erlebt, wenn die Mutter zur falschen Zeit etwas tut, … sodass das Baby gezwungen ist, Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Bestenfalls können wir als Eltern darauf hoffen, dass unsere Fehler nicht allzu schwerwiegend sind, und dass sie nicht allzu lange unkorrigiert bleiben …« (Daniel Stern 2002, S. 120 f.)

■ Einführung Eine 28-jährige Mutter kommt in die Beratungsstelle, da sie sich mit der Erziehung ihres zweijährigen Sohnes überfordert sieht, sich den immer währenden Kämpfen um Grenzsetzung nicht mehr gewachsen fühlt. Sie hat schon von vielen Seiten Ratschläge bekommen, die aber noch nicht zu einer zufrieden stellenden Verbesserung geführt haben. Im Erstgespräch werden geringe Unterstützung durch den Mann, soziale Isolation durch einen Umzug und das Fehlen von Erfolgserlebnissen und »schönen Momenten« im Selbsterleben deutlich. Die Probleme mit dem Sohn rauben ihr, so ihre Worte, die »letzte Energie«. Inhalte des Gesprächs sind die Notwendigkeit und die Möglichkeiten, die sie hat, sich ein soziales Unterstützungsnetz zu schaffen. Vier Wochen später kommt die

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Frau deutlich entspannter zur Stunde, da sie den Sohn »gut untergebracht« hat. Den Umgang mit ihm stellt sie allerdings als unverändert problematisch dar. Auf Basis der Technik eines »Mikrointerviews« (Stern 1998, s. a. weiter unten) gehen Berater und Mutter eine konkrete Erziehungssituation systematisch durch, in diesem Fall: »Anziehen«. Sie benennt dabei ihre Verhaltensweisen und Interaktionsmodi sowie die Reaktionen darauf kleinschrittig, eben auf der »Mikro-Ebene« der Interaktion. So wird deutlich, dass sie ihrem Sohn zwar sehr explizit und auch wiederholt verbal schildert, was sie vorhat und von ihm erwartet, aber dabei keinen Blickkontakt mit ihm sucht und daher gar nicht beurteilen kann, in welchem Ausmaß er ihre Intention wahrgenommen und verstanden hat. Die Stunde endet damit, dass die Mutter die Anregungen der Stunde zunächst umsetzen und nur gegebenenfalls zu einem weiteren Termin erscheinen möchte. Dieses aktuelle Fallbeispiel aus der Erziehungsberatung veranschaulicht stellvertretend für viele den wachsenden Bedarf an beziehungsfokussierten Beratungsangeboten für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern (Barth 1999; Specht 2001). Junge Familien stehen den großen Herausforderungen der frühen Kindheit oft allein gegenüber. Gründe hierfür liegen nach Ansicht einiger Autoren zum einen in der fehlenden gesellschaftlichen Wahrnehmung (Fries 2001), zum anderen in der weit verbreiteten Tendenz, Störungen der frühen Kindheit zu bagatellisieren oder die Schuld vorschnell in elterlichem Versagen zu suchen. In besonderem Maß trifft diese Problematik junge allein erziehende Mütter oder solche, die aufgrund der beruflichen Beanspruchung des Vaters nahezu allein verantwortlich die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder sicherstellen müssen. Die Arbeit mit Müttern von Kleinkindern stellt spezielle Anforderungen an Beratung und Therapie. Das Marte-Meo-Modell (Aarts 2000) stellt geeignete Interventionsangebote für diese Klientel zur Verfügung. Im Zentrum steht dabei die – in der Regel – auf Videoaufnahmen basierende Interaktionsanalyse der Beziehungsdynamik, zu der in diesem Beitrag ein Schema als Orientierungshilfe für Berater vorgestellt wird.

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■ Zur Situation der Mutter Schwangere Frauen und »junge Mütter«1 lösen bei vielen Menschen besondere Gefühle und Reaktionen aus, die durch vermehrte Rücksicht und Wohlwollen gekennzeichnet sind. Grundlage dieser Gefühle und Reaktionen dürfte nur zum kleinen Teil die Freude über das »Humanvermögen« (BMFS 1994, S. 27) und die damit verbundene Aussicht auf künftige Rentenzahler sein (ein Eindruck, der bei der aktuellen Diskussion in den Medien nahe liegt). Es scheint vielmehr eine natürliche Ehrfurcht vor dem »Wunder neuen Lebens« zu geben und gleichzeitig Ausdruck einer – unausgesprochenen – Anerkennung der besonderen Herausforderungen zu sein, mit denen sich die junge Mutter auseinander setzen muss. Eine geeignete Intervention sollte dabei verschiedene Aspekte berücksichtigen, die im Folgenden kurz skizziert werden.

■ Lernen, Eltern zu werden Mit der Geburt eines Kindes kommen auf ein Paar neue Herausforderungen zu. Die Eltern sind nun nicht mehr nur für ihr eigenes Leben verantwortlich, sondern müssen die Entwicklung des neugeborenen Kindes unterstützen, das allein nicht lebens- und handlungsfähig ist. Der Kern der neuen Aufgaben besteht darin, das Leben und das Wachstum des Babys zu sichern sowie eine emotionale Beziehung zu ihm aufzubauen. Dabei wird vorausgesetzt, dass Eltern auch ohne Ausbildung irgendwie für Elternschaft qualifiziert sind (Stern u. BruschweilerStern 2002, S. 20). Und tatsächlich sind Eltern in der Regel für den »Job« geeignet. Zum einen belegen das Untersuchungen unter dem Stichwort »intuitive elterliche Kompetenzen« (Papousek 1996), zum anderen besteht durch die eigene Erziehung und das Lernen am Modell der eigenen Eltern eine Grundlage zum Aufbau elterlicher Kompetenzen. 1 Mit dem Begriff »junge Mütter« sollen Frauen bezeichnet werden, die vor kurzer Zeit Mutter geworden sind. Das tatsächliche Lebensalter der Frauen ist dabei nicht von Bedeutung.

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Marte Meo beruht auf der Annahme, dass in einigen Situationen die intuitiven Kompetenzen nicht ausreichend aktiviert werden können oder fehlende Kompetenzen erworben werden müssen. Dabei ist eine Fokussierung auf einzelne konkrete Aspekte notwendig. Am ehesten erlernen Mütter ihr »Handwerk« durch Erfahrung und Übung und nicht durch formalen Unterricht. Modelle dafür finden sich in Alltagssituationen wie in gemeinsamen Spaziergängen von Müttern im Park, im gemeinsamen Anstehen in einer Warteschlange oder in der Erinnerung daran, wie die eigene Mutter oder Großmutter sich verhalten hat.

■ Die emotionale Situation der Mutter Eine aus den Überlegungen Daniel Sterns zur »Geburt einer Mutter« entwickelte These verdeutlicht die Situation, in der diese sich befindet: »Eine Mutter entwickelt auf dem Weg zur Mutterschaft ein grundsätzlich anderes Denken und Fühlen und tritt in eine Erfahrungswelt ein, die andere Frauen nie erleben« (2002, S. 9). Damit ist gemeint, dass es sich nicht lediglich um eine zusätzliche Verantwortung handelt, die neue Handlungsweisen und Reaktionen von ihr verlangt. Stern schließt aus seinen Beobachtungen, dass eine Mutter unabhängig von ihren vorherigen Motiven, Verletzlichkeiten und emotionalen Reaktionen emotional und rational ganz »anders« funktioniert als andere Menschen! Man könnte sagen, dass neben dem Kind auch eine neue »seelische Wahrnehmungswelt« der Mutter geboren wird. Dabei handelt es sich um eine neue Struktur des Denkens und Fühlens, die nach Stern neben der früheren existiert. Ein derartiger Prozess bedeutet eine große Herausforderung für die Auseinandersetzung einer Mutter mit sich selbst und mit ihrer Umgebung – und natürlich auch für diese Umgebung. Diese emotionalen Veränderungsprozesse im Erleben der Mutter und vor allem die Bewältigung des Lebensalltags machen es notwendig, ein verlässliches soziales Netz zur Unterstützung aufzubauen. Je eingeschränkter die Verfügbarkeit eines derartigen Netzes ist, desto weniger Gestaltungsspielraum bleibt der Mutter, mit entsprechenden Folgen für ihre psychische Stabilität.

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■ Die Rolle des Mannes Eine besondere Rolle im Rahmen des sozialen Netzwerks spielt der Vater, sofern er verfügbar ist. Er trägt neben der Mutter die größte Verantwortung, weshalb darauf geachtet werden sollte, ob es auf der Paarebene gelingt, eine gute Verteilung der Aufgaben zu gewährleisten, die die Ressourcen von Vater und Mutter berücksichtigt. Eine weitere Annahme Sterns ist jedoch, dass der Mann nicht in allen Bereichen die notwendige Unterstützung bieten kann: »Der Mann kann der Mutter eine ganz entscheidende emotionale Hilfe sein, doch er kann keine bestätigende Matrix geben, da er nicht durch die Erfahrung legitimiert ist, über die eine Frau verfügt, die selbst schon in der Fürsorge für ein Baby erprobt ist« (Stern u. Bruschweiler-Stern 2002, S. 145). Diese Beschränkung erleben einige Männer als Zurückweisung, mit der möglichen Konsequenz von Verwirrung, Eifersucht, Überraschung und dem Gefühl der Unzulänglichkeit – denn auch die Welt des Vaters erfährt dramatische Veränderungen (Gauda 1990, 1991). Eine oft zu beobachtende Strategie damit umzugehen besteht in der Hinwendung zur Außenwelt (Intensivierung von Beruf, Hausbau usw.). Die Situation der Männer sollte daher explizit berücksichtigt und gewürdigt werden, zum Beispiel durch »normalisierende« Interventionen, die die auftauchenden Konflikte in den Kontext der aktuellen Lebenssituation stellen. So kann dazu beigetragen werden, ein Auseinanderdriften der Partner in Richtung einer Trennung von Außenwelt (des Mannes) und Innenwelt (der Frau) zu verhindern. Eine solche Entwicklung führt in der Regel beim Mann zu Erschöpfung und einem geringeren Repertoire im Umgang mit dem Kind, was die Frau dann frustriert als mangelnde Unterstützung erlebt (Sczesny 1991).

■ Rahmenbedingungen Die Geburt eines Kindes macht eine lange Reihe von Kompromissen für Eltern erforderlich. Dies gilt sowohl im Hinblick auf Ruhephasen als auch für die individuelle und gemeinsame Freizeit. Das Wohlergehen des schutzlosen Kindes steht im Vordergrund und

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verlangt in der ersten Zeit nahezu eine 24-stündige Aufmerksamkeit, sodass der gesteckte Zeitrahmen für die Mutter wenig Spielräume lässt und unvorhergesehene Ereignisse und Komplikationen immer Abwägungen erforderlich machen, was gerade am wichtigsten ist und was zurückstehen muss.

■ Konsequenzen für die Intervention ■ Der therapeutische Rahmen Der letztgenannte Aspekt macht eine erhöhte Flexibilität bei der Abfolge der Sitzungen notwendig. Ein klar strukturiertes therapeutisches Setting mit regelmäßigen Terminen über einen längeren Zeitraum ist oft von Klientenseite nicht einzuhalten. Eine Alternative stellt ein Beratungskontext dar, in dem konkrete Anliegen in einigen wenigen Sitzungen bearbeitet werden können. Das Schaffen neuer Impulse sollte im Vordergrund stehen, deren Umsetzung die Familie dann erproben kann. Ein Argument hierfür liegt darin, dass die Entwicklungsverläufe in den ersten Lebensjahren durch ein rapides Tempo gekennzeichnet sind. Wichtiger als ein langfristiger therapeutischer Prozess ist die Möglichkeit, der Familie über einen längeren Zeitraum als verlässlicher Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen und in Form wiederholter Kurzzeittherapie oder -beratung ihre Problemsituationen zu begleiten. Darüber hinaus ist beim therapeutischen Rahmen zu bedenken, dass die emotionale Situation einer Mutter viel Empathie und ein behutsames Vorgehen förderlicher erscheinen lässt als ein streng strukturiertes Vorgehen. Die durch Verbindlichkeit und starke Eigenverantwortlichkeit zu erzielende Therapiemotivation ist bei vielen Müttern nicht in dem Maß notwendig, da von einem größeren Verantwortungsgefühl ausgegangen werden kann. Ihre Motivation liegt schließlich nicht allein in einer Verbesserung der eigenen Situation, sondern in der Sorge um das Kind.

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■ Intervention auf Verhaltens- und Beziehungsebene In Abbildung 1 wird der Stellenwert der Mutter-Kind-Interaktion innerhalb des therapeutischen Spielraums dargestellt.

Abbildung 1: Ansatzpunkte therapeutischer Intervention im Mutter-KindSystem (Stern 1998, S. 21)

Als Ansatzpunkte für Therapie werden in diesem Modell nach Stern (1998) vier Bereiche angesehen. Das Verhalten des Kindes (BAKT) und das der Mutter (MAKT) bilden dabei das »Schlüsselelement« in Form der Mutter-Kind-Interaktion. Darüber hinaus kann bei den Repräsentationen des Kindes (BREP) und der Mutter (MREP) angesetzt werden. Auf diese vier Ebenen wirken die vorhandenen Unterstützungssysteme (Bezugspersonen, soziales Netz, weitere Faktoren) unterschiedlich stark ein (siehe Abbildung 1).2 Da das Repräsentationssystem des Kindes sich in den ersten Lebensjahren erst ausbildet und von einer bewussten Erinnerung aufgrund von Hirnreifungsprozessen in den ersten drei Lebensjahren nicht oder nur sehr begrenzt auszugehen ist, bildet das gemeinsame Verhalten von Mutter und Kind den Kernpunkt therapeutischer Arbeit, die gleichwohl nicht allein auf die Mutter abzielt. In einer akuten Belastungssituation können sich sowohl bei der Mutter als auch in der elterlich-ehelichen Beziehung 2 Die Länge der Pfeile soll die Stärke der Einwirkung veranschaulichen.

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Stressmuster zeigen, deren Behandlungsbedürftigkeit gemeinsam mit den Klienten abzuschätzen ist (siehe hierzu v. Hofacker u. Papousek 1998). Nicht zuletzt besteht die besonders vulnerable Lage der jungen Mutter darin, dass mit ihrer »Geburt als Mutter« Themen aus der Herkunftsfamilie und vor allem die Geschichte der eigenen kindlichen Erfahrungen mit den engsten Bezugspersonen wieder aktualisiert werden können. Da die Partnerschaft der Hintergrund ist, vor dem sich diese Prozesse dann abspielen, ist vor einer isolierten Einzeltherapie der Mutter jedoch zu warnen. Neben dem bereits angesprochenen Aspekt der Hirnreifungsprozesse, die aus therapeutischer Sicht Konsequenzen für die Arbeit mit Repräsentationen haben, ergibt sich aus der sich erst entwickelnden Sprach- und Symbolisierungsfähigkeit die Notwendigkeit, therapeutische Konzepte der Klientel anzupassen. Da Interaktionen zwischen Mutter und Kind im Wesentlichen auf nonverbaler und präsymbolischer Ebene ablaufen, bietet es sich an, die Verhaltenssequenzen genau zu beobachten und detailliert zu beschreiben. Zusammenfassend finden sich die ausgeführten Anforderungen bei der Interventionsplanung in Abbildung 2.

■ Anwendungsmöglichkeiten für Marte Meo Gegenstand der Videoaufnahme ist die Interaktion zwischen Kindern und den Erziehungspersonen. Damit wird genau der Bereich festgehalten, dem nach den bisherigen Überlegungen eine Schlüsselrolle bei der Behandlung einer Beziehungsstörung zukommt. Das Video bietet die Möglichkeit, eine Interaktion in sehr kleine Teile zu zerlegen und damit unterschiedliche Aspekte hervorzuheben, die die Beziehung kennzeichnen. Dadurch wird eine detaillierte Verhaltensbeschreibung ermöglicht. Gleichzeitig spiegelt das Video unmittelbar das Verhalten wider, sodass keine Informationsverluste durch Interpretationen des Betrachters entstehen. Beschränkungen gegenüber der Verhaltensbeobachtung in vivo bestehen lediglich in der Tatsache, dass die Personen wissen, dass sie gefilmt werden, und ihr Verhalten dadurch mitbestimmt ist sowie

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im interpretativen Charakter der Auswahl relevanter Filmsequenzen. Durch das gemeinsame Betrachten der Videosequenzen in der Auswertungssitzung wird Erfahrungslernen möglich. Den Müttern wird gewissermaßen am eigenen Modell konkret vorgeführt, welches Verhalten günstig für die Entwicklung des Kindes ist. Daher erfüllt Marte Meo in ausgezeichneter Weise das Kriterium des Lernens durch Erfahrung und Übung statt durch formalen Unterricht, das kennzeichnend für die Ausprägung erzieherischer Fähigkeiten ist. Die »neue Population«

Anforderungen an die Therapie

Der »neue Patient« ist eine Beziehung, keine Einzelperson.

Beziehungsstörung behandeln, nicht Individualsymptome; Schlüsselrolle: Interaktion

Vieles spielt sich auf nonverbaler und präsym- »Naive« Beobachtung und detaillierte Verhalbolischer Ebene ab. tensbeschreibung statt Interpretation und Analyse Rapide Veränderungsprozesse in der kindlichen Entwicklung

Kleiner Anstoß – große Wirkung; wiederholte Kurzzeittherapie als optimaler Prozess

Größeres Verantwortungsgefühl bei der Mutter Therapeutischer Rahmen: führt zu erhöhter Motivation. Mehr Empathie, Weniger streng strukturierter Kontrakt (Therapiemotivation) Mutterschaftskonstellation: Leben und Wachstum des Babys sichern, emotionale Beziehung aufbauen, soziales Unterstützungssystem etablieren, eigene Identität verändern.

Abbildung 2: Zentrale Aspekte der »neuen Population« (Stern 1998) und daraus resultierende Anforderungen an die Therapie

Eine wichtige Funktion kann Marte Meo auch in Bezug auf Selbstwertprobleme erfüllen. Viele Mütter erleben sich selbst als Versager, wenn sie in der Beratungsstelle vorstellig werden. Die Betrachtung gelungener Interaktionssequenzen dient der Steigerung des Selbstwerts und hilft bei der Veränderung dieses Selbstkonzepts. Falls längerfristig mit den Klienten gearbeitet werden kann, kann Marte Meo dabei unterstützen, Fehler akzeptieren zu lernen (»Als Mutter kann man nicht perfekt sein«), und gleichzeitig den

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Lerneffekt hervorheben, der für Kind und Mutter in der Bewältigung unerwarteter Problemsituationen liegt. Die große Chance für die Mutter liegt in diesem Fall darin, auf anschauliche Art Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt zu bekommen, um diese Fehler zu korrigieren.

■ Ein Analyseschema als Orientierungshilfe bei der Auswertung der Videobeobachtung Eine Orientierungshilfe zur Arbeit mit den Videoaufnahmen ist in Form eines Auswertungsschemas zur Interaktionsanalyse entwickelt worden (Meyer zu Gellenbeck 2003). Der Fokus liegt dabei auf zwei voneinander getrennten Bereichen: dem Blick auf die Initiativen des Kindes und auf die der Eltern. Dieses Schema (siehe Abb. 3a und 3b) ist für die dyadische Interaktion zwischen einer Erziehungsperson und einem Kind ausgearbeitet worden. Es kann vorzugsweise genutzt werden, um eine Videoaufnahme von etwa fünf bis zehn Minuten Länge zu analysieren. Dabei sollte das Band jeweils nach Sequenzen von etwa zehn Sekunden Länge gestoppt werden. Auf den Auswertungsblättern (siehe Anhang) kann dann kodiert werden, welche Elemente in diesem Zeitfenster zu erkennen sind. Auf diese Weise kann neben dem zeitlichen Verlauf von Aktion und Reaktion erfasst werden, welche Verhaltensweisen gehäuft auftreten und welche weniger ausgeprägt sind. Aus dem Ergebnis dieser Auswertung kann dann beispielsweise direkt ersehen werden, welche elterlichen Kompetenzen aus- oder neu aufgebaut werden könnten (vgl. hierzu auch den Beitrag von Mittler et al. in diesem Band). Inhaltlich geht das Schema von der Annahme aus, dass Initiativen der Eltern für die Intervention von anderer Bedeutung sind als die Initiativen des Kindes und demzufolge auf unterschiedliche Merkmale geachtet werden muss. Daher werden Initiativen des Kindes und Elterninitiativen getrennt erfasst. Der Grundaufbau des Schemas zur Kindinitiative erfolgt nach den Oberthemen: – Struktur,

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Art der Initiative, Wahrnehmung und Bestätigung der Initiative, Folgen der Initiative, lenkende Elemente.

Zugrunde liegt hierbei die von Maria Aarts (2000) vorgeschlagene Unterscheidung in »naming, following und leading«3. Eine Elterninitiative wird im Hinblick auf diese Oberthemen analysiert: – Struktur, – Deutlichkeit der Kommunikation, – weitere spezielle Elemente, – Reaktion des Kindes. Bei der Deutlichkeit der Kommunikation wird erfasst, welche Ausdrucksmöglichkeiten (Blickkontakt, verbal, Verhalten) der Elternteil nutzt, um das Anliegen deutlich zu machen. Unter den speziellen Elementen finden sich besondere Charakteristika von Marte Meo wie das Vorhandensein von Start- und Endsignalen sowie »taking turns«4. Die in beiden Schemata enthaltenen Strukturaspekte dienen zur Einordnung der Sequenz in der Weise, dass bestimmt wird, ob eine neue Initiative beginnt, eine zuvor begonnene fortgesetzt wird oder in diesem Zeitfenster eine Reaktion auf eine Initiative des Interaktionspartners zu sehen ist. Eine ausführliche Ausgestaltung der einzelnen Kategorien, eine Beschreibung der Entwicklungsschritte und die kritische Auseinandersetzung mit dem Schema findet sich bei Meyer zu Gellenbeck (2003)5. Dort werden auch typische Probleme bei der anfänglichen Anwendung des Schemas angesprochen, diskutiert und Verfahrensvorschläge vorgestellt. 3 In ähnlicher Form findet sich diese Differenzierung auch beim Video-Home-Training (Schepers u. König 2000). 4 Unter »taking turns« versteht Maria Aarts die Kompetenz der Eltern, durch verbale Wiederholung einer Verbalisierung das Kind wissen zu lassen, dass man es sieht (siehe dazu das Gespräch mit Maria Aarts in diesem Band). 5 Die gesamte Arbeit kann als pdf-Dokument unter: http://www.meyer-zugellenbeck.de/Diplomarbeit.pdf aus dem Internet heruntergeladen werden.

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A1 neue Initiative A2 fortgesetzte Initiative A3 Reaktion auf Aktivität des Interaktionspartners A4 keine auf den Interaktionspartner gerichtete Aktivität A5 Restkategorie

Art der Initiative

B1 Blick auf den Interaktionspartner gerichtet B2 verbale Initiative B3 Initiative auf Verhaltensebene B31 Verhaltensebene: Mimik B32 Verhaltensebene: Motorik B33 Verhaltensebene: Distanzregulation

Wahrnehmung und Bestätigung der Initiative (naming)

C1 Empfangsbestätigung C2 keine ausdrückliche Empfangsbestätigung/ Wahrnehmung erkennbar C3 keine Wahrnehmung erkennbar

Folgen der Initiative (following)

D1 D2 D3 D4

Lenkende Elemente (leading)

E1 erwünschtes Verhalten bestätigen (verstärken) E2 Verknüpfungen zu Objekten und Personen herstellen E3 eigene Impulse

Blickverhalten Folgen im Verhalten Worte und Laute Benennen von Ereignissen, Gefühlen, Erfahrungen

Abbildung 3a: Modifiziertes Analyseschema: Initiative des Kindes (Meyer zu Gellenbeck 2003, S. 86)

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

Struktur

F1 F2 F3 F4

Beginn einer neuen Initiative Andauern einer Initiative keine Initiative beobachtbar Restkategorie: unklar

Deutlichkeit der Kommunikation

G1 Blickkontakt mit Kind G2 verbal G21 Aufforderung G22 Frage G23 Mitteilung G24 Worte und Laute G3 Absicht wird durch Verhalten verdeutlicht G4 aktives Warten

Spezielle Elemente

H1 Startsignal H2 Endsignal H3 taking turns

Kindreaktion

I1 I2 I3 K4

Reaktion auf Verhaltensebene Reaktion auf verbaler Ebene Reaktion auf emotionaler Ebene keine Reaktion

Abbildung 3b: Modifiziertes Analyseschema: Initiative eines Elternteils (Meyer zu Gellenbeck 2003, S. 87)

■ Eine Alternative: Das Mikrointerview Viele Beraterinnen und Berater in der Erziehungsberatung schreckt angesichts des Drucks, mit möglichst wenig (Zeit-)Aufwand möglichst viele Klienten erreichen zu sollen, die Vorstellung ab, zunächst per Hausbesuch eine Videoaufnahme anzufertigen und diese dann auszuwerten, bevor es zum eigentlichen Beratungsgespräch kommt. Für derartige Skeptiker beschreibt Daniel Stern (1998) eine interessante Alternative, bei der die Prinzipien der Interaktionsanalyse angewandt werden können, ohne dass eine Videoaufnahme und eine Analysesitzung notwendig werden. Das Interaktionsgeschehen wird dabei mikroanalytisch aufgeschlüsselt, indem der Therapeut bei der Erinnerung einer konkreten Alltagssituation immer wieder genaue Informationen zum zeitlichen Verlauf einer Interaktion erfragt (Stern 1998, S. 63 ff.). Nach eigener Erfahrung kann ein derartiges Vorgehen ähnliche Effekte bringen wie die gemeinsame Betrachtung eines Videos. Vor allem ist es spontan in

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einem Beratungsgespräch anwendbar. Auch hierfür kann das vorgelegte Schema eine wichtige Strukturierungshilfe sein. Der Berater sollte daher gut mit dem Aufbau der relevanten Interaktionsbestandteile vertraut sein, wie sie im Analyseschema aufgeführt sind. Stern selbst erzählt zur Entwicklungsgeschichte, dass er das Mikrointerview getestet hat, als er sehr intensiv mit der mikroanalytischen Betrachtungsweise, die durch eine Videoanalyse erreicht werden kann, vertraut war und das Gefühl bekam, dass das Video gar nicht mehr notwendig sei. Das Mikrointerview sollte die Videoanalyse daher erst ersetzen oder ergänzen, wenn ein Berater bereits ausgeprägte Kompetenzen zur kleinschrittigen Betrachtungsweise ausgebildet hat.

■ Was bleibt weiter zu beachten? Es wird ersichtlich, dass der Videoeinsatz und die therapeutische Herangehensweise mit Marte Meo viele Möglichkeiten bieten, den Anforderungen der Klientel zu begegnen. Daneben soll auf weitere Aspekte nochmals zusammenfassend hingewiesen werden, die in der Arbeit mit jungen Müttern bedeutsam sind, zum einen auf die Notwendigkeit, soziale Netzwerke zu schaffen; insbesondere den Kontakt zu Frauen. Des Weiteren können die Möglichkeiten einer systemisch-familientherapeutischen Herangehensweise genutzt werden, um beispielsweise die eigene Herkunftsfamilie anzuschauen oder auch paartherapeutische Themen zu bearbeiten. Bedeutung erfährt dieser Aspekt angesichts der Rolle der eigenen Mutter als Modell, an dem sich das Erziehungsverhalten notwendigerweise orientiert – sei es in loyaler Nachfolge oder in Abgrenzung. Darüber hinaus sind diese Methoden geeignet, um die Paardynamik und Familiensituation in der Phase vor, während und nach der Geburt zu beleuchten. Insbesondere bei Müttern, die den Großteil der Erziehungsverantwortung allein tragen, sollte sich die Beratung oder Therapie auf praktische Einschränkungen (24-Stunden-Dienst) sowie eine mögliche emotionale Labilität der Mutter einstellen und stärker bedürfnisorientiert intervenieren. Marte Meo ist dafür geeignet,

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da konkrete Hinweise auf förderliches Verhalten bereits nach einer Beratungssitzung, einer Videoaufnahme und der Nachbesprechung sichtbar werden. Als letzter Aspekt sei die Organisation und Legitimation von Ruhephasen genannt. Oft wird deutlich, dass es erleichternd für Eltern ist, die Notwendigkeit zu erkennen, Ruhephasen ganz bewusst einzuplanen und dass es auch ihr gutes Recht und förderlich ist, sich für ein paar Stunden »Urlaub vom Kind« zu gönnen.

■ Fazit Maria Aarts sieht eine wesentliche Funktion des Therapeuten darin, den Eltern aus der Sicht des Experten orientierende Informationen über Entwicklungsstand und -verlauf zu liefern (Aarts 2000, S. 74). Speziell dieses Element ist in der Beratungssituation sehr wichtig, da viele Eltern Orientierung suchen und sich selbst nicht als kompetent erleben. Ein Beleg hierfür ist der stetig wachsende Bedarf an Elterntrainings sowie die Entwicklung sehr konkreter, strukturierter pädagogischer Konzepte. Exemplarisch seien hier das an »autoritativer Erziehung« orientierte Konzept »Freiheit in Grenzen« (Schneewind 2003) genannt und bei Heranwachsenden der Ansatz der »elterlichen Präsenz« (Omer u. v. Schlippe 2004). Marte Meo bietet Eltern die Möglichkeit, ihre eigenen Kompetenzen unmittelbar per Video zu sehen und darauf aufzubauen. Wünschenswert ist daher mehr Mut, trotz des immer enger werdenden finanziellen Korsetts neue Wege zu beschreiten und die vielfältigen Chancen, die Ansätze wie Marte Meo liefern, zu nutzen. Maria Aarts ermutigt dazu, Marte-Meo-Informationen mit eigenen Erfahrungen, Informationen, eigener Weisheit, Denkweise und Vorlieben zu kombinieren. Das Konzept wird nicht als in sich abgeschlossenes Verfahren gesehen, sondern soll eine Grundlage zur Erweiterung des therapeutischen Spielraums darstellen (Aarts 2000). Dass Marte Meo nur ein Baustein in der Arbeit mit Müttern von Kleinkindern ist, verdeutlicht der weitere Verlauf des eingangs dargestellten Fallbeispiels: Zwei Monate später meldet sich die Mutter wieder an, diesmal

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wegen einer Paarproblematik. Während des Telefonats bietet sich die Gelegenheit, eine Livesituation zwischen Mutter und Sohn mitzubekommen. Auf das Quengeln des Sohnes hin unterbricht die Mutter: »Einen Moment, ich muss mal kurz unterbrechen. – Willst du jetzt noch etwas Saft? Soll ich dir etwas geben? Oder möchtest du warten, bis Mama fertig ist, mit dem Mann zu telefonieren?« Das Kind beruhigt sich. »Du möchtest ihn später? Gut, dann telefoniere ich jetzt und komme dann wieder zu dir.« Die Mutter kann sich weiter auf unser Telefonat konzentrieren. Es wird deutlich, dass sie sich aufgrund des Gefühls mangelnder Unterstützung und fehlender Kommunikation untereinander mit Trennungsgedanken trägt. Ein gemeinsamer Paartermin wird in Kürze stattfinden.

■ Literatur Aarts, M. (2000): Marte Meo Basic Manual. Harderwijk. Barth, R. (1999): Ein Beratungsangebot für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern – Konzeption und erste Erfahrungen der Beratungsstelle »MenschensKind«. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 48: 178191. Bundesministerium für Familien und Senioren (Hg.) (1994): Familien und Familienpolitik in Deutschland – Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht. Bonn. Fries, M. (2001): Schwierige Babys, erschöpfte Eltern – Möglichkeiten früher Intervention. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, C. (Hg.): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung. Die Chancen des Anfangs. Münster, S. 79-90. Gauda, G. (1990): Der Übergang zur Elternschaft. Eine qualitative Analyse der Entwicklung der Mutter- und Vater-Identität. Frankfurt a. M. Gauda, G. (1991): Vater werden … Systhema 5 (3): 24-33. Hofacker, N. v.; Papousek, M. (1998): Disorders of Excessive Crying, Feeding and Sleeping: The Munich Interdisciplinary Research and Intervention Program. Infant Mental Health Journal 19 (2): 180-201. Meyer zu Gellenbeck, K. (2003): Therapeutische Intervention im Kleinkindalter. Überblick über ein neues Forschungsfeld und Entwicklung eines Interaktionsanalyseschemas für Marte Meo und weitere videogestützte Verfahren. Unveröffentlichte Diplomarbeit am FB Humanwissenschaften der Universität Osnabrück.

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

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Anhang: Die Auswertungsblätter zum Analyseschema (Meyer zu Gellenbeck 2003, Anhang G und H)

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Folgen der Initiative Wahrnehmung/Empfang Art der Initiative

Eigene Impulse Verknüpfungen Erwünschtes Verhalten bestätigen Benennen von Ergebnissen, Gefühlen, Erfahrungen

Verbale Lautäußerungen Folgen durch Verhalten Blickverhalten

Keine Wahrnehmung Wahrnehmung erkennbar Empfangsbestätigung

Verhaltensebene

Lenkende Elemente

K. Meyer zu Gellenbeck u. A. v. Schlippe · »Wahrnehmen, folgen, lenken« 209

Distanzregulation Motorik Mimik Verhaltensebene allgem.

Verbale Initiative Blick auf den Ip gerichtet Restkategorie

Reaktion Fortgesetzte Initiative Neue Initiative

Zeit

Struktur

Keine auf Ip gerichtete Aktivität

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo Keine Reaktion

Reaktion auf Gefühlsebene Reaktion auf verbaler Ebene Reaktion auf Verhaltensebene

Spezifische Elemente

Reaktion des Kindes

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Taking Turns Endsignal Startsignal

Lautäußerung Verbal

Deutlichkeit der Kommunikation

Aktives Warten Kommunikation durch verhalten

Mitteilung Frage Aufforderung

Verbale Initiative Blick auf Kind gerichtet

Andauern der Initiative Beginn neuer Initiative

Zeit

Struktur

Keine Initiative

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■ Thomas Mittler, Jana Grobel, Judith Berkenheide und Arist von Schlippe Sprach- und beziehungsförderliche Elternkompetenzen Eine Integration des Marte-Meo-Ansatzes in die Beratungsarbeit mit Eltern sprachauffälliger Kinder

■ Einleitung In diesem Artikel bieten wir eine salutogenetische Perspektive auf die Beratungsarbeit mit Eltern sprachauffälliger Kinder an. Das Salutogenesemodell von Antonovsky (1997) stellt einen Gegenpol zum traditionell medizinischen Krankheitsmodell dar, welches die für die Entstehung von Krankheiten verantwortlichen Faktoren betrachtet. Aus salutogenetischer Perspektive hingegen sind die Faktoren relevant, die Menschen gesund erhalten oder wieder gesund werden lassen. Dieser Tradition folgend betrachten wir die Elternarbeit aus einer ressourcenorientierten Sicht und fokussieren dabei die sprach- und beziehungsförderlichen elterlichen Kompetenzen. Im Folgenden werden zunächst die Zusammenhänge zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und dem kindlichen Spracherwerb dargestellt. Nach einem kurzen Blick auf Befunde zur Interaktion von Eltern mit ihren sprachauffälligen Kindern leiten wir Konsequenzen für die Elternberatung ab. Im Anschluss geben wir einen Ausblick auf ein von uns entwickeltes Interaktionsanalyseinstrument (ELKINA) zur Erfassung sprach- und beziehungsförderlichen Elternverhaltens.

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

■ Beziehung als Fundament des Spracherwerbs Kinder entwickeln sich nicht in einem sozialen Vakuum, sondern im interaktiven Kontext. Dieser beeinflusst alle wichtigen Entwicklungsdimensionen: die emotionale, die soziale und die kognitive Entwicklung des Kindes (Fries 2001). Besonders für den Prozess des Spracherwerbs kommt der Interaktion mit den primären Bezugspersonen eine zentrale Bedeutung zu. Ein Beispiel für viele Befunde: Sachs et al. (1981) konnten zeigen, dass es einem hörenden Kind gehörloser Eltern erst gelang, Lautsprachstrukturen zu erwerben, als es im Rahmen eines Interventionsprogramms die Möglichkeit zur direkten Kommunikation mit einem hörenden Erwachsenen erhielt. Grundlage für die spezifisch menschliche Fähigkeit, Sprache zu erwerben, sind die internalen Voraussetzungen, also die Anlagen eines Kindes. Von Geburt an ist es mit perzeptiven, kognitiven und sprachverarbeitenden Fähigkeiten ausgestattet, die sicherstellen, dass die relevanten sprachlichen Informationen gespeichert und weiter analysiert werden können (Grimm u. Wilde 1998). Jedoch erst in der Interaktion, in deren Rahmen das Sprachangebot geschaffen wird, kann ein Kind seine angeborenen Fähigkeiten zur Kommunikation auch nutzen (Ritterfeld 2000a). Eltern unterstützen den Spracherwerbsprozess ihres Kindes intuitiv, indem sie Kontexte herstellen, die zur Kommunikation anregen, und ihre Sprache an die jeweiligen Fähigkeiten des Kindes anpassen. Im Rahmen dieses »didaktischen Systems« (Papousek u. Papousek 1984) setzen sie zudem intuitiv Sprachförderdidaktiken ein, die dem Kind Informationen über Regelmäßigkeiten der Sprachstruktur geben (Ritterfeld 2000b). Neben der Relevanz der Passung zwischen dem elterlichen Interaktionsverhalten und den Kompetenzen des Kindes betont Grimm (2003) eine weitere wichtige Voraussetzung für einen reibungslosen Spracherwerb: »Die Fähigkeiten des Kindes und die von der sozialen Umwelt bereitgestellten Lernerfahrungen können nur dann optimal zusammenwirken, wenn eine positive emotionale Mutter1-Kind-Beziehung besteht« (S. 51). 1 Die Bezeichnung »Mutter« steht hier und im Folgenden stellvertretend für jede relevante primäre Bezugsperson des Kindes.

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Auf die Frage danach, welche konkreten elterlichen Verhaltensweisen die Entwicklung einer positiven Beziehung zwischen Eltern und Kind unterstützen, bietet der Marte-Meo-Ansatz eine Beschreibung von sieben als grundlegend angesehenen Elementen natürlicher entwicklungsunterstützender Dialoge (SirringhausBünder et al. 2001, S. 107 ff.; vgl. auch den Beitrag von Hawellek u. Meyer zu Gellenbeck in diesem Band): – Der Erwachsene lokalisiert den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes. – Der Erwachsene bestätigt den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes. – Der Erwachsene wartet aktiv darauf, wie das Kind auf ihn reagiert. – Der Erwachsene benennt die ablaufenden Ereignisse, Erfahrungen und Gefühle. Darüber hinaus antizipiert er nahe liegende Erfahrungen. – Der Erwachsene bestärkt erwünschtes Verhalten unmittelbar. – Der Erwachsene setzt das Kind in Beziehung »zur Welt«, indem er dem Kind Personen, Objekte und Phänomene vorstellt. – Der Erwachsene sorgt für angemessene Anfangs- und Endsignale der Situation. Diese Elemente entwicklungsförderlichen Elternverhaltens stellen die Basis für einen guten Kontakt und eine befriedigende Kommunikation zwischen Eltern und Kindern dar. Damit bilden sie die Grundlage einer positiven Eltern-Kind-Beziehung, die eine wichtige Voraussetzung für die kindliche Sprachentwicklung ist. Entwicklungsförderliche Verhaltensweisen wirken sich einerseits auf die Eltern-Kind-Beziehung, andererseits auf die kindliche Sprachentwicklung aus: Benennt der Erwachsene beispielsweise sein Verhalten und das, was in ihm vorgeht (»Ich nehme mal das Geld mit, dann können wir nachher noch ein Eis essen. Da hab ich mich schon den ganzen Tag drauf gefreut!«), so führt das auf der Beziehungsebene dazu, dass der Elternteil für das Kind vorhersehbar wird. Es kann eine soziale Erwartungsstruktur entwickeln und findet leichter Anschluss an das Tun des Erwachsenen. Gleichzeitig bekommt es auf diese Weise eine Idee davon, was in anderen Menschen vorgeht. Aus der Perspektive der Sprachförderung ist die

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Äußerung des Erwachsenen ein Sprachvorbild, das dem Kind Begriffe und Redewendungen vermittelt, mit denen es sein eigenes Handeln und Denken in Worte kleiden kann, und zum Sprechen anregt. Gleichzeitig werden dem Kind korrekte syntaktische Muster angeboten.

■ Begriffsdefinition und Befundlage zur ElternKind-Interaktion bei sprachauffälligen Kindern Sprachentwicklungsstörungen werden in der Literatur teilweise sehr heterogen klassifiziert. In unserem Artikel sind Kinder gemeint, die eine »primäre Sprachstörung« aufweisen. Grimm spricht in diesem Zusammenhang auch von »spezifischer Sprachstörung«, für die sie folgende Merkmale als charakteristisch bezeichnet: »Verspäteter Sprachbeginn, verlangsamter Spracherwerb mit möglicher Plateaubildung, Sprachverständnis größer als Sprachproduktion, formale Merkmale (Syntax/Morphologie) sind gestörter als Semantik/Pragmatik, nonverbale Testintelligenz im Normbereich« (Grimm 2003, S. 122). Damit sind Sprachstörungen, die auf sensorischen, schwerwiegenden neurologischen und emotionalen Schädigungen oder geistiger Behinderung beruhen, ausgeschlossen (Grimm 2003). Wenn wir im Folgenden von sprachauffälligen Kindern sprechen, beziehen wir uns auf Kinder mit einer »spezifischen Sprachstörung«. Damit fassen wir Sprachentwicklungsverzögerung (SEV) und Sprachentwicklungsstörung (SES) zusammen. Betrachtet man die Befundlage zur Interaktion von Eltern mit ihren sprachauffälligen Kindern, so fällt auf, dass häufig Defizite der Eltern und ein negativer Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung fokussiert werden. So zeigte sich, dass Störungen der kindlichen Sprachentwicklung die Beziehung zwischen Eltern und Kind oft negativ beeinflussen. Da Eltern wissen, dass aus einem verzögerten Spracherwerb ihrer Kinder schwerwiegende Probleme sowohl im sprachlich-kommunikativen als auch in anderen Entwicklungsbereichen entstehen können, reagieren sie auf beobachtete Abweichungen häufig mit großer Sorge (Grimm 2003). Daraus re-

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sultieren oft intensive Bemühungen mit dem Ziel, den kindlichen Spracherwerb zu fördern. Diese äußern sich häufig in gut gemeinten, jedoch für das Kind wenig förderlichen Veränderungen des elterlichen Kommunikationsverhaltens. Grimm (1994) konnte zeigen, dass Eltern die produktive Sprachleistung ihrer sprachauffälligen Kinder fälschlicherweise mit deren Denkleistungen gleichsetzen. Die sich daraus ergebende Kleinkind-Sprachlehrstrategie mit ihren stark reduzierten Abfragemustern (»Was ist das?«) stellt für Eltern eine vergleichsweise unkomplizierte Art der Kommunikation mit dem Kind dar. Leider unterfordern sie das Kind jedoch damit, bieten ihm keine für den Sprachlernprozess optimale Datenbasis und erschweren den sozial-kommunikativen Austausch. Neben dieser Neigung zu einem kognitiv verarmten Sprechstil verhalten sich Eltern sprachauffälliger Kinder deutlich direktiver und kontrollierender als Eltern normal sprachentwickelter Kinder (Grimm 1983). Das bedeutet, dass sie seltener inhaltlich an Äußerungen ihrer Kinder anknüpfen und das Geschehen häufiger durch Fragen steuern, die sich thematisch nicht auf die vorausgegangenen kindlichen Äußerungen beziehen. Eine weitere Veränderung der elterlichen Kommunikation wird in den Befunden von Dale et al. (1996) deutlich. Obwohl gerade sprachgestörte Kinder Schwierigkeiten mit der Informationsverarbeitung haben und deshalb für die Konzeption ihrer sprachlichen Äußerungen mehr Zeit benötigen, warten ihre Eltern häufig nicht lange genug, um den Kindern damit genügend Zeit für die Formulierung zu lassen. Zudem erwies sich dieses Verhalten im Rahmen von sprachtherapeutischen Interventionsprogrammen als änderungsresistent. In den dargestellten Befunden wird deutlich, dass die von den Eltern intuitiv eingesetzten Strategien zur Förderung der kindlichen Sprachentwicklung aus Sorge um das Wohl des Kindes entgleisen können. Eine auf diese Weise beeinträchtigte Eltern-KindInteraktion und später auch -Beziehung stellt nach Howlin und Rutter (1987) eine von vier Erklärungsmöglichkeiten für die psycho-sozialen Auffälligkeiten dar, die sprachauffällige Kinder häufig ausbilden. Bei der Betrachtung der von Schwierigkeiten geprägten Entwicklungsverläufe sprachauffälliger Kinder kommt einer positiven Eltern-Kind-Beziehung eine besondere Bedeutung zu, da sie als ein zentraler Schutzfaktor gilt, der in belastenden Lebenssitua-

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tionen als Puffer wirken kann (Ziegenhain 2001). Eine positive Beziehungsgestaltung durch den Eltern-Kind-Dialog ist also eine Voraussetzung für die effektive Förderung der kindlichen Sprachentwicklung. Da sich unsere Sichtweise primär auf die sprach- und beziehungsförderlichen Ressourcen der Eltern konzentriert, stellen wir im folgenden Abschnitt dar, wie eine ressourcenorientierte Elternarbeit gestaltet werden kann.

■ Konsequenzen für die Beratungsarbeit mit Eltern sprachauffälliger Kinder Der Stellenwert von Elternarbeit ist in den sprachtherapeutischen Berufsgruppen Logopädie und Sprachheilpädagogik unbestritten, findet aber in der Praxis häufig keine Umsetzung. Dehnhardt und Ritterfeld (1998) erfuhren in einer Befragung, dass sich die sprachheilpädagogischen und logopädischen Therapeutinnen und Therapeuten den Anforderungen einer Elternarbeit nicht gewachsen sehen, da sie die Inhalte einer solchen Arbeit eher psychotherapeutisch definieren. Gefragt ist jedoch aus unserer Sicht keine Psychotherapie mit den Eltern, sondern genuine sprachtherapeutische Kompetenz. Hier kann das Marte-Meo-Konzept einen verbindenden Rahmen bieten, der Interventionen im Beratungskontext mit Eltern sprachauffälliger Kinder erweitert und Therapeuten den Zugang zur Elternarbeit erleichtert. Marte Meo als Modell bietet ein Instrumentarium für Eltern zur Gestaltung einer positiven ElternKind-Beziehung an und stellt daneben eine Anleitung für Sprachheilpädagogen und Logopädinnen zur Verfügung, wie eine positive Beziehung zwischen Therapeut und Eltern im Rahmen der Beratung gestaltet werden kann. Die Therapeutin ist Vertreterin einer konsequenten Sicht auf die Ressourcen der Eltern und Modell für die Gestaltung einer positiven Beratungsbeziehung. Die Ausführungen im folgenden Abschnitt möchten wir als Einladung an die Therapeutinnen und Therapeuten verstehen, die mit sprachauffälligen Kindern arbeiten, die sprach- und beziehungsförderlichen Kompetenzen der Eltern zum Bestandteil ihrer Elternarbeit zu ma-

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T. Mittler, J. Grobel, J. Berkenheide u. A. v. Schlippe · Elternkompetenzen 217

chen. Wir gehen davon aus, dass Eltern in unterschiedlichem Maß ein Potential an sprach- und beziehungsförderlichen Verhaltensweisen mitbringen und dass sie dementsprechend auch unterschiedliche beraterische Unterstützung benötigen. Unter »beziehungsförderlichem Elternverhalten« wird in erster Linie die Gestaltung eines guten Kontakts und einer positiven Eltern-Kind-Beziehung im Sinn von Marte Meo verstanden. Wichtiges Element einer positiven Beziehungsbasis und einer befriedigenden Kommunikation zwischen Eltern und Kindern ist »die Fähigkeit, die Initiativen von Kindern zu erkennen, ihnen zu folgen, den Empfang von Botschaften zu bestätigen sowie die eigenen Absichten, Ziele und Verhaltensweisen zu benennen« (Sirringhaus-Bünder et al. 2001, S. 114). Damit sind als grundlegende Fähigkeiten der Eltern zum einen die Wahrnehmung des Kindes, zum anderen die Wahrnehmung der eigenen Person benannt.

■ Die Wahrnehmung eigener Initiativen und der Initiativen des Kindes Fokussiert der Elternteil das Kind, so ermöglicht ihm das, die Initiativen des Kindes wahrzunehmen, also die Verhaltensweisen, mit denen es die Steuerung der Interaktionssituation übernimmt. Demnach ist die erste Frage in der Beobachtung der Eltern, inwieweit sie mit dem Kind in Kontakt sind. Sind sie beispielsweise aufmerksam für die Aktivitäten des Kindes und kommentieren sie diese in angemessener Tonlage? Eine weitere wichtige Beobachtungsaufgabe besteht in der Frage, inwieweit die Mutter selbst initiativ ist, also »die Situation mittels verbaler oder nonverbaler Mittel der Kommunikation entsprechend den eigenen Ideen zu gestalten versucht. Dabei kann es sich um Verhaltensimpulse oder Redebeiträge handeln, die einen neuen Aufmerksamkeitsfokus anregen oder einen zuvor vom Elternteil eingeführten Aufmerksamkeitsfokus weiter verfolgen« (Mittler et al. 2003, S. 2). In der Literatur wird beschrieben, dass die Herstellung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus von besonderer Bedeutung für den Prozess des Spracherwerbs ist (Grimm 2003; Ritterfeld 2000a). Daher ist es im Kontext von Spielsituationen wichtig, dass der Elternteil den

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Initiativen des Kindes folgt. Dementsprechend betrachten wir die Wahrnehmung der kindlichen Initiativen sowie die elterliche Bereitschaft, ihnen in Spielsituationen zu folgen, als grundlegendes sprach- und beziehungsförderliches Elternverhalten.

■ Besonderer Fokus auf den nonverbalen Initiativen des Kindes In Videoanalysen von Mutter-Kind-Interaktionen mit sprachauffälligen Kindern (Mittler, in Vorb.) konnten wir beobachten, dass die Kinder häufig nonverbale Initiativen zeigten (z. B. sich einem anderen Spielzeug zuwendeten). Im Gegensatz zu verbalen Initiativen sind sie leicht im Interaktionsablauf zu übersehen. So reagierten die Mütter eher auf die verbalen Initiativen der Kinder. Im Rahmen der Beratungsarbeit wäre daher der Fokus auch auf die nonverbalen Initiativen zu erweitern, da Kinder mit starken Einschränkungen der expressiven Sprachleistungen dazu tendieren, ihre Initiativen dezent, also vor allem nonverbal, zu zeigen.

■ Verhalten und Erleben des Kindes versprachlichen Im Zusammenhang mit diesen nonverbalen Initiativen des Kindes bekommt das »Versprachlichen von Verhalten und Erleben des Kindes« eine wichtige sprachförderliche Bedeutung. Hierunter verstehen wir, dass der Elternteil Handlungen oder Erleben des Kindes in Worte fasst. Das umfasst das Versprachlichen von Verhalten, Intentionen, Gefühlen und Erfahrungen des Kindes (Mittler et al. 2003). Der Elternteil gibt dem Kind durch seine verbale Botschaft zu verstehen, dass seine Initiative wahrgenommen wurde, und stellt ihm sprachliches Material zur Verfügung. Hier ist auch die elterliche Fähigkeit zur Empathie gefragt: sich in die Welt des Kindes einzufühlen, sie aus seiner Sicht zu sehen und zu verbalisieren. Gerade angesichts des Leistungsdrucks, unter dem die Eltern oft stehen (s. o.), ist es wichtig, sie hier zu unterstützen, eher begleitend das Verhalten und Erleben des Kindes sprachlich zu »umspielen«, anstatt sich auf die grammatikalische Korrektheit

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des kindlichen Ausdrucks zu konzentrieren. Dies kann für die betroffenen Eltern durchaus den Charakter einer »Erlaubnis« durch die Berater haben, die mit Erleichterung aufgenommen wird.

■ »Aktives Warten« Der nächste Punkt steht mit dem zuvor erwähnten Aspekt in engem Zusammenhang. In einer Untersuchung zu den Zusammenhängen von Selbstzugang der Eltern und sprach- und beziehungsförderlichem Elternverhalten (Mittler, in Vorb.) zeigte sich in Mutter-KindInteraktionsanalysen häufig ein großes Bemühen der Mütter, ihre Kinder zu sprachlichen Äußerungen zu bewegen (Fragen stellen, Aufforderungen Objekte zu benennen, hohe Initiativrate der Mutter). Die Kinder konnten diese Angebote nur teilweise nutzen, da die hohe Initiativrate der Mutter ihnen wenig oder keinen Platz ließ zu reagieren oder eigene Initiativen zu entwickeln. Erschwerend kommt für einen Großteil der sprachauffälligen Kinder hinzu, dass sie im Vergleich zu nicht sprachauffälligen Kindern mehr Zeit brauchen, ihre Antwort zu formulieren (Grimm 2003). Vor diesem Hintergrund ist einerseits das Bemühen der Mütter, die Sprachentwicklung ihres Kindes zu unterstützen, wertzuschätzen. Es steht als Potential zur Verfügung. Andererseits stellt sich die Frage der Dosierung des initiativen Interaktionsmusters. In diesem Zusammenhang ist die Fähigkeit des »aktiven Wartens« eine wichtige sprachund beziehungsförderliche Kompetenz. Sirringhaus-Bünder et al. (2001) beschreiben die Qualität des aktiven Wartens so: »Die aktive Haltung signalisiert Interesse und ist eine Einladung zum Reagieren. Sie schützt das Kind vor Überstimulation und hilft ihm, kohärent zu reagieren. Die Erfahrung des Kindes könnte sein: ›Jemand erwartet von mir, meine Erfahrung mitgeteilt zu bekommen. Er gibt mir Zeit zu reagieren, er denkt, meine Reaktion ist wichtig.‹ Auf diese Weise lernt das Kind auch, andere als wichtig zu erachten« (S. 109).

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■ Die eigene Person in den Blick nehmen Fokussiert der Erwachsene die eigene Person, also etwa im »Benennen eigener Absichten, Ziele und Verhaltensweisen« (Sirringhaus-Bünder et al. 2001), so stellt er damit ein »verbales Kontaktangebot« zur Verfügung, informiert das Kind über das, was kommen wird, und stellt Material zur Sprachanregung zur Verfügung. Ein weiteres Merkmal sprach- und beziehungsförderlicher Elternkompetenz ist das »Versprachlichen eigener Gefühle«, hier wird selektiv das eigene Befinden in Sprache gefasst. Beispielsweise könnte die Mutter beim gemeinsamen Mensch-ärgere-dich-nichtSpiel zu ihrem Kind sagen: »Ich habe eine Zwei gewürfelt. Oh, wie schade! Jetzt habe ich verloren.« Dieses Beispiel weist auf wesentliche Merkmale sprach- und beziehungsförderlicher Elternkompetenz hin: das Wahrnehmen und Versprachlichen eigenen Handelns und eigener Gefühle.

■ Die Nutzung der Außenperspektive: Videoaufnahmen Die Betrachtung ausgewählter Videosequenzen bietet den Eltern die Möglichkeit, eine Außenperspektive auf sich selber, das Kind und die Interaktion einzunehmen. Marte Meo folgt hier der phänomenologischen Sichtweise, das zu Benennen, was sichtbar ist. Eltern können dadurch lernen, Verhalten, Gefühle und Erfahrungen kindgemäß in Worte zu fassen. Bei der Interaktionsanalyse von Eltern und ihren sprachauffälligen Kindern können folgende Interaktionselemente betrachtet werden: – Wie ist das Verhältnis von Initiativen und Reaktionen bei Eltern und Kind? – Folgen die Eltern beim gemeinsamen Spiel den Initiativen des Kindes? – Wie beantworten die Eltern die Interaktionsbeiträge ihres Kindes? – Wann haben sich die Eltern sprachförderlich verhalten? Wo waren weitere Gelegenheiten, dem Kind sprachförderlich zu begegnen?

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Auf diese Weise kann die Achtsamkeit der Eltern sowohl für sich selbst als auch für ihr Kind gefördert werden. Achtsame Präsenz in der Interaktion mit dem Kind schafft damit die Voraussetzung für eine sprach- und beziehungsförderliche Eltern-Kind-Kommunikation. Natürlich sind die Möglichkeiten, die in der Videointeraktionsanalyse liegen, noch weit umfassender und differenzierter. Wir schlagen vor, die aufgelisteten Aspekte als einen ersten Ansatzpunkt zu nehmen, um den Mut aufzubringen, das Instrument Video einzusetzen. Im Folgenden stellen wir kurz ein Auswertungssystem vor, das eine solche feinere Analyse ermöglicht. Es baut auf einem von Meyer zu Gellenbeck (2003) entwickelten Konzept auf (siehe den Beitrag von Meyer zu Gellenbeck u. von Schlippe in diesem Band). Beide Auswertungssysteme sind Versuche, das komplexe Analysekonzept von Marte Meo kommunizierbar und für Praktiker leicht handhabbar zu machen.

■ ELKINA – Eltern-Kind-Interaktionsanalyse: Ein Auswertungssystem zur Erfassung sprachund beziehungsförderlichen Elternverhaltens Auf der Grundlage des erwähnten »Analyseinstruments für Marte Meo und weitere videogestützte Verfahren« von Meyer zu Gellenbeck (2003) entwickeln wir zurzeit das Beobachtungsinstrument »ELKINA – Eltern-Kind-Interaktionsanalyse« zur Analyse videografierter, dyadischer Eltern-Kind-Interaktionen. Es integriert wichtige Elemente des Marte-Meo-Konzepts sowie spezifische sprachförderliche Aspekte der Eltern-Kind-Kommunikation. Das Auswertungssystem dient der Erfassung sowohl sprach- als auch beziehungsförderlichen Elternverhaltens und orientiert sich damit an den Ressourcen der Eltern. Bei der Anwendung von ELKINA wird in einem ersten Schritt die Struktur der Interaktion erfasst, das heißt, dass die verschiedenen Interaktionsbeiträge von Elternteil und Kind in Initiativen oder Reaktionen eingeteilt werden. Nachdem der kontinuierliche Verhaltensstrom auf diese Weise in separate Einheiten gegliedert wurde, können diese im Anschluss inhaltlich

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analysiert werden. Die dafür zur Verfügung stehenden 20 Kategorien ermöglichen die Beschreibung sowohl verbalen als auch nonverbalen Verhaltens. Abbildung 1 zeigt den Aufbau und die Kategorien von ELKINA. ELKINA – Eltern-Kind-Interaktionsanalyse A Interaktionsbeitrag des Kindes A1 Initiative des Kindes A2 Reaktion auf Aktivität des Elternteils A3 nicht beurteilbar B Interaktionsbeitrag des Elternteils B1 Initiative des Elternteils B2 Reaktion auf Aktivität des Kindes C Art der Kindinteraktion C1 Verbal C1.1 Verbal korrekt C1.2 Verbal inkorrekt C1.3 Nicht beurteilbar C2 Nonverbal C2.1 Positiver Emotionsausdruck C2.2 Verhaltensausdruck D Art der Elterninteraktion D1 Verbal D1.1 Versprachlichen vom Verhalten/Erleben des Kindes D1.2 Wiederholung von Wörtern/Sätzen des Kindes D1.3 Korrektives Feedback D1.4 Sprachevozierende Frage D1.5 Versprachlichen situationaler Aspekte/Gefühle anderer D1.6 Versprachlichen eigenen Verhaltens/ eigener Überlegungen D1.7 Versprachlichen eigener Gefühle D1.8 Allgemein Verbal D2 Nonverbal D2.1 Erwünschtes Verhalten bestätigt D2.1.1 Verbal D2.1.2 Nonverbal D2.2 Verdeutlichendes Verhalten D2.3 Positiver Emotionsausdruck D2.4 Wahrnehmung erkennbar D2.5 Aktives Warten E Interaktion E1 Blickkontakt

Abbildung 1: Aufbau und Kategorien von ELKINA

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Ziel unserer Arbeit ist es, einen Beitrag zur wissenschaftlich fundierten Evaluation der Beratungsarbeit mit dem Marte-Meo-Konzept und der sprachheilpädagogisch-logopädischen Elternberatung zu leisten. Dabei eröffnet dieses integrative Instrument die Möglichkeit, das interaktive Geschehen unter dem Blickwinkel der als grundlegend für den Spracherwerb betrachteten Elemente der Beziehungsgestaltung zu analysieren. Eine Publikation des Instruments ist in Vorbereitung.

■ Schluss Es war unser Anliegen, deutlich zu machen, dass die Entstehung einer positiven Eltern-Kind-Beziehung und die Förderung der kindlichen Sprachentwicklung eng miteinander verbunden sind: Beziehungsförderung ist immer auch Sprachförderung. Daher ist es aus unserer Sicht wichtig, Eltern sprachauffälliger Kinder in der Gestaltung einer positiven Beziehung zu ihren Kindern zu unterstützen. Hier bietet der Marte-Meo-Ansatz eine gute Ergänzung zum sprachheilpädagogisch-logopädischen Interventionsrepertoire.

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Praxis-, Forschungsberichte und Anwendungsfelder von Marte Meo

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Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell?

Die Beiträge dieses Abschnitts widmen sich in unterschiedlicher Weise der Frage, welchen Platz Marte Meo in der modernen Beratungs-, Coaching- und Therapielandschaft einnimmt. Annegret Sirringhaus-Bünder diskutiert das Verhältnis zwischen videogestützter Beratung und systemischer Perspektive. In Fallbeispielen aus verschiedenen Beratungssettings zeigt sie, dass beide Ansätze in der praktischen Arbeit gut harmonieren, ja, dass die Marte-MeoArbeit der Konkretisierung mit Videoclips die systemische Arbeit hervorragend ergänzen kann. Mit dem Dilts’schen Modell der logischen Ebenen schlägt sie eine Heuristik vor, die es erlaubt, Marte Meo und systemischer Beratung einen je eigenen Platz im Bereich des Lernens und der menschlichen Entwicklung einzuräumen. Einer ähnlichen Frage geht abschließend Arist von Schlippe nach. Er untersucht das Verhältnis von psychoedukativen Ansätzen und systemischer Perspektive und diskutiert die Frage, wo sich Marte Meo in diesem Spannungsfeld einordnen lässt. Nach einer Charakterisierung beider Grundkonzepte stellt er heraus, dass sie sich zwar auf unterschiedlichen Ebenen bewegen, aber aus diesem Grund auch gut zusammenpassen. Die Ansätze müssen nicht konkurrieren, sie können einander – jenseits »ideologischer Streitigkeiten« – ergänzen und Möglichkeiten bieten, menschliche Entwicklungsprozesse zu unterstützen oder eben: Menschen zu coachen. Beide Ansätze lassen sich unter das Brecht’sche Postulat stellen: »Die Welt soll so dargestellt werden, dass sie veränderbar erscheint.«

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■ Annegret Sirringhaus-Bünder Marte Meo – videogestützte Beratung und systemische Perspektive

■ Einführung In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie ein zunächst eher psycho-edukatives Beratungsverfahren wie das Marte-Meo-Modell und ein systemisches Grundverständnis in Beratung und Therapie zusammenpassen. Dies möchte ich vor dem Hintergrund meiner Praxis als Ausbilderin für Marte Meo und für systemische Familienberatung diskutieren.

■ Das Marte-Meo-Modell Beratung nach Marte Meo hat zum Ziel, Eltern und Fachkräfte in helfenden Berufen darin zu unterstützen, ihre Kinder beziehungsweise Klienten besser zu fördern (Aarts 1996, 2000). Das Medium Video vermittelt durch die Aufnahmen von Alltagssituationen aus Familien oder sozialen Einrichtungen einen Einblick in das aktuelle Kommunikationsverhalten von Eltern und Fachkräften. Die Bilder zeigen, in welchen Situationen und auf welche Art und Weise sie das erreichen, was sie im Kontakt mit ihren Kindern oder Klienten erreichen möchten, und wo dies nicht der Fall ist. Jedes auch nur ansatzweise vorhandene förderliche Kommunikationsverhalten wird dabei als Ressource verstanden, die ausgebaut werden kann. Eltern und Fachkräfte sehen sich selbst im Kontakt mit ihren Kindern oder ihrer Klientel im Film, eine reale Alltagssituation wird aus einer Metaperspektive betrachtet. Dadurch wird eine »Ein-Sicht« in die Wirkung des eigenen Tuns ermöglicht, die offen macht für die Aufnahme gezielter Informati-

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onen über natürliche, entwicklungsfördernde Kommunikation (Øvreeide u. Hafstad 1996). Die Videobilder werden als Anlass genutzt, Eltern oder Fachkräften praktische Informationen zu geben. Diese sollen ihnen helfen, das von ihnen formulierte Ziel im Umgang mit ihren Kindern oder Klienten leichter zu erreichen und ihre Probleme durch ein effektiveres Kommunikationsverhalten zu lösen. Marte Meo kann so als ein »edukatives Verfahren« verstanden werden: Es lehrt Menschen, was sie tun müssen, um ihre Erziehungs- oder Betreuungsaufgaben besser zu erfüllen, die sich dabei ergebenden Probleme zu bewältigen und die angestrebten Ziele zu erreichen.

■ Systemische Therapie Systemisches Vorgehen in Beratung, Therapie und Supervision versteht sich heute überwiegend als systemisch-konstruktivistische Therapie (vgl. v. Schlippe u. Schweitzer 1996), in der man sich auf die »Kybernetik zweiter Ordnung« beruft. Systemische Therapeutinnen erkunden, wie ihr Gegenüber die eigene Welt sieht und beschreibt und welchen subjektiven Sinn ein Verhalten in einem spezifischen Kontext macht. Denken in kausalen Zusammenhängen, Etikettierungen oder diagnostische Festschreibungen werden aufgegeben zugunsten einer Beschreibung zirkulärer Prozesse. Es geht in der modernen systemischen Therapie darum, welche Art von Sinn über Sprache erzeugt wird. Probleme werden als sprachliche Ereignisse einer sozialen Gruppierung beschrieben, als eine Art »soziale Übereinkunft«, und als Therapeuten haben wir die Aufgabe, diese Beschreibungen auf eine möglichst konstruktive Weise vorzunehmen. Eine wesentliche Annahme dieser Form systemischen Arbeitens ist die »Nichtinstruierbarkeit« des Anderen und eine bedeutende therapeutische Haltung die Position des »Nichtwissens«. Probleme oder Schwierigkeiten von Menschen werden nicht auf ihre Ursachen hin untersucht, sondern zirkulär betrachtet. Es wird danach gefragt, wie sie Menschen miteinander verbinden, welche Weltsicht sie offenbaren, wenn sie geschildert werden, und welche sprachlichen Übereinkünfte oder Differenzen zwischen den Beteiligten sie signalisieren.

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■ Ein Widerspruch? Vordergründig lässt sich so zwischen dem Marte-Meo-Modell und einem systemisch-konstruktivistischen Verständnis ein deutlicher Unterschied erkennen, vielleicht auch ein Widerspruch: Marte Meo basiert auf einer genauen Interaktionsdiagnostik und geht von klar formulierten Bildern eines »guten Verhältnisses« zwischen Eltern und Kindern aus, die auf sehr respektvolle und ressourcenorientierte Weise den Eltern nahe gebracht werden. Das systemische Modell enthält sich jeglicher diagnostischer Festschreibung und versucht, wertneutral die verschiedenen Lebensentwürfe in menschlichen Systemen als Möglichkeit anzuerkennen, diese zwar zu »verstören«, doch nicht zielgerichtet zu verändern (vgl. hierzu den Beitrag von v. Schlippe in diesem Band). Eine Kernaussage meines Beitrags ist, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden Ansätzen dennoch nicht als Widerspruch oder Gegensatz erweisen muss. Vielmehr behaupte ich, dass sich Marte Meo und systemisches Verständnis vorteilhaft ergänzen können. Marte Meo kann systemisches Arbeiten bereichern. Denn da, wo Klienten ergänzend konkrete Informationen erhalten, um ihre Schwierigkeiten im kommunikativen Bereich zu bewältigen, kann das zu den Beschreibungen, die im System vorgenommen werden, einen Unterschied herstellen, der »einen Unterschied macht«. Und umgekehrt kann ein systemisches Verständnis Marte-MeoTherapeutinnen und -Therapeuten helfen, die Schwierigkeiten ihrer Klienten nicht isoliert, sondern in ihren weiteren sozialen Kontexten und darin als sprachlich konstruierte multiple Realitäten zu verstehen. Eine systemische Perspektive vergrößert somit die Qualität einer Marte-Meo-Beratung. Und wie gesagt kann ein MarteMeo-Blick die Wirksamkeit systemischer Beratungen erhöhen, wenn er dazu beiträgt, die Unsicherheiten von Beraterinnen oder Therapeuten abzubauen, wenn Klienten sich praktische und konkrete Informationen wünschen. Die konstruktive Verbindung beider Perspektiven soll an einigen ausgewählten Praxisbeispielen verdeutlicht werden.

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■ Systemische Perspektive im Marte-MeoBeratungsprozess ■ Erstes Fallbeispiel Während einer massiven Krise wurden alle fünf Kinder einer Familie in Heimen untergebracht, weil die Eltern nicht mehr in der Lage waren, eine Mindestversorgung sicherzustellen. Erschreckt über die Massivität ihrer Krise nutzten die Eltern zunächst das Angebot einer Paarberatung in einer Beratungsstelle. Sie erhielten Hilfe bei der Suche nach einer angemessen großen Wohnung und einer Arbeitsstelle zunächst für den Vater. Die Stabilisierung der Paarbeziehung erfolgte in dieser Phase parallel zur Stabilisierung des Kontextes, in dem die Eheleute lebten, sodass nach einem knappen Jahr über die Rückführung der Kinder nachgedacht werden konnte. Es wurde eine sozialpädagogische Familienhilfe inklusive des Angebots einer Marte-Meo-Beratung installiert, um die Eltern in diesem Prozess zu unterstützen. Kurz nacheinander kamen die vier jüngeren Kinder in die Familie zurück. Als Letzte sollte die älteste, die 13-jährige Tochter zurückkehren, die vor ihrer Heimunterbringung große Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernommen hatte. Wir entwickelten die Idee, dass die Eltern ein hinreichendes Kooperationsmodell miteinander wie auch mit ihren Helfern brauchen, um ihr Ziel erreichen zu können, sich wieder als Familie zusammenzufinden. Interaktions- und Umgangsformen müssen etabliert werden, die den Kindern Sicherheit und Orientierung bieten und den Eltern das Gefühl von Kompetenz. Wir gingen deshalb zweigleisig vor: – Erste Videofilme von gemeinsamen Mahlzeiten wurden aufgenommen, in denen die Eltern erkennbare Ansätze von Kooperation zeigten. Wir erarbeiteten mit ihnen in den Beratungsgesprächen (Reviews), wie sie sich in ihrer Zusammenarbeit noch klarer abstimmen und sich noch besser gegenseitig unterstützen könnten und wie sie die vorhandenen guten Ansätze auch auf andere Alltagssituationen ausweiten könnten. – In anderen Filmen, in denen jeweils ein Elternteil einem Kind bei den Hausaufgaben half, untersuchten wir, wie er dieses

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Kind unterstützte und welche individuellen Stärken in der Anleitung des Kindes deutlich wurden. Hier war es interessant und belebend für die Eltern darüber nachzudenken, wie sie von ihren unterschiedlichen Arten, ihren Kindern Anleitung zu geben, profitieren könnten. Aufgabe der Marte-Meo-Therapeutin war es dabei, kontinuierlich auf Momente hinzuarbeiten, in denen sich die Eltern über ihre Wahrnehmungen und Gefühle austauschen. Die Unterstützung eines solchen Austauschs soll den Eltern helfen, differenziertere, stabilere und damit befriedigendere Formen der Kooperation zu entwickeln.

■ Zweites Fallbeispiel Familie E. ist eine zusammengesetzte Familie. Frau E. war zeitlebens mit einer Fülle von Schwierigkeiten konfrontiert. Es gab psychische Erkrankungen von Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie. Sie war geschieden, auch der erste Ehemann war psychisch erkrankt. Der älteste Sohn Jochen (19) hatte nach einem Schulabbruch und heftigen Auseinandersetzungen die Familie verlassen. Er lebte in einem Apartment in der Nachbarschaft und suchte jetzt wieder den Kontakt zur Familie. Ihr zweiter Sohn Andreas (16) leidet unter einer angeborenen Herzerkrankung, die mehrere schwere Operationen notwendig gemacht hatte. Eine weitere Operation stand kurz bevor, als wir die erste Filmaufnahme machten. Der jüngste Sohn Helge (9) hatte Konzentrationsprobleme und nur wenig Freunde. Einen großen Teil ihrer persönlichen Probleme hatte Frau E. in einer Therapie erfolgreich bearbeitet. Inzwischen lebte sie mit einem neuen Partner zusammen und wollte nun ihr Familienleben neu organisieren. Sie bat um Hilfe, Grenzen in der Familie klarer zu ziehen, und berichtete über zunehmende Schwierigkeiten mit Helge, ihrem jüngsten Sohn. Im ersten Video wurde aufgenommen, wie die Mutter mit Helge und Andreas »Mensch-ärgere-dich-nicht« spielte. Folgende Aspekte fallen uns bei der Analyse des Films auf:

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– Die Mutter macht beiden Jungen positive Beziehungsangebote. Sie benennt, gibt Leitung und baut dem jüngeren Brücken. – Ihre Beziehungen zu den Söhnen sind emotional sehr unterschiedlich gefärbt. Der Kontakt zum mittleren Sohn, Andreas, wirkt leichter, selbstverständlicher und zeigt mehr Übereinstimmungen als die Beziehung zu Helge. – Die Beziehung der Brüder zueinander ist geprägt von einer deutlichen Überlegenheit des älteren Bruders gegenüber dem jüngeren. – Helge tut sich sehr schwer, wenn er im Spiel zu verlieren droht. Bei der Planung unserer Vorgehensweise in der Marte-Meo-Arbeit erwiesen sich systemische Fragen als äußerst nützlich, zum Beispiel: – Welche Bedeutung und Funktion haben die Erkrankung und die bevorstehende schwere Operation für die Beziehung zwischen der Mutter und Andreas? Hier ging es um die Frage, wie sich das Familiensystem um die bedrohliche Erkrankung herum organisiert und dem betroffenen Sohn eine besondere Position verschafft. – Was muss Helge tun, wenn er Aufmerksamkeit möchte? Welche üblichen Verhaltensmuster gibt es in der Familie, damit die anderen aufmerksam werden? – Zu welcher Position lädt die Mutter den neuen Partner in der Familie ein und welche Position nimmt er von sich aus ein? Wird sein »Von-außen-Kommen« von seiner Partnerin und den Jungen als Chance oder als Bedrohung gesehen? Wie organisiert sich die Familie neu um dieses dazugekommene Familienmitglied? Wie gehen die Söhne jeweils unterschiedlich mit ihren Loyalitätsbindungen zum leiblichen Vater um? – Wie war der bisherige Umgang mit Grenzen? Wurden sie eher von Problemen wie etwa Erkrankungen, von Bedürfnissen oder durch zu leistende Aufgaben definiert? Im Rahmen des Marte-Meo-Konzepts wurden diese systemischen Fragestellungen auch dadurch angegangen, dass Videos von unterschiedlichsten Interaktionssituationen aufgenommen wurden, sowohl zwischen Mutter und Söhnen, Stiefvater und Söhnen als auch der Brüder untereinander:

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– Helge, der jüngste Sohn, erhält Aufmerksamkeit durch die Mutter, wenn er zum Beispiel seine Hausaufgaben macht. – Helge und Andreas haben Gelegenheit, mit neuem Verhalten zu experimentieren, wenn sie gemeinsam den Mittwochabend verbringen. Das ist der Abend, den die Mutter und ihr neuer Partner für sich verbringen, um so um ihre Paarbeziehung eine positive, an ihren Bedürfnissen orientierte Grenze zu ziehen. Wenn Andreas und Helge an einem solchen Abend zum Beispiel miteinander kochen, haben beide Gelegenheit, ohne Aufsicht der Mutter zu kooperieren. – Nach der erfolgreichen Operation von Andreas wird an einer Normalisierung in der Familie gearbeitet in dem Sinn, dass beide Jungen Aufgaben im Familienalltag übernehmen sollen: In einer Familienkonferenz verhandeln Mutter und Söhne über die Erledigung von Aufgaben und über Regeln im Umgang mit Sachen. Der Partner der Mutter übernimmt dabei die Position eines Vermittlers, indem er humorvolle Rückmeldungen aus seiner relativen Außenperspektive gibt und das Verhalten der Jungen mit seinen eigenen Erfahrungen in diesem Alter vergleicht. In den Reviews beobachten die Mutter und ihr neuer Partner sehr genau das Verhalten der Söhne in den Filmen. Sie tauschen sich aus über ihre Einschätzungen von dem, was für die Jungen wichtig ist, und entwickeln Ideen. Sie sind interessiert an den Informationen, die ihnen die Marte-Meo-Therapeutin darüber anbietet, wie sie Helge altersgerechte Aufmerksamkeit geben und Andreas Gelegenheiten bieten können, Verantwortung für sich selbst und seinen Teil des Miteinanders in der Familie zu übernehmen. Ein weiteres Thema, das anhand eines Films von einer Mahlzeit mit der gesamten Familie besprochen wurde, war die Rolle, die der älteste Sohn in der Familie einnimmt. Konkret überlegten Frau E. und ihr Partner in den Reviews, wer wann was mit wem bereits zusammen tut, wie sich das auf die Beziehungen zueinander auswirkt und was davon ausgebaut werden könnte. Wir förderten die Diskussion mit Hinweisen auf die altersgerechten Bedürfnisse, die die Jungen in ihren Initiativen zeigen. Eine systemische Perspektive war in diesem Fall aus mehreren

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Gründen hilfreich. Zum Ersten, um die Verhaltensweisen der Mutter und der Jungen in ihren größeren sozialen, vor allem familiengeschichtlichen Zusammenhängen zu verstehen. Zum Zweiten bei der Planung und Strukturierung der Beratungssequenzen und zum Dritten für die Einordnung der vielfältigen Beziehungsinformationen, die die Filme boten. Auch bei der Aufgabe, eine neue Familienstruktur zu finden, in der die Rollen neu verteilt werden, war ein systemisches Grundverständnis nützlich und bereichernd. Für die Auswahl der Informationen über Entwicklungsbedürfnisse von Jungen im Alter von 9 und 16 Jahren, die wir an die Familie weitergaben, war wiederum Marte Meo sehr von Nutzen.

■ Marte-Meo-Kommunikationsprinzipien in einer systemischen Paar- und Familienberatung ■ Fallbeispiel Ein junges, nicht verheiratetes Paar, seit über zehn Jahren zusammen, meldet sich auf Empfehlung ihrer Einzeltherapeuten zur Paarberatung an. Die Frau war mit sechs Jahren von einem engen Freund der Familie sexuell missbraucht worden und hatte intensiv therapeutisch an diesem Trauma und dessen Folgen gearbeitet. Der Mann ist wegen Depressionen in psychotherapeutischer Einzelbehandlung; unter Stress verliert er zunehmend die Kontrolle über seinen Alkoholkonsum. Nach ihren Zielen für die Paarberatung gefragt, antwortet er: »Ich möchte mich wieder freuen, nach Hause zu kommen, möchte weniger Ängste haben und innerlich zur Ruhe kommen. Außerdem möchte ich ein besseres Gleichgewicht leben können zwischen Distanz und Nähe« (viele Konflikte drehten sich um sein »Klammern«). Sie gab an, lernen zu wollen, angstfreier in der Beziehung zu leben. Sie möchte »eine Mücke Mücke sein lassen, anstatt einen Elefanten daraus zu machen«, nicht mehr Mutter für ihn spielen, die Beziehung mehr genießen können, wieder sexuelle Kontakte haben und genießen können sowie mehr Grundvertrauen und Sicherheit in der Beziehung spüren.

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Da eine Schilderung des gesamten Beratungsverlaufs den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, möchte ich an dieser Stelle auf die Phase fokussieren, in der die Marte-Meo-Kommunikationsprinzipien eine Hilfe waren. Ausgangspunkt war eine Sitzung, in der beide darüber klagten, dass jeweils der oder die andere die eigenen Bedürfnisse nicht anerkenne und daher kein Raum vorhanden sei, diese Bedürfnisse auszuleben. Es stellte sich heraus, dass die Frau sich viel mehr ungestörte Zeit wünschte, um sich in ihrem Tagebuch schriftlich mit ihren Erinnerungen auseinander zu setzen. Dabei fühlte sie sich aber durch seine Fragen oder Bitten, ihm im Haus oder Garten zu helfen, ständig gestört. Der Mann liebte es dagegen, stundenlang im Garten zu arbeiten und lange Spaziergänge zu unternehmen. Sie bezeichnete das als exzessives und suchtartiges Verhalten und wertete es so ab. Außerdem sei es kaum möglich, ohne Konflikte einen Einkauf zu planen oder sich zu einigen, wer wann kocht oder andere Hausarbeiten erledigt. Auf die Frage, woran sie wechselseitig die Bedürfnisse oder Wünsche des Anderen erkennen, entstand eine erstaunte Pause. Dann folgten einige Beispiele für die Interpretation des jeweiligen Verhaltens des Anderen. Ich habe mich daraufhin in der Sitzung spontan entschieden, diesem Paar zu helfen, auch ohne Kamera und Videoaufnahmen füreinander einen Marte-Meo-Blick zu entwickeln. Das Paar lernte auf diese Weise, ein Vorhaben deutlich zu beginnen, seinen Ablauf zu strukturieren und es am Ende klar abzuschließen: – Initiativen: Mit welchen Initiativen, verbal oder paraverbal, zeigten die Partner sich gegenseitig ihre Bedürfnisse? Woran kann der Mann erkennen, was die Frau in diesem Augenblick möchte und umgekehrt? – Benennung und Bestätigung: Wie können sie lernen, sich gegenseitig zu bestätigen, dass diese Initiative wahrgenommen wurde, sie zu benennen und sich zu vergewissern, ob sie den Anderen richtig verstanden haben? – Vereinbarung: Schließlich galt es abzuklären, was benötigt wird, um dieses Bedürfnis umzusetzen oder Vereinbarungen zu treffen, wo und wie andere Dinge, die auch notwendig, geplant oder gewünscht waren, ihren Raum bekommen können.

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– Rückmeldung: In Bezug auf die Organisation der Hausarbeiten regte ich die beiden an, sich Rückmeldungen zu geben, was er aus ihrer Sicht gut und was sie aus seiner Sicht gut macht, um sich dann darüber auszutauschen, was jeder der beiden gern tut und welche Aufgaben gern liegen gelassen oder zum Zankapfel werden. Ziel war, eine Aufgabenverteilung auszuhandeln, die beide als fair empfinden. So präzise miteinander zu reden, war für die beiden eine neue Erfahrung. Bisher waren sie sehr geübt darin, tage- und nächtelang ihre Beziehung »grundsätzlich« zu diskutieren. Relativ schnell führte die neue Form der Kommunikation dazu, dass die »Mücke eine Mücke blieb« und auch »Elefanten im Gehege blieben«. Zunächst waren alle erfreut über dieses schöne Ergebnis, doch zeigte sich im weiteren Verlauf der Beratung, dass die alte Streit- und Diskussionsform aus systemischer Perspektive betrachtet durchaus ihre Vorteile gehabt hatte. Als nun weniger über den Alltag gestritten wurde, jeder mehr Gelegenheit für die Realisierung eigener Bedürfnisse hatte und sich stärker abgegrenzt erlebte von der Vergangenheit des Anderen, rückte unweigerlich die Frage nach Gemeinsamkeiten und Nähe in den Vordergrund. Es zeigte sich, dass diese Nähe nicht nur ersehnt, sondern auch gefürchtet wurde. Grundsatzdiskussionen waren daher ein vorzügliches Mittel, um den Abstand zwischen den beiden Partnern wieder zu vergrößern. So zeigt die Fallgeschichte, wie die Marte-Meo-Kommunikationsprinzipien hilfreich sein können, um der konkreten Alltagskommunikation des Paares neue Impulse zu geben, und wie dadurch gleichzeitig der Weg frei gemacht werden kann für die Bearbeitung von Problemen, die sich hinter den kommunikativen Schwierigkeiten verbergen.

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■ Ein weiterer Blick auf die Integration von Marte Meo und systemischem Arbeitsverständnis Es mag deutlich geworden sein, dass die beiden auf einer theoretischen Ebene gegensätzlich erscheinenden Beratungs- oder Therapieansätze sich in der Praxis gut ergänzen und gegenseitig bereichern können. Ich möchte versuchen, sie durch die so genannten logischen Ebenen von Robert Dilts noch deutlicher aufeinander zu beziehen. Dilts »Modell der logischen Ebenen« (1993) fußt auf den Bateson’schen »Lernkategorien«, die wiederum eine Anwendung der Theorie der logischen Typen von Whitehead und Russell auf Fragen der menschlichen Kommunikation darstellen. Das Modell eignet sich meines Erachtens sowohl als diagnostisches wie auch als Interventionsinstrument. Es unterscheidet sechs Ebenen, auf denen menschliche Entwicklung und damit auch menschliches Lernen erfolgt: Tabelle 1: Die logischen Ebenen (Dilts 1993) Spirituality (Spiritualität im Sinn von Zugehörigkeit)

Für wen tue ich das? Für was ist das gut?

Identity (Identität)

Wer bin ich?

Beliefs/Values (Überzeugungen/ Glaubensinhalte/Werte)

Warum tue ich das?

Capabilities (Fähigkeiten)

Wie macht man das?

Behavior (Verhalten)

Was genau muss ich tun?

Environment (Umwelt/Kontext)

Wo? Wann? In welchem Rahmen?

Der innere Aufbau der »logischen Ebenen« kann verkürzt dargestellt werden: Ein Kind wird in eine bestimmte soziale Umgebung hineingeboren. Sein Verhalten ist zunächst überwiegend von Reflexen auf Umweltreize gesteuert. Die Reaktionen seiner Umwelt auf sein Verhalten vermitteln ihm im Lauf der Zeit Erfahrungen und Vorstellungen von dem, was es kann oder nicht kann, tun oder nicht tun sollte. Eingeübte und verstärkte Verhaltensweisen entwickeln sich durch Training zu Fähigkeiten. Aus dem Erleben von Fähigkeiten und Unfähigkeiten entwickeln sich Überzeugungen, Glaubenssätze und Werte. Diese sind das Fundament für das Ge-

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Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell?

fühl der eigenen Identität, aus der wiederum Spiritualität im Sinn von Bewusstsein über Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen entstehen kann. Lernen und die gesamte psycho-physische Entwicklung können – legt man die Idee der logischen Ebenen zugrunde – als ein Prozess zunehmender Differenzierung von Verhalten und Bewusstsein auf diesen Ebenen verstanden werden. Die logischen Ebenen des Seins nach Dilts können als diagnostisches Instrument genutzt werden, wenn eine Fachkraft beispielsweise abklärt, auf welcher dieser Ebenen das Anliegen, die Fragen und Schwierigkeiten der Klienten angesiedelt sind. Die Unsicherheiten einer 17-jährigen Mutter im Umgang mit ihrem Säugling sind sicher leicht den Ebenen des Tuns, also des Verhaltens und der Fähigkeiten zuzuordnen, während es nahe liegt, zu überprüfen, ob die Empörung eines Elternteils über die Sichtweise des anderen zu einem bestimmten Erziehungsthema eher auf der Ebene des Glaubens und der Werte liegt. Eine unzureichende Wohnung ist zuerst eindeutig als ein Kontextproblem zu werten; sich beispielsweise selbst ausschließlich als Verlierer zu sehen, ist dagegen ein Identitätsproblem mit Auswirkungen auf den Bereich der Zugehörigkeit. Weiterhin kann gefragt werden, mit welcher Intervention oder beraterisch-therapeutischen Haltung man sich auf welcher dieser Ebenen bewegt. Dafür hat Dilts jeder Lern- und Entwicklungsebene ein nützliches Beraterverhalten zugeordnet: Tabelle 2: Beraten, Therapieren und Lehren auf den logischen Ebenen (Dilts 1993) Awakening (Aufwecken/Erwecken) Die Augen öffnen!

Spirituality (Spiritualität im Sinn von Zugehörigkeit) Für wen? Für was?

Sponsoring (Unterstützen/Fördern) Möglichkeiten des Selbstausdrucks schaffen!

Identity (Identität) Wer bin ich?

Mentoring (Begleiten) Motivation entwickeln und fördern!

Beliefs/Values (Überzeugungen/Glaubensinhalte/Werte) Warum tue ich das?

Teaching (Lehren/Unterrichten) Modelle anbieten!

Capabilities (Fähigkeiten) Wie macht man das?

Coaching (Trainieren/Üben) Anleitung geben!

Behavior (Verhalten) Was genau muss ich tun?

Guiding (Leiten/Führen) Betreuung!

Environment (Umwelt/Kontext) Wo? Wann? In welchem Rahmen?

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Lassen sich mit Hilfe dieses Rasters auch systemische Interventionen und die methodischen Schritte in einer videogestützten Marte-Meo-Beratung zuordnen? Betrachtet man typische systemische Interventionsformen wie beispielsweise das zirkuläre Fragen, Reframing, Skulpturtechniken oder narratives Vorgehen, zielen sie in der Regel darauf ab, eingeengte Sichtweisen zu verbreitern und Verhaltensänderungen durch Verflüssigung rigider Überzeugungen anzuregen. Damit bewegen sie sich meines Erachtens überwiegend auf den Ebenen des Glaubens, der Werte und der Überzeugungen sowie der Identität. Das ist mit der Annahme systemisch orientierter Beraterinnen und Therapeutinnen verbunden, dass sich Veränderungen auf diesen Ebenen auch auswirken mögen auf das Verhalten und die Fähigkeiten der Klienten, sodass sie ihr Leben befriedigender gestalten können. Systemische Interventionen zielen in der Regel darauf ab, den Klienten einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen, um ihnen so zu helfen, eine andere Sicht und damit eine andere Haltung zu ihren Schwierigkeiten und ihrem Leben einzunehmen, was dann – so die Hoffnung – in verändertes Verhalten mündet. Marte Meo dagegen setzt unmittelbar auf den Ebenen des Verhaltens und der Fähigkeiten an. Auf den Bildern wird gemeinsam betrachtet, was Menschen mit welcher Wirkung tun, wo sie mit ihrem Handeln eher mehr oder eher weniger von dem erreichen, was sie erreichen möchten. Im Review erhalten die Klienten ausgehend von konkreten Bildern gezielte Informationen, beispielsweise über die aktuellen Entwicklungsbedürfnisse ihres Kindes und woran man diese erkennen kann, beziehungsweise was sie als Eltern konkret tun können, um ihr Kind in diesen Punkten zu fördern. Als Anregung werden ihnen Bilder präsentiert, auf denen sie zumindest ansatzweise ein Erziehungsverhalten zeigen, mit dem sie die Entwicklung ihres Kindes zu diesen Aspekten unterstützen. So werden sie sich über die Filme selbst zum Modell. Das konkrete Erleben, bei allen Schwierigkeiten etwas sichtbar gut und richtig zu machen, stärkt das Gefühl der eigenen Kompetenz. Es vergrößert das Bewusstsein um das Repertoire der eigenen Fähigkeiten und verändert in kleinen Schritten negative oder einschränkende Überzeugungen bis hin zu einer positiver erlebten Identität: »Ich bin eine gute Mutter/ein guter Vater!« Ein bisheri-

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Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell?

ges Gefühl der Zugehörigkeit zur »Garde der Versager« lässt sich auf diesem Weg allmählich umwandeln: Eine realistische Einschätzung kann sich entwickeln, zum Beispiel ehrlich um die Kinder bemühte Eltern zu sein, die vieles richtig und einiges falsch machen. Wenn nun systemische Interventionen überwiegend auf den Ebenen der Überzeugungen/Werte und der Identität, Marte Meo auf den Ebenen der Fähigkeiten und des Verhaltens wirken, kann das zu einer größeren Klarheit über die Indikation für beide Vorgehensweisen führen. Systemisches Vorgehen scheint mir überall dort angebracht zu sein, wo es in erster Linie um die Veränderung der Überzeugungen und des Bewusstseins von Menschen geht und sie dadurch in die Lage versetzt werden, ihr Verhalten zum Positiven zu verändern. Wo Fähigkeiten im Sinn von Fertigkeiten zu erwerben sind, heißt es, sie konkret zu erlernen und zu trainieren. Daher verknüpft Dilts Modell Lernen und menschliche Entwicklung auf jeder dieser Ebenen mit einem bestimmten Beratungs-, Lehr- oder therapeutischen Verhalten: – Verhaltensänderungen bedürfen aus seiner Sicht der Übung und des Trainings, – Fähigkeiten können weiterentwickelt, unterrichtet und gelehrt werden durch positive Modelle, – Veränderungen oder Weiterentwicklung von Überzeugungen, Glaubenshaltungen und Werten können mit Hilfe von guter Begleitung im Sinn einer Motivationsförderung gelingen, – Identitätsbildung und -entwicklung benötigt einen Rahmen, in dem Selbstausdruck möglich ist, und – Spiritualität entsteht, wenn einem im übertragenen Sinn »die Augen geöffnet werden« für die größeren Zusammenhänge des Seins.

■ Schlussfolgerung Sowohl ein Handeln nach einem systemischen Verständnis der Kybernetik erster und zweiter Ordnung als auch die Marte-Meo-Methode nehmen ihren jeweils eigenen Platz auf den Ebenen des Ler-

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A. Sirringhaus-Bünder · Videogestützte Beratung

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nens und der menschlichen Entwicklung ein. Beide Ansätze haben daher auch auf dem weiten Feld von Beratung und Therapie ihren spezifischen Platz. Menschliche Entwicklung ist nicht statisch, sondern eine ständige Bewegung auf und zwischen den skizzierten Ebenen. Da sich Schwierigkeiten und Lernaufgaben ebenso zuordnen lassen wie angemessenes Beratungsverhalten, sollte es im wohlverstandenen Interesse von Klienten nahe liegen, dass Beratungs- und Therapiekonzepte, die auf bestimmten Ebenen gut greifen, von Konzepten ergänzt werden, die auf anderen Ebenen gute Wirkung zeigen. Nach meinen Erfahrungen trifft das ohne Einschränkungen auf die Verbindung von systemischem Ansatz und Marte Meo zu.

■ Literatur Aarts, M. (1996): Marte Meo Guide. Harderwijk. Aarts, M. (2000): Marte Meo Basic Manual. Harderwijk. Dilts, R. (1993): Die Veränderung von Glaubenssystemen. Paderborn. Øvreeide, H.; Hafstad, R. (1996): The Marte Meo Method and Developmental Supportive Dialogues. Harderwijk. Schlippe, A. v.; Schweitzer, J. (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen.

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■ Arist von Schlippe Psychoedukative Ansätze und systemische Perspektive1

■ Ein Spannungsfeld

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Das Marte-Meo-Modell bietet elaborierte Werkzeuge für die Arbeit mit Familien, insbesondere mit kleinen Kindern, es bietet Chancen, die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und besonders der modernen Säuglingsforschung in der Praxis umzusetzen – Felder, in denen die systemische Familientherapie bislang explizit nur wenig Konzepte entwickelt hat (vgl. Grabbe 2001; Loth 2001). Gleichzeitig gibt es aus systemischer Sicht viele Fragen: Kommt mit einer Entwicklungsperspektive auch die Normativität in die Familienarbeit zurück? Kann es so etwas geben wie die »gute«, die »richtige« Kommunikation, wo es doch Kernpunkt systemischer Erkenntnistheorie ist, dass es nicht möglich ist, Aussagen zu machen, die »objektiv« und »richtig« sind. Die Idee, dass es eine voraussetzungsfreie Wahrnehmung geben könnte, wird im systemischen Modell explizit abgelehnt, da in jede Aussage immer die Person des Beobachters mit einbezogen ist. Entsprechend deutlich betont die Systemische Therapie der Gegenwart eine Haltung des »Nichtwissens« als bedeutsame Grundlage des therapeutischen Vorgehens (z. B. Anderson u. Goolishian 1992). Und handelt demgegenüber die Marte-Meo-Therapeutin nicht aus einer Position des Wissens heraus? Aarts hat eine Fülle unterschiedlicher Checklisten entwickelt, die dem Therapeuten klare Anweisung geben für das, was noch nicht entwickelt wurde, was noch zu entwickeln ist (2002). 1 Überarbeitete Version eines Vortrags auf einer Fachtagung des Kölner Vereins für systemische Beratung 1999 in Köln: »Die Kraft der Bilder« – Marte Meo in der Praxis.

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Wie sinnvoll ist es also, Marte Meo als systemischen Ansatz zu bezeichnen, wie es auch in der Literatur gelegentlich geschieht (z. B. Hawellek 1995)? Passt der Begriff »psychoedukativ« nicht besser als Bezeichnung für ein pädagogisches Konzept, ein Programm, in dem Menschen Informationen erhalten, in dem sie darin unterwiesen, ja belehrt werden, mit ihrer Krankheit, mit ihrer Störung besser umzugehen? Andererseits lässt sich Marte Meo aber auch als Ansatz sehen, der es Mitgliedern sozialer Systeme ermöglicht, in eine Veränderung ihrer Interaktionsmuster einzutreten. Ist damit das Modell systemischen Konzepten wie etwa der »Musterunterbrechung« doch näher als einem psychoedukativen Ansatz? Seit ich von Marte Meo erstmals gehört hatte, bewegten sich diese Überlegungen in mir, ohne zu einem Abschluss gekommen zu sein, und so möchte ich die Kontroverse zwischen den so genannten psychoedukativen Ansätzen und der systemischen Perspektive zum Ausgangspunkt für meine Überlegungen nehmen, eine Kontroverse, die in der therapeutischen Arbeit mit Menschen entstand, die als schizophren beschrieben werden (Hahlweg et al. 1989; Retzer 1991). Je mehr ich mich in die diesbezügliche Literatur einlas, desto mehr erschien es mir, als gehe es um etwas ganz anderes, als bewegten sich Systemische Therapie, psychoedukative Modelle und Marte Meo qualitativ auf so unterschiedlichen Ebenen, dass es einem vorkommen kann, als sollten da Ananas essen, Skilaufen und Klavierspielen miteinander verglichen werden. So wird das Thema hier sicher nicht ohne Brüche abzuhandeln sein, doch soll die Kontroverse zwischen Systemischer und psychoedukativer Therapie zum Ausgangspunkt genommen werden für die Frage danach, was in Therapie und Beratung eigentlich passiert, welche Rolle die impliziten Botschaften spielen, die wir durch jede unserer Handlungen in einer Beratung vornehmen. Die Frage danach, was denn das »richtige« (oder richtigere) Vorgehen sei, zeigt sich als Scheingegensatz. »Alles ist möglich«, lautet aus meiner Sicht die Antwort, sofern darauf geachtet wird, dass die Implikationen unserer Handlungen »ökologisch verträglich« sind. »Tu, was du willst!« habe ich einmal als ethische Grundlinie für systemische Praxis formuliert (v. Schlippe 1995), in Anlehnung an den berühmten Satz aus der »Unendlichen Geschichte« von Michael Ende. Aus systemischer Sicht geht es nicht

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darum, das Richtige zu tun, sondern abzuschätzen, was die eigenen therapeutischen Handlungen in dem System und seinem Kontext, mit dem gearbeitet wird, anrichten. So gesehen können auch psychoedukative Interventionen systemisch eingesetzt werden – etwa wenn sie als Instrument der Veränderung eines Musters angesehen werden. Systemische Interventionen können unsystemisch eingesetzt werden, wenn zum Beispiel zirkuläre Fragen genutzt werden, um eine festschreibende Diagnose zu stellen. Und ich denke, auch Marte Meo kann »systemisch« oder »unsystemisch« genutzt werden. Diese Unterscheidung ist für mich sehr bedeutsam: »Systemisch« ist nicht ein Kanon von Werkzeugen, sondern eine bestimmte Perspektive auf therapeutische Interaktionen. Bertolt Brecht hat einmal gesagt: »Die Welt soll so dargestellt werden, dass sie veränderbar erscheint!« Ich meine, ein Vorgehen kann jeweils dann als systemischer als ein anderes beschrieben werden, wenn es den Blick für einen größeren Kontext freimacht, wenn es die Nichtlinearität der Dynamik in menschlichen Beziehungen beachtet – wenn also simple Ursache-Wirkungs-Zuschreibungen vermieden werden und wenn ein Raum von Beschreibungen eröffnet wird, in dem den Betroffenen nach der Intervention mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als vorher. Ein Beispiel: Wenn eine ambulante kinderpsychiatrische Untersuchung damit eröffnet wird, dass von dem Kind ein EEG abgenommen wird, dann ist diese Intervention als weniger systemisch anzusehen, als wenn der Arzt sich mit Mutter und Kind zum Gespräch zusammensetzt. Selbst wenn er dann kein systemisches Gespräch führt, ist doch der Rahmen größer, ermöglicht er einen größeren Spielraum von Beschreibungen als die implizit durch das EEG vermittelte Botschaft: Bei dir stimmt was im Kopf nicht.

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■ Die Rolle der Familie in der Verursachung psychischer Störungen ■ Ein Blick in die Geschichte Eine besondere Bedeutung für die Kontroverse zwischen dem systemischen und dem psychoedukativen Ansatz hatte die Frage nach der Rolle der Familie für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen. In klassischen Ansätzen der Psychotherapie wurde diese Rolle mehr oder weniger ignoriert. Der Blick war auf das Individuum gerichtet, Störung wurde individualisiert gesehen und Lösungen wurden auf der Ebene der Einzelperson gesucht. Die Familie, die Angehörigen – sie störten nur den therapeutischen Prozess. Mit der Entdeckung der »schizophrenogenen Mutter« wurde dann ein Schritt in Richtung auf eine systemischere Beschreibung getan, doch blieb diese noch ganz in den Beschreibungen linearer Kausalität gefangen. So wurde etwa über das »gestörte sexuelle Leben der Mütter« gesprochen, die »den Eindruck von sexuell nicht ausgereiften Frauen« machten (Stephanos 1979). Anscheinend verfügten sie über erotisch ausgereifte Männer, deren Sexualleben ungestört verlief (wie die das schafften, davon wird nichts berichtet). Väter galten damals einfach noch nicht als Teil des emotionalen Lebens der Familie und so richtete sich das Interesse auf die Mütter. Und auch als dann die Familie mehr in den Blick rückte, geschah dies noch lange mit der Idee, nun die Ursache für psychische Störungen endgültig gefunden zu haben. Aus diesem Grund stehen wir heute auch der Doppelbindungstheorie und der sich aus ihr ableitenden familientherapeutischen Praxis skeptisch gegenüber. Auch wenn sie einen Fortschritt in der Beschreibung chronischer psychischer Störungen darstellte, weil sie versuchte Schizophrenie als Kommunikationsform zu verstehen und sich aus der Klammer medizinischer Erklärungen zu lösen, so gab es doch zwei Probleme dabei. Zum einen, dass sie so verstanden wurde, als ob Schizophrenie von der Familie – und dabei ganz besonders von der Mutter – verursacht wurde. Zum anderen, dass die Versuche, den Ballast individuumsbezogener Theorien abzuschütteln, zu einer »Radikalisierung der Interaktionsperspektive« führten (Levold 1997). Man trennte sich von allen Perspektiven,

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die mit persönlichen Motiven, inneren Prozessen und vor allem mit entwicklungsbezogenem Denken zu tun hatten. Das alles war »altes Paradigma«, wertlos, wie Jay Haley feststellte. Wer versuchte, dieses Denken mit einzubeziehen, wie etwa Virginia Satir, stand eher abseits vom familientherapeutischen Mainstream und wurde vielfach abgewertet. Dabei ging es in Satirs Therapiesitzungen oft hoch her. Sie baute mit Hilfe von Stufen, Schnüren, Körperhaltungen und Skulpturen komplexe Szenarien und zeitliche Abfolgen auf, die das Ziel verfolgten, Menschen auf mehreren Ebenen »über Kopf und Bauch« zu erreichen (z. B. Satir 1990). All das tat sie auf einer persönlichen »sicheren Basis«, die sie dadurch herstellte, dass sie mit jedem einzelnen Gesprächspartner eine herzliche Verbindung aufbaute, heute würde man von »affektiver Abstimmung« sprechen. Doch, wie gesagt, der familientherapeutische Mainstream ging in eine andere Richtung. Die Familientherapie gerade der Schizophrenie erlebte in den USA eine Blütezeit, auf die wir heute skeptisch blicken. Heute könnten wir vielleicht sagen: Familientherapie wurde auf eine wenig systemische Weise eingesetzt: Die Familie musste verändert werden. Wenn sich nur die Eltern miteinander auseinander setzten, anstatt ihren verdeckten Paarkonflikt auf das schizophrene Kind umzuleiten, wenn das Kind aufhören würde, sich einzumischen, wenn es sich wie das Kind benähme, dann würde die Störung verschwinden. Es gab ein Bild davon, wie eine »gute« Familie ist, wie sie aussieht. Wehe, wenn sich die Eltern nicht wie Eltern benahmen, die Kinder nicht wie Kinder: Eltern sollten ihre Rolle ausfüllen, Kinder sollten sich wie Kinder verhalten, also in einem Kontext ungleich verteilter Macht verhandeln lernen. Minuchin etwa liebte es, Muster in der Familie, die er als dysfunktional erkannt hatte, frontal anzugreifen. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem er eine Mutter, die sich seiner Meinung nach ihren halbwüchsigen Kindern gegenüber zu wenig durchsetzte, fragte: »How did you manage to create these monsters?« und später eiskalt und schneidend zu der 14-jährigen Tochter sagte: »I don’t talk with you, because I don’t talk with disrespectful people.« Heute betrachten wir in der Systemischen Therapie die unterschiedlichen Formen, wie Menschen sich entscheiden, ihr soziales Leben zu organisieren, viel entspannter und sehen unsere Aufgabe

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eher darin, diesen Entscheidungsprozess zu moderieren. Besonders kritisch sehen wir heute auf familientherapeutische Rituale, in denen die Therapeuten einen fast hohepriesterlichen Status bekamen. Sie verschwanden im Nebenzimmer und berieten sich mit ihren – der Familie manchmal sogar völlig unbekannten – Mitpriestern, um dann eine orakelhafte, für die Familie oft unverständliche Botschaft auszusprechen und sie nach Hause zu schicken; Botschaften, die den Charakter von »kommunikativen Bomben« hatten mit dem Ziel, die gewohnten Abläufe zu sprengen, unmöglich zu machen. Abgesehen davon, dass in diesen Experimenten natürlich auch gute Erfahrungen möglich wurden, kam es doch auch zu vielen impliziten und expliziten Verletzungen von Familienmitgliedern. Sie sahen sich in die Sündenbockrolle gestellt oder als die »eigentlich Kranken« etikettiert, eine Entwicklung, die schließlich dahinein mündete, dass Selbsthilfevereinigungen in den USA offen gegen Familientherapie polemisierten. 1988 fragte der bekannte amerikanische Familienforscher und Therapeut Lyman Wynne in einem Artikel skeptisch: »Family therapists and families: Can they really work together?«

■ Kausalität und menschliche Erkenntnis Heimlich schlich sich in das familientherapeutische Denken ein, die Familie sei die Ursache von Störung. Ich kenne das sehr zwingende Gefühl bei mir selbst, wenn ich ein Muster in einer Familie beobachte, dieses dann mit kausalen Beschreibungen zu belegen: Kein Wunder, dass das Kind so ist, bei der Mutter! Ich glaube heute, dass es das zentrale Problem in der Auseinandersetzung in psychosozialen Arbeitsfeldern ist, dass wir kausale Beschreibungen in Lebensbereichen verwenden, in denen es um Sinn geht, also in unserer seelischen und sozialen Lebenswelt. Ich möchte hierzu einen kurzen Exkurs machen und etwas über menschliche Erkenntnis und das Konzept der Kausalität sagen. Ein wesentlicher Akzent, den die Systemische Therapie in die wissenschaftliche Diskussion (wieder neu) eingebracht hat, ist die gestiegene Sensibilität dafür, dass eine voraussetzungsfreie Wahrnehmung nicht möglich ist, dass daher unsere Wahrnehmungen,

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unser Denken und Handeln nicht »objektiv«, nie »richtig« sein können. Immer ist unsere Wahrnehmung bestimmt von Annahmen, Prämissen darüber, wie die Wirklichkeit ist: Die Frage bestimmt die Antwort. Ja, man kann vielleicht sogar sagen, dass das die Kernaussage ist, auf die sich die theoretischen Diskussionen der letzten Jahre in diesem Feld reduzieren lassen: Wir können »Wirklichkeit« gar nicht »erkennen«, vielmehr gehen wir immer schon aktiv, mit Vermutungen und Hypothesen an diese Wirklichkeit heran und gestalten damit die Ordnungen selbst – beziehungsweise im Dialog mit anderen –, die wir in den Dingen zu sehen glauben. So schreibt Kriz: »Für den Menschen ist unendliche Komplexität offenbar so bedrohlich, dass evolutionäre Prozesse faktisch vom ersten Lebenstag an greifen, um die Prozesse der erfahrbaren Welt nach möglichen ›Regelmäßigkeiten‹ abzusuchen« (1997). Ohne solche Annahmen würden wir wahrscheinlich nicht überleben können. Und es kann eine voraussetzungsfreie Wahrnehmung schon allein deshalb nicht geben, weil jeder, von dem wir sie lernen könnten, sie uns nur wieder auf der Grundlage seiner eigenen Voraussetzungen vermitteln könnte. Das, was wir gewöhnt sind, als objektive Wirklichkeit außerhalb von uns wahrzunehmen, stellt eine aktive Strukturierungsleistung von uns selbst dar. In anderen Worten: »Bei unserer Wahrnehmung der Welt vergessen wir alles, was wir dazu beigetragen haben, sie in dieser Weise wahrzunehmen« (Varela 1981, S. 306). Die Art und Weise, wie wir Wirklichkeit, Konzepte über die Wirklichkeit entwickeln, hat nun nicht nur mit uns persönlich, unserem Geschmack, unseren Vorlieben zu tun. Die Regeln, denen unser Denken folgt, nennt der Biologe Riedl »unsere angeborenen Lehrmeister« (1981). Er sieht die Tendenz zur Aufstellung von Ordnungen und vor allem die Tendenz zum Herstellen von Kausalbeziehungen als ein angeborenes Erkenntnisschema an. Es ist im Umgang mit einer mittelmäßig komplex strukturierten Umwelt funktional: Wer Licht haben möchte und auf einen Schalter drückt, hat mit Hilfe des Kausalitätsdenkens ein funktionales Ergebnis erzielt. Für die Steuerung hochkomplexer Systeme jedoch kann es fatale Folgen haben, diese angeborenen Lehrmeister unreflektiert als Erkenntnisinstrument zu nutzen (etwa die eigene

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Hochrüstung damit zu begründen, dass der andere auch hochrüste und so weiter). Kausalität ist nach Riedl ein solches angeborenes Schema. Für ihn ist es eindeutig: Kausalität existiert nicht »da draußen«, sondern in unserem Kopf, als ein uns von unserer biologischen Organisation her vorgegebener Versuch, die Komplexität der Welt zu strukturieren, zu ordnen, zu sortieren. Riedl bezieht sich übrigens interessanterweise auf den schottischen Philosophen David Hume, der schon 1739 die Hypothese aufstellte, Kausalität sei vielleicht gar nicht in der Natur enthalten, sondern »ein Bedürfnis der Seele«, ähnliche Gedanken finden sich bei Kant. Der Anthropologe Forrester folgert aus diesen Überlegungen, »der menschliche Verstand (sei) nicht geeignet, menschliche Sozialsysteme zu verstehen« (zit. nach Riedl 1981). So sehr also die Double-Bind-Theorie ein Versuch war, systemischer zu denken, so sehr verfing sie sich doch in dem »angeborenen Lehrmeister« der Kausalität.

■ Der psychoedukative Ansatz Teils unabhängig von der Familientherapie der Schizophrenie, teils auch in Abgrenzung dazu entstand der verhaltenstherapeutisch ausgerichtete so genannte psychoedukative Ansatz. Aufbauend auf einem biologischen Krankheitskonzept psychiatrischer Erkrankungen, wurde die Rolle der Familie in einer bestimmten Weise gesehen. Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Überlegungen wird deutlich: Der angeborene Lehrmeister Kausalität ist zufrieden, die Krankheit ist endogen verursacht. Die Familie hat demnach an der Verursachung eindeutig keinen Anteil, doch hängt der Verlauf von dem Ausmaß ab, in dem die Familienangehörigen negative Affekte gegen den Kranken äußern. Ein hohes Ausmaß an kritisch-abwertenden Äußerungen gilt als ein spezifischer Risikofaktor für eine negative Chronifizierung der Krankheit. Aus heutiger systemischer Sicht wird die klassische Familientherapie der 1960er bis hinein in die 1980er Jahre heute wie gesagt kritisch betrachtet. Die implizit darin versteckten Konzepte von Macht, Stabilisierung herkömmlicher Geschlechterrollen und eben von der impliziten Kausalzuschreibung an die Familie als Verursa-

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cherin von seelischer Krankheit erscheinen uns heute problematisch. Doch ist der Weg der Psychoedukation ebenfalls mit großen Bedenken zu sehen, ist er doch »Lösung und Problem« zugleich (Hunter et al. 1988). Zu viele bereits überwunden geglaubte Prämissen fließen wieder in das Konzept ein. Der Friede für die Angehörigen wird für einen hohen Preis erkauft, nämlich mit einer Verfestigung der Rolle des Kranken: Er ist das Problem, die Angehörigen müssen lernen, sich mit ihm zu arrangieren, ihn »zu behandeln«, mit ihm anders umzugehen, das Stressniveau in der Familie zu senken und so weiter. Auf diese Weise, so die Kritik, werde eine Scheinharmonie in der Familie für den Preis einer Chronifizierung erkauft, die zwar weniger negativ verlaufe, doch die Chance vergebe, dass alle Betroffenen, sei es der offiziell »Kranke«, seien es die offiziell »Gesunden«, sich als Beteiligte an einem bestimmten Familienmuster sehen und ihre Möglichkeiten gemeinsam steigern können, kreative, neue Muster zu entwickeln, in denen Krankheit kein Thema mehr ist. Die Lösung des psychoedukativen Ansatzes bleibt in der Falle der Kausalität verhaftet. Und mit dem Denken in Kausalitätszusammenhängen geht als »Schwester« das Denken in Defiziten und Störungen einher. Liegt es an der Familie, dann ist sie nicht in Ordnung. Liegt es am Kranken, dann ist er nicht in Ordnung, ein Opfer zwar, doch seine angeborene Vulnerabilität ist das Defizit, das ihn dahin gebracht hat, wo er oder sie nun steht. Aus systemischer Sicht ist das eine Beschreibung, die die Möglichkeiten des Betroffenen massiver begrenzt als nötig. »Krank« ist beispielsweise eine Beschreibung, an die sich nur wenig konstruktiver neuer Sinn anknüpfen kann. Und »Sinn« ist ein Schlüsselwort für den systemischen Ansatz der Gegenwart.

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■ Systemische Therapie: Arbeit auf der Ebene von Sinn In den 1980er Jahren kam es in der systemischen Diskussion zu einer Abgrenzung gegen die klassischen familientherapeutischen Konzeptionen. Es kam zu einer Wiederentdeckung der Relevanz subjektiver Bedeutungsgebungsprozesse. An die Stelle des Interesses für kommunikative Verhaltenssequenzen im System rückte die Beschäftigung mit der Sprache, mit Geschichten. Es ging – und geht – in der modernen Systemischen Therapie darum, welche Art von Sinn über Sprache erzeugt wird. Probleme werden als sprachliche Ereignisse einer sozialen Gruppierung beschrieben, als eine Art »soziale Übereinkunft«, und als Therapeuten haben wir die Aufgabe, diese Beschreibungen auf eine möglichst konstruktive Weise vorzunehmen. Die Welt ist nicht, was sie ist; sie ist, wie wir sie beschreiben. Wir tragen dafür die Verantwortung, ob wir sie auf eine Weise beschreiben, die die Möglichkeiten von uns und anderen, sich darin zu bewegen, eingrenzt oder nicht. Therapie bedeutet, sich in die Beschreibungen von Klienten in ihren Systemen einzuklinken und in diese Beschreibungen, in diese Beschreibungsmuster neue Elemente einzuführen. Wichtig ist dabei zu sehen, dass wir mit jeder Handlung, mit jeder Intervention, die wir vornehmen, ein Angebot vornehmen, die Welt auf eine bestimmte Weise zu sehen. Ich möchte das am Beispiel der zirkulären Fragen illustrieren, denn gerade an ihnen zeigt sich, dass sie nicht einfach Instrumente zur Erhebung von Information sind. Vielmehr stellen sie Angebote dar, Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise zu beschreiben. Nehmen wir eine Klage, mit der eine Mutter in eine Beratung kommt: »Mein Kind ist böse!« Hier bieten sich viele mögliche Fragen an, die nur scheinbar offen sind, denn in jeder Frage steckt eine Fülle von Implikationen, die mit der Antwort auf der Sachebene gleich mit bestätigt werden: Beispiel 1: »Seit wann ist Ihr Kind so böse?« – »Etwa seit es in die Schule kam!« Dieser nur scheinbar harmlose Austausch zeigt sich auf der Ebene der Implikationen als sehr pointierte Verhandlung von Wirklichkeitsbeschreibungen:

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– das beklagte Problem ist so wie von der Mutter beschrieben, – es liegt im Kind im Sinn einer Eigenschaft, – diese Eigenschaft hat zu irgendeiner Zeit begonnen, hat also wahrscheinlich eine Ursache. Beispiel 2: Mit der Frage: »Was tut Ihr Sohn, was Sie böse nennen?« wird eine neue Beschreibung angeboten: Böse ist ein »Verhalten«, und zwar ein von jemandem benanntes Verhalten, und nicht eine Eigenschaft, die jenseits jeder Beschreibung existiert. Ich denke übrigens, dass diese Form der Dekonstruktion von festschreibenden »Eigenschaften« in bewegliche Beschreibungen von beobachtbarem Verhalten in konkreten Situationen ein wesentliches Element der Marte-Meo-Arbeit ist. Wenn nun weiter gefragt wird: »Wann zeigt Ihr Junge dieses Verhalten?«, dann wird die Eigenschaftsbeschreibung weiter dekonstruiert: Das Verhalten taucht eventuell nur zu bestimmten Zeiten auf. In ihrer Antwort könnte die Mutter dieses Angebot leicht zurückweisen: »Mein Sohn benimmt sich ständig so!«, und doch ist sie auf der Ebene der Wirklichkeitsbeschreibungen bereits ein wenig vom Konzept der Eigenschaft abgerückt. Sie könnte aber auch sagen: »Er ist ständig böse!« und damit alle Angebote verwerfen. Weiter wäre es möglich zu fragen: »War das eher vor oder nach dem Tod der Großmutter, dass Ihr Sohn entschieden hat, sich öfter ›böse‹ zu verhalten?« oder: »Wer in der Familie regt sich darüber am meisten auf?« (Angebot: »böse« ist eine Form von Entscheidung des Sohnes – für die gibt es Gründe und Hintergründe – und diese Entscheidung steht im Zusammenhang mit Beziehungen, und in diesen Beziehungen gibt es Differenzierungen); »Angenommen, Ihr Sohn würde sich entscheiden, sich weniger ›böse‹ zu zeigen, würden Sie und Ihr Mann dann weniger oder mehr streiten?« (Angebot: »böse« ist nicht nur eine Entscheidung, sondern auch veränderbar; und es steht vielleicht mit der Beziehung der Eltern im Zusammenhang); »Wenn ich Sie bitten würde, jetzt Ihren Sohn dazu zu bringen, dass er sich ›böse‹ verhält, wüssten Sie, wie Sie das machen könnten?« (Angebot: Es gibt für »böse« bestimmte Kontextbedingungen, und diese liegen zumindest teilweise auch in der Hand einer Bezugsperson).

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In jedem Fall können die in den Fragen implizit enthaltenen Angebote von der Mutter leicht und ohne Gesichtsverlust abgelehnt werden (anders als etwa eine Deutung oder Interpretation). Es ist ein wichtiger Bestandteil des Therapieprozesses, kreativ so lange zu suchen, bis ein Angebot gefunden wurde, das als sinnvolle Änderung in die Landkarte der Familie integriert werden kann. Die Leichtigkeit, mit der die Mutter die Implikationen ablehnen kann, schützt vor Blockierung durch zu starke Widerstände. Sie muss nicht widersprechen. Sie gibt lediglich eine Antwort auf eine Frage. So entsteht, wenn die Therapie idealtypisch verläuft, ein lebendiges Bild, in dem mit spielerischer Leichtigkeit im Prinzip von Versuch und Irrtum nach neuen Beschreibungen gesucht wird. Mit dieser Form prozessualer Diagnostik lässt sich jede Verhaltensweise als Intervention ansehen (analog zu dem Axiom, dass es nicht möglich ist, nicht zu kommunizieren) und auf ihre Implikationen hin überprüfen. Mit jedem therapeutischen Verhalten wird implizit komplexe Information vermittelt, ein Aspekt, der in der Praxis oft nicht zur Kenntnis genommen wird. Ich verweise auf das Beispiel, das ich eingangs erwähnte: Was bedeutet es für ein Kind, bei einer kinderpsychiatrischen Untersuchung zuerst zum EEG geführt zu werden? Welche Wirklichkeitsbeschreibung, welche Definition des Problems wird damit vermittelt? In therapeutischen Gesprächen wird über Sinn gesprochen, über Wirklichkeitskonstruktionen – und zwar nicht über irgendwelche, sondern über bedeutsame Aspekte des persönlichen Erlebens, persönlicher Möglichkeiten sowie über Erfahrungen und Beziehungen. Therapie kann somit als »engagierter Austausch von Wirklichkeitsdefinitionen« beschrieben werden. Mit jeder therapeutischen Intervention wird ein Angebot gemacht, das vom Klientensystem angenommen, abgelehnt oder ignoriert werden kann (v. Schlippe et al. 1998). Das gilt natürlich auch umgekehrt: Jede Klientenaussage stellt ihrerseits ein Angebot an den Therapeuten dar, die Wirklichkeit zu beschreiben. Und wenn vom Klientensystem überzeugend genug vermittelt wurde, dass es »keinen anderen Ausweg als …« (z. B. Heimeinweisung, Scheidung, Chronifizierung usw.) gibt, dann erleben sich Therapeuten gemeinsam mit den Rat Suchenden in der Sackgasse. Eine solche Perspektive ermöglicht einen spezifischen diagnostischen Zugang auf der Mi-

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Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell?

kroebene des Therapieprozesses: Jede therapeutische Interaktion kann daraufhin untersucht werden, ob die ausgetauschten Beschreibungen für das Rat suchende System mehr Optionen bereitstellen als bisher. Halten wir fest: Systemische Therapie der Gegenwart bewegt sich auf der Ebene von Sinn, wie er in sozialen Systemen erzeugt und weitergegeben wird. Hierbei wird versucht, statt in Begriffen von Kausalität eher in Mustern zu denken, statt in Begriffen von Intervention eher in Begriffen eines engagierten Austauschs von Wirklichkeitsbeschreibungen.

■ Die Arbeit auf der Ebene der Mikroereignisse Eine persönliche Geschichte: Je älter unsere Kinder werden, desto schwieriger wird es, ein gemeinsames Familienabendbrot zustande zu bringen, abgesehen davon, dass sowohl Vater als auch Mutter zu der Zeit oft noch tätig sind. Kürzlich war wieder so ein Abend. Ich kam ins Wohnzimmer, mein elfjähriger Sohn sah fern. Ich fragte ihn, ob er etwas zu Essen haben möchte. »Nein, Danke, mir geht es nicht so besonders.« Es lief gerade seine Lieblingssendung. »Was gibt’s denn?« fragte er noch und als er hörte, es gebe nur »normal«, also Brot und Aufschnitt, nicht »super«, also etwa Pizza, verzog er das Gesicht, er habe keinen Hunger. Meine Frau und ich aßen zu Abend, nicht ohne ihn noch einmal eingeladen zu haben. Danach musste sie noch in eine Abendsitzung, ich räumte die Küche auf. Mein Sohn kommt rein: »Was soll ich denn essen?« Ich: »Du hast doch gesagt, du willst nichts!« – »Nein, stimmt nicht, ich wollte nur kein Brot, ich will mir Spaghetti machen!« – »Nein, das gibt’s jetzt nicht! Das hättest du eher sagen müssen, jetzt habe ich die Küche aufgeräumt!« Sofort beginnt er zu weinen: »Immer verbietest du mir alles!« Ich rege mich auf: »Also hör mal, ich habe dich zweimal gefragt, ich hätte dir doch sogar noch ein Brot gemacht, wenn du das gesagt hättest!« Er dreht sich weg, krampft sich zusammen: »Immer schreist du

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mich an, hier wird man nur angemotzt in dieser Familie, ich mache nichts richtig!« Für mich als Vater eine zwiespältige Situation: Ich bin wütend, fühle mich missverstanden; finde auch, dass er sich da in etwas hineinsteigert, hysterisch ist. Gleichzeitig sehe ich als Psychologe, dass er in seiner Sinnwelt, in seinem Erleben offensichtlich leidet, dass wir in einer Schleife geeichter Kommunikation gefangen sind. Und da ich mir vorgenommen habe, nicht immer so schnell hochzugehen wie eine Rakete, sage ich: »Nun komm, ich motze dich doch gar nicht an, ich habe nur keine Lust, dass nachher hier wieder alles rumsteht!« »Doch, du motzt mich wohl an, wie du mich schon anguckst, immer machst du so ein beleidigtes Gesicht!« »Komm, mein Sohn, du weißt, dass wir beide uns schnell aufregen, da sind wir uns wohl ziemlich ähnlich. Jetzt will ich dich aber gar nicht aufregen. Was hältst du davon, dass wir uns jetzt vertragen und dann mal in Ruhe verhandeln, wie wir das mit dem Essen machen?« Er geht auf meine Geste ein, wir klatschen einmal die offenen Hände aneinander und dann ist Frieden. Wir verhandeln, dass er sich Spaghetti macht, aber danach die Küche picobello aufräumt, was er auch tut, und der Konflikt ist aus der Welt. Zurück bleibt ein Gefühl, das Problem zwar gelöst, doch nur zum Teil verstanden zu haben. Ich habe mich in der Lösung ganz auf der Ebene des Sinns bewegt, habe darauf geachtet, wie er Sinn erzeugte, und versucht, diesen zu verändern – von »Immer werde ich angemotzt« zu »Wir regen uns beide schnell auf und wir können uns auch beide schnell vertragen«. Gleichzeitig war mir bewusst, dass eine andere Ebene aktiv war, nämlich die der Mikroereignisse, Bewegungen meiner Augenbrauen, Zusammenziehen seines Gesichts, all diese kleinen Auslöser, die uns so schnell in die so genannten geeichten Kommunikationsschleifen hineinkatapultieren. Ich hätte mir gewünscht, eine Marte-Meo-Therapeutin in der Situation zu haben – mit Video versteht sich –, die mir diese Ebene hätte verdeutlichen können. Und es gibt auch noch die Ebene der Beschreibungen, wie ich sie früher gehört hätte und auch heute noch höre, zum Beispiel von vielen Eltern: »Na, hat der kleine Tyrann seinen Willen mal wieder durchgesetzt?« – denn schließlich hatte er eine erfolgreiche Strategie, seine Spaghetti zu bekommen.

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Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell?

Die Konzentration auf Sprache und Sprachspiele kann die Systemische Therapie in Sackgassen führen. Klinische Ereignisse sind zum großen Teil Mikroereignisse, wie Daniel Stern (1998) es beschreibt, und beziehungsstiftende Kommunikationsleistungen von Menschen sind zum großen Teil vorsprachlich beziehungsweise nichtsprachlicher Natur. Die affektive Beziehungsgestaltung in der Familie wird nur zum Teil von den sinnhaften Diskursen bestimmt. Phylogenetisch sind diese Abstimmungsprozesse jedenfalls älter als sprachliche Kommunikation. In jeder Beziehung finden wir auf der Mikroebene Regulationen des Kontakts. Doch wie steht es dann mit dem Verzicht auf das Denken in Kausalzusammenhängen? Die Frage, ob und wie eine Mutter oder ein Vater auf die kommunikativen Angebote des Kindes reagiert, ist doch entscheidend für den Verlauf solcher Mikroereignisse. So bezeichnet Satir die Eltern als Architekten der Familie. Die Frage, die sich hier an systemische Konzepte stellt, ist, wie es um Prinzipien von Allparteilichkeit und Neutralität steht: Sollte es doch so etwas wie eine »richtige« Form der Beziehungsgestaltung geben? Jedenfalls klagt Levold in einem Aufsatz 1997: »In Therapien stellen wir nicht selten fest, dass der sprachliche Austausch, so elaboriert er auch sein mag, den Beteiligten nur unzureichend erlaubt, auf diese vorsymbolischen und vorsprachlichen Regelungsprozesse Bezug zu nehmen. Das führt dann zu Klagen, dass man sich nicht verstehe, nicht miteinander reden könne etc., selbst wenn die Narrative der Beteiligten inhaltlich durchaus abgestimmt oder kongruent erscheinen« (S. 126). Offenbar bewegen wir uns auf zwei Ebenen. Während die Systemische Therapie sich auf der Ebene der Sinnkonstitutionsprozesse bewegt, hat es Marte Meo zumindest zu einem großen Teil mit einer Ebene zu tun, die vor diesen Sinnkonstitutionsprozessen liegt, der Ebene der Mikroereignisse sozialer Systeme, und mit der Ebene von Entwicklung. Als mir das klar wurde, begriff ich auch mein anfängliches Gefühl, dass der Vergleich zwischen Systemischer Therapie, psychoedukativen Konzepten und Marte Meo irgendwie »hakte«: Die beiden Ersten bewegen sich auf gleicher Ebene, denn es geht um die Frage, wie in Systemen mit einem so genannten psychisch Kranken Sinn hergestellt wird und wie er hergestellt

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werden sollte. Daher hat die Debatte zwischen den beiden Modellen auch viel mehr Ausschließlichkeitscharakter. Systemische Therapie und Marte Meo könnten wir als Instrumente sehen, die sich mit zwei unterschiedlichen Ebenen unserer sozialen Lebenswelt befassen. Sie können nützlich füreinander sein, nützlich in dem Sinn, dass sie sich über ihre Beobachtungen austauschen, Fragen aneinander stellen und einander anregen können. Möglicherweise gelten für die unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Regeln: – während auf der einen Ebene Kausalitätskonzepte wenig hilfreich sind, können sie auf der anderen Ebene nützlich sein, – während es auf der einen Ebene darum geht, sich um eine Vielfalt von möglichen Beschreibungen zu bemühen, könnte es auf der anderen Ebene hilfreich sein, gerade die Vielfalt, die Beliebigkeit der Beschreibungen zu reduzieren, – während es auf der einen Ebene sinnvoll erscheint, allparteilich und neutral zu sein, ist auf der anderen Ebene engagierte Parteilichkeit nützlich, sofern sie nicht mit Entwertung einhergeht. Und schließlich haben die beiden Ansätze einiges gemeinsam: vor allem die Orientierung an den Stärken von Menschen (z. B. Aarts 1995). Zu lernen, immer wieder den Blick darauf zu richten, gehört zu den großen Herausforderungen nicht nur unserer Zeit. Denn nur so werden Klienten nicht zu Kranken, die mit Etiketten versehen werden, sondern zu Menschen, die als Gegenüber ernst genommen werden. Dann ist es möglich, ihnen auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Formen von Feedback zu begegnen. Und ein wichtiger Aspekt ist die Selbstreferenz, die Fähigkeit des Menschen, sein eigener Beobachter zu sein, die vom systemischen Ansatz und von Marte Meo gleichermaßen fokussiert wird. Beide Ansätze sind damit konkret und an den jeweiligen Anliegen der Kunden orientiert. Eine weitere Qualität, die beide Ansätze inhaltlich unterschiedlich ausfüllen, ist die Fähigkeit, die Deutungen in der Familie auf eine freundliche Weise zu verändern.

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Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell?

■ Fragen Abschließend möchte ich Fragen stellen, Fragen, wie ich sie als systemischer Therapeut von Marte Meo an mich gestellt sehe, und Fragen, die ich stellen möchte: Fragen von Marte Meo an die Systemische Therapie: – Wo haben wir die Sprache überbetont, vorsprachliche Aspekte und vor allem die Mikroebene der Beziehungsgestaltung vernachlässigt? – Steckt nicht in der starken Akzentuierung der Bedeutung der Erzählung, der Geschichten, auch eine Vernachlässigung der Beziehungsseite der Kommunikation? – Haben wir die Bedeutung von »Affektabstimmung« vergessen? – Haben wir die Bedeutung des aktuell wirksamen Feldes überbetont, auf Kosten von Entwicklung? Fragen der Systemischen Therapie an Marte Meo: – Welche Beschreibungen werden dem Kind, welche den Eltern implizit durch das Vorgehen von Marte Meo vermittelt? Wie viel Bewegungsspielraum ermöglichen diese Beschreibungen den Betroffenen? – Wie stark lassen sich Marte-Meo-Therapeuten von Bildern beeinflussen, wie es »richtig« wäre, mit Kindern umzugehen? Wie sehr haben sie dabei das Gefühl, im Besitz einer Wahrheit, wenn nicht gar der Wahrheit zu sein? – Wie viel Raum gibt es bei Marte Meo für Positionen des Nichtwissens? – Und die »Gretchenfrage«: Wie halten es Marte-Meo-Therapeuten mit der Kausalität?

■ Fazit Je mehr ich von Marte Meo erfahren habe, desto mehr steht für mich im Vordergrund, dass beide Ansätze sich zwar auf unterschiedlichen Ebenen bewegen, dass sie aber dennoch, nein gerade deswegen nicht in einem Konkurrenz- sondern in einem Ergän-

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zungsverhältnis stehen. Sie bieten auf verschiedenen Ebenen menschlicher Existenz Möglichkeiten an, die Kraft und Kreativität bei Menschen freisetzen. Ich denke noch einmal an Brechts Wort: »Die Welt soll so beschrieben werden, dass sie veränderbar erscheint!« Hier treffen sich die Ansätze und aus dem Spannungsfeld ihrer Begegnung und aus dem Dialog beider können fruchtbare neue Erkenntnisse erwachsen.

■ Literatur Aarts, M. (1995): Aus eigener Kraft. Interview mit Ch. Hawellek. Systhema 9 (1): 29-34. Aarts, M. (2002): Marte Meo. Ein Handbuch. Harderwijk. Anderson, H.; Goolishian, H. (1992): Der Klient ist Experte: Ein therapeutischer Ansatz des Nicht-Wissens. Zeitschrift für systemische Therapie 10 (3): 176-189. Grabbe, M. (2001): Kooperation mit kleinen Kindern in Therapie und Beratung. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, Ch. (Hg.): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung. Die Chancen des Anfangs. Münster, S. 220-242. Hahlweg, K.; Dose, M.; Feinstein, E.; Müller, U.; Bremer, D. (1989): Rückfallprophylaxe für schizophrene Patienten durch psychoedukative Familienbetreuung. System Familie 2 (2): 145-156. Hawellek, Ch. (1995): Das Mikroskop des Therapeuten. Systhema 9 (1): 6-28. Hunter, D.; Hoffnung, R.; Ferholt, J. (1988): Family Therapy in Trouble: Psychoeducation as Solution and as Problem. Family Process 27: 327-338. Kriz, J. (1997): Chaos, Angst und Ordnung. Göttingen. Levold, T. (1997): Affekt und System. Plädoyer für eine Perspektivenerweiterung. System Familie 10 (3): 120-127. Loth, W. (2001): »Wo soll das noch hinführen«. Kontraktorientiertes Arbeiten in Familien mit kleinen Kindern. In: Schlippe, A. v.; Lösche, G.; Hawellek, Ch. (Hg.): Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung. Die Chancen des Anfangs. Münster, S. 200-219. Retzer, A. (Hg.) (1991): Die Behandlung psychotischen Verhaltens. Heidelberg. Riedl, R. (1981): Die Folgen des Ursachendenkens. In: Watzlawick, P. (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. München, S. 67-90. Satir, V. (1990): Selbstwert, Kommunikation, Kongruenz. Paderborn. Schlippe, A. v. (1995): »Tu’, was Du willst« – eine integrative Perspektive auf die systemische Familientherapie. Kontext 26 (1): 19-32.

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Marte Meo – ein systemisches Coachingmodell?

Schlippe, A. v.; Braun-Brönneke, A.; Schröder, K. (1998): Systemische Therapie als engagierter Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen. Empirische Rekonstruktion therapeutischer Interaktionen. System Familie 11 (2): 70-79. Stephanos, S. (1979): Die analytisch-psychosomatische Theorie und ihre therapeutischen Modelle. Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik 24: 113-121. Stern, D. (1998): Die Mutterschaftskonstellation. Stuttgart. Varela, F. (1981): Der kreative Zirkel. In: Watzlawick, P. (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. München, S. 294-309. Wynne, L. (1988): Zum Stand der Forschung in der Familientherapie: Probleme und Trends. System Familie 1 (1): 4-22.

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Die Autorinnen und Autoren

Maria Aarts ist Direktorin des Marte-Meo-Netzwerks. Sie lebt in Harderwijk (NL). – [email protected], www.martemeo.com Monika Abels, Dipl.-Psych., ist Mitarbeiterin der Babysprechstunde und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Entwicklung und Kultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. Judith Berkenheide, Cand. Psych., ist Mitarbeiterin der Babysprechstunde im Fachgebiet Entwicklung und Kultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. Jörn Borke, Dipl.-Psych., ist Leiter der Babysprechstunde und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Entwicklung und Kultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. – [email protected] Jana Grobel, Cand. Psych., ist Diplomandin im Fachgebiet Klinische Psychologie am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. Dr. Christian Hawellek, Dipl.-Päd., lic. Marte-Meo-Supervisor, ist Leiter des Norddeutschen Marte-Meo-Instituts und Mitarbeiter der Caritas-Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche im Landkreis Vechta. – [email protected], www.nmmi.de

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Die Autorinnen und Autoren

Monica Hedenbro, lic. Psychotherapeutin, lic. Marte-Meo-Supervisorin, ist Familientherapeutin und Familienforscherin am Karolinska-Institut in Stockholm. – [email protected] Terry Hofmann-Witschi, Heilpädagogin, ist lic. Marte-Meo-Supervisorin und leitet eine Heilpädagogische Lebensgemeinschaft in Bern. – [email protected], www.martemeo.ch Paul Hofmann, Sozialpädagoge, ist Marte-Meo-Supervisor und leitet eine Heilpädagogische Lebensgemeinschaft in Bern. – [email protected], www.martemeo.ch Verena Kantrowitsch, Cand. Psych., ist Mitarbeiterin der Babysprechstunde im Fachgebiet Entwicklung und Kultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. Heidi Keller, Prof. Dr. phil., Lehrstuhl für Entwicklung und Kultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. – [email protected] Ingeborg Kristensen, MPH, ist Public Health Nurse und MarteMeo-Therapeutin in Rinkøbing (DK). – [email protected] Annette Liden, lic. Psychotherapeutin, ist lic. Marte-Meo-Supervisorin in Schweden. – [email protected] Kai Meyer zu Gellenbeck ist Diplom-Psychologe an der Psychologischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung der Katholischen Jugendfürsorge Augsburg. Er arbeitet außerdem für den Psychologischen Fachdienst in der Heilpädagogischen Tagesstätte in Schongau. – [email protected] Thomas Mittler, Dipl.-Psych., Logopäde, ist Doktorand im Graduiertenkolleg »Integrative Kompetenzen und Wohlbefinden: Somatische, psychische, soziale und kulturelle Determinanten« am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. – [email protected]

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Die Autorinnen und Autoren

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Colette O’Donovan, Sozialarbeiterin, ist lic. Marte-Meo-Supervisorin in Dublin. – [email protected] Arist von Schlippe, PD Dr. phil., Dipl.-Psych., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Psychologie der Universität Osnabrück und Lehrtherapeut am Institut für Familientherapie in Weinheim. – [email protected] Annegret Sirringhaus-Bünder, Dipl.-Sozpäd., lic. Marte-Meo-Supervisorin, Familientherapeutin, arbeitet in einer Praxis für Beratung, Supervision und Fortbildung. – [email protected], www.koelner-verein.de Anne Werchan, Dipl.-Psych., ist Mitarbeiterin der Babysprechstunde und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Entwicklung und Kultur am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück.

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Alles zu Marte Meo in einem Handbuch

Peter Bünder / Annegret Sirringhaus-Bünder / Angela Helfer Lehrbuch der Marte-Meo-Methode Entwicklungsförderung mit Videounterstützung Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe. 2., ergänzte Auflage 2011. 420 Seiten mit 28 Abb. und 17 Tab. sowie einer DVD, gebunden ISBN 978-3-525-40212-2 Marte Meo ist aus dem Lateinischen abgeleitet und bedeutet sinngemäß, etwas »aus eigener Kraft« zu erreichen. Der Name wurde von der Begründerin der Methode, Maria Aarts, gewählt, um eine Verbindung zwischen professioneller Beratung und engagierter Selbsthilfe auszudrücken. Im Zentrum der Methode steht zum einen die Hilfe für die Eltern. Sie erfahren, wie sie die Entwicklung ihres Kindes im Familienalltag durch eine förderliche Kommunikation unterstützen können. Dazu werden Ausschnitte von Alltagssituationen auf Videofilm festgehalten, sorgfältig analysiert und mit ihnen besprochen. Gelungene Kommunikationsmomente, in denen Eltern mit ihrem Kind in Kontakt kommen, Freude mit ihm teilen oder ihm eine angemessene Orientierung geben, dienen als Ressource für die Bewältigung schwieriger Situationen. Zum anderen werden auch Fachkräfte aus dem Jugend-, Sozial- und Gesundheitsbereich beraten, die in komplementären Beziehungen Menschen bei der Bewältigung ihres Alltags begleiten und unterstützen. Sie erfahren durch die Marte-Meo-Methode, wie sie mit den Menschen, für die sie sorgen, die sie pflegen, beraten oder unterrichten, einen Kontakt herstellen können, der es ihnen ermöglicht, die Bedürfnisse dieser Menschen besser wahrzunehmen und so zu beantworten, dass deren Fähigkeiten entwickelt und gefördert werden. Die Stärke von Marte Meo beruht auf dem Medium Video, das Bilder liefert, die eine andere Art von Einsicht in eigenes Tun ermöglichen. Durch eine konsequente Ressourcenorientierung bietet die Methode Ratsuchenden eine wertvolle Begleitung und Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags.

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