Entwerfen, Lernen, Gestalten: Zum Verhältnis von Design und Lernprozessen 9783839448335

Welche Bedeutung hat Gestaltung für persönliche Lernprozesse? Wie lassen sich Lernumgebungen, Lernende und Lernen beschr

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Entwerfen, Lernen, Gestalten: Zum Verhältnis von Design und Lernprozessen
 9783839448335

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Pädagogik, Design, Methodik
Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung
Design und Designpädagogik: Eine design- und bildungswissenschaftliche Betrachtung
Design for teaching!
Räume, Orte, Möglichkeiten
Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Intervention
Wie wir lernen, was wir lernen
Heterotopos Schule
Raumsorge als Selbst(für)sorge
Orientierung, Bedeutung, Organisation
Beobachtung, Bedeutung, Beziehung – Anmerkungen zum Lernen mit Hilfe von Medien
Grafik und Gedächtnis
Die Lernwelt der Hochschule der Medien
Vererbung – Konzept des Co-Designs
Autorinnen und Autoren

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Saskia Plankert (Hg.) Entwerfen, Lernen, Gestalten

Design  | Band 46

Saskia Plankert (M.A.) forscht u.a. zu neuen Formaten für Weiterbildungen unter besonderer Berücksichtigung gestalterischer Kriterien.

Saskia Plankert (Hg.)

Entwerfen, Lernen, Gestalten Zum Verhältnis von Design und Lernprozessen

Gedruckt mit der Unterstützung der Hochschule Hannover, Fakultät III Medien, Information und Design

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Rose Elena / Unsplash Lektorat: Saskia Plankert Satz: Saskia Plankert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4833-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4833-5 https://doi.org/10.14361/9783839448335 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Vorwort Saskia Plankert | 7

P ädagogik , D esign , M ethodik Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung Philip Zerweck | 11

Design und Designpädagogik: Eine design- und bildungswissenschaftliche Betrachtung June H. Park | 37

Design for teaching! Forschung und Gestaltung für vernetztes lebenslanges Lernen Sabine Foraita und Stefan Wölwer | 49

R äume , O rte , M öglichkeiten Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Intervention Katrin Brümmer und Katharina Krämer | 67

Wie wir lernen, was wir lernen Über die Signifikanz gestalteter Lernor te Saskia Plankert | 83

Heterotopos Schule Lernor te als Or te der Macht Katrin Brümmer und Friedrich Weltzien | 105

Raumsorge als Selbst(für)sorge Kindliche Freispiel- und Raumpraktiken und ihre Lernpotenziale Désirée Bender | 127

O rientierung , B edeutung , O rganisation Beobachtung, Bedeutung, Beziehung – Anmerkungen zum Lernen mit Hilfe von Medien Martin Scholz | 155

Grafik und Gedächtnis Vom Anordnen und Orientieren auf dem Papier und im Raum Annette Geiger | 171

Die Lernwelt der Hochschule der Medien Flexibilität und Vielfalt unterstützen Studierende in der Lernorganisation Alexandra Becker | 187

Vererbung – Konzept des Co-Designs Dirk Bei der Kellen und Lars Schlenker | 211

Autorinnen und Autoren | 233

Vorwort Saskia Plankert

Im Rahmen der Initiative »November der Wissenschaft« veranstalteten Martin Scholz und Saskia Plankert am 8. und 9. November 2018 in der Abteilung Design und Medien, Fakultät III der Hochschule Hannover, das designtheoretische Symposium »Entwerfen. Lernen. Gestalten«. Lernende, Lernen und Lernumgebungen sollten mithilfe interdisziplinärer Blickwinkel beschrieben werden, um bislang eher vernachlässigte, aber gleichwohl bedeutsame, Untersuchungsfelder aufzuzeigen. Hierfür wurden Redner*innen aus Theorie und Praxis eingeladen. Bildung ist zu einem der zentralen Themen im 21. Jahrhundert geworden. Nicht zuletzt durch den Perspektivwechsel vom Lehren zum Lernen, rücken die Lernenden immer stärker in den Fokus, »was zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber der Gestaltung von Lernarrangements führt«1, um die Worte Richard Stangs zu bemühen. Während des Symposiums ging es darum, die in den Blick genommenen Lernarrangements mithilfe eines interdisziplinären Zugangs zu beschreiben, potentielle Lücken zu definieren sowie bislang vernachlässigte Untersuchungsfelder aufzuzeigen. Unter Zuhilfenahme benachbarter Wissenschaften konnten so neue Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen Lernen, Raum und Design generiert und eine Annäherung an die zentrale Frage gewagt werden, wie Gestaltung persönliche Lernprozesse beeinflussen kann. Die Vorträge wurden für diese Publikation in Schriftform gebracht, erweitert um die Ergebnisse fruchtbarer Diskussionen auf dem Symposium. Die drei Kapitel »Pädagogik, Design, Methodik«, »Räume, Orte, Möglichkeiten« und »Orientierung, Bedeutung, Organisation« bieten einen losen roten Faden, der die Rezipierbarkeit des Buches erleichtern soll. Der erste Abschnitt

1 | Stang, Richard: Lernwelten im Wandel. Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen, Berlin/Boston 2016, S. V.

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beschäftigt sich mit der Begriffsbestimmung von Design als Beruf, einer design- und bildungswissenschaftlichen Betrachtung von Design und Designpädagogik sowie dem Entwurf eines gestalterischen Modells für vernetztes lebenslanges Lernen. Das zweite Kapitel thematisiert das Verhältnis von Raum und Lernen auf unterschiedliche Art und Weise. Hier werden Möglichkeitsräume, Kreuzfahrtschiffe, Schulen und reformpädagogische Betreuungseinrichtungen für Kinder beschrieben und analysiert. Der letzte Abschnitt erläutert die Bedeutung von Medien im Lernprozess sowie die Auswirkung des eigenen Gestaltens mit Schrift, Bild und Raum auf das Denken und Wissen. Ebenso thematisiert der Abschnitt Formen und Gestaltung von Selbstlernarealen sowie das Konzept der Vererbung bei einem Redesign eines Klassenzimmers einer Berufsschule. Der Sammelband bemüht sich um einheitliche Schreib- und Zitierweisen sowie einen strukturierten Auf bau, um die Lesbarkeit zu gewährleisten. Die Umgangsweise mit Gender- und Diversitätsaspekten wurde jedoch von jeder*jedem Autor*in selbst gewählt, daher finden sich in den nachfolgenden Beiträgen unterschiedliche Formen und Ausdrücke. Dieses Buch ist mit der Hilfe vieler entstanden. Ich möchte allen Beteiligten und Unterstützenden sehr herzlich danken, ohne die das Symposium und die daraus resultierende Publikation nicht entstanden wären. Zuallerst gebührt den Autor*innen großer Dank, die durch die Darlegungen ihrer Perspektiven und Forschungen neue Denkanstöße und Lernprozesse ermöglicht haben. Ebenso möchte ich dem Theoriebereich der Abteilung Design und Medien, Fakultät III der Hochschule Hannover, für die finanzielle Unterstützung danken, besonders auch in Person von Martin Scholz, der die Publikation konzeptionell beratend ermöglicht und bereichert hat. Die Zusammenarbeit mit dem Transcript Verlag, besonders in Person von Katharina Wierichs, war mir eine große Freude. Vielen Dank für die freundliche, umsichtige und kompetente Beratung und Begleitung dieses Buches. Zu guter Letzt möchte ich mich noch bei der kollegialen Beratung von Katrin Brümmer und Katharina Krämer bedanken, die diese Publikation nicht nur mit Beiträgen unterstützt haben, sondern auch mit zahlreichen Anregungen, Hilfestellungen und Ratschlägen.

P ädagogik , D esign , M e thodik

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung Philip Zerweck Die gesamte Disziplin Design ist erst im Werden. Mit der Begriffsbestimmung Design als Beruf entwickle ich einen Fundamentbegriff jenes Teils, der Design als einen Begriff verstehbar macht, welcher einen Strauch von beruflichen Betätigungen definiert. Es ist ein Ausschnitt meines aktuellen Forschungsprojektes, in dem ich die Bedingungen von Design als didaktische Hochschuldisziplin untersuche. Die Begriffsbestimmung konzentriert sich dabei auf aktuelle Strömungen. Die historische Herleitung ist in anderen Publikationen bereits aufgearbeitet.1 Die normative Kraft der Künstlersozialkasse, welche unverändert die Vorstellungen über den Beruf zu ihrer Gründungszeit in den 1970/80ern weiterträgt, gespeist aus dem Deutsche Designertag e.V. und seinen damals maßgeblichen Mitgliedern – BFF, VDID, BDG, AGD, VDMD –2, ist zwar noch unaufgearbeitet, trägt jedoch zu einer zukunftsträchtigen Perspektive wenig bei und wird hier ebenfalls bei Seite gelassen. Bevor wir uns jedoch dem Design als Beruf nähern, muss ich zunächst den Begriff Design erläutern … oder besser die unterschiedlichen Begriffe von Design.3

DESIGNBEGRIFFE Die meisten Versuche der Vergangenheit bestimmten den Begriff Design normativ, qualitativ oder schlicht ideologisch: »Design hat zu sein …«, »Design muss …«, »Das ist kein Design …« usw. Ich nähere mich jedoch den verschiedenen 1 | Letzthin für Industriedesign: Grossmann, Yves Vincent: Von der Berufung zum Beruf, Bd. 39, Bielefeld 2018. 2 | Vgl. Stigulinszky, Roland/Bund Deutscher Grafik-Designer: Per aspera: 75 Jahre Arbeit für einen künstlerischen freien Beruf; 1919 – 1994, Düsseldorf 1994, S. 56–59. 3 | Die folgende Begriffsklärung inklusive Abbildungen ist eine knappe Zusammenfassung der Publikation: Zerweck, Philip: Design-Begriffs-Landschaft: Ableitungen für Designdidaktik und Designpädagogik, in: Park, June H.: Didaktik des Designs, Design & Bildung, Schriftenreihe zur Designpädagogik, Bd. 1, München 2016, S. 49–56.

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Ebenen dieses Begriffes auf eine beschreibende Weise, eher wie ein Völkerkundler: Die Menschen benutzen diesen Begriff wie sie es für richtig halten und wir müssen verstehen, wie und warum. Wir Designer müssen den Leuten bildlich gesprochen aufs Maul schauen anstatt ihnen über den Mund zu fahren. Daher folge ich einem deskriptiven und phänomenologischen Ansatz der Begriffsklärung. Darstellen lassen sich die so vorgefundenen, unterschiedlichen Begriffe von Design in einer Landschaft.

Abbildung 1: Begriffslandschaft Design. Zunächst finden wir in der Begriffslandschaft das fruchtbare Flachland des allgemeinen Lebens. Hier herrscht eine klare Vorstellung von Design: Design fungiert als Zeichen der verfeinerten Lebensart. Er äußert sich in Begriffen wie Designer-Möbel, Designer-Jeans, Design-Linie, Designer-Haus und so weiter. Dieser Designbegriff ist die banalisierte Form der Vorstellung, Design sei die absichtliche (Material-)Formung von besonderer ästhetischer Güte4. Design ist dann als Produkt materialisiertes Zeichen dieser besonderen ästhetischen 4 | Diese Vorstellung von Design im deutschsprachigen Raum leitet sich in aller Kürze zusammengefasst wie folgt ab: Nach dem Flaschenhalsimport des Wortes Design ins Deutsche über die Entlehnung der beiden Berufsbezeichnungen Industriedesign und Grafikdesign nach dem 2. Weltkrieg erfolgte die Verschiebung des Begriffsschwerpunktes in das Vakuum eines fehlenden Begriffs für die reine ästhetische Aufwertung, im Englischen durch den Begriff Styling besetzt.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

Güte, und zwar im Bereich zwei- und dreidimensionaler Produkte, also des Konsums, den Insignien unserer Gesellschaft. Häufig wird hierbei die Architektur ausgeschlossen, die entsprechenden Produkte werden dann folgerichtig in der Immobilienwerbung Architektenhäuser genannt. Betrachten wir als Beispiel, wie große deutsche Leitmedien mit den Rubriken für Design umgehen. Sie zeigen, wie und in welchem Kontext Design dort verhandelt wird. In der im Herbst 2014 neu eingeführten Kolumne auf Spiegel Online namens Stil! wird der Designbegriff durch den Kontext dokumentiert: Design, Mode, Kochen, Lifestyle heißen die Unterrubriken.

Abbildung 2: »Mit Stil!« steht auf Spiegel Online, zur Sicherheit mit Ausrufezeichen. Die Süddeutsche besitzt ebenfalls ein Ressort des Namens Stil in dem Süddeutsche Zeitung Magazin und online, das auch für Design verantwortlich zeichnet. Unterrubriken – Rezepte, Mode, Tests und Design – und somit Kontext des Designbegriffs sind nur leicht andere als bei Spiegel Online. Auch auf Zeit Online steht Design in einem deutlichen Kontext – Mode & Design, Essen & Trinken, Leben: praktischerweise gleich oberhalb des Zeit-Shops, der den passenden Konsum zur Hand hält. Das Visual Design, das Layout der Homepage wurde 2018 geändert, aber die Einteilung und Benennung der Ressorts / Rubriken innerhalb des Zeit Magazins blieb gleich. Design als Teil des Themengebietes gemeinsam mit Rezepte, Essen & Trinken, Mode, (Produkt-)Tests, Leben, Lifestyle … alles eben Zeichen der verfeinerten Lebensart.

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Abbildung 3: »Stil« heißt es auch auf sueddeutsche.de.

Abbildung 4: Zeit Online, Rubrik mit Design und entsprechendem Shop darunter, Layout vor 2018. Design dient im allgemeinen Leben damit auch als eigene Überhöhung und Distinktion gegenüber Anderen und sei es im Zweifel gegenüber den Unkultivierten: »Es war schon immer etwas teurer, einen besonderen Geschmack zu

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

haben«5. Tatsächlich ist der friedliche Wettstreit um eine verfeinerte Lebensart aber auch maßgeblicher Antrieb für die Entwicklung dessen, was wir Kultur nennen und daher nicht abschätzig zu betrachten. Wandern wir weiter durch die Begriffslandschaft, kommen wir zum saftigen Mittelgebirge der Arbeitswelt. Hier gibt es die Höhenzüge der verschiedenen (Fach-)Disziplinen, die sich voneinander trennen lassen, jedoch durch allerlei Dependancen einen gemeinsamen Stock bilden, wie sie ebenfalls nicht trennscharf vom Leben abzugrenzen sind. Da ist Design ganz klar eine eigene Disziplin, was sich auch an Bildungsstätten widerspiegelt. Dieses Design als Beruf ist natürlich stark mit dem Design des allgemeinen Lebens verbunden, hat aber ganz andere Aufgaben. Es kümmert sich eben NICHT alleine um die Verfeinerung der Lebensart. Früher war die Disziplin auch dafür dar, der Gesellschaft zu erklären, was denn nun Design … oder besser, was Gutes Design sei, im Sinne einer Geschmacks- und Konsumentenerziehung6. Das ist jedoch durch die Postmoderne beendet worden. Ich verweise als knappen Hinweis auf die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus einer diversen und pluralen Gesellschaft, hier am Beispiel der Sinus-Milieus®.

Abbildung 5: Die Sinus-Milieus®. 5 | Zur Redensart gewordener Werbespruch der Zigarettenmarke Atika von 1966. 6 | Vgl. Bäß, Oraide: Designvermittlung im Wandel der Zeit, designwissen.net (blog), Februar 2009.

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Eine jede dieser und noch ganz anderer Gruppen-Identitäten hat den Wunsch und das Recht, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu verfeinern. Sicher haben professionelle Designer 7 für gutes Design zu sorgen, aber eben gut jenseits von geschmäcklerischer Präferenz. Die Diktatur des Schönen Scheins, in der eine Designer-Kaste der Bevölkerung sagt, wie sie ihr Leben zu verfeinern habe, ist vorbei, auch wenn viele Designinstitutionen im Kern diese Attitude noch in sich tragen. Ich vertiefe später den Begriff Design als Beruf. Kehren wir zunächst in die Landschaft zurück. Wenn wir dann den Mittelgebirgszügen der Disziplinen folgen, erklimmen wir das karge Hochgebirge der extremen Ausformung jeder menschlichen Betätigung: das Streben nach Höherem, die Entwicklung. In dieser Umgebung wird Design als Handlungsweise verstanden8. Diese Region des Handelns erwächst nicht nur aus der Arbeitswelt, sondern ist auch im alltäglichen Leben verhaftet: Menschen wollen und müssen sich, das Zusammenleben und gemeinsame Unternehmungen weiterentwickeln, bis hin zur Politik, um miteinander auszukommen. Design wird hierbei einerseits in seinem ursprünglichen, englischen Wortsinn verstanden. Andererseits hat sich seit dem Erwachen des Design Research Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts das Verständnis für den Charakter dieser Handlung verbessert: •



Design wird nun als Entscheidungshandeln verstanden, bzw. desicion making wie es Herbert A. Simon mit James March ab den 1950er Jahre geprägt hat9: Handeln, um Entscheidungen zu treffen und Entscheidungen treffen, indem man handelt. Design wird auch als Beantwortung der deontischen Frage verstanden: »Was soll sein?« Dieser wenig bekannte Begriff geht zurück auf Horst Rittel10. Ich komme zum Ende nochmal darauf zurück.

7 | Mit dem Generischen Maskulinum werden der besseren Lesbarkeit wegen immer alle Geschlechter benannt. 8 | Vgl. Hugentobler, Hans Kasper: Design als Handlungsweise, in: Hugentobler, Hans Kasper/Mareis, Claudia/Nyffenegger, Franziska/Reichhardt, Ulrike/Zerweck, Philip (Hrsg.): Designwissenschaft und Designforschung: Ein einführender Überblick, Luzern 2010, S. 11–16. 9 | Vgl. Simon, Herbert Alexander: Die Wissenschaften vom Künstlichen, Berlin 1990. 10 | Vgl. Zerweck, Philip: Deontische Fragestellungen, in: Hugentobler, Hans Kasper/Mareis, Claudia/Nyffenegger, Franziska/Reichhardt, Ulrike/Zerweck, Philip (Hrsg.): Designwissenschaft und Designforschung: Ein einführender Überblick, Luzern 2010, S. 17–18.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung



Und schließlich wird Design als wesensgleich mit Problemlösen verstanden, über das Grayson H. Wheatley den oft zitierten Sinnspruch prägte: »Problem solving is what you do when you don‘t know what to do« 11

Zum Teil steht das Wort Design in diesem Begriffsschwerpunkt als Attribut für eine besonders planerische, artifizielle, elaborierte Herangehensweise. Alles in allem ist dieser Designbegriff dem angelsächsischen Designbegriff nahezu identisch. Dies liegt nicht nur an einer erneuten, vom bisherigen deutschen Usus losgelösten Übernahme12 des Wortes Design aus dem Englischen im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft und insbesondere mit dem Aufstieg des Englischen als Lingua franca in Wirtschaft und vielen Bereichen der Wissenschaft ab den 1980/90er Jahren, sondern auch an dem (Wieder-) Anschluss der deutschsprachigen Designtheorieszene an das angelsächsische Design Research. Folgende Verwendungsbeispiele bebildern den Begriff Design als Handlungsweise und sind oft eins zu eins übernommene angelsächsische Designtermini, deren Bedeutung mit dem vorangegangenen deutschen Designbegriff kaum Sinn ergeben oder gar kollidieren: Circuit Board Designer, Software Designer, Service Design, Design rationale, Rationales Design, Vektordesign, Designer Baby, Designerdroge, usw. Aus dem Bereich der Pädagogik und Didaktik: Instruktionsdesign, Didactic Design, bzw. didaktisches Design. Für den Kontext einer Veröffentlichung »Entwerfen, Lernen, Gestalten.« auf der Grenze zwischen Pädagogik und Design ist es besonders irritierend, aber gleichzeitig bezeichnend, dass in den entsprechenden Fachliteraturen sowohl Industriedesign als auch Instruktionsdesign die Abkürzung ID tragen. Missverständnisse im Grenzbereich zwischen der Disziplin Design und anderen Disziplinen, wie der Bildungswissenschaft, tauchen aber nicht nur bei Abkürzungen auf, sondern auch bei Fachausdrücken, die das Wort Design beinhalten. Als Beispiel sei der Fachbegriff des didaktischen Designs 13 genannt. 11 | Greifbar ist jene Quelle: Wheatley, Grayson H./Reynolds, Anne: Coming to Know Number, 2010, S. 53. Meist wird eine andere, nicht nachvollziehbare Quelle von 1984 angegeben, zuerst hier: Bodner, Georg M./McMillen, Theresa L. B.: Cognitive Restructuring as an Early Stage in Problem Solving, in: Journal of Research in Science Teaching 23, Nr. 8 (November 1986), S. 727–737, hier S. 4, 11. Wahrscheinlich gemeint ist diese nachweisbare, jedoch nicht einsehbare Quelle von 1985: Wheatley, Grayson H.: Mathematics achievement through problem solving: a high school general mathematics course, West Lafayette 1985. 12 | Die oben erwähnte erste Entlehnung, der Flaschenhalsimport erfolgte grob in den 1950ern. 13 | siehe z. B.: Reichmann, Gabi: Didaktisches Handeln - Die Beziehung zwischen Lerntheorien und Didaktischem Design, in: Ebner, Martin/Schön, Sandra (Hrsg.): Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien, Graz 2011.

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Es ist die missverständliche Übersetzung und Entlehnung des englischen Didactic Design. Gemeint ist schließlich nicht ein Design, das besonders didaktisch wäre, so die eigentliche Bedeutung des adjektivierten Substantivs in attributiver Verwendung im Deutschen, sondern ein Design der Didaktik, eine auf Didaktik bezogene Handlung Design. Der zweigliedrige Begriff mag in der entsprechenden Forschergemeinschaft richtig verstanden werden und ist daher im Sinne der oben begründeten, beschreibenden Perspektive nicht zu kritisieren14. Allerdings ergeben sich aus den verschiedenen Ansätzen heraus Missverständnisse bei der Verwendung solcher Fachtermini, wie beispielsweise auf dem dieser Publikation zu Grunde liegendem Symposium für Designtheorie: »Entwerfen. Lernen. Gestalten.« zu beobachten war. Der Dissens steckt nämlich tiefer in den Disziplinen, als nur unterschiedliche Interpretationen von Fachbegriffen: Während überall, wo Design draufsteht, die in der Disziplin Design Verhafteten sich berufen fühlen als Profis zu übernehmen, meinen Angehörige anderer Disziplinen mit der Verwendung des Wortes Design etwas Allgemeines, das sie aus ihrer eigenen Disziplin heraus leisten. Kann sich ein Designer beim oben erwähnten Circuit Board Design noch zurückhalten – entweder, weil er keinerlei Vorstellung hat, was gemeint sein könnte, oder weil er weiß, dass er bei der Entwicklung von Leiterplatten keine Expertise besitzt –, wird es beim Software Design schon schwerer, könnte doch die Interaktion samt Oberfläche gemeint sein. Spätestens bei Design von Lernräumen empfindet der Interieur oder Möbel-Designer einen unmittelbaren Auftrag, während der Pädagoge nicht versteht, was der Designer nicht versteht 15. Abschließend sei vermerkt, dass Design Thinking der Begriff ist, unter dem das angewandte Können von Design als Handlungsweise aktuell verbreitet wird. Das deutsche Wort Gestalten könnte man zwar im Sinne der Breite des Designs als Handlungsweise verwenden, aber jener Bereich hat sich im Zuge der Digitalisierung und Zeiten der Dienstleistungsgesellschaft so deutlich theoretisiert 16, dass der Begriff Gestalten zu sehr an manuelle Tätigkeiten denken lässt. Lediglich im sozialen, politischen Kontext würde Gestaltungskompetenz und der entsprechende -wille mit systemischem, virtuellem Handeln in Verbindung 14 | Allgemein oder in der interdisziplinären Arbeit verständlicher wäre hier die Verwendung eines Substantivkompositums Didaktikdesign. 15 | Vgl. Rummler, Klaus (Hrsg.): Lernräume gestalten - Bildungskontexte vielfältig denken, Medien in der Wissenschaft 67, Münster 2014. 16 | Sowohl im Sinne von einem Ausbau an Theorie, als auch im Sinne von: Park, June H.: Theoretisches Design: Gestaltung jenseits der Objekte, in: Romero-Tejedor, Felicidad/Jonas, Wolfgang (Hrsg.): Positionen zur Designwissenschaft: eine Initiative der Arbeitsgruppe GDW (Grundlagen der Designwissenschaft) der DGTF (Deutsche Gesellschaft für Designtheorie und -forschung), Kassel 2010, S. 95–99.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

gebracht und verstanden werden. Sowie in klar umrissenen Fachdisziplinen, wie der Bildungswissenschaft. Aber zurück zu dem Begriff Design als Beruf.

DESIGN ALS BERUF Die Berufe und Ausbildungsgänge innerhalb des Feldes Design sind sehr divers. Während die Ingenieurswissenschaft zwar als Gruppe zahlreicher Einzelwissenschaften gesehen und traditionell in drei Disziplinen eingeteilt wird, hat es doch genug Gemeinsamkeit um als Entität innerhalb der Wissenschaften und Berufe wahrgenommen zu werden. Auch laufen weitere Sub-Disziplinen, wie Werkstofftechnik oder Informatik quer zu den traditionellen Disziplinen Bauingenieurwesen, Maschinenbau und Elektrotechnik und formen so ein Wissensgebiet und Betätigungsfeld, das als einzelne Disziplin wahrgenommen werden kann. Das Ingenieurwesen besitzt Disziplin, als A) kodifiziertes Selbstverständnis einer wissenschaftlichen Gemeinde, als B) Regelwerk eines Faches und seiner erlaubten Methoden und als C) Verhalten, das auf Ordnung abzielt, hier im Sinne von berufsständigen Vertretungen, Versuche der Einigung und Herstellung eines Verständnisses innerhalb einer sozialen Gruppe. Ähnlich verhält es sich mit den Sozialwissenschaften, die sogar als einzelnes, übergreifendes Studienfach angeboten werden, oder der Medizin. Das Design besetzt viele dieser Eigenschaften nicht, sodass mit Recht gefragt wird, ob man überhaupt Gemeinsamkeiten ausmachen könne, ob es überhaupt eine Disziplin sei, oder nicht doch mehrere, oder gar undiszipliniert 17.

17 | Hartmut W. Strass, Präsident des Deutschen Designertages 1979–82 resümiert 1994, »Die dringende Erfordernis eines Spitzenverbandes aller Designer zu deren Interessenvertretung, wie sie schließlich andere Freiberufler (Architekten, Ärzte und Anwälte) vorzuweisen haben, war deutlich und wurde uns von namhaften Politikern in Bonn immer wieder bestätigt, die sich nicht die Zeit nehmen konnten, jeder Splittervereinigung ›designender Individualisten‹ ihr Gehör zu schenken.« Im Weiteren führt er aus, wie dieser Versuch an der Undiszipliniertheit der Designer scheiterte. Stigulinszky, Roland/Bund Deutscher Grafik-Designer: Per aspera: 75 Jahre Arbeit für einen künstlerischen freien Beruf; 1919 – 1994, Düsseldorf 1994, S. 59. Das Design gibt sich selber gerne die Attitude »undiszipliniert« zu sein, was insbesondere hier kritisiert wird: Bürdek, Bernhard E.: Design – eine Disziplin? Interview von F. Romero-Tejedor, in: Öffnungszeiten. Papiere zur Designwissenschaft 26/2012, Kassel 2012, S. 4–13, hier S. 6. Siehe auch den Titel der Jahrestagung der Design Research Sociaty 2008: Durling, David/Rust, Chris/Chen, Lin-Lin/Ashton, Philippa/Friedman, Ken

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Zusammenfassend ist jedoch heute und gerade im Verhältnis zum Designbegriff des allgemeinen Lebens sowie anderer Disziplinen18 ein klarer und entspannter Designbegriff vorhanden: Design wird als ernstzunehmende berufliche Disziplin verstanden, die sich durch ihre Ausbildungsinhalte und ihr Machen selbst erklärt, analog zu den anderen Disziplinen: Design ist, was Designer machen.19 Sichtbar ist X-Design in dem, was X-Designer machen, wobei X für Auto, Mode, Industrie, Grafik, Möbel, Medien, Keramik etc. steht. Die Differenzierung in Handlungsfeld, Methode und Ausbildung ist erheblich und ein Verständnis eines einheitlichen Fundaments von Design als berufliche Disziplin etabliert sich erst gerade, während parallel Design als wissenschaftliche, akademische Disziplin ebenfalls noch im Werden ist20. Wenn dieser Fundamentbegriff des Designs als Beruf in dem zu finden ist, was Designer machen, stellt sich die Frage: Was macht der Designer? »Machen Sie eine typische Handbewegung!« kennt man noch von früher, aus »Was bin ich?«, das heitere Beruferaten mit Robert Lembke. Es steht für eine Perspektive des Großteils des 20. Jahrhunderts auf die Arbeit als manuelle, körperliche Tätigkeit. Und nein … der Designer macht auch nicht die Radien schön! Was die andere Perspektive des 20sten Jahrhunderts, nämlich die des Wissens auf einen Beruf ausdrücken würde – in dem Fall das Wissen um Schönheit, die Kallistik. Also nein. Heute reden wir in der Pädagogik und Didaktik nicht mehr von Wissen oder Tätigkeiten, die es zu erlernen gäbe, sondern von Kompetenzen und zwar von produktiven Handlungs-Kompetenzen. Fragen wir also besser, was übernimmt der Designer?

(Hrsg.): Undisciplined! Proceedings of the Design Research Society Conference 2008, Sheffield 2009. 18 | Hier sei die im beruflichen Sinne definitive Unterscheidung von der Kunst vermerkt: Ja, man hat ähnliche Wurzeln und Werkzeuge, aber Design als Beruf ist keine Kunst, ebenso wenig wie die Architektur Kunst ist, die bereits seit hunderten Jahren als eigenständig betrachtet wird. Vgl. Zerweck, Philip: Designausbildung, eine Standortbestimmung, in: Park, June H. (Hrsg.): Bildungsperspektive Design, Design & Bildung, Bd. 2, München 2018, S. 66–75, hier S. 71; Vgl. Zerweck, Philip: Debatte: Designausbildung – Designdidaktik, designdidaktik.org (blog), 13. Dezember 2013. 19 | Dies ist nicht trivial, sondern die kürzeste Erklärung der Autopoiesis, welche eine Disziplin als soziales System formt. 20 | Vgl. Bürdek, Bernhard E.: Design – auf dem Weg zu einer Disziplin, Schriftenreihe Schriften zur Kulturwissenschaft 94, Hamburg 2012.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

Die Antwort lautet schlicht: Der Designer verantwortet das Design eines Produktes. Das liest sich zunächst albern, denn es scheint eine Tautologie zu sein. Aber die Antwort führt zu drei wichtigen Punkten: • • •

Was meint Verantwortung? Was meint Design hier? Was ist ein Produkt?

Der Designer verantwortet … Verantworten ist ein großes Wort zu dem sicher auch immer Orientierung und Werte gehören und zu dem es erheblichen Forschungsbedarf im Designkontext gibt21. Für das berufliche Umfeld – heute, Mitteleuropa, postindustrielle Wirtschaft etc. – meint es zunächst schlicht die Sicherstellung, dass die Organisation, in der der Designer wirkt, als Einheit, Ziele angemessen aufstellt und erreicht. Was muss der Designer also können, um diese Verantwortung ausfüllen zu können?
Um Ziele für das Design aufstellen zu können und zu erreichen? Stellen wir die Frage zunächst zurück. … das Design … Was meint Design hier? Das ist im Gegensatz zu einer allgemeinen Frage was Design sei, aufgrund des Kontextes einfach. Es gibt eine Legaldefinition hierzu, die für das berufliche, gewerbliche Umfeld gilt … und zwar im Designgesetz. Die Definition dessen, was das Designgesetz als Design definiert, ist für den Beruf nicht nur auf Grund seiner Bedeutung für die Rechtsprechung im Falle des geistigen Eigentums des Designs von Relevanz und wirkt somit normativ auf das Begriffsverständnis im Kontext merkantil verwertbarer Designleistung, also im Kontext von Design als Beruf. Sondern es stellt auch in besonders sorgfältiger Weise das Kondensat aus jahrzehntelanger gesellschaftlicher Debatte in berufsständiger Vertretung, gängiger Rechtsprechung und normativer Kraft über Design dar. Das Designgesetz lautet mit vollem Titel Gesetz über den rechtlichen Schutz von Design, Abkürzung DesignG und entstand 2014 durch die Umbenennung des 21 | Eine der wenigen, ernsthaften Publikationen jenseits des Feuilletonismus lautet: Raap, Heike: Von Überzeugungen und Zweifeln – Orientierung als Gegenstand der Designlehre, in: Park, June H. (Hrsg.): Bildungsperspektive Design, Design & Bildung, Bd. 2. München 2018, S. 14–21.

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2004 reformierten Gesetz über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen, kurz Geschmacksmustergesetz, welches seit 1876 existierte.22 Sicher trug zur Namensänderung und den aktuellen Begriffsverwendungen auch der Europäische Prozess bei, denn das DesignG setzt europäisches Recht um, namentlich die Richtlinie 98/71/EG 23 und die Verordnung (EG) Nr. 6/2002 24. Die jeweiligen deutschsprachigen Fassungen jener Rechtsakte führen ebenso wie die 2004er Fassung des Gesetzes noch nicht das Wort Design, sondern (Geschmacks-)Muster, jedoch hat die Sprachverwendung der anderen Fassungen (en: design, fr: dessin, it: disegni etc.) sicher die deutsche Sprachregelung aus dem 19. Jahrhundert überdenkenswert erscheinen lassen. Interessant ist, dass andere Sprachversionen bereits vom Dokument von 1998 zum Dokument von 2002 ihre Sprachregelung anpassen, so z. B. da: mønstre –› design. Der Wandel vom Schutzgut Muster zum Schutzgut Design vollzieht die steigende Anerkennung der kulturellen Leistung von Design nach. Das Rechtsgebiet des Schutzes des geistigen Eigentums, wie das DesignG, das Patentrecht und das Urheberrecht schützen ja nicht nur Investitionen beim Betreiben von Innovation, sondern eben auch das Eigentum an, von der Gesellschaft als eigenständige Leistung honorierter, geistiger Schöpfung. Damit drücken die Gesetzestexte zusammen mit der gängigen Rechtsprechung auch aus, was überhaupt als schutzwürdig zu betrachten sei.25 Wie sehr das Design in Deutschland um diese Anerkennung ringen musste26, wie stark die U-Kultur des Design als Teil der Populärkultur gegenüber der E-Kultur der klassischen Künste der Hochkultur benachteiligt war, beschreibt Zentek (Auszeichnungen jeweils im Original): Die Gleichstellung von Erzeugnissen des Kunstgewerbes mit Werken bildender Kunst im Kunstschutzgesetz von 1907 wäre in den 1930er und 1940er Jahren durch (nationalsozialistische) »Elite«-Juristen und überhöhte Anforderungen in der Rechtsprechung zunichte gemacht worden, 22 | Vgl. Herzog, David: Recht für Designer, Bibliothek für Designer, Stuttgart 2017, S. 275–278. 23 | Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen. 24 | Rat der Europäischen Union, Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster. 25 | Vgl. Herzog, David: Recht für Designer, Bibliothek für Designer, Stuttgart 2017, S. 193–201. 26 | Die Anerkennung ist immer noch nicht gegeben, vgl. Mandel, Birgit: Die Trennlinien zwischen E- und U-Kultur auflösen. Kulturwirtschaft in Deutschland. Fakten, Diskurse und Perspektiven des kulturunternehmerischen Schaffens, in: Hausmann, Andrea/ Heinze, Anne (Hrsg.): Cultural Entrepreneurship – Gründen in der Kultur- und Kreativwirtschaft, Wiesbaden 2017, S. 13–25.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

auch um reduzierte Entwürfe im Sinne des Bauhauses und der Moderne zu benachteiligen, was bis heute fortwirke. Am Ende stünden fast acht Jahrzehnte verkanntes Design.27 Die Werke der angewandten Kunst würden im UrhG immer noch keine eigenständige Gruppe darstellen, sondern von der bildenden Kunst eingeschlossen werden, was unter anderem dazu führe, dass die Gerichte die urheberrechtliche Schutzfähigkeit bis heute unter dem Gesichtspunkt der »Kunst angewendet auf« Gebrauchsgegenstände (angewandte Kunst) prüfen müssten.28 Insofern verändert das DesignG die Situation. In Abschnitt 1 »Schutzvoraussetzungen« des DesignG, werden zunächst in §1 »Begriffsbestimmungen« die verwendeten Begriffe im Sinne dieses Gesetzes definiert.29 Dort heißt es: »ist ein Design die zweidimensionale oder dreidimensionale Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst oder seiner Verzierung ergibt« 30

Unterstützt wird dieses Verständnis im Gesetz durch die Definition dessen, was schutzwürdiges Design sei: geschützt wird ein Design, »das neu ist und Eigenart besitzt«31 und weiter »Ein Design hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Design bei diesem Benutzer hervorruft, das vor dem Anmeldetag offenbart worden ist.«32 Wichtig ist hier die Wandlung vom Schutz einer Form als reale Sache im Sinne eines Erzeugnisses hin zum Schutz einer ideellen Sache, die sich in der Erscheinungsform und dem von ihr hervorgerufenen Gesamteindruck 27 | Zentek, Sabine: Acht Jahrzehnte verkanntes Design im deutschen Urheberrecht, Dissertation der Juristischen Fakultät, Heinrich- Heine-Universität, 2015. 28 | Ebd., S. 2. 29 | Bis zur Reform 2004 existierte eine solche Begriffsbestimmung nicht in den Versionen des Gesetzes. Es wurde lapidar von gewerblichem Muster oder Modell geschrieben, über die in §1 (2) stand »Als Muster oder Modelle im Sinn des Gesetzes werden nur neue und eigentümliche Erzeugnisse angesehen.« Bundesrepublik Deutschland, Geschmacksmustergesetz vor 2004. 30 | Hervorhebung durch den Autor, Bundesrepublik Deutschland, Designgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 24. Februar 2014 (BGBl. I S. 122), das zuletzt durch Artikel 15 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2541) geändert worden ist, §1 Nr.1. In der Fassung von 2004 ist der zitierte Absatz bereits enthalten, lediglich das Wort Design lautete vormals Muster. 31 | Ebd., §2 (1). 32 | Ebd., §2 (3).

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niederschlägt. Somit wird dem Design die Referenz auf die Wahrnehmung zugesprochen und die physische Inkarnation hintangestellt. Die Definition referenziert nicht auf natur- oder ingenieurswissenschaftliche Begriffe, sondern auf den Menschen und sein Erleben des Produktes. Zu beachten ist auch das Wörtchen insbesondere, wodurch in juristischen Normen nicht abschließende Aufzählungen und damit ein unbestimmter Rechtsbegriff markiert wird. Solche Unbestimmtheiten dienen dazu, künftige Entwicklungen der Alltagspraxis nicht durch eine zu genau festgelegte gesetzliche Norm auszuschließen. So kann eigentlich alles, was das Produkt erscheinen lässt und bei einem Betrachter einen Eindruck hinterlässt oder eben jemandem das Produkt erleben lässt zum Design werden, nicht nur die im Gesetz aufgeführten Merkmale. … eines Produktes. Als Produkt wird heute alles beschrieben, was der Mensch artifiziell her- oder bereitstellt … und zwar nicht nur physische Dinge. Unter dem sogenannten erweiterten Produktbegriff33 werden ebenso Dienstleistungen, Software und weiteres verstanden. Der Designer verantwortet ganzheitlich das Erleben eines Produktes. Zusammengefasst: Der Designer verantwortet im beruflichen Umfeld ganzheitlich das Erleben eines Produktes im Sinne des erweiterten Produktbegriffs. Jetzt wird auch der Punkt der Verantwortung etwas einsichtiger: Was muss der Designer also können, um diese Verantwortung ausfüllen zu können, um Ziele für das Erleben des zukünftigen Produktes aufstellen zu können und die Realisierung eines Produktes durch sein Tun zu erreichen, das dieses Erleben bei der Rezeption auslöst? Diese Frage muss je nach konkreter Berufsperspektive und adressiertem Produkt von den Fachdidaktikern und dem Lernenden beantwortet werden.
Wir haben hier jedoch relativ gut umrissene Fragestellungen und einen klaren Perspektivwechsel. Er zwingt die Lehrenden dazu, nicht mehr über Usus oder Impetus zu reflektieren – was im Design für lange Zeit zentrale Kerne der Reflexion über Design war –, sondern darüber, was der werdende Designer für sein späteres Berufsumfeld benötigt.

33 | Achtung: die Betriebswirtschaften haben ein etwas anderes, klar definiertes, enger begrenztes Verständnis dieses Begriffs.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

X-Designer Was muss also beispielsweise ein Foto-Designer können, um in großen Agenturen das Erlebnis des Rezipienten beim Betrachten seiner Fotos zu verantworten? Sicher mehr als »gute« Fotos machen, denken wir an den Prozess, den das Foto von der Aufnahme, über die Produktion, bis zur Betrachtung in einem bestimmten Medium durchläuft und den Kontext, in dem das Foto betrachtet werden wird. Oder was muss ein selbstständiger Autoren-Designer können, um das Erleben seiner selbst entworfenen, produzierten und vertriebenen Produkte durch seine Kunden verantworten zu können? Oder: • • • • • • •

UX-Designer im Software-House Möbel-Designer für Kinderausstattungen Industrie-Designer für Low-End Table Ware Interior Designer Automotive Keramik-Designer für Far-East Handelsware Webdesigner in der Freiberuflichkeit etc.

Ich nenne diese alle X-Designer, weil im Berufsfeld Design: 1.

sich die Wege kaum vorhersehen lassen und die Kompetenzfelder häufig gekreuzt werden.34 2. das Berufsfeld eine Kreuzung aus Anwendungsgegenstand und Organisationsumfeld darstellt: zum Organisationsumfeld gehören die Spannbreite der Produktion (handwerklich über manufakturell, industriell bis postindustriell), die diversen Leistungsverhältnisse (Sub-Auftragnehmer, Freiberufler, Arbeitnehmer, Dienstleister, eigenständiger Produzent), die Bandbreite der Unternehmungsgrößen und weiteres.

34 | Gute Beispiele sind der ehemalige Leiter der Volkswagen-Designabteilung Murat Günak, der mit einem Bühnenbild Diplom in Produktdesign in Kassel machte oder der ehemalige Designchef der Daimler AG Peter Pfeiffer, der Porzellanmodelleur und an der Fachschule für Porzellan gelernt hatte. Untersuchungen zu Werde- und Bildungsgängen von Designern wurde 1995 in Kassel gemacht, Vgl. Zerweck, Philip: ›Design für einen Fachbereich Design‹: Konzept für das Produktdesign in Kassel von 1995, Forschungsnetzwerk designdidaktik.org (blog), Juni 2017.

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DESIGN ALS BERUFLICHE DISZIPLIN, DIE GELERNT UND GELEHRT SEIN WILL

Abbildung 6: Ausbildungsstufen in Begriffslandschaft Design. Betrachten wir die Disziplin als eine Lehrdisziplin, bedeutet das: Design als Beruf findet sich in allen Ausbildungsstufen und unterschiedlichsten Kontexten. Während bei Berufsausbildungen spezifische Ausbildungsgänge unterscheidbar sind (von Mediendesigner, Technischer Produktdesigner über Textil- und Modeschneider, Fotograf, Keramiker, Porzellanmaler bis zu diversen Ausbildungsgängen, die zu Kunsthandwerkern führen können, wie Schreiner, Kunstschmied etc.) können die unterschiedlichsten Anforderungen, Werde- und Bildungsgänge bei BA-Abschlüssen nur durch Berufsfeldangebote und individuelle Kompetenzentwicklung abgebildet werden. In den noch höheren Ausbildungsstufen MA und PHD können berufsfeldspezifische Inhalte oder Wissensgebiete nicht mehr differenziert werden: die Qualifikation erwartet mit fortschreitendem Niveau die Kompetenz Design als Handlungsweise universell, unabhängig von Stoff, Technologie und Struktur zu erlernen und zunehmend abstrakter anzuwenden. Auf dem Symposium, auf dem dies hier vorgetragen wurde, kam es aufgrund der Darstellung zu der Frage, ob Design als Handlungsweise erst oberhalb des BA gelehrt werden solle. Dies ist selbstverständlich nicht der Fall, eine grundlegende Basis in Verständnis für und Durchführung von Design als Handlungsweise benötigt jeder Designer. Jedoch sollte im BA-Studium die Konzentration auf dem Berufsfeld und dessen Anforderungen liegen und die

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

Differenzierung zwischen den Hochschularten und -ansprüchen wahrgenommen werden. Eine flächendeckende Ausbildung von Designern mit BA-Abschluss, die jedes Sein virtuell in ihren Fundamenten hinterfragen und auf jedes Problem kreativ mit einem Sollen antworten können, aber nicht in der Lage sind, die für das Erleben nötige Physis zu bestimmen, geht an der Lebensund Berufswirklichkeit vorbei. MA-Studiengänge, wie Advanced Design (München, Edinburgh) oder Creative Direction (Pforzheim) haben ihre Berechtigung eben genau in diesem Feld und die BA-Studiengänge sollten nicht versuchen diese nachzuahmen, auch wenn nachvollziehbar ist, wenn jeder Lehrende als einzelne Person dieses Feld viel spannender findet. Über das hinaus, was an Hochschulen bereits als Berufsfeld wahrgenommen wird, fehlen aber in Deutschland Ausbildungen und Berufsvorstellungen für Designer, die es im Berufsumfeld bereits gibt bzw. international selbstverständlich auch an Hochschulen ausgebildet werden: • • •

• •



Service-Designer Design von Versicherungs- und Finanzprodukten Culinary Art, Baking & Pastry, Culinary Management etc.: das ganze Erlebnis rund ums Essen ist Hochschulausbildung von Spanien bis in die USA. Glas-Design gibt es rund um den Globus an Hochschulen bis zum Master-Studium, z. B. in Calgary, Kanada Schreiner, Schmied … Kunsthandwerk, ja, mit dem ganzen Bereich tun wir uns seit dem Typenstreit des Werkbunds 1914 schwer und haben ihn de facto in der ersten Hochschulreform der BRD nach 1970 abgestoßen. Aktuell bilden Ausbildungsstätten zum Gestalter im Handwerk eine Reformbewegung deren Abschlüsse BA-adäquat sind. etc.

Darüber hinaus scheinen sich die deutschen Hochschulen nicht pro-aktiv an der Entwicklung von Berufsbildern zu beteiligen, wie es international beispielsweise das Projekt NXT – Making a Living from the Arts35 betrieb. Design im Zeichen der Wirtschaftssektoren Ein weiterer, relevanter Aspekt der Zukunft des Designs als Beruf und die dieses antizipierende Lehre klingt in den ersten Punkten der obigen Liste bereits an, und zwar die Entwicklung der Wirtschaftssektoren:

35 | European League of the Institutes of the Arts (ELIA): NXT Careers in the arts: Visions for the future, Amsterdam 2018.

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Abbildung 7: Wirtschaftsmodell der vier Sektoren, Anteil der Sektoren an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen, Daten: OECD, BMBF 1997, ab 1997 Projektion. (Produkt-)Design war ein Kind der Industriegesellschaft und bindet sich an den Sekundärsektor Produktion / Industrie. Nicht umsonst hatte Design seine Boomphase bis in die 1970er Jahre, der absoluten Hochzeit des Produktions-Sektors. Bereits Ende der 1970er Jahre überholte in Deutschland der Quartärsektor Information36 den Sekundärsektor Produktion, und spätestens nach der Jahrtausendwende hat auch der Tertiärsektor Dienstleistung die Produktion überholt. Design wird mit dessen Schwinden marginalisiert, wenn es sich nicht neu erfindet. Grafikdesign hat die Entwicklung in seinem Bereich Ende der 1980er und 1990er schmerzvoll, zu spät und zu schwach nachvollzogen: Eigentlich ist der Informations-Bereich traditionell die Domäne der Visuellen Kommunikation (Grafik, Fotografie, Film etc.). Diese hatte jedoch das Aufkommen der Computertechnologien nur mehr als Rationalisierungsprozess wahrgenommen, ohne die neuen Medienarten, Distributions- und Kommunikationstechnologien als Chance pro-aktiv an den Hochschulen anzugehen. UX-Design ist dadurch zu einer Domäne der Informatiker worden, weil die Visuelle Kommunikation das Feld bei seinem Aufkommen nicht besetzt hat und auch die, mit Ergonomie und Bedienung von Geräten bewanderten Industrie-Designer den Bedarf nicht deckten. Ähnliches erleben wir heute mit Dienstleistungsprodukten, Service-Design und Design Thinking. Diese Domäne haben die Designer bisher ebenfalls nicht besetzt, weswegen das Vakuum von Personen aus dem Berater-Milieu, meist aus den Wirtschaftswissenschaften, dem Marketing kommend, gefüllt wird. 36 | Wird auch unter der Thematik der Wissensgesellschaft behandelt.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

Die dargestellte Entwicklung ist das, was sich bisher vollzog. Denken wir an weitere Veränderungen im Sektor Information / Wissen sowie neu aufkommende Sektoren, wie Biotechnologie. Wie soll ein Mensch eine Ganzkörper-Orthese, ein Exo-Skelett erleben? Oder ein Info-Port-Implantat zur Fern-Wartung von Off-Shore-Tiefseebaggern mit Cortex-projizierendem Userinterface? Wie wird ein Gen-innovatives Haustier erlebt? Und wer wird sich mit welchem Bildungsweg berufen fühlen, das aus seiner Profession heraus zu verantworten? Der dritte Zyklus der Hochschulausbildung, PhD Die klassische deutsche Haltung zum Thema Doktorat ist, dass sie kein Teil der universitären Ausbildung sei, sondern der Nachweis der eigenen Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten und somit eher ein Abschlusswerk eines Abschnittes der eigenständigen persönlichen Entwicklung. »In der Doktorandenausbildung (dem so genannten dritten Zyklus) hält Deutschland daran fest, dass die Wege zur Promotion vielfältig sind und es bleiben sollen. Vorherrschend ist das Modell der individuell verantworteten und betreuten Promotion. […] Der dritte Zyklus wird in Deutschland daher überwiegend als erste Phase der wissenschaftlichen Berufstätigkeit betrachtet.« 37

Ohne hier zu tief zu gehen38, muss jedoch wahrgenommen werden, dass im Bolognaprozess das Promotionsstudium auch für Deutschland als dritter Zyklus der Hochschulbildung definiert wurde, in den Salzburg-Prinzipien der Rahmen dafür abgesteckt wurde und seit der zitierten Einschätzung aus dem Jahr 2010 viel in Bewegung gerät: »The publication of The Salzburg Principles in 2005, laid the ground for discussing doctoral education as part of the Bologna process. This identified 10 principles for thirdcycle degrees […] These principles, formulated as intentions more than ten years ago, remain part and parcel of almost all discussions about doctoral education, although many of them have since become certainties.« 39

37 | Wojtysiak, Jenny: Stand der Umsetzung des Bologna-Prozesses, Infobrief, Berlin: Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags; FB 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung, 10. Juni 2010, S. 8–9. 38 | Vgl. Dörr, Jeanine: Promovieren in der Designwissenschaft in Deutschland, Analyse des Promotionswesens in der Designwissenschaft in Deutschland hinsichtlich der Rahmenbedingungen und Perspektiven für die Promotionskultur in diesem Fach, Universität Vechta 2019, S. 8–25. 39 | European League of the Institutes of the Arts (ELIA): The ›Florence Principles‹ on the Doctorate in the Arts, 2016, S. 5.

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Im Bereich der künstlerisch, gestalterischen Studienfächer führten diese Salzburg-Prinzipien und der Konkretisierung durch die Salzburg II Empfehlungen 2010 der EUA – European University Association schließlich 2016 zur Formulierung der Florenz-Prinzipien durch die ELIA – European League of the Institutes of the Arts40. Sie werden neben den Mitgliedshochschulen der ELIA befürwortet von der AEC – Association Européenne des Conservatoires, Académies de Musique et Musikhochschulen, der CILECT – International Association of Film and Television Schools, der Cumulus – International Association of Universities and Colleges of Art, Design and Media sowie der SAR – Society for Artistic Research. Die RKK – Rektorenkonferenz der deutschen Kunsthochschulen und die RKM – Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen scheinen diese Entwicklung nicht rezipiert zu haben. Deutschlands Hochschulen sind in den oben genannten Institutionen nahezu nicht vertreten. Auch wenn gerade im Design als Studiendisziplin ohne Traditionen des Promovierens oder anderweitiger Zusatzqualifikation wie Meisterschüler, das Beharren eigentlich gering sein müsste, ist es in der Denktradition eines künstlerischen Studiengangs gefangen, zudem die Promotion in Deutschland generell ausschließlich mit streng wissenschaftlichem Arbeiten verbunden ist. Der europäische dritte Studienzyklus sieht jedoch neben einem strukturierten Programm (Promotionsstudium) eine eigene Arbeit im Bereich von scientific and artistic research vor, also nicht nur rein wissenschaftlich, sondern generell im Bereich wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung und Entwicklung, das die reine künstlerische Entwicklung, Praxis-basierte Arbeit einschließt. 41 Darüber hinaus hat die deutschsprachige Designszene auch schlicht keine Vorstellung, was mit einem bis zum dritten Studienzyklus gebildeten Designer auf dem Arbeitsmarkt anzufangen sei, egal ob nun wissenschaftliche Grundlagenforschung, künstlerische Entwicklung oder gar eine Mischung der beiden Extreme Grundlage des PhD, Doktorats oder Promotion ist.

DESIGN IM BERUF Am Ende noch eine andere Sache, die für den Kontext einer Veröffentlichung »Entwerfen, Lernen, Gestalten.« relevanter als Design als Beruf ist und zwar Design im Beruf. Kehren wir dafür zurück zu dem Begriff des Designs als Handlungsweise, wie in Abbildung 5 zu sehen ist. Diese ist wie erwähnt überall dort anzutreffen, wo es um Entwicklung geht. In jedem Beruf gibt es diese Herausforderung 40 | Ebd., S. 7–8. 41 | Zu artistic research: Vgl. Wilson, Mick/van Ruiten, Schelte (Hrsg.): SHARE Handbook for Artistic Research Education, Amsterdam o. J.

Design als Beruf: Eine Begriffsbestimmung

und auch in der allgemeinen Gesellschaft. Ich hatte in diesem Zusammenhang auf die »deontische Frage« verwiesen. Sie geht zurück auf Horst Rittel und seine Unterscheidungen von Wissen 42. Danach benötigen Menschen, um zu handeln, verschiedene Arten des Wissens: • • • •

faktisches Wissen: von dem, was der Fall ist, erklärendes Wissen: was und warum Folge sein wird, instrumentelles Wissen: wie das, was der Fall ist, verändert werden kann, deontisches Wissen: was soll der Fall sein oder werden.

Design als Handlungsweise lehrt uns also das deontische Wissen zu erlangen und die Frage »Was soll sein?« zu beantworten. Diese Frage zu beantworten ist eben keine Sache von »mir gefällt’s«–Ausdrücken, sondern Sache von situativ zu erarbeitetem Wissen auf diesem Gebiet. Überlegen wir uns, welche Berufe dieses Wissen nicht benötigen und diese Frage nicht beantworten müssen. Oder, wo im Leben müssen wir diese Frage nicht beantworten? Dann sehen wir die Tragweite des Themas Design … für alle Lernenden und Lehrenden. Denn dieses Können, die deontische Frage »Was soll sein?« selber beantworten zu können und zwar mit Hilfe bewusster Prozesse, nicht aus dem Bauch heraus, dieses Empowerment das damit dem Design innewohnt, führt zu einem selbstbewussteren, freieren und mündigeren Menschen. Zu einem Menschen, der das Vermögen hat, sich selber entfalten zu können und gemeinsam mit anderen an der Zukunft der Gesellschaft zu bauen …

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Begriffslandschaft Design, © Zerweck, Philip: Design-Begriffs-Landschaft: Ableitungen für Designdidaktik und Designpädagogik, in: Park, June H. (Hrsg.): Didaktik des Designs, Design & Bildung, Schriftenreihe zur Designpädagogik, Bd. 1, München 2016, S. 49. Abbildung 2: »Mit Stil!« steht auf Spiegel Online, zur Sicherheit mit Ausrufezeichen, schwarz/weiß, Original farbig, Screenshot (Ausschnitt) der Homepage www.spon.de [03.03.2015]. Abbildung 3: »Stil« heißt es auch auf sueddeutsche.de, schwarz/weiß, Original farbig, Screenshot (Ausschnitt) der Homepage www.sz.de [31.01.2019].

42 | Zerweck, Philip: Deontische Fragestellungen, in: Hugentobler, Hans Kasper/Mareis, Claudia/Nyffenegger, Franziska/Reichhardt, Ulrike/Zerweck, Philip (Hrsg.): Designwissenschaft und Designforschung: Ein einführender Überblick, Luzern 2010, S. 17–18.

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Abbildung 4: Zeit Online, Rubrik mit Design und entsprechendem Shop darunter, Layout vor 2018, schwarz/weiß, Original farbig, Screenshot (Ausschnitt) der Homepage www.zeit.de [28.03.2015]. Abbildung 5: Die Sinus-Milieus®, schwarz/weiß, Original farbig, SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH, Informationen zu den Sinus-Milieus® 2018, S. 14. Abbildung 6: Ausbildungsstufen in Begriffslandschaft Design, © Zerweck, Philip: Designausbildung, eine Standortbestimmung, in: Park, June H. (Hrsg.): Bildungsperspektive Design, Design & Bildung, Bd. 2, München 2018, S. 66–75, hier S. 73. Abbildung 7: Wirtschaftsmodell vier Sektoren, Anteil der Sektoren an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen, Daten: OECD, BMBF 1997, ab 1997 Projektion. Quelle: Bröning und Friedrich-Ebert-Stiftung, Deutschland in der globalen Wissensgesellschaft, 24, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/1/1b/4_Sektoren_Modell.jpg unter CC BY-SA 4.0.

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Design und Designpädagogik: Eine design- und bildungswissenschaftliche Betrachtung June H. Park

DESIGN ALS BILDUNGSTHEMA Design hat über seine ökonomische Bedeutung hinaus auch soziale und kulturelle Implikationen. Sozialstruktur und Kultur sind durchaus Entwurfsgegenstände, die im gesellschaftlichen Transformationsprozess nicht ausgeklammert sein können. Vor diesem Hintergrund gewinnt Design nicht nur speziell als Ausbildungsthema, sondern generell als Bildungsthema an Bedeutung. Was ist Design und warum ist Design wichtig? Diese Fragen stellen sich im Kontext der allgemeinen Bildung schärfer dar, weil sie an Grundschulen und weiterführenden Schulen klar und verständlich vermittelbar sein müssen. Dieses didaktische Erfordernis ist ein Glücksfall. Denn: Es fordert die Beteiligten zur weiteren Klärung, Entwicklung und Präzisierung des substanziellen Kerns des Designbegriffs auf. Die Designpädagogik liefert die bildungswissenschaftliche und didaktische Basis für die Vermittelbarkeit des Designs. Die Zeiten, in denen Design industrielle Formgebung oder Reklamemalerei war, liegen lange zurück. Jedoch nicht so lange, dass dieses Verständnis des Ursprungs des Designs vergessen wäre, aber doch lange genug, dass im Alltagsverständnis diese alten Bezeichnungen und Bedeutungen tatsächlich nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Die inzwischen knapp über einhundert Jahre dauernde Entwicklungsgeschichte des Designs, in denen von Institutionen wie Werkbund, Bauhaus, HfG Ulm warenästhetisch wie auch kulturphilosophisch wirksame Neuerungen eingeleitet worden waren, haben rückblickend bemerkenswerte Ansätze und Zeugnisse der Modernisierung, des Wandels, aber auch der Widersprüche und der Pluralisierung hinterlassen. Wir entdecken in den frühen Bemühungen des Werkbundes, Kunst, Handwerk und Industrie zu einen, einen Umstand, den wir heute mit den Begriffen Interoder Transdisziplinarität beschreiben würden. Die Entstehung des Designs verdanken wir eben dieser Bereitschaft, über die Grenzen der eigenen Disziplin hinauszuschauen und gegenüber neuen Entwicklungen offen zu sein.

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Danach folgte eine rasante Entwicklung des Designs, deren Spanne von form follows function bis form follows emotion reicht. Die differenzierte und divergente Lebenswelt und ein entsprechendes Lebensgefühl kommen in der pluralistischen Erscheinung der Produkte und Medien zum Ausdruck. Das insbesondere in den Anfangsjahren des Designs geradezu als naturwüchsig empfundene Selbstverständnis der Designer, Formgestalter zu sein, ist inzwischen durch zahlreiche komplementäre und konkurrierende Selbstverständnisse ergänzt und teilweise ersetzt worden. Die Identität einer Berufssparte, die angewandte Kunst praktiziert, das heißt für die Menschen nützliche Dinge entwickelt und dabei dennoch im Grunde die künstlerischen Freiräume ausleben konnte, begründet auch die Attraktivität der Designstudiengänge für zahlreiche junge Menschen. Die mit Abstand am häufigsten genannte Begründung der Bewerbungen für einen gestalterischen Studiengang ist, dass man schon immer gerne gemalt und gezeichnet habe. Diese Fokussierung auf das Künstlerische ist nicht nur geschichtlich, sondern auch strukturell bedingt. Auch die Aufnahmeprüfung zu einem Designstudiengang ist gemäß Hochschulrecht an die »besondere künstlerische Eignung« geknüpft. Das Alltagsverständnis über das Design wird auf diese Weise strukturell als Kunstgleiches oder zumindest Kunstähnliches zementiert. Das ist aber die eine Seite der Realität. Die andere ist: Designprozess generell inklusiv seiner vielfältigen Spielarten gilt inzwischen in der Designwissenschaft als ein originärer Weg der Erkenntnisgewinnung bei »deontischen«1 Fragestellungen, also bei solchen Fragestellungen, deren Kern sich mit naturwissenschaftlichen, formalwissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen Methoden nicht erschließen lassen. Solche Erkenntnisse sind weder über den mathematischen Beweis noch durch den empirischen Nachweis zugänglich, sondern nur durch eine normativ-ethische Durchdringung eines Sollzustandes, das heißt durch eine Beschreibung oder Darstellung, die ebendiesen Sollzustand veranschaulicht und auf diese Weise überhaupt das Verständnis und die Akzeptanz des Sollzustandes ermöglicht.

1 | Rittel, Horst W. J./Kunz, Werner: »Der Ansatz der Informationswissenschaften«, in: Rittel, Horst W. J. (Vf)./Reuter, Wolf D. (Hrsg.): Planen, Entwerfen, Design, Stuttgart/ Berlin/Köln 1992, S. 151. Siehe auch Zerweck, Philip: Deontische Fragestellungen, in: Hugentobler, Hans Kaspar/Mareis, Claudia/Nyffenegger, Franziska/Reichhardt, Ulrike/Zerweck, Philip: Designwissenschaft und Designforschung: einführender Überblick, Hochschule Luzern Design und Kunst, 2010, S. 17–18. Außerdem auch: Raap, Heike: Von Überzeugungen und Zweifeln – Orientierung als Gegenstand der Designlehre, in: Park, June H. (Hrsg.): Bildungsperspektive Design = Design & Bildung Bd. 2, München 2018, S. 14–21.

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Der Umgang mit solchen deontischen Fragestellungen ist in der Rechtsphilosophie lange bekannt: Unter Anwendung welcher Begründung kann eine rechtliche Bestimmung als möglich oder notwendig beurteilt werden? Was soll unter welchen Umständen wie gelten? Auch bereits in der antiken Architekturtheorie entdecken wir Antworten auf deontische Fragestellungen. Die drei Prinzipien der Architektur von Vitruv, nämlich Stabilität (Firmitas), Nützlichkeit (Utilitas) und Anmut (Venustas) sind als klassische Antworten auf die deontische Frage zu sehen, nämlich wie ein Bauwerk sein soll. Diese Prinzipien könnten vermutlich noch immer für einige Produkte des heutigen Industrial Design gelten. Diese im Design immanente deontische Fragestellung, die Befragung, wie etwas sein soll, das noch nicht da ist und sich auch nicht naturwüchsig ergeben würde, charakterisiert das Wesen des Designs, das eher von der Ethik gespeist wird als von der Ästhetik. Das ist der entscheidende Punkt, warum das Thema Design aus der Sicht der Kunstwissenschaft nur unzulänglich behandelt werden kann, warum es in der Designwissenschaft untersucht werden sollte, und schließlich warum es in Gestalt der Designpädagogik möglich und erwünscht ist, im Kontext der Bildungswissenschaft behandelt zu werden.

DESIGN Um die perspektivische Möglichkeit des Designs im Bildungsbereich besser zu verstehen, ist es nützlich, auf das Design selbst kurz einzugehen. In drei Stationen möchte ich im Folgenden jene Aspekte des Designs skizzieren, die grundlegend für die Entwicklung der Designpädagogik sind. 1. Design formt Gestalt Die Tätigkeit der Designer war anfangs die Formgestaltung industriell hergestellter Produkte. Ihre genaue Aufgabe bestand darin, den technischen Geräten eine passende Gestalt und eine ästhetische Anmutung zu geben. Diese Arbeit war und ist noch von großer Bedeutung, weil sie die der Wahrnehmung unmittelbar zugängliche Seite eines Produktes betrifft und fast spontan über seine Attraktivität, Akzeptanz und somit über dessen Kauf durch Kunden mitentscheidet. Das Alltagsprodukt Stuhl z. B. erhält ausgehend von seiner Hauptfunktion des Ermöglichens und Erleichterns des Sitzens seine Form. Die Tatsache, dass es so viele unterschiedliche Stuhlformen gibt, liegt daran, dass die Stühle sehr vielen unterschiedlichen Anforderungen genügen müssen: zum Ausruhen, Arbeiten, Essen, Warten, Thronen und vieles andere mehr. Je nach Bedarf werden beim Gestalten eines Stuhls unterschiedliche Formen entwickelt, und ihnen haftet – gewollt oder ungewollt – eine bestimmte Anmutung an, bzw. wir gewinnen einen bestimmen ästhetischen Eindruck von dem

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Stuhl. Es ist unmöglich, keinen ästhetischen Eindruck zu haben. Wenn wir eine Gestalt wahrnehmen, vermittelt sie uns immer eine Anmutung, selbst wenn sie lediglich eine neutrale oder nichtssagende ist. Der bewusste Einsatz von Formen, Farben, Material, Oberfläche bzw. von bildnerischen Mitteln zum Zwecke der Erfüllung der Funktion und der Erreichung beabsichtigter Anmutung ist die offensichtlichste Arbeit der Designer. Diese Seite des Designs ist auch die prominenteste Seite des Designs. Die unter »Offenbacher Ansatz« bekannt gewordene Theorie der Produktsprache, eine disziplinäre Theorie des Produktdesigns, führte dafür den Begriff »formalästhetische Funktion« ein, die neben »Anzeichenfunktion« und »Symbolfunktion« die »produktsprachliche Funktion« eines Produktes darstellt.2 2. Design formt Handlung Beim Gestalten eines Produktes sind neben den formalästhetischen Aspekten die arbeitswissenschaftlichen Anforderungen zu berücksichtigen. Die Aspekte der Sicherheit und Ergonomie sind grundlegende Kriterien für die Güte eines Produkts bei der Erfüllung seiner Produktfunktionen. Wenn ein Designer ein Produkt entwirft, dann muss er den Arbeitsprozess und die damit verbundenen Handgriffe und Bewegungsabläufe mitbedenken. Um es deutlicher auszudrücken: Designer entwerfen die Gestalt von Produkten und zwangsläufig auch die dazugehörige Handlung. Zur Veranschaulichung stellen wir uns einen Stuhl vor, der vielfach in einer großen Kantine eingesetzt wird. Nachdem die Stühle ihre Funktion als Sitzmöbel beim Mittagstisch erfüllt haben, müssen sie vor der Bodenreinigung zunächst aufgestuhlt werden, um den Boden darunter zu reinigen, und dann wieder abgestuhlt werden. Dieser Arbeitsprozess kann abhängig von der Gestaltung des Stuhls eine umständliche, kraftintensive und rückenschädigende Belastung sein. Allein der Punkt, wo und wie die Möglichkeit zum Greifen und Heben des Stuhls realisiert ist, kann Belastung oder Entlastung für die Reinigungskräfte bedeuten. Designer, die Produkte gestalten, müssen sich daher nicht nur als Formgestalter begreifen, sondern in jedem Fall auch als Choreographen von Arbeitsprozessen, wobei es nicht um die Ästhetik und Anmut der Bewegung geht, sondern um die Effektivität und Effizienz von Arbeitsprozessen. 2 | Später in den 1970er Jahren in der unter »Offenbacher Ansatz« bekannt gewordenen Theorie der Produktsprache wird die »formal-ästhetische Funktion« als eine der Produktsprache definiert. Die Theorie der Produktsprache definierte auch die »Anzeichenfunktion« und die »Symbolfunktion«, die sowohl als Analyse- als auch als Designkriterien genutzt werden können. Vgl. Gros, Jochen: Einführung, in: HfG Offenbach (Hrsg.): Grundlagen einer Theorie der Produktsprache, Heft1, Frankfurt am Main 1983. Vgl. ebenso: Gros, Jochen: Symbolfunktionen, in: HfG Offenbach (Hrsg.): Grundlagen einer Theorie der Produktsprache, Heft 4, Frankfurt am Main 1987.

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3. Design formt Haltung Bei dem Beispiel der Stühle in der Kantine als Arbeitsumgebung von Reinigungskräften wird auch der Aspekt sichtbar, dass die Gestaltungsentscheidungen eine Haltung zum Ausdruck bringen. Diese innere oder geistige Haltung für eine bestimmte Entwurfsentscheidung kann vielfältige Ursachen haben: beispielsweise eine persönliche designphilosophische Motivation eines Designers, schlichte Sachzwänge oder finanzielle Einschränkungen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es bei dieser Entscheidung um das Abwägen von Prioritäten geht. Das ist nichts anderes als eine Werthaltung. Mit dieser Werthaltung bestätigen Designer Werte und können selbst neue Werte setzen. Eine Entwurfsentscheidung, die große physische Kraftanstrengung und rückenschädigende Arbeitsweise bei den Reinigungskräften zu vermeiden sucht, zeugt von einer anderen Werthaltung als die, die die optische Attraktivität oder die günstigen Produktionskosten zulasten der Gesundheit der Reinigungskräfte in den Vordergrund stellt. Es ist eine große Herausforderung für Designer, die Sachzwänge und Visionen unter einem Hut zu bringen. Diese Herausforderung steht jedoch nicht zur Disposition. Sie ist so etwas wie der Hippokratische Eid für Ärzte. Das ist u. a. auch der Grund, warum Designerausbildung auf tertiärer Bildungsstufe angesiedelt ist und deren Curriculum künstlerisch-wissenschaftlich angelegt ist. Darüber hinaus ist es unverzichtbar, eine Haltung zu Werten bzw. ein ethisches Bewusstsein zu entwickeln, das weit über die geschmäcklerische Spielerei hinausgeht. Im Design sind also künstlerische, arbeitswissenschaftliche und ethische Aspekte miteinander verflochten. Würde man im Designprozess diese auseinanderreißen oder nur einen Teil davon berücksichtigen, wäre das alles andere, aber nur nicht Design. Die Entwicklung des Designs von der Formgebung industriell hergestellter Produkte zum Entwerfen postindustrieller Artefakte geht mit der Erweiterung des Designbegriffs einher, die die Bedeutung des Gestaltens, des Designs von der materiellen bis in die immaterielle Seite ausweitet, von der künstlerisch-ästhetischen bis in die soziotechnische Seite umfasst und von der kulturellen bis in die gesellschaftsstrukturellen Bereiche hineinragt. Mit Design ist es daher möglich, zum einen Konventionen in Frage zu stellen und zu verwerfen und zum anderen neuen Ideen zur Sichtbarkeit und Akzeptanz zu verhelfen. Dafür lassen sich zwei prominente Beispiele in der Designgeschichte finden. Das erste Beispiel kommt aus Deutschland. Die reformpädagogisch angeregte Hinwendung zur Funktionalität und Sachlichkeit des Deutschen Werkbundes3, in dessen Folge auch die sogenannte Gute Form der 1950er und 3 | Der Deutsche Werkbund wurde von Hermann Muthesius, Friedrich Naumann und Henry an de Velde 1907 gegründet. Das Ziel war die Qualitätsanhebung des deutschen Kunstgewerbes durch das Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk.

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1960er Jahre dominierende Designhaltung war, ist ein Ausdruck des Bruchs mit der historistischen Formensprache und deren häufig überbordenden Ornamenten. Nach dieser Maxime der Guten Form sollten die gestalteten Gegenstände sowohl funktional als auch ästhetisch ansprechend sein und – so die Vorstellung damals – einer idealen Formgebung nahekommen. Diese Gestaltungshaltung, die als Funktionalismus mit der Devise form follows function in die Designgeschichte einging, wurde jedoch in den späten 1970er und 1980er Jahren durch Neues deutsches Design und international generell durch postmoderne Designströmungen radikal in Frage gestellt, deren Devise unter anderem lautete: form follows emotion oder form follows fun. Das zweite Beispiel liefert das Styling aus den USA. Dort verlief die Entwicklung des Design etwas anders. Der in Europa verbreitete Funktionalismus, der sich in sachliche und eher zurückhaltende Formalästhetik der Produkte ausdrückte, wurde in den USA nicht in dem Maße wie in Europa aufgegriffen. Bedingt durch die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre stand die Ankurbelung der Wirtschaft im Fokus der USA, in deren Folge das Design primär eine verkaufsfördernde Funktion übernahm. Aus den USA der 1930er, 1940er und 1950er Jahren kennen wir die stromlinienförmigen Fahrzeuge und Züge sowie Autos mit Heckflossen etc. 4 Diese als Styling bezeichnete Designauffassung prägte das US-amerikanische Design fast drei jahrzehntelang und sein Stil mit der formalästhetischen Charakteristik der Stromlinienform begleitete mehrere Generationen hindurch das Lebensgefühl des American Way of Life. Die formalästhetische Seite des Designobjekts ist die grundlegende Bedingung für das Wahrnehmen und Verstehen des Designs. Ihre Aufgabe geht jedoch weit darüber hinaus: Sie ermöglicht auch die Projektion von Mythos, die Zuschreibung von Sinn oder Werten. Sowohl die Gute Form als auch der American Way of Life zeigen die enge Verbindung zwischen dem Design und dem Lebensgefühl, zeigen in ihrer Gegensätzlichkeit den größer gewordenen Gestaltungsspielraum zwischen Produktformen und Lebensformen und illustrieren den erweiterten Designbegriff, der über die materielle und ästhetische Seite hinaus auf die immaterielle und ethische Seite des Designs weist. In der ganzheitlichen Komplexität gewinnt Design über die ökonomische Bedeutung hinaus auch kulturelle und soziale Relevanz. Die Eigenart der formalästhetischen Zeichen zu verstehen und damit bewusst umzugehen, ist die Forschungs- und Entwicklungsaufgabe der Designer.5 Darüber hinaus kommen den Designern weitere damit verbundene sozioökonomische, soziokulturelle, soziotechnische und ähnliche Anforde4 | Die bekanntesten Vertreter des Stromlinien-Designs sind: Henry Dreyfuss, Norman Bel Geddes und nicht zuletzt Raymond Loewy. 5 | Dazu hat bereits die Hochschule für Gestaltung Ulm – und das ist einer ihrer größten Verdienste – die Semiotik in das Ausbildungskonzept integriert und auf diese Weise

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rungen hinzu. Die Notwendigkeit zur Nachhaltigkeit in den ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen erfordert zudem eine veränderte Arbeitspraxis und ein weiter zu entwickelndes Selbstverständnis der Designer. Ebenso sind die Hochschulen gefordert, die Qualifikationswege für Designer zu überdenken und die Curricula der Ausbildung zum Designer anschlussfähig für die Zukunft zu gestalten. Die zentrale Frage lautet: In welcher Welt und wie wollen wir, sollen die nachkommenden Generationen in Zukunft leben? In dieser Fragestellung des Designs haben romantisierende Mythen und verklärende Stereotypen über die Kunst keinen Platz.

DESIGNPÄDAGOGIK Warum brauchen wir die Designpädagogik? Die Antwort auf die Frage nach der Existenzberechtigung der Designpädagogik ergibt sich nicht unmittelbar und von allein. Das hängt auch damit zusammen, dass Designpädagogik im Unterschied zu Musikpädagogik oder Kunstpädagogik ein Novum ist.6 Was auch nicht gerade zum besseren Verständnis beiträgt, ist die Tatsache, dass im Analogieschluss die Merkmale der Musik- oder Kunstpädagogik auf Designpädagogik übertragen werden. Damit ist die Missdeutung verbunden, bei der Designpädagogik handle es sich auch um eine musisch-ästhetische Bildung begleitet von einem engen Kulturverständnis, das lediglich die Konzerte, Kunstausstellungen und dergleichen meint. Designpädagogik bedeutet ebenso nicht, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, wie man stylische Produkte oder Medien entwirft. Diese unzutreffende Zuschreibung liegt jedoch nahe, weil offenbar unter dem Wort Design landläufig alles andere verstanden wird als das, was oben als erweiterter Designbegriff vorgestellt wurde. Eine möglicherweise leichter verständliche, aber dennoch nicht substituierende Umschreibung für Designpädagogik wäre

die Begründbarkeit von gestalterischen Entscheidungen um den wissenschaftlichen Aspekt erweitert. 6 | Das Fach Designpädagogik, das im Jahr 2003 eingerichtet worden ist, kann man nur an der Universität Vechta im Rahmen des sogenannten Zweifächer-Bachelorstudiums (mit und ohne Lehramtsoption) als einen der beiden Teilstudiengänge studieren.

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die »Innovationspädagogik«7 oder die »Kreativitätspädagogik«8. In der Designpädagogik geht es nicht um den Zugang zu einem musischen, darstellenden oder bildnerischen Medium und den Erwerb der Kompetenz, sich mit diesen Medien auszudrücken, sondern um den Erhalt des natürlichen Drangs zur Neugier und Fantasie insbesondere der Kinder, dessen Förderung und Weiterentwicklung zur Entwurfskompetenz. Dieser erstrebenswerte Anspruch ist vor dem Hintergrund der Realität der allgemeinbildenden Schulen mit der Frage verbunden, wie die Schulen es schaffen, dass der Drang zur natürlichen Neugier und Fantasie der Kinder und Jugendlichen im Verlauf ihrer Schullaufbahn nicht gänzlich verkümmert, ja sogar unterdrückt wird. Diese Frage ist Ausgangspunkt und Entwicklungsperspektive für Designpädagogik.9 Dazu ist es hilfreich, das Design im Verständnis des erweiterten Designbegriffs aus der Perspektive der Bildungswissenschaft zu betrachten. Wie wir im Folgenden sehen werden, offenbart diese Herangehensweise einige erstrebenswerte und attraktive Möglichkeiten. Warum Design als pädagogisches Thema von Bedeutung ist, lässt sich ausgehend von drei Distanzierungsleistungen in den drei erzieherischen Momenten des Designs zusammenfassen: Das sind empathisches Moment, antizipatorisches Moment und utopisches Moment.10 1. Distanzierung vom Ich: empathisches Moment Im Gegensatz zur Kunst, die – von Ausnahmen abgesehen – vorwiegend eine subjektzentrierte Auffassung des künstlerischen Tuns propagiert, liegt es im 7 | Der Begriff »Innovationspädagogik« ist seit seinem Auftauchen (Keim, Helmut: Innovationsklima in der Schule schaffen, in: Arbeitgeber 47, 1995, S. 13/14) in die Kritik geraten, weil sie von der Seite der Wirtschaft formuliert wurde und dies als eine unzulässige Umetikettierung der Reformpädagogik angesehen wurde und zugleich als verfassungswidrige Einmischung der Unternehmen in die Schule empfunden wurde (etwa Friedburg, Ludwig V.: Schulentwicklung zur Ungleichheit, in: Die Wiederentdeckung der Ungleichheit: Aktuelle Tendenzen in Bildung für Arbeit. Jahrbuch Bildung und Arbeit ’96, Opladen 1996, S. 36–50, hier S. 50). Neuere Publikationen beschäftigen sich dennoch weniger ideologiegeladen mit der »Innovationsklima« in den Schulen (etwa Bullinger, Hans-Jörg: Förderung der Unternehmenskreativität, in: Bullinger, Hans-Jörg/Hermann, Sibylle (Hrsg.): Wettbewerbsfaktor Kreativität: Strategien, Konzepte und Werkzeuge zur Steigerung der Dienstleistungsperformance, Wiesbaden 2000, S. 21–30, hier S. 29). 8 | Unter diesem Label bietet die Akademie für Kreativitätspädagogik Leipzig Weiterbildungsangebote für Erzieherinnen an, https://erzieherausbildung-leipzig.de/ [20.04.2019]. 9 | Vgl. https://www.ke-carius.de/fileadmin/pdf/Design-Initiative-Schule.pdf [20.04.2019]. 10 | Park, June H.: Designpädagogik – Bildungsbeitrag des Designs, in: ders. (Hrsg.): Didaktik des Designs = Schriftenreihe zur Designpädagogik Design & Bildung, Bd. 1, München 2016, S. 36–42, hier S. 41.

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Wesen des Designs, die Entwurfsarbeit stets für andere, nämlich die Nutzerinnen und Nutzer der Produkte, Medien und Dienstleistungen auszurichten. Damit verbunden ist die intensive Auseinandersetzung mit Wünschen und Bedürfnissen der anderen. Das Sich-in-den-anderen-Hineinversetzen ist ein wichtiges erzieherisches Moment des Designs. Dabei wird die Sozialkompetenz mit der Kreativität verstärkend gekoppelt. 2. Distanzierung vom Jetzt: antizipatorisches Moment Der Designprozess zielt auf eine Lösung von gegenwärtigen Problemen, indem die gegenwärtige Situation in verschiedenen Variationen in die Zukunft projiziert und soweit möglich prototypisch erprobt wird. Die Entwicklungsarbeit mit Szenarien von möglicher Zukunft birgt ein enormes erzieherisches Potenzial, weil hierbei das Fantastische und das Vorausschauende mit der Gegenwart in Verbindung gebracht werden. 3. Distanzierung vom Hier: utopisches Moment Ungewohnte Aufgaben erfordern einen ungewohnten bis hin zum radikal anderen Umgang. Dabei hilft die radikale Kreativität im Designprozess, sich vom Gewohnten loszulösen bzw. sich mental an einen konventionsfreien Ort zu begeben, um neue Ideen zu generieren und ihnen vorurteilslos zu begegnen. Die Virtual Reality zum  Beispiel gibt Einblick in neue Interpretationen von Ort, Raum und Orientierung darin, die gerade wegen ihrer deutlichen Abweichung von der physischen Welt von großer Bedeutung sind. Auch die soziale Beziehungslandschaft und das kommunikative Umfeld können durch radikale Kreativität utopisch angedacht und visionär weiterentwickelt werden. Die Designpädagogik mit diesen drei erzieherischen Momenten des Designs steht in der Linie der Tradition der Reformpädagogik, die das Lernen und Lehren aus einer starren behavioristischen Vorstellung der Erziehung herausführte und neue Didaktiken ermöglichte, die das Lernen vor allem durch Anschauung, Erlebnis und Selbsttätigkeit betonen statt durch Drill und Zucht. In der Designpädagogik verbinden sich über die reformpädagogischen Ansätze hinaus auch kognitionspsychologische und radikal konstruktivistische Elemente. Designpädagogik ist im Unterschied zu Kunstpädagogik nicht auf die bildnerischen Mittel und Kunstwerke ausgerichtet. Auch wenn in der Designpädagogik künstlerische Techniken und ästhetische Strategien zum Einsatz kommen, ist ihre Charakteristik nicht mit der der Kunstpädagogik vergleichbar. Die Charakteristik der Designpädagogik leitet sich von vielen kontingenten Umgangsweisen mit den deontischen Fragestellungen ab: Wie soll etwas sein, das noch nicht ist aber sein kann und möglicherweise sogar sein sollte? Sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, setzt Bereitschaft und Fähigkeit voraus, die gewohnten Denk- und Verhaltensmuster verlassen zu können. Das ist der Be-

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ginn der Kreativität und Innovation. Innovativ und kreativ zu sein, ist entgegen weitverbreiteter Meinung keine Angelegenheit einer spontanen Eingebung, so als ob man unverhoff t von einer Muse geküsst worden wäre und infolgedessen plötzlich eine gute Idee hat, sondern eine Fähigkeit, die man lernen, üben und schließlich auch gezielt anwenden kann. Die Festigung der Kompetenz zur Kreativität und Innovation erfordert daher eine kontinuierliche Entwicklungsund Förderarbeit bereits in der ersten schulischen Bildung. Die Exploration der Welt als Menschengemachtes (Artefakt) durch den Erkenntnisprozess des reflektierten Tuns (Wahrnehmen und Gestalten) unter Bezugnahme des Bestehenden (Kulturhistorischer Bezug) und des Kontingenten (Kulturperspektivischer Bezug) bildet die Grundstruktur der Designpädagogik (siehe Abbildung).11

Wahrnehmen

Kulturhistorischer Bezug

Artefakt

Kulturperspektivischer Bezug (Szenarien)

Gestalten

Abbildung 1: Grundstruktur der Designpädagogik. Die Gestaltetheit und Gestaltbarkeit der Lebenswelt und der Lebensform ist der grundlegende Erkenntnisgegenstand der Designpädagogik. Das Bestehende anders denken zu können und das Bewährte anders tun zu können, sind für eine Gesellschaft unverzichtbare schöpferische Ressourcen. Die Erfahrung zu ermöglichen, dass die Welt veränderbar ist und diese weltverändernde Tätigkeit – im Kleinen wie im Großen – nichts Ungewöhnliches ist, ja sogar Freude macht und Sinn ergibt, ist die zentrale Aufgabe der Designpädagogik. Designpädagogik hat zum Ziel, Kinder und Jugendliche zu Forschern ihrer eigenen Lebenswelt und Entwicklern ihrer eigenen Zukunft zu befähigen.

11 | Das Modell »Grundstruktur der Designpädagogik« greift bewusst auf die Terminologie der Niedersächsischen Kerncurricula der Schulfächer Kunst, Gestaltendes Werken und Textiles Gestalten zurück, um deren Anschlussfähigkeit an die Designpädagogik zu ermöglichen.

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In dieser pädagogischen Auseinandersetzung mit Design drängt sich auch die Frage nach der Didaktik des Designs auf, nicht nur auf der Primar- und Sekundarstufe der Bildung, sondern auch auf der tertiären Stufe, also der Hochschulbildung. Die Reflexion über den Gegenstand (Was), die Begründung (Warum) und die Methoden (Wie) der Didaktik des Designs ist in großen Teilen lückenhaft und partiell. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Didaktik des Designs ist erst in den Anfängen.12 Diese lässt sich jedoch ohne weitergehende Klärung und Präzisierung des Designbegriffs inklusive des erweiterten Designverständnisses nicht sinnvoll entwickeln und fortschreiben. Das ist wie eingangs bemerkt ein Glücksfall, weil der weitere Bedarf an Reflexionsarbeit im Designbereich aus bildungswissenschaftlicher Perspektive unverkennbar zutage tritt. Das schafft Klarheit über das Notwendige. Abschließend lassen sich ein paar Befunde formulieren: Unter Designwissenschaft stehen die Praxis, Geschichte, Theorie und Didaktik des Designs wie in anderen tradierten Wissenschaftsbereichen in einem engen Verweisungszusammenhang. Das ist im Designbereich derzeit noch nicht selbstverständlich. Die Korrektur der Rolle des Designs von angewandter Kunst zur angewandten Wissenschaft dauert noch an. Die Vermittlung und die Wissenschaftskommunikation des Designs sind daher noch mit nicht unerheblicher Entwicklungsund Aufklärungsarbeit verbunden. Dazu bedarf es der Intensivierung der Arbeit zur Begriffs- und Theoriebildung generell aus designphilosophischer und speziell aus designpädagogischer Sicht.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Grundstruktur der Designpädagogik, © Park.

QUELLENVERZEICHNIS Bullinger, Hans-Jörg: Förderung der Unternehmenskreativität, in: Bullinger, Hans-Jörg/Hermann, Sibylle (Hrsg.): Wettbewerbsfaktor Kreativität: Strategien, Konzepte und Werkzeuge zur Steigerung der Dienstleistungsperformance, Wiesbaden 2000, S. 21–30. Friedburg, Ludwig V.: Schulentwicklung zur Ungleichheit, in: Jahrbuch Bildung und Arbeit (Hrsg.): Die Wiederentdeckung der Ungleichheit: Aktuelle Tendenzen in Bildung für Arbeit, Opladen 1996, S. 36–50. 12 | Zum Beispiel die zwei Bände der Schriftenreihe zur Designpädagogik Design & Bildung: Bd. 1 »Didaktik des Designs« (Park 2016) und Bd. 2 »Bildungsperspektive Design« (Park 2018).

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Gros, Jochen: Einführung, in: HfG Offenbach (Hrsg.): Grundlagen einer Theorie der Produktsprache, Heft1, Frankfurt am Main 1983. Gros, Jochen: Symbolfunktionen, in: HfG Offenbach (Hrsg.): Grundlagen einer Theorie der Produktsprache, Heft 4, Frankfurt am Main 1987. Keim, Helmut: Innovationsklima in der Schule schaffen, in: Arbeitgeber 47, 1995, S. 13/14. Park, June H.: Designpädagogik – Bildungsbeitrag des Designs, in: ders. (Hrsg.): Didaktik des Designs = Schriftenreihe zur Designpädagogik Design & Bildung, Bd. 1, München 2016, S. 36–42. Park, June H. (Hrsg.): Didaktik des Designs = Schriftenreihe zur Designpädagogik Design & Bildung, Bd. 1, München 2016. Park, June H. (Hrsg.): Bildungsperspektive Design = Schriftenreihe zur Designpädagogik Design & Bildung, Bd. 2, München 2018. Raap, Heike: Von Überzeugungen und Zweifeln – Orientierung als Gegenstand der Designlehre, in: Park, June H. (Hrsg.): Bildungsperspektive Design = Design & Bildung, Bd. 2, München 2018, S. 14–21. Rittel, Horst W. J./Kunz, Werner: »Der Ansatz der Informationswissenschaften«, in: Rittel, Horst W. J. (Vf.)/Reuter, Wolf D. (Hrsg.): Planen, Entwerfen, Design, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 151–160. Zerweck, Philip: Deontische Fragestellungen, in: Hugentobler, Hans Kaspar/ Mareis, Claudia/Nyffenegger, Franziska/Reichhardt, Ulrike/Zerweck, Philip: Designwissenschaft und Designforschung: einführender Überblick, Hochschule Luzern Design und Kunst, 2010, S. 17–18.

Design for teaching! Forschung und Gestaltung für vernetztes lebenslanges Lernen Sabine Foraita und Stefan Wölwer

EINFÜHRUNG Unsere Gesellschaft hat trotz zahlreicher Zukunftsvorhersagen und Visionen noch keine übereinstimmende Vorstellung davon, wie und wohin sich unser Bildungssystem entwickeln soll und wird. Zwar gibt es eine allgemeine Übereinkunft darüber, dass Kinder zur Schule gehen und wir alle lebenslang dazulernen sollten, aber über die Inhalte und Formen wird zu Recht gestritten. Diese setzen sich aus bildungshistorischen Idealen, aus individueller Eignung, aus erzieherischer Motivation und der derzeitigen und zukünftigen Arbeitsmarktentwicklung unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Strömungen zusammen. Allerdings erzwingt die Vielfalt der heutigen Interessen, die Unklarheit als auch die Unsicherheit über die kommenden Anforderungen eine umfassende Diskussion darüber, wo wir gerade in Bildungsangelegenheiten stehen (Pisa und Bologna) und wo wir uns diesbezüglich individuell und gesellschaftlich hin entwickeln wollen. Der Eindruck, dass unsere Ziele in der Bildung eher auf Effizienz als auf Qualität ausgerichtet sind, drängt sich auf. Dabei verändern sich gerade die technologischen Rahmenbedingungen, die dringend Berücksichtigung finden müssten, exponentiell. Diese können wir in drei Bereiche unter der Überschrift der digitalen Transformation gliedern. Mit der Computerisierung wurde eine vernetzte elektronische Infrastruktur geschaffen, die alle Lebensbereiche durchdringt und Personal Computer und Smart Devices zu Standardwerkzeugen der Kommunikation machte. Dies brachte eine umfassende Digitalisierung mit sich, bei der vormals analog gespeichertes Wissen und Information auch virtuell abruf-, erweiter- und veränderbar wurde und neue Lehr- und Lernwege ermöglichte. Mit der anhaltenden Algorithmisierung werden Prozesse analysiert und automatisiert und neben den Menschen lernen nun auch Maschinen. Die sogenannten Künstlichen Intelligenzen bauen unsere Lebenswelten nachhaltig um, womit sie uns einerseits fördern und andererseits fordern. Wenn die Künstliche Intelligenz bzw. das maschinelle

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Sabine Foraita und Stefan Wölwer

Lernen z. B. ärztliche Entscheidungen sehr gut vorbereitet oder den Aktienhandel 1 steuert, warum sollten wir sie dann nicht auch in unser Bildungssystem stärker sinnvoll integrieren? Warum schreiben wir Lehrpläne zur Festlegung von Inhalten für die nächsten fünf bis acht Jahre fest und meißeln in Reakkreditierungsprozessen die Curricular in Stein? Warum lassen wir unsere Lernanforderungen und -leistungen nicht von Algorithmen einschätzen, um so gemeinsam mit allen Beteiligten in partizipativen und kollaborativen Prozessen ein optimales und individuelles Lehrangebot zu gestalten? Warum fassen wir also das Lernen und Lehren nicht als umfassende Interaktion zwischen Menschen als auch Menschen und Systemen auf, die es zu gestalten gilt? Hier kommen Aufgaben auf uns zu, die wir nur gemeinsam mit den beteiligten Disziplinen lösen können. Es braucht Moderationen, Ideen und die Fähigkeit, diese Zukunftsentwürfe und Entscheidungen verständlich darzustellen, zu begründen und zu erläutern, so dass eine interdisziplinäre Weiterentwicklung und Umsetzung dieser gemeinsamen Vorstellungen erfolgen kann. Designerinnen und Designer können diese Vermittlungsarbeit zwischen den Technologien und den Menschen – also Lehrenden und Lernenden – als Teil der Transformativen Wissenschaften2 leisten und sich in den bildungspolitischen Prozess einbringen. Dies betrifft z. B. auch unsere Fakultät Gestaltung. Hier wird Design erforscht, gelehrt und gelernt, soweit die Übereinkunft, aber auch unsere Hochschule ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Fragestellungen und somit auch deren Diversität. Entscheidungen werden gemeinsam auf Basis eines Konsens getroffen, dem Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Interessen und Einschätzungen vorausgingen. Das daraus resultierende umfassende Thema des vernetzten lebenslangen Lernens möchten wir an dieser Stelle aus unserer Position heraus reflektieren und eine Vorstellung entwerfen, wie das aussehen könnte. Design verschafft und ist selbst Bildung und Haltung. Diesen an die These des Designs als Orientierung3 des Medienwissenschaftlers Nobert Bolz anknüpfenden Gedanken legen wir unserem Beitrag zugrunde. Wir möchten – ausgehend von einer Verortung unseres eigenen Designverständnisses – mit einem Beispiel aus unserer Forschung und Gestaltung darlegen, wie ein vernetztes lebenslanges Lernen gelingen könnte. Und da Design keine monopa-

1 | Vgl. Roberge, J./Seyfert, R.: Was sind Algorithmuskulturen?, in: Roberge, J./Seyfert, R. (Hrsg.): Algorithmuskulturen – Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, Bielefeld 2017, S. 7–40. 2 | Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, Globale Umweltveränderungen (WBGU) (Hrsg.): Welt im Wandel, Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011. 3 | Bolz, N.: Die Sinngesellschaft, Düsseldorf 1997, S. 232.

Design for teaching!

radigmatische Normwissenschaft ist, erlauben wir uns zunächst eine eigene Positionierung.

Algorithmisierung

Digitalisierung

Computerisierung

Künstliche Intelligenz

Gestalterische Intelligenz

Abbildung 1: Übersicht

DESIGN Design ist als zielgerichteter Prozess aufzufassen, der eine Frage- oder Problemstellung in gestalterischer Hinsicht löst. Dabei kann es sich bei der Lösung um ein materielles oder immaterielles Ergebnis handeln. Das Design gestaltet darüber hinaus die Handlungsoptionen der Nutzenden im Kontext der Umgebung. 4 Für uns ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenbereich Design in seiner erweiterten Begrifflichkeit5 in Lehre und Forschung grundlegend. Hier liegt der Schwerpunkt im Vermitteln und Anwenden verschiedener Designforschungsmethoden, um Erkenntnisse zu generieren und designrelevantes Wissen zu erzeugen. Das reicht bis zur Erstellung von Zukunftsszenarien über Narrative und Artefakte. Designerinnen und Designer sind an der Entwicklung unserer sogenannten zweiten Natur, also alles, was das künstlich Gemachte und nicht das allein aus der Natur Hervorgebrachte betrifft, erheblich beteiligt. Wir gestalten nicht nur in materiellen (»hardware«) sondern auch in immateriellen (»software«) Bezügen als auch in zunehmendem Maße die Rahmenbedingungen von Interaktionen von Artefakten und Menschen und die Interaktionen von Menschen untereinander. Die Sensibilisierung für ethische Fragen, die nicht nur das soziale Miteinander, sondern auch das Themenspektrum der Nachhaltigkeit betreffen, wird ange4 | Vgl. Foraita, S.: Borderline – Das Verhältnis von Kunst und Design aus der Perspektive des Design, Dissertationsschrift HBK Braunschweig 2005, S. 85. 5 | Milev, Y. (Hrsg.): Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwissenschaft, München 2013, S. 22.

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sichts der Herausforderungen, die wir als Weltgemeinschaft haben, dabei zunehmend relevanter. Darüber hinaus beobachtet der Physiker, Mathematiker und Philosoph Armin Grunwald, dass in absehbarer Zeit nicht die Unterlegenheit des Menschen in Bezug auf die Technik die große Gefahr sei, »sondern seine totale Abhängigkeit von der digitalen Technik.«6 Der Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) weist jedoch auch auf die Wichtigkeit der Gestaltung hin: »Stattdessen müssen wir das Denken in Alternativen entwickeln: alternative Möglichkeiten statt alternativloser Anpassung. Dann wird Gestaltung möglich, sicher nicht in allen Bereichen und zu jedem Produkt, aber wenigstens in denen, die unsere Zukunft maßgeblich mitprägen. Ja, Gestaltung kann anstrengend sein, sicher anstrengender, als auf dem Sofa zu sitzen und darüber zu klagen, dass man ja doch nichts machen kann. Aber es lohnt sich. Wir können etwas tun, wir müssen es nur wollen.«7

DESIGN ALS INTER AK TION MIT DER ZUKUNF T Während diese grundsätzliche Betrachtung der Gestaltung des Handlungsund Umgebungskontextes zur Grundlage aller Designkompetenzen gehört, so findet sie im Interaction Design aufgrund seiner technologieorientierten Ausrichtung eine besondere Bedeutung im Bezugsrahmen der digitalen Transformation. Hier geht es um die Gestaltung jener oftmals digitalen Parameter, die eine Interaktion zwischen uns Menschen, Artefakten und Räumen erlauben. Das lässt sich gut anhand des Schachspiels als Metapher erläutern. Den beiden Spielenden stehen Schachfiguren und Schachbrett sowie Spielregeln zur Verfügung. Damit interagieren sie und denken in langen Zugfolgen. Somit ist Schach ein anschauliches Bild für das Wirken des Interaction Designs: Es lassen sich nur die grundsätzlichen Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Spielenden planen, aber nicht der konkrete Spielverlauf. Zwar mögen wir davon eine Vorstellung haben, dieser ergibt sich tatsächlich aber erst aus dem Können und den Entscheidungen der Spielerinnen und Spieler. Die Schachfiguren stehen in dieser Metapher für die digitalen und technischen Werkzeuge und Produkte. Das Schachbrett steht sinnbildlich für den weiten Bereich des Interface Designs. Die Spielregeln beim Schach stehen im übertragenen Sinne für gute mentale Modelle in den meist digitalen Anwendungen, die regelbasiert und fühlbar verständlich sein müssen.

6 | Grunwald, A.: Der unterlegene Mensch – Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern, München 2019, S. 29. 7 | Ebd., S. 161.

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Diese Einordnung des Interaction Designs verankert sich zum einen sicher auf dem Gedanken des Philosophen Wolfgang Welsch, wonach sich Design »zunehmend von der Objektgestaltung […] zur Rahmengestaltung«8 verlagert. Zum anderen stammt der Begriff der Interaktion aus den Sozialwissenschaften und erfuhr hier gerade von James Mark Baldwin eine frühe Definition als »die Beziehung zwischen zwei oder mehreren relativ unabhängigen Dingen oder Systemen des Wandels, die sich gegenseitig voranbringen, behindern, begrenzen oder anderweitig beeinflussen.«9 Während sich Baldwin auf die Wechselwirkung von Dingen und Systemen bezog, diskutierten die Sozialwissenschaften gerade in den 1970er und 1980er Jahren Interaktion als Akt des kommunikativen Handelns zwischen Individuen und Gruppen.10 Und dass wir Interaktionen bewusst gestalten können und müssen, argumentieren zu dieser Zeit die Industriedesigner Bill Moggride und Bill Verplank, die den Begriff des Interaction Design wesentlich prägten11. Im Interaction Design ist Technologie also ein Gestaltungsmittel, durch deren kreativen Einsatz eben diese Technologie auch gleichzeitig im Sinne der Anwendenden weiterentwickelt wird. Somit stellt für uns ein erweitertes Verständnis von Design im Allgemeinen und ein technologieaffines Interaction Design im Besonderen ein anzustrebendes positives Handeln für den Menschen in den Vordergrund. Dieses Handeln muss jedoch auch auf basalen Annahmen auf bauen können, da eindeutige Problemdefinitionen und Fragestellungen für eine noch unklare Zukunft oft nicht vorliegen. Diese müssen innerhalb der hier dargelegten Designprozesse erst noch gemeinsam beschrieben werden.

DESIGNFORSCHUNG UND DESIGNFORSCHUNGSME THODEN IN DER PR A XIS Jedem guten gestalterischen Prozess liegt ein methodischer Ansatz zugrunde. Er beginnt mit einer intelligenten Fragestellung, einer zielgerichteten Planung und geht weiter mit den relevanten Forschungs- und Kreativmethoden und wird begleitet mit der Erstellung von prototypischen Darstellungen zur iterativen Reflexion des Vorankommens. Doch es gibt einen Moment, der schon mal als »magisch-kreativer« Moment oder auch als die »Blackbox« des Gestal8 | Welsch, W.: Ästhetisches Denken, 8. Auflage 2017, Ditzingen 1990, S. 232. 9 | Baldwin, J. M.: Dictionary of philosophy and psychology, 1901, http://psychclassics. yorku.ca/Baldwin/Dictionary/defs/I4defs.htm#Interaction [20.04.2019], eigene Übersetzung. 10 | Vgl. Abels, H.: Einführung in die Soziologie, Wiesbaden 2009. 11 | Vgl. Moggridge, B.: Designing Interactions, Cambridge 2007.

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tungsprozesses betrachtet wird. Dies geschieht durchaus in einer Analogie zur Künstlichen Intelligenz, in der, nachdem alle Parameter definiert worden sind, der Computer ein Ergebnis hervorbringt, dessen Entstehungsprozess in diesem speziellen Stadium aufgrund der enormen Komplexität kaum nachvollziehbar ist. Und so wissen wir auch oft nicht so recht, wie das Ergebnis des Designprozesses in diesem Moment zu Stande kam, wenn es nicht reflektiert und dokumentiert wurde. Reflexion und Dokumentation sind jedoch im Rahmen einer designwissenschaftlichen Auseinandersetzung unbedingt notwendig. Eine gute Argumentation der Überlegungen, die zum Ergebnis geführt haben, sowie die Darstellung der verwendeten Methoden, die zu den entscheidenden Erkenntnissen geführt haben, sind neben dem kreativen Entwurf unerlässlich. Aber was bedeutet Kreativität überhaupt? Eine Erklärung des Psychologen Kurt A. Heller erscheint uns aufschlussreich: »Systemisch betrachtet, resultiert Kreativität aus der Interaktion von Kultur (die symbolisiertes Erfahrungswissen verfügbar hält), Individuum (das etwas Neues hinzufügt) und Gesellschaft (die solche Innovationen anerkennt und positiv stimuliert, wozu […] ein ›Übermaß an Aufmerksamkeit‹ gehört).«12

Er weist im Kontext von Arbeits- und Lernorten ferner darauf hin, dass offene, partnerschaftliche Kooperationsformen günstig sind, »zumal wenn die Beteiligten sich hinsichtlich ihrer Fachkompetenzen und Erfahrungen ergänzen.« 13 Und: »Genügend Freiräume für neue unkonventionelle Ideen und Lösungsvorschläge, gepaart mit gemeinsamer Verantwortung und sozialer Unterstützung (vor allem auch bei Mißerfolgen [sic!]) im Hinblick auf die Aufgabenverpflichtung sowie eine entspannte Arbeitsatmosphäre tragen hier entscheidend zur Kreativitätsförderung bei.«14

Es gibt darüber hinaus zahlreiche Definitionen und Deutungen, was Kreativität (das Wort findet sich übrigens erst seit 1973 im Rechtschreibduden15) bedeute. Meist beziehen sie sich auf ein künstlerisches und kulturelles Wirken. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch »Die Erfindung der Kreativität« umfassend den Werdegang des Kreativitätsbegriffes vom pathologischen Befund des »Künstlergenies« bis hin zum heutigen Kreativitätsdispositives, demnach alle Lebensbereiche kreatives und damit schöp12 | Heller, K. A.: Kreativität, in: Lexikon der Psychologie, https://www.spektrum.de/ lexikon/psychologie/kreativitaet/8300 [12.02.2019]. 13 | Ebd. 14 | Ebd. 15 | Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Kreativitaet [12.02.2019].

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ferisches Wirken verlangten.16 Daher stellt sich die Frage, wie Kreativität sinnvoll im Kontext einer Entwurfsleistung im Design eingeordnet werden kann. Hier herrscht nach unserer Wahrnehmung noch immer die Annahme vor, dass Kreativität etwas ausgesucht individuell Gegebenes ist, eine Fähigkeit, die besonders macht und die sich – nahezu von höheren Mächten gesandt – auf Kreative niederlässt. Mit dieser Vorstellung entzieht sich jedoch der gestalterische Prozess einer Begründung. Im Weiteren weist Reckwitz in seinem Buch darauf hin, dass nach Erkenntnis der Psychologie »das kreative Selbst nicht die Ausnahme, sondern die gesunde Normalform des Subjekts ist« 17. Professionelle Kreativität basiert also auf den o. g. designmethodischen Vorgehensweisen, auf Reflexion und Begründung des Entwurfs. Ein weiterer wichtiger Punkt innerhalb des Gestaltungsprozesses ist dabei die Haltung der Gestaltenden, die man durchaus als ethische oder moralische Einstellung bezeichnen kann. Dieser Faktor nimmt an Bedeutung zu, denn er legt die Einflussgrößen auf den Gestaltungsprozess fest. Die Haltung zu Menschen und der Welt bestimmt die Perspektive, die unsere artefaktische Welt repräsentiert: Artefakte entstehen im Rahmen der ideellen Kultur und manifestieren sich als materielle Gegenstände; durch sie entsteht die materielle und immaterielle Kultur, welche die ideelle Kultur widerspiegelt. In Artefakten und Handlungsweisen steckt also gemeinter Sinn, Artefakte und Interaktionen repräsentieren die Sichtweisen und Perspektiven einer Gesellschaft. Wie aber entwickeln wir eine eigene Haltung und wie finden wir unsere Position als Gestaltende innerhalb der Diskussion über den Entwurf von Bildungsstrategien? Wie gelingt es uns, die Perspektiven aller am Bildungsprozess Beteiligten zu betrachten, zu berücksichtigen und im Kontext einzuordnen? Hier helfen uns abermals die Methoden des Designs und der Designforschung, die eine umfassende Reflexion der Haltungen und Positionen ermöglicht. Hierzu ist zunächst eine umfassende Analyse der Stakeholder erforderlich, einhergehend mit Expertinnen- und Experteninterviews, die es ermöglichen, Erkenntnisse zu generieren, die die Grundlage für partizipative Workshops bilden könnten, um einen Konsens, beispielsweise durch eine mehrstufige Delphi-Befragung, bilden zu können. Die verschiedenen Stufen werden dabei dokumentiert und reflektiert. Wie bereits dargelegt, ist die Reflexion und Dokumentation ein wesentlicher Bestandteil des Designprozesses. Eine erste und grundlegende Reflexion bedeutet, eine Haltung herauszubilden, die in Abstimmung mit dem Wertesystem unserer Gesellschaft korrespondiert. Dies geschieht aus der Perspektive der Gestaltenden zum einen durch die Sozialisierung innerhalb dieser Gesellschaft, der damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklung, den 16 | Vgl. Reckwitz, A.: Die Erfindung der Kreativität, 5. Auflage, Berlin 2017. 17 | Ebd., S. 321.

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Frage- oder Problemstellungen, als auch anschließend durch das angestrebte Ergebnis, welches durch die Gestaltung erreicht werden soll. Dies setzt voraus, dass sich (in unserem Beispiel) sowohl Lehrende und als auch Lernende beständig hinterfragen. Diese iterativen Prozesse basieren auf Forschen, Entwerfen, Bewerten und Testen. Das gilt sowohl für den klassischen Designprozess als auch für das Lehren und Lernen an sich. Eine Herausforderung liegt nun darin, dass wir zur Gegenwart eine Haltung durch zeitliche Verbindung entwickeln können, zur Zukunft aber nur durch stellvertretende Fiktionen, die dabei helfen, diese Zukunft zu erforschen. Research through Design ist hier die geeignete Methode und Reflexionshilfe. Die Designforscher Elisa Giaccardi und Pieter Stappers, beide auch lehrend in den Bereichen Interaction Design und Design Techniques tätig, erläutern, dass Research through Design als Begriff hauptsächlich in der akademischen Arbeit der gestalterischen Fachgebiete verwendet wird, dabei jedoch eine viel größere Verbindung zu anderen Disziplinen aufweist.18 »In many places, we see that designerly actions not only contribute to achieving a local improvement in a single product or situation but also serve to discover, exemplify, clarify, and promote more general principles, which can be used elsewhere.«19

Sie weisen ferner darauf hin, dass trotz der unterschiedlichen Einordnungen der Begrifflichkeit des Research through Design in der Bandbreite der Kompetenzen der Wissenschaft und Forschung doch eine wichtige Gemeinsamkeit hervorsticht: »The common core is that they advocate the contribution of designerly activities and qualities to the knowledge outcome, especially those activities that introduce prototypes into the world, and reflect, measure, discuss, and analyze the effect, sometimes the coming-into-being, of these artifacts.« 20

Die besondere Fähigkeit von Gestaltenden besteht darin, dass sie Erkenntnisse und Wissen in Darstellungen übersetzen können, um diese wiederum für eine weitergehende Diskussion mit allen Beteiligten zu verwenden. Eine besondere Form des Research through Design stellt die Design Fiction dar.

18  |  Vgl. Stappers, P./Giaccardi, E.: Research through Design, in: Lowgren, J./Carroll, J. M./ Hassenzahl, M. et al.: The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed., https://www. interaction-design.org/literature/book/the-encyclopedia-of-human-computer-interaction2nd-ed/research-through-design [02.05.2019]. 19 | Ebd. 20 | Ebd.

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DESIGN FICTION Jede Skizze oder jede Beschreibung im frühen Entwurfsprozess ist zunächst eine Fiktion. Eine Idee manifestiert sich in Form einer visuellen oder geschriebenen Darstellung, eines begreif baren Prototypen oder eines ersten kleinen Computerprogramms und zielt auf die zukünftige Nutzung eines Artefakts oder eines Algorithmus. Die Weiterentwicklung dieser Skizze oder Beschreibung findet in einem Iterationsprozess statt. Zum einen in der Form eines Dialogs zwischen den Gestaltenden und den eigenen ersten Entwürfen und zum anderen im Rahmen von Interaktionen zwischen Gestaltenden, Auftraggebenden und den räumlichen Zusammenhängen. Damit diese skizzierte oder beschriebene Fiktion aber auch eine verbindende Funktion innerhalb eines Teams von Gestaltenden als auch im gesellschaftlichen Kontext erhält, benötigt es eines besonderen Narratives, welches den Kontext, in dem das zu gestaltende Artefakt oder die zu gestaltenden Parameter stehen, beschreibt. »It tells worlds not stories«21 sagt dazu der Science Fiction Autor Bruce Sterling und weist auf die besondere Bedeutung dieser Diegese hin. »It’s the deliberate use of diegetic prototypes to suspend disbelief about change.«22 erklärt Sterling. Und genau darin liegt die für uns als Gesellschaft so wertvolle Funktion der Design Fiction. Sie erlaubt uns nicht nur den Entwurf von Zukunft, sondern vor allem die gesellschaftliche Abstimmung darüber, bevor die Idee, oft disruptiv und nicht immer zum Wohle aller, umgesetzt wird. Ein Beispiel für letzteres sind ja gerade die Produkte und Services aus dem Silicon Valley, die von den dort ansässigen Solutionisten23 machtvoll in den Markt und die Gesellschaft gedrückt werden. Und dann kann es eben vorkommen, dass WhatsApp und Facebook uns zu neuen Kommunikationsund sozialen Umgangsformen zwingen, die wir weder diskutiert haben noch immer von Vorteil für uns sind. Der Computerwissenschaftler und Vordenker Joseph Weizenbaum formulierte in seinem Buch »Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft« frühzeitig: »Der Programmierer ist jedoch der Schöpfer von Universen, deren alleiniger Gesetzgeber er selbst ist.«24 Als Gestaltende können wir diese Art von aufgezwungener Zukunft vermeiden, 21 | Torie Bosch im Gespräch mit Bruce Sterling: Bosch, Torie: Sci-Fi Writer Bruce Sterling Explains the Intriguing New Concept of Design Fiction, in: Slate, 02.03.2012, http://www.slate.com/blogs/future_tense/2012/03/02/bruce_sterling_on_design_ fictions_.html [02.05.2019]. 22 | Ebd. 23 | Vgl. Morozov, E.: To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism, New York 2014. 24 | Weizenbaum, J.: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt am Main 1987, S. 160.

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indem wir sie also zunächst zur Diskussion stellen. Bereits während des Entwurfs nutzen wir als Designforschungsmethoden mitunter partizipative Methoden, die die Nutzenden bereits in den Gestaltungsprozess mit einbeziehen. Bevor wir also die Idee durch Design Fiktion testen können, ist schon das prozessuale Vorgehen ein iterativer Prozess des diskursiven Überprüfens. Um dieses Vorgehen zu veranschaulichen, haben wir uns ein Projekt aus dem Lehrbereich Interaction Design ausgewählt.

Abbildung 2: next

BEISPIEL: NE X T – NEUE WEGE DER ALUMNIARBEIT UND E VALUIERUNG DER LEHRE AN DER HAWK Die Situation: Die regelmäßige Evaluierung der Lehre und des Lernerfolgs ist ein fester Bestandteil der Qualitätssicherung an Hochschulen. Hierbei werden zunächst die Erfahrungen und Arbeitserfolge der Studierenden erfragt und ausgewertet. Die Ergebnisse werden im Anschluss von Studierenden und Lehrenden gemeinsam besprochen, um die Lehre entweder zu bestätigen oder zu korrigieren. Dabei bewegt sich das Evaluierungsverfahren aber nur innerhalb der Hochschule und die wichtige Beurteilung der Studienleistung durch den darauffolgenden Arbeitsmarkt fließt nicht in die Analyse ein. Zur Zeit pflegen wir zwar einen Austausch zwischen Alumnis und Studierenden in Form eines Vortragsformats (»Treffen mit dem Ex«), es fehlt aber im Weiteren an einem permanenten Austausch zwischen Studierenden

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und Alumni, der motivierend auf das Studienangebot und -verhalten wirken kann. Schließlich stellen sich die Studierenden die Fragen, welche Erwartungen das Berufsleben an sie stellen wird und welche Chancen es bietet. Aber auch bei den Lehrenden mangelt es oft am direkten Austausch mit Alumni, obgleich deren Reflexionen des aktuellen Arbeitsmarktes sehr wertvoll sein können. Auch böten sich viele Optionen auf gemeinsame Forschungsprojekte zwischen Industrie und Hochschulen, die den Unternehmen einen wertvollen Wissenstransfer brächten und den Hochschulen wichtige Forschungs- und Lehrkooperationen als auch Drittmittel. Bisher beruhte die Alumni-Arbeit an unserer Fakultät auf einzelnen Personen mit der Folge der Abhängigkeit von eben diesen persönlichen Netzwerken. Ein nachhaltig gestaltetes System des Austauschs besteht nicht. Hier nun setzt das von unseren Masterstudierenden Lydia Lütgering und Julian Robert Körber entwickelte Konzept next 25 an. Den Rahmen bot das Integrative Projekt »We call it Design Intelligence and it’s not artificial!«, welches sich intensiv mit dem zukunftsrelevanten Themenkomplex »Künstliche Intelligenz und Design« auseinandersetzte. Die beiden Studierenden konzentrierten sich daher zunächst auf die Analyse verwandter Algorithmen, wie wir sie beispielsweise auf Dating-Portalen finden. Wenn diese in der Lage sind, Partnerschaften vorzuschlagen, warum sollte das nicht auch in Bezug auf unser Alumni-Portal als Karriereförderung funktionieren! Im Weiteren befragten wir Schlüsselpersonen aus dem bisherigen, im persönlichen sehr gut funktionierenden, Alumni-Netzwerk und arbeiteten die wichtigsten Strukturen und Interaktionswege heraus. Als weitere Designforschungsmethode kam ein Online-Fragebogen zum Einsatz, mit dem die Erwartungen der Studierenden abgefragt und eingeordnet wurden. Und schließlich waren Lydia Lütgering und Julian Robert Körber aufgrund ihrer Designkompetenzen in der Lage, die gewonnen Erkenntnisse und Ideen im Rahmen einer nachvollziehbaren Design Fiction zu visualisieren und zu vermitteln. In der Folge gelang es, unser Präsidium und die AG Alumni unserer Hochschule für die Idee zu gewinnen. In einem nächsten Schritt werden wir einen programmierten Prototypen entwickeln, um mit diesem in die weitere Diskussion mit den Zielgruppen und vor allem mit den notwendigen Fachgebieten wie der Informatik zu gehen. Unser Ziel ist, dass dieser neue Service unabhängig von einzelnen Personen und derer Moderation funktioniert und sich stattdessen in einer selbstlernenden Plattform etabliert, die sich dynamisch und eigenständig weiterentwickelt und somit den Erwartungen der Studieren-

25 | Lütgering, L./Körber, J. R., https://juliankoerber.de/next [20.04.2019].

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den und Alumni gerecht wird. In Anlehnung an Georg Jellinek 26 können wir hier auch von der normativen Kraft des Fiktiven sprechen.

ZUSAMMENFASSUNG Wir sprachen zu Beginn die Herausforderungen an, die durch die Vielfalt von heutigen Positionen und Entwürfen zukünftiger Bildungssysteme bestehen. Hinzu kommt eine technologische Entwicklung, die einerseits nicht vollständig vorhersehbar ist und andererseits doch Folge eines bewussten Entwicklungsprozesses ist. Was bedeutet all dies nun für die Zukunft des Lehrens und Lernens, wenn keine eindeutige Planbarkeit möglich ist? Welchen Beitrag kann Design leisten, zumal nach einer vielzitierten frühen Einordnung von Herbert Alexander Simon27 jeder ein Designer ist, der einen gegebenen Zustand in einen besseren überführt? Die von Wolfgang Welsch schon 1990 als neue Designaufgabe beschriebene »Rahmengestaltung« wird in einer digitalisierten und algorithmisierten Welt umso notwendiger, je stärker neue Technologien unser Leben beeinflussen. Wenn sich also Design zu einer technologischen und gesellschaftlichen Rahmengestaltung entwickelt und auch vordringlich daran beteiligt ist, Interaktionen zwischen Menschen und Systemen zu ermöglichen, dann ist das Design sicher auch prädestiniert, bei der Gestaltung von Bildungsangeboten beteiligt zu werden, die auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren. Was kann also Design im Kontext einer veränderten Bildungslandschaft bewirken, in der es wichtiger ist, die Fähigkeiten zu trainieren, die einen zum lebenslangen Lernen ermächtigen als feststehendes Wissen zu erwerben? Partizipation und Interdisziplinarität, welche in der Gestaltung schon immer einen wichtigen Platz beanspruchen, sind eine Möglichkeit, das Bildungssystem zeitgemäß zu strukturieren. Dabei müssen die verschiedenen Stakeholder mit einbezogen werden: Ehemalige Schülerinnen und Schüler und Studierende, die im Rückblick einschätzen können, welche Fähigkeiten intensiver trainiert werden sollten. Auszubildende Institutionen und Lehrende, die das Curriculum ebenfalls beständig weiterentwickeln, um zukunftsfähig zu bleiben. Hierbei wären die Designforschungsmethoden, die zu einer neuen Narration führen können, von großem Wert. Ähnlich eines Bildungs-Zukunfts-Szenarios, das zur Diskussion gestellt werden kann, um daraus Empfehlungen für die neuen Curricula zu entwickeln.

26 | Der Rechtsgelehrte Georg Jellinek (1851–1911) prägte die Aussage »Die normative Kraft des Faktischen«. 27 | Vgl. Simon, H. A.: The Sciences of the Artificial, Cambridge/Massachusetts 1968.

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Dazu sind Praxis- und Weiterbildungsangebote für Lehrende noch viel wichtiger als heute. Gerade in Bezug auf die digitale Transformation, um das Erwerben von Wissen in einem zukunftsweisenden Lernszenario als diskursive Aushandlung anzubieten. Nicht nur das zu vermittelnde Wissen an sich, sondern auch die Bedingungen für die Raumgestaltung und die möglichen Vermittlungsformen werden die Hauptthemen für die designwissenschaftliche Auseinandersetzung in Bezug auf Bildung sein. Der Wissens- und Medienhistoriker Wolfgang Schäffner beschreibt, dass sich die Natur- und Ingenieurwissenschaften grundlegend verändern, weil die Gestaltungsstrategien mittlerweile eine Schlüsselrolle in den Disziplinen einnehmen.28 Die Digitalisierung wird in diesem Beitrag als die momentan größte Kraft der Veränderung betrachtet. Schäffner plädiert dafür, gestalterische Prozesse im Sinne einer transformativen Kraft in alle wissenschaftliche Disziplinen einzuführen. »Diese Situation kann man als historischen Augenblick verstehen und als Herausforderung für eine Restrukturierung des wissenschaftlichen Wissens im Zusammenhang mit einer neuen Rolle der Gestaltung als eine integrative Kraft für die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen.«29

Wenn Gestaltung als integrative Kraft für die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen aufzufassen ist, dann sollte dies in besonderem Maße für die zukunftsweisenden Disziplinen, wie die Bildung, gelten. Der Informatiker Manfred Broy und der Philosoph Richard David Precht ergänzen: »Eben deshalb braucht die Gesellschaft ein positives Zukunftsbild. Nur konkrete Visionen geben der Politik eine Agenda an die Hand, was sie fordern und fördern soll – in der Wirtschaft, in der Bildungs- und in der Arbeitsmarktpolitik. Noch scheinen die Parteien nicht zu erkennen, dass es an ihnen liegt, ob die Digitalisierung die Welt besser macht oder schlechter. Wir wollen, dass eine Diskussion in Gang kommt, die über eine aus berechtigter Sorge geborene Charta hinausgeht. Eine Diskussion, in der Menschen wieder Hoffnung gewinnen. Wir fordern eine Politik, die sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe besinnt, die Zukunft der Menschen zu gestalten.« 30

28 | Vgl. Schäffner, W.: The Design Turn. Eine wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung, in: Mareis, C./Joost, G./Kimpel, K. (Hrsg.): Entwerfen – wissen – produzieren. Designforschung im Anwendungskontext, Bielefeld 2010, S. 33–45, hier S. 34. 29 | Ebd., S. 33. 30 | Broy, M./Precht, R. D.: Daten essen Seele auf, in: Die ZEIT, Nr. 5/2017, 26. Januar 2017, https://www.zeit.de/2017/05/digitalisierung-revolution-technik-seele-menschengrundrechte/komplettansicht [24.03.2019].

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Die digitale Transformation und die Bildung sind momentan die wesentlichen Faktoren, die unsere gesellschaftliche Ausrichtung bestimmen. Gestalterinnen und Gestalter können durch das designerische Denken, aber auch durch ein intelligentes Prototyping dazu beitragen, Diskussionsgrundlagen zu generieren, die einem veränderten Lernverhalten in Bezug auf eine Rahmengestaltung Rechnung trägt. Eine Bildungseinrichtung, die sowohl in den USA als auch in Frankreich zeitgemäße Lehrangebote anbietet, ist die 42. Sie nimmt diese Rahmengestaltung durchaus wörtlich: Sie verzichtet auf das unmittelbare Einwirken von Lehrenden und lässt ihre Studierenden an Projekten arbeiten, die zum Anlass genommen werden, sich eigenständig Wissen und darauf auf bauend Erkenntnisse zu generieren. »Infolge dieser Veränderung ist eine neue Qualifikation für die Mitarbeiter von heute und morgen erforderlich: Das Einprägen allein hilft heute nicht viel. Wir haben eine Ausbildungsform entwickelt, die diesem Umstand Rechnung trägt. Nicht alles im Internet ist wahr, das heißt, die Studenten müssen in der Lage sein, ihren eigenen Rahmen zu schaffen, um zu entscheiden, was in Bezug auf die von ihnen erlernten Fächer wahr ist und was nicht.« 31

Auch an der HAWK ist die Arbeit an Projekten mit realen Bezügen eine Möglichkeit, das Lernen innerhalb von Projekten, also im reinsten Sinne »anwendungsbezogen« durchzuführen. Das Modell des forschenden Lehrens oder des lernenden Forschens ist eine von uns erprobte Möglichkeit, an aktuellen Fragestellungen mit den Studierenden gemeinsam zu arbeiten und diese zu dokumentieren. In einer Vielzahl von Projekten konnten mit diesem Ansatz sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Die intrinsische Motivation des Lernens an anwendungsbezogenen Projekten ist weitaus höher einzustufen als das Lernen von Fakten. Wir halten es für die entscheidende Aufgabe in der Lehre, einen Rahmen durch die Vermittlung von Haltungen, Werkzeugen und Methoden vorzugeben, die dazu anleiten, sich eigenständig Wissen anzueignen und weiter zu entwickeln sowie eine Sensibilisierung für ethische Fragen zu erzielen. Das hochaktuelle Thema der Bildung kann also mit Hilfe von Designprozessen befördert und zur Diskussion gestellt werden. Dies wäre eine Metaebene, von der man aus der Perspektive des Designs auf Bildungsfragen blickt. Andererseits können wir auch den Lehr- und Lernprozess als Designprozess an sich betrachten und das Lehren und Lernen als Projekt auffassen. Das designerische Denken ist eine Vorgehensweise, die auf alle Lebensbereiche übertragbar ist. Gestaltung beruht auf Bildung und Bildungsprozesse erfordern Gestaltung. 31 | Aus der Broschüre der 42, eigene Übersetzung, https://www.42.us.org/wpcontent/uploads/2018/03/42-Silicon-Valley-Student-Booklet.pdf [20.04.2019].

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Damit wird das Design zur Synapse zwischen allen Beteiligten, zwischen Lernenden und Lehrenden, zwischen Eltern, Betreuenden und Schulen und zwischen Technologie und menschlichen Erwartungen. Gemeinsam formen wir eine gestalterische Intelligenz, die einen wichtigen Ausgleich zu den rein technologischen Entwicklungen darstellt. Es erfordert vor allem eines: Lebenslanges Lernen gestalten!

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Übersicht, 2018, © eigene Grafik, Icons von icons8. Abbildung 2: Next, 2018, © Lydia Lütgering, Julian Robert Körber.

QUELLENVERZEICHNIS Abels, Heinz: Einführung in die Soziologie, Wiesbaden 2009. Baldwin, James Marc: Dictionary of philosophy and psychology, 1901, http:// psychclassics.yorku.ca/Baldwin/Dictionary/defs/I4defs.htm#Interaction [20.04.2019], eigene Übersetzung. Bolz, Norbert: Die Sinngesellschaft, Düsseldorf 1997. Bosch, Torie: Sci-Fi Writer Bruce Sterling Explains the Intriguing New Concept of Design Fiction, in: Slate, 02.03.2012, http://www.slate.com/blogs/ future_tense/2012/03/02/bruce_sterling_on_design_fictions_.html [02.05.2019]. Broy, Manfred/Precht, Richard David: Daten essen Seele auf, in: Die ZEIT, Nr. 5/2017, 26. Januar 2017, https://www.zeit.de/2017/05/digitalisierungrevolution-technik-seele-menschen-gr undrechte/komplet tansicht [24.03.2019]. Foraita, Sabine: Borderline – Das Verhältnis von Kunst und Design aus der Perspektive des Design, Dissertationsschrift HBK Braunschweig 2005. Grunwald, Armin: Der unterlegene Mensch – Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern, München 2019. Heller, Kurt A.: Kreativität, in: Lexikon der Psychologie, https://www.spektrum. de/lexikon/psychologie/kreativitaet/8300 [12.02.2019]. Milev, Yana (Hrsg.): Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwissenschaft, München 2013. Moggridge, Bill: Designing Interactions, Cambridge 2007. Morozov, Evgeny: To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism, New York 2014. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, 5. Auflage, Berlin 2017.

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Roberge, Jonathan/Seyfert, Robert: Was sind Algorithmuskulturen, in: Roberge, Jonathan/Seyfert, Robert (Hrsg.): Algorithmuskulturen – Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, Bielefeld 2017, S. 7–40. Schäffner, Wolfgang: The Design Turn. Eine wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung, in: Mareis, Claudia/Joost, Gesche/Kimpel, Kora (Hrsg.): Entwerfen – wissen – produzieren. Designforschung im Anwendungskontext, Bielefeld 2010, S. 33–45. Simon, Herbert Alexander: The Sciences of the Artificial, Cambridge/Massachusetts 1968. Stappers, Pieter/Giaccardi, Elisa: Research through Design, in: Lowgren, Jonas/Carroll, John M./Hassenzahl, Marc et al.: The Encyclopedia of Human-Computer Interaction, 2nd Ed., https://www.interaction-design.org/ literature/book/the-encyclopedia-of-human-computer-interaction-2nd-ed/ research-through-design [02.05.2019]. Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt am Main 1987. Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, 8. Auflage 2017, Ditzingen 1990. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, Globale Umweltveränderungen (WBGU) (Hrsg.): Welt im Wandel, Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011.

R äume , O rte , M öglichkeiten

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Intervention Katrin Brümmer und Katharina Krämer



»W ird der B ereich des M öglichen immer kleiner?« (P eter F ischli und David W eiss)

Die folgenden Gedanken beschreiben eine mögliche Verbindung von Lernen, Raum und Gestaltung im Kontext eines interventionistischen Konzeptes sogenannter »Möglichkeitsräume«. Dieses Konzept kann als ein Experiment zur Verknüpfung von Lernen als Möglichkeitsraum und Hochschule als Möglichkeitsraum verstanden werden.

Abbildung 1: Detail Möglichkeitsraum #2.

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Lernen an einem Ort ist mit spezifischen Bedarfen und Bedürfnissen verknüpft, die nur von den Lernenden selbst dargestellt werden können. Im Wintersemester 2017 fand an der Hochschule Hannover das Projekt »Zwischenräume« statt, welches auf die räumliche Arbeitssituation der Studierenden der Fakultät III – Medien, Information und Design, Abteilung Design und Medien, reagierte. Bereits im Vorfeld hatten die Studierenden die Knappheit von Arbeitsräumen auf dem Campus Expo Plaza thematisiert, indem sie für eine begrenzte Zeit das Atrium – welches im Alltag als Transitzone dient und temporär für Ausstellungen oder Veranstaltungen genutzt wird – zu einem Arbeitsort umfunktionierten. Aus dieser Initiative entwickelte sich ein Lehrangebot in Form eines interdisziplinären Wahlkurses, der durch den Studiengang Innenarchitektur begleitet wurde. Nach einer Analyse des gesamten Gebäudes identifizierten die Studierenden Orte, die durch räumlich-materielle Modifikationen für einen begrenzten Zeitraum als Zwischenräume, als Rückzugs- und Konzentrations- sowie Kommunikationsräume nutzbar gemacht wurden. Dem Projekt »Zwischenräume« folgend, sollten im Wintersemester 2018 im Rahmen eines weiteren interdisziplinären Wahlangebotes1 Konzepte zu Lernräumen in der Hochschule entwickelt werden. Anlass war zum einen das bevorstehende Symposium »Entwerfen. Lernen. Gestalten.« mit dem Fokus des Wandels und der Gestaltung von Lernwelten. Zum anderen zeigt sich die Raumsituation für die Studierenden am Standort bis heute unverändert und kehrt in regelmäßigen Abständen auf die Tagesordnung zurück. Ein aus den entwickelten räumlichen Konzepten bestehendes Rahmenprogramm zum Symposium – als Ergänzung der vielfältigen wissenschaftlichen Fachperspektiven des Symposiums – durch studentische Perspektiven und Positionen erschien als schlüssiger und notwendiger Schritt.2 Unter dem Titel »Möglichkeitsräume« sollte mit den Studierenden ein Verständnis für die Zusammenhänge von Raum und Lernen erarbeitet werden. Die daran anschließenden Konzepte sollten an konkreten Orten im Gebäude der Abteilung Design und Medien sichtbar werden. Nach einer Annäherung an 1 | An den übergreifenden Wahlangeboten können Studierende aller Bachelor-Studiengänge der Abteilung Design und Medien teilnehmen (Fotojournalismus und Dokumentarfotografie, Innenarchitektur, Mediendesign, Modedesign, Produktdesign, Szenografie–Kostüm–Experimentelle Gestaltung, Visuelle Kommunikation). 2  |  Großer Dank gebührt an dieser Stelle Anke Bertram, Professorin im Bachelorstudiengang Innenarchitektur an der Hochschule Hannover, die sich nicht nur für das Projekt »Zwischenräume« engagiert hat, sondern das damit erarbeitete Wissen und die gewonnenen Erfahrungen mit uns geteilt hat. Dank gilt auch Saskia Plankert, die als Organisatorin des Symposiums und Herausgeberin dieses Bandes das Experiment »Möglichkeitsräume« maßgeblich mitgetragen und unterstützt hat.

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Inter vention

die Korrelation von Raum und Lernen und einer Bedarfsanalyse des konkreten Ortes sollten die entstandenen Ideen zu Möglichkeitsräumen in Form von Interventionen, Installationen und interaktiven Formaten ein Begleitprogramm für das Symposiums bilden. Intention des Angebotes war es, den Studierenden zu ermöglichen, Lernen und insbesondere Lernen am Ort Hochschule zu reflektieren, Bedarfe zu erkennen, Bedürfnissen Raum einzuräumen und Konzepte zu generieren, wie diese an einem bestimmten Ort platziert und dort mit gestalterischen Mitteln verortet werden können. Das Studienprojekt ist nicht zustande gekommen – die Möglichkeitsräume schon. Die Gestaltung unterstützt, dass das Lernen sichtbar und möglich wird und das Wissen kollaborativ genutzt werden kann. Das Nicht-Zustande-Kommen des Studienprojektes veränderte die Konzeption für das Rahmenprogramm maßgeblich, da nun die Perspektive eine andere geworden war. Die Lernziele, die vorher für die Studierenden formuliert wurden, konnten in Rezeptions- und Nutzungsziele für die Hochschulangehörigen sowie die Teilnehmenden des Symposiums umgewandelt werden. Der partizipative Charakter der Generierung von Räumen auf der Basis persönlicher Raumerfahrung durch die Studierenden wandelte sich in das Konzept von Partizipation durch Raumnutzung. Das Konzept der »Möglichkeitsräume« wurde im Folgenden durch uns selbst als ursprünglich in der Rolle der Lehrenden eingeplanten Akteurinnen entwickelt und umgesetzt. Dabei verzichteten wir auf eine strukturierte Raumanalyse und arbeiteten auf der Basis eigener Raumerfahrung. Selbst in diesem Gebäude als Innenarchitektin und Produktdesignerin ausgebildet und nun als Lehrende tätig, sind wir subjektiv involviert und nehmen in der Doppelrolle als Lernende und Lehrende gleichzeitig beide Perspektiven ein. Diese Doppelrolle spiegelt sich außerdem in unserem Verständnis von Lehre bzw. dem Verhältnis von Lernenden und Lehrenden wider. Dem konstruktivistischen Modell »A shift from teaching to learning«3 und einem Verständnis von Lehre als Vermittlungsaufgabe folgend bedeutet Lehren im Kontext Hochschule, Lernprozesse zu moderieren 4 und selbstgesteuertes, interessengeleite-

3 | Vgl. Wildt 2004, zitiert nach Stahr, Ingeborg: Hochschuldidaktik und Gender – gemeinsame Wurzeln und getrennte Wege, in: Auferkorte-Michaelis, Nicole/Stahr, Ingeborg/ Schönborn, Anette/Fitzek, Ingrid (Hrsg.): Gender als Indikator für gute Lehre. Erkenntnisse, Konzepte und Ideen für die Hochschule, Leverkusen 2009, S. 27–38, hier S. 33. 4 | Vgl. Auferkorte-Michaelis, Nicole/Schönborn, Anette: Gender als Indikator für gute Lehre, in: Auferkorte-Michaelis, Nicole/Stahr, Ingeborg/Schönborn, Anette/Fitzek, In-

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tes Lernens zu ermöglichen.5 Lehren und Lernen entwickelt sich »von der Wissensvermittlung zur studierendenzentrierten Lehre«6, in welcher Studierende als »Teil der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden« eine »Mit-Verantwortung für das eigene Lernen« 7 tragen. Lernende werden nicht als reine Rezipient*innen des vermittelten Wissens betrachtet, sondern speisen ihrerseits (Vor)Wissen in Form von bereits Erlerntem, Erfahrenem und Erprobtem sowohl in fachspezifischer als auch sozialer Hinsicht in das Lehr-/Lernsystem Hochschule ein. Die Grenzen zwischen Lehren und Lernen können somit als fluide bezeichnet werden. Was verstehen wir unter Möglichkeitsräumen? Dies sind wahrgenommene, konzipierte und gelebte Räume, deren Funktion wandelbar, flexibel und offen bleibt. Sie lassen soziale Interaktionen zu und eröffnen den Menschen Raum für unterschiedliche Erfahrungen. Dieses Verständnis ist angelehnt an den Begriff der »Möglichkeitsräume«, welchen der Architekt Rainer W. Ernst beschreibt: »Mit Möglichkeitsraum wird derjenige Raum bezeichnet, der durch eine vorgeschlagene Lokalisation von Eigenschaften als möglich, als vorstellbar, gewünscht und auch als realisierbar erscheint. Er eröffnet den Dialog über Alternativen, wohl wissend, dass es die gern gewünschten und behaupteten optimalen Räume allgemein nicht gibt.« 8

In unseren für das Symposium konzipierten Möglichkeitsräumen stand für fünf Tage das Thema Lernen im Fokus. Lernen in Form von rezipiertem und markiertem Wissen (Raum #1). Lernen in Form von sprachlichem Entwurf (Raum #2). Lernen in Form von Verlernen, Verwerfen, Wiederaufgreifen, Weiterentwickeln (Raum #3). Die drei Konzepte bieten jeweils Möglichkeiten zur Reflexion des eigenen Lernverhaltens sowie zur Interaktion: Das Vorgefundegrid (Hrsg.): Gender als Indikator für gute Lehre. Erkenntnisse, Konzepte und Ideen für die Hochschule, Leverkusen 2009, S. 15–25, hier S. 20. 5 | Vgl. Stahr, Ingeborg: Hochschuldidaktik und Gender – gemeinsame Wurzeln und getrennte Wege, in: Auferkorte-Michaelis, Nicole/Stahr, Ingeborg/Schönborn, Anette/ Fitzek, Ingrid (Hrsg.): Gender als Indikator für gute Lehre. Erkenntnisse, Konzepte und Ideen für die Hochschule, Leverkusen 2009, S. 27–38, hier S. 33. 6 | Hochschulrektorenkonferenz (HRK): Für eine Reform der Lehre in den Hochschulen, 3. Mitgliederversammlung der HRK am 22.4.2008, Bonn 2008, S. 3. 7 | Auferkorte-Michaelis, Nicole/Schönborn, Anette: Gender als Indikator für gute Lehre, in: Auferkorte-Michaelis, Nicole/Stahr, Ingeborg/Schönborn, Anette/Fitzek, Ingrid (Hrsg.): Gender als Indikator für gute Lehre. Erkenntnisse, Konzepte und Ideen für die Hochschule, Leverkusen 2009, S. 15–25, hier S. 18. 8 | Ernst, Rainer W.: Räumliche Ressourcen. Architektur im Prozess gesellschaftlicher Verantwortung, Bielefeld 2018, S. 111.

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Inter vention

ne kann wahrgenommen, genutzt und durch eigene Impulse in Beziehung gesetzt, verändert und erweitert werden. Die Raumkonzepte eröffnen Handlungsfelder der Wahrnehmung, der Aneignung und der Veränderung. Dabei sind sie nicht auf ein ziel- und verwertungsorientiertes Funktionieren ausgelegt sondern lassen ebenso die Möglichkeit des Scheiterns zu.

Abbildung 2: Möglichkeitsraum #1: Lernen. Wissen.

Abbildung 3: Detail Möglichkeitsraum #1.

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Die Möglichkeitsräume waren gezielt in der Hochschule lokalisiert und materialisierten sich durch die an diesem Ort vorhandenen Materialien sowie das an diesem Ort verfügbare Wissen. Sie machen aus Zwischenräumen Lernräume, in denen individuelle Lernperspektiven kollektiviert werden. Als eine Erweiterung des vorhandenen Raums wurden an zwei unterschiedlichen Orten des Hochschulgebäudes Flächen definiert und Räume in Form von drei Kuben mit jeweils identischem Grundriss aus vorhandenem Material generiert. Diese bereits mehrfach für Projektpräsentationen genutzten Systeme bilden mit ihren vordefinierten Abmessungen von 2 x 2 x 2 Metern Kantenlänge und ihrem Korpus aus schwarz lackierten Kanthölzern das Grundgerüst für die Möglichkeitsräume, die sich wie Parasiten in den umgebenden Raum hineinsetzen und von seiner Infrastruktur gespeist werden. Durch die offene Struktur der Kuben entsteht neuer Raum, in dem etwas stattfinden kann aber nicht muss, der durchquert werden kann, aber nicht muss. Die Verortung erfolgte zum einen auf dem Balkon der Ebene 2, welcher als Transitzone zwischen verschiedenen Funktionsräumen dient und daher entsprechend frequentiert wird (Raum #1 und Raum #2) zum anderen im sogenannten Lichthof im Untergeschoss, welcher als Vorraum zum Hörsaal des Gebäudes sowohl während des alltäglichen Hochschulbetriebes als auch bei Veranstaltungen durchquert und zum Aufenthalt genutzt wird und zudem von allen Ebenen aus sichtbar ist (Raum #3). Die drei Möglichkeitsräume orientieren sich an ähnlichen formalästhetischen Gestaltungsprinzipien und versuchen sich in Erscheinung, Materialität und Ausstattung jeweils auf das Nötigste zu begrenzen. Schwarz-, Weiß- und Grautöne dominieren die Farbigkeit, alle Materialien entstammen dem Materialpool der Hochschule oder werden nach dem Experiment weiter genutzt und so wieder in das System eingespeist. Das Konzept der Möglichkeitsräume kann als gestalterische Intervention verstanden werden, als ein Vorschlag, generiert aus dem, was da ist: Erfahrungen, Bedingungen, Materialien. Im Möglichkeitsraum #1 steht Wissen zur Verfügung. Verschiedene in Textsprache verfasste Wissensbestände wurden wert- und zweckneutral aneinandergereiht. Jede*r Nutzer*in dieses Möglichkeitsraumes entscheidet selbst, welches Wissen oder welcher Teil von Wissen es wert ist, markiert und somit sichtbar gemacht, erlernt und weitergegeben zu werden. Die Aufforderung unter dem Titel »Lernen. Wissen.« lautet: »Lernen? Was lerne ich hier? Was weiß ich? Was noch nicht? Tauche in den Raum ein. Nutze die Textmarker.« Der Raum ist im oberen Bereich von allen Seiten mit Papierbahnen umschlossen und kann nur durch ein »Eintauchen« betreten werden. Erst im Raum werden die Texte wirklich sichtbar. Als Werkzeug stehen Textmarker zur Verfügung mit denen der Raum sowohl visuell durch das Hinzufügen von Farbigkeit verändert werden kann als auch inhaltlich durch das Hervorheben, Streichen oder Hinzufügen von sprachbasierten Wissenselementen.

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Inter vention

Abbildung 4: Möglichkeitsraum #2: Lernen. Entwerfen.

Abbildung 5: Detail Möglichkeitsraum #2. Im Möglichkeitsraum #2 steht eine Schreibmaschine für den Entwurf von und die Reflexion über Lernperspektiven, Lernverhalten, Lernräume zur Verfügung. Aus individuellen Entwürfen wird kollektives Wissen in aneinandergereihter, scheinbar endloser Form, die den Raum akustisch (Schreibmaschi-

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nensound) und visuell (Papierbahn) wahrnehmbar verändert. Die Aufforderung unter dem Titel »Lernen. Entwerfen.« lautet: »Lernen? Lernen alle? Wer lernt wie? Wie lerne ich? Wo lerne ich? Was lerne ich? Wie lernen wir zukünftig? Nimm Platz. Nutze die Schreibmaschine.« Als Werkzeuge stehen ein Arbeitstisch mit Stuhl sowie eine Schreibmaschine mit darin eingespannter Papierrolle zur Verfügung.

Abbildung 6: Möglichkeitsraum #3: Lernen. Verwerfen. Im Möglichkeitsraum #3 stehen das Verlernen und das Nichtlernen im Vordergrund. Entworfenes, Gelerntes kann verworfen, aber auch wieder aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Auch hier verändert sich der Raum, wird aus individuellem Lernen ein kollektives, vielleicht kollaboratives Lernen. Es entsteht Wissen, das den Raum anfüllt oder ihn verlässt. Die Aufforderung unter dem Titel »Lernen. Verwerfen.« lautet: »Lernen? Wer lernt nicht? Wie lerne ich nicht? Wo lerne ich nicht? Was lerne ich nicht? Warum verlerne ich? Verwirf deine Ideen. Nutze verworfene Ideen.« Als Werkzeuge stehen vier Stühle, Papier und Stifte zur Ideengenerierung sowie ein Papierkorb für die Sammlung verworfener, weggeworfener und weiter zu entwickelnder Ideen zur Verfügung. Die drei Vorschläge zu Möglichkeitsräumen im Kontext Lernen (an der Hochschule) intendieren eine Ko-Konstruktion von Raum und Nutzung, das heißt der Raum verändert sich in seiner Gestalt und seiner Bedeutung für die Nutzer*innen, indem die Nutzung sichtbar wird und der veränderte Raum beeinflusst wiederum die weitere Nutzung. Der Raum gestaltet sich durch seine

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Inter vention

Nutzung und transformiert sich durch das Wissen, das sich im Raum zeigt. Der gestalterische Rahmen ist vorgegeben, aber die vorgeschlagenen Materialien beinhalten immer die Möglichkeit zur Mitgestaltung: Die Nutzung ist das Werkzeug sich den Raum anzueignen. In Bezug auf die Nutzung in Form von Lernen am Ort Hochschule transportieren die Möglichkeitsräume die Idee, dass Lernen nicht nur an diesem speziellen Ort für eine spezifische Berufsausbildung begrenzt ist, sondern dass Lernen – in Form von Wissen – diesen Ort erreicht und auch wieder verlässt. Das Lernen und das Wissen sind in diesem Fall personenbezogen und damit subjektiviert und können sich – je nach Möglichkeiten – mit dem Raum verknüpfen und für andere sichtbar und nutzbar werden. Die drei Möglichkeitsräume verbildlichen temporär ein kollektives Verständnis von Lernen und geben gleichzeitig die Möglichkeit zur individuellen Ausgestaltung. Wissen kann im Raum verbleiben und geteilt werden.

Abbildung 7: Aufsicht Möglichkeitsraum #3. Der gestalterische Rahmen der Räume macht die Möglichkeiten des Lernens sichtbar und ermöglicht dadurch das Lernen in diesen Zwischenräumen. Durch die Nutzung durch verschiedene Akteur*innen und die durch die Gestaltung angelegte Form der Wissensvisualisierung kann Lernen kollaborativ erfolgen und Wissen kollektiv genutzt werden. »Die Aufgabe, für vorhandene Räume die richtige Funktion zu finden und nicht nur Gebäude für vorgegebene Nutzungsprogramme zu entwerfen, ist an den Architekturausbildungsstätten eine wichtige, für unsere Zeit typische Studienaufgabe geworden.

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Katrin Brümmer und Katharina Krämer Diese umgekehrte Übersetzung von Raum in Nutzung erfordert allerdings anderes Wissen und eine andere Vorgehensweise. Zwischennutzung, Umnutzung, Nachnutzung oder auch Restnutzung sind wichtige strategische Begriffe geworden. Kontext bezeichnet in diesem Zusammenhang weniger den baulichen Kontext, in den eine neue Bebauung eingepasst werden soll, sondern den sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontext, aus dem heraus Anforderungen an den Raum aktualisiert werden müssen.« 9

Möglichkeitsräume benötigen genügend Raum für Veränderungen. Der Grad der Antizipation durch die Gestaltung beeinflusst diesen Freiraum. Die temporären Möglichkeitsräume sollten anregen zu entdecken, das Interesse wecken, die unterschiedlichen Lernverhalten mit einbeziehen und die Akteur*innen dazu verleiten sich zu beteiligen. Die Möglichkeitsräume sollten sowohl als physische Räume als auch gedankliche Spielräume verstanden werden. Der Entwurf sollte dabei zwischen dem Vorhandenen und dem Zukünftigen mit ungewissem Ausgang changieren. Um diesen Veränderungsprozess zu dokumentieren und ihn darüber hinaus überhaupt sichtbar zu machen, wurden die drei Möglichkeitsräume täglich zur gleichen Zeit aus gleicher Perspektive fotografisch festgehalten.

Abbildung 8: Ursprung Möglichkeitsraum #1.

9 | Ernst, Rainer W.: Räumliche Ressourcen. Architektur im Prozess gesellschaftlicher Verantwortung, Bielefeld 2018, S. 110–111.

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Inter vention

Die Möglichkeitsräume waren insgesamt für die Dauer von fünf Tagen aktiviert: Sie standen den Hochschulangehörigen bereits drei Tage vor Beginn des Symposiums offen und konnten auch während der Veranstaltung genutzt werden. Die Teilnehmenden des Symposiums waren explizit aufgefordert, die Räume zu besuchen, Veränderungen zu beobachten und die Räume selbst zu nutzen. Die Intervention war zeitlich begrenzt, sollte jedoch im besten Falle über den angebotenen Zeitraum hinaus Veränderungsprozesse anstoßen.

Abbildung 9: Veränderung, Möglichkeitsraum #1. Die Hochschule als Bildungsinstitution besteht aus fest angelegten Strukturen, die auf Dauer ausgelegt sind. Dazu zählen beispielsweise die materiellen Gegebenheiten, die baulichen Formen, die Infrastrukturen, sowie die räumlichen Strukturen, Anordnungen und deren Erschließungen. Dem gegenüber stehen dynamische, temporäre und flüchtige Strukturen, wie die alltägliche Raumaneignung durch unterschiedliche Akteur*innen der Hochschule oder durch die dynamisch angepasste Veränderung der Raumstrukturen – wie z. B. im Falle des konkreten Ortes des Design Centers temporäres Arbeiten von Studierenden oder Projektpräsentationen auf den Balkonen. Die Möglichkeitsräume waren an den fünf Tagen in der Hochschule so positioniert, dass sie alltäglich instinktiv und automatisch passiert wurden und waren zusätzlich durch ein reduziertes Leitsystem mit dem Hörsaal als hauptsächlichen Veranstaltungsort verknüpft. Zu den Akteur*innen zählten Lernende wie auch Lehrende, zudem weitere Hochschulangehörige und Besucher*innen. Alle hatten die Chance, die Möglichkeitsräume aktiv einzunehmen und sie idealer-

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weise mitzugestalten und somit den Veränderungsprozess mitzubestimmen. Veränderungen konnten in allen drei Räumen festgestellt werden, waren jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Im Möglichkeitsraum #1 konnten die meisten Veränderungen festgestellt werden, gefolgt von Möglichkeitsraum #2. Im Möglichkeitsraum #3 wurden kaum Veränderungen sichtbar. Die Akteur*innen konnten durch das Betreten der Räume und ihr aktives Handeln in den Räumen den Nutzungs- und Veränderungsprozess mitgestalten sowie an vorangegangene Gestaltungshandlungen anknüpfen. So wurde beispielsweise an der Schreibmaschine im Möglichkeitsraum #2 an bereits getippte Gedanken angeknüpft und diese weitergeschrieben. Solche Prozesse des Mitwirkens und die daraus entstehenden Veränderungen bedürfen aktives Handeln. Die Rauminstallationen stellen den Versuch dar, den Raum Hochschule im Kontext mit dem eigenen Lernverhalten neu zu verhandeln und zu nutzen. Die Möglichkeitsräume sollten dabei als temporäre Intervention einen Raum zum Reflektieren, sich Einmischen, Mitmischen und in Bestehendes Eingreifen bieten. Die Intervention versteht sich hierbei als ein »Dazwischentreten«. Als Störer, der die vorgegebenen Strukturen und die bekannten Muster unterbricht und zum Reflektieren des eigenen Lernverhaltens anregt. Der verhaltene Veränderungsprozess der drei Räume im Verlauf der fünf aktiven Tagen lässt auf eine fehlende Nutzung schließen und wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie und unter welchen Umständen können temporäre Möglichkeitsräume genutzt und die Reflexion des eigenen Lernverhaltens angeregt werden? Wie müssen die Interventionen beschaffen sein und wie müssen Ansprachen formuliert werden, damit in einer begrenzten Durchführungszeit Interesse hervorgerufen wird? Wieviel antizipative Gestaltung vertragen entsprechende Möglichkeitsräume um noch genügend Raum für Veränderungen zuzulassen? Wie können die unterschiedlichen (Lern-)Bedürfnisse der unterschiedlichen Akteur*innen berücksichtigt werden? Werden entsprechende Möglichkeitsräume nur genutzt, wenn sie sich ungeplant ergeben oder lassen sie sich intentional entwerfen? Wie können temporäre Möglichkeitsräume konstituiert werden, um über einen festgelegten Zeitrahmen hinaus Veränderungsprozesse anzustoßen? Wie können temporäre Interventionen von Möglichkeitsräumen für langfristige Entwicklungen produktiv gehalten werden?

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Inter vention

Diese Fragen können und wollen wir im Rahmen dieses Textes nicht beantworten, da sie im Verlauf des Experimentes zu temporären Möglichkeitsräumen nicht strukturiert untersucht wurden. Zudem wurden keine Parameter festgelegt, die im Nachhinein über Erfolg oder Misserfolg des Experimentes Auskunft geben könnten. Unsere Intention und unser Anspruch an dieser Stelle war es ausdrücklich nicht, eine fundierte Forschung durchzuführen. Vielmehr sollten die drei Möglichkeitsräume Raum für Beobachtungen eröffnen sowie das Feld freigeben für Nicht-Planbares und Prozesse anstoßen. Entsprechend verstehen sich die aufgeworfenen Fragen – stellvertretend für das gesamte Experiment – als Anregung weiter zu denken, weiter zu forschen und weiter zu konzipieren. Möglichkeitsräume brauchen Zeit, um von potentiellen Nutzer*innen als solche wahrgenommen, genutzt und verändert werden zu können. In der Reflexion des Experimentes »Möglichkeitsräume« stellen wir fest, dass wir aufgrund unseres praxisorientierten Gestaltungskontextes einer allgemeinen Verwertungslogik unterliegen, die den »Erfolg« der Intervention am Grad der sichtbaren Veränderung der Räume zu messen versucht. Die sichtbare, physische Veränderung der Möglichkeitsräume erscheint als Beleg dafür, dass das Angebot, sich mit Lernen an diesem Ort auseinanderzusetzen, nicht angenommen wurde und das Experiment somit als gescheitert angesehen werden könnte. Da wir aber, wie im zweiten Abschnitt erwähnt, das Konzept nicht an einer Verwertung orientiert, sondern ergebnisoffen entwickelt haben und auch keine systematische Evaluation der Ergebnisse stattfand, kann über mögliche Gründe an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. Das Verhältnis zwischen der eingesetzten Gestaltung und der Förderung von Partizipation steht hierbei im Vordergrund, wobei wir davon ausgehen, dass Partizipation abhängig ist von Ressourcen und Situationen. Die formalästhetische Gestaltung der Räume wirft Fragen darüber auf, wie viel Gestaltung nötig ist um Mitwirkungsprozesse anzuregen, und ob zu viel Gestaltung den Freiraum für Möglichkeiten ausbremst oder gar verhindert. Dies betrifft zum einen die Inszenierung des Raumes, die dazu beitragen kann Hemmschwellen auf- und abzubauen und den Raum überhaupt zu nutzen. Zum anderen spielt die Anregung zur Nutzung eine Rolle, denn es gab – abgesehen von den schriftlichen Aufforderungen vor jedem Kubus – an den Tagen außerhalb des Symposiums keine weiteren Hinweise an die Akteur*innen in der Hochschule die Räume zu benutzen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verknüpfung von Gestaltung mit den eigenen Erfahrungen. Da die schwarzen Kuben in der Vergangenheit meist als Ausstellungssystem der Studiengänge genutzt wurden, konnten die Möglichkeitsräume als Projektpräsentationen gedeutet werden und wurden somit

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nicht als frei zugänglich oder gar nutzbar verstanden. Es lässt sich vermuten, dass die Akteur*innen die Räume als nicht partizipativ nutzbar wahrgenommen haben. Die Beziehung zwischen Erfahrungen und Gestaltung ist inhärent. Diese kann sich jedoch immer wieder neu konstituieren. So können auch in einem bestimmten Zeitfenster neue Erfahrungen gesammelt und abgespeichert werden. Über die Orientierung an Vorbildern oder Personen kann sich die Raumaneignung verändern und abgespeicherte Muster auflösen.10 Die Dauer des Experiments nimmt dabei starken Einfluss auf die Aneignung der Möglichkeitsräume. Das Experiment behandelte die Verknüpfungen und Interdependenzen, die zwischen den Möglichkeiten und dem Lernen entstehen können, sollte die Partizipation fördern und die Lernenden und Lehrenden zur Reflexion über Potentiale und Perspektiven von Möglichkeiten im Kontext zum Lernen anregen. Die formalästhetischen Gestaltungsmerkmale, sowie der Rückgriff auf eigene Erfahrungen erhalten hohe Relevanz. Dies kann den Zugang dazu öffnen, die mit den Möglichkeitsräumen verbundenen zukünftigen Optionen in den Blick zu nehmen. Dabei sollte es die Intention sein, Lehrende und Lernende stärker einzubinden und zu beteiligen. Wir verstehen unsere Möglichkeitsräume als »offene Lernräume«, durch die Partizipation an kreativen Prozessen sowie das Eröffnen von »Erfahrungsräumen und Räumen der Vorstellungskraft und des Experimentierens«11 im gemeinsamen Denken und Handeln möglich wird. Um belastbare Aussagen über die Zusammenhänge von Lernen und Gestaltung im Kontext der Möglichkeitsräume treffen zu können und darüber hinaus zu untersuchen, wie temporäre Interventionen für langfristige Entwicklungen produktiv gemacht und gehalten werden können, müsste das Experiment in einen erweiterten Forschungs- und Gestaltungsprozess eingebettet werden – im Sinne einer Forschung durch Design.

10 | Vgl. Löw, M.: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. 11 | Kagan, Sacha: Kreativ-kulturelle und künstlerische Praktiken für städtische Möglichkeitsräume, in: Kagan, S./Kirchberg, V./Weisenfeld, U. (Hrsg.): Stadt als Möglichkeitsraum. Experimentierfelder einer urbanen Nachhaltigkeit, Bielefeld 2019, S. 175– 234, hier S. 176.

Möglichkeitsräume: Eine gestalterische Inter vention

Abbildung 10: Räumlicher Kontext Möglichkeitsraum #3.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Detail Möglichkeitsraum #2, © Sofie Puttfarken Abbildung 2: Möglichkeitsraum #1: Lernen. Wissen, © Katrin Brümmer und Katharina Krämer Abbildung 3: Detail Möglichkeitsraum #1, © Katrin Brümmer und Katharina Krämer Abbildung 4: Möglichkeitsraum #2: Lernen. Entwerfen, © Katrin Brümmer und Katharina Krämer Abbildung 5: Detail Möglichkeitsraum #2, © Sofie Puttfarken Abbildung 6: Möglichkeitsraum #3: Lernen. Verwerfen, © Katrin Brümmer und Katharina Krämer Abbildung 7: Aufsicht Möglichkeitsraum #3, © Sofie Puttfarken Abbildung 8: Ursprung Möglichkeitsraum #1, © Katrin Brümmer und Katharina Krämer Abbildung 9: Veränderung Möglichkeitsraum #1, © Katrin Brümmer und Katharina Krämer Abbildung 10: Räumlicher Kontext Möglichkeitsraum #3, © Leander Thiel

QUELLENVERZEICHNIS Auferkorte-Michaelis, Nicole/Schönborn, Anette: Gender als Indikator für gute Lehre, in: Auferkorte-Michaelis, Nicole/Stahr, Ingeborg/Schönborn, Anette/ Fitzek, Ingrid (Hrsg.): Gender als Indikator für gute Lehre. Erkenntnisse, Konzepte und Ideen für die Hochschule, Leverkusen 2009, S. 15–25. Ernst, Rainer W.: Räumliche Ressourcen. Architektur im Prozess gesellschaftlicher Verantwortung, Bielefeld 2018. Hochschulrektorenkonferenz (HRK): Für eine Reform der Lehre in den Hochschulen, 3. Mitgliederversammlung der HRK am 22.4.2008, Bonn 2008. Kagan, Sacha: Kreativ-kulturelle und künstlerische Praktiken für städtische Möglichkeitsräume, in: Kagan, S./Kirchberg, V./Weisenfeld, U. (Hrsg.): Stadt als Möglichkeitsraum. Experimentierfelder einer urbanen Nachhaltigkeit, Bielefeld 2019, S. 175–234. Löw, Martina.: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. Stahr, Ingeborg: Hochschuldidaktik und Gender – gemeinsame Wurzeln und getrennte Wege, in: Auferkorte-Michaelis, Nicole/Stahr, Ingeborg/Schönborn, Anette/Fitzek, Ingrid (Hrsg.): Gender als Indikator für gute Lehre. Erkenntnisse, Konzepte und Ideen für die Hochschule, Leverkusen 2009, S. 27–38.

Wie wir lernen, was wir lernen Über die Signifikanz gestalteter Lernorte Saskia Plankert

In seinem Aufsatz von 1990 prägte Lucius Burckhardt ein kritisches Designverständnis, »[…] ein Design von morgen, das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen, bewußt [sic!] zu berücksichtigen imstande ist.«1 Dieser Auffassung zugrundeliegend ist Design mehr als reine Formgebung und sollte gesellschaftlich mitwirken.2 Die aktuelle Gesellschaft wird unter anderem mit Begriffen wie ›Informationsund Wissensgesellschaft‹ beschrieben; dabei fungiert das Lernen als wichtiges Werkzeug zum Bildungserwerb und damit für die Gestaltung individueller Lebens- und Arbeitschancen.3 Der technologische Fortschritt gestaltet sich immer rasanter, der Konkurrenzdruck im globalen Wettbewerb wird immer härter und der demografische Wandel verschärft den Fachkräftemangel. In Anbetracht dieser Herausforderungen wird – so die hierbei häufig zu findende Position – die berufliche Fort- und Weiterbildung immer wichtiger. 4

1 | Burckhardt, Lucius: Design ist unsichtbar, in: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hrsg. von Jesko Fezer und Martin Schmitz, Berlin 2004, S. 187–199, hier S. 199. 2 | Vgl. Beuker, Nicolas: Design und die Sichtbarkeit möglicher Zukünfte, in: Banz, Claudia (Hrsg.): Social Design. Gestalten für die Transformation der Gesellschaften, Bielefeld 2016, S. 35–41, hier S. 35. 3 | Vgl. Ranftl, Josef: Unternehmenserfolg durch »In-Wert-Setzung von Wissen«, 2004, http://www.innovations-report.de/html/berichte/wirtschaft-finanzen/bericht-36608. html [11.07.2018]. 4 | Vgl. BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung: Berufliche Weiterbildung, 2013, http://www.bmbf.de/pub/flyer_allgemein_energie_fuer_ihren_erfolg.pdf [28.04.2016].

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ZUM VERSTÄNDNIS VON LERNEN Eines der zentralen Themen des 21. Jahrhunderts – sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf ökonomischer Ebene – ist Bildung geworden. Zahlreiche Bildungs- und Kultureinrichtungen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Lernangebote konzeptionell sowie räumlich (sowohl im physischen als auch im digitalen Zusammenhang) neu zu denken.5 Entscheidend hierfür ist ein Perspektivwechsel vom Lehren zum Lernen, den wir aktuell verzeichnen können. »Die Lernenden rücken immer stärker in den Fokus, was zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber der Gestaltung von Lernarrangements führt. Dabei geht es nicht nur um veränderte didaktisch-methodische Settings, sondern in verstärktem Maße auch um die organisatorische, konkret bauliche und digitale Gestaltung von Lernwelten.«6 Ausgangspunkt für weitere Überlegungen ist die Annahme, dass Lernen einen subjektiven, individuellen Prozess darstellt. Betrachten wir die Lernsituation systemtheoretisch konstruktivistisch, wird die Realität des Lernenden durch seine Beobachtung begründet. Lernfördernde/-stimulierende bzw. lernhemmende Faktoren können demzufolge ungleich wahrgenommen und interpretiert werden. Die Bedürfnisse in Lernsituationen unterscheiden sich daher von Individuum zu Individuum. Deshalb kann es bei der Untersuchung von Lernräumen/-welten nur um Suchbewegungen und Annäherungen gehen.7 Wenn in diesem Beitrag von Lernwelten gesprochen wird, orientiert sich dieser Begriff im weitesten Sinne am Lebensweltbegriff von Schütz/Luckmann: »Die alltägliche Wirklichkeit der Lebenswelt schließt also nicht nur die von mir erfahrene ›Natur‹, sondern auch die Sozial- bzw. Kulturwelt, in der ich mich befinde, ein. Die Lebenswelt besteht nicht erschöpfend aus den bloß materiellen Gegenständen und Ereignissen, denen ich meiner Umgebung begegne. Freilich sind diese ein Bestandteil meiner Umwelt, jedoch gehören zu ihr auch alle Sinnschichten, welche Naturdinge in Kulturobjekte, menschliche Körper in Mitmenschen und der Mitmenschen Bewegungen in Handlungen, Gesten und Mitteilungen verwandeln. [...] Die Lebenswelt ist also eine Wirklichkeit, die wir durch unsere Handlungen modifizieren und die andererseits Handlungen modifiziert.« 8

5 | Vgl. Stang, Richard: Lernwelten im Wandel. Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen, Berlin/Boston 2016, S. V. 6 | Ebd., S. V. 7 | Vgl. ebd., S. VII. 8 | Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 31–32.

Wie wir lernen, was wir lernen. Über die Signifikanz gestalteter Lernor te

Dieses Verständnis aufgreifend, sind Lernwelten also alltägliche Umgebungen, die Lernen ermöglichen, gleichzeitig aber auch Lernprozesse präformieren können.9 So individuell sich der Lernprozess eines jeden Menschen gestaltet, so unterschiedlich sind ebenjene Lernwelten geformt sowie durch unterschiedliche Logiken und Kulturen ausgezeichnet. Bei der Gestaltung von Lernwelten geht es also nicht ausschließlich um Lernorte, -räume, -umgebungen, sondern um etwas darüber Liegendes, welches alle Betrachtungsweisen in einem beschreibbaren Rahmen umfasst, um Lernen zu ermöglichen.10 Der Forschungsarbeit dieses Artikels liegt ein lerntheoretisches Verständnis zugrunde, das einer Kombination aus konstruktivistischer und pragmatischer Perspektive entspricht. Lernen wird in dieser Vorstellung als subjektive Wissenskonstruktion betrachtet.11 Nach Dewey ist Lernen dabei aber nicht frei von kulturellen Gegebenheiten, sondern immer an die Konventionen seiner Zeit gebunden. Ebenso hat Dewey erkannt, dass Inhalte weder allein theoretisch noch ausschließlich kognitiv vermittelt werden können. Das Lernen verfehle dann seinen Zweck, wenn es abstrakt bleibt und nicht durch dahinterliegendes Interesse gestützt wird. Das Ziel des Lernens – im Verständnis des 21. Jahrhunderts – wird durch Begriffe wie ›Können‹, ›Problemlösen‹, ›Verhaltensveränderung‹, ›Interesse‹ beschreibbar gemacht.12 Die Autoren Mikula und Lechner weisen darauf hin, dass Lernen eine subjektive Konstruktionsleistung darstellt, die mithilfe spezifischer Prozessmerkmale beschrieben werden kann.13 Ebenjene Merkmale beschreiben Lernen als einen aktiven,

9 | Vgl. Stang, Richard: Lernwelten im Wandel. Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen, Berlin/Boston 2016, S. 1. 10 | Vgl. ebd. 11 | Vgl. Neubert, Stefan/Reich, Kersten/Voß, Reinhard: Lernen als konstruktiver Prozess, in: Hug, Theo: Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten, Baltmannsweiler 2001, S. 253–265, hier S. 254. 12 | »Die interaktionistisch und sozial orientierten Ansätze betonen die soziale Grundlage von Lernvorgängen, stellen die Wichtigkeit gemeinsamer Handlungen von Teams als zentrale Aktivität heraus, erwarten nicht nur Beobachtervielfalt in Lernprozessen, sondern auch unterschiedliche Wege und Ergebnisse des Lernens. Dabei wird Lernen aber nicht als beliebig interpretiert, sondern immer mit kulturellem Sinn zusammengedacht: Lernfortschritte sind dann erreicht, wenn ein Lernen sich in seinen sozialen und kulturellen Kontexten bewusst beobachten und reflektieren kann, um nicht blind alles zu lernen, was er vorfindet, sondern gezielt jenes auszusuchen und zu bevorzugen in der Lage ist, was für seine Lebensweise viabel ist.« Ebd., S. 254. 13 | Vgl. Mikula, Regina/Lechner, Reinhard: Figurationen biografischer Lernprozesse, Wiesbaden 2014, S. 68.

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selbstgesteuerten, konstruktiven, situativen und sozialen Prozess.14 Die Autoren Erpenbeck/Sauter ergänzen in ihrer Darstellung die Eigenschaften noch um den emotionalen Prozess, »der die Lerner nicht nur kognitiv, sondern auch emotional und motivational fordert.«15 Als Lernraumkonstellationen lassen sich für ein solches Verständnis von Lernen aus pädagogischer Sicht nach Richard Stang »flexible Seminarräume und offene Lernlandschaften ausmachen, in denen die Lernenden methodisch vielfältig ihre Fragestellungen auch in Kommunikation mit anderen Lernenden bearbeiten können.«16

R ÄUME, ARTEFAK TE UND ANDERE ORTE Ziel der zugrundeliegenden Forschungsarbeit ist die Entwicklung neuer Formate für Weiterbildungen unter Berücksichtigung gestalterischer Kriterien. Besonderes Augenmerk legt die Untersuchung darauf, welche Bedeutung andere Orte bei der Wahl des Lernorts einnehmen; daher erfolgt die designwissenschaftliche Untersuchung der Weiterbildung am Beispiel des Schiffs als Lernort. Für diesen Beitrag wird hierfür exemplarisch der Fokus auf die Analyse des Lernversprechens von Reedereien und Reiseveranstaltern gelegt. Der Raumdiskurs wird in der Wissenschaft in unterschiedlichen Kontexten geführt; in der designwissenschaftlichen Debatte fällt nach bisheriger Recherche zunächst auf, dass Untersuchungen zur Motivation von Lernenden und Geschäftsreisenden auffällig unterrepräsentiert sind. Reiseveranstalter und Reedereien werben in der Praxis mit Slogans wie »Ein Meer einzigartiger Möglichkeiten – inspirierend und flexibel«17, »Planung mit Weitblick. Business mit Meerblick«18 und bieten zahlreiche Tagungen, Weiterbildungen und Incentive-Reisen an. Das Schiff als Lernort, das konkrete Lernversprechen sowie die Motivation aller Lernbeteiligten werden in der Forschung jedoch vernachlässigt. Aktuell erfahren Fragen des Designs jedoch großes Interesse in einer Vielzahl kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Im deutschsprachigen Raum wurden 14 | Vgl. Reinmann, Gabi/Mandel, Heinz: Unterrichten und Lernumgebungen gestalten, in: Krapp, Andreas/Weidenmann, Bernd: Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim 2006, S. 613–658. 15 | Erpenbeck, John/Sauter, Werner: So werden wir lernen, Berlin/Heidelberg 2013, S. 40. 16 | Stang, Richard: Lernwelten im Wandel. Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen, Berlin/Boston 2016, S. 29. 17 | AIDA Cruises, Broschüre, https://media.aida.de/fileadmin/user_upload/v4/Firmenreisen/Dokumente/139176_RZ_AIDA_Incentive_Broschuere_2015_144dpi.pdf [19.07.2019], S. 10. 18 | TUI Cruises, https://www.tuicruises.com/incentives [19.07.2019].

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bislang kaum theoretische und methodische Ansätze zur Analyse der sozialen und kulturellen Funktionen von Design entwickelt. Das Buch Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs 19 von Stephan Moebius und Sophia Prinz trägt diesem Umstand Rechnung und sammelt kultursoziologische und -theoretische Beiträge, »die Design als wichtigen Teil der ästhetischen Signatur von Gesellschaft sichtbar machen.«20 So beschäftigt sich auch der Beitrag von Sophia Prinz mit den sozialen und kulturellen Funktionen von Design am Beispiel des Büros. Während die Begrifflichkeit ›Büro‹ für gewöhnlich an eine intentionale, rationale Tätigkeit denken lässt, belehrt uns die Alltagserfahrung eines Besseren. Die uns umgebenden Dinge, sei es die grauverfärbte Schreibtischplatte mit dem Kaffeefleck oder die Geräusche aus dem Nachbarbüro, beeinflussen unseren täglichen Arbeitsprozess. Das Büro sowie seine Umgebung entsprechen also nicht der soziologischen Interpretation des ›stahlharten Gehäuses‹, und können damit nicht als eine affektneutralisierende Instanz verstanden werden. »Vielmehr verfügt die räumliche Strukturierung über eine sinnliche Qualität, die als affektbesetzte Erfahrung in die Arbeitspraktiken eingeht – und zwar unabhängig davon, ob sie ästhetisierenden oder funktionalen Gestaltungsprinzipien gehorcht.«21

Es lässt sich also neben der Entwicklung in der Konsumkultur auch für die Produktionskultur eine zunehmende Ästhetisierung und Emotionalisierung verzeichnen, die sich nach Prinz u. a. in der Inneneinrichtung niederschlägt.22 »Während sich die sinnlich-materielle Struktur der panoptischen Großraumbüros in der organisierten Moderne den Anstrich eines reinen affektneutralen Funktionalismus gab, bezieht die kreativökonomische Raumgestaltung die sinnliche Erfahrung systematisch mit ein, um den Innovations-Output zu stimulieren. Dabei orientiert sich das neue Bürodesign der ästhetischen Rhetorik des kontemplativen ›white cube‹, greift Lebensstilelemente aus Subkulturen auf oder imitiert die Behaglichkeit privater Wohnräume. Ästhetisierung meint hier also eine Gestaltungsstrategie, die auf ein positives sinnliches Erleben abhebt, um eine subjektive Grundhaltung zu schaffen, die sich offen zeigt für affektiv-kreative Impulse. [...] Die Büroästhetik ist, mit anderen Worten, Teil eines um19 | Moebius, Stephan/Prinz, Sophia: Das Design der Gesellschaft, Bielefeld 2012. 20 | Verlagsinformationen, http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-1483-1/ das-design-der-gesellschaft [20.12.2016]. 21 | Prinz, Sophia: Büros zwischen Disziplin und Design. Postfordistische Ästhetisierungen der Arbeitswelt, in: Moebius, Stephan/Prinz, Sophia (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft, Bielefeld 2012, S. 245–271, hier S. 245. 22 | Vgl. ebd., S. 246; Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012.

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Saskia Planker t fassenden ökonomischen Dispositivs, in dem materielle, visuelle und diskursive Technologien zusammenspielen, um die Wahrnehmungsschemata, Praktiken und Selbstverhältnisse der Subjekte im Sinne des Kreativimperativs zu formen.«23

Die eben benannten alltäglichen Dinge sind weder passive Werkzeuge, die gänzlich kontrolliert werden, noch Ausdruck einer gesellschaftlichen Struktur, die sich in ihnen ›verobjektiviert‹. Die Dinge fungieren hingegen als eigenständige kulturelle Mittler, die bestimmte Denk- und Wahrnehmungsweisen strukturieren oder gar erst erzeugen.24 In diesem Prozess nimmt das Design eine zentrale Bedeutung ein, da es den Dingen ihre jeweilige Form und Textur ermöglicht, indem es die Schnittstelle festlegt, an der »Gegenstand und Benutzer, die wahrnehmbare Oberfläche und der wahrnehmende Körper in Kontakt treten. Damit steckt das Design einerseits das Spektrum möglicher interobjektiver Interaktions- und Gebrauchsweisen ab und verleiht andererseits der vorherrschenden kulturellen Ordnung – mit all ihren immanenten Ambivalenzen – ein konkretes Gesicht.«25

In den letzten Jahrzehnten lässt sich nicht nur die Tendenz verzeichnen, Büroräume einer Individualisierung und Ästhetisierung zu unterziehen, sondern sogar eine Steigerung dessen bemerken, zunächst vor allem in den Branchen der Creative Class wie Werbeagenturen, Architekturbüros etc. Prinz macht hierbei auf zwei vorherrschende Trends aufmerksam: zum einen verwenden postmoderne Bürodispositive Elemente und Raumkonzepte aus anderen sozialen Feldern – bspw. Privatwohnung oder Hotellobby. So soll mithilfe einer Symbol- und Artefaktpolitik ein ›pleasure in work‹ zur Steigerung der Produktivität beigetragen und die subjektive Identifizierung mit dem Unternehmen erhöht werden.26 Zum anderen lässt sich der Verzicht auf feste, individuelle Arbeitsplätze beobachten, um die projektbasierte Teamarbeit flexibler und die inspirierende Wirkung nichtformalisierter Arbeitsprozesse stimulierend zu gestalten. Auch aktuell lassen sich bei Durchsicht neuerer Kataloge und Zeitschriften je nach Branche eine freizeitorientierte Umgebung oder eine puristische, leicht zu variierende Raumstruktur finden. So lassen sich in der 23 | Ebd. 24 | Vgl. Prinz, Sophia: Formen des Gebrauchs. Über die alltägliche Ordnung der Dinge, in: Milev, Yana (Hrsg.): Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwissenschaft, München 2013, S. 33–42, hier S. 34. 25 | Ebd., S. 34–35. 26 | Vgl. Prinz, Sophia: Büros zwischen Disziplin und Design. Postfordistische Ästhetisierungen der Arbeitswelt, in: Moebius, Stephan/Prinz, Sophia (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft, Bielefeld 2012, S. 245–271, hier S. 263.

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Innenraumgestaltung vorrangig kreativer Berufe häufig das modernistische Ausstellungskonzept des ›white cube‹ identifizieren. »Analog zur konzentrierten Haltung der ästhetischen Kontemplation im Galerieraum scheinen hier die weißen Wände und einfachen Möbel genug Raum für den genialischen schöpferischen Prozess lassen zu wollen. In diesem Setting wird das Arbeitssubjekt also eher im Sinne der klassischen bürgerlichen Ästhetik als ein quasi-körperloses, kognitives Wesen adressiert, dessen kreative Energien aus einer sinnlichen Neutralität erwachsen.«27

Schließlich ergibt sich folgende Frage: Wie kann der Dialog zwischen Raum und dem Arbeits-/Lernprozess gestaltet werden?

ZERTIFIK AT »CERTIFIED CONFERENCE SHIP« Die Tagungsbranche ist eine der am stärksten wachsenden Branchen, sie ist insbesondere für das saisonbestimmte Segment der Veranstalter von Schiffsreisen nicht uninteressant. Allerdings ist festzustellen, dass aktuell nur ein nennenswertes Zertifikat in diesem Bereich existiert. »Das ›Certified Conference Ship®‹ ist das dritte Zertifikat, das der VDR 2009 entwickelt hat. Die Kriterien orientieren sich im Grunde an den Kriterien für Conference Hotels. Bei Schiffen wird insbesondere darauf geachtet, dass ein ungestörter Tagungsablauf gewährleistet werden kann. Die Gruppe soll unabhängig von den anderen Passagieren und ohne Ablenkung durch andere Bordaktivitäten tagen können.«28

Der Kriterienkatalog umfasst 54 Kriterien, die sich in die sechs Kategorien Tagungsbereich, Informationsmaterial,  F&B Angebot, Veranstaltungsbetreuung, Abrechnung und Kabinen gliedern lassen. »Um das Siegel verliehen zu bekommen, sind alle MUSS-Kriterien zu erfüllen und 50% der Punkte zu erreichen. Das bedeutet mindestens 1.250 von maximal 2.500 möglichen Punkten. Das Zertifikat ist 3 Jahre gültig, danach erfolgt eine erneute Prüfung vor Ort. In jedem dazwischenliegenden Jahr erfolgt ein Überwachungsaudit durch das Certified Projektbüro.«29 27 | Ebd., S. 263. 28 | Certified Entstehungsgeschichte, https://www.certified.de/about-us/history [19.07.2019]. 29 | H. i. O., Certified Conference Ship Prüfung, https://www.certified.de/about-us/ pruefung [19.07.2019].

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Bei der Betrachtung des Kriterienkatalogs wird auf den ersten Blick deutlich, dass neben der maritimen vor allem die lerntheoretische Perspektive bei der Ausgestaltung der Prüfkriterien (und dementsprechend auch bei der Ausgestaltung der Räumlichkeiten) nahezu vollständig fehlt. Das erscheint insofern verwunderlich, da doch gerade der maritime Kontext (Bewegung des Ortes, Weite des Ausblicks, veränderliche Naturumgebung, Abgeschlossenheit des Raumes, Privatheit in der Diskussion etc.) eine Besonderheit in der Angebotspalette der Veranstalter ist. Eine drei- bis viertägige Fachtagung oder Weiterbildung auf einem Schiff ist mit einer Veranstaltung in einem Seminarraum, auf einer Messe oder einem universitären Hörsaal nicht zu vergleichen. Festzuhalten ist, dass die Besonderheiten des Ortes bei der Zertifizierung und insofern auch die sich darauf beziehenden lerntheoretischen Möglichkeiten keine Rolle spielen. Das macht es den Reedereien schwierig, ihr besonderes Angebot angemessen an die Kunden zu vermitteln und begrenzt zugleich die (theoretisch) vorhandenen Chancen der Werften und Veranstalter auf neue und innovative Reisekonzepte. So verfügt das Schiff als Lernort doch über Alleinstellungsmerkmale sowie (Lern-)Besonderheiten und eine Abgrenzung zum Tagungshotel ist daher dringend notwendig: »Der weite Blick schafft Platz für Ideen, das Mannschaftsgefühl stärkt den Teamgeist und die entspannte Stimmung weckt ungeahnte Energien.«30 (AIDA) Tatsächlich scheint eine Untersuchung notwendig, ob das Schiff einen Raum darstellt, der in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert. Das Schiff kann hierzu als Heterotopie betrachtet werden. Der Heterotopie-Begriff bezieht sich hierbei auf Foucault, der das Schiff als Heterotopie par excellence klassifiziert.31 Festzuhalten ist, dass die Parameter, die auf den Lernprozess während der Weiterbildung auf dem Schiff einwirken, bisher noch nicht ausreichend wissenschaftlich aufgearbeitet wurden. Es besteht die Gefahr, dass die Gestaltung einer Schiffs-Geschäftsreise (bezüglich bspw. der räumlichen, zeitlichen, motivatorischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen Faktoren) willkürlichen Aspekten und Gestaltungsrichtlinien unterliegt.

LERNVERSPRECHEN Die Reedereien und Reiseveranstalter stellen zahlreiches Werbe- und Infomaterial zur Verfügung: Über den Internetauftritt, Broschüren und Filme bis hin zu Kundenmeinungen und Bildern präsentieren sie ihr so einzigartiges 30 | https://www.aida.de/kreuzfahr t/angebote-buchen/firmenreisen.19632.html [30.06.2016]. 31 | Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46, hier S. 46.

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Angebot. Ausschnitthaft wird im Folgenden der Fokus auf die wichtigsten Lernversprechen von Color Line gelegt, die durch den Film32 der norwegischen Reederei transportiert werden. Ergänzt wird diese Darstellung um beschreibende Vergleiche zum Imagefilm von AIDA Cruises33. Sowohl Color Line als auch AIDA Cruises haben je zwei zertifizierte Schiffe im Angebot: AIDAaura, AIDAvita, Color Fantasy, Color Magic.34 Als multimediales Element stellt der Film ein komplexes Zeichensystem dar, bestehend aus geschriebenem und gesprochenem Text, unbewegten und bewegten Bildern, Musik und Geräuschen. Die Bedeutung wird dabei nicht nur durch die Sprache oder die dargestellte Handlung transportiert, sondern auch durch Aspekte wie beispielsweise die Kameraperspektive, Kamerabewegung oder Einstellungsgrößen.35 Der fast 2,5-minütige Imagefilm beginnt mit dem Text »Schon wieder eine Tagung, dachte ich« und dem Verlassen des Protagonisten seiner Wohnung. Mit abgehetztem Blick rückt er seinen Krawattenknoten zurecht und zieht einen kleinen, silbernen Rollkoffer hinter sich her. Nach einem Filmschnitt befindet sich der Mann auf dem Schiff, geht einen Gang entlang und betritt den Konferenzraum, begleitet von dem Text »Doch diesmal kam alles ganz anders«. Die Teilnehmer*innen sitzen dort bereits und unterhalten sich fröhlich während der Protagonist in der Eingangstür verharrt, seinen Blick umherschweifen lässt und sich sein Mund zu einem kleinen, überraschten Lächeln verzieht während er durch eine große Fensterfront aufs Wasser blickt. In der nächsten Sequenz bespricht sich das Team, arbeitet, redet und lacht. Anschließend sitzt der Mann in einem anderen Raum, vermutlich einem kleinen Café an Bord, an einem Tisch mit seinem Laptop, die Servicekraft serviert ihm einen Kaffee, er trinkt und blickt aufs Meer bevor er seinen Laptop zuklappt und nach einem weiteren Filmschnitt mit Blick aufs Meer Sport betreibt und die umliegende Landschaft genießt. Nach der Sporteinheit beginnt der Landgang: Der Ausflug findet in Oslo statt – der Protagonist besichtigt mit Kolleg*innen die Stadt (zu sehen sind architektonische Sehenswürdigkeiten wie das Königsschloss, die 32 | Vgl. Color Line, https://www.colorline.de/tagungen [20.07.2019]. 33 | Vgl. https://www.aida.de/kreuzfahrt/angebote-buchen/firmenreisen.19632.html [20.07.2019]. 34 | Vgl. AIDA Cruises: Exzellent tagen auf See: AIDA Schiffe als »Certified Conference Ship« ausgezeichnet, Rostock 05/2014, https://www.aida.de/aida-cruises/ presse/pressearchiv/newsdetails.24494/article/exzellent-tagen-auf-see-aida-schiffe-als-certified-conference-ship-ausgezeichnet.html [20.07.2019], vgl. Color Line: Neue Angebote für Tagungen, Kiel 12/2011, https://www.colorline.de/ueber-uns/presse/pressemitteilung-neue-angebote-fuer-tagungen [20.07.2019]. 35 | Vgl. Korte, Helmut: Einführung in die Systematische Filmanalyse, Berlin 2004.

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Oper oder die Storebælt-Brücke). Am Nachmittag/Abend, vermutlich desselben Tags, verbringt er Zeit am Laptop in seiner Kabine, er blickt dabei durch das Bullauge hinaus aufs Meer und isst anschließend auf dem Schiff zu Abend und trinkt Cocktails, dabei befindet er sich in Begleitung, es ist jedoch nicht zu erkennen, ob es sich um dasselbe Team aus dem Konferenzraum handelt. Der Film endet mit einem sich über die Reling lehnenden Protagonisten, der aufs Wasser schaut, lächelt und der Sonne beim Untergehen zusieht, er wirkt entspannt. Für eine weitere systematische Protokollierung und Analyse des Color Line Films erfolgt die Einteilung der Handlung in Sequenzen. Hierbei lassen sich insbesondere fünf Abschnitte hervorheben: 1. 2. 3. 4. 5.

Sequenz (0:14,09): Auf dem Weg zur Tagung Sequenz (0:64,22): Ankommen und Besprechen im Seminarraum Sequenz (0:25,08): Protagonist arbeitet alleine, macht Sport Sequenz (0:17,02): Landgang mit dem ganzen Team Sequenz (0:19,01): Protagonist hält sich in seiner Kabine auf, arbeitet am Laptop, schaut aus dem Bullauge, anschließendes Essen/Trinken mit Kolleg*innen, Protagonist schaut am Ende über die Reling

Das Sequenzprotokoll verrät uns auf den ersten Blick zwei besonders wichtige Aspekte: 1.

Die zweite Sequenz nimmt mit 46% den größten Zeitanteil im gesamten Film ein und sticht damit heraus: Die Besprechung im Konferenzraum, um nicht zu sagen die ganz konkrete, »offensichtliche« Lernsituation. Zweifelsohne möchte uns der Film über die Wichtigkeit dieser Szene informieren, deshalb nimmt sie so viel Raum ein. 2. Die vier übrigen Sequenzen nehmen zusammen (als »Rahmenprogramm« wie bspw. Anreise, Sport, Landgang, Mahlzeiten, maritime Atmosphäre spüren) den gleichen Umfang ein, sogar mit 54% ein wenig mehr. Insofern impliziert das Sequenzprotokoll, dass die konkrete Lernsituation nicht isoliert zu betrachten ist, sondern die Lernerfahrung vielmehr im Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen zu sehen ist und analysiert werden sollte. Hierfür schließt später eine genauere Betrachtung der Aktivität des Protagonisten an.

Wie wir lernen, was wir lernen. Über die Signifikanz gestalteter Lernor te S5 = 14 %

S1 = 10 %

S4 = 12 %

S3 = 18 % S2 = 46 %

Abbildung 1: Die Sequenzlängen im Überblick. Der AIDA-Film im Vergleich ist oberflächlich betrachtet ähnlich aufgebaut, jedoch ist das Storytelling ein gänzlich anderes. Der ca. 1,5-minütige Film beginnt mit einer Gruppe von Menschen, die auf dem Schiff einen Gang entlang gehen – auf dem Weg zum Konferenzraum. Die erste Sequenz handelt vom Ankommen und Besprechen im Konferenzraum: Die Gruppe setzt sich, Saft wird eingeschenkt, ein Mann steht am Flipchart und erklärt etwas. Die Gruppe hört aufmerksam zu, lächelt und macht sich Notizen. Die nächste Sequenz zeigt den Seminarraum und seine Ausstattung ohne Menschen: den Gang, variabel stellbare Tische, eine herausnehmbare Wand zwischen zwei Räumen, Stühle, Beamer-Leinwände, einen kleinen Besprechungsraum mit einem Monitor an Wand usw. Die dritte und letzte Sequenz spielt abends, das Team sitzt in einem Restaurant – ob an Bord oder an Land ist unklar –, unterhält sich, das Essen wird serviert, anschließend gehen sie in eine Bar und stoßen mit Cocktails an. Die erste Sequenz nimmt mit ungefähr 25 % den kleinsten Teil im Film ein, gefolgt von der zweiten Sequenz mit 35 % und der dritten mit 40 %. Anders als bei Color Line wird hier die konkrete Lernsituation am kürzesten dargestellt, jedoch wird auch bei AIDA deutlich, dass die anderen Aktivitäten abseits der Lernsituation besonders wichtig oder hervorhebenswert erscheinen und damit nicht getrennt von der Lernsituation zu betrachten sind. Viel Zeit wird darauf verwendet, das Mobiliar, die Ausstattung, das technische Equipment und die variable Raumstruktur zu zeigen sowie die gemeinsame Zeit beim Essen und in der Bar. Die wohl deutlichsten Unterschiede beider Filme sind das Vorhan-

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densein eines Protagonisten bei Color Line sowie das Nicht-Zeigen von Schiff und Wasser bei AIDA. Den einzigen Hinweis auf einen maritimen Kontext gibt es in der ersten Sequenz – im Hintergrund des Konferenzraums strahlt der Beamer eine Präsentation über AIDA-Schiffe an die Wand. Ob im Konferenzraum, auf dem Weg dorthin, abends beim Essen oder in der Bar, es geht aus dem Film nicht hervor, dass sich das Team an Bord eines Schiffes befindet. In der ersten Sequenz gibt es keine Fenster im gezeigten Seminarraum, in der zweiten Sequenz sind die Fenster im Vergleich zu Color Line sehr klein, außerdem spiegelt sich der Innenraum so stark in der Scheibe, dass der Blick nach außen verwehrt bleibt. In der dritten Sequenz ist ebenfalls nicht zu erkennen, wo sich das Restaurant befindet. Da der Stil der Ausstattung aber gleich bleibt, befindet sich die Gruppe vermutlich weiterhin an Bord des Schiffes. Beide Filme legen einen näheren Blick auf die einzelnen Einstellungen der verschiedenen Sequenzen nahe, insbesondere mit Fokus auf den Protagonisten sowie das Zeigens und Nicht-Zeigen von Wasser und Schiff, da diese als die signifikantesten Unterschiede beider Darstellungen hervorzuheben sind. Der erste Hinweis auf eine interessante Begebenheit findet sich im Einstellungsprotokoll von Color Line: Um den erfolgreichen und hohen Innovations-Output zu simulieren während der zweiten Sequenz, wäre zu erwarten gewesen, dass mehrere Schnitte, und damit kürzere Einstellungen vorgenommen werden, um ein dynamisches und temporeiches Arbeiten und damit Lernen darzustellen. Jedoch sind die Einstellungslängen in allen Sequenzen nahezu ähnlich. Sie bewegen sich zwischen 20 und 40 frames, also ca. 1–1,5/2 Sekunden. Die grauen Balken in der Abbildung 2 sind die Texteinstellungen, die bei der Analyse erst einmal außer Acht gelassen wurden. Jedoch fallen vier Einstellungen aufgrund ihrer Länge besonders auf: E16, E19, E55 und E61. In E16 sieht man das Gesicht des Protagonisten, der sich im Konferenzraum umschaut, welcher von einer riesigen Fensterfront und dem dahinterliegenden Wasser eingerahmt wird. Das Zeigen des Wassers geht mit einem deutlichen Stimmungswandel des Protagonisten einher, so legen die Textpassagen sowie die faltige Stirn und das Zusammenziehen der Augenbrauen des Mannes bis zum Betreten des Seminarraums einen genervten und missmutigen Gemütszustand nahe, der sich plötzlich in einen freudig überraschten Zustand ändert. In den anderen drei Einstellungen liegt der Einstellungsfokus auf dem Wasser. Dieser Umstand lässt drei Schlussfolgerungen zu: Zum einen kann die längere Einstellung darauf hindeuten, dass das Wasser in diesen Szenen besonders wichtig ist. Die maritime Umgebung, also konkret hier das Wasser, beeinflusst möglicherweise den Arbeits- und Lernprozess. Zum anderen könnte hier durch die längere Einstellung und die damit verbundene Temporeduktion sowie den darauffolgenden Einstellungen, die ein arbeitsintensives Teammeeting zeigen, die These formuliert werden, dass die Lern-/Arbeitssituation unter Umstän-

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den durch eine Form der Entschleunigung besonders positiv beeinflusst wird. Und zu guter Letzt bewirkt die maritime Atmosphäre beim Protagnisten einen Stimmungswechsel, der möglicher Weise als notwendige Voraussetzung manifestiert werden kann, um Lernen überhaupt zu ermöglichen oder zumindest stimulierend und damit positiv zu gestalten. 180

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Abbildung 2: Eine Übersicht der Einstellungslängen (Frames/Einstellung) im Film von Color Line. Doch wie können wir den positiven Einfluss messen? Das Video verrät zunächst nichts über einen potentiellen Lernzuwachs, einen Kompetenzerwerb oder sonstigen zu lernenden Auslegungen. Bei näherer Betrachtung des Protagonisten jedoch fällt jedoch, wie oben erwähnt, vor allem der Stimmungswandel in der 16. Einstellung auf und bildet daher zunächst die weitere Analysegrundlage. Die Rekonstruktion der Emotionen des Protagonisten erfolgt auf der Basis des Circumplex-Modells von Larsen und Diener aus dem Jahr 1992. Die beiden Psychologen diskutieren in ihrem Artikel »Promises and Problems With the Circumplex Model of Emotion«36 mögliche Versprechen und Probleme, die das Circumplex-Modell über Emotionen bereithält. Es verspricht zunächst eine sinnvolle Strukturierung unseres Wissens über Emotionen, beinhaltet aber auch Räume für Fehlinterpretationen, insbesondere dann, wenn die Grenzen des Modells nicht erkannt werden. Häufig werden emotionale Wertungen und affektive Selbsteinschätzungen in eine kreisförmige Anordnung gebracht, die als Circumplex-Struktur bezeichnet wird. Ein Circumplex ist eine zweidimensionale, zirkuläre Struktur, in der diejenigen Attribute mit solchen stark korrelieren, die auf dem Kreisumfang nahe beieinanderstehen. Sie bedingen sich weniger, wenn sie in einem 90° Winkel zueinanderstehen 36 | Larsen, Randy J./Diener, Edward: Promises and Problems With the Circumplex Model of Emotion, in: Clark, Margaret S. (Hrsg.): Emotion. Review of personality and social psychology (13), 1992, S. 25–59.

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und gegensätzlich, wenn sie sich im Kreis gegenüberstehen.37 Alle Adjektive, die in die linke Hälfte des Kreises fallen, werden als »unangenehm« bezeichnet, alle Attribute in der rechten Kreishälfte als »angenehm«, die Eigenschaften im oberen Halbkreis weisen eine hohe Aktivierungskomponente auf, diejenigen im unteren Halbkreis eine geringe Aktivierung.

Distressed Annoyed Fearful Nervous Jittery Anxious

Unhappy Miserable Sad Grouchy Gloomy Blue

Aroused Astonished Stimulated Surprised Active Intense

High Activation

Activated Unpleasant Affect

Activated Pleasant Affect

Unpleasant

Pleasant

Unactivated Unpleasant Affect Dull Tired Drowsy Sluggish Bored Droopy

Enthusiastic Elated Excited Euphoric Lively Peppy

Unactivated Pleasant Affect Low Activation

Quiet Tranquil Still Inactive Idle Passive

Happy Delighted Glad Cheerful Warmhearted Pleased

Relaxed Content At Rest Calm Serene At Ease

Abbildung 3: Circumplex-Modell nach Larsen/Diener, 1992. Auf Basis des Modells von Larsen und Diener (1992) lässt sich der Gefühlszustand des Protagnisten folgendermaßen charakterisieren: Anfänglich befindet 37 | Vgl. ebd., S. 25–26.

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er sich in einem Zustand der Unruhe bzw. Aktivität. Er wirkt genervt, gestresst und scheint missmutig gelaunt. Mit Betreten des Schiffes, insbesondere des Konferenzraums, steigen die Aktivierungs- und Bewertungskurve des Hauptdarstellers allmählich weiter an und sein Gemütszustand verändert sich in überrascht und aufgeweckt (E5). Während der Besprechungsphase (E6–E13) trägt der Protagonist einen konzentrierten Gesichtsausdruck, zum Ende der Sequenz sieht er begeistert und lebhaft aus. Danach nimmt der Grad der Aktivierung schrittweise ab. Im Café sitzend und während des Landgangs verändert sich der Gemütszustand in erfreut und zufrieden. Die letzte Sequenz endet mit dem Protagonisten, wie er über das Meer schaut, er wirkt hochgradig entspannt und sehr zufrieden. Während des zweieinhalb minütigen Films verändern sich die Aktivierungs- und Bewertungskurve des Hauptdarstellers enorm und vollziehen eine 180° Wende im Circumplex Modell von links oben nach rechts unten.

Abbildungen 4–12: Ein Auszug des Verlaufs der Gesichtsausdrücke. Der Gefühlszustand beginnt bei aktiv, genervt und endet bei entspannt, passiv, zufrieden. Als Schlüsselmoment der beginnenden Gemütsveränderung lässt sich das Betreten des Konferenzraumes und der Blick aufs Wasser identifizieren (E16). Der konzentrierte Zustand des Protagonisten ist zweifellos der Tätigkeit des Arbeitens geschuldet. Gleichzeitig ist aber die durchschnittlich höhere Einstellungslänge der Wasserszene erneut ein Hinweis darauf, dass dem Wasser eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Die maritime Umgebung scheint sich positiv auf das subjektive Wohlbefinden des Protagonisten auszuwirken und gleichzeitig den Arbeits- und Lernprozess zu begünstigen sowie die Lernsituation durch eine Form der Entschleunigung zu beeinflus-

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sen. In dieser Einstellung wird gezeigt, wie auf dem Wasser eine Raumkonstitution möglich werden kann, die Lernen nicht nur ermöglicht, sondern möglicherweise in besonderer Weise präformiert und wie aus ihr ein idealer Arbeits- bzw. Lernraum entstehen kann. Durch entsprechende Entitäten und eine besondere Raumkonstitution kann sich hier ein Tätigkeitsraum in einen Lernraum verändern. Weitere Untersuchungen, die Aufschluss darüber geben, welche eben genannten Entitäten und Konstellationen vorherrschen (müssen), welche Eigenleistung der Akteur erbringen muss, um den Tätigkeitsraum in einen Lernraum zu verwandeln, sowie der Einfluss der weiteren Aktivitäten an Land und Bord auf den Lernprozess können in diesem Beitrag nicht weiter ausgeführt werden. An dieser Stelle ist nochmals festzuhalten, dass gerade durch den Vergleich zu AIDA (die ihren Fokus auf Ausstattungsmerkmale und variable Raumstrukturen legen, indem sie mehr als ein Drittel der Gesamtzeit keine Personen zeigen, keine Identifizierung mit einem Protagonisten ermöglichen oder nicht versprechen, dass das Schiff als Lernort Impulse für eine kreativ offene Haltung ermöglicht, die den Lernprozess ermöglichen sowie kontinuierlich positiv beeinflussen) die maritime Inszenierung bei Color Line sowie der sich ändernde Gemütszustand des Protagonisten von genervt zu entspannt ganz besonders deutlich werden. Abschließend lässt sich sagen, dass Color Line einerseits einen positiven Zusammenhang zwischen maritimen Kontext und kreativem Output verspricht, und andererseits das Schiff als Form der Entschleunigung in besonderer Weise Lernerfolge präformieren kann. Des Weiteren wirft der Film die Frage auf, ob ein positiver Gemütszustand notwendig ist, um lernen zu können? Trägt die maritime Atmosphäre hier in besonderer Weise dazu bei?

PERSPEK TIVE DER LERNENDEN Um die eben genannten Lernversprechen mit der Perspektive der Lernenden zu vergleichen und einordnen zu können, wendet sich der Beitrag der Frage zu, was Lernende im Kontext einer Weiterbildung brauchen bzw. sich wünschen. Da die Forschung zum Zeitpunkt dieses Artikels noch nicht vollständig abgeschlossen ist, handelt es sich im Folgenden lediglich um ausschnitthafte erste erkenntnistheoretische Beispiele. Um die Perspektive der Lernenden näher betrachten zu können, wurden 14 qualitative Interviews geführt. Erkenntnisinteresse der Befragung war die notwendige Konstellation, die Räume zu Arbeits- bzw. Lernräumen machen und welche Leistungen dafür von den Teilnehmenden zu erbringen oder erwarten sind. Wenn hier von Räumen gesprochen wird, orientiert sich der Begriff an dem relationalen Raumverständnis von Martina Löw: Räume sind Konstrukti-

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onsleistungen von Menschen und entstehen im Handeln. Das bedeutet – nach Löw –, dass nicht zwischen physischen und sozialen Räumen differenziert werden sollte.38 Bei der Befragung wurde deutlich, dass die eingangs formulierte Annahme zutrifft: Lernen stellt einen subjektiven, individuellen Prozess dar und die Realität des Lernenden wird durch seine Beobachtung begründet, demzufolge können lernfördernde/-stimulierende bzw. lernhemmende Faktoren ungleich wahrgenommen und interpretiert werden. Die Bedürfnisse in Lernsituationen unterscheiden sich daher von Individuum zu Individuum. Jeder Lernende braucht verschiedene Entitäten, um seinen optimalen Lernraum konstituieren zu können, jedoch wurden in allen Befragungen die gleichen oder zumindest ähnliche Einordnungen vorgenommen. Während Person A einen hellen, aufgeräumten Raum braucht, der nicht viel Ablenkung bietet, benötigt Person B Bilder und »gemütliche Wandfarben« als Inspirationsquelle. Beide Personen begründen ihre Bedürfnisse bezüglich der Ausstattung mit der Tatsache, sich wohlfühlen zu müssen. Auch die meisten anderen Befragten beschreiben ein subjektives Wohlbefinden39 als notwendige Voraussetzung, sich selbst in einen Zustand zu versetzen oder versetzen zu lassen, der überhaupt erst »lernen« möglich macht. Sich nicht wohlzufühlen wird sogar als »Störfaktor« bezeichnet: »Also für mich ist Atmosphäre auch das Zusammensein von Menschen auf jeden Fall, der Raum könnte jetzt noch so nach meinen Idealvorstellungen gestaltet sein, wenn dann der Inhalt oder das soziale Miteinander oder die schlechte Moderation vorne steht, dann hilft das alles natürlich nichts, aber ich kann nie, wenn ich irgendwo mich auf halte, auch unabhängig vom Thema Weiterbildung oder Lernen, wenn ich mich nicht richtig wohlfühle, dann ist das immer ein Störfaktor, sage ich mal so.« 40 Was konkret ein Wohlfühlen ermöglicht, wird ebenso unterschiedlich benannt wie definiert. Bei den Beschreibungen greifen die befragten Personen auf bereits gemachte Erfahrungen zurück und erzählen von ihren positiven/negativen Erlebnissen und leiten daraus Wünsche und Ängste für zukünftige Weiterbildungen ab. 38 | Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 159 f. 39 | Über den Zusammenhang von Gestaltung physischer Umgebung und Wohlbefinden vgl. Rehn, Jonas: Gesunde Gestaltung, Wiesbaden 2019, insbesondere S. 113, S. 528; Brichetti, Katharina/Mechsner, Franz: Heilsame Architektur, Bielefeld 2019, S. 123 ff. 40 | Bei der Übertragung der Gespräche in Schriftform wurde die wörtliche Rede möglichst originalgetreu transkribiert. Grammatikalisch inkorrekte Sätze wurden nicht korrigiert und abgebrochene Sätze mit dem Satzzeichen »/« gekennzeichnet. Die Namen aller befragten Personen wurden für die Arbeit anonymisiert; eine Benennung zu Zwecken der Übersichtlichkeit erscheint für diesen Beitrag nicht notwendig, da alle kursiven Zitate von unterschiedlichen Personen stammen.

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Einerseits wird das erlebte Wohlbefinden an formale und formalästhetische Anforderungen geknüpft, wie beispielsweise an den Tagesablauf einer Weiterbildung, die Erreichbarkeit des Ortes, die Gruppengröße oder eine positive, harmonische Atmosphäre, die u. a. durch den Raum erzeugt werden kann: »Ansonsten muss ich ganz ehrlich sagen, finde ich den Raum [gemeint ist hier der Seminarraum, in dem das Interview stattgefunden hat] so ganz toll gestaltet, weil es eigentlich meinen Geschmack betrifft, es ist halt nüchtern, es ist sehr nüchtern gehalten, aber trotzdem auch mit einem Wohlfühlcharakter, es ist hell, es ist zwar sehr warm, aber ich glaube, das liegt halt heute einfach auch am Wetter, es ist überall warm.« Die Attribute hell und nüchtern werden in diesem Beispiel als Charaktereigenschaften des Raumes hervorgehoben, die ein solches Wohlfühlen erzeugen, dass die Teilnehmenden in einen Zustand versetzt werden, der sich offen zeigt für kreative Lernimpulse. Gleichzeitig werden Weiterbildungen in »dunklen, stickigen und stinkenden Räumen« als Worst-Case-Szenario eingestuft. Als »Bonbon« wird beispielsweise auch ein Wohlfühlprogramm beschrieben, bei dem die/der Teilnehmende sich nicht selbst um das Buchen eines Hotelzimmers oder den Erwerb der Zugfahrkarten kümmern muss. Dieses Sich-nicht-kümmern-müssen wird mit Entspannung gleichgesetzt und als Möglichkeit gesehen, sich nun besser auf die Weiterbildung selbst konzentrieren zu können. Wie subjektiv sich dieses Empfinden und Erleben gestaltet, wird auch in den weiteren Gesprächsverläufen schnell deutlich. So wurde im zweiten Abschnitt dieses Beitrags Sophia Prinz zitiert, die beschreibt, wie das neue Bürodesign, die Behaglichkeit privater Wohnräume imitiert, um den Innovations-Output zu stimulieren. Dieses Phänomen griffen auch die befragten Personen in den Gesprächen auf: »Und ja, also Wohnzimmer-Atmosphäre finde ich zum Beispiel aber blöd, aber das ist halt, weil ich auch eher so ein stringenter Mensch bin, also ich muss schon /, ich darf auch nicht zu viel Ablenkung dann haben, ne?« oder »Und ich soll ja hier nicht wohnen, ich will mich ja fortbilden. Ich muss jetzt hier nicht, weiß ich nicht, irgendwelche schönen Bilder an den Wänden haben oder irgendwas.« Während die eine Person also keine Bilder braucht, ist es genau das, was einer anderen fehlt: »Von der sonstigen Atmosphäre finde ich ihn [den Raum der Befragung] nicht sonderlich freundlich. Dafür dass es eine DESIGNhochschule ist, hätte man erwartet, dass vielleicht noch ein paar Bilder oder sonstiges an der Wand hängen. Das wirkt etwas kahl und dahingegen dann doch eher etwas kühl.« Während die eine Person den Ausblick anspricht und als öde, trist, trostlos, grau und damit als »nicht schön« beschreibt, ist einer anderen Person der Ausblick völlig gleichgültig: »Weil eigentlich, wenn es der Dozent gut macht, gucke ich da vorne hin und wenn er es halt schlecht macht, ja gut, dann gucke ich aus dem Fenster, aber dann ist auch egal, ob da jetzt eine Baustelle ist oder eine schöne Wiese. Also ich bin da ja nicht auf Urlaub.« Andererseits wird Wohlbefinden auch durch inhaltliche Anforderungen an eine Weiterbildung erzeugt, beispielsweise durch das eigene Interesse, die Mo-

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tivation, das Engagement des Lehrenden oder auch die Selbstbestimmung bei der Wahl des zu lernenden Inhalts: »[…] die [bestimmte Weiterbildungen] sind vorgegeben, das darf ich mir nicht aussuchen, da habe ich eine Pflicht hinzugehen, die anderen suche ich mir selber aus und ich finde das auch sinnvoll, mir das selbst aussuchen zu dürfen, denn wie gesagt, ich muss mich einigermaßen wohlfühlen, sonst lerne ich eh nichts.« In den Gesprächen zählten die befragten Personen immer wieder Situationen, Gegenstände, Bedingungen, Voraussetzungen, Personen, Orte, Arbeitsplätze, Erinnerungen und Erfahrungen auf, die ihnen zum Erreichen und Nicht-Erreichen des Zustands »sich wohlzufühlen« verhelfen konnten oder möglicherweise zukünftig könnten. Jedoch definiert sich die konkrete Ausgestaltung dieses Zustands von Person zu Person anders.

AUSBLICK Abschließend lässt sich festhalten, dass das Lernversprechen der Reederei Color Line zumindest in puncto Wohlbefinden grundsätzlich mit den Wünschen und Erwartungen der Lernenden übereinstimmt. Auch versucht der Kriterienkatalog des Certified Conference Ship mit seinen organisatorischen und formalen Bestimmungen als Qualitätszertifikat den Bedürfnissen des anspruchsvollen Reisenden gerecht zu werden. 41 Jedoch wird schnell deutlich, dass Wohlbefinden nicht nur subjektiv und vielfältig ist, sondern auch das Verständnis von Wohlbefinden variieren kann. So gehen Zertifikat, Lernversprechen und die Lernenden selbst von verschiedenen Begriffsdefinitionen und -verständnissen aus, die zusätzlich von verschiedenen Motivationen und Handlungsinteressen gekennzeichnet sind. Neben Fragen nach lern- und designtheoretischen Bezügen, wirft der derzeitige Forschungsstand weitere auf: Wann wird aus Befinden subjektives Wohlbefinden? Welche weiteren Störfaktoren lassen sich identifizieren? Braucht es tatsächlich Wohlbefinden, um Lernen zu können oder ist ein Herausholen aus der Komfortzone notwendig, um Offenheit gegenüber neuen Impulsen zu generieren? Oder ist das Verlassen der eigenen Komfortzone bei gleichzeitigem Wohlbefinden gar parallel möglich? Wie kann Design sinnliche und zugleich höchst individuelle Erfahrungen und Erwartungen systematisch miteinbeziehen? Welche Rolle spielt dabei der Ort, der Raum, das Schiff? Welche Kategorien, Denkmuster, Lernstrukturen und Formate sind schiff bar? – Oder entfalten sogar auf dem Schiff erst ihr volles Potenzial und setzen ungeahnte Energien frei?

41 | Vgl. https://www.certified.de [20.07.2019].

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Sequenzlängen, Film Color Line, © Saskia Plankert. Abbildung 2: Einstellungslängen, Film Color Line, © Saskia Plankert. Abbildung 3: Eigene Darstellung nach Larsen, Randy J./Diener, Edward: Promises and Problems With the Circumplex Model of Emotion, in: Clark, Margaret S. (Hrsg.): Emotion. Review of personality and social psychology (13), 1992, S. 25–59, hier S. 31. Abbildung 4: Filmstill, E3 (0:06,09), Color Line, https://www.colorline.de/ tagungen [20.07.2019]. Abbildung 5: Filmstill, E5 (0:08,09), Color Line. Abbildung 6: Filmstill, E7 (0:10,15), Color Line. Abbildung 7: Filmstill, E16 (0:20,08), Color Line. Abbildung 8: Filmstill, E32 (0:47,11), Color Line. Abbildung 9: Filmstill, E41 (0:56,16), Color Line. Abbildung 10: Filmstill, E65 (1:38,02), Color Line. Abbildung 11: Filmstill, E86 (2:01,23), Color Line. Abbildung 12: Filmstill, E95 (2:10,21), Color Line.

QUELLENVERZEICHNIS AIDA Cruises: Exzellent tagen auf See: AIDA Schiffe als »Certified Conference Ship« ausgezeichnet, Rostock  05/2014, https://www.aida.de/aida-cruises/ presse/pressearchiv/newsdetails.24494/article/exzellent-tagen-auf-see-aidaschiffe-als-certified-conference-ship-ausgezeichnet.html [20.07.2019]. Banz, Claudia (Hrsg.): Social Design. Gestalten für die Transformation der Gesellschaften, Bielefeld 2016. Barck, Karlheinz (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990. Beuker, Nicolas: Design und die Sichtbarkeit möglicher Zukünfte, in: Banz, Claudia (Hrsg.): Social Design. Gestalten für die Transformation der Gesellschaften, Bielefeld 2016, S. 35–41. BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung: Berufliche Weiterbildung, 2013, http://www.bmbf.de/pub/flyer_allgemein_energie_fuer_ihren_ erfolg.pdf [28.04.2016]. Brichetti, Katharina/Mechsner, Franz: Heilsame Architektur, Bielefeld 2019. Burckhardt, Lucius: Design ist unsichtbar, in: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hrsg. von Jesko Fezer und Martin Schmitz, Berlin 2004, S. 187–199.

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Color Line: Neue Angebote für Tagungen, Kiel 12/2011, https://www.colorline. de/ueber-uns/presse/pressemitteilung-neue-angebote-fuer-tagungen [20.07.2019]. Erpenbeck, John/Sauter, Werner: So werden wir lernen, Berlin/Heidelberg 2013. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46. Korte, Helmut: Einführung in die Systematische Filmanalyse, Berlin 2004. Krapp, Andreas/Weidenmann, Bernd: Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim 2006. Larsen, Randy J./Diener, Edward: Promises and Problems With the Circumplex Model of Emotion, in: Clark, Margaret S. (Hrsg.): Emotion. Review of personality and social psychology (13), 1992, S. 25–59. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. Mikula, Regina/Lechner, Reinhard: Figurationen biografischer Lernprozesse, Wiesbaden 2014. Milev, Yana (Hrsg.): Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwissenschaft, München 2013. Moebius, Stephan/Prinz, Sophia (Hrsg.): Das Design der Gesellschaft, Bielefeld 2012. Neubert, Stefan/Reich, Kersten/Voß, Reinhard: Lernen als konstruktiver Prozess, in: Hug, Theo: Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten, Baltmannsweiler 2001, S. 253–265. Prinz, Sophia: Büros zwischen Disziplin und Design. Postfordistische Ästhetisierungen der Arbeitswelt, in: Moebius, Stephan/Prinz, Sophia: Das Design der Gesellschaft, Bielefeld 2012, S. 245–271. Prinz, Sophia: Formen des Gebrauchs. Über die alltägliche Ordnung der Dinge, in: Milev, Yana (Hrsg.): Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwissenschaft, München 2013, S. 33–42. Ranftl, Josef: Unternehmenserfolg durch »In-Wert-Setzung von Wissen«, 2004, http://www.innovations-report.de/html/berichte/wirtschaft-finanzen/ bericht-36608.html [11.07.2018]. Reinmann, Gabi/Mandel, Heinz: Unterrichten und Lernumgebungen gestalten, in: Krapp, Andreas/Weidenmann, Bernd: Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim 2006, S. 613–658. Rehn, Jonas: Gesunde Gestaltung, Wiesbaden 2019. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003. Stang, Richard: Lernwelten im Wandel. Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen, Berlin/Boston 2016.

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Der folgende Beitrag geht von der Grundannahme aus, dass Lernorte stets auch Orte der Macht sind. Wo immer gelehrt und gelernt wird, wird auch Macht ausgeübt, Macht eingeübt und Macht dargestellt oder abgebildet. Macht lässt sich hier auf vielfältige Weise verfolgen. So ist zum einen der Akt des Lernens selbst definiert durch ein Wissensgefälle, das die Lehrenden dazu legitimiert, die Lernenden mit Aufgaben einzudecken, sie zu disziplinieren, zu bewerten, zu belohnen oder zu maßregeln. Zweitens sind Lernorte auch Orte der Macht, weil hier durch die Währung der Bildung die zukünftige gesellschaftliche Machtverteilung ausgehandelt wird. Wer Zugang zu welchen Bildungsinstitutionen erhält, wie weit dieser Mensch dabei kommt und an welcher Stelle er sich in einem kompetitiven Vergleich platziert, entscheidet darüber, wieviel Macht er schließlich über sein eigenes Leben (unter Umständen auch über dasjenige vieler anderer Menschen) zugesprochen bekommt. Und zum dritten sind Lernorte Orte der Macht, weil sich in der Raumgestaltung selbst, der Architektur, der Inneneinrichtung, den Gestaltungsparametern, den zur Verfügung stehenden Bewegungsspielräumen oder der stadtplanerischen Situierung Macht unmittelbar manifestiert. Hier werden abstrakte Machtkonzepte sichtbar, hier werden sie wirksam und erzeugen reale Effekte im alltäglichen Leben eines jeden, der damit in Berührung gerät. Wie Macht an diesen Lernorten funktioniert – im Mittelpunkt steht für uns dabei der dritte Aspekt der gestalterischen Manifestation –, wollen wir im Folgenden mit Hilfe von Begriffen untersuchen, die wir von Michel Foucault übernehmen. Insbesondere soll das Konzept der Heterotopie diskutiert werden. Der junge Philosoph hatte in seinem 1966 erschienenen Werk »Die Ordnung der Dinge« den Begriff eingeführt und ihn dort als eine sprachliche Funktion gefasst. Für einen Radiobeitrag, der am 7. Dezember des gleichen Jahres im Sender »France Culture« lief, arbeitete Foucault diese Idee unter dem Titel »Die Heterotopien« weiter aus.

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Abbildung 1: Panoptikum, Skizze von Jeremy Bentham, 1791. Im März 1967 entstand ein Vortragsmanuskript, überschrieben mit »Andere Räume«.1 Dieses baut auf dem Radiovortrag auf, unterscheidet sich aber in einigen Punkten. Zu Lebzeiten Foucaults wurde nur letzterer publiziert, 1984, kurz vor seinem Tod.2 Nach 1967 lässt er den Terminus fallen, ohne ihn in 1 | Es sind von uns folgende Ausgaben verwendet worden: Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013; ders.: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46; ders: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971, bes. S. 20. 2 | Foucault, Michel: Des espaces autres, in: Architecture, Mouvement, Continuité (AMC), Nr. 5, Okt. 1984, S. 16–49. Eine Gruppe von Architekten und Stadtplanern, die diese Publikation betrieb, befasste sich 1984 im Rahmen der Internationalen Bauausstellung mit dem damals utopischen Gedanken einer Wiedervereinigung Berlins. Der

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seinen Schriften erneut aufzugreifen.3 Da sich aber einige der Bestimmungen der Heterotopien – insofern sie sich auf Lernorte als Orte der Macht beziehen lassen – in seinen Konzepten des Dispositivs wie auch des Panoptismus wiederfinden, eignet sich sein Modell gut, um eine Analyse konkreter räumlicher Gegebenheiten durchzuführen. Unter Dispositiv begreift Foucault ein »heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze […] umfasst.« 4 Er beschreibt damit eine »Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten.«5 Auch die Heterotopie ist ein heterogenes Ensemble, das architekturale Einrichtungen einbezieht und auf Krisensituationen reagiert. Schulen – genannt sind ausdrücklich u. a. Gymnasien, Kollege, Militärschulen, Hochschulen und andere Orte des Lernens – begreift er sowohl als Architektur als auch als Institution im Sinne einer »Disziplinierungsanlage«6, deren Idealform er im Panoptikum gefunden zu haben meint: »Das Panopticon von Bentham ist die architektonische Gestalt dieser Zusammensetzung.«7 Es »ist das Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus.«8 Die Frage, der wir im Folgenden nachgehen, lautet: Wie also erscheinen sich verändernde Machtstrukturen in der baulichen Gestaltung von Lernorten?

Plan bestand in einer heterotopischen Vernetzung der Stadt als »Collage City«. Vgl. Kleihues, Josef Paul (Hrsg.): Prager Platz. Zerstörter Federschmuck, Aggressive Leere, Geschichtliche Collage, Berlin 1989 (Schriftenreihe zur Internationalen Bauausstellung Berlin 1984/87, Bd. 6), S. 11–15. 3 | Gleichwohl hat der Begriff in unterschiedlichen gestalterischen Bereichen eine nachhaltige Wirkung erzeugt. Zur internationalen Rezeption des Konzepts der Heterotopien vgl. Defert, Daniel: Raum zum Hören, in: Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 67–92. 4 | Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 2000, S. 119. 5 | Ebd. 6 | Foucault, Michel: Der Panoptismus (1975), in: Susanne Hauser/Christa Kamleithner/ Roland Meyer (Hrsg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raums, Bielefeld 2013, S. 163–175, hier S. 164. 7 | Ebd., S. 166. Foucaults französischer Begriff »le panoptique« wird in der deutschen Literatur uneinheitlich gräzisiert »Panopticon« oder latinisiert »Panoptikum« geschrieben. Beide Formen sind synonym. 8 | Ebd.

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SCHULE ALS HE TEROTOPOS Lernorte sind vielfältig. Grundschulen, weiterführende Schulen, Hochschulen, aber auch Weiterbildungsakademien, Kongresszentren, Bibliotheken oder Museen wie noch viele andere Einrichtungen lassen sich darunter fassen. Das abendländische Standardmodell bietet aber sicherlich die Schule. Die Einteilung in Klassen, die zeitliche Strukturierung des Tages, die Überprüfung der Anwesenheit, die Taktung der Lerneinheiten, die Bewertung und Begutachtung der Lernenden in Form von Prüfungen, die in Lehrplänen festgelegten Lernziele und Lerninhalte bis hin zur gesetzlichen Schulpflicht weisen Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen auf, die mutatis mutandis in allen Bildungseinrichtungen zu finden sind. Diese Kontrollmechanismen können nicht nur an der Organisation bzw. den formellen Strukturen einer Institution festgemacht werden, sondern sie lassen sich auch anhand der Architektur sowie der Raumstrukturen und formalästhetischen Gestaltung der Räume aufzeigen: Die langen Flure, die davon abgehenden Lernräume, die Sitzordnungen und die Anordnung und der Auf bau der Schulbänke, die Positionierung des Pultes, der Tafel, der Leinwand (oder des white boards) und der Tische zueinander, die Verortung der Lehrräume, sowie das meist zentral gelegene Lehrerzimmer (das für Schüler*innen kaum zugänglich zu sein scheint), daneben das Sekretariat und das Rektorat, Cafeteria, Sporthalle usw. Aber auch der Pausenhof, der oft so angelegt wurde, dass er von allen um ihn herum gelegenen Gebäudeteilen einsehbar ist, spielt eine entscheidende Rolle. Foucault definiert Heterotopien als »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind.«9 Die Bildungsinstitution ist insofern eine Heterotopie schlechthin. Der Philosoph Michel Foucault ist im pädagogischen Diskurs nicht nur als Machttheoretiker von Bedeutung, sondern auch durch seine Auseinandersetzungen mit Raum und den Anordnungen von Dingen und Menschen, die kontinuierlich aufeinander wirken und miteinander verflochten sind. Als Beispiele solcher in die Gesellschaft hineingezeichneter Orte nennt er unter anderem Gefängnisse, Altenheime, Friedhöfe oder Bordelle sowie Feriendörfer, Museen, Kinos und eben Schulen.10

9 | Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34– 46, hier S. 39. 10 | Foucault schreibt auch: »Das Schiff ist die Heterotopie par excellence.« Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 21. Er geht dabei zwar nicht ausdrücklich auf Kreuzfahrtschiffe ein, da er aber auch »die

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Heterotopie, er übernimmt den Begriff aus der Medizin, bedeutet zunächst einmal »andere Verortung«. Dieser heteros topos, der andere Ort, erfüllt eine ganz bestimmte Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Er ist Teil der Gesellschaft, gleichzeitig jedoch außerhalb von ihr, denn dieser Ort spiegelt auf besondere Weise gesellschaftliche Beziehungen wider, indem er sie »repräsentieren, negieren oder umkehren«11 kann. In den Heterotopien lassen sich, so Foucault, die Idealbilder einer Gesellschaft identifizieren, ihre verwirklichten und gescheiterten Utopien. Darüber hinaus sind Heterotopien immer an ein System von Öffnungen und Schließungen gebunden, das sie nicht ohne weiteres für jeden zugänglich macht, sondern deren Betreten und Verlassen an bestimmte Ein- und Ausgangsrituale knüpft.12

LERNORTE ALS INSTITUTIONEN UND ALS ARCHITEK TUR Betrachtet man die institutionelle Bildungseinrichtung als Heterotopie und berücksichtigt die damit verbundenen Machtfragen, so zeigt sich, dass sich mit der architektonischen Gestaltung auch Beziehungen zu Identität, Subjektivität, Individualität und Kreativität des Individuums verändern. In der Institution fallen so verstanden die konkrete gestaltete, gebaute Form und die ihr unterliegende Denkweise zusammen. Der Ökonom Douglass North beschreibt Institutionen als Manifestationen der »Spielregeln der Gesellschaft«, indem sie menschliche Interaktionen steuern und einschränken.13 Louis Althusser, der als Foucaults Philosophieprofessor dessen Denken stark beeinflusste, unterschied in seiner Untersuchung staatlicher Institutionen zwischen repressivem und ideologischem Staatsapparat, durch welches das Individuum in das System der Macht eingepasst werde.14 Die Schule als Lernort wird dem ideologischen Staatsapparat zugeordnet (gemeinsam u. a. mit religiösen, kulturellen oder journalistischen Institutionen), der aber wie der repressive Staatsapparat (z. B. Polizei, Armee, Gefängnisse etc.) ebenfalls durch Gewalt funktioniere.15 Laut Althusser repro-

Dörfer des Club Méditerranée« (Ebd., S. 11) anspricht, ließe sich die Verbindung von gemeinschaftlicher Freizeitgestaltung und Seereise leicht als Heterotopie verstehen. 11 | Ebd. 12 | In »Die Heterotopien« gibt Foucault sechs Grundsätze, in »Andere Räume« fünf Grundsätze an, die eine Heterotopie definieren. 13 | North, Douglas C.: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 3. 14 | Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 2010, S. 143. 15 | Ebd., S. 119.

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duziert die Institution Ideologien, produziert sie aber auch gleichzeitig.16 Es werden Regeln vermittelt: »Regeln der Moral […], Regeln der Einhaltung der gesellschaftlich-technischen Arbeitsteilung und letztlich Regeln der durch die Klassenherrschaft etablierten Ordnung.«17 Gilles Deleuze, ein mit Foucault befreundeter Denker, spricht von Einschließungsmilieus und begreift Bildungsinstitutionen als Schulregime, als Orte kontinuierlicher Kontrolle.18 Hier herrscht nicht nur Kontrolle über die Lernenden, sondern auch über die Lehrenden. Foucault beschreibt die Schule als institutionalisierte Disziplinierungsanstalt, in der sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Strategien der Machtausübung verändern. Die »biologischen Heterotopien« oder auch »Krisenheterotopien« seien nach und nach »durch Abweichungsheterotopien ersetzt worden.« 19 Das System wurde damit laut Foucault entkörperlicht.20 Ein anonymes Machtsystem sei nunmehr dafür zuständig, eine immer komplexer werdende Gesellschaft nicht nur zu kontrollieren, sondern die individuellen wie auch gesellschaftlichen Kräfte zu potenzieren und effizienter zu machen.

BENTHAMS PANOP TIKUM Diese sich in der Disziplinargesellschaft verändernden Machtstrukturen zeigen sich nach Foucault besonders anschaulich in Jeremy Benthams Skizze des Panoptikums. Der Aufklärer, Humanist und Vorkämpfer der Tierschutzbewegung legte 1791 den architektonischen Entwurf eines Gefängnisses vor, in dem sich die Wache in einem zentralen Turm befindet und alle Häftlinge in 48 konzentrisch darum gelagerten Zellen, jede an ihrer Außenseite sechs Fuß breit, gleichzeitig kontrollieren kann.21 In diesem kreisringförmigen Gebäude sind die außenliegenden Zellen an ihren Innen- sowie Außenseiten geöffnet, so dass durch das einfallende Licht und dem daraus resultierenden Schattenwurf jede Bewegung der Inhaftierten – oder des Schülers, wie Foucault schreibt – kontrolliert werden kann. Gleichzeitig ist der zentralgelegene Turm für die Inhaftierten nicht einsehbar. Für die Überwachung wird es dadurch unwesentlich, ob sich tatsächlich ein*e Gefängniswärter*in in dem Turm befindet. So ist die Sichtbarkeit zwar permanent, aber auch nicht feststellbar. Die 16 | Ebd., S. 149. 17 | Ebd., S. 140. 18 | Vgl. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt am Main 1993, S. 261. 19 | Foucault, Michel: Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 12. 20 | Vgl. Foucault, Michel: Die Macht der Psychiatrie, Berlin 2015, S. 118. 21 | Bentham, Jeremy: Das Panoptikum, Berlin 2013, S. 22.

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Inhaftierten wissen nie, ob sich tatsächlich jemand in dem Turm befindet.22 Den Inhaftierten – oder Schüler*innen – wird somit ein Zustand bewusster und permanenter Sichtbarkeit eingepflanzt, der den Machtmechanismus internalisiert. Foucault erläutert dieses System folgendermaßen: »Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen […]23; sind es Kinder, gibt es kein Abschreiben, keinen Lärm, kein Schwätzen, keine Zerstreuung; 24 [… ] bei den Kindern registriert es Leistungen (ohne dass Nachahmen oder Abschreiben möglich ist), erfasst Fähigkeiten, schätzt Charaktere ab, nimmt strenge Klassifizierungen vor und unterscheidet vor dem Hintergrund einer normalen Entwicklung ›Faulheit und Trotz‹ von ›unheilbarem Schwachsinn‹.«25

Nach Foucault diente Bentham das Panoptikum nicht nur dazu, wahlweise Inhaftierte, Patient*innen, Schüler*innen oder Arbeiter*innen zu überwachen. Das Prinzip der implementierten Sichtbarkeit und der daraus resultierenden Verhaltensmechanismen finden vielmehr in diesem neuen Bauen gleichzeitig einen Ausdruck und bringen eine neue Gesellschaft hervor: »der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechthalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist.«26 Foucault sah Benthams Panoptikum in diesem Sinne als eine technologische Idealform der Macht.27 Die Übertragung dieses Prinzips in die Gesellschaft sei daher ein wichtiges Merkmal der Disziplinargesellschaft, in der »[…] eine gewisse konzertierte Verteilung von Körpern, Oberflächen, Lichtern, Blicken, […] deren interne Mechanismen die Beziehung erzeugen, in der Individuen gefangen sind«.28 Macht geht in diesem Gesellschaftsmodell nicht mehr von einem Souverän aus (sei dies ein*e Fürst*in, ein*e Professor*in oder ein*e Richter*in), sondern die Machtverhältnisse zirkulieren in der Disziplinargesellschaft zwischen den Akteur*innen, während sie Beziehungen in mehreren Kontexten – nämlich Dispositive – bilden.29 Der durchaus menschenfreundlich und positiv gedach22 | Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1993, S. 201. 23 | Ebd., S. 166. 24 | Ebd., S. 167. 25 | Ebd., S. 169. 26 | Ebd. 27 | Vgl. ebd., S. 205. 28 | Ebd., S. 202. 29 | Vgl. ebd., S. 146.

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te Effekt des Panoptikums dient nach Bentham der Stärkung sozialer Kräfte durch Produktionssteigerung, Wirtschaftsentwicklung, Verbreitung von Bildung und Erhöhung von Moral,30 was eine homogenisierende oder normalisierende Wirkung hervorbringe:31 »Eine neue Methode, die darauf abzielt, durch die Kraft des Verstandes die Seelen in einem Umfang zu formen, wie es bislang ohne Beispiel ist; und das bis zu einem ebenfalls beispiellosen Grade, abgesichert gegen Missbrauch durch Jeden, der sich entscheidet, sie anzuwenden«. 32

EINSCHLIESSUNGSMILLIEUS IN DER DISZIPLINARGESELLSCHAF T Gilles Deleuze sieht die Entwicklung im 20. Jahrhundert weiter fortschreiten. Nach ihm entwickelte sich aus der Disziplinargesellschaft der internalisierten Macht eine Kontrollgesellschaft, die gänzlich ohne Überwachungszentrum funktioniere. In der Kontrollgesellschaft werden die gesellschaftlichen Machtmechanismen weder von Institutionen noch von Individuen ausgeführt, sondern sind systemimmanent. Macht integriert sich somit in der Postmoderne als Prozess, der zwar vollkommen autonom agiert, jedoch von der Gesellschaft selbst angetrieben wird. So zeichnet sich die Kontrollgesellschaft Deleuzes durch eine besonders hohe Wirksamkeit aus. Um dieses Prinzip zu verdeutlichen, beschreibt Deleuze den Wandel anhand der Einschließungsmilieus (ein Begriff von Foucault), zu denen er auch die Bildungsinstitutionen zählt. In der Disziplinargesellschaft wechselt das Individuum von einem in sich geschlossenen Milieu ins nächste hinein, wobei jedes sein je eigenes Regelsystem ausbildet. Der Weg geht von der Familie in die Schule und über die Kaserne in die Fabrik. In jedem dieser Milieus besteht das Prinzip der gegenseitigen Überwachung.33 Über die Anordnung des Raumes werden Mechanismen der Vereinzelung und Ausgrenzung aufgebaut. Das Individuum rückt nun als einzelner in den Vordergrund, wird aber nicht nur isoliert betrachtet, sondern mit anderen kontinuierlich verglichen. So muss sich das Individuum ständig neuen Anforderungen stellen und sein Profil stets verändern, anpassen und optimieren. Es gilt nicht nur, festgelegte Nor30 | Vgl. ebd., S. 207. 31 | Vgl. ebd., S. 202. 32 | Vgl. Bentham, Jeremy: Panoptikum, Berlin 2013, S. 8. 33 | Vgl. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt am Main 1993, S. 263. Als Gegenstrategie entwirft Deleuze das Ordnungsmodell des Rhizoms, das als räumliche Struktur den Heterotopien in einigen Punkten ähnlich ist. Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977.

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men zu erfüllen, wie noch in der Disziplinargesellschaft, sondern die Normen agieren nun dynamisch und die Grenzen verschwimmen. Die Disziplin wird eingetauscht gegen den ständigen Zwang nach Modifizierung. Die Steuerung findet als Selbststeuerung im Individuum statt und wird durch Leistungsüberprüfungen von außen reguliert. So entstehen ähnlich wie in der Disziplinargesellschaft Machtmechanismen, die auch in der Kontrollgesellschaft für den Einzelnen nicht sichtbar werden.34 Die Architektur der Einschließungsmilieus übernimmt dabei keine ausschließlich repräsentative Funktion mehr, sondern dient dazu, die Individuen zu formen und Verhaltensmechanismen zu kontrollieren und nachhaltig zu modifizieren. Indem Beobachtende und Beobachtete räumlich voneinander getrennt werden, können so Situationen der Isolierung und Ausgrenzung geschaffen werden. Im Bezug zur Bildungsinstitution werden die Lehrenden zu Beobachtern, die durch besondere Positionierungen im Raum die Lernenden kontrollieren. Kontrolle und Sanktionierungen können jederzeit mit freier Sicht auf die Lernenden ausgeübt werden. Deren Handlungsspielraum scheint zuzunehmen, wird aber gleichzeitig transparenter, was die Grenze zwischen privat und öffentlich verschwimmen lässt. Hier tritt wieder der von Foucault beschriebene panoptische Effekt ein. Durch das Gefühl der ständigen Beobachtung und der daraus resultierenden Transparenz der Persönlichkeit wird das Handeln der Lernenden beeinflusst und wirkt somit unmittelbar auf deren Verhalten. So entsteht ein internalisierter Vorgang der Selbstüberwachung. Dieses Prinzip schafft es dabei nicht nur, dass die Beobachteten ihr Verhalten selbst regulieren und Abweichungen vermeiden, ohne dass die Überwachung tatsächlich stattfindet, sondern auch die Beobachtenden, die Überwacher selbst, können so zu Überwachten werden, indem sie dem normalisierenden Mechanismus unterliegen.

DIE LERNMASCHINE ALS TOTALE INSTITUTION Der Schulraum wird »zu einer Lernmaschine, [...] aber auch zu einer Überwachungs-, Hierarchisierungs-, Belohnungsmaschine«.35 Der Soziologe Irving Goffman spricht im Zusammenhang mit institutionellen Bildungseinrichtungen und dessen ökonomisierten Ausformungen von Totalen Institutionen.36

34 | Vgl. ebd., S. 263. 35 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1993, S. 189. 36 | Vgl. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973.

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Der Begriff fand schon bei Foucault Anwendung, dessen Interesse jedoch mehr der historischen Herleitung moderner gesellschaftlicher Prozesse galt. Goffman definiert die Totalen Institutionen als Arbeits- und Wohnstätten, an denen Individuen zusammenkommen, um gleiche Tätigkeiten auszuüben. Dies geschieht außerhalb der eigentlichen Gesellschaft.37 Obwohl Goffman zu diesem in sich geschlossenen System primär die Internate, Kasernen und Gefängnisse zählt, da er die Institutionen als Arbeits- und Wohnstätte definiert – das »und« ist bei Goffman nicht unwesentlich – treffen die meisten grundlegenden Definitionsmerkmale ebenso auf die Schule zu. Die Totalen Institutionen werden durch Regeln, Taktungen und eine übergeordnete Autorität organisiert. Dazu gehört unter anderem die gemeinsame Ausführung der gleichen Arbeit in der Gemeinschaft,38 die exakte Terminierung des Tages und das Einhalten rational angelegter Pläne.39 Die institutionellen Merkmale, die Goffman beschreibt, lassen sich auch bei Foucault finden. Die Bildungsinstitution wird zur pädagogischen Maschine. 40 Die abzulegenden Prüfungen bilden ein »System der Registrierung und Speicherung« 41 und produzieren daraus eine »Schriftmacht« 42 aus Dokumenten, »Aufzeichnungsverfahren« 43 und den nötigen »Notierungs-, Registrierungs-, Auflistungs- und Tabellierungstechniken«. 44 Die Bildungsinstitution wird zur Dienstleistungsorganisation, in der die Aneignung von Wissen oberste Priorität erlangt. Die normativen Regel- und Kontrollmechanismen, sowie die hierarchischen Kommunikationsstrukturen nehmen Einfluss auf die Identität und die Handlungsspielräume der Lernenden und erzwingen so systemkonforme Verhaltensweisen. Lernprozesse orientieren sich anhand des Erfolges. Das System ist in sich geschlossen, sobald man es betritt, müssen die Regeln befolgt und das Protokoll durchlaufen werden. Ein weiteres Merkmal der Totalen Institution ist die räumliche Abgrenzung zur außerhalb des Systems liegenden Gesellschaft: »Ihr allumfassender oder totaler Charakter wird symbolisiert durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit, die häufig direkt in die

37 | Vgl. ebd., S. 11. 38 | Vgl. ebd., S. 17. 39 | Vgl. ebd., S. 17. 40 | Ebd., S. 223. 41 | Ebd., S. 243. 42 | Ebd., S. 244. 43 | Ebd., S. 245. 44 | Ebd., S. 245.

Heterotopos Schule. Lernor te als Or te der Macht dingliche Anlage eingebaut sind wie verschlossene Tore, hohe Mauern, Stacheldraht, Felsen, Wasser, Wälder oder Moore.« 45

Heute liegen die wenigsten Schulen inmitten unpassierbarer Moore. Aber die sichtbare Ausschließung wird dennoch durch räumliche Abgrenzungen wie den Schulzaun, darüber hinaus auch durch Schließzeiten, Hundeverbot, Lärmverordnungen oder Kleidungs- oder Nahrungsmittelvorschriften kenntlich gemacht. Instrumentelle Gründe bilden laut Goffman die Basis dieses Systems. Zu diesen Gründen zählt er die Optimierung des Individuums als angeblichen Mehrwert dieses Systems. Das Ausüben der gleichen Tätigkeiten in einer Gemeinschaft, die Taktung der Lerneinheiten und die allgemein vorgegebenen Zeitstrukturen des Tages, 46 die Verteilung und Anordnung der Lernenden und des Lehrenden im Schulraum, 47 das Anfertigen von Klassenarbeiten und das Vergleichen der Lernenden durch ein vorgegebenes Bewertungssystem, die Kontrolle und Überwachung, ein System aus Belohnen und Sanktionieren sowie die hierarchischen Organisationsstrukturen zeigen Merkmale einer Institution auf, die über Kontrolle und Disziplinierung als Totale Institution definiert werden können. »Die Organisation eines seriellen Raumes war eine der großen technischen Mutationen des Elementarunterrichts, der das traditionelle System (ein Schüler arbeitet einige Minuten lang mit dem Lehrer, während die ungeordnete Masse der Anderen ohne Aufsicht müßig ist und wartet) abgelöst hat. Indem er individuelle Plätze zuwies, hat er die Kontrolle eines jeden und die gleichzeitige Arbeit aller möglich gemacht. Er hat eine neue Ökonomie der Lernzeit organisiert. Er hat den Schulraum zu einer Lernmaschine umgebaut – aber auch zu einer Überwachungs-, Hierarchisierungs-, Belohnungsmaschine«.48

Der Schulraum als Machtapparat manifestiert sich insofern in der Größe der Klassenzimmer und Seminarräume, den Möglichkeiten des Ein- und Ausgehens (auch des Ein- und Ausblicks). Die Lernmaschine setzt sich aus einer komplexen Konstruktion zusammen, die das Verhältnis von Arbeits- zu Pausenbereichen, die Rückzugsmöglichkeiten wie Teeküchen oder Toiletten oder Angebote an Essen und Getränken einbezieht. Zur Maschine zählt auch die Beleuchtung von Treppenhäusern oder Parkplätzen, die Länge der Wege zwischen verschiedenen Unterrichtseinheiten und zahlreiche weitere bauliche

45 | Ebd., S. 15. 46 | Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1993, S. 192. 47 | Vgl. ebd., S. 195. 48 | Vgl. ebd., S. 188.

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Faktoren, aber auch technischen Einrichtungen wie Kameras, Spiegel, Durchblicke sowie Temperaturkontrolle, Belüftung oder Farbgebung.

MACHT ALS PRODUK TIVES PHÄNOMEN Die Theoretiker aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre von Althusser über Deleuze bis Goffman tendieren dazu, in der Institutionskritik die totalitären, einschränkenden, manipulativen und entfremdenden Aspekte der Macht zu thematisieren. Bei Foucault finden sich jedoch auch Hinweise darauf, dass – ganz wie bei Bentham angelegt – die Effekte der Macht durchaus auch positiv zu bewerten sind. Jüngere Forschungen fassen vermehrt diese produktiven Momente internalisierter Machtstrukturen ins Auge. So ordnet auch der Soziologe Sebastian Dirks Heterotopien als Instrumente der Macht ein. 49 Doch Dirks betont, dass Disziplinierung nicht nur negativ betrachtet werden dürfe, als ein Vorgang, der festhält, bricht oder unterdrückt, sondern vor allem auch als produktiver Mechanismus funktioniere, der zugleich effizient und ermächtigend ist. Denn Machtmechanismen können laut Dirks auch Räume für Möglichkeiten eröffnen.50 Der Sozialwissenschaftler Marvin Chlada ist ebenfalls der Ansicht, dass Macht bei Foucault als produktives Phänomen zu sehen ist, das die Fähigkeiten besitzt, ständig neue Formen der Lust und des Wissens zu erzeugen.51 So können die Machtstrukturen einer Bildungsinstitution Räume kreativer Potenz hervorbringen, etwa indem die Akteur*innen eigene Räume konstituieren. Der Heterotopie wird damit ein gesellschaftskritischer, aber wertfreier Moment zuteil. Dann verschiebt sich der Fokus der Auseinandersetzung auf womöglich fehlende Räume, die aber notwendig für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit scheinen. Gemeint sind Räume, die es den Lernenden ermöglichen, nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu leben und Wünsche und Affekte, die sich außerhalb direkter Kontrolle oder in Kontrast zu institutionellen Normen entwickeln, ausleben zu können. Innerhalb der fest institutionalisierten Organisationsstruktur und den panoptischen Überwa-

49 | Vgl. Dirks, Sebastian: Heterotopien Sozialer Arbeit, in: Füller, Henning/Michel, Boris (Hrsg.): Die Ordnung der Räume. Geographische Forschung im Anschluss an Michel Foucault, Münster 2012, S. 184. 50 | Vgl. ebd., S. 214. 51 | Vgl. Chlada, Marvin: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault, Aschaffenburg 2005, S. 106.

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chungsmechanismen entwickeln die Lernenden eigene Gegenplatzierungen und Heterotopien.52 Diese Gegenplatzierungen entstehen auf kreative Weise, indem das Fehlen selbstbestimmter Räume kompensiert wird durch die Aneignung von neuen Räumen, die außerhalb der formellen, aber innerhalb der informellen Institutionsstrukturen liegen. Diese Räume definiert Goffman als Hinterbühnen.53 Er benutzt die Theatermetapher, um soziale Beziehungen und Situationen zu beschreiben. So analysiert er Prozesse der Sinnbildung im schulischen Kontext anhand der Prozesse auf der Vorderbühne im Gegensatz zur Hinterbühne. Die Hinterbühnen sind geschützte Bereiche, die außerhalb des regulären öffentlichen Rahmens einer Bildungsinstitution liegen, also außerhalb der gemeinsamen öffentlichen Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden. Dort können Lernende Erfahrungen austauschen und sich auf die Unterrichtssituationen vorbereiten. Sie bietet außerdem Raum für Gruppierungen, Proteste oder Entwicklungen von Subkulturen. Dies geschieht meist nicht individuell, sondern aus einem Kollektiv heraus. Diese subversiven Handlungen dienen laut Goffman dazu, eine »Schranke zwischen dem Individuum und der sozialen Einheit zu errichten«.54 Der Umstand, dass sich aber auch hier Gruppen oder Kollektive konstituieren, macht deutlich, dass es sich nicht um Orte außerhalb der Macht handeln kann, sondern um Phänomene, die wiederum heterotope Normierungsmechanismen ausbilden. Solche Heterotopien innerhalb von Heterotopien relativieren oder modifizieren die Machtverteilung Totaler Institutionen. Als Gegenstück dazu beschreibt Goffman die Vorderbühne als einen Raum, in der das Individuum ein bestimmtes und meist regelkonformes Rollenverhalten annimmt. In Unterrichtszeiten ist der Lernraum die Vorderbühne. Sobald der*die Lehrende ihn verlässt, kann aber auch der Lernraum zu einer Hinterbühne werden. Die Räume bzw. Bühnen überlagern sich dynamisch und werden nicht nur von den Lernenden gebildet, sondern auch von den Lehrenden. So wird das Lehrerzimmer beispielsweise zur Hinterbühne der Lehrenden, zu dem die Schüler*innen (und in gewissen Einschränkungen auch das Direktorat) keinen Zutritt erhalten. In der Bildungsinstitution eignen sich Lernende Räume als Hinterbühnen in Form von Raucherecken, Schultoiletten, Umkleidekabinen, dem Treffpunkt bei den Fahrrädern, aber auch in Form von nicht-materiellen Räumen, wie Gesprächen zwischen den Unterrichtseinheiten oder am Kaffeeautomaten an. 52 | Vgl. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 149. 53 | Vgl. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973. 54 | Ebd., S. 299.

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SUBVERSIVE HINTERBÜHNENEFFEK TE »Die Hinterbühne kann definiert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewusst und selbstverständlich widerlegt wird. […] Hier kann das, was eine Vorstellung hergibt […] erarbeitet werden; hier werden Illusionen und Eindrücke offen entwickelt.« 55

Goffman macht darauf aufmerksam, dass die Differenzierung von Vorder- und Hinterbühne – wie im Selbstverständnis des in das Panoptikum eingesetzten Menschen – zu großen Teilen imaginär funktioniert. Die internalisierte Macht ist eine vorgestellte, deren Wirksamkeit darin besteht, diese Vorstellung zu erzeugen. Daher kann diese Macht durch kreative Praktiken umgelenkt oder neuverteilt werden, indem alternative Bilder und Narrative eingebracht werden. Hierfür bietet die Hinterbühne einerseits einen Raum, in der das Individuum seine Wünsche und Affekte ausleben kann, andererseits sind in der Vorderbühne die Lernenden sowie die Lehrenden gleichermaßen danach bestrebt, das Zusammenleben mit seinem festgelegten Regelsystem und der anerkannten Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker vertritt die These, dass »das Zusammentreffen der beiden Hauptgruppen der Institution, also das Zusammentreffen von pädagogischem  Personal und Schülerklientel, […] die offizielle Handlungsebene der Institution«56 stabilisiert. Sobald Lehrende und Lernende getrennt voneinander seien und die gegenseitige Beobachtung wegfällt, kann sich das Hinterbühnengeschehen der Bildungsinstitution entfalten. Laut Zinnecker sind diese Hinterbühnen notwendig für jede Bildungsinstitution, da die verschiedenen Gruppierungen der Institution in diesen separierten Räumen die Möglichkeiten bekommen, sich ihren Differenzen mit dem Regelsystem zu stellen.57 Eben in dieser Differenz liegt, so lässt sich dieser Gedanke weiterführen, ein kreatives Potential der Selbstermächtigung, die das System gleichzeitig stabilisiert und einer ständigen kleinteiligen Veränderung unterzieht. Diese Differenzen brechen nicht die Macht, sondern wandeln ihre Erscheinungsweise nach und nach um. Wie beschrieben, überlagern sich diese Räume dynamisch und sind unabhängig von Personen, aber abhängig von Situationen. Die Lernenden wie auch die Lehrenden produzieren und reproduzieren somit ihre eigenen Heterotopien, ob physischer oder nichtphysischer Natur, die wichtig sind, um »eine 55 | Ebd., S. 105. 56 | Zinnecker, Jürgen: Die Schule als Hinterbühne oder Nachrichten aus dem Unterleben der Schüler, in: ders. (Hrsg.): Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim/München 2001, S. 255. 57 | Vgl. ebd., S. 257.

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gewisse Individualität und persönliche Autonomie«58 zu erhalten, Raum für subversives Handeln sowie Raum für andere Möglichkeiten zu schaffen. Indem die Hinterbühne die kleinen Fluchten ermöglicht, bewahrt sie das Spiel auf der Vorderbühne vor dem Kollaps.

R ÄUMLICHE STRUK TUREN »Jedem Individuum seinen Platz und auf jedem Platz ein Individuum.«59 Räume in Bildungsinstitutionen unterliegen unterschiedlichen Raumcodierungen. Dabei handelt es sich unter anderem um Lehrräume, die nur einem bestimmten Kreis zugänglich sind, oder fachspezifische Räume, die übergreifend genutzt werden können, Räume für die Allgemeinheit, wie Bibliotheken, Aufenthaltsräume oder Verbindungsräume sowie Räume der Verwaltung und des Lehrkörpers. Dies sind alles Räume, in denen Einschließungs- und Ausschließungsmechanismen aktiv sind. Denn wer Zugang zu den einzelnen Räumen erlangt, ist vorgegeben, und dies führt zu einer festen Parzellierung des Raums und damit der Verteilung der Akteur*innen.60 Die Rolle der Bildungsinstitution und somit auch die der Konstituierung des Raumes wirkt sich in Bezug auf den Lernprozess und in diesem Zug auch auf den Sozialisierungsprozess aus. Die normativen Zwänge, denen die Lernenden ausgesetzt sind, zeigen die Bildungsinstitution in ihren formellen und informellen Strukturen. Formelle Strukturen bestehen in dessen Regelsystem, wie zum Beispiel in der Anwesenheitspflicht, der Strukturierung des Tages und im Bewertungssystem. Sie unterliegen festgelegten Regeln und entsprechenden Sanktionierungsmechanismen. Die informellen Strukturen hingegen zeigen sich in Raumstrukturen, wie zum Beispiel in der Anordnung der Klassen- oder Seminarräumen sowie der Gemeinschaftsräume, deren Aufteilung wie auch den hierarchischen Verortungen, aber auch die Raumaufteilungen nach Geschlechterordnungen, wie sie in Toiletten und Umkleidekabinen zu finden sind.61 Letztlich machen alle Raummechanismen, die der Eingrenzung und Ausgrenzung, Öffnungen und Schließungen dienen und die an bestimmte Ein- und Ausgangsrituale geknüpft sind, diese Strukturen kenntlich. Rituale können bestimmte Kleiderordnungen umfassen, Begrüßungsformeln, Körperhaltungen, Gesten 58 | Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973, S. 299. 59 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1993, S. 183. 60 | Vgl. ebd. 61 | Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991.

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oder Bewegungsmuster beim Betreten des Raumes und der Unterrichtseröffnung, sie markieren regelmäßig gleichbleibende Vorgänge im Tagesablauf. Raumstrukturen beeinflussen die Menschen, die sich in ihnen bewegen und können somit Möglichkeiten hervorbringen, die Akteur*innen in bestimmter Weise handlungsfähiger und selbstbestimmter zu machen (wie sie auch bestimmte Optionen verunmöglichen oder einschränken). Es wäre insofern machbar, über gestalterische Einflussnahme den Abbau klassischer Hierarchien zu erreichen und so den Lernenden die Möglichkeit zu geben, selbstorganisiert zu arbeiten. Die Architektur und Gestaltung von Lernräumen sind nicht nur Teil eines Machtdispositivs, sondern auch Teil eines Bildungsdispositivs. Dazu zählen die Materialität des Raumes, alle Öffnungen und Abschlüsse, Eingänge, Ausgänge und Durchgänge, Grenzen und Freiräume, Einblicke und Ausblicke, Blickbeziehungen und Verbindungsmöglichkeiten.62 Die Optionen zur Aneignung des Raumes durch die Akteur*innen und ihre Positionierungen sind dabei gleichermaßen wichtig. So entstehen Muster räumlicher Strukturen und Segmentierungen, die neue Lehr- und Lernformen ermöglichen. Wenn traditionelle Lernräume mit ihren langen Fluren und panoptischen Raumanordnungen im Sinne der foucaultschen Disziplinierungsmechanismen verstanden werden, können neu gedachte Raummodelle eine Architektur der Konnektivität und der Flexibilität ermöglichen. Als Beispiel dafür lässt sich das Saltire Centre63 an der Glasgow Caledonian Universität anführen. Dort werden Studierenden unterschiedliche Arbeitssituationen ermöglicht – von flexiblen Tischanordnungen im eher offen gestalteten Raum bis hin zu auf blasbaren Büro-Iglus als eher geschlossen gestalteter Raum. Jede Etage ist auf unterschiedliche Kommunikationsbedürfnisse ausgelegt. Das Erdgeschoss besteht aus offenen Raumstrukturen und orientiert sich an dem Erscheinungsbild einer Markthalle, nach oben hin werden die Raumstrukturen sukzessive geschlossener. Andere Raummodelle zeigen sich in Form von Lernhaus-Konzepten64, die auf unterschiedliche Lernbedürfnisse eingehen. Klassische Raumkodierungen werden abgelöst durch offene und geschlossene Lernsituationen und Raumstrukturen. Eine ähnliche Form findet sich in der fraktalen Schularchi62 | Vgl. Rieger-Ladich, Markus/Ricken, Norbert: Macht und Raum. Eine programmatische Skizze zur Erforschung von Schularchitekturen, in: Böhme, Jeanette (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrisen und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums, Wiesbaden 2009, S. 198. 63 | Vgl. http://www.bdp.com/en/projects/p-z/Saltire-Centre/ [01.05.2019]. 64 | Vgl. Schule am Arnulfpark; HOT Architekten, München, http://www.hot-architekten. de/html/g_arn/g_arn.html [01.05.2019].

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tektur65, die als offenes System agiert und aus sich ähnelnden Fragmenten besteht. Das Konzept leitet sich vom Begriff der »fraktalen Fabrik« ab, die 1992 von Hans-Jürgen Warnecke als Form einer modernen Unternehmensorganisation geprägt wurde.66 Die fraktale Schularchitektur besteht aus dynamischen Raumstrukturen und ermöglicht ein System der Flexibilität und Konnektivität, da sich einzelne Fragmente immer wieder neu zusammensetzen lassen und architektonisch vorab festgelegte Raumkodierungen nicht existieren. Desweitern lassen sich in vielen europäischen Städten neue Bildungsstrukturen finden, wie zum Beispiel die Idea Stores67 in London. Dort werden unterschiedliche Lernangebote, wie zum Beispiel Bibliotheken mit Angeboten für Erwachsene, mit kulturellen Veranstaltungen verbunden. Anhand dieser Beispiele ließe sich über die Analyse der Verhaltensmuster der Akteur*innen feststellen, inwieweit Raumgestaltung und Machtstruktur tatsächlich interagieren. Für unseren Anspruch genügt es an dieser Stelle jedoch festzuhalten, dass sich in den baulichen Maßnahmen ein anderes Machtmodell manifestiert. In einem foucaultistisch informierten Verständnis der Heterotopie haben Architekt*innen, Innenarchitekt*innen, Stadtplaner*innen, Künstler*innen und andere Akteur*innen in diesen Fällen einen anderen Ort in die Gesellschaft hineingezeichnet. Sie reflektieren damit ein verändertes Modell von Bildung und ermöglichen in der gleichen Bewegung neue Spielräume. Sie manipulieren damit das Dispositiv der Macht und das Dispositiv der Bildung. Ob die dadurch eintretenden Effekte jeweils auch den Intentionen entsprechen und sich die Hoffnungen erfüllen, die in sie gesetzt wurden, das mag einstweilen dahingestellt bleiben – auch Benthams humanistisches Projekt des Panoptikums hat ja nicht umgehend zu einer Verbesserung der allgemeinen Sittlichkeit geführt. Die Tatsache aber, dass diese Beispiele eine Veränderung zum Ausdruck bringen und damit wiederum Veränderungen ermöglichen, scheint evident zu sein.

65 | Vgl. Buddensiek, Wilfried: Fraktale Schularchitektur, in: Böhme, Jeanette (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrisen und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums, Wiesbaden 2009, S. 315–329. 66 | Vgl. Warnecke, Hans-Jürgen: Die fraktale Fabrik. Revolution der Unternehmenskultur, Hamburg 1996. Dieses System ähnelt sehr dem von Foucault inspirierten Modell der Stadt als Collage (vgl. Fn. 2). 67 | Vgl. https://www.ideastore.co.uk/idea-stores [01.05.2019].

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AUSBLICK In der Verfolgung sich verändernder Machtstrukturen in der baulichen Gestaltung von Lernorten anhand von Foucaults Heterotopie-Konzept lassen sich zahlreiche Beispiele für Entwürfe finden, die sich darum bemühen, Lernenden vielfältige Handlungsoptionen zu gewähren. Aktuell spielen etwa politische und gesellschaftliche Ansprüche an Inklusion unterschiedlicher kultureller Hintergründe eine zunehmende Rolle und eine wachsende Bandbreite von Geschlechterrollen provoziert neue gestalterische Herangehensweisen. Herrschende Diskurse drängen nach wie vor darauf, in der Gestaltung eine ebenso sichtbare wie effektive Form zu finden. Hier zeigt sich deutlich: Kreativität ist ein zentraler Machtfaktor. Gestalter*innen haben nicht unerheblichen Anteil an deren Verteilung in den komplexen Mechanismen der Dispositive. Mag auch Benthams Anspruch nicht mehr zeitgemäß erscheinen – weder im Hinblick auf die anmaßende Definition einer idealen Verfasstheit des Individuums noch im Hinblick auf die dafür propagierten architektonischen Mittel – so ist doch seine Einsicht in den Zusammenhang von Gestaltung und gesellschaftlichem Effekt nach wie vor gültig.68 Interessanterweise ist es nicht zuletzt Foucaults Begriff der Heterotopien zu verdanken, dass die Zurverfügungstellung von Hinterbühnen und Rückzugsorten, der Schutz von Privatsphäre und der individuelle Einfluss auf institutionelle Formen zu einer allgemein anerkannten Aufgabe der Gestaltung werden konnte. Es ließe sich die erweiterte Frage stellen, ob in Zeiten des Internets der Dinge, ubiquitärer digitaler Konnektivität, mobiler Kommunikation und sozialer Netzwerke die Architektur überhaupt noch die herausragende Form der Manifestation von Macht darstellt. Der Soziologe Zygmunt Bauman spricht in diesem Zusammenhang vom »Postpanoptikum« totaler Überwachbarkeit.69 Sicherlich sind auch hier enge Bezüge zum Lernort gegeben, indem via e-learning und Digitalisierungskampagnen von Schulen aktuell auf gesellschaftlicher Ebene neue Strukturen geschaffen werden.70 Gleichwohl zeigt sich in der vorgelegten Betrachtung, dass der gebaute Raum nach wie vor eine eminente Rolle in der Repräsentation, der Ausagierung und der Redefinition von Macht in Lernorten spielt. Architektur und ihre 68 | Vgl. auch Brunon-Ernst, Anne: Deconstructing Panopticism into the Plural Panopticons, in: dies. (Hrsg.): Beyond Foucault. New Perspectives on Bentham’s Panopticon, Surrey/Burlington 2012, S. 17–42. 69 | Bauman, Zygmunt/Lyon, David: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Berlin 2013. Zuerst hat er diesen Begriff hier benutzt: Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main 2003. 70 | Vgl. Rothmann, Robert: Video Surveillance and the Right of Access: The Empirical Proof of Panoptical Asymmetries, in: Surveillance & Society 15(2), 2017, S. 222–238.

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Gestaltung als ein Medium der Macht wird ergänzt, erweitert und modifiziert durch elektronische Medien, aber nicht ersetzt. Auch wenn sich die Menschen mit Smart Watches, Fitness Trackern und Car Sharing Apps bewaffnen, so gehen sie doch immer noch aus dem Haus, bauen Schulen, bewegen sich in öffentlichen Räumen und definieren auf diese Weise ihre Topografien und Heterotopografien. Im Umkehrschluss ließe sich vielmehr vermuten, dass auch und gerade im virtuellen Raum analoge Mechanismen wirksam bleiben, wie sie an den Lernorten beobachtbar sind. Zwänge und Freiheiten als Ausdrucksformen von Machtverteilungen erfassen Administratoren und User gleichermaßen, globale Unternehmen wie anonyme Hacker. Macht kann wohl niemals gleichmäßig verteilt sein, aber sie ist auch nie total im Sinne einer einseitigen oder vollständigen Verortung. Die Architektur der Bildungsinstitution hat sich im Laufe der letzten Jahrhunderte stetig gewandelt. Dies geschah unter anderem als Reaktion auf den Wandel der pädagogischen Theorien und Praktiken. Ein Wechsel vom lehrerzentrierten zum schülerzentrierten Lernen geht einher mit dem Übergang zu neuen Raumstrukturen, Konnektivität und modularen Gestaltungsmodellen. In der Bildung ist die Angst vor dem Totalitarismus stets hoch, ebenso wie sich an ihr immer wieder Freiheitshoffnungen und Emanzipationsbewegungen festmachen. Daher ist ihre Symptomatik so reichhaltig und präzise. Die Architektur von Bildungsinstitutionen wird von Machtdispositiven geprägt und verortet gleichzeitig Individuen. Sie erlaubt und sie verhindert. Sie konstituiert Räume kreativer Potenz und ist mitverantwortlich für die Konstruktion von Identität, Subjektivität, Individualität und Kreativität. Ihre räumlichen Strukturen könne Akteur*innen eingrenzen und ausgrenzen, isolieren oder Verbindungen schaffen. Der Raum wird konstituiert durch einander überkreuzende Mechanismen der Einschließung und Ausschließung und beruht auf hierarchischen und rhizomatischen Vernetzungen von Positionen, Beziehungen, Abständen, Beleuchtungen und Temperierungen des Raumes. Die normativen Rahmungen sowie die formellen und informellen Strukturen der Bildungsinstitution können darüber hinaus gesellschaftliche Werte und Normen vermitteln – mehr noch: sie sind diese Normen. Diese Verkörperung begründet ihre im Vergleich zu anderen Medien äußerst nachhaltige Wirkung. Daher bedarf es einer fortlaufenden Befragung der diskursiven Anordnung des Lernraumes.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Panoptikum, Skizze von Jeremy Bentham, 1791, s/w.

QUELLENVERZEICHNIS Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 2010. Bauman, Zygmunt/Lyon, David: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Berlin 2013. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main 2003. Bentham, Jeremy: Das Panoptikum, Berlin 2013. Brunon-Ernst, Anne: Deconstructing Panopticism into the Plural Panopticons, in: dies. (Hrsg.): Beyond Foucault. New Perspectives on Bentham’s Panopticon, Surrey/Burlington 2012, S. 17–42. Buddensiek, Wilfried: Fraktale Schularchitektur, in: Böhme, Jeanette (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrisen und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums, Wiesbaden 2009, S. 315–329. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. Chlada, Marvin: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault, Aschaffenburg 2005. Defert, Daniel: Raum zum Hören, in: Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 67–92. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt am Main 1993. Dirks, Sebastian: Heterotopien Sozialer Arbeit, in: Füller, Henning/Boris, Michel (Hrsg.): Die Ordnung der Räume. Geographische Forschung im Anschluss an Michel Foucault, Münster 2012, S. 179–205. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46. Foucault, Michel: Der Panoptismus (1975), in: Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hrsg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raums, Bielefeld 2013, S. 163–175. Foucault, Michel: Des espaces autres, in: Architecture, Mouvement, Continuité (AMC), Nr. 5, Okt. 1984, S. 16–49. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013. Foucault, Michel: Die Macht der Psychiatrie, Berlin 2015.

Heterotopos Schule. Lernor te als Or te der Macht

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Raumsorge als Selbst(für)sorge Kindliche Freispiel- und Raumpraktiken und ihre Lernpotenziale Désirée Bender



»Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (S chiller 1795)

EINLEITUNG Kindheit wird, besonders in westlichen europäischen Gesellschaften, gemeinhin als Schutz- und Schonraum begriffen.1 Dabei handelt es sich um eine soziale Konstruktion von Kindheit, in die auch die Anordnung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Erwachsenen und Kindern eingeht: die Erwachsenen übernehmen hierbei die Rolle derjenigen, die dafür Sorge tragen, dass Kinder die nötigen Schutz- und Schonräume zugestanden bekommen. Auch Annahmen der Erziehungsbedürftig- und Erziehungsfähigkeit von Kindern durch Erwachsene ist als kulturelle Konstruktion zu begreifen.2 Die hiermit verwobene, in Kindheit eingeschriebene, generational angelegte Care-Ordnung ist eng verknüpft mit wohlfahrts- und sozialstaatlichen Entwicklungen, z. B. dem sozialen Wandel des Arbeitsmarktes, insbesondere der gestiegenen Frauenerwerbstätigkeit, und damit einhergehenden Expansionen institutioneller Bildungsinstitutionen wie sie z. B. am Ausbau der Ganztagsschulen abzulesen sind. Dass das Kind zum Ziel staatlicher Bildungsbemühungen und damit zugleich als Objekt selbiger in Erscheinung gebracht wird, verweist implizit auf die Verwertbarkeit von Kindheit und Kindern in ökonomisch-politischen Dimensionen. Dies kann als eine in der Soziologie der Kindheit anerkannte 1 | Vgl. Himmelbach/Schröer: Die transnationale Kindheit, in: Baader, Meike/Eßer, Florian/Schröer, Wolfgang: Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt am Main/New York 2014, S. 492–510, hier S. 497. 2 | Vgl. Noack, Winfried: Anthropologie der Lebensphasen. Grundlagen für Erziehung, soziales Handeln und Lebenspraxis, Berlin 2007, S. 81.

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Funktionalisierung von Kindern/Kindheit verstanden werden und wird in den alltäglichen Lebenswelten von Kindern u. a. sichtbar in der zunehmenden Planungsübernahme der freien Zeit der Kinder durch Erwachsene. Die freie Zeit von Kindern »wird zunehmend Ziel von rationalen Bildungsplanungen von Erwachsenen, die in Auseinandersetzung mit dem Wandel von Kindheit, die sinnvolle Zeitnutzung von Kindern pädagogisch festlegen.«3 Die konkreten Konzepte der Bildungs- und Betreuungsorganisationen, in denen Kinder im Sinne einer »Verschulung der Kindheit« 4 zunehmend ihre Wochentage verbringen, sowie die in sie eingeschriebenen Vorstellungen von Kindheit, Kindern und ihrem Stellenwert im Verhältnis zu den Erwachsenen, die organisatorischen Bildungsziele sowie Methoden ihrer Verfolgung und die wiederum in sie eingeschriebenen Erfahrungsmöglichkeiten für Kinder, prägen demnach in zentraler Weise kindliche Lebenswelten. Diese verschiedenen Aspekte spiegeln sich in den Organisationskulturen von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder und auch in den für sie entworfenen und bereitgestellten Räumen sowie in den kommunikativen und inkorporierten Praktiken der beteiligten Akteure wider. Schon die materielle Raumgestaltung und die Existenz spezifischer Objekte wirken demnach bedingend auf die Entfaltung spezifischer Praktiken ein. Mit einem besonderen Interesse an den Rändern des gesellschaftlich Akzeptierten hinsichtlich der Organisation von Care für Kinder und den darin sichtbar werdenden sozialen Ordnungen, werden im vorliegenden Beitrag Räume und organisationale Konzepte unkonventioneller Betreuungseinrichtungen am Beispiel einer reformpädagogischen Betreuungseinrichtung für Kinder untersucht. So stellt sich die Frage, ob in reformpädagogischen Organisationen verschiedentliche Weisen der Abkehr von den normativ geprägten Kindheitsverständnissen und Bildern von Kindern zu erkennen sind und worin diese bestehen, vor allem jedoch, welche konkreten Konstruktionen ihre Praktiken offenbaren. Im Kontext reformpädagogischer Einrichtungen einer Betrachtung wert wird dies aufgrund ihrer inhärenten Abgrenzung und Kritik an vorherrschenden Erziehungsvorstellungen und Machtverhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen. Auch wenn reformpädagogische Betreuungsorganisationen für Kinder also von den praktisch sichtbar werdenden, in andere Organisationen eingeschriebenen Wissensordnungen abweichen, so stellen sie gerade deshalb einen wichtigen Bestandteil des Praxissets rund um Kinder, Kindheit bzw. ihre Produktion dar. Sie könnten Hinweise auf die Grenzen aktuell akzeptierter und praktizierter (organisational gerahmter) 3 | Fuhs, Burkhard: Kindheit und mediatisierte Freizeitkultur, in: Krüger, Heinz-Hermann/Grunert, Cathleen (Hrsg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, Wiesbaden 2010, S. 711–726, hier S. 714. 4 | Peuckert, Rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel, Wiesbaden 2008, S. 147.

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Kindheitskonstruktionen geben. Zu ihrer Legitimierung verweisen sie letztlich immer auf jene Wissensordnungen zurück, von denen sie sich abgrenzen und sind so mit ihnen relationiert. Die ausgewählte Betreuungseinrichtung räumt dem freien Kinderspiel besondere Wertschätzung ein. Dies ist – wie meine Untersuchung zeigt – in Räume, Organisationskultur und Struktur eingeschrieben und reproduziert seine Bedeutung auf vielfältige Weise alltäglich neu. Hierin grenzt sie sich bereits organisationskulturell von entlang pädagogischen, ökonomischen und rationalen Bildungskriterien entwickelten Organisationsstrukturen ab. Ebenfalls sind an normativen Bildungszielen orientierte Tagesabläufe, Zeitgestaltungen und Regime der kindlichen Lebenswelten durch Erwachsene, wie oben beschrieben, in diesem Setting wenig(er) erkennbar. Der Untersuchungsschwerpunkt meines Projektes5 liegt auf der Frage, welche Care-Arrangements sich praktisch in kindlichen Spielaktivitäten und ihren Raumkonstruktionen ausprägen. Dabei ist insbesondere folgende Frage für den Beitrag leitend: Welche Rolle spielen von Kindern konstruierte Räume (und deren Spielobjekte) für sie und deren Vollzugspraktiken des freien, selbstbestimmten Spiels? Damit werden eben jene Freiräume für Kinder zentriert, die, unangetastet von den oben dargestellten Entwicklungen, kindlichen Spielpraktiken Raum geben. Unbeeinflusst von Erwachsenen, jedoch stark durch das Raumdesign beeinflusst, werden sie spezifisch in Erscheinung gebracht und von den Kindern getragen. Entlang empirischer Daten aus meiner ethnografischen Untersuchung in der Betreuungsorganisation »Sternenhaus« stellt der Beitrag den qualitativen Gehalt dieser Raum-Praktiken heraus und analysiert diesen abschließend vor dem Hintergrund seiner Lernpotenziale. Dabei wird an einen von der Organisation selbst implizit zugrunde gelegten Lernbegriff als sich selbst organisierend, individuenzentrierend und selbstgesteuert angeschlossen.6

5 | Dieses findet im Rahmen meiner Habilitationsschrift statt, in welcher ich verschiedene, auf ältere Menschen und Kinder zielende, unkonventionelle Care-Arrangements (in ausgewählten organisationalen und informellen Kontexten) und die in ihnen emergierenden Care-Praktiken und ihre Räume untersuche. Soziale Konstruktionen Care-bedürftiger Menschen qua Alter stellen dabei eines der übergeordneten Erkenntnisinteressen dar. 6 | Vgl. Bastian, Johannes/Merziger, Petra: Selbstreguliert lernen. Konzept – Befunde – Erfahrungen, in: PÄDAGOGIK 59, H.7–8, 2007, S. 6–11.; Vgl. Hüther, Gerald: Mit Freude lernen – in Leben lang. Weshalb wir ein neues Verständnis vom Lernen brauchen, Göttingen 2016.

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THEORE TISCHER UND ME THODOLOGISCHER R AHMEN: PR A XISTHEORE TISCHE PERSPEK TIVE UND E THNOGR AFISCHER ZUSCHNIT T DES UNTERSUCHUNGSFELDES Mit dem Begriff der Praxistheorien werden verschiedene Theorieentwürfe gebündelt. Reckwitz eruierte ihre Bedeutung »als ein Forschungsprogramm, das letztlich Antworten in der material-empirischen Analyse liefert« 7. Sich diesem anzuschließen, bietet zugleich eine theoretische Rahmung und einen methodologischen Zuschnitt mitsamt erkenntnistheoretischer Gehalte für die vorliegende Untersuchung. Praxistheorien leisten nicht weniger, als das Soziale auf eine spezifische Weise, nämlich weder mental noch textuell-symbolisch, sondern vielmehr in den Praktiken und ihren Performativitäten situativ zu verorten. Praxistheorie als Kulturtheorie versteht kollektive Wissensordnungen »als ein praktisches Wissen, ein Können, ein know how, ein Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines ›Sich auf etwas verstehen‹. […] es sind die ›sozialen Praktiken‹, verstanden als know-how [sic!] abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen.« 8

Dabei leisten Praxistheorien zugleich einen »material turn«, in dem sie die Materie, Räume9, Artefakte und Dinge in ihrer Bedeutung für die Prozessierung von Praktiken in das Blickfeld rücken.10 In anderen Theoriekonzeptio7 | Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H. 4, 2003, S. 282–301, hier S. 284, http://www.zfs-online.org/ojs/index.php/zfs/article/viewFile/1137/674 [29.03.2019]. 8 | Ebd., hier S. 289. 9 | In Bezug auf den hier so bedeutsamen Begriff des Raums bedeutet dies, es als empirische Frage zu bewerten, in welcher Weise Raum für die Akteure bedeutsam wird. Aus praxistheoretischer Perspektive ist also je empirisch zu klären und zu analysieren, welche Bedeutung Raum jeweils in situ praktisch zukommt. Raum in einem relativistischen Verständnis meint seine prozessuale praktische Herstellung (Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001). Gleichsam kann dem raumpraktischen Verständnis der Akteure selbst ein Alltagsverständnis von Raum zugrunde liegen, welches etwa Raum als auch unabhängig von Materie existierend betrachtet und demnach auch leer sein kann. Dies wird als absolutistisches Raumverständnis bezeichnet (Vgl. ebd.). 10 | Vgl. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007; Vgl. Mukerji, Chandra: The

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nen als Trivialität abgewertete Instanzen, die im Rahmen von Praxistheorie an Bedeutung gewinnen, sind Artefakte und der menschliche Körper.11 Das Auftreten einer Praktik und ihr faktisches »So-Sein« mitsamt aller beteiligten Objekte rückt ins Zentrum der Analyse. Das heißt, Praktiken sind sicht- und beobachtbar und – als verkörperte Verhaltensroutinen – nicht zwangsläufig kognitiv reflexiv verfüg- und damit abfragbar, sondern vielmehr inkorporiertes Wissen. An epistemologische Nähen zwischen ethnografischen Ansätzen und Praxistheorie sowie der teilnehmenden Beobachtung mitsamt der sich zum Forschungsinstrument machenden Forschenden, wurde auch im Rahmen meiner empirischen Untersuchung angeschlossen.12 Der Fokus auf Raum- und Spielpraktiken der Kinder schließt an die ethnografische Kindheitsforschung an, welche »die ›Sicht‹ der Kinder durch die Rekonstruktion ihres praktischen Wissens und ihrer Interaktionskompetenz als Mitglieder einer Kultur«13 begreift. Praktiken von Kindern als eigenständige Kinderkultur zu verstehen, bedeutet zugleich, ihrem Wissensschatz Rechnung zu tragen: »es geht hier um eine erstaunlich reiche Wissenskultur, die Erwachsene oft nicht würdigen und scharf beobachten, wenn sie kindliches Verhalten nur unter dem Blickwinkel der Normkonformität und des Normverstoßes beurteilen.«14

Hingegen bezeichnet Schweizer Kinder als »nicht in erster Linie von Normen angetrieben«, sie suchten »vielmehr Normalitäten und Normalisierung durch Grenzziehung und Grenzverschiebungen. Sie suchen unentwegt Vermittlungsstrategien und -taktiken, gangbare Übergänge und Abstimmung heterogener Ansprüche.«15

Material Turn, in: Culture and Society, Ausgabe, 2015, https://doi.org/10.1002/ 9781118900772.etrds0109 [15.03.2019]. 11 | Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H. 4, 2003, S. 282–301, hier S. 290, http://www.zfs-online.org/ojs/index.php/zfs/article/viewFile/1137/674 [29.03.2019]. 12 | Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Nieswand, Boris: Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung, Konstanz/München 2013. 13 | Schweizer, Herbert: Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn, Wiesbaden 2007, S. 253. 14 | Ebd. 15 | Ebd.

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Von zentralem Interesse sind – methodologisch betrachtet – die je konkret sichtbar werdenden situierten Praktiken der Kinder und ihre practical concerns, also die Frage: Worum geht es ihnen? Und weiter: Was wird hieraus für das formulierte Erkenntnisinteresse und die leitenden Fragestellungen sichtbar? Entsprechend der leitenden Erhebungsmethode der teilnehmenden Beobachtung, wurden Beobachtungsprotokolle auf Basis von in den Beobachtungssituationen angefertigten Feldnotizen verfasst, die zur Grundlage offener Codierverfahren und nachfolgenden Abstraktionsschritten der axialen und der theoretischen Codierung wurden. Entlang des Codierparadigmas von Strauss/ Corbin wurden sie miteinander relationiert, in eine spezifische Ordnung zueinander gebracht und offenbarten so basale Logiken der Praxis der Akteure.16

EMPIRISCHE DATEN UND DER KONTE X T DER REFORMPÄDAGOGISCHEN BE TREUUNGSORGANISATION »STERNENHAUS« 17 FÜR KINDER Die ethnografische Untersuchung zu unkonventionellen organisationalen Care-Settings und ihre Räume für Kinder wurden in einer reformpädagogischen18 Kinderbetreuungseinrichtung im Rhein-Main-Gebiet durchgeführt. In einer intensiven Feldphase wurden sowohl die kommunikativen Praktiken als auch die körperlich-materiellen Spiel- und Raumpraktiken aller Teilnehmer*innen 16 | Vgl. Strauss, Anselm/Juliet, Corbin: Basics of qualitative research: Grounded theory procedures and techniques, Newbury Park 1990. Auch in Bezug auf die an der Institution beteiligten Erwachsenen wurde jeweils konkret in den Blick genommen, wie der organisationale Alltag stets neu im Zusammenhandeln hergestellt wird und was hierzu vonnöten ist. 17 | Aus ethischen Gründen werden die empirischen Daten anonymisiert und der reale Name der Organisation durch ein Pseudonym ersetzt. Die ethnografische Untersuchung fand über mehrere Monate hinweg im Jahre 2018 statt und weist über ihr ethnografisches Format und das damit verbundene rekursive Vorgehen die Charakteristik auf, dass zu jeder Zeit neue Feldbesuche zur Beantwortung weiterer Fragen nötig werden (können). Der zirkuläre Forschungsprozess ist aktuell noch nicht abgeschlossen. 18 | Zur modernen Reformpädagogik werden Ansätze gezählt, »die sich durch eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber Macht, Herrschaft und natürlich Gewalt in Erziehung und Bildung oder auf allen gesellschaftlichen Ebenen auszeichnen.« (Winkler, Frank: Leo Tolstoi und die Freiheit der Bildung. Der vergessene Vordenker einer modernen Reformpädagogik, München 2012, S. 84) Auch Themen der »Freiheit und Selbstbestimmung sowie der Gleichberechtigung des Kindes, bzw. das aktive Eintreten für diese Qualitäten, [werden] als ein definierendes Element Moderner Reformpädagogik verstanden (werden).« (ebd.)

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mithilfe teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtungen und zahlreichen informellen Gesprächen in den Blick genommen. Im Folgenden wird der räumliche Auf bau der Organisation beschrieben und seine konzeptionelle Ausrichtung entlang der im Alltag getragenen und sichtbar werdenden Praktiken der sich dort aufhaltenden Akteure erläutert.

DIE ORGANISATIONSSTRUK TUR DES STERNENHAUSES Die Organisation besteht aus einem Garten und einem Hof mit diversen mobilen und fest installierten Spielgeräten und einem gesamten, regulären (Wohn-) Haus. Dieses ist eingeschossig und beherbergt im Erdgeschoss Küche, Essund WC sowie zwei weitere Zimmer. Im ersten Obergeschoss existieren vier weitere Räume, die als Funktionsräume erkennbar sind, indem die Raumbezeichnungen nach konkreten Tätigkeiten benannt sind (z. B. »Bastelzimmer«). Sie werden rein sprachlich unter den Teilnehmer*innen insbesondere im Kontext der Klärung von Aufenthaltsorten von Akteuren im Haus alltäglich eingesetzt und sind weder durch Piktogramme noch durch schriftliche Raumbezeichnungen materiell erkennbar. Die basisdemokratische Organisation ist eine bereits seit vielen Jahren bestehende Elterninitiative, die zentral von den Eltern der dort betreuten Kinder mitgestaltet wird. Ab einem Alter von eineinhalb Jahren bis zu einem von den Kindern bzw. Jugendlichen selbst gewählten Zeitpunkt des Austrittes (ca. zwölf Jahre) können sie sich dort von Montag bis Freitag zwischen 8:00 und 17:00 Uhr aufhalten und sowohl ihre Kindergartenzeit als auch die Nachmittage nach der Schule dort verbringen. Während des Feldaufenthaltes waren etwa 30 Eltern aktiv an der Organisation beteiligt. Neben fünf fest als pädagogisches Fachpersonal angestellten Personen sind sie es, die sich dazu verpflichten, für ihre und die anderen Kinder in der Einrichtung einmal pro Woche für einige Stunden zu sorgen. Statt eines Regelwerks, das den Tagesablauf und spezifische Umgangsweisen festschreibt, wurden schriftliche Fixierungen von Vorstellungen, Erwartungen und Regeln, den Alltag der Organisation betreffend, während meines Feldaufenthaltes mehrfach als Wunsch zur Orientierung für neu hinzukommende Erwachsene geäußert, jedoch ebenso häufig und bestimmt von sich bereits seit vielen Jahren in der Organisation Engagierenden abgelehnt. Zentrales Argument der Ablehnung war zumeist, dass gemeinsame Aushandlungen und Gestaltungen der an der Selbstorganisation der Elterninitiative beteiligten erwachsenen Akteure erwünscht und gewollt seien. Dem gegenüber stand die Sorge, schriftliche Fixierungen könnten eine Eigenkraft entfalten, die diese freie Gestaltung einschränken könnte. Entsprechend konnten keine konkreten fixierten Regeln ausgemacht werden, die sich etwa in konkreten Verhaltenserwartungen an die Kinder wider-

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spiegeln. So ist z. B. nicht nur der Umgang der Erwachsenen mit unerwünschtem Verhalten aufseiten der Kinder vielfältig und folgt keinen immer gleichen Umgangsweisen, die womöglich mit normativen Vorstellungen verknüpft sind. Vielmehr ist auch schon die Identifikation von kindlichen Verhaltensweisen als problematisch, unerwünscht oder ungewollt, als situativ von den Erwachsenen verschieden bewertetes Labeling kindlichen Verhaltens zu erkennen. Selbiges trifft auf das Verhalten der Erwachsenen untereinander zu, auch hier zeigen sich recht ausgeprägte Spielräume des In-Beziehung-Tretens zum Anderen. Zugleich sorgt ein wöchentlich installiertes Gremium unter allen beteiligten Erwachsenen dafür, dass über Geschehnisse der vergangenen Woche, Probleme, Irritationen, Wünsche, Bedürfnisse und vieles mehr gesprochen werden kann und entsprechend des basisdemokratischen Konsensprinzips gemeinsam Themen ausgehandelt und debattiert werden. Insbesondere diese wöchentliche Aufführung, die die Erwachsenen immer wieder als Gruppe neu herstellt, sicht- und erlebbar werden lässt, ist auch der Ort, an dem stetig, gelegentlich fast nebenbei, konzeptionelle Haltungen diskutiert und ausgetauscht werden. Der Umgang mit Kindern, die Perspektive auf sie, Erwartungen an sie, Diskussionen um nötige und unnötige Grenzsetzungen, organisatorische Notwendigkeiten und familiale, individuelle Nöte und Bedürfnisse werden hier offen ausgesprochen und Wissen z. B. in Bezug auf den Umgang mit Konflikten miteinander geteilt. Dabei sorgt schon die Tatsache, dass hier nur Erwachsene zusammenkommen, für eine Differenz zwischen ihnen und den Kindern, über die sie sprechen und wiederholt die Positionierung der Erwachsenen als verantwortliche Akteure für die Sorge um die Kinder des Sternenhauses. In diesen Aushandlungen unter den Erwachsenen und auch in situativen Umgangsweisen mit Kindern im Alltag, werden gemeinsame Perspektiven und Haltungen unter den Erwachsenen erarbeitet und ein spezifisches Wissen über Kinder und Kindheit gemeinsam entwickelt und tradiert. Eine Unterbestimmtheit im konzeptionellen Bereich der Organisation ist also trotz einer fehlenden schriftlichen Fixierung nicht zu erkennen, wohl aber ein – im Vergleich zu Regeleinrichtungen – recht ausgeprägtes Maß an Kommunikationsdichte, Mitgestaltung und Aushandlungspotenzialen unter den situativ je anwesenden Akteuren, was Eltern und fest angestellte Mitarbeiter*innen gleichermaßen betrifft.

DIE KONZEP TIONELL ANGELEGTE KINDER-R AUM-ORDNUNG Es existieren keine einzelnen, altersspezifischen Kindergruppen, welche zu bestimmten Zeiten gemeinsam von Erwachsenen vorbestimmten Aktivitäten nachgehen. Vielmehr können sich die Kinder im gesamten Bereich jederzeit frei bewegen und selbst entscheiden, was sie mit wem wo und mit welchen

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dinglichen Objekten spielen möchten. Es gibt keine gemeinsamen Rituale außer drei Essenszeiten, die mit einer Hupe von immer anderen Kindern angekündigt werden und zu denen sich alle im Haus Versammelten zusammenfinden, wenn sie nicht explizit zum Ausdruck bringen, dass sie nicht daran teilnehmen möchten. Auch die anwesenden, diensthabenden Erwachsenen (Angestellte und Eltern) halten sich auf dem Grundstück bzw. im Haus auf und gehen diversen Aktivitäten (mit und ohne Kinder) nach. Kein*e Erwachsene*r ist jeden Wochentag während der gesamten Öffnungszeiten anwesend, d. h., dass sowohl Kinder als auch Erwachsene täglich in unterschiedlichen Konstellationen miteinander konfrontiert werden. Wenn Kinder Unterstützung von oder ein Spiel mit Erwachsenen wünschen, liegt es bei ihnen, dies zu äußern, (weniger häufig) allerdings waren auch von den Erwachsenen ausgehende Initiativen oder Angebote beobachtbar. In der Einrichtung wird unter den Erwachsenen tendenziell eine Haltung kultiviert, die den Gewinn des Spiels nur unter Kindern betont und es durchaus wertschätzt, wenn Erwachsene nicht auf alle Spielinitiativen vonseiten der Kinder eingehen, sondern diese auch ablehnen dürfen und dies auch können sollten. Demnach werden auch stetige Observierungen der Kinder abgelehnt und vielmehr das kindliche, von Erwachsenen ungestörte Spiel hochgeschätzt. Dies wird auch daran sichtbar, dass trotz eines recht hohen Personalschlüssels von etwa vier Erwachsenen auf ca. 15–20 Kinder letztere häufig ohne Erwachsene in Räumen spielen, bei denen sie meist auch die Türen ver-, aber nicht abschließen können. Auf diese Weise können sich Kinder alleine oder in selbst gewählten Kindergruppen Intimräume schaffen, in denen erwachsene Regulationen, Sprechweisen, Ordnungs- und Denkmuster absent sind bzw. nicht durch Erwachsene situativ relevant gemacht werden. Wenn eine Schutz- oder Hilfsbedürftigkeit von Kindern durch Erwachsene angenommen wird, so wird dem meist mit einer körperlichen Anwesenheit von Erwachsenen im Raum begegnet, unter anderem, um eine Ansprechbarkeit durch das womöglich hilfesuchende Kind zu ermöglichen. Begründet wurde dies damit, den Kindern so ein Angebot zu machen, das sie wahrnehmen können, wenn sie Hilfe und Unterstützung bedürfen. Gleichwohl existieren Grenzsituationen, in denen ohne jedwede Aushandlung unter den erwachsenen Akteuren und ohne Widersprüche davon ausgegangen wird, dass Eingriffe Erwachsener nötig und nicht zu unterlassen sind.19

19 | Dies bezieht sich z. B. auf Situationen, in denen gegen den Willen eines oder mehrerer Kinder von anderen etwas sie Betreffendes getan wird, das sie nicht wollen und dies auch ausdrücken, die anderen Kinder hierauf jedoch nicht reagieren. Situationen, in denen körperliche oder seelische Verletzungen bzw. Versehrtheiten implizit vermutet werden, stellen ein weiteres Beispiel dar, in dem es unhintergehbar für die Akteure zu sein scheint, dass Eingriffe durch Erwachsene zu erfolgen haben.

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An dieser Stelle sei ein Kontrast aus einer Beobachtung in einer Regeleinrichtung, in der hospitiert wurde, um Differenzen zwischen der reformpädagogischen und der städtischen Kindertagesstätte, ebenfalls im Rhein-Main-Gebiet empirisch differenzieren zu können, eingeflochten: Kinder werden hier in Altersgruppen von 3–6 Jahren in einzelne Gruppenräume zusammengefasst, bei denen sie in der Freispielzeit, die nur einen Teil des Alltags in der Kindertagesstätte ausmacht, verschiedene Funktionsecken zum Spiel nutzen können. Dabei gibt es einen Bereich, der durch Regale von anderen Raumteilen abgegrenzt ist. Eine Erzieherin erzählte mir diesbezüglich, dass die Kinder (aufgrund ihrer Körpergröße und der Unmöglichkeit, die Regale mit ihrem Blick zu überragen) annähmen, dass sie hier von Erwachsenen nicht gesehen würden. So suchen Kinder bisweilen gezielt diese Ecke auf, um sich intimeren Spielinteraktionen zu widmen, die sich dem Einblick Erwachsener entziehen sollen. Sie erklärte, dass die Erwachsenen jedoch zu jeder Zeit die Kinder im Blick haben könnten und gerade in Situationen aufmerksam seien, wenn sie einen Rückzug der Kinder in (vermeintliche) Intimräume mitbekämen. Der Raum sei gezielt so gestaltet, dass die Kinder annähmen, sie würden nicht gesehen werden, die Erwachsenen aufgrund ihrer Körpergröße aber durchaus dazu in der Lage seien. In Bezug auf den Raumentwurf dieser Regeleinrichtung wird kontrastiv ersichtlich, dass in die Gestaltung des Raums der Entwurf von Kindern als schutz- und kontrollbedürftige Wesen eingeschrieben ist, deren Verhalten nicht von Erwachsenen unbeobachtet zu dulden ist und entsprechend die Notwendigkeit regulierender Eingriffe gegeben sein muss. Kinder werden hier positioniert als Akteure, die potenziell der Disziplinierung bedürfen und daher nicht unter sich belassen werden können. Entsprechend wird ihnen in der Regeleinrichtung lediglich ein fingierter, jedoch kein realer Intimraum zugestanden. In dieser Raumdimension und zumindest in Bezug auf diese Regeleinrichtung ist das Sternenhaus durchaus als Gegenentwurf zu der in den heutigen Kindheiten ausgeprägten Präsenzen Erwachsener im Rahmen der Konstruktion einer Schutz- und Kontrollbedürftigkeit von Kindern einzuordnen. Die freie Wahl sowie die Vielzahl der Räume und die Größe des Außengeländes machen es nicht nur schier unmöglich, zu jeder Zeit jedes Kind unter die Beobachtung eines Erwachsenen zu stellen. Vielmehr ist dies auch konzeptionell unerwünscht, wobei Ausnahmen für jüngere Kinder im Kontext des Schutzes vor Gefahren durchaus zu beobachten waren. Kinder erhalten hier keine vermeintlichen, sondern reale Intimräume, in denen sie tatsächlich unbeobachtet von Erwachsenen sein dürfen. So wird eine Form der Selbstbestimmung der Kinder (bezüglich der Auswahl ihrer Spielpartner*innen/Spielformen/

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Inhalte/Räume) kultiviert. Kinder werden als Akteure verstanden, die reale20 Erfahrungen bedürfen, um sich entwickeln zu können. Sie offenbaren Konstruktionen von Kindern, die ihnen mehr zutrauen als dies geschieht, wenn ihnen eine notwendige Dauerbeobachtung und Kontrolle attestiert wird, was im Beobachtungszeitraum von im Sternenhaus engagierten Erwachsenen explizit als unerwünschter Umgang mit Kindern abgelehnt wurde. Vielmehr stehen die kindliche Selbstgestaltung, Selbstermächtigung und Selbstbestimmung im Zentrum, sind in die Raumgestaltung des Hauses eingeschrieben und werden in den Praktiken vor Ort wiederholt sichtbar. Die im Folgenden gebotenen konkreten Einblicke in empirische Daten, erfolgen mit Fokus auf einen spezifischen Raum der Organisation, um nun kindliche Spielpraktiken auf der Mikroebene in den Blick zu nehmen. Welche kindlichen, spielerischen Raumpraktiken entfalten sich hier und welche Rolle spielen hierbei Raum und dingliche Spiel-Objekte sowie körperlich-relationale Aufenthalte von Kindern im Raum? Diese Fragen werden in Anschluss an die empirischen Daten erörtert. Hierauf folgen Anschlüsse dieser Analysen an verschiedene theoretische und empirische Themen und Forschungen, um die Bedeutsamkeit der Ermöglichung selbstbestimmter kindlicher Raumpraktiken zu schärfen und ihnen innewohnende Lernpotenziale aufzuzeigen.

ZOOM IN EINEN SPEZIFISCHEN R AUM DER ORGANISATION: HINTERGRÜNDE UND EINE E THNOGR AFISCHE SZENE Ein Raum, der im ersten Obergeschoss des Hauses liegt, beherbergt große Bausteine und Matten in verschiedenen Farben und Formen. Die Wände des Raums sind bunt bemalt, die riesigen Bausteine sind weich und mit einem glatten Kunststoff ummantelt. Es gibt keine Abgrenzungen oder Raumteilungen. Wenn weitere Objekte wie z. B. Bastelutensilien aus dem nebenan liegenden Bastelzimmer hier auftauchen, werden sie i. d. R. von Erwachsenen oder Kindern entfernt. Die Teilnehmer*innen des Kinderhauses (Kinder sowie Erwachsene) nennen den Raum »Kuschel«. Der Raum hat keine Tür, jedoch

20 | Die Formulierung zielt darauf ab, dass den Kindern Freiräume zugestanden werden, in denen ihr Handeln auch Konsequenzen haben darf und soll. So wurde mehrfach der Gewinn der Ermöglichung von leichteren körperlichen Verletzungen z. B. bei intrinsisch motivierten Kletteraktivitäten der Kinder betont. Der Abbau von überschützenden Räumen und materiellen Raumanordnungen wird hier positiv konnotiert und die Grenzen legitimer und notwendiger Schutzräume im Vergleich zu Regeleinrichtungen der Untersuchung zufolge in verschiedenen Hinsichten verschoben bzw. an anders ausgerichteten Ordnungen gesetzt bzw. an anderen Logiken orientiert.

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einen Vorhang, der sich zuziehen oder an eine Seite schieben lässt. Eine wiederholt artikulierte Verhaltenserwartung und Aufforderung, die bezüglich dieses Raums immer wieder von Kindern performiert wird, ist, dass vor Eintritt in den Raum die Straßenschuhe ausgezogen werden müssen. Auch wenn keine Erwachsenen dabei sind, erinnern sich Kinder bisweilen gegenseitig daran und mahnen ein Fehlverhalten gegenseitig, auch gegenüber Erwachsenen an. Neben dieser Begrenzung an Praktiken in diesem Raum konnte ich beobachten, dass Erwachsene eingriffen, wenn Kinder Essen (wie Apfelstücke) mitnahmen und sagten, dass die Kinder bitte die Äpfel außerhalb des Raums essen sollten. Konkret wurden sie dazu aufgefordert, die Äpfel im Erdgeschoss zu essen: »Bitte geht nach unten mit den Äpfeln«. Hierbei handelt es sich um einen Eingriff durch Erwachsene, der sich als Kontrollversuch über die spezifische Praktik des Essens von Lebensmitteln durch die Kinder in einem bestimmten Raum (bzw. im ersten Geschoss des Hauses) begreifen lässt. Zugleich stellt der Eingriff durch Erwachsene eine soziale Ordnungsleistung dar, die darauf abzielt, spezifischen Objekten (hier: Apfelstücke) einen anderen, »richtigen« Raum bzw. Ort zuzuweisen und diesen Ort als unpassend für den Aufenthalt der Objekte zu deklarieren. Dabei wurde teils von den Erwachsenen gegenüber den Kindern auch begründet, warum sie keine Äpfel in dem Raum essen sollten, nämlich z. B. mit Formulierungen wie: »Sonst verteilen die sich hier und verkleben den Raum und die Kuschelteile. Das fände ich eklig.« Oder: »Ich hab keine Lust, das dann alles wieder wegzuputzen von den Kuschelteilen.« In diesen Situationen wurde den Kindern eine begründende Einsicht in der ersten Person Singular in den hinter dem Eingriff stehenden Grund vermittelt, womöglich auch, damit sie die Begrenzung auch inhaltlich als sinnhaft und vielleicht auch als für sich selbst relevante erfassen können. Letzteres Beispiel verweist zudem auf eine Verantwortungsübernahme für den Raum und den Wunsch, ihn nicht zu verschmutzen. Die Markierung eines unerwünschten Aufenthaltes von Apfelstücken als essbare Objekte und die Beschränkung der kindlichen Praktik macht ein generationales Care-Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen sichtbar und wiederholt es auf eine spezifische Weise: Die von den Erwachsenen sich selbst zugeschriebene Verantwortung dafür, dass diese unerwünschten Stücke dann wieder entfernt werden müssten und die Markierung dieser Aktivität als »nicht lustvoll« entlastet zugleich die Kinder von der Erwartung, diese wieder zu entfernen. Gleichsam reduziert dies die Kinder auf die Aktivität des Verschmutzens, während die Erwachsenen selbst die Position des Ordnens, Säuberns und Regulierens performieren. Bei der Abwesenheit von Erwachsenen im Raum fallen solcherlei Hierarchisierungen zwischen als ungleich Markierten weg und überlassen die Interaktionsordnung alleine den Kindern und ihren Aushandlungen untereinander. Dabei verhandeln sie untereinander u. a. Rechte und Befugnisse. Auf eine solche bezieht sich auch der untenstehende Ausschnitt, wenngleich die

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Ethnografin sich beobachtend in der Nähe des Raums aufhielt. Mehrfach zu beobachten waren Verhaltensaufforderungen der Kinder untereinander, die sich konkret auf das Territorium richten, das als »Kuschelraum« auch symbolisch-sprachlich markiert wird. Diese traten oft dann auf, wenn Kinder bereits in dem Raum spielten und andere sich ihm näherten. Im folgenden Beispiel geht es nicht um die Verhandlung von Aufenthalten spezifischer Objekte, sondern menschlicher Körper in dem Raum. Zu einer solchen Situation folgt ein konkreter Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll, in welchem bedeutsame Raumpraktiken der Kinder sichtbar werden: Ich halte mich im Erdgeschoss im Flur auf und höre, wie zwei Kinder sich dazu verabreden, zusammen im »Kuschel« zu spielen. Als sie an mir vorbeilaufen, fragen sie, ob ich mit ihnen komme. Als wir oben ankommen, ist der Kuschelraum direkt einsehbar. Wir nähern uns ihm. Es sind bereits Kinder darin, die miteinander spielen. Als sie uns kommen sehen, rennt eines der Kinder sofort in den Türrahmen. Der Vorhang ist offen. Es stellt sich in den Türrahmen, rutscht mit den Füßen bis an den Rand der jeweiligen Rahmenseite und spreizt dabei die Beine weit auseinander, um diese zu erreichen. Zugleich streckt es seine Hände diagonal an die Rahmenseiten über seinen Kopf in die Höhe und ruft: »Ihr könnt hier jetzt nicht rein, wir spielen hier alleine!« Eines der beiden Kinder, das gerade hochgelaufen kam in dem Vorhaben, im Kuschelraum zu spielen, sagt: »Wir wollen auch im Kuschel spielen!«. Die Antwort erfolgt prompt: »Ja, dürft ihr aber nicht jetzt. WIR spielen jetzt hier alleine.« Ich frage sie, warum die anderen Kinder nicht hinein dürften. Das im Türrahmen stehende Kind sagt: »Ihr macht sonst unsere Höhle kaputt. Und wir wollen hier jetzt ALLEINE spielen!« »Wir machen nicht die Höhle kaputt. Jeder darf ins Kuschel! Wir auch!«, sagt eines der Kinder, das gerne darin spielen möchte. Es wiederholt: »Wir wollen auch im Kuschel spielen!« Seine Stimme wird weinerlich. Der Dialog wiederholt sich in ähnlicher Weise noch zweimal, auch die anderen sich im Kuschelraum befindenden Kinder sagen, dass sie hier alleine weiterspielen wollen. Auch mein Vorschlag, dass die neu hinzukommenden Kinder vielleicht an einer anderen Stelle im Raum spielen könnten, wird abgelehnt mit der Aussage: »Wir spielen hier jetzt alleine.« Die Kinder im Raum spielen nun überhaupt nicht mehr, sondern konzentrieren sich ausschließlich darauf, durchzusetzen, dass verhindert wird, dass den neu Hinzugekommenen Eintritt gewährt wird. Ich schlage den beiden Kindern, die aus dem Erdgeschoss kamen, vor, dass sie woanders spielen und sie es später noch einmal versuchen könnten, wenn die anderen mit ihrem Spiel fertig sind. Sie sehen nicht zufrieden aus, kommen aber mit. Das Kind, das im Türrahmen stand, zieht sich wieder in den Kuschelraum zurück. (Anmerkung: Womöglich könnte es für die Kinder von Bedeutung gewesen sein, dass die beiden ankommenden Kinder kleiner und jünger als die bereits im Raum spielenden Kinder waren.) Die Nutzung des eigenen Körpers in seiner Fähigkeit der Ausdehnung bzw. Verbreiterung wird von dem Kind eingesetzt, um sich der Größe des Türrahmens körperlich anzunähern. Diese Praktik produziert den Rahmen

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als Eintrittspforte zu einem Territorium, das nicht betreten werden soll und besetzt, markiert und bringt es zugleich – auch symbolisch – als (»Kuschel«-) Raum hervor. Die noch bestehenden Freiräume zwischen Türrahmen und Körper sind die Lücken zwischen den Gliedmaßen, die durch deren Haltung und Größe in Relation zu der Größe des Türrahmens hervorgebracht werden, von den anderen Kindern aber nicht als Eintrittsmöglichkeit performiert werden. Der den Raum verschließende Kinderkörper ahmt mit all seinen Möglichkeiten quasi die Fortsetzung der die Rahmen umschließenden Wände nach und intensiviert damit die Begrenzung der Eintrittsmöglichkeiten. In anderen Situationen stellten Kinder gezielt Matten vor den offenen Rahmen, um zu verhindern, dass andere auch den Raum betreten (können). Es handelt sich hierbei um verschiedene kindliche und kinderkörperliche Methoden der Verschließung der einzigen Zutrittsmöglichkeit, die mehrfach beobachtet wurden und von der die obige Szene nur ein Beispiel darstellt. Durch diese Formen des Verstellens wird der Raum in den kindlichen Praktiken als abschließbarer und abgeschlossener, der aus vier Wänden besteht und alltagssprachlich als Raum bezeichnet wird, konstruiert.21 Die Kinder äußern, verhandeln, bekunden und begründen teilweise ihre unterschiedlichen Interessenlagen. Die Eintrittspforte und der damit produzierte Raum gerinnen zu einem Raum des Ein- bzw. Ausschlusses und verändern damit auch (Möglichkeiten von) Aufenthalte(n) von Kinderkörpern und ihren Praktiken, die dort ausgeführt werden wollen. Es wird für die neu Hinzukommenden verhindert, die erwünschte Spielpraktik zu diesem Zeitpunkt in diesem Raum auszuführen. Mit »Jeder darf ins Kuschel! Wir auch!« wird von dem neu hinzukommenden Kind die Artikulation einer abstrakten Regel erprobt, von der unklar ist, woher sie stammt. Die kindlichen Praktiken des Raumausschlusses und der beschränkten Eintrittsbefugnis, die sowohl körperlich als auch sprachlich ausgedrückt werden, führten zu Ärger, Frust und/oder Trauer bei jenen, denen der Eintritt verwehrt wurde. Der »Kuschelraum« als Territorium scheint für die Kinder besondere Möglichkeiten zu bieten. Auch die Machthoheit über einen Raum zu besitzen, zu vertreten und zu verteidi21 | Die ausdehnende Körperpraktik des Kindes stellt diesen als materiell zu betretenden (Container-)Raum erst her, eine Konstruktion, die in situ praktisch auch mit der symbolischen Bezeichnung »Kuschel« verwoben und so in diesem Verständnis abgesichert wird. (Während das die Eintrittspforte verstellende Kind das lokale Adverb »hier« verwendet, wird dies von dem hinzukommenden Kind als »Kuschel« und damit als das umkämpfte Territorium verstanden, zu dem der Eintritt verwehrt wird, welches den Kindern aber auch über diese symbolisch-begriffliche Dimension zugänglich ist.) Sonstige Spielpraktiken hingegen lassen den Raum in seinem Containerverständnis vergessen und leben von den relationalen Aufenthalten von Kinderkörpern und Dingen, die Raum herstellen.

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gen sowie Versuche, die eigenen Interessen der Betretung des Raums gegen den Willen der Anderen durchzusetzen, wurde bei diesem »Kuschelraum« so intensiv sichtbar wie bei keinem anderen Raum im Haus. Im Folgenden wird dieser näher hinsichtlich seiner räumlichen Dimensionen, materiellen Affordanzen und konkreten Spielpraktiken näher beleuchtet. Die Schilderung letzterer beziehen weitere ethnografische Beobachtungen ein. Das untenstehende Foto22 zeigt die in die Spielpraktiken und Kinderraumkonstruktionen (neben den Kinderkörpern) je situativ verschieden eingebundenen Objekte und deutet deren vielseitigen Affordanzen an.

Abbildung 1: »Kuschelraum« im Sternenhaus.

22 | Das Foto zeigt einen Zustand von unzähligen möglichen Platzierungen spezifischer Objekte und beruht auf Spacingleistungen der Kinder. Martina Löw versteht unter Spacing die Platzierung oder Errichtung materieller sozialer Güter oder symbolischer Markierungen (vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001). Syntheseleistungen hingegen werden als menschliches und aktives Verknüpfen von Elementen durch Wahrnehmungen, aber auch Erinnerungen und Vorstellungen von Raum bezeichnet. Die fotografische Darstellung stellt »einen spezifischen Bezug zur alltäglichen Wahrnehmung und Erfahrung von Raum her.« (Göhrlich, Ulrich/Wandeler, Meret: Archiv des Ortes, Zürich, o.J., http://www.archiv-des-ortes.ch/archiv-des-ortes-konzept.pdf, S. 8, 9) Zugleich ist sie »jedoch ebenso ein Bild, eine symbolische Repräsentation von Raum, und damit eingebunden in das System der kulturell codierten Wahrnehmungsund Darstellungsmuster.« (ebd.) Die Prozesse der Platzierung von Gütern und die Wahrnehmungsprozesse, (re)produzieren im Alltag der Feldteilnehmer*innen den »Kuschelraum« als symbolischen Raum als alltägliche Leistung.

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Die Spielpraktiken in diesem Raum hinterlassen Spuren, die auch auf dem Foto sichtbar werden: Die Bauelemente werden gezielt oder zufällig, anders, neu oder auch intendiert wiederholt auf bestimmte Weisen zu spezifischen Zwecken oder ohne von Beginn an ersichtliche (bzw. nicht kommunikativ mitgeteilte) Intention zu Objekten des Kinderspiels angeordnet. So stellt sich »der Raum« bei jedem Besuch neu dar. Diese neuen Raumassemblagen durch die Anordnung und Platzierung verschiedener Bauelemente in unterschiedlicher Kombination und an je spezifischen Orten bleiben so lange bestehen, bis neue Akteure kommen, die sie wieder anders anordnen. Dies wird erst durch das Fehlen einer sonst recht verbreiteten Regel in der Organisation ermöglicht: Der Raum muss nicht aufgeräumt werden. Weiter noch: Es lässt sich sagen, dass er gar nicht aufgeräumt werden kann weil die Objekte, die in ihn »gehören«, die ihn benennen, ihn bewegen und durch die er Menschen bewegt, keine eigene Ordnung aufweisen. Da es keine Ordnung gibt, in die die Bauelemente sozusagen »eigentlich gehören«, gibt es auch keine Un-Ordnung. Dies bietet Raum für immer neue Spacingleistungen, für das Platzieren und spielerische Ergreifen der Güter und deren Kombination zu unendlich vielen Spielmöglichkeiten, Tobeaktivitäten, Möglichkeiten der Erprobung der körperlichen und kognitiven Grenzen des Selbst und jenen der anderen Anwesenden. Im Spiel werden die Güter zu Spielobjekten miteinander verbunden und gestalten es mit. Damit sind unendliche Möglichkeiten geboten, die eigene Kreativität, intrinsisch entstandene, neue Ideen, also neuartige Vernetzungen von Wissen und Können zu erproben, anderen zu zeigen, sie mit ihnen zu erleben, sie in der Raumgestaltung zu machen, zu sehen, zu be-greifen und in, durch und nach dieser Raumgestaltung diesen (und sich darin auch körperlich) wiederum anders zu erfahren, damit jeweils auch je andere Räume zu machen. So erschließen die Kinder sich neue Möglichkeiten von Aktivitäten selbst, indem sie – wie z. B. in verschiedenen Beobachtungssituationen sichtbar wurde – eine Rutsche mit einzelnen Bauelementen bauen. Die zuvor nicht existente Rutsche als bespielbares Objekt bietet z. B. die Praktik des Rutschens, der möglichen Erfahrung, dass sie dies materiell-physisch womöglich nicht hält und demnach zusammenbricht, also die Grenzen der Relationierung des Bauelementes und des eigenen Körpers in dieser konkreten Spielpraktik. Sie ermöglicht die Erfahrung, dass sie sich neu auf bauen lässt, dieses Mal vielleicht mit anderen Bauelementen, womöglich stabiler. Bestandteil dieser Prozesse waren häufig auch gemeinsame Überlegungen und Vorschläge der Kinder, wie sie die Rutsche anders bauen könnten, um sich noch mehr Vergnügen beim Rutschen zu ermöglichen. Bisweilen wird nicht mehr gerutscht, sondern geklettert. Dies ist ein Beispiel für eine Beobachtung, die ich häufiger machen konnte, nämlich, dass Kinder im Spielprozess in ihrem Spiel mit einem Objekt, das sie sich in dem Raum selbst erst mit Bauelementen geschaffen hatten und das sie auch sprachlich als spezifisches Spielobjekt (wie z. B. Rutsche) bezeichneten, die

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aus Erwachsenenperspektive in diese eingeschriebenen Praktiken gemeinsam kreativ entfesselten und neue entwickelten. So kann aus einer Rutsche, auf der mehrere Kinder rutschen, plötzlich ein Kletterturm werden, gelegentlich auch als solcher bezeichnet, in anderen Situationen nicht. Die Veränderung der kollektiven Spielpraktik geschieht z. B., indem ein Kind daran hochklettert, andere es ihm gleichtun und diese Klettermöglichkeit durch weitere Bauelemente dann verbessert und in seinem möglichen Bespielungsspektrum erweitert wird. Oft wird dies begleitet von einem kommunikativen Hinweis wie z. B.: »Ich kletter jetzt auf den Turm« oder »das ist jetzt ein Kletterturm«. Bedingung hierfür ist, dass die anderen Kinder diese Neuentwicklung akzeptieren und mittragen bzw. sie zumindest nicht ablehnen, was ebenfalls vorkam. Qua ihres sozialen Wissens in spezifische Objekte eingeschriebene Praktiken werden von den Kindern teils wiederholt (und artikuliert mit z. B. »auf einer Rutsche wird gerutscht!«), teils aber auch kreativ in Unordnung gebracht und umgeordnet, innovativ assembliert und neu erfahren. Da den Bauelementen selbst im Einzelnen keine spezifischen Affordanzen innewohnen, schaffen die Kinder sich diese durch immer neue Rearrangements der Bauelemente miteinander jeweils neu, erfinden neue Regeln des Umgangs mit den Objekten, die sie selbst erschufen, handeln diese sozialen Regeln wiederum miteinander aus und kreieren Regeln auch situativ um, lassen sie unwichtig werden, erkennen und nutzen neue Aufforderungscharaktere in den selbst geschaffenen Spielobjekten, die sie wiederum jederzeit – in Aushandlung mit den anderen spielenden Akteuren im Raum – umgestalten und umordnen können. So regieren die Kinder miteinander den Raum.

WAS MACHT DER KUSCHELR AUM? Dennoch sind es spezifische räumlich-dingliche Bedingungen, die die oben geschilderten kreativen Spielpraktiken erst ermöglichen. Der bezüglich der sozialen Regeln und Affordanzen der Objekte unterbestimmte, ungeordnete »Kuschelraum« eröffnet für die Kinder eine Vielzahl an möglichen Bestimmungen und der Vertretung und Verteidigung dieser Bestimmtheiten, die sie selbst kreieren und denen sie selbst Macht verleihen bzw. die sie wieder fallen lassen können. Es ist ein nahezu regel- und herrschafts(?)freier Raum, der den Kindern ermöglicht, soziale Regeln selbst zu kreieren, sie absent sein zu lassen oder Regeln, die ihnen aus anderen Kontexten bekannt sind, relevant zu machen. Der Raum eröffnet zahllose Möglichkeiten des Welt-Kreierens, die – frei von der Perspektive und Ordnungsleistungen Erwachsener – von und unter den Kindern auf von ihnen bestimmte Weisen für sie selbst erlebbar werden. In alldem bestimmen nur sie, worin sie – hier nun aus erziehungswissenschaftlich geprägter Erwachsenenperspektive gesprochen, die die Entwick-

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lung der Kinder im Blick hat – ihre eigenen körperlichen und kognitiven Potenziale schulen und weiterentwickeln wollen. Aus kindlicher Perspektive geht es schlicht um Freude, um intrinsische Motivation an dem, was sich gerade erspielt wird, was die Kinder gerade tun wollen. Es geht um das, was sie jetzt interessiert, was sie jetzt erleben möchten, mit wem sie dies erfahren wollen und welche Erfahrungen sie sich in dem Moment herbeispielen, es geht um das Spiel selbst und dieses stellt sich als höchst ernsthaft dar. Der unterbestimmte, nicht angeordnete Raum mit seinen einzelnen Elementen wird als Spielraum für die Kinder zum vielfältigen, selbst bestimmten, intrinsisch entworfenen Lern-, Bildungs- und Entwicklungsraum. Einerseits wird dies nur möglich, wenn Erwachsene sich nicht mit autoritären Initiativen in das Spiel »einmischen«, sinnstiftend mit-machen, Regeln einbringen und dabei in Erwachsenenperspektive das Spiel auf eine Weise anordnen, in der es (für Erwachsene) sinnhaft wird, obgleich die Kinder in ihren Spielpraktiken eben Sinn (und Raum!) auf eine andere, ihnen eigene Weise schaffen. Andererseits entzieht sich in einem Raum, der nie unordentlich sein kann, weil er nie ordentlich bzw. ge-ordnet war, die Logik des Aufräumens als spezifische Form der »richtigen« Anordnung, also Spacingleistung von Objekten, immer zuerst durch Erwachsene vertreten und propagiert, selbst die Grundlage. Demnach kann es hier auch kein Richtig und kein Falsch, keine Bewertung geben. Es existiert ausschließlich die je situative Anforderung, mit all denjenigen, mit denen man sich gerade im Raum befindet und zusammen agiert, auszuhandeln, wie was sein soll und darf. Der hier beschriebene und in seinen Wirkungen und Möglichkeiten vorgestellte »Kuschelraum« bietet durch dinglich-räumliche Affordanzen und Unter- sowie Unbestimmtheiten, Möglichkeiten des Entwerfens von Raum, von sich selbst, seinem Körper(raum), seinen Möglichkeiten und jenen der anderen. Die Kinder erschaffen sich selbst in dem unbestimmten Kuschelraum in Co-Kreativität23 Räume, die sie dann selbst regieren, sozialen Regeln unterwer23 | Co-Kreativität als die multidimensionale vielgestaltige gegenseitige Einflussnahme anderer Menschen auf eigene Ideen, Kreationen, Gestaltbarkeiten und Gestaltungen betont die kollektive Struktur des sozialen, emotionalen, intellektuellen, kreativen […] Wachstums von Menschen (vgl. Marquardt, Sabine: Was ist Co-Kreativität? 2018, https:// nlpheidelbergmannheim.wordpres s.com/2018/07/31/was-ist-co-kreativit aet /, o.S. [27.03.2019]). Hüther zentriert mit dem Begriff der Co-Kreativität die Bedeutsamkeit anderer Menschen und die Qualität der Beziehungen zu ihnen, in denen gegenseitige Ansprachen als Subjekt existenziell bedeutsam seien. Wissen und Können untereinander auszutauschen, sich davon inspirieren und anregen zu lassen und zusammen etwas zu erschaffen, sind die Grundprinzipien von Co-Kreativität, die Hüther als wünschenswerte gemeinsame Lösungssuche von sich stellenden (oder im obigen Kontext: selbst gestellten) Problemen begreift. Eben dies ist es, was die Kinder im Kuschelraum

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fen, selbst kreieren und neu miteinander verknüpfen, indem unzählige Möglichkeiten der Weltgestaltung spielerisch erfahrbar werden. Dies geschieht wiederum durch sie selbst, d. h., Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, von Handlungsmächtigkeit werden quasi nebenbei in der Gestaltung des Spiels und des Spielraums gemacht. Der Raum bietet, gerade indem er Gestaltungsfreiheiten bereithält, fruchtbare Bedingungen zur Selbst-Bildung und zum Lernen in selbstbestimmter Geschwindigkeit zu einem von den Kindern selbst erwählten (Spiel-/Bewegungs-/Interaktions-)Thema in einem von ihnen selbst geschaffenen Raum. Es wird ersichtlich, dass der Freiheitsgrad, derer sich die Kinder an diesem Ort bemächtigen können, stark bestimmt wird von den darin zusammenhandelnden Akteuren. Hierin lässt sich womöglich ein Grund dafür erkennen, warum es von so großer Bedeutung ist, wer hier mitspielt bzw. sich nur auch in dem Bereich aufhält, in dem gerade zwischen Kinderkörpern und Spielobjekten Kinderspielraum konstruiert wird. Der Aufenthalt Anderer verändert die soziale Raumkonstruktion und wird womöglich deshalb gezielt abgelehnt, weil es sich hier um nichts weniger als die Selbstbestimmung und Bemächtigung des (eigeninitiativ hergestellten) Raums handelt, der spezifische Selbst-Erfahrungen auch durch Erfahrungen mit Anderen ermöglicht. Es handelt sich um eine kindliche Form der Selbstergreifung in der Raumergreifung und eben dieser Raum der Selbstbemächtigung mit all seinen Möglichkeiten steht in der oben betrachteten ethnografischen Szeneexistenziell auf dem Spiel. Neben diesen räumlich-dinglichen Bedingungen spielen jedoch auch die konzeptionell und in das Care-Arrangement eingelassenen Absenzen Erwachsener und sozialer Regeln, die sich auf diesen symbolisch als »Kuschelraum« besetzten Ort richten, eine bedeutende Rolle.

miteinander betreiben, wenn sie darin etwas gemeinsam schaffen und aufbauen (Vgl. Maas, Anita: Die Lösung liegt in der Co-Kreativität, o.J., https://www.gerald-huether. de/free/maas_huether.pdf [27.03.2019].) Es bedarf hierzu entsprechender Räume, die frei von ökonomisierten Regierungsformen und weiteren (pädagogischen) Bestrebungen und Zielsetzungen sind.

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DAS CARE-ARR ANGEMENT DES STERNENHAUSES: SELBST(FÜR)SORGE IM FREI-SPIEL-R AUM UND SEINE LERNPOTENZIALE Das Care-Arrangement des Sternenhauses zeugt von einer vor vielen Jahren beim Raumdesign sichtbar gewordenen Sorge um die Räume, welche nun als »dritter Erzieher24« den Kindern keine räumlich-dinglichen Vorgaben zu »richtigen« Umgangsweisen aufdrängen. Stattdessen wird ihnen herrschaftsfreier Raum gegeben und Objekte zur Verfügung gestellt, mit denen sie tun können, was sie wollen. Die von Erwachsenen gesteuerte Raumgestaltung ruft die Kinder zu selbstbestimmten kreativen Handlungs- und Interaktionsweisen auf und zeugt von einem spezifischen Bild von Kindern und Kindheit, das sich in ihr widerspiegelt. Das Care-Arrangement kann als spezifisches Verhältnis zwischen räumlichen Affordanzen und der in die Organisationskultur eingeschriebenen hohen Wertschätzung des freien Spiels inklusive der Zurückhaltung Erwachsener begriffen werden, welches situativ praktisch die Abwesenheit Erwachsener und die räumliche und spielerische Selbstgestaltung der Kinder inkludiert und erst in seinem Zusammenwirken hervorbringt.25 Dieses Arrangement erst ermöglicht die beschriebenen Erfahrungen für die Kinder. Dass anderen Kindern für den gerade bespielten und mit ausgewählten Kindern selbst regierten Raum der Eintritt verwehrt wird, kann als situativ ausgedrückte, kindliche Raumsorge gedeutet werden. Erst die Zurückhaltung Erwachsener und das Überlassen der Gestaltung des Raums durch die Kinder, die ihnen gegebene Möglichkeit und Freiheit, ihn zu besetzen, stellt eine basale Bedingung der Möglichkeit des Ausdrucks der Raumsorge dar. Die Sorge um den Raum ist umso mehr von Bedeutung als dass sie zugleich eine Sorge um 24 | Nugel, Martin: Erziehungswissenschaftliche Diskurse über Räume der Pädagogik. Eine kritische Analyse, Wiesbaden 2014, S. 135. 25 | Wie Maywald konstatiert, ist dies keine Selbstverständlichkeit, sondern es besteht vielmehr vor »dem Hintergrund eines kognitiv verengten Bildungsbegriffs und falsch verstandener ›Förderung‹ [besteht] auch in der Kita die Gefahr, die wichtige Rolle des freien Kinderspiels für didaktische Zwecke des Lernens zu vereinnahmen und das Spiel zu einer pädagogischen Lehrtechnik zu funktionalisieren.« (Maywald, Jörg: Kinderrechte in der Kita. Kinder schützen, fördern, beteiligen, Freiburg/Basel/Wien 2016, S. 56) Als notwendige Voraussetzungen zum Spielen, benötigen Kinder »einen sicheren und für sie zugänglichen Raum, der Möglichkeiten enthält, Dinge zu verändern und kreativ zu gestalten.« (ebd.) Dass eben dies heute nicht selbstverständlich vorhanden ist, begründet er auch mit dem anarchisch wirkenden Eindruck des Kinderspiels, welches »ökonomischen Kriterien rationaler Planung zuwiderläuft« (ebd.) und daher aus Erwachsenenperspektive »als nutzlos und überflüssig erscheinen kann.« (ebd.) Es stellt sich als durchaus spannende empirische Frage dar, wie verbreitet solche freien Gestaltungsräume für Kinder derzeit noch sind.

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die eigene Raumkonstruktion und ihre Spielpraktik impliziert, welche durch den verwehrten Eintritt zu schützen versucht wird. Dies wiederum bedeutet, dass sich in der Raumsorge eine die eigenen (Spiel-)Interessen schützende Selbst(für)sorge ausdrückt: Etwas für die im Raum spielenden Kinder situativ wertvolles wird potenziell angegriffen und sie sorgen für sich selbst, indem sie sich davor schützen, dass ihr Spiel und die damit verbundenen Erfahrungen (wie nicht zuletzt Spaß und ihre situative intrinsische Motivation zu tun, was sie tun möchten) ein vorzeitiges, nicht selbst herbeigeführtes Ende nimmt. Sie übernehmen Verantwortung für den Raum, für ihre eigenen Interessen, für sich. So lässt sich die situativ sichtbar werdende Raumsorge der Kinder als Selbst(für)sorge entschlüsseln, in der sie als Akteure in Erscheinung treten (können), die ihre Bedürfnisse wahrnehmen, für sie eintreten und ihre weitere Befriedigung verteidigen.26 Dieses Spüren der eigenen Bedürfnisse, das spontane Auftreten von Gefühlen und das Eintreten für diese als Schutz der eigenen Bedürfnisbefriedigung, stellen bedeutsame Voraussetzungen auch dafür dar, Empathie (als mitfühlende Reaktion auf die Gefühle Anderer) zu entwickeln.27 Wakolbinger verdeutlicht, dass die Entwicklung von Empathie und Mitgefühl insbesondere Erfahrungs- und Sozialisationsabhängig entstehen.28 Möglich wird all dies in dem angelegten Frei-Spiel-Raum. Frei zu spielen bedeutet für die Kinder, Gestalter*innen ihres Spiels und damit ihres Lebens, ihrer Welt, des Raums, ihrer Selbst zu sein. Gestaltung wird in diesem Zu-

26 | Werden Kinder hingegen als Akteure adressiert, welche der stetigen angeleiteten Bildung und Erziehung durch Erwachsene bedürfen, um zu sozial verträglichen Gesellschaftsmitgliedern heranzuwachsen, hätte womöglich das Verstellen des Eintritts in den Raum dazu geführt, dass Erwachsene in Anbetracht des sozial unerwünschten Verhaltens mit Imperativen bzw. Aufforderungen eingegriffen hätten à la »Alle dürfen aber hier rein; Ihr könnt nicht über den Raum bestimmten; das ist nicht in Ordnung, dass ihr die Kleinen nicht hereinlasst«. Dies hätte die Selbstbestimmung der Kinder und ihre Selbstwirksamkeit reduziert und ihre Sorge um sich gezwungenermaßen in eine Sorge um Andere und deren Wohl als modifiziert bzw. diese als »richtig« gedeutet. Breiner/Kolibius betonen für das freie Echtlebensspiel in Abgrenzung von Computerspielen die positive Bedeutung für die Entwicklung der Kinder, gerade solche Verhaltensweisen zu zeigen, »die von der Erwachsenenwelt unterbunden werden« (Breiner, Tobias/Kolibius, Luca: Computerspiele: Grundlagen, Psychologie und Anwendungen, Berlin 2019, S. 139). 27 | Vgl. Bürgi, Dorothee: Ein Stück Schokolade. Perspektiven zu Empathie und Mitgefühl, in: Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer, 7. Jg. (4), 2018, S. 5–8 [25.03.2019]. 28 | Vgl. Wakolbinger, Christine: Entwicklung von Empathiefähigkeit im Kindesalter – und was diese verhindern kann, in: Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer, 7. Jg. (4), 2018, S. 34–36, hier S. 34.

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sammenhang als »irrationaler Prozess«29 begriffen, »der aus dem Augenblick entsteht, dem Kind spontan einfällt. «30 Freies Spiel als spontaner, fantasievoller Akt ermöglicht es, Dinge, Wünsche und Fantasien wahr werden zu lassen, sie intensiviert die Entwicklung von Fantasie, während sie sich frei entfalten kann. Die Entwicklung von Fantasie durch das freie Spiel »trägt nämlich dazu bei, in Problemsituationen ein Höchstmaß an geistiger Flexibilität zu mobilisieren. Und wo eingefahrene Lösungswege scheitern, kann die Phantasie den Ideenreichtum hervorbringen, der letztlich zur Problemlösung führt. […] Auch hierfür besteht eine grundlegende Entwicklungsfunktion im kindlichen Spiel.« 31

Indem Kinder in ihrem Spiel also sein gelassen werden, entwickeln sie Kompetenzen und Fähigkeiten, die ihnen persönliches Wachstum ermöglichen, ihnen Selbstwirksamkeit vermitteln und sie Gefühle von Handlungsmächtigkeit (er)leben lassen. So bringen letztlich die Kinder selbst den Raum als ihren ganz eigenen Lernraum hervor, in dem nur sie selbst bestimmen (dürfen), was sie lernen und welche Fähigkeiten sie im freien Spiel als dauerhafte Kompetenzen erwerben: »Durch den Spielerausch (flow) werden diese sozialen Kompetenzen nachhaltig erlernt und stehen den Betreffenden auch noch nach Jahrzehnten zur Verfügung.«32 Diese an- und miteinander erlernten Fähigkeiten der Kinder beherbergen wiederum das Potenzial, auf das Care-Verhältnis im Sternenhaus zurückzuwirken, indem die Selbst(für)sorgepraktiken der Kinder im Sinne des Lernens am Modell33 wiederum Lern- und Verbreitungstendenzen innerhalb der Kinderkultur aufweisen (könnten). Jenseits pädagogischer und psychologischer Arbeiten zu dieser Thematik, sind auch neurowissenschaftliche Forschungserkenntnisse an dieser Stelle hoch relevant und untermauern erstere inhaltlich: Sie betonen die erfahrungsabhängige Neuroplastizität des Gehirns, die in der Kindheit am stärksten

29 | Lutz, Christiane/Wurster, Gabriele: Kinderzeichnung, Sandspiel und Gestaltung. Verstehen und anwenden der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2018. 30 | Ebd. 31 | Mogel, Hans: Psychologie des Kinderspiels. Von den frühesten Spielen bis zum Computerspiel, Heidelberg 2008, S. 28. 32 | Breiner, Tobias/Kolibius, Luca: Computerspiele: Grundlagen, Psychologie und Anwendungen, Berlin 2019, S. 139. 33 | Vgl. Kiesel, Andrea/Koch, Iring: Lernen. Grundlagen der Lernpsychologie, Wiesbaden 2012, S. 73.

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ausgeprägt ist.34 Dies bedeutet, dass sich von einem in dieser Lebensphase existierenden Überschuss an möglichen neuronalen Verschaltungen zwischen Nervenzellen erfahrungsabhängig einzelne stabilisieren. Die Herausbildung komplexer Verschaltungen im Gehirn (und damit Lern- und Problemlösungskompetenzen) werden Hüther zufolge dann am besten entwickelt, wenn Kinder selbst entscheiden können, womit sie sich beschäftigen, welchen Aufgaben, Herausforderungen und Problemen sie sich widmen möchten und welchen nicht und sie Freiräume und Zeit bekommen, um sich ihren kreativen Spielen eigenständig zu widmen35. Auch aus neurowissenschaftlicher Perspektive stellen sich demnach Räume, die vielfältige kreative Entfaltungen und Gestaltungen möglich machen als höchst bedeutsam für das aktuelle Wohlbefinden und die zukünftige Entwicklung von Fantasie, Kreativität, Selbstwirksamkeit u. v. m. dar. Dass es sich hierbei zudem um Kompetenzen handelt, die zukünftig im Rahmen des sozialen Wandels der Digital- und Wissensgesellschaft immer wichtiger werden, bettet die Relevanz dieses räumlichen Spielarrangements (hier im Sinne seines Lernpotenzials) in größere gesellschaftliche Zusammenhänge ein.36

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: »Kuschelraum« im Sternenhaus, 2019, © Désirée Bender.

QUELLENVERZEICHNIS Bastian, Johannes/Merziger, Petra: Selbstreguliert lernen. Konzept – Befunde – Erfahrungen, in: PÄDAGOGIK 59, H. 7–8, 2007, S. 6–11. Bock, Jörg: Neuronale Plastizität, in: Storch, Maja/Krause, Frank: Selbstmanagement – ressourcenorientiert!, Bern. O. J., https://ismz.ch/daten/Neuroplastizi taet.pdf [28.03.2019]. Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Nieswand, Boris: Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung, Konstanz/München 2013. 34 | Vgl. Bock, Jörg: Neuronale Plastizität, in: Storch, Maja/Krause, Frank: Selbstmanagement – ressourcenorientiert!, Bern. O. J., https://ismz.ch/daten/Neuroplastizitaet. pdf [28.03.2019]. 35 | Hüther, Gerald: Mit Freude lernen – in Leben lang. Weshalb wir ein neues Verständnis vom Lernen brauchen, Göttingen 2016. 36 | Vgl. Elle, Marion/Elle, Klaus: Kreativität als Erkenntnisbeschleuniger in Zeiten stetiger Veränderungen unserer Arbeitswelten, in: Spieß, Brigitte/Fabisch, Nicole (Hrsg.): CSR und neue Arbeitswelten, Berlin 2017, S. 319–340, hier S. 321.

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O rientierung , B edeutung , O rganisation

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung – Anmerkungen zum Lernen mit Hilfe von Medien Martin Scholz

Wir schlagen die Zeitung auf und ein*e Expert*in erläutert, weshalb die aktuelle Jugend in und durch Computerspiele verblödet, sich in sozialen Netzwerken verliert und Deutschland deshalb im globalen Wettbewerb verlieren wird. Die deutsche Literatur sei bedroht, weil keiner der jungen Leute sie noch lesen könnte, die Kunstmuseen blieben leer (und damit unterfinanziert), weil alles schon im Internet anzuschauen sei und die Zukunft der Renten (meist die der Expert*innen selber) sei damit unsicher. Die Einschätzungen der mittelalten Generation über die jeweils neuen Medien einer Epoche münden sehr schnell in Panik und in dem Vorwurf eines gerade jetzt eindeutig erkennbaren Kulturverlustes. Als der Autor dieses Aufsatzes in den 1960er Jahren aufwuchs, wurde vor den schädlichen Auswirkungen des Fernsehens auf den jungen Körper, vor der ungeregelten Phantasieentwicklung durch Science-Fiction-Filme und der Verrohung der Jugend durch Comics gewarnt. 50 Jahre später ist das Fernsehen fast schon Geschichte, Science-Fiction ist ein eigenes Film- und Buchgenre geworden und die Comics hängen inzwischen in den Museen. Der Kampf über die jeweils neuen Medien ist ein bekanntes und beständig vonstatten gehendes Streitritual zwischen den Generationen anhand bestimmter ›Symbole‹. Symbole sind Medien im eigentlichen Sinn: Vermittler zwischen Subjekten. Unstrittig erscheint, dass zwischen Lernen und Medien eine enge Beziehung besteht: Lernen ohne Medien (Sprache, Schrift, Buch, Bild, E-Mail etc.) ist nicht möglich. Insofern sollten die beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen zu dieser Beziehung die notwendigen Erkenntnisse, Theorien und Modelle besitzen. Die Kernfrage dieses Beitrages lautet daher: Welche Bedeutungen besitzen Medien für das Lernen und welche Beziehung besteht zwischen diesen beiden Konstrukten? Zur besseren Differenzierung soll diese – zunächst recht grobe – Frage bezüglich der prinzipiellen Gestaltungsmöglichkeit der jeweiligen Me-

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dien (Veränderung der Form und Erscheinung ihrer Oberfläche) anhand von vier Fokussierungen noch etwas feiner granuliert werden: A. B. C. D.

Welche Bedeutung wird Medien im Lernprozess zugeschrieben? Gibt es wissenschaftliche Positionen zum Lernen mit Medien? Wie wirken sich die, je spezifischen, Eigenarten von unterschiedlichen Medien im Lernprozess aus? Welche Erkenntnisse entstehen hieraus für die wissenschaftlichen Modellen, sei es in den Lerntheorien oder der Medientheorie?

Die Medienwissenschaften bzw. die Medientheorie beschäftigt sich vorrangig mit der Herkunft, den Zusammenhängen, den Quantitäten von Medien sowie ihren Effekten. Diese Erkenntnisse werden relativ selten systematisch mit pädagogischen oder erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft. In der Regel werden vier – plus eine – Lerntheorien mehr oder minder offen genutzt. Diese fünf Ansätze sollen daher hier zunächst vorgestellt werden, um im weiteren Verlauf die Grundlinien auch der medienwissenschaftlichen Modelle deutlicher erkennen zu können. Am Ende wird, auf der Basis des Luhmann’schen Verständnisses von Kommunikation, ein Vorschlag für einen verbindenden medientheoretischen Ansatz gemacht.

POSITIONEN DER PÄDAGOGIK, DER ERZIEHUNGSWISSENSCHAF TEN UND DER MEDIENTHEORIE Zum erleichterten Verständnis sollen zunächst zwei Definitionen für die beiden Kernbegriffe vorgestellt werden. A. Unter ›Lernen‹ wird im Folgenden ein intrapsychischer Prozess verstanden, in welchem die Einstellungsveränderungen einer Person zusammenge fasst werden können1. 1 | Vgl. weiterführend Zimbardo, Philip/Gerrig, Richard: Psychologie, 7. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York 1999, S. 206. Die Autoren schreiben: »Wir können Lernen als einen Prozeß definieren, der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrung aufbaut. Lernen ist nicht direkt zu beobachten. Es muß aus der Veränderung des beobachtbaren Verhaltens erschlossen werden.« Zimbardo und Gerrig betonen zum einen das artspezifische, genetische Lernpotential des lernenden Organismus um aus der Interaktion mit der Umwelt eine erhöhte Überlebensfähigkeit zu konstruieren. Zum anderen erläutern die Autoren den Aspekt der ›relativen Stabilität der Veränderung‹, d. h. eine konkrete Anwendung der gelernten

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung

B. »Ein Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesell schaftlicher Dominanz.«2

INSTRUMENTELLE LERNTHEORIE Auf der Basis des ›Anreizes‹ basieren die Überlegungen von Carl Hoveland. Sobald neue Erfahrungen oder Informationen lohnender als bisherige Einstellungen bewertet werden, lassen Nutzer*innen Änderungsprozesse zu. Hier initiieren also direkt/indirekte Belohnungen und/oder Verstärkung, die bspw. über ein Medium (Buch, Film, interaktives Spiel etc.) den Nutzer*innen angeboten werden, den Lernprozess. Dieses Kommunikationsmodell wurde zwischen den 1940er und 1960er Jahren insbesondere an der Yale Universität entwickelt und enthält einerseits beobachtbare Elemente, wie bspw. Stimuli und die (negativen oder positiven) Reaktionen auf Angebote, sowie anderseits Annahmen zu den dazwischenliegenden intrapsychischen Verarbeitungsprozessen. Um diesen Prozess der Einstellungsveränderung – und genau dieses wird als Lernprozess angesehen – zu verstehen, geht Hoveland von zwei wesentlichen Faktoren aus: Die prädisponierenden Faktoren beschreiben die individuellen Wirkungen bei unterschiedlichen Versuchspersonen zu dem jeweils gleichen Lernthema. Diese Faktoren beschreiben also die unterschiedlichen Wirkungen (bei den Probanden) bei gleichem Stimulus. Die intern mediatisierenden Faktoren steuern hingegen in jedem Individuum – unabhängig vom jeweiligen Lernthema – die Aufmerksamkeit sowie den Erfolg des Prozesses. Diese Faktoren beschreiben die persönlichen Vorlieben, Abneigungen oder personenbezogenen Kompetenzen. Die Instrumentelle Lerntheorie ist letztlich eine ›verbesserte‹ Blackbox-Theorie, die sich auf die Beobachtung von Anreiz und Wirkung konzentriert. Übertragen auf Medien führt ein ›Mehr/Anders‹ in einem Buch, Bild oder Film zu Verhaltensänderung ist möglich, aber nicht immer zwingend, sondern kann eine gewisse Weile ›vorgehalten‹ werden. 2 | Faulstich, Werner: Grundwissen Medien, 5. Auflage, Paderborn 2000, S. 18. Faulstich lehnt sich mit diesen vier Bergriffen an eine Definition von Ulrich Saxer an. Dieser schreibt: »Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen«, Saxer, Ulrich: Konstituenten einer Medienwissenschaft, in: Schanze, Helmut/Ludes, Peter (Hrsg.): Qualitative Perspektiven des Medienwandels, Opladen 1997, S. 21.

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einer Lernleistung, sofern die persönlichen Dispositionen der Nutzer*innen angemessenen beachtet werden. Das Problem bei dieser Lerntheorie besteht insbesondere darin, dass keine wesentlichen Aussagen zu der intrapsychischen Verarbeitung, zu dem Einfluss von Motiven, Vorinformationen und äußeren Einflüssen auf die Person gemacht werden. Die Art und Eigenarten der Medien wird nicht untersucht, es findet keine systematische Abwägung ihrer Einflüsse auf die Lernleistung / das Lernpotential statt. Insofern spielen Medien in den Instrumentellen Lerntheorien keine wesentliche Rolle. Trotzdem existieren medientheoretische Positionen, die sich – sei es auch Überzeugung oder aus Gründen einer epochal ähnlichen Wissenschaftsvorstellung – einer ähnlichen Logik oder Argumentation bedienen, bspw. von Max Horkheimer oder Theodor Adorno3. Hierin wird dem Individuum keine wesentliche, eigene Lernentwicklung zugetraut, sondern den kontextuellen Bedingungen – den ›Verhältnissen‹ – der Part der Veränderung zugeschoben. Auch Nobert Bolz schreibt noch im Jahr 2000: »Je weniger Status und Autorität die Glaubwürdigkeit des Wissens verbürgen, desto mehr muss die Gesellschaft auf Vertrauen setzen. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem hat sich im Internet-Zeitalter dramatisch verschärft.« 4

Er betont den passiven Teil des Lernkontextes, in dem er dem Internet auch eine grundsätzliche Inaktivitätspotential unterstellt. Er schreibt: »Man muss nicht mehr suchen, sondern wird beliefert. Spätestens hier wird deutlich, dass es im Internet nicht nur um die Suche nach Information, sondern viel mehr noch um die Lust an der Kommunikation geht.« 5

SOZIAL-KOGNITIVE LERNTHEORIE Albert Bandura entwickelt Ende der 1970er Jahren das Modell des ›reziproken Determinismus‹, in dem sich die persönlichen Faktoren, das individuelle Verhalten und die Umweltereignisse ständig gegenseitig beeinflussen. Damit werden Menschen nicht nur als fertige Produkte mit einer biologischen-me3 | Vgl. Adorno, Theodor W.: Résumé über Kulturindustrie, in: ders.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt am Main 1967, S. 60–70. 4 | Bolz, Norbert: Medienkompetenz statt Weltwissen. Fortsetzbarkeit der Kommunikation statt Realitätsgarantie. Auszüge aus: Wirklichkeit ohne Gewähr, in: Der Spiegel 26 (2000), S. 130 f., entnommen aus: Helmes, Günter/Köster, Werner: Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002, S. 326–331, hier S. 326. 5 | Ebd., S. 330–331.

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung

chanistischen Grundausstattung angesehen, die sehr geringe individuelle Unterschiede in der Interaktion mit der Umwelt zulässt, wie bspw. bei der Instrumentellen Lerntheorie. Hingegen berücksichtigt Bandura, dass Menschen – eine körperlich angelegte – Erkenntnismöglichkeit in der Umwelt besitzen, diese Erfahrung – individuell als Lernpotential – abspeichern, um es dann – als Verhaltenspotential – im richtigen Augenblick als Option für eine Handlung in der realen Welt zu verwenden. Menschen besitzen also das genetisch angelegte Potenzial, auf der Basis ihrer individuellen Erfahrungen auf die Umwelt einzuwirken. Menschen und Umwelt beeinflussen sich gegenständig und beständig, also auch vor und in einem jeden Lernprozess. Eigentlich hört der (latente und auf eine mögliche Verwendung in der Zukunft hin angelegte) Lernprozess nie auf. In einem Lernprozess wirken insbesondere mit: 1. die direkten Erfahrungen der Person mit einer Sache; 2. die Beobachtungen einer Person, wie sich bspw. andere Menschen verhalten; 3. der menschliche Wunsch, sich durch intrapsychische Modellbildung die Welt zu erklären. Die damit verbundenen Zwischenprozesse, insbesondere Symbolisierungen, erzählte Erfahrungen, Selbstregulation und Selbstreflexion, ermöglichen vor allem ein Lernen durch Stellvertretung, bspw. Eltern, Geschwister oder eben auch durch Medien. So werden bspw. Schriftzeichen gerade nicht als Tintenkleckse, als Muster oder Zufall betrachtet, sondern als absichtsvolle Verweise auf etwas Sinnstiftendes, das außerhalb des Mediums selber liegt. Beim Lesen steht nicht das Material des Mediums (Tinte, Papier) im Mittelpunkt des Interesses, sondern das, worauf verwiesen wird, das was dort beschrieben wird. Insofern ist Schrift auch kein Abbildungsmedium, sondern ermöglicht vielmehr die Erschließung von nicht unmittelbar wahrnehmbaren Denkkonstrukten. In der Medientheorie gibt es eine Reihe von Positionen, die hier relativ gut anschlussfähig sind bzw. eine ähnliche Argumentation nutzen, bspw. Walter Ongs Theorien zu Oralität und Literalität. »Das Schreiben führt Trennung und Entfremdung, aber ebenso eine höhere Einheit ein. Es beflügelt das Selbstgefühl und begünstigt eine bewusstere Interaktion zwischen Personen. Schreiben ist Bewusstseinserweiterung.« 6 6 | Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 81–86, S. 172–176 (gekürzt), entnommen aus: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Auflage 2008, München 1999, 6. Auflage 2008, S. 104.

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Ong behauptet damit, dass die Selbstbeobachtung des Lesenden beim Lesen einerseits und einer in der Geschichte selber fiktiv handelnder Person anderseits, die Erkenntnis wesentlich bestimmt. Ong führt aus, dass die Entwicklungsgeschichte der Menschen ein Prozess des ›Bewusst-Werdens‹ für das eigene innere Wesen sei. Letztendlich wären alle Menschen auf der Suche nach einer Autonomie, von der Welt und seinen Abhängigkeiten. Erst das Lesen und Schreiben ermöglicht dieses Bewusstwerdens des individuellen ›Ichs‹. Schreiben – und nicht nur das Lesen – ist damit ein soziales und ein psychisches Lernwerkzeug. Aus Sicht der Medientheorie ist an der Lerntheorie von Albert Bandura erfreulich, dass einerseits die Erschließung von unbekannten Themen mit Hilfe von bekannten und erlernten Zeichensystemen (Sprache, Schrift, Bilder) erklärbar wird und anderseits der beständige Zuwachs an Medienkompetenzen nun selber Teil des Lernmodells wird. Überhaupt basiert Banduras Theorie auf der Idee einer lebenslangen und sich selbst reflektierenden Kompetenzreproduktion der Lernenden. Schwierig bei der Sozial-Kognitiven-Lerntheorie erscheint – in Hinblick auf die Medienrealität –, dass die Faktoren ›persönliche Motivation‹, ›Interaktion mit anderen Akteuren‹, ›systemische Bedeutung von Medien‹ und die Art der ›Darstellung eines Argumentes‹ nicht ausreichend erklärt werden können.

EL ABOR ATION-LIKELIHOOD-MODELL (ELM) Richard Petty und John Cacioppo haben seit den 1980er Jahren an einem Erklärungsmodell geforscht, dass in den Denkprozessen des Individuums einen wesentlichen Auslöser von Lernprozessen erkennt. ELM geht von einer ganzen Reihe von Prämissen aus. Die im Zusammenhang mit Medien wesentlichen sind vermutlich: 1.

Menschen sind motiviert, Einstellungen zu besitzen, die mit ihrer Umwelt in Einklang stehen, bspw. gemeinsame soziale Verhaltensweisen, gemeinsame Werte, verbindliche Kommunikationsformen und -inhalte. Hier agieren Medien einerseits als Verbreiter von Ansichten in einer Gemeinschaft und anderseits als bewertende Instanzen von Verhalten (normsetzende Funktion). 2. Menschen verfügen in einer konkreten Lernsituation über höchst unterschiedliche individuelle Faktoren, bspw. körperliche Attraktivität, Kraft, Konzentrationsfähigkeit und gleichzeitig über situative Faktoren, bspw. Geduld, Motivation, psychische Belastung. Medien speichern häufig Daten sowie Situationen und können daher immer wieder zur individuellen Lernsituation oder als belastbare Quelle herangezogen werden.

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung

3. Menschliche Einstellungsänderungen / Lernprozesse sind nicht nur von der Qualität der Argumente, sondern auch von peripheren Fähigkeiten, bspw. Beeinflussung oder Aufmerksamkeit abhängig. Medien besitzen immer auch – offen oder versteckt – über Kommentarfunktionen, bspw. als Einleitungen, als Erklärungsanteile oder in Form von offenen Werturteilen. ELM geht davon aus, dass es immer unterschiedliche Wege zu einem Lernziel gibt, insbesondere durch anteilige Variation und Kombination der beiden Grundmodelle: 1.

Zentrale Route: Hierbei werden starke Argumente in einem unvoreingenommenen Verarbeitungsprozess geprüft und führen, ohne weitere persönliche Abänderungen, zu einer dauerhaften, stabilen Einstellungsänderung bei dieser Person. 2. Periphere Route: Hier kommt es bei einer nur mäßig motivierten Person, über situationsgebundene Reize mit appellativen Elementen, zu einer Einstellungsveränderung. Hier zählen dann weniger die Argumente selber, als vielmehr die ›weichen‹ Lernfaktoren, wie bspw. aktuelle Stimmung, Vorwissen, Glaubwürdigkeit des Vermittlers / der Quelle, Sympathie oder Betroffenheit. Petty und Cacioppo gehen davon aus, dass lebensweltliche Lernsituationen wiederum eine Mischung aus diesen beiden idealisierten Routen sind. Die Bedeutung dieses Modells für eine Erläuterung des Zusammenhangs von Lernen mit Medien liegt in der Berücksichtigung vieler Variablen und vor allem in der ausdrücklichen Berücksichtigung der beständigen gegenseitigen situativen Beeinflussung in einer konkreten Lernsituation. Motivation und erworbene Fähigkeiten der Lernenden werden hier besonders beachtet. Etwas unterentwickelt – zumindest aus Sicht der Medientheorie – erscheint, dass eine recht starre Fokussierung auf generalisierte Eigenschaften (Bildung, sozialer Status etc.) von Personen stattfindet. In der Gegenwart der sozialen digitalen Medien, beobachten wir zunehmend das Phänomen der ›interessierten und hochspezialisierten Laien‹. Das sind Personen mit höchst unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen, unterschiedlichen Berufen und Einkommensklassen und sehr diversen Zugängen zu Medien, die sich in sehr speziellen Themenbereichen – vor allem im Internet – zu ausgesprochenen hochspezialisierten Laien entwickeln. D. h. relativ unabhängig von ihren sonstigen Kompetenzen und Lebenschancen entwickeln diese Personen ein extremes Spezialwissen, das Professionelle – mit einem kombinierten und systematisierten Breiten- und Tiefenwissen – häufig erstaunt. Hier wird aus einem Selbstlernen nicht nur ein Ausprobieren, sondern diese Menschen werden erst durch die digitalen Massenmedi-

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en in die Lage versetzt ihre ›Spezialisierung‹ zu äußern. Zugleich erhalten sie durch die sozialen digitalen Medien wiederum verstärkende Impulse, bspw. neue Spezialinformationen, weitere Experimente, Fans oder Gegner. An dieser Stelle sei auch der Hinweis erlaubt, dass Medien den Kontext ihrer Verwendung selber erst herstellen, in dem sie dann wirken können. Dieser Aspekt (der Medien) fehlt beim ELM. Als Medientheorien auf der Basis des ELM, können insbesondere die frühen Netzwerktheorien von bspw. Jay Bolter, Pierre Levy und vielleicht auch von Marshall McLuhan betrachtet werden. Bolter schreibt: »Ein signifikantes Merkmal des elektronischen Schreibens, im und aus dem Internet ist seine Hypertextualität: seine Fähigkeit, einzelne Elemente in arbiträren Strukturen mit einander zu verbinden, sie zu verlinken und den Leser leicht von einem zum anderen Element zu führen.«7

HEURISTISCH-SYSTEMATISCHE INFORMATIONSVER ARBEITUNG (HSM) Die Heuristisch-systematischen Informationsverarbeitung (entwickelt insbesondere von Shelly Chaiken) ist – angelehnt an das ELM – ebenfalls ein Zwei-Prozess-Modell. Es fokussiert jedoch deutlich stärker auf die Haltungen und Einstellungen der Personen und öffnet damit das Modell zugleich für die lebensweltlich bedingten Microveränderung im Verhalten und den Erwartungen der Lernenden selber. Indem HSM gerade persönlichkeitszentrierte Verhaltensweisen wie bspw. Dämpfung, Verzerrung oder Kontrast im Lernprozess in das Elaboration-Likelihood-Modell einbezieht, wird es leichter auch individuelle Verhaltensweisen von Lernenden zu erklären. HSM geht – sehr verkürzt dargestellt – davon aus, dass es einerseits stark interessierte Personen gibt, die eine Botschaft systematisch und analytisch verarbeiten und anderseits weniger interessierte Personen, die nach heuristischen Entscheidungsregeln agieren, sich bspw. an Expertenmeinungen oder dem Verhalten ihres unmittelbaren Umfeldes orientieren. Besondere Beachtung finden in diesem Lernmodell die beiden Aspekte ›Involviertheit/Involvement‹ und ›Beeinflussungswissen/äußere Faktoren‹. Diese beiden zusätzlichen Aspekte beschreiben einerseits die situative und indivi-

7 | Bolter, Jay D.: Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens. Übers. von Stefan Münker, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander: Mythos Internet, Frankfurt am Main 1997, S. 42–47, entnommen aus: Helmes, Günter/Köster, Werner: Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002, S. 310–315, hier S. 310.

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung

duelle Erwartungshaltung des Lernenden und anderseits die situative Manipulation durch äußere Faktoren, die sich aber in der Person selber abbilden. Als wesentlicher Unterschied zum ELM erweist sich, dass beide Extremrouten (also das über Argumente geleitete Lernen und das situative Lernen) gleichzeitig beim Lernenden ablaufen können, sich also auch überlagern können. In der Realität des Lernens – dass ja eingebettet ist in die Alltagsbeziehungen und -handlungen des Lernenden – geschieht der Lernprozess auch nicht separiert, sondern eingebunden in Systeme, Beziehungen und gemeinsame Wert- und Erfahrungskontexte. Wo und von wem der Lernende etwas erfährt ist wesentlich für die Akzeptanz, ebenso, wie die Möglichkeit der Teilhabe. Lernen ist nicht nur ›Empfangen‹, sondern muss auch als ein Prozess der aktivierenden Veränderungen der Umwelt – also die Gestaltung – verstanden werden. Piere Levy schreibt: »Damit Kollektive Sinn teilen können, reicht es also nicht aus, daß jedes Mitglied dieselbe Botschaft empfängt. Die Rolle kollaborativer Programme besteht eben gerade darin, nicht nur Texte, sondern auch Assoziations-, Anmerkungs- und Kommentarnetze gemeinsam zu erstellen, in denen sie von denen einen oder anderen erfaßt werden können. Dadurch wird die Konstituierung des gemeinsamen Sinnes sichtbar und quasi materialisiert: die kollektive Erarbeitung eines Hypertextes.« 8

KURZES Z WISCHENFA ZIT Die bisher hier vorgestellten vier Lerntheorien legen kein besonderes Augenmerk auf die Mediennutzung von Lernenden oder die spezifischen Medieneigenarten, bspw. bildbasierte Vermittlung, Interaktionsfähigkeit des Mediums, spielbasierte Erschließung von Wissen. Medien fungieren in diesen Lerntheorien entweder als Umweltfaktoren oder als personelle Werkzeuge, aber eine eigene und eigenartige Wirkungsweise bzw. ein aktives Veränderungspotenzial wird ihnen im Forschungsdesign in den Untersuchungsfeldern nicht zugestanden. Medien sind eher ›Hilfsinstrumente‹ eines Lernenden, keine eigenen Akteure – mit vielleicht eigenen ›Interessen‹. Dass Medien explizit zum Lernen anregen können, Lernen fordern können und ein spezifisches Lernverhalten benötigen mögen, scheint bisher wenig bis gar nicht beachtet worden zu sein.

8 | Lévy, Pierre: Die Metapher des Hypertextes, in: Les Technologies de l'intelligence. L'avenir de la pensée à l'ère informatique, Paris 1990, S. 78–82, entnommen aus: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Auflage 2008, München 1999, S. 525–528, hier S. 527.

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WISSENSKLUF T Zumindest eine Perspektive, die den Zusammenhang von Bildung, Lernen, Medien und Mediennutzung thematisiert, scheint Medien deutlicher als die bisher vorgestellten Modelle zu integrieren: die Wissenskluft-Hypothese aus den 1970 Jahren. Forscher*innen der Universität von Minnesota um Philip Tichnor, George Donohue und Clarice Olien – und neuere Autoren wie bspw. Anton Saxer, Heinz Bonfadelli und Thomas Friemel – haben die zeitliche und mediale Differenz bei der Verbreitung von Informationen durch Massenmedien untersucht. Es geht bei der Wissenskluft-Theorie zunächst um die Frage, wie schnell und in welchen Medien aktuelle Nachrichten unterschiedliche Nutzer*innen erreichen. Die Hypothese lautet, dass Bevölkerungsgruppen mit höherem sozio-ökonomischen Status und höherer formaler Bildung aktuelle Nachrichten rascher erhalten und sich aneignen, als status- und bildungsniedrigere. Letztlich nähme die Wissenskluft zwischen den Gruppen tendenziell zu, da sie kumulativ wirkt. Medien funktionieren – und das muss als eine spezifische Eigenart der Medien verstanden werden – immer als ›Torwächter‹ von Information für alle Nutzer*innen. Ohne die richtigen Sprachkenntnisse, ohne die notwendigen technischen Medien und die zugehörigen Technologiekenntnisse – Technologie beschreibt die Fertigkeiten mit den Medien umzugehen – erhalten Menschen keinen Zugang zu relevantem Wissen. Damit können sie auch nicht lernen. Hierin liegt die Bedeutung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, bspw. der verpflichtende Zugang zu Schreib- und Lesefertigkeiten durch die allgemeine Unterrichtspflicht in Preußen 1717. Denn ohne Medienkompetenz bleiben die aktuellen Wissensbereiche unbekannt, ohne aktuelle Medienfertigkeiten bleibt die Reichweite beschränkt und ohne Medienzugang bleiben die Veränderungsvorschläge ohne Auswirkung. Ohne Mediennutzung und Medienkontrolle bleiben die gesellschaftlichen Verhältnisse gleich. Medien fungieren im Weiteren als ›Trendverstärker‹ von gesellschaftlicher / wirtschaftlicher / politischer Ungleichheit, in dem sie – über den privilegierten Zugang zu bestimmten Informationen – zur Verfestigung von bestehenden Machtstrukturen beitragen. Im Zuge der digitalen Medientechnologien entstehen nun neue Differenzen, die als Partizipationsklüfte oder auch ›Digital Divide‹ bezeichnet werden. Sie bestimmen maßgeblich die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben über die Zugänge zu Wissen, wirtschaftlichen Netzwerken, innovativen Themen und sozialen Entwicklungen. Damit definieren sie letztlich den Rahmen eines jeden Lernenden, über die Aktualität, Tiefe und Relevanz des verfügbaren Wissens. Das fängt bereits mit den reinen technischen Voraussetzungen an: besteht kein beständiger Internetzugang, wird eine Teilhabe an digitalen sozialen Netzwerken – als unmittelbare Verstärker für Lernhaltungen – behindert.

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung

MEDIEN UND LERNEN – SKIZ ZENHAF TE BESCHREIBUNG EINER DYNAMISCHEN BEZIEHUNG Im Folgenden soll in aller Kürze versucht werden, mit Hilfe eine eher systemund medientheoretisch bedeutsamen Positionen von Niklas Luhmann eine, der aktuellen Situation verpflichtete, Beschreibung des Lernens mit Medien zu liefern. Niklas Luhmann behauptet, dass Kommunikation unwahrscheinlich – aber nicht unmöglich – ist. »Die Unwahrscheinlichkeiten des Kommunikationsprozesses und die Art, wie sie überwunden und in Wahrscheinlichkeiten transformiert werden, regeln deshalb den Aufbau sozialer Systeme. So kann man den Prozeß der soziokulturellen Evolution begreifen als Umformung und Erweiterung der Chancen für aussichtsreiche Kommunikation, um die herum die Gesellschaft ihre sozialen Systeme bildet […]« 9

Luhmann begründet diese weitreichende Erklärung von Kommunikationssystemen (und letztlich auch ihr Entstehen und ihre beständige Umstrukturierung) mit drei Hinweisen:10 9 |  Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System. Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 25–34, entnommen aus: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Auflage 2008, München 1999, S. 55–66, hier S. 57. 10 | Originalzitat Niklas Luhmann: »Dabei stößt man sogleich auf eine Mehrzahl von Problemen, eine Mehrzahl von Hindernissen, die die Kommunikation überwinden muß, damit sie überhaupt zustandekommen kann. 1) Als erstes ist unwahrscheinlich, daß einer überhaupt versteht, was der andere meint, gegeben die Trennung und Individualisierung ihres Bewußtseins. Sinn kann nur kontextgebunden verstanden werden, und als Kontext fungiert für jeden zunächst einmal das, was sein eigenes Gedächtnis bereitstellt. 2) Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen von Empfängern. Es ist unwahrscheinlich, daß eine Kommunikation mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind. Das Problem liegt in der räumlichen und zeitlichen Extension. Das Interaktionssystem der jeweils Anwesenden garantiert in praktisch ausreichendem Maße Aufmerksamkeit für Kommunikation, und es zerbricht, wenn man erkennbar kommuniziert, daß man nicht kommunizieren will. Über die Grenzen dieses Interaktionssystems hinaus können die hier geltenden Regeln jedoch nicht erzwungen werden. Selbst wenn die Kommunikation bewegliche und zeitbeständige Träger findet, wird es daher unwahrscheinlich, daß sie Aufmerksamkeit voraussetzen kann. In anderen Situationen haben die Leute etwas anderes zu tun.

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Als erstes sei es unwahrscheinlich, dass einer überhaupt versteht, was der andere meint, also die Übersetzung der eigenen Gedanken in eine für andere verständliche Sprache. Als zweites ist es unwahrscheinlich, die Empfänger tatsächlich zu erreichen. Es ist nicht sicher, dass eine Kommunikation mehr Personen erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind, hierfür braucht es jeweils geeignete Verbreitungs- und Interaktionseinrichtungen, die in der Natur aber erst einmal nicht vorkommen. Als drittes ist es unwahrscheinlich, dass eine Kommunikation auch Erfolg hat. Selbst wenn die Mitteilung den Empfänger erreicht und dieser den Code versteht, ist damit noch nicht gesichert, dass sie auch angenommen wird, dass also eine Verhaltensänderung geschieht. Die zentrale Aussage von Luhmann ist, dass Medien als Instanzen zur Umformung von unwahrscheinlicher in wahrscheinliche Kommunikation fungieren. Damit das gelingt, haben Gemeinschaftssysteme insbesondere drei ›Einrichtungen‹ entwickelt: Sprache, Verbreitungsmedien und Kommunikationsmedien. Medien sind also eine kollektive Antwort auf die Schwierigkeiten in der interpersonellen Kommunikation. Niklas Luhmann schreibt an anderer Stelle: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« 11 Insofern wird deutlich, dass für Luhmann jeder Inhalt und jede Form des Lernens immer auf Massenmedien, bspw. Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Radio, Fernsehen, fotografische oder elektronische Kopierverfahren basiert. Massenmedien definiert er wie folgt: »Mit dem Begriff der Massenmedien sollen im Folgenden alle Einrichtungen der Gesellschaft erfasst werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. […] Entscheidend ist auf alle Fälle, daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger stattfinden kann.«12 3) Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs. Selbst wenn eine Kommunikation verstanden wird, ist damit noch nicht gesichert, daß sie auch angenommen wird. Mit kommunikativem ›Erfolg‹ meine ich, daß der Empfänger den selektiven Inhalt der Kommunikation (die Information) als Prämisse des eigenen Verhaltens übernimmt, also an die Selektion weitere Selektionen anschließt und sie dadurch in ihrer Selektivität verstärkt. Annehmen als Prämisse eigenen Verhaltens kann dabei bedeuten: Handeln nach entsprechenden Direktiven, aber auch Erleben, Denken und weitere Kognitionen, Verarbeiten unter der Voraussetzung, daß eine bestimmte Information zutrifft.« Ebd., S. 56–57. 11 | Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 4. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 9. 12 | Ebd., S. 10.

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung

Damit definiert Luhmann die technisch bedingte ›Kontaktunterbrechung‹ – das nicht-unmittelbare Kommunizieren der technischen Medien – als qualitativen Wesenszug der Massenmedien, der in der Folge dann erst einen individualisierten Zugang ermöglicht, bspw. über das eigenbestimmte Einschalten-Ausschalten von Medien, die Wiederholung zur kontrollierten Rezeption, das Anzweifeln einer Aussage und der Versuch, bestimmte Inhalte und Wertungen im inneren Monolog zu widerlegen und die Chance, Aussagen wiederum mit anderen Personen zu diskutieren. Aus Luhmanns Position müssen wir folgern, dass – im Unterschied zur direkten Ansprache eines Redners – erst die Kontaktunterbrechung der Massenmedien zu einer subjektorientierten Selbstorganisation der Information und zu einer individuellen Realitätskonstruktion führt. Erst das temporäre ›Abschalten‹ ermöglicht die intrapsychische Organisation und Verarbeitung 13. Wesentlich für die Luhmann’sche Vorstellung von Massenmedien ist der Begriff des ›Beobachtens‹. Das Individuum muss sich von der Welt partiell und gedanklich abtrennen, um genau diese Welt dann beobachten zu können. Diese Operation besitzt zwei Komponenten: 1.

Die Unterscheidung: was beobachtet wird, muss gegeneinander abgegrenzt werden, um eine Bedeutung zu erhalten. Der Sinn des Beobachtens entsteht zunächst aus dem Unterscheiden von bspw. Dingen, Handlungen, Farben, Formen. 2. Die Bezeichnung: was beobachtet und unterschieden wurde, muss handund memorierbar für die zukünftige Nutzung werden. Es braucht also wiedererkennbare und vermittelbare Kategorien. Das Feststellen einer Differenz ist die individuelle Konstruktion – auf der Basis vorhandener Kriterien und Differenzierungsmerkmale – in der auf die Beobachtung der Welt dann die Einteilung in sinnstiftende und kommunikationsgeeignete Kategorien erfolgt. Und genau damit beschreibt Luhmann 13 | Vgl. eine ähnliche Darstellung von Walter Ong: »Die tote Blume, die einst lebendige, ist das psychische Äquivalent des verbalen Textes. Paradox ist die Tatsache, daß gerade die Abgestorbenheit des Textes, seine Entfernung von der lebendigen Welt, seine strenge Beschränkung auf das Sehen es sind, die seine Fortdauer sowie die Möglichkeit seiner Wiederbelebung innerhalb eines grenzenlosen Kontextes im Leben unendlich vieler Leser garantieren«. Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 81–86, 172-176 (gekürzt), entnommen aus: Pias, Claus/ Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Auflage 2008, München 1999, hier S. 98.

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den Lernprozess an sich, eben die Einstellungsveränderung bei einer Person auf der Basis bisheriger Erfahrungen und Potentiale, die immer im Kontext der aktuellen Einbindung in die Gegenwart des Lernenden erfolgt. Er kommt dann zu der interessanten Erkenntnis, dass nur das Subjekt beobachten kann. Erst die Beobachtung löst die wesentliche Operation – Unterscheidung und Beschreibung – aus. Luhmann beschreibt – eher nebenbei als explizit – dass die ›Beobachtung‹ den Körperbezug braucht 14. Letztlich ist das ›Ich‹ als Nullpunkt jeder Rekursivität, der Grund für das Paradox, dass Kommunikation unwahrscheinlich ist, aber durch kollektive Vereinbarungen wahrscheinlich gemacht werden kann15.

FA ZIT Wenn von Natur her die Kommunikation für Menschen unwahrscheinlich ist, aber durch Systeme (bspw. Sprache, Speicher- und Übertragungsmedien sowie Bedeutungsvermittlung) über die Produktion und Weiterentwicklung von Medien wahrscheinlich gemacht werden kann, betrifft das auch und gerade das Lernen. Letztlich stellen Medien als künstliche ›Ermöglicher‹ die Voraussetzungen zur Verfügung, dass ein Lernprozess – der über die unmittelbare Erfahrung des Subjektes hinausgeht – stattfinden kann. Die Einstellungsveränderungen einer Person, basierend auf der Beobachtung der Außenwelt und seiner Differenzierung, sowie dem sich daran anschließenden interaktiven Abgleich mit der Umwelt auf Einstellungsähnlichkeit, müssen als ein mediengestütztes Lernen verstanden werden. ›Lernen‹ kann also, gerade durch die Verwendung gemeinschaftlich betriebener Medien, als ein kollaboratives Programm verstanden werden, dass gemeinschaftliche Assoziations-, Anmerkungs- und Kommentarnetze erschafft. Insofern war die Verteufelung – bei allen Hinweisen zu den Eigenarten der Technik – von digitalen Medien immer schon falsch. Solange die Nutzer*innen an einem gemeinsamen Bedeutungsnetz ›stricken‹, findet ein eingebettetes, sinnstiftendes und konstruktives Lernen mit Medien statt … und irgendwann steht das dann auch im Museum.

14 | Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 4. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 110 f. 15 | Vgl. auch in seiner eher bildwissenschaftlichen Ausprägung (die Zentralperspektive als basale Selbstkonstruktion des Betrachters im und durch das Bild) in: Panofsky, Erwin: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, in: Oberer, Hariolf/Verheyen, Egon: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1985, S. 99–126.

Beobachtung, Bedeutung, Beziehung

QUELLENVERZEICHNIS Bolter, Jay D.: Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens, übers. von Stefan Münker, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hrsg.): Mythos Internet, Frankfurt am Main 1997, S. 42–47, entnommen aus: Helmes, Günter/Köster, Werner: Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002, S. 310–315. Bolz, Norbert: Medienkompetenz statt Weltwissen. Fortsetzbarkeit der Kommunikation statt Realitätsgarantie, Auszüge aus: Wirklichkeit ohne Gewähr, in: Der Spiegel 26 (2000), S. 130 f., entnommen aus: Helmes, Günter/Köster, Werner: Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002, S. 326–331. Faulstich, Werner: Grundwissen Medien, 5. Auflage, Paderborn 2000. Lévy, Pierre: Die Metapher des Hypertextes, in: Les Technologies de l'intelligence. L'avenir de la pensée à l'ère informatique, Paris 1990, S. 78–82, entnommen aus: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/ Neitzel, Britta (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Auflage 2008, München 1999, S. 525–528. Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System. Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 25–34, entnommen aus: Pias, Claus/ Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Auflage 2008, München 1999, S. 55–66. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, 4. Auflage, Wiesbaden 2009. Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 81–86, S. 172–176 (gekürzt), entnommen aus: Pias, Claus/Vogl, Joseph/Engell, Lorenz/Fahle, Oliver/Neitzel, Britta (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Auflage 2008, München 1999, S. 95–104. Panofsky, Erwin: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, in: Oberer, Hariolf/ Verheyen, Egon: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1985, S. 99–126. Saxer, Ulrich: Konstituenten einer Medienwissenschaft, in: Schanze, Helmut/ Ludes, Peter (Hrsg.): Qualitative Perspektiven des Medienwandels, Opladen 1997. Zimbardo, Philip/Gerrig, Richard: Psychologie, 7. Auflage, Berlin/Heidelberg/ New York 1999.

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Grafik und Gedächtnis Vom Anordnen und Orientieren auf dem Papier und im Raum Annette Geiger

Was kann die Designtheorie heute zu Fragen der Pädagogik beisteuern? Gestaltungsphänomene aller Disziplinen (Produkt-, Grafik-, Modedesign, Film, Fotografie, Medien- und Raumgestaltung u. a.) greifen tief in unser Verständnis der Welt ein, sie generieren es regelrecht. Durch gestaltete Artefakte leben wir in der Welt, wir nehmen an ihr teil, wir konzipieren und denken sie durch unsere Entwürfe. Die vielen materiellen Dinge wie auch die immateriellen Ideen und Kommunikationen, Systeme und Strukturen ergeben unsere Lebenspraxis im weitesten Sinne. Sie alle wurden entworfen, insofern ist Design stets eine Art Pädagogik – wir lernen in der Welt zu sein, in dem wir Dinge gebrauchen, Ordnungen anwenden, Diskurse befolgen.1 Doch empfinden wir genau das auch als Zumutung: Lernen möchte man lieber im Hinblick auf Geist und Intellekt definieren. Güter und Waren sind hingegen verschrien als Gegenstände des Konsums oder auch der illegitimen Ablenkung und Unterhaltung. Insbesondere designten Waren stehen wir skeptisch gegenüber – spätestens seit Adornos fundamentaler Kritik an der Warenästhetik bzw. der Kulturindustrie.2 Designer3, so mag man den Diskurs der kritischen Kulturtheorie zusammenfassen, seien eben keine guten Päda1 | Der Designbegriff wurde früher meist enger gefasst und vor allem auf das Industriedesign reduziert, mittlerweile haben sich aber Definitionen durchgesetzt, die das Design in seiner übergreifenden Funktion zu verstehen suchen als die Gesamtheit der Gestaltungsleistungen des Menschen. Vgl. weiterführend Colomina, Beatriz/Wigley, Mark: Are we human? Notes on an Archeology of Design, Zürich 2017. 2 | Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 2010, darin das Kapitel: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, S. 128–176. 3 | Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in diesem Artikel die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Ge-

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gogen, weil sie die Gesellschaft durch ihr Entwerfen und Planen in einen Konsens zwängen, in Einheitlichkeit, die uns keine Kritik mehr erlaubt. Entwerfer müssen Normen und Standards verwenden, damit die Dinge funktionieren – und dies normiere und standardisiere wiederum die Benutzer der Dinge. Den Designgedanken einer Fundamentalkritik zu unterziehen ist richtig und wichtig: Man sollte stets bedenken, dass die Artefakte uns auch regieren (im Sinne von Michel Foucaults Konzept der »Gouvernementalität« 4). Das Design der Dinge ist durchaus vergleichbar mit dem Frontalunterricht, den man im Schulsystem so beharrlich als Grund allen Übels identifiziert. Auch Produkte sind eine Zumutung, wenn man sie so anwenden muss wie vorgeschrieben. Wir folgen ihren Gebrauchsanweisungen und geben damit unsere Individualität und Kreativität im Umgang mit den Dingen auf. Zwar ist man als Benutzer froh, dass sie dann reibungslos funktionieren (insbesondere bei technischen Geräten), aber man wird durch den standardisierten Gebrauch stets zum passiven User degradiert. Das ist der Preis, den wir für das Funktionieren bezahlen: Wir müssen uns von den Dingen immer auch regieren lassen. Gerade Kindern und Jugendlichen wird daher empfohlen, selbst kreativ zu sein – zu basteln, zu malen, zu musizieren usw. Spielzeug, das Vorgaben macht, gilt als pädagogisch wertlos; das eigene Schaffen und Tun hingegen als wertvoll. Nur warum schreiben wir das nur Kindern bzw. jungen Menschen zu? Warum wird nicht jeder Mensch in seinem Tun als Gestalter wahrgenommen, ganz gleich welchen Alters? Warum glauben wir überhaupt, dass Design nur etwas für Designer ist? Kritisch und kreativ zu leben, d. h. von den Dingen und ihren Diskursen, dem Wissen oder auch dem Schulunterricht »nicht so dermaßen regiert zu werden«5, bedeutet, dass man selbst gestalterisch tätig werden muss. Wir müssen aufhören, uns als passive User wahrzunehmen. Dahingehend gilt es auch den tradierten Designbegriff zu überdenken: Design bezeichnet nicht nur Dinge, die professionelle Gestalter für anonyme Nutzer als Lösung ihrer Probleme entworfen haben. Das Entwerfen sei nicht nur an eine bestimme Berufsgruppe delegiert, sondern als Tätigkeit verstanden, die wir alle ausüben. Denn ob schlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.  4 | Die Definition des Begriffs bleibt bei Foucault unscharf, »Regierung« wird durch Institutionen und Gesetze ausgeübt, aber auch durch das Wissen selbst. Gestaltete Artefakte, so würde ich daran anknüpfen, bilden das geronnene Wissen einer Gesellschaft in Form von Dingen ab. Vgl. Foucault, Michel: Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005, S. 171 f. 5 | Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 12.

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wir wollen oder nicht: Wir müssen selbst gestalten, um unseren Alltag zu ordnen und zu strukturieren. Wir entwickeln Orientierungshilfen vom Zeitplan zum Ablagesystem, von der To-Do-Liste zum Einkaufszettel. Oft werden uns dabei Strukturen vorgegeben (z. B. Terminkalender mit Uhrzeitangaben und entsprechenden Spalten), so dass wir kaum hinterfragen, was wir eigentlich tun. Aber gerade in Lernsituationen muss man auch selbst erfinderisch sein: Beim Merken und Erinnern, beim Sortieren und Gliedern gilt es herauszufinden, welche Methoden für uns individuell am besten funktionieren. Wir müssen sie selbst entwerfen – und meist hat man genau das nie gelernt. Ich möchte im Folgenden also nicht vorgegebene Lernhilfen oder Strategien des Gedächtnistrainings an sich untersuchen. Mich interessiert vielmehr welchen Anteil das eigene grafische Gestalten daran hat: Wir müssen die Papierformate, die Schreibtischoberflächen, die Tafeln und Pinnwände etc., auf denen wir arbeiten, selbst bespielen. Wir ordnen darauf Informationen an, die wir als gut strukturiert erinnern wollen. An allgemeiner Literatur über Merktechniken und Lernstrategien mangelt es heute nicht, aber mir scheint, über die grafischen Aspekte dieser Denk- und Lernprozesse wurde noch nicht viel publiziert. Doch sind es genau diese Layout-Phänomene auf dem Papier und im Raum, die es dem Lernenden ermöglichen, sich kreativ einzubringen. Wie lernen wir also durch das eigene Gestalten mit Schrift, Bild und Raum zu denken und zu wissen? Hierbei muss das Layouten als Erkenntnisprozess interessieren und nicht so sehr als ästhetisches Grafik-Design, dessen Stil man schön oder unschön finden kann. Die Grafik von vorgegebenen pädagogischen Arbeitsblättern oder der Schulbuchgestaltung im Allgemeinen sei im Folgenden nicht untersucht. Vielmehr geht es um jenen Lernprozess, der erst beginnt, wenn das Gedachte und Gelernte in eigene grafische Erzeugnisse umgesetzt wird – z. B. als Mitschrift im Unterricht oder als Exzerpt zur Vorbereitung einer Prüfung u. ä. Die grafischen Produkte fallen dabei so individuell aus wie die unterschiedlichen Lerntechniken eines jeden. Was könnte man davon also verallgemeinern für eine Pädagogik, die lehrt »nicht so dermaßen regiert zu werden« von den vorgegebenen Formaten des Unterrichts? Bei dieser Didaktik bildet der Anteil des eigenen Tuns die zentrale Herausforderung. Es geht um eine »Kunst des Handelns« im Sinne von Michel De Certeau6, um eine Aneignung, die praktisch erfahren werden muss. Die subjektive Wahrnehmung und entsprechend rezeptionsästhetische Phänomene rücken somit in den Mittelpunkt. Diese müssen mit dem Lehrinhalt nicht unbedingt konform gehen, sie können ihm auch widersprechen, ihn zersetzen und karikieren. So interessiert sich De Certeau auch für das, was Kinder an die

6 | Vgl. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988.

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Ränder ihrer Schulbücher kritzeln. Sie machen sich die Bücher zu Eigen durch das Markieren und Kommentieren, das selber Sortieren und Umgestalten von pädagogischem Material – und das sind wichtige grafische Prozesse, die auf kreativer Eigenleistung beruhen. Diese Prämissen werfen auch ein anderes Licht auf die aktuelle Diskussion um den Einsatz des Computers bzw. digitaler Geräte im Unterricht. Gerade hier wird viel zu wenig reflektiert, was die Grafik beim Lernen überhaupt bedeutet: Wir meinen, es sei Ziel des grafischen Gestaltens, möglichst ordentliche Manuskripte bzw. sauber sortierte Hausaufgaben hervorzubringen. Dann wäre die papierlose Schule tatsächlich die geeignetere. Niemand kann per Hand so präzise gestalten wie ein Layout-Programm. Doch bedeutet Aneignung beim Lernen gerade kein vorgegebenes Programm zu benutzen. Es mag nach einem Paradox klingen, aber: Erst die Unschärfen der Handschrift, das Kritzeln des Stifts, die Vielfalt der Möglichkeiten auf analogem Papier, ermöglichen uns, es selbst zu tun. Die Frage nach dem Erlernen von Schreibschriften sei daher nicht auf die Grundschule reduziert, Menschen allen Alters brauchen Stift und Schrift beim Lernen und Merken, um überhaupt ordnen und gestalten zu können. Wir müssen also differenzieren zwischen einem Grafikdesign, das die Auf bereitung von Information für andere zu gestalten sucht (hier mag der Computer der bessere Gestalter sein) und jenen Lern- und Gedächtnisprozessen, die wir im Sinne von De Certeau durch subjektive Aneignung bzw. durch sehr eigenwillige Darstellungsmethoden besser eigenhändig unternehmen sollten. Der Wert des Analogen liegt also nicht nur darin, dass die Feinmotorik trainiert wird, dass die Haptik geschult und damit Sinne angeregt werden. Schreiben, so möchte zeigen, bedeutet im Alltag allem voran Layouten. Ich meine damit natürlich nicht lange, linearen Fließtexte, die in einem Textverarbeitungsprogramm sicher besser aufgehoben sind, sondern jene Tätigkeit, Inhalte beim Lernen zu sortieren und zu strukturieren, um unser Gedächtnis zu unterstützen. Die Notizen und Manuskripte müssen auf Papierformaten und Flächen und aller Art als komplexe visuelle Anordnungen angefertigt werden.

GR AFIK ALS MNEMOTECHNIK Betrachten wir zunächst die allgemeine Funktion des Grafischen für das Ordnen und Erinnern komplexer Inhalte. Gerade im Privaten und Alltäglichen sind wir darauf stark angewiesen. So besitzen Menschen, die viel lesen, meist viele Bücher und stoßen unweigerlich auf das Problem, wie sie diese in einer häuslichen Bibliothek auf bewahren sollen: Wie ordnet man sie an, damit

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man bestimmte Themen und Inhalte wiederfindet?7 Die private Bibliothek ist ja nicht digitalisiert, wir haben keine Signaturen und Schlagwortsysteme, die uns das Suchen und Finden erleichtern. Eine thematische Ordnung der Bücher, wie man sie in Ratgebern oft empfohlen findet, würde mich im Zeitalter der Interdisziplinarität vor unlösbare Ordnungsprobleme stellen: Die Themen überschneiden sich ja alle. Klare Zuordnungen sind im Zeitalter des permanenten Verlinkens kaum mehr möglich. Ich wende daher für die private Bibliothek eine visuelle Mnemotechnik an: Häufig weiß ich ungefähr, wonach ich suche – ein Zitat, ein Gedanke, den ich einmal gelesen habe – aber Autor und Buchtitel sind mir entfallen. Also suche ich nach dem Layout des Buches, ich erinnere mich oft länger daran, wie ein Buch aussah, d. h. wie es anschaulich grafisch gestaltet war, als an abstrakte Namen oder Daten. Die Logos und Reihenlayouts der Verlage, die Cover-Abbildung und auch die Schrift, behalte ich meist besser im Gedächtnis als z. B. den genauen Titel. Visuell gestaltete Elemente, insbesondere Bild- und Text-Verbindungen bilden gute Eselsbrücken, weil sie analog und anschaulich denken und nicht digital und abstrakt codiert. Für mich ist es also selbstverständlich geworden, meine private Bibliothek nach den Cover-Gestaltungen der Reihen und Verlage zu sortieren. Die grafische Gestaltung der Bücher trainiert mein Gedächtnis. E-Book-Reader, die allen gespeicherten Büchern dasselbe Aussehen diktieren, weil sie aus Kostengründen möglichst ohne Gestaltung auszukommen suchen, würden diese Fähigkeit des grafischen Erinnerns unterbinden. Daraus sollte man aber nicht folgern, dass es keinesfalls auf Bildschirmen zu lesen gilt. Das Medium scheint mir nicht so entscheidend, sondern die Frage, ob das, was wir lesen, auch visuell gestaltet ist, ob es ein Aussehen, oder, wenn man so will, Gesicht und Charakter hat, so dass man sich daran erinnern kann. Die Kraft unseres visuellen Gedächtnisses ist an Zeichen und Bilder gebunden – und vor allem an deren grafische Anordnung und Ausgestaltung. Darauf baute schon die Kunst der Mnemotechnik von der Antike bis in die Frühe Neuzeit: Man heftet z. B. in der sogenannten Loci-Methode die zu erinnernden Fakten oder Argumente imaginär an die Treppenstufen oder Säulen einer vertrauten Architektur und schreitet diese beim Erinnern in Gedanken ab – durchaus visuell, aber eben nicht materiell. Man arbeitet mit vertrauten Räumen und Bildern, die man sich gut einprägen kann, um durch das scheinbar leibliche Begehen der Architekturen, z. B. Bildergalerien, Parks oder gar eines ganzen »Gedächtnispalasts«, auch die Rei7 | Vgl. dazu Gottwald, Christian: Das Buch als Fluch, in: Süddeutsche Zeitung Magazin 21, 26.05.2011, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/dasbuch-als-fluch-78184 [27.04.2019].

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henfolge der Gedanken zu strukturieren. In der Gedächtniskunst werden also Begriffe bzw. Inhalte mit Bildern bzw. Orten verknüpft, um das zu Lernende visuell zu verankern.

Abbildung 1 (links): Raimundus Lullus: liber de ascensu et descensu intellectus, 1305, Ausgabe 1512.

Abbildung 2 (rechts): Robert Fludd: Mnemonisches Alphabet, 1619. Gedachtes wird mit Gesehenem verknüpft – und damit trifft man das Wesen des Grafischen an sich: Grafikdesign ist nichts anderes als die Tätigkeit, gedankliche Zusammenhänge mittels Schrift und Bild, d. h. in »Schriftbildern«, also Layouts, visuell darzustellen bzw. vermittelbar zu machen. Grafik ist piktogrammatisch dahingehend, dass jedes Zeichensystem, selbst unsere Buchstaben und Alphabete, immer auch auf Bildern beruhen. Im Graphem, der kleinsten Einheit jeder Schrift, sind Bild und Text noch eins. Ebenso sind Piktogramme zwar vornehmlich Bilder (weil sie ja keinen Text aufweisen), sie müssen aber als Konvention bzw. als Grammatik immer erst gelernt werden, um zu funktionieren – so wie Sprache und Schrift auch. Es gilt den unsichtbaren Subtext zu erkennen, der sich hinter dem Bild verbirgt, sonst versteht man das Zeichen nicht. Auch unser Gedächtnis funktioniert nicht nur über Begriffe allein, sondern auch eidetisch bzw. ikonisch über Bilder. Mancher spricht sogar von einem

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»fotografischen Gedächtnis« – wobei dies nicht aufnahmetechnisch im Sinne der Fotografie, sondern als erinnerbare grafische Sortierung zu verstehen ist. Die alten Rhetoriklehren wussten dies noch gezielt einzusetzen, obwohl die technischen Medien dazu noch fehlten. Warum haben wir heute, im Zeitalter der smarten Medientechnologien und ihrer Bilderfluten, so vieles von dieser Gedächtniskunst vergessen? Mir scheint, wir haben vor allem die Einfachheit des Verfahrens verlernt: Wir wissen vor lauter Digitalisierung nicht mehr, wie man grafisch analog arbeitet und denkt. Dabei sind gerade Schüler und Studenten auf diese handschriftliche Lerntechnik angewiesen: Vor Prüfungen und Referaten werden Manuskripte und Spickzettel angefertigt, um auf engstem Raum das unter zu bringen, was man sich unbedingt merken muss. Solche Konzentrate des eigenen Denkens sehen oft wirr aus, bzw. sie sind häufig unverständlich für Außenstehende.Doch um die Ordentlichkeit geht es in dieser grafischen Lerntechnik nicht, es gilt vielmehr die umfassenden Inhalte in verkürzenden Stichworten und Formeln, Tabellen und Diagrammen, Symbolen und Piktogrammen sowie Abstraktionen aller Art anzuordnen. Es gibt möglichst keinen Fließtext mehr, sondern nur noch bildliche Verweise, die wiederum in einer grafischen Ordnung aus Headlines, Unterstreichungen, Einzügen usw. sortiert werden.

Abbildung 3: Beispiele von Mitschriften aus Studium und Schule. Der Stoff muss auch auf möglichst knapp gehaltener Fläche untergebracht werden, das ist eine komplexe gestalterische Leistung. Man hat nicht nur grafische Platzhalter zu entwickeln, sondern auch eine Logik der Anordnung. Idealerweise fertigen Schüler und Studenten diese Spickzettel und Redemanuskripte nur als Vorbereitung an und behalten die dargestellten Inhalte anschließend wie »abfotografiert« im Kopf. Damit wird der gesamte Zettel zum Bild. Erst wenn

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das komplexe Wissen von der linearen Sprache in eine grafische Ordnung gebracht ist, kann das Gedächtnis ankern – so die Logik dieser Lerntechnik.

Abbildung 4: Bill Gates und Steve Jobs bei der Präsentation, 2007. Von der individuellen Wissens-Aneignung durch die Entwicklung einer eigenen grafischen Sprache hin zur professionellen Gestaltung ist der Weg letztlich nicht weit: Die Kunst, für Präsentationen gelungen reduzierte Bild-Text-Kombinationen zu entwerfen, zählt natürlich auch in der hochdigitalisierten Arbeitswelt. Gestaltete Beamer-Präsentationen verfahren letztlich nach denselben Gesetzen, nun allerdings objektiver gehalten und für jeden verständlich. Die Konzentration der Themen und Inhalte auf möglichst wenige Begriffe, Grafiken und Icons könnte hier nicht rigoroser ausfallen – wenn es denn gut gestaltet ist. Denn selbst den Führungskräften der digitalen Kommunikation können hierbei Fehler unterlaufen. Die Fotos von Bill Gates und Steve Jobs bei der Präsentation ihrer jeweils neuesten Geräte sind zwar schon etwas älter, aber sie zeigen just das Problem: Bill Gates steht vor einer regelrechten Bild- und Textwüste, einem Wimmelbild, das es dem Zuhörer gänzlich unmöglich macht, dem Sprecher zu folgen, während er die Charts betrachtet. So viel Multitasking beherrschen wir einfach nicht. Steve Jobs hingegen hat seine visuellen Spickzettel perfekt gestaltet. Es gibt pro Chart nur wenige Icons und wenige Begriffe, piktogrammatische Schlaglichter also, die wir sofort erfassen können. Solche Transferleistungen vom Thema zum Zeichen auch ästhetisch

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ansprechend zu gestalten, erfordert natürlich professionelle Entwerfer. Aber aus dem Prinzip an sich können wir alle eine Lehre ziehen – gerade für unser alltägliches Lern- und Gedächtnistraining.

GUTE UND SCHLECHTE GESTALTUNG DER GEDÄCHTNISKUNST Im heutigen Zeitalter der Digitalisierung stellen die neuen Medien natürlich eine besondere Herausforderung für die grafisch unterstützte Mnemotechnik dar. Wir müssen dabei bildlich und räumlich denken in Flächen und Anordnungen, doch wie kann dies gelingen auf kleinen Bildschirmen wie dem eines Smartphones oder gar einer Smartwatch? Mir scheint, die heutigen Technologien kommen der Gedächtniskunst bislang nicht sonderlich entgegen. Dies zeigt insbesondere der Vergleich mit den analogen Methoden. So nehme man z. B. das alltägliche Beispiel eines handgeschriebenen Einkaufszettels: Hierfür eigene Icons und Piktogramme zu entwerfen, wäre sicher zu viel des Guten, für den Hausgebrauch reicht natürlich eine Liste an Begriffen. Es soll ja schnell und einfach gehen. Doch wie ordnet man die Liste auf dem Zettel eigentlich an? Auch das ist ein grafisches Verfahren: Kaum jemand würde einfach alle Begriffe nebeneinander schreiben in eine lange Kette an Wörtern. Eine solche Reihung wäre unübersichtlich und daher verwirrend. Man müsste beim Einkaufen einen Stift zur Hand nehmen und jeweils wegstreichen, was man schon in den Korb gelegt hat. Es ist zu vermuten, dass die meisten Menschen logisch angeordnete Blöcke oder Tabellen entwickeln, z. B. nach Produktgruppen oder Geschäften sortiert, die es zu erinnern gilt. In der Regel werden die Begriffe dabei einzeln untereinander gereiht und nicht nebeneinander. Unser Auge ist gewohnt daran, solche Blöcke mit einem Blick zu erfassen und abzuspeichern. Heute werden aber auch unzählige Apps angeboten, die den allzu altmodisch wirkenden Einkaufszettel zu ersetzen suchen. Die Apps bieten dabei meist bild- bzw. piktogramm-gestützte Strategien an, die uns durch das Visualisieren der Produkte entgegenkommen sollen. Das klingt verlockend, doch wie wirksam kann dies sein, wenn das Anordnen automatisch in einem digitalen bzw. vorgegebenen und nicht in einem analogen bzw. selbst erstellen Layout vorgenommen wird?

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Abbildung 5: Einkaufs-App »myshopi.de«. Eine beliebte Einkaufs-App wie z. B. »MyShopi« (Abb. 5) kann zwar sehr einfach bedient werden, indem man keine Wörter schreiben bzw. tippen muss, sondern einfach auf ein Bild klickt (die Bilderliste ist beliebig erweiterbar, damit man auch neue Produkte aufnehmen kann, die man z. B. im Laden abfotografiert). Allerdings bietet der übliche Bildschirm eines Mobiltelefons wenig Platz, die App sortiert folglich alle Piktogramme in eine Reihe ohne grafische Hierarchie und Ordnung. Dem Benutzer wird das Layout vorgegeben, er kann keine Blöcke und Tabellen bilden wie auf einem analogen Einkaufszettel – und daher kann das visuelle Gedächtnis nicht fotografisch arbeiten. Es gibt keine Gliederung von Bildern, sondern nur eine gleichförmige Reihung, so wie bei einem Einkaufzettel, der nur aus einer Schlange aus Begriffen bestünde. Der passive User wird hier also von der Technologie abhängig, da er sich nicht mitdenkend einbringen kann. Die Tugenden der Gedächtniskunst hingegen können nur zur Wirkung kommen, wenn wir die gestaltbare Fläche eigenhändig mit einer persönlichen Ordnung füllen – ob das auf einem Zettel geschieht oder auf einem Bildschirm wäre vermutlich gleich, es geht allem voran um die grafischen Spielräume beim Anordnen, die uns solche Formate bieten müssen. Doch auch wenn viel Platz zum handschriftlichen Anordnen vorhanden ist, erfordert es eine Kunst des Handelns und Ordnens, um die Möglichkeiten ge-

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lungen zu nutzen. Gerade bei großen Formaten neigt man oft dazu, die zur Verfügung stehenden Flächen wieder ohne Sortierung zu bespielen, als Wimmelbild sozusagen. Eine meines Erachtens völlig überschätzte Technik des grafischen Strukturierens – wie eigenhändig auch immer angelegt – bildet z. B. die Mindmap: Nicht alles, was nach grafischem Denken aussieht, ist auch grafisch sinnvoll gestaltet. Mindmaps oder ganze Wände mit Post-it-Zetteln, die sich im heutigen Arbeitsleben großer Beliebtheit erfreuen, stellen gerade aus der Sicht des Anordnens eine zu große Herausforderung dar. Am Ende regiert nicht die gestaltete Ordnung, sondern das vermeintlich kreative Chaos. Im Rahmen von Teamarbeit werden diese Tools z. B. eingesetzt, um das freie Assoziieren anzuregen. Brainstorming wird als bewusst unhierarchisches Denken verstanden, damit sich die Ideen möglichst spontan und unkontrolliert entwickeln können. An dem Prinzip selbst sei hier keine Kritik geübt – aber warum muss man die Ergebnisse anschließend in einem Wirrwarr grafisch nicht nachvollziehbarer Bezüge abbilden? Was nützt hier die visuelle Übersetzung, wenn diese nur darin besteht, Schlagwörter ausufernd auf den Tafeln, Pinnwänden und Flipcharts von Büro- und Seminar-Räumen zu verteilen – bis man alles gleichermaßen aus dem Blick verloren hat?

Abbildung 6: Beispielhafte Mindmaps.

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Solche Begriffs-Netze und Zettel-Wüsten kann man eidetisch nicht erfassen, aus meiner Sicht ergibt daher auch das grafische Anordnen keinen Sinn. Die Grafik entspricht ja nicht einem Erkenntnisprozess, sie stellt keine Ordnung her, sie bildet keine Gedanken ab, sondern etabliert eine Anti-Ordnung, ohne Maßstab und Perspektive. Mindmaps, so möchte ich einmal polemisch behaupten, bringen Begriffe vorschnell in Beziehung – und verhindern damit, dass noch weitergedacht wird. Sie scheinen Zeit zu sparen, weil sie alles direkt notieren, als reines Sammelsurium, das nur eine einzige Ebene kennt: das Netz. Vielfältig verzweigte Verlinkungen überschauen wir aber nicht, wir verlieren uns darin. Schlecht konzipierte Grafik kann somit das Denken auch verhindern, gerade wenn sie aus zeit-ökonomischen Gründen, das Verstehen und Durchdringen nur simuliert und nicht vollzieht. Das Brainstormen und freie Assoziieren ist meines Erachtens in der Sprache besser aufgehoben als in der Grafik. Das Reden scheint hier die geeignetere Technik, denn unfertige Ideen und Ansätze, die für Innovationsprozesse so wichtig sind, müssen buchstäblich erst »zur Sprache gebracht« werden. Nichts anderes meinte schon Heinrich von Kleist in seinem viel zitierten Essay »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« von 1805: »Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. [...] Der Franzose sagt, l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l’idee vient en parlant.« 8

Es besteht also ein Unterschied, ob man in einem kreativen Prozess neue Ideen sucht – dann sollte man zunächst keine grafische Gestaltung einsetzen. Autoritäre Hierarchie und Ordnung, konzentrierte und reduzierte Icons und Diagramme oder andere Zeichen und Muster würden das Denken schon zu stark dominieren, es wäre nicht mehr frei. Lernprozesse hingegen, in denen es gilt, gut durchdrungenes Wissen zu erfassen und zu merken, können über das grafische Gestalten unterstützt und gefestigt werden. Das Layout konzentriert in diesem Fall fertige Gedanken auf höchst ökonomische Weise. Gute Grafik bezeugt somit, dass wir den Stoff durchdrungen haben. Wir haben durch den Anschauungsprozess gelernt, den Inhalt zu verstehen. Dies lässt sich durchaus auch mit wissenschaftlichen Studien belegen: An der amerikanischen Princeton University untersuchten Psychologen, was und wie viel 8 | Von Kleist, Heinrich: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, 1805, in: spiegel online, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-589/1 [27.04.2019].

Grafik und Gedächtnis

Studenten lernen bzw. behalten, wenn sie in einer Vorlesung mitschreiben. Gruppe 1 benutzte dabei den Laptop und Gruppe 2 arbeitete handschriftlich auf Papier. Das Ergebnis der Studie von Pam Mueller und Daniel Oppenheimer aus den Jahr 2014 war eindeutig9: Die Studierenden, die mit der Hand geschrieben hatten, schnitten mit ihrem Wissensstand signifikant besser ab. Beim reinen Faktenwissen waren die beiden Gruppen noch ähnlich gut, aber vor allem beim Verstehen und Durchdringen war der Unterschied groß. Wer per Hand schreibt, muss mehr nachdenken, denn es müssen unzählige Entscheidungen getroffen werden, wie man das Gehörte auf dem Papier abbildet und anordnet. Eine komplexe Mitschrift wie die oben gezeigte (Abb. 3) erfordert ein grafisches Können, das sich auf dem Computer nicht einfach mit ein paar Klicks bewerkstelligen lässt. Selbst Grafikdesigner, die ihre Layout-Programme gut beherrschen, würden hierfür viel Zeit brauchen, während des Mitschreibens in einer Vorlesung schafft man das mit dem Computer nicht. Aber per Hand mit Stift und Papier lässt sich ein Manuskript leicht gliedern und ordnen, mit Abkürzungen und Verweisen füllen, die oft nur für den nachvollziehbar sind, der sie entworfen hat. Auch das verweist uns wieder auf die Kunst des Handelns als eine höchst subjektive, eigenständige Tätigkeit. Die Kunst, Mitschriften als Schaubilder des Wissens und Verstehens anzulegen, wäre somit ernsthaft bedroht, wenn wir im Alltag den Stift aus der Hand legen würden, um nur noch zu tippen und zu klicken.

FA ZIT: ANALOG ODER DIGITAL? Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Beobachtungen nun für die Pädagogik ziehen? Mir scheint, es gilt vor allem die Vor- und Nachteile des Analogen und Digitalen differenzierter zu bedenken. Es kann nicht darum gehen, bestimmte Geräte und Technologien grundsätzlich zu verteufeln. Wir möchten im Alltag schließlich nicht ohne die digitalen Helfer auskommen, daher muss es eine Schulung zum medienkompetenten Umgang mit ihnen geben. Die Grenzen, über die es in Bezug auf die neuen Technologien aufzuklären gilt, betreffen aber nicht nur die Nutzungsdauer (bis hin zur Spielsucht u. ä.), vielmehr müssen wir verstehen lernen, welche kognitiven Leistungen, welche Wahrnehmungen und Erlebnisweisen durch digitale Anwendungen sinnvoll unterstützt werden können und welche nicht.

9 | Vgl. Mueller, Pam A./Oppenheimer, Daniel M.: The Pen ist Mightier Than the Keyboard. Advantages of Longhand Over Laptop Note Taking, in: Psychological Scienes 25, 6, 2014, S. 1159–1168, https://doi.org/10.1177/0956797614524581

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Der Grafikdesigner Otl Aicher (1922–1991) hat darauf, lange vor der Digitalisierung, eine bis heute aktuelle Antwort gegeben. Als Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm interessierten ihn natürlich auch pädagogische Fragen, nicht nur im Hinblick auf die Designausbildung, sondern auch in Bezug auf das Denken und Wahrnehmen des Menschen an sich. In seinem Essay »analog und digital« von 1978 arbeitete er z. B. aus, wie sich Technologien auf die Sinne des Menschen auswirken und somit auch sein Verständnis von Welt prägen.10 Damals, als die neuen Technologien noch nicht den Alltag durchdrungen hatten, meinte Aicher mit den Begriffen »analog« und »digital« nicht die uns bekannten Gerätesorten, sondern zwei Logiken der Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen. Gerade diese Abstraktion macht den Essay bis heute lesenswert: Die digitale Logik setzt Aicher im Sinne der obigen Differenzierung einem technischen Code gleich, dem der User folgsam zu gehorchen hat. Der Nutzer kann seine eigene Sprache und Wahrnehmungsweise nicht einbringen, er kann nicht mitgestalten was geschieht. Die analoge Logik hingegen entspricht der sinnlich-ästhetischen Blickweise eines tätig Handelnden, der Rezipient ist dabei immer auch Gestalter. Die digitale Logik erläutert Aicher am Beispiel des folgenden Technologieeinsatzes: Er imaginiert einen Autofahrer, dem die Augen verbunden werden, so dass er alle Koordinaten als technische Codes empfangen und befolgen muss, um fahren zu können. So Aicher (in der für ihn typischen Kleinschreibung): »sein weg wird nur durch einen beisitzer programmiert, das heißt in worten mit größen von dingen, winkeln und geschwindigkeiten angegeben. sobald ihm das bezugsfeld entzogen wird, ist er hilflos.«11

Die fehlende Übersicht degradiert ihn zum Nutzer einer ihm fremden Sehweise bzw. Weltsicht. Er darf keine eigenen Kenntnisse und Erkenntnisse einbringen, er befolgt einen Code, der seinen eigenen Sinnen nicht entspricht. Bemerkenswert an diesem Vergleich ist natürlich, dass Aicher 1978 noch keine Navigationssysteme gekannt haben konnte, an die wir heute unweigerlich denken. Die analoge Denkweise hingegen beschreibt Aicher als die Fähigkeit, sich z. B. mit Hilfe einer Landkarte selbsttätig ein Bild der Umgebung zu machen. So fährt er an obiger Stelle fort:

10 | Vgl. Aicher, Otl: analog und digital, Berlin 1991, siehe darin das gleichnamige Kapitel S. 45–52. Die von Aicher bevorzugte Kleinschreibung aller Wörter wird hier beibehalten, er empfand sie als weniger hierarchisch. 11 | Ebd., S. 46.

Grafik und Gedächtnis »napoleon hätte nie seine schlachten gewonnen, wenn er nicht von einem hügel aus die lage als bezugsfeld erfasst hätte. diese art des denkens setzt eine qualitative aufnahme von realität voraus. qualität ist nur ein anderes wort für verhältnis, analogie. wo es verhältnisse gibt, gibt es den vergleich, die wertung, die qualität. die digitale erkenntnis ist sehr wohl präziser, dafür aber ohne wertung.«12

Der Unterschied beider Logiken liegt also in der ästhetischen Selbstermöglichung aus der Sicht des Wahrnehmenden: Für unsere Sinne sind Zahlen grafisch neutral. Wir können uns gegenüber diesen Daten nicht sinnlich wertend einbringen. Man müsste sie immer erst veranschaulichen – z. B. in Bildern bzw. Analogien. So wurde die Landkarte analog zu unserer Wahrnehmung gestaltet, auch wenn sie dabei einen Standort imaginiert, den wir nicht einnehmen können – als Blick aus dem Weltraum bzw. als göttliches Auge. Aber die Karte, wie illusionistisch und fiktional auch immer, ahmt unser Sehen nach, sie übersetzt die Daten nicht in eine uns fremde Codierung. So Aicher: »analoge kommunikation schafft einsichten, weil sie mit der sinnlichen wahrnehmung gekoppelt ist, vor allem mit dem sehen. ihre wissenschaftliche dimension ist die geometrie, die mathematik der lagen, im gegensatz zur mathematik der größen. es gibt eine enge koppelung von visueller wahrnehmung und denken, eben das analoge sehen.«13

Aicher behauptet somit nicht, dass die Karte frei sei von Technik und Berechnung. Aber aus der Sicht des Rezipienten ergibt sich in der Anwendung ein entscheidender Unterschied: Die Gestaltung der Karte erlaubt, dass wir uns in diese Darstellungstechnik hineinprojizieren und nicht umgekehrt, dass sich die Sprache der Technik auf uns projiziert. Wer selber auf die Karte sieht, so Aicher, vermag eine Reise zu machen. Er kann vom Weg abweichen, sich alternative Routen aussuchen und damit zum Entdecker werden. Er erhebt sich vom passiven User zum aktiven Akteur. Eine solche Reise muss auch jeder Lernende machen, wenn er das Wissen durchdringt, das er sich merken will – und sei es auch nur der tägliche Einkauf, bei dem man nichts vergessen will. Wer lernt und denkt, ist dabei nicht nur ideell, sondern immer auch grafisch gestalterisch tätig. Digitale Technologien können uns dabei nur helfen, wenn sie die gleichen Vorzüge bieten, wie Stift und Papier. Warum sollte das nicht möglich sein? Wir müssen nur lernen, die Technik besser zu gestalten, nämlich analog zu unseren Sinnen und ihrem grafischen Denken.

12 | Ebd., S. 46. 13 | Ebd., S. 45.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Raimundus Lullus: liber de ascensu et descensu intellectus, 1305, Ausgabe 1512, https://ca.wikipedia.org/wiki/Llibre_de_l%27ascens_i_descens _de_l%27intel·lecte#/media/File:Die_Leiter_des_Auf-_und_Abstiegs.jpg. Abbildung 2: Robert Fludd: Mnemonisches Alphabet, 1619, https://de.wiki pedia.org/wiki/Mnemotechnik#/media/File:Fotothek_df_tg_0006517_ Theosophie_%5E_Philosophie_%5E _Judentum_%5E _Kabbala_%5E _ Mnemotechnik_%5E_Alphabet.jpg. Abbildung 3: Beispiele von Mitschriften aus Studium und Schule, https://stura. uni-leipzig.de/atom/427, https://mitschriften9c.files.wordpress.com/2011/ 09/20110910-102247.jpg. Abbildung 4: Bill Gates und Steve Jobs bei der Präsentation, 2007, https:// www.getmura.com/blog/how-storytelling-soft-skills-can-create-better-userexperiences-in-technical-careers/, https://www.davidtan.org/comparingsteve-jobs-and-bill-gates-presentations-style/. Abbildung 5: Einkaufs-App »myshopi.de«, https://myshopi.de.uptodown.com/ android. Abbildung 6: Beispielhafte Mindmaps (aus dem gleichnamigen Wikipedia-Artikel), https://en.wikipedia.org/wiki/Mind_map.

QUELLENVERZEICHNIS Aicher, Otl: analog und digital, Berlin 1991. Colomina, Beatriz/Wigley, Mark: Are we human? Notes on an Archeology of Design, Zürich 2017. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin 1992. Foucault, Michel: Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005. Gottwald, Christian: Das Buch als Fluch, in: Süddeutsche Zeitung Magazin 21, 26.05.2011, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/ das-buch-als-fluch-78184 [27.04.2019]. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Auf klärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 2010. Von Kleist, Heinrich: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, 1805, in: spiegel online, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-589/1 [27.04.2019]. Mueller, Pam A./Oppenheimer, Daniel M.: The Pen ist Mightier Than the Keyboard. Advantages of Longhand Over Laptop Note Taking, in: Psychological Scienes 25, 6, 2014, S. 1159–1168, https://doi.org/10.1177/0956797614524581.

Die Lernwelt der Hochschule der Medien Flexibilität und Vielfalt unterstützen Studierende in der Lernorganisation Alexandra Becker

Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse erfordern neue Strukturen von Bildung. Unter der Perspektive des Lebenslangen Lernens werden in Zukunft nicht nur traditionelle Lehr-Lern-Settings, wie sie sich in Kursen und Seminaren finden, eine Rolle spielen, sondern in zunehmenden Maßen auch Selbstlernareale, die als multioptionale Lernarrangements flexibel genutzt werden können. Der folgende Beitrag wirft unter der Perspektive der Lernenden einen Blick auf relevante Faktoren der Gestaltung solcher Areale. Auf der Grundlage der Forschung in der »Lernwelt« der Hochschule der Medien Stuttgart können Aussagen über Nutzungsstrukturen gemacht werden, die für die Gestaltung von Relevanz sind.

RELE VANZ VON SELBSTLERNARE ALEN In einem Selbstlernareal ist die Perspektive der Lernenden der zentrale Faktor. Ohne Lehrende kann allein oder in Kleingruppen, mit oder ohne digitale Unterstützung, aktive Aneignung durch Interaktion, Kommunikation, wie auch durch Rezeption stattfinden. All diese Zugänge können von Selbstlernarealen unterstützt werden. Dies kommt dem zunehmenden Bedarf nach sozial kompetenten Teamplayern, wie dies Casner-Lotto und Barrington 20061 mit dem Hinweis auf die ›21st Century Skills‹ darlegen, entgegen und wird durch die verstärkte Projektarbeit in der Lehre unterstützt. Die Sozialform des Lernens in Kleingruppen gewinnt dadurch an Bedeutung. Hinzu kommt, dass sich in 1 | Casner-Lotto, Jill/Barrington, Linda: Are They Really Ready to Work? Employers’ Perspectives on the Basic Knowledge and Applied Skills of New Entrants to the 21st Century U.S. Workforce, United States 2006, S. 11.

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der Didaktik ein Paradigmenwechsel »vom Lehren zum Lernen« abzeichnet.2 Die Herausforderungen der Digitalisierung, steigender Mobilität und Heterogenität der Studierenden erfordern neue Perspektiven auf Lehr-/Lernsetting und die Lernorganisation. Selbstlernareale werden dabei eine wichtige Funktion einnehmen.

HINWENDUNG ZUR ANEIGNUNGSPÄDAGOGIK Hinter dem didaktischen »Shift from Teaching to Learning«3 vermutete Arnold schon vor über 20 Jahren einen Paradigmenwechsel: Die zukünftige Trias heiße nicht mehr »Lehre-Vermittlung-Führung“, sondern »Lernen-Aneignung-Selbsttätigkeit«. 4 Didaktik würde also nicht mehr als Planungs- und Interventionstheorie verstanden werden, sondern als eine Situations-, Handlungs- und Orientierungstheorie.5 Dieses Verständnis von Lernen legt den Aktivitätsfokus auf die Lernenden. Einen anderen Fokus zeigen Erpenbeck und Sauter auf. Sie propagieren als Ansatz das »authentische Lernen […] Die Lernsituationen sollen sich danach möglichst nahe an ›echten‹ Problemstellungen orientieren.«6 Sie empfehlen u. a. authentische Problemstellungen, die für die Lernenden den Anwendungsbezug unterstützen. Dies verweist auf den Wechsel von dem Wissenserwerb zum Kompetenzerwerb. Etwas zu wissen ist heute in Zeiten des ubiquitären Internets weniger relevant, als etwas zu können. Dieser Wechsel bedingt ebenfalls Veränderungen in der Lernorganisation und den Anforderungen der Lernenden an ihre Lernumgebung.

LERNORGANISATION UND R AUM ALS FORSCHUNGSFELD Der Mensch, dessen Handlungen und Verhalten, sowie die Objekte im Raum und der physikalische Raum selbst beeinflussen sich und interagieren miteinander.7 Dies gilt in besonderem Maße für Selbstlernareale, da sich deren 2 | Stang, Richard: Lernwelten im Wandel, Berlin 2016, S. 181–182. 3 | Barr, Robert B./Tagg, John: From Teaching to Learning: A New Paradigm For Undergraduate Education, in: Change, 27(6), 1995, S. 13–26. 4 | Arnold, Rolf: Berufsbildung, Hohengehren 1994, S. 171, zitiert nach von Saldern, Matthias: Die Bedeutung der Neueren Systemtheorie für die Entwicklung einer Didaktik der Selbstorganisation, in: Rolf, Arnold: Lebendiges Lernen, Baldmannsweiler 1996, S. 31–42, hier S. 31. 5 | Vgl. ebd. 6 | Erpenbeck, John/Sauter, Werner: So werden wir lernen, Wiesbaden 2013, S. 40. 7 | Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.

Die Lernwelt der Hochschule der Medien

Konzeption in dem Spannungsfeld von Lernorganisation, Aufgabenstellung des Lernenden, dem Raum und dem Menschen bewegt. Auch verlangt »das neue Verständnis lebenslangen Lernens eine Art Paradigmenwechsel der Lernorganisation – nicht erst im Erwachsenenalter, sondern bereits bei den initialen Formen der Beschulung. Orientierungsziele sind nicht länger die Effektivität des Lehrens, wirkungsvolle didaktische Strategien und die Konsistenz formaler Curricula, sondern die Situation und die Voraussetzungen der Lernenden« 8.

Das schließt die Aufmerksamkeit für nicht-formale und informelle Lernmöglichkeiten ein. Die zentrale pädagogische Frage lautet nicht mehr, wie ein bestimmter Stoff möglichst erfolgreich gelehrt werden kann, sondern welche Lern(um)welten selbstbestimmte Lernprozesse am ehesten stimulieren können: Wie also das Lernen resp. der Kompetenzerwerb selbst gelernt werden kann. Auch dieses Lernen sollte von Selbstlernzentren unterstützt werden können. Dieses Verhältnis von Raum und Lernenden, insbesondere die Unterstützung der Lernorganisation der Studierenden steht im Fokus der Forschung zur »Lernwelt« an der Hochschule der Medien Stuttgart (HdM). Die Ergebnisse dieser Forschungen zeigen, dass flexible Raumgestaltung mit hoher Vielfalt der Möblierung ein Lösungsweg für die vielfältigen Anforderungen an den (Lern-)Raum ist.9

SELBSTLERNZENTREN ALS SOZIALER R AUM Die Untersuchung zum LearnerLab, dem ersten Selbstlernzentrum der HdM zeigte, dass sich die Nutzenden abschotten und dafür multifunktionale Trennwände nutzen. Begründet wurde dies damit »andere nicht zu stören« und »ungestört sein zu wollen«. Studien10 belegen, dass Territorialität Einfluss auf das allgemeine Wohlbefinden einer Person hat und der Befriedigung von Bedürfnissen wie Privatheit, Kontrolle, Macht und Intimität dient. 8 | Bentley, Tom: Learning beyond the classroom, in: Educational Management & Administration 28(3), 2000, S. 353–364. 9 | Vgl. Strahl, Alexandra: Flexible und vielfältige Ausstattung – ein Schlüssel zur erfolgreichen Lernumgebung, in: O-Bib. Das offene Bibliotheksjournal 3(4), 2016, https:// doi.org/10.5282/o-bib/2016H4, S. 225–242. 10 | Vgl. Hellbrück, Jürgen/Fischer, Manfred: Umweltpsychologie, Wiesbaden 2012, S. 336–337.

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Diese Faktoren beeinflussen die Lernorganisation in ihrem sozialen Kontext und lassen sich über die Gestaltung der Lernumgebung steuern. Zur Beurteilung von räumlichen Lehr-/Lernsettings lohnt es sich deshalb, das Bedürfnis nach Territorialität etwas genauer zu betrachten. Fischer weist schon 1986 auf den Raum als soziales Konstrukt hin: »Als soziale Konstrukte sind die Arbeitsräume also Geflechte von materiellen Gegenständen in Interaktion mit einer sozialen Gruppe, die ihnen je nach ihren eigenen Bedürfnissen und der Art, wie sie den Raum ausgestattet hat, spezifische Bedeutung verleiht. Der Raum ist ein Beziehungssystem, aber seine Topografie gibt nur eine vorläufige Orientierung über diese Beziehungen. Es ist die Interaktion, die die Gruppe mit ihm eingeht, die uns erkennen lässt, wie er sich in ein mehr oder weniger abhängiges, mehr oder weniger kohärentes, mehr oder weniger feindliches System verwandelt.«12

Er zeigt auf, dass der Auf bau des Raumes, seine Ausgestaltung, eine Orientierung für die sozialen Aspekte der Nutzende bietet und dass die Nutzung des Raumes Rückschlüsse über die Nutzenden zulässt. Weiter stellt er fest: »Er [der Raum] kann auch selbst als Botschaft verstanden werden. […] Raum und Mensch interagieren miteinander.« Der Mensch handelt in und mit dem Raum – als soziales Wesen. Frehse betont den interaktiven Aspekt des Sozialraums. »Indem die Individuen im physischen Raum interagieren, lokalisieren sie sich und die mit ihnen Interagierenden im interaktionellen und im sozialen Raum. So gelangen zwei Dimensionen des abstrakten Raums, der in der Soziologie gemeinhin als Bezugspunkt für das Verständnis sozialer Beziehungen und Interaktionen fungiert, in den Vordergrund. Da in der Interaktionssituation die interaktionelle und soziale Lokalisierung der Individuen durch ihre Expressivität erfolgt, so ist der physische Raum nicht nur ein Setting. Er bedingt physisch die Interaktion, doch von einem anderen Blickwinkel aus fügt er sich in die Interaktion als Zeichen ein, wobei er gleichzeitig als Umgebung dieser

11 | König, Katharina: Architekturwahrnehmung. Die Anwendung empirischer Erkenntnisse der Kognitionspsychologie auf architekturpsychologische Fragestellungen, Paderborn 2012, S. 328. 12 | Fischer, Gustave Nicolas: Psychologie des Arbeitsraumes, Frankfurt 1986, S. 98–100.

Die Lernwelt der Hochschule der Medien Zeichen und darüber hinaus als Umwelt des Selbst eines jeden interagierenden Individuums fungiert.«13

So werden über die Handlung des Platzierens von Gegenständen Zeichen im Raum gesetzt, die für alle anderen deutlich sichtbar sind. In dem z. B. ein Studierender seine Tasche auf einem weiteren Stuhl neben sich ablegt, signalisiert er, dass er sich gegenüber seiner sozialen Umwelt abgrenzt und schafft sich damit ein Territorium.14

BEDÜRFNIS NACH TERRITORIALITÄT Eine Studie von Sommer und Becker 15 zeigte, dass die Plätze eines Hörsaales, die durch Gegenstände markiert wurden, nicht besetzt wurden. Somit markieren abgelegte Taschen, Jacken, Laptops oder Bücher das Territorium des Nutzenden und strukturieren den möglichen Raum des Nächsten damit vor. Altman stellt in seiner Privacy Regulation Theory (1975)16 Grade an Privatsphäre, Verbund oder Zugänglichkeit vor, die bei allen Menschen zu finden sind.17 Probleme entstehen dann, wenn Territorien verletzt werden. Gifford unterscheidet drei Arten von Territorialverletzungen: »Das Eindringen, in dem Außenseiter/innen, zumindest scheinbar, versuchen, die Kontrolle über das Territorium zu übernehmen. Die Übertretung und die Kontaminierung: dabei platzieren Fremde etwas Unangenehmes in das Territorium, so wie ein »Hausgast, der die Küche dreckig hinterlässt.«18

Goffman zählt als Territorialverletzung »Platzierung des Körpers in Relation zu einem von anderem beanspruchtem Territorium. [...] das Anblicken, Anschauen, Durchbohren mit den Augen. [...] Einmischungen durch Laute. [...]

13 | Frehse, Fraya: Erving Goffmans Soziologie des Raumes, in: sozialraum.de (8) 1/2016, https://www.sozialraum.de/erving-goffmans-soziologie-des-raums.php [31.03.2019]. 14 | Vgl. König, Katharina: Architekturwahrnehmung: Die Anwendung empirischer Erkenntnisse der Kognitionspsychologie auf architekturpsychologische Fragestellungen, Paderborn 2013, S. 327. 15 | Vgl. Sommer, Robert/Becker, Franklin D.: Territoriale defense and the good neighbor, in: Journal of Personality and Social Psychology 11 (2), 1969, S. 85–92. 16 | Vgl. Altman, Irwin: Privacy Regulation: Culturally Universal or Culturally Specific, in: Journal Of Social Issues 33(3) 1977, S. 66–84. 17 | Vgl. Gifford, Robert: Environmental Psychology, Canada 2002. 18 | Ebd., S. 122, (H. i. O.).

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Jemanden ansprechen. [...]«19 auf. Diese Territorialverletzungen stressen Menschen und ziehen somit kognitive und emotionale Leistung ab. Sie werden als persönliche Angriffe betrachtet und lösen starke Emotionen aus, die vom Gefühl des Ausgeliefertseins, Bedrohtseins bis hin zu subtiler oder offener Aggression gehen. »Im Allgemeinen wird eine Verletzung des persönlichen Raumes zunächst als unangenehm […] erlebt.«20 Hauptsächliche Reaktionen sind Flucht oder partieller Rückzug. Selten sei offene Aggression als Reaktion festzustellen.21 Auch das Verteidigungsverhalten ist ein Teil des Territorialverhaltens und gehört zu den grundlegenden Mechanismen. Pernack weist auf den Zusammenhang von Territorialität und Aggression hin. »Menschen führen […] hauptsächlich präventive Maßnahmen durch, wie das Errichten von Zäunen, Verbotsschildern etc.«22 Verschieben sich Bedingungen, z. B. dadurch, dass sich eine weitere Gruppe zu nah am eigenen Territorium niederlässt, wird das eigene Territorium als gefährdet betrachtet, und es wird nach territorialer Entlastung gesucht. Territorien werden durch die gleichen Raumpraktiken23 verteidigt, wie sie angegriffen werden. Der erste Nutzende befindet sich in einer komfortablen Position – er kann Standort und Größe seines Territoriums festlegen. So ist es auch zu erklären, dass sich Selbstlernareale von hinten und von den Rändern her füllen, »weil die bevorzugte Blickrichtung die Plätze dieser Zone sozial verkleinert«24. Es ist ein »Leitkriterium bei der Standortwahl […] also die Unterscheidung von unsicheren und dauerhaften Plätzen. Entscheidend scheint dabei […], dass man den eigenen [Raum] schützt, indem man sich nicht in die Lage bringt, von ihnen angesprochen […] zu werden.«25

19 | Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Berlin 1982, S. 74–76. 20 | Hayduk, Leslie A.: The permeability of personal space, in: Canadian Journal of Behavioural Science 13(3), 1981, S. 274–287. 21 | Vgl. Schultz-Gambard, Jürgen: Persönlicher Raum, in: Kruse, Lenelis/Graumann, Carl-Friedrich/Lantermann, Ernst-Dieter: Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, München 1990, S. 325–332, hier S. 329–330. 22 | Pernak, Roman: Öffentlicher Raum und Verkehr: Eine sozialtheoretische Annäherung, WZB – dicussion paper, Berlin 2005, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-117300 [01.04.2019], S. 21. 23 | Vgl. Muck, Herbert: Der Raum. Baugefüge, Bild und Lebenswelt, Wien 1986, S. 102. 24 | Hirschauer, Stefan: Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt, in: Soziale Welt 50, 1999, S. 221–245, hier S. 230. 25 | Ebd.

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Für die Nachfolgenden, die das Selbstlernareal betreten, stellt sich die Situation anders dar. Hier greifen Mechanismen zur Maximierung der subjektiv wahrgenommenen Distanz. Die Nutzenden platzieren sich in größtmöglicher Distanz zu anderen Anwesenden. Hinzu kommt das individuelle Verhalten der Gruppen oder des Einzelnen hinsichtlich der Raumwahrnehmung und der Bedarfe. Bezogen auf Selbstlernareale wurde dies mit einem vertiefenden Blick in die Nutzung der Trennwände zu analysieren versucht.

DIE KONZEP TION DER HDM-LERNWELT Bei der HdM-Lernwelt handelt es sich um die ehemalige Bibliothek der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart. Dort können Studierende einfach nur Hohlstunden und Wartezeiten überbrücken, pausieren, aber auch Gruppentreffen abhalten oder aber auch Stillarbeit verrichten. Dieses Selbstlernzentrum wird wissenschaftlich begleitet, um als primäre Ziele die Lernbedingungen für die Studierenden zu verbessern und es zu ermöglichen, grundlegende Strukturen abzuleiten, die auf weitere Selbstlernzentren im halböffentlichen Bereich übertragbar sind und bei der Gestaltung helfen können. Die Lernwelt der HdM umfasst 440 qm und wurde in die drei Bereiche »Einzel-Zone«, »Gruppen-Zone«, und »Chill-Out-Zone«, geteilt. Die so entstandene HdM-Lernwelt wurde mit flexiblen Möbeln, Trennwänden, mobilen Monitoren, Beamer und einer VIA-Collage durch den Projektpartner VS-Spezialmöbel26 ausgestattet. Die HdM-Lernwelt wurde den Studierenden als »Lernwelt«, ohne weitere Angaben wie der Raum zu nutzen sei, frei zur Verfügung gestellt. Der Raum steht während den allgemeinen Öffnungszeiten der Hochschule zur Verfügung und bietet sowohl Möglichkeiten zur Einzelals auch zur Gruppenarbeit. Zudem werden vielfältige Arten von Arbeitsplätzen angeboten. Klassische Arbeitstisch und Bürostuhl-Kombinationen, wie auch sofaartige Loungemöbel mit niedrigen Tischen, oder auch ein großes couchartiges Rondell, welches Platz für mehrere Studierende bietet. Zudem hat dieses Rondell eine hohe Lehne rundum und hat eine Sitzhöhe, die mit der von Bürostühlen vergleichbar ist. Ebenso gibt es ergonomische Hocker, die an der Bodenfläche konvex gewölbt sind, sodass die Nutzenden, ähnlich wie auf einem Sitzball, die Rückenmuskulatur aktiv halten müssen. Zum besseren Verständnis werden die Planungsskizzen, siehe Abbildung 1, des Kooperationspartners, VS Spezialmöbel aus Tauber-Bischofsheim, eingefügt.

26 | Für weitere Informationen zu der Möblierung: http://www.vs.de/de/.

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Abbildung 1: Planungsskizze der HdM-Lernwelt von VS-Spezialmöbel. Dieser Raum wurde zunächst mit 100 Arbeitsplätzen ausgestattet. Des Weiteren wurde der Einzelbereich zur Gruppen-Zone mit einem Vorhang abgetrennt. Dieser Vorhang kann bei Bedarf geschlossen werden. Organisatorisch konnte auch durchgesetzt werden, dass dieser Raum nicht für Seminare und/oder Veranstaltungen genutzt wird, sodass dieser Raum vollständig und durchgängig für die Studierenden verfügbar ist. Für die Untersuchung wurden im Raum drei 360-Grad-Kameras angebracht, die jeweils eine der drei Zonen erfassen.

DURCHFÜHRUNG VON SE T TINGS ZEIGEN VERHALTEN IM R AUM Die in dieser Untersuchung zur Anwendung gelangenden Settings lehnen sich an die Annahmen von Fischer-Lichte an. Sie regt drei Verfahren an, dass die »Performativität des Raumes intensiviert werden [kann]: 1) Verwendung eines (fast) leeren Raumes bzw. eines Raumes mit variablem Arrangement, der beliebige Bewegungen […] zulässt; 2) Schaffung spezifischer räumlicher Arrangements, welche bisher unbekannte oder nicht genutzte Möglichkeiten zur Aushandlungen der Beziehung […] von Bewegung und Wahrnehmung zulässt, und 3) Verwendung vorgegebener und sonst anderweitig genutzter Räume, deren spezifische Möglichkeiten erforscht und erprobt werden.«27

Versteht man Performativität als (Sprach-)Handlung so zeigen sich die von Fischer-Lichte angeregten Settings dafür geeignet, die Handlungen, und somit das Lern- und Arbeitsverhalten der Lernenden besonders in Aktionen in Kleingruppen zu beschreiben. Im Zeitraum vom 30.11.2015 bis zum 31.01.2016 wurden die drei Settings durchgeführt. Die jeweilige Dauer der einzelnen Settings betrug 10 Werktage. 27 | Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, 9. Auflage 2014, S. 192.

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Setting 1 Vorkonfiguriert: Jeden Morgen werden die Möbel und die Ausstattung der HdM-Lernwelt an die in der Planung vorgesehene Position gebracht. Die Nutzenden der Lernwelt finden beim Betreten der HdM-Lernwelt eine vorgefertigte, nach wenigen Tagen vertraute, Konfiguration des Raumes und der Ausstattung vor, die sie durch die Mobilität der Möbel und der weiteren Ausstattung für ihre Bedürfnisse anpassen können; die aber auch für die Bedürfnisse der Studierenden vorgefertigte Angebote wie Gruppentische, Einzeltische, etc. anbietet. Setting 2 Nutzendenüberlassen: Die Möbel und die Einrichtung werden nicht mehr aufgeräumt. Sie verbleiben an der Position, an der sie der/die vorherige Nutzende zurückgelassen hat. Die Studierenden finden zwar noch eine vorgefertigte Situation vor – diese ist jedoch weitaus weniger geordnet und weniger systematisch. Es bleibt den Nutzenden in ihrer Gesamtheit überlassen, ob noch vorgefertigte Angebote für Einzellernende oder Gruppen vorhanden sind und wie diese sich zusammensetzen. So entstehen mit der Zeit zum einen eine Unübersichtlichkeit des Raumes und der Eindruck von Unordnung, wenn der Raum betreten wird. Setting 3 Nutzendengestaltet: In diesem Setting wurden jeden Morgen die Möbel und die Ausstattung an den Wänden aufgestapelt, was aufgrund der hohen Flexibilität der Einrichtung problemlos möglich ist. Die Studierenden waren dazu eingeladen, sich ihre Lernumgebung selbst zu gestalten. Die Durchführung dieser drei Settings wurden von einer apparativen Beobachtung wissenschaftlich begleitet.

APPAR ATIVE BEOBACHTUNG ZEICHNE T OBJEK TIV AUF Beobachtung ist vermutlich die älteste Methode zur Datenerhebung. Die Nähe zu dem, wie wir im Alltag Informationen gewinnen, ist besonders deutlich. Beobachtung eignet sich vor allem dafür, Forschungsfragen nach dem Wie oder Was zu eruieren. Thierbach und Petschick erachten es als sinnvoll »Daten mittels Beobachtung zu erheben […], wenn es darum geht Prozesse, Organisationen, Beziehungen, Handlungsabläufe oder Interaktionsmuster zu verstehen.«28 Beobachtung erschließt dem Forschenden Sachverhalte, die von den Lernenden nicht verbalisiert werden können oder von diesem als nicht relevant 28 | Thierbach, Cornelia/Petschick, Grit: Beobachtung, in: Baur, Nina/Blasius, Jörg: Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 855–866, hier S. 855.

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eingestuft werden, und somit nicht verbalisiert würden. Im Unterschied zu den Alltagsbeobachtungen wird im Forschungsprozess die Beobachtung systematisch geplant und ist immer an der Forschungsfrage ausgerichtet. »Die einzelnen Beobachtungsverfahren lassen sich gliedern in direkte und indirekte Beobachtung. Hierbei wird unterschieden, was beobachtet wird. Direkte Beobachtung bezeichnet die Beobachtung des direkten Verhaltens, während indirekte Beobachtung sich auf die Ergebnisse bzw. Auswirkungen des Verhaltens bezieht.«29

Die direkte Beobachtung wird weiterhin unterschieden durch die Kenntnis der Lernenden von der Beobachtung (offene vs. verdeckte Beobachtung), anhand des Grades der Interaktion des Forschenden (Lernenden vs. nicht-Lernenden Beobachtung), dem Grad der Strukturierung des Beobachtungsschemas, den Untersuchungsbedingungen (Feld- oder Laborbeobachtung) und des Anwendungsbereiches (Selbst- oder Fremdbeobachtung). Hierbei sind viele Kombinationen denkbar. Als Vorteil der Methode ist zu nennen, dass der Bias, der durch das Bewusstsein der Beobachtung bei den Lernenden entstehen kann, durch die apparative Beobachtung verringert wird, da diese permanent vorhanden ist und sich ein Gewöhnungseffekt bei den Nutzenden einstellen wird. Bortz und Döring halten fest: »Beobachtungsaufgaben werden durch den Einsatz apparativer Hilfen (Film- und Videoaufnahmen) erheblich erleichtert.«30 Bergmann betont einen weiteren Vorteil der Methode: »Soziale Ereignisse werden in ihrer sichtbaren […] Realisierungsgestalt apparativ festgehalten, und bei dieser ›registrierenden Konservierung‹ bestimmen nicht Erinnerungen, Sinnzuschreibungen und Darstellungskonventionen die Fixierung eines sozialen Geschehens, sondern das apparative Arrangement (Positionierung der Kamera, Aussteuerung des Mikrofons etc.).« 31

Die hier zugrundeliegende Studie lässt sich als eine offene, direkte, nicht-teilnehmende Fremdbeobachtung eingliedern. Da es nicht möglich ist, die Lernwelt über die gesamte Öffnungszeit durch Forschende beobachten zu lassen, sind dort drei 360-Grad-Beobachtungskameras in den Zonen unter der Decke angebracht, welche halbstündlich jeweils eine Aufnahme von dem Bereich erstellen. Der Datenschutz wird dadurch gewährt, dass Personen vor dem Speichern des Bildes verpixelt werden. Hierbei stehen die Verhaltensdaten 29 | Schnell, Rainer/Hill, Paul B./Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2005, S. 382. 30 | Bortz, Jürgen/Döring, Nicola: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, Heidelberg 2006, S. 268. 31 | Bergmann, Jörg: Qualitative Methoden der Medienforschung, Mannheim 2011, S. 494.

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im Vordergrund, die Rückschlüsse auf das Lern- und Arbeitsverhalten (Lernorganisation) der Nutzenden zulassen. Dabei liegt ein Fokus auf dem Abschottungsverhalten der Nutzenden und auf welche Art sich Kleingruppen den Raum zu eigen machen und sich in Wechselwirkungen mit weiteren Gruppen verhalten.

Abbildung 2: Beobachtungsbild aus der Einzellernzone.

ONLINE-BEFR AGUNG ZEIGT EINSCHÄTZUNGEN DER NUTZENDEN Zusätzlich wurde ein Online-Fragebogen an alle potenziellen Nutzende der HdM-Lernwelt – alle Angehörigen der HdM – verschickt. Mit dem Fragebogen wurde erhoben, wie die Qualität der HdM-Lernwelt und ihrer Gestaltung eingeschätzt wurde. Des Weiteren wurde nach Nutzungshäufigkeit und -dauer, sowie nach positiven und negativen Aspekten und nach Wünschen gefragt. Ein weiterer Aspekt war die Sozialform, in der in der HdM-Lernwelt gearbeitet wird. Die Vorteile des Online-Fragebogen stellen Wagner und Hering vor. »Allem voran sind Online-Befragungen zeitlich und räumlich unabhängig.«32 Dies ermöglicht eine simultane Befragung. Weiter führen sie an, dass »On32 | Wagner, Pia/Hering, Linda: Online-Befragung, in: Baur, Nina/Blasius, Jörg: Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 661–673, hier S. 662.

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line-Befragungen besonders offen [sind] für neue grafisch anspruchsvolle Instrumente.«33 Dies ermöglicht nicht nur eine zeitgemäße und ansprechende Gestaltung des Fragebogens, sondern durch Verwendung von z. B. Schiebereglern u. ä. eine exakte Eingabe von Werten seitens der Nutzende. Ebenso sind »auch multimediale Inhalte wie Bilder, Audioelemente oder Videos […] ohne großen Aufwand integrierbar. Dies wirkt sich nicht nur auf die Teilnehmermotivation aus, sondern helfen dem Nutzer auch, die Inhalte zu verstehen«. 34

Da bei Online-Fragebögen kein Interviewer zum Einsatz kommt, fallen die daraus resultierenden Interpretationsfehler weg; ebenso reduzieren sich die Antworteffekte der sozialen Erwünschtheit, da die Beantwortung der Fragen anonym erfolgt. Ein weiterer Vorteil ist der geringe finanzielle Aufwand. Allerdings hat auch diese Methode diverse Nachteile. Hierzu zählt die Abhängigkeit vom technischen Equipment seitens der Teilnehmenden. Der/die Befragte kann nur teilnehmen, wenn ihr/sein technisches Equipment den Anforderungen der verwendeten Medien entspricht. Diese Methode wurde gesetzt, da sie unkompliziert durchführbar und kostengünstig ist, wie auch Dieckmann feststellt.35 Allerdings ist auch diese Methode nicht problemfrei. So weist Taddicken darauf hin, dass es »nicht ersichtlich [ist], wer eigentlich antwortet und in welcher Situation geantwortet wird. Die Anwesenheit Dritter oder Medien-Nebenbei Nutzung sind diesbezüglich häufige Probleme, die die Datengüte beeinträchtigen können.« 36

Als weitere Kritikpunkte weist sie darauf hin, dass »nach wie vor nicht ausreichend geklärt ist, welchen Einfluss die Technologie-Basierung auf den internalen Prozess der Fragendeutung und Antwortfindung hat, also ob sich die technische Vermittlung der Fragen auf die Wahrnehmung und Interpretation der Frage sowie die Meinungsbildung auswirkt.«37 Zu berücksichtigen ist laut Wagner und Hering auch, dass »die Online-Umgebung die Bindung der Befragungsteilnehmer an soziale Normen verringert, 33 | Ebd. 34 | Schnell, Rainer/Hill, Paul B./Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2005, S. 377. 35 | Vgl. Dieckmann, Andreas: Empirische Sozialforschung – Grundlagen, Anwendungen, Methoden, Reinbeck bei Hamburg 2012, S. 522–523. 36 | Taddicken, Monika: Online-Befragung, in: Möhring, Wiebke/Schlütz, Daniela: Handbuch standardisierter Erhebungsverfahren in der Kommunikationswissenschaft, Wiesbaden 2013, S. 201–217, hier S. 208. 37 | Ebd, S. 214.

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weshalb deren individuelle Motive beim Ausfüllen in den Vordergrund treten.«38 Somit ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse kritischer zu betrachten, da die Individualität der Antworten (und ihre zugrundeliegenden Bedürfnisse) stärker ausgeprägt sein wird. Der Fragebogen dieser Studie ergänzt die Beobachtungsdaten mit jenen Informationen, die durch die apparative Beobachtung nicht erhoben werden können, und wird durch die Interviews gestützt.

LEITFADEN-INTERVIE WS VERTIEFEN DIE ERKENNTNIS »Das Interview ist eine Kommunikationssituation in der interaktiv […] Text erzeugt wird. Mit anderen Worten, der/die Interviewer/in geht spontan auf die sich ergebenden Themen des/der Befragten ein. Der Leitfaden kann eine Art Richtschnur oder Gedankenstütze zur Strukturierung des Gespräches sein, jedoch kein starres Gerüst. Interviews erfordern ein hohes Maß an Empathie und Hintergrundwissen zur Thematik seitens des/ der Fragenden. Interviews haben eine eigene Dynamik und sollen es dem Befragten ermöglichen, sein eigenes Sinnsystem und seine situative und subjektive Wahrheit zu entfalten.« 39

Der Leitfaden ermöglicht eine Vergleichbarkeit der erhobenen Daten und deren Kategorisierung genauso gut wie Fallstudien oder aber Typenbildungen. Der Standarisierungsgrad für Leitfäden dient als ein Mittel der Zuordnung des verwendeten Instrumentes. Hier reicht die Bandbreite von stark bis gar nicht standarisiert. Je stärker der Leitfaden konkretisiert wird, desto stärker ist der Standardisierungsgrad ausgeprägt. In dieser Studie könnte dieses Leitfaden interviews als Kontextinterview40 der Nutzende der HdM-Lernwelt gesehen werden, da Kleingruppen die Zielgruppe der Untersuchung darstellen und diese situativ in der HdM-Lernwelt angesprochen wurden. Es zeigt sich, dass bei Interviews, bei denen Dritte anwesend sind, also als Kontext gesehen werden, die Antworten verzerren können. Die Leitfaden-Interviews dienen ebenfalls dazu, die Beobachtungsdaten zu ergänzen. Jedoch bietet diese Methode durch den mündlichen Dialog die Möglichkeit an interessanten Punkten nachzufragen und individueller die Bedürfnisse der Nutzendengruppe zu erfragen. 38 | Wagner, Pia/Hering, Linda: Online-Befragung, in: Baur, Nina/Blasius, Jörg: Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 661–673, hier S. 663. 39 | Helfferich, Cornelia: Leitfaden- und Experteninterviews, in: Baur, Nina/Blasius, Jörg: Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, S. 559– 574, hier S. 561–562. 40 | Memmel, Thomas/Geis, Thomas/Prof. Dr. Reiterer, Harald: Methoden, Notationen und Werkzeuge zur Übersetzung von Anforderungen in User Interface Spezifikationen, in: Brau, Henning: Usability Professionals, Stuttgart 2008, S. 45–48, hier S. 46.

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Die Interviews fokussierten vor allem die Perspektive und die Problemstellungen, die sich aus den Anforderungen und aus der Rolle Lernende ergeben. Im Unterschied zur Online-Befragung ermöglichen die offene Gesprächsführung und die damit zusammenhängende Erweiterung von Antwortspielräumen, den Bezugsrahmen der Befragten ebenfalls zu erfassen. Schnell, Hill und Esser verweisen darauf, dass dies »einen Einblick in die Relevanzstrukturen und die Erfahrungshintergründe des Befragten« 41 zulasse. Auch diese Methode ist problembehaftet. So können, selbst wenn der/die Interviewer/in alles korrekt durchführt, Fragen seitens des/der Befragten abgelehnt werden, oder die Antworten werden dadurch verfälscht, dass sozial-erwünschte Antworten gegeben werden. Bortz und Döring weisen darauf hin, dass »Fehler, die direkt mit der Antwortfindung verbunden sind [zu erwähnen sind]«42, da »eine falsch interpretierte Frage […] irrelevante Informationen wach [ruft], deren Bewertung eine Antwortkategorie wählen lässt, die der eigentlichen Einstellung oder Meinung nicht entspricht.« 43 Zu dieser Fehlermöglichkeit kommen noch Priming-Effekte hinzu, die entstehen, wenn »sich die Beantwortung einer Frage assoziativ auf die Beantwortung der Folgefragen auswirkt.« 44 70 Nutzende der HdM-Lernwelt wurden in situ interviewt. Dazu wurden die Studierenden in der Konstellation angesprochen, wie ihre Sozialform und Arbeitsweise sich zu dem Zeitpunkt darstellten. Es wurden drei Einzelinterviews und fünf Interviews mit Kleingruppen mit zwei bis sechs Mitgliedern in allen drei Zonen geführt. In der folgenden Tabelle werden die Inhalte und den Zweck der Frage vorgestellt. Deutlich wird, dass vor allem die Optimierung der HdM-Lernwelt im Vordergrund stand. Zum einen war es von Bedeutung grundsätzliches, qualitatives Feedback zu erhalten, aber auch die Bedarfe der Studierenden zu ermitteln.

41 | Schnell, Rainer/Hill, Paul B./Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2005, S. 379. 42 | Bortz, Jürgen/Döring, Nicola: Forschungsmethoden und Evaluation für Humanund Sozialwissenschaftler, Heidelberg 2006, S. 250. 43 | Ebd., S. 251. 44 | Ebd.

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Tabelle 1: Interviewfragen und Befragungszweck Teil des Interviews/Fragen nach …

Befragungszweck

Nutzungsdauer und Besuchshäufigkeit

Auslastung der Lernwelt, Besucherspitzen, Bedarfsanalyse

Sozialform

Optimierung der Ausstattung, bevorzugte Lehr-Lernform

Bevorzugung von Plätzen/Möbeln

Optimierung der Möblierung

Art der Tätigkeit (analog/digital)

Anpassungen der Gegebenheiten, Optimierung der Möblierung

Frustrationen

Anpassung der Ausstattung

Anwesenheit des Betreuenden

Psychosoziale Entlastung, Eruieren von Problemen

Weitere Betreuungsangebote

Bedarfsermittlung, Feedback zur Wirkung

Wünsche

Bedarfsermittlung

FLE XIBILITÄT UND VIELFALT ALS SCHLÜSSELELEMENTE DER GESTALTUNG Die Auszählung der apparativen Beobachtung zeigt, dass die durchschnittliche Nutzungshäufigkeit bei ein- bis dreimal in der Woche liegt und die Aufenthaltsdauer wurde durchschnittlich mit ein bis drei Stunden angegeben. Dies lässt sich mit dem Studierendenalltag gut in Einklang bringen. Die ein bis drei Zeitstunden entsprechen in etwa den Hohlstunden, welche die Studierenden in ihrem Stundenplan haben oder aber auch der Mittagspause, in der kein Vorlesungsbetrieb stattfindet. Betrachtet man die Besucherstärke insgesamt, so schwankt die Nutzung der HdM-Lernwelt im Verlaufe des Semesters. Zu Beginn (Setting: Vorkonfiguriert) waren ein Drittel der Gesamtanzahl in der HdM-Lernwelt. In der Semestermitte (Setting: Nutzendenüberlassen) wurde das Selbstlernzentrum geringer genutzt. Und zum Ende des Semesters wurde die stärkste Nutzung mit 41% verzeichnet, wie in Abbildung 3 ersichtlich.

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Abbildung 3: Verteilung der Besucherstärke über die Settings hinweg. Hier sind verschiedene Erklärungsansätze denkbar. Zum einen können die Ergebnisse in der Durchführung der Settings begründet sein. Zum anderen gibt es innerhalb eines Semesters verschiedene Phasen, die mal mehr mal weniger (Gruppen-)Arbeit für den Studierenden bedeuten. Gleichzeitig steigen die Arbeitslast und der damit eingehende gefühlte Stress im Laufe des Semesters an. Sie erreichte parallel zur Durchführung des dritten Settings einen Höhenpunkt – die Prüfungsvorbereitungszeit, in den Projektabgaben und Präsentationen von Kleingruppen fertigzustellen und gleichzeitig Klausuren etc. vorzubereiten sind. Je mehr Gruppen- und Projektarbeiten abzugeben sind, desto mehr Studierende halten sich in der HdM-Lernwelt auf. Der Anteil der Gruppenarbeit, die in der Lernwelt erledigt wird, ist mit 86,7% als groß zu bewerten – alle Studierenden gaben in den Interviews an, Gruppenarbeiten in der HdM-Lernwelt zu verrichten. Zusätzlich arbeitet ein Fünftel der Befragten auch allein in der HdM-Lernwelt. Dies ist gut mit der Hinwendung zur kompetenzorientierten Lehre zu verbinden. Hierbei stehen z. B. Projektarbeiten, soziale Kompetenzen und problembasiertes Lernen im Fokus. Diese veränderte Aufgabenstellung wird zumeist in Kleingruppenarbeit realisiert, die sich nun in der eruierten Sozialform der Lernenden in der HdM-Lernwelt niederschlägt. Wie die folgende Abbildung zeigt, wird die HdM-Lernwelt für die Vielfältigkeit der Nutzungsmöglichkeiten gelobt, und ein Viertel der Befragten finden, dass sie für Gruppenarbeiten gut geeignet ist. 3% betonen, dass es der einzige Lernort ist, an dem man sich abschotten kann.

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Abbildung 4: Positive Angaben zum Konzept der HdM-Lernwelt. Auffällig ist, dass 37% angaben, sie finden es gut, dass man laut sein dürfe und gleichzeitig 18% der Auffassung sind, dort in Ruhe arbeiten zu können. Dies zeigt, dass die Grundanforderung an die Gestaltung der HdM-Lernwelt – Multifunktionalität – umgesetzt werden konnte. Mehrheitlich wurde die HdM-Lernwelt als gelungen gestaltet eingeschätzt. Dem gegenüber stehen 30,4%, welche die Gestaltung als weniger gelungen oder überhaupt nicht gelungen einschätzen, wie Abbildung 5 zeigt. Es wird deutlich, dass die grundsätzliche Gestaltung des Selbstlernzentrums stimmig ist. Jedoch gilt es im weiteren Verlauf dezidierter nachzufragen. Zum einen ist der Begriff Gestaltung sehr weit gefasst und zum anderen gilt es zu erfahren, welche Bedarfe der den Einschätzungen weniger gelungen/ überhaupt nicht gelungen zugrunde liegen. Abbildung 6 zeigt die Angaben zur Qualität der HdM-Lernwelt. Über die Hälfte der Befragten gab an, dass die Qualität gut oder sehr gut ist. Jedoch gaben auch über ein Drittel der Teilnehmenden Teils/Teils an, sodass auch hier ein vertiefendes Nachfragen angezeigt scheint, um den Begriff Qualität mit konkreten Anforderungen zu füllen. Insgesamt zeigt sich, dass die Konzeption des Selbstlernzentrums grundsätzlich funktioniert. Die Angaben der Befragten zur Möblierung zeigten auch, dass die Vielfalt der Möblierung sinnhaft ist. So wünschten sich z. B. 5%, dass die Loungemöbel entfernt werden. Dem Gegenüber äußerten 6,7% den Wunsch nach mehr Sofas/Loungemöbel. Auch die ergonomischen Hocker polarisieren – 2,7% wünschen sich, dass mehr Hocker angeschafft werden, und 22,9% gaben an, dass sie diese meiden würden, wenn ein Hocker das

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einzig freie Sitzmöbel in dem Selbstlernzentrum ist. Die folgende Abbildung zeigt die Interviewergebnisse zur Platzwahl.

Abbildung 5: Einschätzung der Gestaltung der HdM-Lernwelt.

Abbildung 6: Einschätzung der Qualität der HdM-Lernwelt.

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Studierende bevorzugen den klassischen Arbeitstisch in Kombination mit einem Bürostuhl. Als zweithäufigste Nennung wird die Stromversorgung als Kriterium für die Platzwahl genannt. Nur 10% haben keinerlei Präferenzen, was die Platzwahl im Raum angeht. Von Interesse ist auch, dass sowohl Möbel genannt wurden wie auch Orte im Raum, die als Entscheidungskriterium dienen.

Abbildung 7: Bevorzugte Platzwahl bei freier Wahl. Abbildung 8 zeigt, dass bei den Befragten die Loungemöbel und die Hocker am unbeliebtesten sind. Auch der Teamtisch, der in der Höhe verstellbar ist, aber auf einer Höhe eines Stehtisches voreingestellt ist, wird von 10% gemieden. Das Rondell wird von 20% der Befragten geschätzt und von 10% gemieden. Es wird deutlich, dass alle Möbel in der Gesamtheit ihre Berechtigung haben und ihre Vielfalt den unterschiedlichen Bedürfnissen der Studierenden entgegenkommen. In den Befragungen wurde weiterhin geäußert, dass die Konzeption mit der hohen Flexibilität der gesamten Einrichtung besonders positiv angenommen wurde. Die in der Konzeption angedachte Zonierung wurde von den Nutzenden nicht akzeptiert/wahrgenommen oder möglicherweise auch bewusst durchbrochen. Es konnte nicht gezeigt werden, dass sich verstärkt Einzellernende in der Einzelzone aufhielten, oder aber die Chill-Out-Zone zur Erholung genutzt wurde. Der gesamte Raum wurde mit allen Nutzungsarten und in allen Sozialformen gleichverteilt genutzt.

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Abbildung 8: Meidung von Lernplätzen in der HdM-Lernwelt. Betrachtet man die Trennwandnutzung, so wird deutlich, dass mit steigendem Freiheitsgrad in der Gestaltung des Raumes durch die Studierenden die Nutzung der Trennwände sinkt. Das Setting »Vorkonfiguriert« zeigt die stärkste Nutzung der Trennwände und das dritte Setting »Nutzendengestaltet« die geringste Nutzung, wie Abbildung 9 zeigt. Dies ist mit den Settings zu erklären. Im Verlauf der Durchführung stieg die Unübersichtlichkeit des Raumes in hohem Maße an. War der Raum innerhalb des Ersten Settings (Vorkonfiguriert) gut zu überblicken, so standen im dritten Setting (Nutzergestaltet) die Einrichtungsgegenstände wahllos und ohne erkennbare Ordnung im Raum. Diese Unübersichtlichkeit könnte dazu geführt haben, dass das Bedürfnis nach Privatheit, Territorialität und Schutz von ebendieser Unübersichtlichkeit stärker erfüllt wurde, als in den vorhergehenden Settings. Ein weiterer Grund für die starke Abnahme der Nutzung der Trennwände könnte darin zu sehen sein, dass die Studierenden für kürzere Aufenthalte in der HdM-Lernwelt den Aufwand des Bauens eines Raumes im Raum vermieden, da in diesem Setting die Lernumgebung vollständig selbst zu erstellen war. Festzuhalten bleibt auch, dass Besucherstärke und die Nutzung der Trennwände in keinem direkten Zusammenhang stehen. Betrachtet man die Nutzung der Trennwände im Sinne der Territorialität zeigt sich auch eine schlüssige Erklärung der Raumpraktiken. Markieren des Territoriums durch das Platzieren von Gegenständen ist eine Handlung, die zutiefst menschlich ist. Auch die Art und Weise wie man sich selbst platziert, lässt Rückschlüsse

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zu. Dies könnte für eine weitere Beobachtung der Zonierung von Interesse sein, da nicht gezeigt werden konnte, ob die Zonierung nicht erkannt, bewusst gebrochen oder völlig ohne Einfluss auf das Nutzungsverhalten war. Dass die Konfiguration des Raums das Verhalten beeinflusst, konnte anhand der Settings, insbesondere des dritten Settings, gezeigt werden. Menschen streben Orte an, die ihnen Sicherheit und Übersichtlichkeit der Umgebung anbieten. 45 Hinzu kommt der erhöhte Aufwand der Raumaneignung und der (Neu-)Orientierung im Raum. Für die Gestaltung eines Selbstlernzentrums gilt es zielgruppentypische Faktoren zu eruieren, um eine optimale Konfiguration anzubieten. Dass diese nicht in einer starren Anordnung der Einrichtung liegen muss, haben die Ergebnisse der Settings gezeigt; die Konfiguration des ersten Settings wurde von den Nutzenden an ihre individuellen Bedürfnisse angepasst. Dies verdeutlicht auch, dass feste Raumprogramme obsolet sind. Auch informelle Flächen, Zwischenräume, Bibliotheken, Kantinen und Flure sind dank der Digitalisierung und Mobilität Orte, die zum Lernen genutzt werden (können). Es wird deutlich, dass im Prinzip die ganze Welt ein Lernort ist – und als solcher genutzt werden kann. Jeder Zwischenraum, jeder Ort außerhalb des formellen kann ein Selbst-Lernort sein. Umso wichtiger wird es, die Faktoren, welche das Lernen und die Lernorganisation unterstützen oder hemmen, zu identifizieren.

Abbildung 9: Nutzung der Trennwände in den Settings.

45  |  Vgl. Alexander, Christoph/Ishikawa, Sara/Silverstein, Murray: A Pattern Language – Towns – Building – Construction, New York 1977.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Flexibilität und Vielfalt in der Einrichtung eines Selbstlernzentrums ein Schlüssel sind, um die Bedarfe der Nutzenden zu erfüllen. Wichtig erscheint es, möglichst viele Szenarien der Lernorganisation anbieten zu können und die menschlichen Bedürfnisse der Nutzenden dabei im Blick zu behalten. Die Lernorganisation der Studierenden hat sich durch Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung verändert. Hinzu kommen durch die veränderte Sozialform auch intrapersonelle Anforderungen. Diese neue Form der Lernorganisation kann durch Selbstlernzentren unterstützt werden, indem sich jeder Lernende oder jede Kleingruppe ihre Lernumgebung nach den individuellen, situativen Bedarfen zusammenstellen kann.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Planungsskizze der HdM-Lernwelt von VS-Spezialmöbel, © VS Spezialmöbel. Abbildung 2: Beobachtungsbild aus der Einzellernzone, 2016, © Alexandra Becker. Abbildung 3: Verteilung der Besucherstärke über die Settings hinweg, © Alexandra Becker. Abbildung 4: Positive Angaben zum Konzept der HdM-Lernwelt, 2016, © Alexandra Becker Abbildung 5: Einschätzung der Gestaltung der HdM-Lernwelt, 2016, © Alexandra Becker. Abbildung 6: Einschätzung der Qualität der HdM-Lernwelt, 2016, © Alexandra Becker. Abbildung 7: Bevorzugte Platzwahl bei freier Wahl, 2016, © Alexandra Becker. Abbildung 8: Meidung von Lernplätzen in der HdM-Lernwelt, 2016, © Alexandra Becker. Abbildung 9: Nutzung der Trennwände in den Settings, 2016, © Alexandra Becker.

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Vererbung – Konzept des Co-Designs Dirk Bei der Kellen und Lars Schlenker Zusammenfassung Beim gemeinschaftlichen Redesign des Klassenzimmers einer Berufsschule kam ein komplexes Konzept objektorientierter Software-Entwicklung zum Einsatz: Vererbung. Konkret wurde beobachtet, dass sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Co-Design-Workshops die schematische Darstellung eines Design Patterns auf symbolischer Ebene aneigneten. Der Workshop, in dem diese Beobachtung gemacht wurde, fand im Rahmen des Projekts Lehrraum_digital statt. Lehrraum_digital (LR_D) ist ein an der TU Dresden angesiedeltes interdisziplinäres Forschungsprojekt, das sich mit der Entwicklung und Erprobung von partizipativen Methoden und Instrumenten für die Planung und Gestaltung physischer Lehr- und Lernräume der beruflichen Aus- und Weiterbildung auseinandersetzt. Hintergrund ist eine zunehmende Digitalisierung der Bildung. Das Umfeld berufsbildender Schulen kann in diesem Zusammenhang als ein Reallabor angesehen werden. Relevanz erhält die Beobachtung von Vererbung dadurch, dass in einem Co-Design-Workshop an einer Berufsschule eine sehr spezielle Diagrammatik nachgeahmt wurde, um neue Funktionen in einem Klassenzimmer zu etablieren. Der Ansatz wurde bereits im Rahmen zweier designtheoretischer Symposien vorgestellt 1 und diskutiert2. Im vorliegenden Beitrag wird Vererbung in einer designorientierten Annäherung dargestellt. Hier erhält der Versuch mehr Aufmerksamkeit, einen eher zufälligen Fund zu interpretieren und als Hinweis auf Gebrauchstauglichkeit einer Designmethode nachzuzeichnen.

1 | NERD2GO (Hochschule für angewandte Wissenschaften Hildesheim, Juni 2018) sowie Entwerfen. Lernen. Gestalten. (Hochschule Hannover, November 2018). 2 | Hilfreiche Nachfragen kamen dabei von verschiedenen Kollegen, die in der Nachbereitung in das Konzept einfließen konnten.

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VORBEMERKUNG Im Vergleich mit den veröffentlichten Konferenzbeiträgen wird nun der Betrachtungsrahmen verändert. Die bei den Wortbeiträgen verfolgte Strategie, Vererbung als eher konservatives Konzept mit dem aktuellen Trend der Agilität zu kontrastieren, tritt in den Hintergrund. Stattdessen wird die Beobachtung in einem gedanklichen Versuch rekonstruiert. Die begriffliche Verwandtschaft von Versuch und Essay ist dabei durchaus beabsichtigt. Mehr Aufmerksamkeit wird nun auf mögliche Umgangsweisen mit Entwurfsmustern und deren Repräsentation gelegt. Voraussetzung dafür ist es, zufällige und beiläufige Entdeckungen nachträglich in die Wissensproduktion einzubeziehen. Dieser Problemstellung, so die grundlegende Vermutung, dürften auch andere Wissenschaftler3 begegnen 4, die sich Gedanken dazu machen, wie gemeinschaftlich Lehr- und Lernräume gestaltet werden können. Der Bezug auf ein Konzept des Software-Engineerings wurde nicht vorab geplant, sondern muss als Zufallsfund5 angesehen werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, sich auf den Umgang mit partikulären Funden einzulassen. Derartige Detailfragen sind vor allem für raumbezogene und medientechnologische Planungstheorien interessant, spielen aber auch für jene didaktischen Sichtweisen eine Rolle, die schwachen Signalen im Kontext achtsamer Organisationsgestaltung Bedeutung beimessen. Die Verfassung des Essays erfolgt dabei aus designtheoretischer Perspektive, so wie in den beiden Konferenzen etabliert. Während Design als Fundament für die raum- und technologiebezogenen Sichtweisen spontan plausibel erscheint, ist das Verhältnis von Design und Didaktik allerdings noch weiter zu durchdringen (ansonsten würde es ja auch keine Konferenzen und Forschungsprojekte dazu geben). Der Umgang mit dieser Lücke ist eine Herausforderung, der sich auch dieser Essay zu stellen hat.

3 | Der besseren Lesbarkeit gewidmet, nutzen wir bei Gruppen- oder Personenbezeichnungen die maskuline Schreibweise. Dem sollte keine besondere Wertung beigemessen werden. 4 | Wenngleich es überraschenderweise bei den Diskussionen nach den Konferenzbeiträgen lediglich eine Wortmeldung gab, die sich kritisch dazu äußerte, dass auf der Grundlage eines einzigen Artefakts eine Argumentation aufgebaut wird (vgl. Al-Marsafawy, Hesham: Reaktion auf den Konferenzbeitrag ›Vererbung‹, in: Foraita, Sabine (Hrsg.): NERD2GO, Hildesheim 2018, http://nerd2go.hawk.de/ [22.03.2019]). 5 | Vgl. Müller, Francis: Designethnografie – Methodologie und Praxisbeispiele, Wiesbaden 2018, S. 40; Rheinberger, Hans-Jörg/Roehl, Heiko: Mit den Händen denken, in: Organisations Entwicklung Nr. 3, 2014, S. 11–14, hier S. 11.

Vererbung – Konzept des Co-Designs

FALLKONSTRUK T SNOEZELEN-ECKE Die Beobachtung des Falldetails Vererbung erfolgte in einem Co-Design-Workshop an der Berufsschule Bamberg II, die als Bayrische Medienreferenzschule Vorreiter in der Digitalisierung von Lehr- und Lernprozessen ist. Co-Design, also die Einbeziehung der Anspruchsberechtigten in den Gestaltungsprozess, ist ein wesentlicher Bestandteil des LR_D-Methodenrepertoires. Die Haltung der Forschungsgruppe kann als projektorientierte Forschung6 bezeichnet werden. In diesem Ansatz werden Designproblem und Forschungsfrage separiert voneinander betrachtet und auf einen alltäglichen Projektkontext bezogen. LR_D begreift das als eine Form von Forschung durch Design 7 und folgt dabei der Idee, bei der Lösung von Designproblemen auch auf Entwurfsmuster zu setzen, die sich bereits als hilfreich im Lehr- und Lernraumdesign erwiesen haben. Dieses Designproblem lässt sich gut am Beispiel des Redesigns eines Klassenzimmers einer Berufsschulklasse beschreiben. Hinsichtlich möglicher Effekte für die Forschung stellt sich die Frage, inwieweit Vererbung, über die Grenzen des Lehr- und Lernraumdesigns hinaus, allgemein für das Konzept des Co-Designs nutzbar ist. LR_D hat sich zum Ziel gesetzt, die eigenen Planungstheorien auf die Probe zu stellen und diese im Umfeld beruflicher Aus- und Weiterbildung zu testen. Im Vorfeld wurden dazu verschiedene Lehr- und Lernraumdesigns in Einrichtungen beruflicher Bildung untersucht, die man als Beispiele guter Praxis bezeichnen kann. Die Ergebnisse dieser Mustersuche wurden nach ausgiebiger Diskussion und Abgleich in eine formale Ordnung gebracht – die sogenannten Concept Maps.

6 | Vgl. Findeli, Alain: Die projektgeleitete Forschung – Eine Methode der Designforschung, in: Erstes Design Forschungssymposium, Zürich 2004, S. 40–49, hier S. 44; Findeli, Alain/Coste, Anne: De la recherche creation à la recherche projet – un cadre theoretique et méthodologique pour la recherche architecturale, in: Lieux communs Nr. 10, 2007, S. 139–161, hier S. 139. 7 | Vgl. Findeli, Alain: Die projektgeleitete Forschung: Eine Methode der Designforschung, in: Erstes Design Forschungssymposium, S. 40–49, Zürich 2004, hier S. 45; Jonas, Wolfgang: »Design Thinking« als »General Problem Solver« – der große Bluff?, in: Öffnungszeiten – Papiere zur Designwissenschaft Nr. 26, Kassel 2012, S. 68–77, hier S. 68; Brandes, Uta/Erlhoff, Michael: Designtheorie und Designforschung, Stuttgart 2009, S. 87.

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Abbildung 1: Concept Map ›Sonosphäre‹

Vererbung – Konzept des Co-Designs

Die dazugehörigen Zeichnungen erinnern an grafische Abbildungen aus der Graphentheorie der Informatik. Die Design Patterns wurden anschließend prototypisch in den realen Umgebungen zweier Berufsschulen getestet8. Im Raumwerkstatt genannten Co-Design-Workshop, gemeinsam mit Schülern und Lehrern in Bamberg, wurden die Concept Maps als Inspirationsquelle für das Redesign des Klassenzimmers 311 präsentiert. Den Schülern und Lehrern wurde nach einer kurzen Einführung die Gelegenheit gegeben, diese Grafiken zu bearbeiten. Die Patterns waren auf DIN-A2 Poster ausgedruckt und im leeren Klassenzimmer verteilt aufgehängt. Die Co-Designer konnten sich nun frei im Raum bewegen, um sich Patterns ihrer Wahl anzusehen und sie nach den eigenen Wünschen zu verändern.

Abbildung 2: Angeeignete Concept Map Die Konstruktion der Snoezelen-Ecke9 erfolgte in der Pattern Session mit den teilnehmenden Schülern der Berufsschule. Nach der kurzen Einführung zum Umgang fingen die Co-Designer wie erwartet an, die Poster entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen zu markieren. Vorgaben dazu, wie gezeichnet und 8 |  Neben der Berufsschule II in Bamberg wurde gemeinsam mit Schülern und Lehrern einer Berufsschulklasse der Akademie für Berufliche Bildung (AFBB) in Dresden ein sehr ähnlich angelegter Workshop durchgeführt. 9 | Snoezelen ist ein Konzept der Inklusion, bei dem eine Rückzugsmöglichkeit für Lernende vorgesehen ist, die ein behagliches und bequemes Abschalten ermöglicht (vgl. Wikipedia: Snoezelen, 2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Snoezelen [25.03.2019]).

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markiert werden sollte, welche grafischen Mittel angemessen wären oder gar Hinweise zur Verwendung spezieller Software schienen unangebracht, hinsichtlich der Herausforderung, unbekanntes Terrain erkunden zu wollen. Im Ergebnis fanden sich – wie bereits in einer vorbereitenden Session zuvor – zunächst lediglich Anzeichen für Konstruktion, Dekonstruktion und Kommentierung. Bis endlich ein erstes interpretierbares Anzeichen gefunden wurde, das der strengen Auslegung von Vererbung entsprach. Das Besondere war: In diesem Detail wurden die in den Zeichnungen etablierten schematischen Standards übernommen. Eine Teilnehmerin der Raumwerkstatt hatte offensichtlich die Zeichenstandards der Zeichnungen analysiert, sich angeeignet und eine neue Instanz der Klasse kreiert. Grundlegend stellt sich die Frage, ob der Co-Design-Workshop im Nachhinein wie ein Fall betrachtet werden kann. Und ob es möglich ist, Vererbung im Kontext des Lehr- und Lernraumdesigns zu betrachten, als Detail der Fallfacette10 des Umgangs mit Entwurfsmustern. Es wird nachfolgend gleichermaßen Bezug genommen auf ein beobachtetes Phänomen als auch auf dessen konzeptuelle Durchdringung entsprechend persönlicher theoretischer Vorprägung der beteiligten Forschenden. Diese zweigleisige Annäherung kann als pragmatischer Ansatz bezeichnet werden11, der unterschiedliche individuelle Schwerpunktlegungen der gesamten Forschungsgruppe integriert. Die Frage, was ein Fall ist, kann nicht einheitlich beantwortet werden. Dieses Problem ist allerdings alles andere als unbekannt und spiegelt sich im Diskurs um Fallstudienforschung vor allem vor der Frage Was ist ein Fall? wider. Konsens wurde diesbezüglich in einem vielbeachteten Diskurs der 1990er Jahre hergestellt, in dessen Verlauf unterschiedliche Herangehensweisen legitimiert wurden, sowohl hinsichtlich der Betrachtung partikulärer Details eines kleinen, eher lokalen Falls12, als auch hinsichtlich größer angelegter Verallgemeinerungen durch Schlüsselfälle. Ins Verhältnis gesetzt wurden diese 10 | Vgl. Scholz, Roland W./Lang, Daniel J./Wiek, Arniem/Walter, Alexander I./Stauffacher, Michael: Transdisciplinary case studies as a means of sustainability learning – Historical framework and theory, in: International Journal of sustainability in Higher Education, Vol. 7, Nr. 3, 2006, S. 226–251, hier S. 235; Vgl. Thomas, Gary: A Typology for the Case Study in Social Science Following a Review of Definition, Discourse, and structure, in: Qualitative Inquiry 17(6), 2011, S. 511–521, hier S. 512. 11 | Vgl. Jonas, Wolfgang: Social Transformation Design as a Form of Research through Design (RTD) – Some historical, theoretical, and methodical Remarks, in: Jonas, Wolfgang/Zerwas, Sarah/von Anselm, Kristof (Hrsg.): Transformation Design, Basel 2015, S. 114–133, hier S. 124. 12 | Vgl. Thomas, Gary: A Typology for the Case Study in Social Science Following a Review of Definition, Discourse, and structure, in: Qualitative Inquiry 17(6), 2011, S. 511–521, hier S. 514.

Vererbung – Konzept des Co-Designs

beiden Ausrichtungen mit der Unterscheidung, dass Fälle sowohl theoretisch konstruiert werden können, als auch, dass sie Ergebnis von Beobachtungen sein können13. Für den Versuch, Vererbung besser zu verstehen, stellt sich entsprechend die Frage, ob das im Feld gefundene Falldetail nachträglich ausgedeutet werden darf? Dieser Versuch wird nun hier unternommen. Vererbung wird nachträglich, durch Reflexion und Interpretation, als Funktion in der Arbeit mit Entwurfsmustern beschrieben. Die einzige, vorab verabredete Forschungssystematik war, dass die in der Raumwerkstatt entstehenden Artefakte umfassend fotografisch dokumentiert werden. Die Darstellung des Falls bzw. die Fallfacette Vererbung erfolgt hier entlang des von Scholz et al. adaptierten Modells der Living Systems 14. Die Empfehlung dazu lautet, sich den Fall in drei Ebenen vorzustellen und sich möglichst zügig ein erstes Bild zu verschaffen, um frühzeitig darüber sprechen zu können. Dem ersten Verstehen des Falls folgt dann in zweiter Ebene der theoretische Bezug. Hier konkret zu einem grundlegenden Konzept objektorientierten Programmierens, der Designmethode Vererbung, die als Falldetail bezeichnet wird. In dritter Ebene folgt die Darstellung der Befunde. Diese analytische Ebene präsentiert die Artefakte, auf die sich der Theoriebezug beruft. In der Vorgehensweise weicht das bereits deutlich von datengetriebenen Verschriftlichungsformen ab, die in der Regel nacheinander die Ergebnisse von Befragungen o. ä. dokumentieren, darstellen und zusammenfassen, bevor die Diskussion dieser Ergebnisse erfolgt. Wie auch immer, die hier verfolgte Vorgehensweise ist diskurserprobt und kann auch von Anhängern linearer Vorgehensweisen gut verstanden und nachvollzogen werden. Eine naheliegende Frage muss geklärt werden, um den Fall verstehen zu können. Warum ist Vererbung überhaupt von Interesse für Lehr- und Lernraumdesign? Darauf gibt es zwei Antworten. Hinsichtlich des Designproblems wird mit Vererbung eine Funktion handhabbar gemacht, die die Gestaltung mit sich als gut erwiesenen Mustern des Lehr- und Lernraumdesigns 13 | Vgl. Ragin, Charles C.: What is a case?, in: Ragin, Charles (Hrsg.): What is a Case? Exploring the Foundations of Social Inquiry, Cambridge 1992, S. 1–17, hier S. 9. 14 | Vgl. Scholz, Roland W./Lang, Daniel J./Wiek, Arniem/Walter, Alexander I./Stauffacher, Michael: Transdisciplinary case studies as a means of sustainability learning – Historical framework and theory, in: International Journal of sustainability in Higher Education, Vol. 7, Nr. 3, 2006, S. 226–251, hier S. 235. Der Anschluss an dieses Fallstudien-Konzept scheint legitim, obwohl dessen Autoren mit ihrer Forschungsagenda der Transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung eher gesamtgesellschaftliche Fragestellungen verfolgen. Sich auch um Falldetails bzw. Fallfacetten kümmern zu können, schließen die Autoren dabei aber nicht aus.

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attraktiver macht. Und zweitens ist das Konzept hinsichtlich der Forschungsfrage von Interesse, weil es bei Anwendung darauf hindeutet, dass die Arbeit mit Entwurfsmustern in der Darstellungsweise mit Concept Maps generell verstanden werden kann. Die eher informationstechnisch anmutende, abstrakte Darstellungsweise der Concept Maps wurde innerhalb der Forschungsgruppe vor allem als Instrument des gemeinsamen Verständigungsprozesses genutzt. Ob die Concept Maps darüber hinaus auch zur Unterstützung der Co-Designs-Prozesse innerhalb einer zweitägigen Raumwerkstatt geeignet sind, wurde angezweifelt. Die Darstellungsweise der Entwurfsmuster erschien zunächst zu komplex, um für die Arbeit der Co-Designer hilfreich zu sein. Kann ein konservatives und zurückhaltendes Konzept wie Vererbung im Vergleich mit gegenwärtigen Entwurfstrends überhaupt einen Beitrag leisten, wenn allenthalben von radikalen Ansätzen15 und disruptiven Wendungen gesprochen wird? Um den Fall einordnen zu können, muss man sich auf die speziellen Kontextbedingungen beruflicher Aus- und Weiterbildung einlassen. Schüler und Lehrer werden als Gestalter und als relevante Akteure im Lehrund Lernraumdesign akzeptiert und einbezogen. Und es geht darum, auf das Wissen besonders herausragender Fälle des Lehr- und Lernraumdesigns im Umfeld dualer Berufsausbildung zuzugreifen und es allgemein verfügbar zu machen. Besonders gut gelungene Beispiele werden identifiziert und deren Erfolgsfaktoren analysiert. Eine Konsequenz daraus stellt die Arbeit mit Entwurfsmustern bzw. Design Pattern dar. Aus besonders nützlich diagnostizierten Vorgehensweisen werden Handlungsoptionen abgeleitet, thematisch gegliedert und in Entwurfsmustern gebündelt. Die einzelnen Entwurfsmuster werden dann in einer Mustersammlung vereint. Das geschieht in einem Wiki16, in dem auch auf die Concept Maps zugegriffen werden kann. Über besonders gut funktionierende Beispiele können sich an der Planung beteiligte Personen auf diese Weise einen Überblick verschaffen, sie ggfs. übernehmen und bei eigenen Planungen anwenden. Die Entwurfsmuster sind aber nur eine Momentaufnahme. Deren Grundlage – Kontext, Problem, Gestaltungsparameter und mögliche Lösungen – verändern sich dynamisch. Von Vererbung wird dann gesprochen, wenn zusätzlich zu bestehenden Optionen weitere Optionen hinzugefügt werden und dabei sprachliche und symbolische Prozessschemata angeeignet und für die eigenen Zwecke genutzt werden. Die Möglichkeit der Aneignung und Verän15 | Der Hinweis auf die Radikalität erfolgt in Bezug auf die NERD2GO-Konferenz in Hildesheim, bei der es zu klären galt, inwiefern man sich selbst radikal forschend bzw. gestaltend einordnen würde. Dass die Auslegung von Kontext zu Kontext unterschiedlich ausfallen kann, erklärt sich von selbst. 16 | https://bildungsportal.sachsen.de/opal/auth/RepositoryEntry/20319600641/ wiki/Index

Vererbung – Konzept des Co-Designs

derung vorhandener Gestaltungsmuster kann in diesem Zusammenhang als radikaler Ansatz im Lehr- und Lernraumdesign verstanden werden. Diese noch neue Funktion ist eine Innovation für die beteiligten Akteure und bedeutet für die Benutzer eines Raums, aktiv im Spannungsfeld zwischen Beharrung und Entwicklung eingreifen zu können. Dies überrascht, weil es in einem eher traditionsbewussten Umfeld geschieht, in dem man es gewohnt ist, sich top down auf Experten zu verlassen, die das Lehr- und Lernumfeld schon angemessen gestalten werden. Trotz des nachvollziehbaren Ansatzes, sich auf etablierte Entwurfsmuster räumlicher Bedingungen beruflicher Aus- und Weiterbildung zu beziehen, kam vor der Raumwerkstatt die Frage auf, ob ein von Grund auf neues Design verfolgt wird oder ob mit Entwurfsmustern auf allgemein anerkannt gute Praktiken des Lehr- und Lernraumdesigns aufgebaut wird. Auf den konkreten Fall bezogen könnte gefragt werden: Wurde die Raumwerkstatt in Bamberg quasi zum Neubeginn17 für das zu gestaltende Klassenzimmer 311? Oder wurde bestehende Ausstattung in das neu zu gestaltende Klassenzimmer einbezogen? Und welchen praktischen Einfluss hatten die präsentierten Entwurfsmuster?

CO-DESIGN UND PROZESS Die im Projekt LR_D entstehenden Instrumente und Methoden schlagen eine Brücke von der aktuellen Bildungs- und Designforschung in die Planungspraxis von Lernräumen. Ziel ist es, die Arbeit planender, beratender und Genehmigungen erteilender Akteure und Einrichtungen sowie förderpolitische Gremien und Entscheider zu unterstützen. Vorrangig aus Bildungsinstitutionen des beruflichen Ausbildungssektors. Co-Design ist ein zentraler Bestandteil der Prozessgestaltung im Projekt. Es hat seine Wurzeln in den 1970er Jahren

17 | Der Begriff Stunde Null liegt nahe, müsste aber sehr viel weiter ausholend beschrieben werden. Insbesondere, weil er designtheoretischer Diskursgegenstand unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war (vgl. Spitz, René Michael: Die politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm (1953–1968). Ein Beispiel für Bildungs- und Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1997, S. 46–47), vor allem in den westlichen Besatzungszonen. Es müsste auf die militärische Herkunft verwiesen werden, die sich auf den Startzeitpunkt einer militärischen Handlung bezieht. Der Begriff wurde im sogenannten Studio Null adaptiert, mitbegründet von Inge Scholl und Otl Aicher. Das war eine Designgruppe im Kontext der Volkshochschule Ulm, aus der heraus die spätere Hochschule für Gestaltung Ulm entstand. 1945, direkt nach Ende des Krieges war es notwendig geworden, auch in der Selbstbezeichnung zu verdeutlichen, dass man sich nicht mehr auf bestehende Entwurfsmuster verlassen möchte.

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in Skandinavien entwickelten partizipativen Designpraktiken18 und spiegelt eine grundlegende Veränderung in der traditionellen Beziehung zwischen Gestaltern und Kunden wider. Der Co-Design-Ansatz ermöglicht es einem breiten Personenkreis, einen kreativen Beitrag zur Formulierung und Lösung eines Problems zu leisten. Dieser Ansatz geht über Konsultation 19 der Benutzer hinaus, indem eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen den Nutzern aufgebaut und vertieft wird, die von einer bestimmten Herausforderung betroffen sind, bzw. die versuchen, diese zu lösen. Ein zentraler Grundsatz von Co-Design ist es, Benutzer als Experten20 ihrer eigenen Erfahrung in den Gestaltungsprozess einzubeziehen. In LR_D stehen die gemeinsamen Raumwerkstätten für diesen Ansatz. In ihnen sind es Lehrende (Lehrerinnen und Lehrer) und Lernende (Schülerinnen und Schüler bzw. Auszubildende), die als Experten für die Anforderungen an die von ihnen genutzte räumliche Umwelt agieren. Die Rolle der Moderation 21 ist ein wesentlicher Bestandteil eines erfolgreichen Co-Design-Projekts. Im Projekt LR_D schlüpfen Planungsexperten aus unterschiedlichen Disziplinen in die Rolle von Ermöglichern bzw. Mediatoren22. Sie bieten Möglichkeiten, zu kommunizieren, kreativ zu sein, Erkenntnisse auszutauschen und neue Ideen im Bau von Modellen auszuprobieren. Konkrete Herausforderung für Planungsexperten sei es, die Bildung einer Projektidentität 23 zu unterstützen. Lehren und Lernen findet noch immer zum überwiegenden Teil in physischen Räumen statt. Es ist daher zu begrüßen, dass sich im Diskurs der Pädagogik eine zunehmende Sensibilität für den Raumdiskurs und die Dimension

18 | Vgl. Sander, Elizabeth B.-N./Stappers, Pieter Jan: Co-creation and the New Landscape of Design, in: CoDesign Vol. 4, Nr. 1, London 2008, S. 5–18, hier S. 5. 19 | Vgl. Arnstein, Sherry R.: A Ladder of Citizen Participation, in: Journal of the American Institute of Planners 35:4, 1969, S. 216–224, hier S. 219. 20 | Vgl. Sander, Elizabeth B.-N./Stappers, Pieter Jan: Co-creation and the New Landscape of Design, in: CoDesign Vol. 4, Nr. 1, London 2008, S. 5–18, hier S. 5. 21 | Vgl. Jonas, Wolfgang: Social Transformation Design as a Form of Research through Design (RTD) – Some historical, theoretical, and methodical Remarks, in: Jonas, Wolfgang/Zerwas, Sarah/von Anselm, Kristof (Hrsg.): Transformation Design, Basel 2015, S. 114–133, hier S. 120. 22 | Vgl. Overmeyer, Klaus: Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln, in: Fezer, Jesko/ Heyden, Matthias (Hrsg.): Hier entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung, Berlin 2004, S. 45–53, hier S. 48. 23 | Vgl. Boos, Frank/Heitger, Barbara: Kunst oder Technik? Der Projektmanager als sozialer Architekt, in: Balck, Henning (Hrsg.): Networking und Projektorientierung, Berlin/Heidelberg 1996, S. 165–182, hier S. 175.

Vererbung – Konzept des Co-Designs

des physischen Raumes beobachten lässt24. Durch das Lernen mit digitalen Medien steigen auch die Anforderungen an schulische Umgebungen und mit ihnen die Herausforderungen in Bezug auf den Prozess der Planung und Gestaltung von Lehr- und Lernräumen. Die Methoden und Instrumente der Raumplanung hinken den komplexen Anforderungen für die Gestaltung von physischen Lehrräumen häufig hinterher. Ausstattungs-Typologien, wie sie bei der Gestaltung von Lehr- und Lernräumen zum Einsatz kommen, können kaum noch den partikulären, dynamischen und komplexen Gestaltungswünschen dieser Kontexte folgen. Raumplanungsmethoden benötigen eine ständige Weiterentwicklung und Optimierung, um den sich ändernden Herausforderungen räumlicher Planung gerecht zu werden.25 Dies gilt im besonderen Maße für die gemeinsame Nutzbarmachung räumlicher, bildungswissenschaftlicher sowie medientechnologischer Gestaltungsansätze für einen disziplinübergreifenden Planungsprozess zur Entwicklung moderner Lernräume. Am Diskurs über Lehr- und Lernräume nehmen neben Fachplanern eine Vielzahl weiterer Akteure und Anspruchsgruppen teil. Sie betrachten Lernräume aus verschiedenen Perspektiven und diskutieren auf der Basis von unbewussten Selbst- und Fremdbildern.26 Deshalb sind Prozesse, bei denen frühzeitig eine gemeinsame Basis, mit einer gemeinsamen Sprache und einem gemeinsamen Verständnis der einzelnen Ziele geschaffen wird, von zentraler Bedeutung. Kommunikation und Interaktion schaffen in diesem Spannungsfeld Transparenz und ermöglichen Teilhabe auch an den Ideen und Vorstellungen der anderen Beteiligten. Im Forschungsprojekt LR_D arbeiten vor diesem Hintergrund seit Anfang 2017 Experten aus Architektur, Medientechnik und Bildungswissenschaft gemeinsam mit Nutzern und Akteuren kommunaler, wie privater Bildungsträger und Unternehmen an der Entwicklung von Instrumenten zur Planung und Gestaltung physischer Lehr- und Lernräume. Dies vor dem Hintergrund des Trends zunehmender Digitalisierung der Bildung. Entlang des partizipativen Prozesses der Gestaltung von Lehr- und Lernräumen wird dabei u. a. in gemeinsamen Workshops mit Schülern und Lehrern auch der Frage nachgegangen, auf welcher Grundlage diese gemeinsame Arbeit erfolgen kann. Dieser in Teilen experimentelle und explorative Ansatz hat sich den durch die Digitalisierung stark in Veränderung befindlichen 24 | Vgl. Sesink, Werner: Überlegungen zur Pädagogik als einer einräumenden Praxis, in: Rummler, Klaus (Hrsg): Lernräume gestalten – Bildungskontexte vielfältig denken, Medien in der Wissenschaft Band 67, Münster 2014, S. 29–43, hier S. 37. 25 | Vgl. Förster, Anke: Planungsprozesse wirkungsvoller gestalten – Wirkungen, Bausteine und Stellgrößen kommunikativer planerischer Methoden, München 2014, S. 22. 26 | Vgl. Hubeli, Ernst/Reich, Kersten/Schneider, Jochem/Seydel, Otto (hrsg. von Montag Jugend und Gesellschaft/Montag Stiftung Urbane Räume): Schulen planen und bauen. Grundlagen und Prozesse, Berlin 2012, S. 183.

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beruflichen Aus- und Weiterbildungskontext als relevantes Forschungsfeld gewählt. Es begreift berufliche Schulen und Einrichtungen im Kontext von Industrie 4.0 als Reallabore27. Design Patterns als Option einer erfolgreichen Lehr- und Lernraum-Digitalisierung können in diesen realen Kontexten wirksam untersucht werden. Zwei Einrichtungen aus dem Kreis der Projektpartner machten es möglich, jeweils zweitägige Raumwerkstätten als Reallabore einzurichten, an denen Schüler und Lehrer teilnahmen. Diese Maßnahmen wurden auf Entscheidungsebene von Vertretern der jeweiligen Schulleitungen begrüßt und unterstützt.

CONCEP T MAPPING UND VERERBUNG LR_D folgt der Idee des Pattern Matching bzw. des Musterabgleichs. Die Ergebnisse dieser Mustersuche, bei der insgesamt 14 Entwurfsmuster entstanden, wurden nach umfangreicher Diskussion in eine formale Ordnung gebracht und in die bereits beschriebene Prozess-Diagrammatik eingezeichnet. Diese Schemazeichnungen wurden nachfolgend mit verschiedenen Projektpartnern28 erstmalig hinsichtlich ihrer Gebrauchstauglichkeit getestet. Dabei konnte beobachtet werden, dass die Projektpartner – nach kurzer Einführung29 27 | Vgl. Schneidewind, Udo: Urbane Reallabore – ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt, in: pnd online - Planung neu denken, Wuppertal 2014, S. 1, https://epub. wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/5706/file/5706_Schneidewind.pdf [21. 03.2018]; Schäpke, Niko/Stelzer, Franziska/Bergmann, Matthias/Singer-Brodowski, Mandy/Wanner, Matthias/Caniglia, Guido/ Lang, Daniel J.: Reallabore im Kontext transformativer Forschung – Ansatzpunkte zur Konzeption und Einbettung in den internationalen Forschungsstand, No. 1/2017, S. 1, https://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Forschungseinrichtungen/professuren/transdisziplinaerenachhaltigkeitsforschung/files/Diskussionspapier_Reallabore_im_Kontext_transformativer_ Forschung_Schaepke_et_al.pdf [10.08.2018]. 28 | Bestehend aus Vertretern der Industrie- und Handelskammer Dresden, Handwerkskammer Dresden, Akademie für Berufliche Bildung Dresden, Berufsschule Bamberg 2 sowie Oskar-von-Miller-Schule Kassel. 29 | Eine ca. 10-minütige Einführung, rekurrierend auf Christopher Alexander und Horst Rittel. In dieser Einführung wurde auch auf den weiteren historischen Hintergrund von Gestaltungsmustern hingewiesen, die nicht eine Erfindung der 1960er Jahre sind, sondern als planungsunterstützendes Werkzeug mindestens seit der Renaissance Verbreitung finden. Eine Ausstellung des Kunstgewerbemuseums Berlin hat 2016/2017 unter dem Motto »Form follows Flower« die systematische Nutzung von Entwurfsmustern Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert (vgl. Nikolai, Angela/Thümmler, Sabine: Form Follows Flower – Moritz Meurer, Karl Blossfeldt und Co., Berlin/München 2017).

Vererbung – Konzept des Co-Designs

in die Funktions- und Darstellungsweise der Concept Maps – anfingen, Anmerkungen direkt auf die Poster zu notieren. Das waren Kommentare, Stichwörter oder einfach nur unterstrichene oder durchgestrichene Annotationen zu Kontextbedingungen, Gestaltungsoptionen oder Nutzungsmöglichkeiten. Aus heutiger Sicht scheint es klar zu sein, dass in diesen ersten Tests beobachtet wurde, was Software-Entwickler in ihrer täglichen Arbeit beim Code implementieren verrichten. Bei dieser Tätigkeit des Umsetzens von Software-Entwürfen in Programmier-Anweisungen einer speziellen Programmiersprache werden neue Konstrukte (Konstanten, Variablen, Funktion, ...) nach Bedarf erstellt und nicht mehr benötigte Konstrukte zerstört. Die Auswirkungen einzelner Programmteile werden von professionellen Programmierern zusätzlich kommentiert, um nachfolgende Software-Anpassungen durch andere Programmierer zu unterstützen. Konstrukte erstellen, bestehende Funktionalität dekonstruieren sowie Code kommentieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte das lediglich gezeigt, dass die Concept Maps von diesem besonders an Lehr- und Lernraumdesign interessierten Projektpartnern aus Reihen der Experten-Organisationen dann verstanden werden können, wenn man sich zuvor etwas Zeit nimmt, deren Wirkungsweise angemessen zu erklären. Niemand konnte allerdings zu diesem Zeitpunkt absehen, dass diese Tätigkeit einer sehr vereinfachten Form der Instanziierung einer Klasse folgte. Die Concept Maps wurden daraufhin prozessbegleitend in den Co-Design-Workshops30 an den beteiligten Berufsschulen eingesetzt. Die Beobachtung von Vererbung erfolgte im Rahmen der Raumwerkstatt. Eingeleitet und vorangetrieben wurden diese Workshops durch eine Anforderungsanalyse mittels einer Life-Visualisierungs-Performance, die unterstützt wurde, durch ein Gesprächsformat, das an eine Erhebungstechnik der Organisation Studies erinnert – Appreciative Inquiry. Zwischen Anforderungsanalyse und Bau eines Raummodells wurde die Arbeit an den Concept Maps eingefügt, die rund 40 Minuten dauerte, wovon etwa zehn Minuten zur theoretischen Einleitung dienten. Diese sogenannten Pattern Sessions wurden für Schüler und Lehrer getrennt durchgeführt. Am zweiten Workshop-Tag folgte dann die praktische Modellbau-Session, in der die wesentlichen Aspekte des räumlichen Klassenraum-Redesigns sichtbar wurden und Formen annahmen. Die Beobachtung von Anforderungsanalyse, Pattern Session und Modellbau kann als explorative und teilnehmende 30 | Schlenker, Lars/Neuburg, Carmen/Bei der Kellen, Dirk/Jannack, Anja: Partizipativ planen für die berufliche Bildung – Hybride Lernräume gemeinsam gestalten, in: Köhler, Thomas/Schoop, Eric: Gemeinschaften in neuen Medien. Forschung zu Wissensgemeinschaften in Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung und öffentlicher Verwaltung, Dresden 2019, S. 150–154, hier S. 151.

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Beobachtung31 beschrieben werden, bei der systematisch alle Zwischenstände der co-designten Artefakte fotografisch festgehalten wurden. In einigen wenigen Fällen wurde auch im Gespräch32 mit einzelnen Teilnehmern der Raumwerkstätten die beabsichtigte Wirkungsweise der grafischen Darstellungen in den Concept Maps weiter vertieft. Die Initiative dazu ging dann aber jeweils von den Teilnehmern aus. Jeweils am Ende der Workshop-Tage wurden Gedächtnisprotokolle verschriftlicht.

Abbildung 3: Raumwerkstatt Klassenzimmer 311, Berufsschule II Bamberg Für eine erste Eingrenzung zu Anwendungsmöglichkeiten der Concept Maps stand die Frage im Raum, was bzw. welche von den Teilnehmern der Raumwerkstatt gemachten Eintragungen bei der Auswertung von besonderem Interesse sein könnten. Hinsichtlich des Designproblems stand die Nutzung der Patterns zur anstehenden Umgestaltung des Klassenzimmers 311 im Mittelpunkt. Hinsichtlich der Forschungsfrage hingegen war interessant, ob die Benutzung der Zeichnungen möglicherweise generell für Co-Design-Prozesse

31 | Vgl. Brandes, Uta/Erlhoff, Michael: Designtheorie und Designforschung, Stuttgart 2009, S. 133. 32 | Gänzlich offene und unstrukturiert gehaltene Gespräche waren das, in der die Forschenden ihr Anliegen bewusst preis gaben, um sich auf Augenhöhe mit den beforschten Personen zu begeben. Girtler nennt das ero-episches Gespräch (vgl. Girtler, Roland: Methoden der Feldforschung, Wien/Köln/Weimar 2001, S. 43).

Vererbung – Konzept des Co-Designs

empfehlenswert sein könnte. Von Vererbung als konkrete Funktion im Umgang mit Entwurfsmustern war zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede. Die erste Annahme zur Auswertung lautete, dass die Nutzung der Concept Maps dann weiterhin allgemein empfehlenswert sei, wenn Anzeichen echter Nutzung davon in den 3D-Modellen sichtbar werden. Derartige Anzeichen blieben aber weitestgehend aus. Entsprechend wurden die von Lehrern und Schülern bearbeiteten Concept Maps jeweils in einigen weiteren Analyse-Durchgängen nochmals genauer betrachtet. In einem dieser Durchgänge mit besonderem Augenmerk auf Kritzeleien und Markierungen, kam der Gedanke, dass sich auf einem Poster möglicherweise eine grafische Ergänzung als ein komplexeres Konzept des Software-Engineerings interpretieren lässt: Vererbung. Daraufhin konnte die Frage formuliert werden: Wenn dieses zentrale Programmierkonzept von Schulen der beruflichen Bildung genutzt wurde, sollte es dann nicht auch in Planungssituationen anderer Umgebungen Anwendung finden? Umgekehrt stellte sich die Frage, wie sinnvoll der Einsatz der Zeichnungen sei, wenn die vorgenommenen Ergänzungen auf rein sprachlicher Ebene verblieben und keine Anzeichen auf Aneignung der grafischen Ordnung gefunden worden wären. Könnte man auf dieser rein logischen Grundlage überhaupt empfehlen, Concept Maps in anderen Planungskontexten einzusetzen? Wenn die Zeichnungen nicht dazu anregen, dass zumindest die grundlegendsten Stilmittel nachgeahmt werden, was wären die Zeichnungen dann wert?

VERERBUNG ALS CO-DESIGN-FUNK TION Vererbung ist eines der Kernkonzepte des objektorientierten Software-Designs und in diesem Rahmen wird es hier betrachtet.33 Es handelt sich um eine Strategie der Wiederverwendung von Code, die es ermöglicht, neue Features beim Vererben eines Objekts hinzuzufügen. Man kann sich das tatsächlich so vorstellen, als wenn man etwas von seinen Eltern erbt. Beispielsweise ein Haus. Möglicherweise ist man mit dem Haus alles in allem glücklich, außer, dass man einen Raum vermisst, in dem man seine Vorlesungen vorbereiten kann. Was tun? Vielleicht gibt es ja einen Garten, der groß genug für einen kleinen Anbau ist, um als Home Office zu dienen? Software-Entwickler würden das Haus der Eltern eine Klasse nennen und das Haus mit dem Anbau die vererbte Instanz der Klasse. 33 | In diesem Zusammenhang nimmt die objektorientierte Programmierung für das Erstellen von Code ähnliche Funktionen war, wie die Genetik bei Eingriffen ins biologische Erbgut.

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Jedoch – ist das alles nicht ein Beharren am Bestehenden? Und, wenn es so wäre, was wäre falsch an diesem zwar nachhaltigen und ressourcenschonenden, gleichzeitig aber nicht übermäßig innovativen Effekt? Keine Frage, krasse oder revolutionäre Veränderungen sind damit zunächst nicht zu erwarten. Zur Versachlichung der Debatte Beharrung vs. Erneuerung muss darauf hingewiesen werden, dass Beharrung aus raumorientierter Perspektive eher den normalen Schaffensmodus darstellt. Gebäude werden für eine Dauer von mindestens 60 Jahren geschaffen. Für die Medientechnologie ist Beharrung hingegen viel weniger problematisch. Die Abschreibefristen in diesem Bereich liegen in der Regel zwischen vier und acht Jahren, was eher zu einer größeren Toleranz führt, wenn es um die Digitalisierung von Lehr- und Lernräumen geht. In der Medientechnik ein Wagnis einzugehen und ggfs. Mal auf eine falsche Technologie zu setzen, hat entsprechend deutlich geringere Auswirkungen, als es eine entsprechende Trial-and-Error-Mentalität in der Architektur nach sich ziehen würde. Die Probleme der Medientechniker sind zahmer als die der Architekten.34 Leiden müssen ggfs. darunter vor allem diejenigen, die in diesen Räumen lernen. Das Agile Manifesto 35 betont die Attraktivität früh funktionierender Systeme in Co-Design-Prozessen. Der gesamte agile Prozess erfolgt entlang prototypischen Entwickelns und der Neigung, Benutzer in die Entwicklung mit einzubeziehen. Dieser Prozess ist gekennzeichnet von Offenheit für Veränderung über den gesamten Entwicklungsprozess hinweg. Agiles Entwickeln kümmert sich jedoch wenig um bestehendes Wissen und um Wiederverwendbarkeit bestehender Entwurfsmuster. Entsprechend wird Funktionalität gegenüber Dokumentation bevorzugt. Agiles Vorgehen wurde auch in den Raumwerkstätten gepflegt, sieht man von den Pattern Sessions einmal ab. Innerhalb zweier Workshop-Tage sind aus den ersten vagen Gedanken der Teilnehmer anschauliche, teils liebevoll und detailliert ausgestattete 3D-Modelle geworden. Trotz dieses Erfolgs steht immer noch die Frage im Raum, ob der agile Imperativ – Function first!36 – für Aktivitäten der Raumgestaltung akzeptabel sein kann. Mag Rapid Prototyping für medientechnische Fragen möglicherweise noch tolerierbar sein, so müssen raumbezogene Betrachtungsweisen dazu, aufgrund

34 | Vgl. Rittel, Horst W./Webber, Melvin: Dilemmas in a general theory of Planning, in: Rittel, Horst W. (Hrsg. Reuter, Wolf D./Jonas, Wolfgang): Thinking Design, Basel 2013, S. 20–38, hier S. 30. 35 | Vgl. Beck, Kent u. a: Principles behind the Agile Manifesto, 2001, http://agilemani festo.org/principles.html [30.03.2019]. 36 | Konkret heißt es im Manifest: »Working Software over comprehensive documentation« (vgl. Beck, Kent u. a: Principles behind the Agile Manifesto, 2001, http://agile manifesto.org/principles.html [30.03.2019]).

Vererbung – Konzept des Co-Designs

der viel länger angelegten Lebenszyklen von Bauwerken und Ausstattungselementen, eine andere Haltung einnehmen. Diese Frage stellt sich verstärkt durch den eher diffusen Eindruck, dass eine rigorose Bevorzugung der Funktionalität, zwar zweckmäßigerweise Co-Design stimulieren kann, jedoch eher schwach ist, wenn es um die Nachhaltigkeit codesignter Artefakte geht. Die Kritik lautet: Übermäßige Betonung von Funktionalität neigt dazu, sorgfältige Dokumentation des Designprozesses zu vernachlässigen und erhöht darüber hinaus auch die Wahrscheinlichkeit, die gleichen Dinge immer und immer wieder von neuem zu gestalten. Als im weiteren Projektkontext begonnen wurde, die Design Patterns gemeinsam mit Lehrern zweier Berufsschulen aus Kassel und Bamberg zu diskutieren, entstand der Eindruck, dass der Vorschlag einer Schematik auf Grundlage der Automatentheorie der Informatik hilfreich sein kann, wenn es darum geht verschiedene Variablen in einer gemeinsamen Darstellungsweise voneinander zu unterscheiden bzw. durch die grafische Anordnung die Bedeutung der Variablen besser voneinander abgrenzen zu können. Die Prozess-Schematik sieht eine Leserichtung von links nach rechts vor (siehe Abbildung 1).

Abbildung 4: Der Planungsprozess nach Rittel37

37 | Vgl. Rittel, Horst W.: Der Planungsprozess als iterativer Vorgangvon Varietätserzeugung und Varitätseinschränkung, in: Rittel, Horst W. (Hrsg. Reuter, Wolf D./Jonas, Wolfgang): Thinking Design, Basel 2013, S. 71–86, hier S. 78.

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Kontextvariablen als Ergebnis von Beobachtungen und Gesprächen vor Ort in den Berufsschulen stehen ganz links. Bei den diagnostizierten Designvariablen (unten stehend) handelte es sich um anerkannte und erprobte Methoden des Lehr- und Lernraumdesigns. Und es wurden Nutzenvariablen festgestellt, die Resultate einer Funktion sind, abhängig von Kontext- und Designvariablen38. Die Nutzenvariablen wurden einerseits gesetzt, nach Analyse beobachteter Benutzeraktivität und andererseits konstruiert, durch bereits vorhandenes Expertenwissen. Dieses Vorgehen ist inspiriert von der Arbeit Christopher Alexanders und den Konzepten Horst Rittels. Beide interessierten sich für Design Patterns im Gestaltungskontext, beide ausgerichtet auf sprachliche Wissensformation unter den Bedingungen des damals vorherrschenden Paradigmas des Linguistic Turns. Alexander eher in poetischer Weise, Rittel mit Neigung zu formalen Sprachen. Beide ganz stark an demokratischen Prozessen im Design orientiert – ein allgemeiner Trend der späten 1960er Jahre. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Nutzung didaktischer Muster auch als akzeptiertes Vorgehen im bildungswissenschaftlichen Diskurs identifiziert wurde. Bauer und Baumgartner weisen auf die Analogie zu den Portfolios der Künstler der Renaissance hin, in denen diese ihre wichtigsten Werke sammelten und präsentierten.39 Die Verbindung von Architektur-Mustersprache zu didaktischen Lernmustern ist bereits gut beschrieben. Eine weitere Denkströmung des Projekts LR_D importierte zusätzlich Design und Planung in diesen Diskurs. An dieser Stelle kann man bereits feststellen, dass die Ergänzung des Pattern Diskurses durch den Theorie-Import mittels Rittels Designprozess konkret auf die Arbeit des BMBF-Projekts Lehrraum_digital zurückzuführen ist.

FA ZIT Ausgangspunkt der Argumentation war es festzustellen, dass die gefundene Darstellungsweise von Design Patterns in einer Concept Map-Darstellung vor allem für die Entwicklung und gegenseitige Verständigung im Forschungskontext geeignet, aber weniger für Co-Design in der Praxis nutzbar ist. Nach Erprobung der Concept Maps in einem realen Kontext, erweist sich diese pessimistische Annahme zumindest aus designtheoretischer Sicht als falsch. Von Vererbung war zum Zeitpunkt der Co-Design-Workshops jedoch noch keine 38 | Vgl. Rittel, Horst W.: Der Planungsprozess als iterativer Vorgang von Varietätserzeugung und Varitätseinschränkung, in: Rittel, Horst W. (Hrsg. Reuter, Wolf D./Jonas, Wolfgang): Thinking Design, Basel 2013, S. 71–86, hier S. 77. 39 | Vgl. Bauer, Reinhard/Baumgartner, Peter: Schaufenster des Lernens, Münster 2012, S. 9.

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Rede. Die Arbeit mit Entwurfsmustern in den Raumwerkstätten stieß, trotz des Einsatzes der Concept Maps, auf nur wenig Akzeptanz und Interesse. Möglicherweise weil der Einsatz quasi ohne Hinweis auf verfügbare Funktionen erfolgte, wie mit den Concept Maps gearbeitet werden kann. Diese Situation hat sich mit dem Konzept Vererbung verbessert. Ein weiteres Problem ist die Frage nach dem Umgang mit Funden ohne große Stichprobe. Eine Befragung der beteiligten Co-Designer wäre im Rahmen des Workshops forschungspraktisch kaum möglich gewesen. Es hätte den Designprozess empfindlich gestört. Der Umgang mit diesem Problem folgt daher einer Strategie kritischen Designs. Es wird aus einer skeptischen Grundannahme heraus argumentiert. Das bedeutet, es ist nicht notwendig, möglichst viele Anzeichen finden zu müssen, wenn eine Aussage derart getroffen wird, dass sie sich mit nur einem Befund falsifizieren lässt. Die Hürde, die eigene pessimistische Annahme zu widerlegen, wird dabei besonders hoch gelegt. Notwendige Bedingung, um in diesem Zusammenhang überhaupt erst von Aneignung sprechen zu können, ist der Nachweis der Nutzung einfacher Konzepte objektorientierter Programmierung auf sprachlicher Ebene. Hinreichende kritische Signifikanz ist erst dann gegeben, wenn komplexe Strategien der Aneignung nachgewiesen werden, die nicht allein auf sprachlicher Ebene dargestellt werden, sondern die symbolische Ebene einschließen. Schlussfolgernd lässt sich verallgemeinernd sagen: Aus der Beobachtung in einem realen Umfeld ist es gelungen, eine Fallfacette zu konstruieren, in der eine im Projektkontext allgemeingültig scheinende, skeptische und zweifelnde Annahme zur Gebrauchstauglichkeit der Concept Maps widerlegt wurde. Dies gelang mittels des Nachweises, dass mit Vererbung eine besonders komplexe Programmierstrategie objektorientierten Software-Designs angewendet wurde. Vererbung wurde auf den Concept MapPostern sowohl auf sprachlicher als auch grafischer Ebene dargestellt. Konsequenterweise muss nun die Frage gestellt werden: Wenn die pessimistische Annahme in einer realen Umgebung falsifiziert wird, wie sehr kann dann noch auf die vermeintlich allgemeingültige Annahme vertraut werden? Argumentiert man aus einer wissenschaftlichen Haltung heraus, die stark dazu neigt, Forschungsfragen von den Designproblemen zu trennen, dann wird Design Output nicht als wissenschaftliches Ergebnis betrachtet, sondern dient der forschenden Neigung, Raumplanung explorativ in Situationen des täglichen Lebens und gemeinsam mit den Anspruchsberechtigten auf die Probe zu stellen. Anders ausgedrückt, Forschung, wie hier dargestellt, begleitet die Lösung von Gestaltungsaufgaben. Hinsichtlich des Einsatzes von Concept Maps als Designwerkzeug sind zwei Einsatzweisen denkbar.

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1.

Concept Mapping als Kommunikationswerkzeug, das für Moderatoren im Designprozess sehr hilfreich sein kann. Denn es ermöglicht, relativ frei über Entwurfsmuster zu sprechen, weil die grafische Anordnung bereits eine Leseanleitung in sich selbst darstellt. 2. Im Co-Design-Prozess eingesetzt, verfügen die Concept Maps mit Vererbung nun über eine kommunizierbare Funktion, auf die zuvor noch nicht zugegriffen werden konnte. Dazu ist es aber ratsam, das Aussehen der Concept Maps grafisch weiterzuentwickeln, um sie als nutzbares Werkzeug attraktiver zu machen. Hinsichtlich der Forschungsfrage, ob die Arbeit mit Entwurfsmustern, dargestellt in Concept Maps, generell in Co-Design-Prozessen Anwendung finden kann, lässt sich vorsichtig mit ja antworten. Vererbung ist als allgemeines Konzept dabei nicht auf den eng gefassten Bereich des Lehr- und Lernraumdesigns begrenzt. Die Theoriebildung mittels Bezug zur Software-Entwicklung scheint darüber hinaus fruchtbar zu sein. Vererbung erweist sich als eine erste nützliche Funktion im Umgang mit Entwurfsmustern. Es gibt weitere interessante Funktionen in der objektorientierten Programmierung, die nun untersucht werden können, ohne dass man dabei auf Zufallsfunde hoffen muss. Zu nennen wären beispielsweise die Konzepte Polymorphie und Überladung.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Concept Map ›Sonosphäre‹, 2018, © LR_D. Abbildung 2: Angeeignete Concept Map ›Rückzugsraum‹, 2018, © LR_D. Abbildung 3: Raumwerkstatt Klassenzimmer 311, Berufsschule II Bamberg, 2018, © LR_D. Abbildung 4: Der Planungsprozess nach Rittel, 2013, © Rittel, Horst.

QUELLENVERZEICHNIS Al-Marsafawy, Hesham: Reaktion auf den Konferenzbeitrag ›Vererbung‹, in: Foraita, Sabine (Hrsg.): NERD2GO, Hildesheim 2018, http://nerd2go.hawk. de/ [22.03.2019]. Arnstein, Sherry R.: A Ladder of Citizen Participation, in: Journal of the American Institute of Planners 35:4, 1969, S. 216–224. Bauer, Reinhard/Baumgartner, Peter: Schaufenster des Lernens, Münster 2012. Beck, Kent u. a: Principles behind the Agile Manifesto, 2001, http://agilemanifesto. org/principles.html [30.03.2019].

Vererbung – Konzept des Co-Designs

Boos, Frank/Heitger, Barbara: Kunst oder Technik? Der Projektmanager als sozialer Architekt, in: Balck, Henning (Hrsg.): Networking und Projektorientierung, Berlin/Heidelberg 1996, S. 165–182. Brandes, Uta/Erlhoff, Michael: Designtheorie und Designforschung, Stuttgart 2009. Findeli, Alain: Die projektgeleitete Forschung: Eine Methode der Designforschung, in: Erstes Design Forschungssymposium, Zürich 2004, S. 40–49. Findeli, Alain/Coste, Anne: De la recherche creation à la recherche projet: un cadre theoretique et méthodologique pour la recherche architecturale, in: Lieux communs Nr. 10, 2007, S. 139–161. Förster, Anke: Planungsprozesse wirkungsvoller gestalten – Wirkungen, Bausteine und Stellgrößen kommunikativer planerischer Methoden, München 2014. Girtler, Roland: Methoden der Feldforschung, Wien/Köln/Weimar 2001. Hubeli, Ernst/Reich, Kersten/Schneider, Jochem/Seydel, Otto (hrsg. von Montag Jugend und Gesellschaft/Montag Stiftung Urbane Räume): Schulen planen und bauen. Grundlagen und Prozesse, Berlin 2012. Jonas, Wolfgang: »Design Thinking« als »General Problem Solver« – der große Bluff?, in: Öffnungszeiten – Papiere zur Designwissenschaft Nr. 26, Kassel 2012, S. 68–77. Jonas, Wolfgang: Social Transformation Design as a Form of Research through Design (RTD) – Some historical, theoretical, and methodical Remarks, in: Jonas, Wolfgang/Zerwas, Sarah/von Anselm, Kristof (Hrsg.): Transformation Design, Basel 2015, S. 114–133. Müller, Francis: Designethnografie – Methodologie und Praxisbeispiele, Wiesbaden 2018. Nikolai, Angela/Thümmler, Sabine: Form Follows Flower – Moritz Meurer, Karl Blossfeldt und Co., Berlin/München 2017. Overmeyer, Klaus: Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln, in: Fezer, Jesko/ Heyden, Matthias (Hrsg.): Hier entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung, Berlin 2004, S. 45–53. Ragin, Charles C.: What is a case?, in: Ragin, Charles (Hrsg.): What is a Case? Exploring the Foundations of Social Inquiry, Cambridge 1992, S. 1–17. Rheinberger, Hans-Jörg/Roehl, Heiko: Mit den Händen denken, in: Organisations Entwicklung Nr. 3, S. 11–14. Rittel, Horst W./Webber, Melvin: Dilemmas in a general theory of Planning, in: Rittel, Horst W. (Hrsg. Reuter, Wolf D./Jonas, Wolfgang): Thinking Design, Basel 2013, S. 20–38. Rittel, Horst W.: Der Planungsprozess als iterativer Vorgangvon Varietätserzeugung und Varitätseinschränkung, in: Rittel, Horst W. (Hrsg. Reuter, Wolf D./Jonas, Wolfgang): Thinking Design, Basel 2013, S. 71–86. Sander, Elizabeth B.-N./Stappers, Pieter Jan: Co-creation and the New Landscape of Design, in: CoDesign Vol 4, Nr 1, London 2008, S. 5–18.

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Schäpke, Niko/Stelzer, Franziska/Bergmann, Matthias/Singer-Brodowski, Mandy/Wanner, Matthias/Caniglia, Guido/Lang, Daniel J.: Reallabore im Kontext transformativer Forschung – Ansatzpunkte zur Konzeption und Einbettung in den internationalen Forschungsstand, No. 1/2017, 2017, https:// www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Forschungseinrichtungen/professuren/transdisziplinaere-nachhaltigkeitsforschung/files/Diskussions papier_Reallabore_im_Kontext_transformativer_Forschung_Schaepke_ et_al.pdf [10.08.2018]. Schlenker, Lars/Neuburg, Carmen/Bei der Kellen, Dirk/Jannack, Anja: Partizipativ planen für die berufliche Bildung – Hybride Lernräume gemeinsam gestalten, in: Köhler, Thomas; Schoop, Eric: Gemeinschaften in neuen Medien. Forschung zu Wissensgemeinschaften in Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung und öffentlicher Verwaltung, Dresden 2019, S. 150–154. Schneidewind, Udo: Urbane Reallabore – ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt, in: pnd online – Planung neu denken, Wuppertal 2014, https:// epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/5706/file/5706_ Schneidewind.pdf [21.03.2018]. Scholz, Roland W./Lang, Daniel J./Wiek, Arniem/Walter, Alexander I./Stauffacher, Michael: Transdisciplinary case studies as a means of sustainability learning – Historical framework and theory, in: International Journal of sustainability in Higher Education, Vol. 7, Nr. 3, 2006, S. 226–251. Sesink, Werner: Überlegungen zur Pädagogik als einer einräumenden Praxis, in: Rummler, Klaus (Hg): Lernräume gestalten – Bildungskontexte vielfältig denken, Medien in der Wissenschaft Band 67, Münster 2014, S. 29–43. Spitz, René Michael: Die politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm (1953–1968). Ein Beispiel für Bildungs- und Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1997. Thomas, Gary: A Typology for the Case Study in Social Science Following a Review of Definition, Discourse, and structure, in: Qualitative Inquiry 17(6), 2011, S. 511–521.

Autorinnen und Autoren

Becker, Alexandra (M.A.), ist an der Hochschule der Medien in Stuttgart im Learning-Research Center tätig. Seit 2012 mit den Themen physische Lernräume, Selbstlernzentren und Hochschulorganisation befasst. Aktuell liegt ihr Schwerpunkt im Forschungsprojekt »LeHo – Lernwelt Hochschule« – welches das Zusammenspiel von Hochschulorganisation, physische Lernwelt, digitale Strukturen und Hochschuldidaktik im Hinblick auf die Entwicklung zur studierendenzentrierten Hochschule untersucht. Bei der Kellen, Dirk (M. A.), hat Medieninformatik an der Fachhochschule Furtwangen (FH-Diplom) studiert und nach einigen Jahren beruflicher Praxis Organization Studies an der Stiftung Universität Hildesheim studiert (Master of Arts). Er gestaltet Lehr- und Lernräume an der TU Dresden und forscht zu Medientechnik und Medieneinsatz in gestaltenden Projekt-Kontexten mit Interaktionsdefiziten. Bender, Désirée, Dr. phil, Soziologin und Pädagogin, promovierte an der Universität Mainz und ist dort in Forschung und Lehre tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u. a. transnational aging studies mit Fokus auf Ruhestandsmigrationen vom globalen Norden in den globalen Süden und soziologische Wissens-, Raum- und Praxistheorien in Verbindung mit empirischen Untersuchungen in innovativen, unkonventionellen Arbeits- und Bildungsorten von (Kreativ-)Arbeitenden und Kindern. Mit praxistheoretischem Fokus auf Raumkonstruktionen und die Bedeutung von Objekten untersucht sie in ihrer Habilitationsschrift derzeit verschiedene unkonventionelle care-settings für ältere Menschen und Kinder und vergleicht die Konstruktionen der care-receiver miteinander. Brümmer, Katrin (M. A.), studierte von 2011–2015 Innenarchitektur und von 2015–2016 Design und Medien an der Hochschule Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Raumtheorien und Raumstrategien. Von 2017– 2019 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät III – Medien,

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Information und Design der Hochschule Hannover tätig. Sie lehrt seit 2017 interdisziplinär Designtheorie und Raumstrategien. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation, die das Verhältnis von Macht und Kreativität im Öffentlichen Raum untersucht. Foraita, Sabine, Prof. Dr. phil., geboren 1965 in Berlin. Studium Industrial Design an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Abschluss Diplom 1991, verschiedene Tätigkeiten in der Industrie. Auf baustudium Kunst und Design, Abschluss Magister Artium 1998. Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen. Promotion mit dem Dissertationsthema »Borderline – das Verhältnis von Kunst und Design aus der Perspektive des Design«, Abschluss 2005. Seit 2006 Professur »Designwissenschaften/Designtheorie« an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim. Ebenfalls seit 2011 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung (DGTF). Geiger, Annette, Prof. Dr., ist seit 2009 Professorin für Theorie und Geschichte der Gestaltung an der Hochschule für Künste Bremen. Als Kunst- und Kulturwissenschaftlerin forscht sie über die Kulturen des Ästhetischen in Kunst, Design und Alltag, insbesondere zur Geschichte von Produkt-, Mode- und Grafikdesign, zu Fotografie und Film, Bild- und Medientheorie. Dissertation in Kunstgeschichte: »Urbild und fotografischer Blick. Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts«, 2004; Jüngste Monografie: »Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs.« 2018. Sowie als Hg.: »Grenzüberschreitungen Mode und Fotografie“, 2017; »Kunst und Design. Eine Affäre« (mit M. Glasmeier), 2012; »Coolness – zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde“ (mit Ä. Söll, G. Schröder) 2010«; u. a. Krämer, Katharina, Dipl.-Des., ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät III – Medien, Information und Design der Hochschule Hannover in der Koordinationsstelle für Gender und Diversity »same difference«. Im Anschluss an ihre berufliche Tätigkeit als Tischlerin und eine Weiterbildung zur Gestalterin im Handwerk studierte sie Produktdesign an der Hochschule Hannover. Seit ihrem Diplom 2007 forschte sie in den Bereichen Gender und Design sowie Universal Design an der Hochschule Hannover und führte zahlreiche Lehraufträge an der Hochschule Hannover sowie der HTW Berlin durch. 2010 absolvierte sie einen Forschungsaufenthalt mit Lehrtätigkeit am National Institut of Design, India. Bis 2015 war sie als freiberufliche Designerin tätig. 2012 veröffentlichte sie gemeinsam mit Birgit Weller »Du Tarzan Ich Jane – Gender Codes im Design«.

Autorinnen und Autoren

Park, June H., Prof. Dr. phil. Dipl.-Des., Universitätsprofessor. Lehrt an der Universität Vechta. Forschungsgebiete: Designwissenschaft, Entwurfsforschung, Designpädagogik, Kultursemiotik und Theoretisches Design. Aktuelle Publikationen: Designpädagogik: Begründung und Perspektive für das Bildungsthema »Design« (2018), Bildungsperspektive Design (2018). Plankert, Saskia (M. A.), studierte an der HAWK Hildesheim Gestaltung mit dem Schwerpunkt Grafikdesign. Seit 2014 ist sie an der Hochschule Hannover, Fakultät für Medien, Information und Design als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und promoviert an der HBK Braunschweig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Entwicklung neuer Formate für Weiterbildungen unter besonderer Berücksichtigung gestalterischer Kriterien. Schlenker, Lars, Dr. phil, hat Architektur an der TU Dresden (Diplom) sowie zu Digitalisierung und Bildung am Learning Lab der Universität Duisburg-Essen studiert (Master of Arts) und promoviert. Er lehrt und forscht zu Technology Enhanced Learning Spaces und Environmental Design in unterschiedlichen Kontexten. Er leitete das interdisziplinäre BMBF-Projekt Lehrraum_digital an der Professur für Bildungstechnologie der TU Dresden. Online: larsschlenker. net. Scholz, Martin, Dr. phil. Dipl.-Des., Professor für Kommunikation & Projektmanagement an der Hochschule Hannover, Fakultät III – Medien, Information, und Design. Fotografenlehre, Studium Kommunikationsdesign, Promotion über Technologische Bilder, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Magdeburg und künstlerischer Assistent an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Ständige Lehrangebote seit 1989, u. a. Gast- und Vertretungsprofessuren an der HBK Braunschweig, FH Mainz und FH Münster. Forschungsschwerpunkte in den Überschneidungsbereichen von Medientheorie, Bildgestaltung und Filmtheorie. Weltzien, Friedrich, Dr. phil., ist Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, seit 2013 Professor für Kreativität und Wahrnehmungspsychologie an der Hochschule Hannover, Abteilung Design und Medien. Zuvor war er Gastprofessor für Kulturgeschichte an der Kunsthochschule Berlin Weißensee, Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Instituts für Künste und Medien der Universität Potsdam und Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst- und Designtheorie vom 18. bis ins 21. Jahrhundert und der Vernetzung zwischen Kunst-, Medien- und Wissenschaftsgeschichte, er ist Spezialist für ästhetische Theorien

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des Flecks. Lehrinhalte werden u. a. zu Comicgeschichte, Medientheorie der Mode, Raumtheorien, experimentellen Bildpraktiken oder interkultureller Kommunikation angeboten. Ein methodischer Fokus ist in Forschung und Lehre auf die Produktionsästhetik gerichtet. Wölwer, Stefan, Professor für Interaction Design an der Hochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK), Diplom-Studium zum Kommunikationsdesigner in Hildesheim, Masterstudium am Lansdown Centre for Electronic Arts der Middlesex University in London, Gründer und Kreativdirektor Kibook London, Lehraufträge und Semnare an der FH Potsdam, der FHBB Basel und dem ICA London, freiberuflicher Autor u. a. der Designmagazine PAGE und WEAVE. Zerweck, Philip, Dipl.-Des., betreibt seit bald 25 Jahren Designwissenschaft aus Leidenschaft, internationale Veröffentlichungen und Tagungsteilnahmen, langjähriges Engagement in der Berufs- und Hochschulentwicklung, Mitbegründer der Forschungsplattform designdidaktik.org, aktiv in der DGTF, Co-Gründer deren Themengruppe Designdidaktik. Er promoviert in Designpädagogik, Universität Vechta, Abschlüsse in Produktdesign und Visuelle Kommunikation, weiterbildende Studien des Maschinenbaus, der Wirtschaft und des Innovationsmanagements, Gesellenbrief der Feinmechanik. Er war künstlerischer und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel in den Studiengängen Produktdesign und Maschinenbau, Research Fellow an der Hochschule Luzern, hat neunzehnjährige Lehrerfahrung an diversen Hochschulen und Studiengängen, und verdient sein Geld als Designer, Produktentwickler, Dozent und Coach im Bereich strategische System- und Produktentwicklung/ -management, Digitalisierung, Design Thinking und Innovationsmanagement.

Architektur und Design Annette Geiger

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4

Andrea Rostásy, Tobias Sievers

Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente 2018, 456 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2517-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2517-6

Christoph Rodatz, Pierre Smolarski (Hg.)

Was ist Public Interest Design? Beiträge zur Gestaltung öffentlicher Interessen 2018, 412 S., kart., z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4576-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, I SBN 978-3-8394-4576-1

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Architektur und Design Gerrit Confurius

Architektur und Geistesgeschichte Der intellektuelle Ort der europäischen Baukunst 2017, 420 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3849-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3849-7

Eduard Heinrich Führ

Identitätspolitik »Architect Professor Cesar Pinnau« als Entwurf und Entwerfer 2016, 212 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3696-3 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3696-7

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9

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