Enigma Agency: Macht, Widerstand, Reflexivität 9783839440124

The discovery of the unconscious and the psychoanalytical term of (subconscious) acting have blown apart classic theorie

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German Pages 198 Year 2018

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Enigma Agency: Macht, Widerstand, Reflexivität
 9783839440124

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Das Enigma von Agency
HERMENEUTISCHE ANNÄHERUNGEN AN AGENCY
Agency: Selbstbestimmung in Situationen
Kreativität und Kritik. Spielräume des Handelns nach Dewey und Gadamer
Autonomie und Überschreitung. Bruchstücke einer Theorie der hermeneutischen Agency
PSYCHOANALYTISCHE ZUGÄNGE ZU AGENCY
How to do things without words: Worum handelt ES sich beim Agieren?
Agieren und Handeln: ein Chiasma zwischen Freiheit und Zwang
GESELLSCHAFTSKRITIK, CULTURAL STUDIES UND POLITISCHE AGENCY
Wie kommen Erzählungen über Gesellschaft zustande? Klassenkampf, Naturbeherrschung, Geschlechterkampf: Marxismus, Kritische Theorie und Feminismus
Praktiken des Eigensinns und die Emergenz des Politischen
Autor_inneninformation

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Hans-Herbert Kögler, Alice Pechriggl, Rainer Winter (Hg.) Enigma Agency

Cultural Studies  | Band 51

Die Reihe wird herausgegeben von Rainer Winter.

Hans-Herbert Kögler, Alice Pechriggl, Rainer Winter (Hg.)

Enigma Agency Macht, Widerstand, Reflexivität

Mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

sowie des Fachbereichs für Philosophie und Religionswissenschaft an der University of North Florida.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz und Korrektorat: Christian Herzog Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4012-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4012-4 https://doi.org/10.14361/9783839440124 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Das Enigma von Agency

Hans-Herbert Kögler, Alice Pechriggl, Rainer Winter | 7

HERMENEUTISCHE ANNÄHERUNGEN AN AGENCY Agency: Selbstbestimmung in Situationen

Andreas Hetzel | 37 Kreativität und Kritik. Spielräume des Handelns nach Dewey und Gadamer

Stefan Deines | 55 Autonomie und Überschreitung. Bruchstücke einer Theorie der hermeneutischen Agency

Hans-Herbert Kögler | 81

PSYCHOANALYTISCHE ZUGÄNGE ZU AGENCY How to do things without words: Worum handelt ES sich beim Agieren?

Timo Storck | 115 Agieren und Handeln: ein Chiasma zwischen Freiheit und Zwang

Alice Pechriggl | 137

GESELLSCHAFTSKRITIK, CULTURAL STUDIES UND POLITISCHE AGENCY Wie kommen Erzählungen über Gesellschaft zustande? Klassenkampf, Naturbeherrschung, Geschlechterkampf: Marxismus, Kritische Theorie und Feminismus

Peter V. Zima | 155 Praktiken des Eigensinns und die Emergenz des Politischen

Rainer Winter | 173

Autor_inneninformation | 193

Einleitung: Das Enigma von Agency H ANS -H ERBERT K ÖGLER , A LICE P ECHRIGGL , R AINER W INTER

Mit der „Entdeckung“ des Unbewussten und dem psychoanalytischen Begriff des (unbewussten) Agierens, der Bedeutung von Vorverständnis und Situation in Hermeneutik und Pragmatismus sowie den kontextorientierten Macht- und Widerstandsanalysen in den Cultural Studies ist das semantische Feld der klassischen Handlungstheorie gesprengt worden. Das vorliegende Buch geht der Frage nach der Rätselhaftigkeit von Agency im Kontext unterschiedlicher Zugangsweisen nach. Mit dem Begriff der Agency lassen sich diese neuen Dimensionen des Tun-und-Lassens bzw. Handelns aus hermeneutisch-pragmatischer, gruppen/psychoanalytischer sowie kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive in systematischer Weise erhellen. Agency avancierte zu Recht zum Zentralbegriff einer post-disziplinären Sozialforschung, die – auch nach dem „Tod des Subjekts“ – Widerständigkeit und Subjektivität zu denken und zu vertreten versucht. Agency zu denken ist der Versuch zu verstehen, wie genau das sozial situierte Selbst innerhalb sozialer Macht- und Herrschaftsstrukturen platziert ist und dennoch kreativ agieren und reflexiv handeln kann. Diese Relationen werden oft eher beschworen als begriffen, werden eher vorausgesetzt als theoretisch geprüft. Es ist das Ziel des vorliegenden Bandes, den Begriff der Agency vor dem Hintergrund hermeneutisch-pragmatischer, gruppen/psychoanalytischer, und sozialwissenschaftlicher Perspektiven zu thematisieren, und durch die Schnittstellen dieser Diskussion Licht in das Dunkel um einen der Grundbegriffe kritischer Sozialforschung und Philosophie zu bringen.1

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Die hier versammelten Beiträge beruhen auf Vorträgen bei der Tagung „Das Enigma von Agency“, die im Mai 2016 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt stattfand (AAU 2016). Sie wurden von den Autor_innen überarbeitet und z.T. stark erweitert.

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S UBJEKT , H ANDLUNG UND M ACHT IM D ISKURS DER A GENCY Die begriffliche Folie eines Subjekts, das bewusst handelnd die eigene Macht über die Welt ausübt, hat lange Zeit den westlichen Diskurs über Freiheit und Selbstbestimmung dominiert. Paradigmatisch bringt Max Weber dies in seiner Rationalitätskonzeption auf den Begriff, indem vernünftiges Handelns weitgehend identisch wird mit zweckrationalem Handeln, bei dem sich das Subjekt die geeigneten Mittel zur Erreichung der selbstgesetzten Zwecke verschafft und diese einsetzt (Weber 2002). Der westliche Diskurs des autonomen Subjekts ist freilich, spätestens allgemein anerkannt seit dem Aufscheinen der sogenannten Postmoderne, einer ganzen Reihe von Zurückweisungen und Überwindungsversuchen ausgesetzt worden. Das Spektrum der Kritik und der Gegenentwürfe, durch welche die Dominanz der Subjekt- bzw. Bewusstseinsphilosophie deplatziert und zu ersetzen versucht wurde, reicht von der poststrukturalistischen Dekonstruktion des Bewusstseins bis hin zur systemtheoretischen Ersetzung der Subjekt-Welt-Differenz durch die System-Umwelt-Differenz und weiter zu kommunikations- und aktortheoretischen Alternativen (vgl. Foucault 1980; Lyotard 1999; Luhmann 1987; Habermas 1985; Latour 2008). Wenn wir nun in dieser fast unüberschaubaren Theorienvielfalt den Begriff der Agency als wesentliches Potential einer Erneuerung und Weiterführung des Diskurses über Subjekt, Handlung und Macht einführen, geschieht dies im Wesentlichen mit einer doppelten Zielsetzung: Zum einen erkennen wir mit der subjektkritischen Wende die Unhaltbarkeit des traditionellen Subjekt- und Handlungsbegriffs an und versuchen durch eine gezielte Analyse der diesem zugrundeliegenden Annahmen und Voraussetzungen, die Bedingungen für eine revidierte und haltbare Fassung subjektiven Denkens, Handelns und Erfahrens zu schaffen. Zum andern verweisen wir aber zugleich auf die Notwendigkeit, widerständige Subjektivität und kritische Reflexivität von Subjekten theoretisch zu begründen und damit auch kulturwissenschaftlich und politisch begrifflich einzuholen. Der traditionell cartesianisch-kantische Bewusstseins- und Subjektbegriff ist unhaltbar und muss einer dezidierten Kritik unterzogen werden. Daraus folgt aber weder die Totalverabschiedung des selbstbestimmten Handelns noch die ersatzlose Streichung der im konkret-situierten Subjekt angesiedelten Reflexivität und Intentionalität. Vielmehr erweist es sich als zentrale Herausforderung des gegenwärtigen Diskurses in kritischer Sozialwissenschaft und Gesellschaftstheorie, die Bedingung der Möglichkeit von Widerstand und Reflexivität gegenüber Triebhaftigkeit, Macht und Herrschaft wieder denkbar zu machen und da-

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mit jenseits der unhaltbaren Prämissen der traditionellen Subjektphilosophie zu begründen. Tatsächlich handelt es sich hier um die Überwindung einer tiefsitzenden metaphysischen Intuition in Bezug auf den Subjektbegriff. Was wir die ‚Fiktion des autonomen und transparenten Subjekts‘ nennen können, beinhaltet dabei drei für die moderne Bewusstseinsphilosophie entscheidende Prämissen.2 Beim ersten Aspekt geht es um die ontologische Differenz zwischen Subjekt und Welt. Der Substanzdualismus charakterisiert den Geist als wesentlich anders und eigenbestimmt gegenüber der materiellen Wirklichkeit. Der ontologische Unterschied zwischen Geist und Materie führt zweitens auf die epistemologische Differenz zurück, die davon ausgeht, dass wir uns unseres eigenen Denkens und Erlebens gewissermaßen unmittelbar bewusst sind, während wir die äußere Wirklichkeit nur durch Wahrnehmungen und Sinnesdaten vermittelt und dadurch dem Zweifel ausgesetzt erfahren können. Entscheidend ist, dass diese epistemologische Differenz zu einer ontologischen überhöht wird, indem die vermeintlich unmittelbare Zugänglichkeit der eigenen Denk- und Erfahrungserlebnisse als ontologischer Verweis auf einen eigenen Gegenstandsbereich begriffen wird, der durch die Substanzmetaphysik wesentlich von der Außenwelt unterschieden ist.3

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Hier kann es nicht um eine detaillierte historisch-systematische Aufschlüsselung dieser Aspekte gehen, sondern allein um deren idealtypische Darstellung. Diese ist wichtig, um jene Dimensionen der Agency, die sich als intentionale Reflexivität innerhalb sozialer Widerstandspraktiken ausweisen lassen, gegenüber der substantialistischen Subjekttheorie festhalten zu können.

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Richard Rorty hat eindrücklich nachgezeichnet, wie sich dieser Gegensatz durch die epistemologische Metapher des Geistes als innerem Spiegel der äußeren Wirklichkeit zum erkenntnistheoretischen Dogma, um dessen Vermittlung es gleichzeitig immer ging, verfestigen konnte (Rorty 1985). Rortys kritisch an Descartes orientierte Analyse zeigt zu recht, wie sich durch die Annahme, dass die kognitiven Erlebnisse in einer Geist-Substanz (res cogitans) beruhen, während die Außenwelt als Materie in einer räumlichen Substanz (res extensa) besteht, der Geist-Körper-Gegensatz ontologisch zum Dogma verfestigt (vgl. Descartes 2009). Sie trifft sich hier mit Heideggers Kritik an Descartes (Heidegger 1979). Zweifellos hat Descartes einflussreich die Differenz zwischen unkorrigierbaren Kognitionen – also solchen, die unmittelbar zugänglich sind (egal, ob wahr oder falsch) – und den durch diese Kognitionen ermöglichten Darstellungen der Außenwelt – die als solche vermittelt und damit bezweifelbar sind – ontologisch zu interpretieren versucht. Inwieweit diese Kritik, die sicherlich die Wir-

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Damit ergibt sich drittens in handlungstheoretischer Perspektive die normative Differenz zwischen frei-gefassten Entschlüssen und materiell-körperlich bedingten Ursachen, wobei das bewusste Handeln seinen Ursprung in der unbedingten (weil sinnlich unvermittelten) Freiheit des eigenen Geistes haben soll. Handlungen können nicht anders als durch diesen Geist erzeugt als frei verursacht und intentional gewollt erscheinen. Da die körperliche Materie mechanistisch feststehenden Naturgesetzen unterliegend gefasst wird, gibt es für Freiheit und Selbstbestimmung nurmehr einen Grund: den immateriellen Geist. Gedanken sind frei, der Geist ist autonom, allein die Materie oder der Körper unterjocht uns. Kants Moralphilosophie als die apriorische Selbstbestimmung des freien Willens vor jeder unreinen, weil sich notwendig in die materielle Welt begebenden Handlung, markiert einen Höhe- wie auch Wendepunkt dieses Denkens: Von nun an wird jede intentionale Handlung, deren Ursprung nicht in der selbstbestimmten Willensentscheidung gründet, mit dem Verdacht der Unfreiheit und Heteronomie bedacht (Kant 2005). Gleichzeitig gibt Kant selbst die Richtung an, in die wir in Anknüpfung an Freud weiterdenken: In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verweist er auf die Unmöglichkeit, jemals hinter alle „geheimen Triebfedern“ zu kommen, die hinter einer Handlung liegen mögen (Kant 1968, B/A 26/27). Damit weist er nicht nur die moralische Handlung und den freien Willen als ein theoretisches Konstrukt aus, sondern er eröffnet die Perspektive auf die letztliche Unbestimmbarkeit allen Handelns. Diese knappe philosophiegeschichtliche Erinnerung an die Subjektproblematik ist wichtig, denn sie erhellt die sich jenseits metaphysischer Annahmen wähnende analytische Handlungstheorie. Gegenüber dem abstrakt-theoretischen Denken und Schließen wird hier ein praktischer Syllogismus eingeführt, bei dem es nicht um theoretische Logik, sondern um intentional-pragmatische Konsistenz einer Handlung geht (Searle 1995, 2012). Der Begriff des rationalen Handelns wird als Grundprinzip auf die vernünftig nachvollziehbare Handlungssequenz eines individuellen Subjekts in der wirklichen Welt bezogen. Auszugehen sei davon, dass sich ein Subjekt, ausgestattet mit gewissen Überzeugungen und Bedürfnissen, gemäß der bestmöglichen Mittel zum Erreichen des Zwecks in der Welt verhalten wird. Habe ich Durst, und gehe davon aus, dass im Kühlschrank ein Bier ist, werde ich mich rationalerweise auf den Weg zum Kühlschrank machen. Umgekehrt wird die Beobachtung, wie sich ein Subjekt ein Bier aus dem Kühlschrank holt, damit erklärt, dass es sich dabei um die Befriedigung eines

kungsgeschichte des Cartesianismus in der neueren Bewusstseinsphilosophie trifft, Descartes selbst gerecht wird, bleibt dennoch umstritten.

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Bedürfnisses (Durststillen) handelt. Natürlich sind die wirklichen Interpretationen von Handlungssubjekten innerhalb einer in der natürlichen Umwelt situierten Sozial- und Kulturwelt ungleich komplexer, doch als interpretatives Grundprinzip, um die Handlungen von menschlichen Akteuren durch die intentionale Zuschreibung von Überzeugungs- und Bedürfniskomplexen verstehend zu erklären, wird dies als formale Grundstruktur weithin in Anspruch genommen und verteidigt. Obwohl hier nun zwar durch die Einbindung der Bedürfnisse der körperlichen Dimension Rechnung getragen wird, ist doch das Modell vollkommen von der onto-epistemologischen Differenz der Subjektphilosophie bestimmt: der intentionale Akteur gilt als unmittelbares Ausgangszentrum der Handlung, die durch das In-Szene-Setzen der intentionalen Handlung vom Geist her auf die Welt einwirkt und deren Zustand (im Sinne der Bedürfnisbefriedigung) zu verändern sucht (Searle 2012, 208ff.). Das Subjekt, ob von reinen Gedanken und Prinzipien oder von Überzeugung-Bedürfnis-Konstellationen bestimmt, ist die atomare Ur-Zelle der Handlung und als solche von der Welt kategorial unterschieden. Indem wir Agency ins Zentrum der – individuellen wie auch kollektiven – Subjektproblematik stellen, zielen wir ab auf die Destruktion und Überwindung dieser bewusstseinsphilosophischen Einstellung, ohne dabei jedoch die wichtige Dimension des subjektiven Erfahrens und Handelns aufgeben zu müssen. Vielmehr werden erst durch eine agency-theoretische Kehre die wirklichen Potentiale des reflexiven und widerständigen Subjekts greifbar, die unter den als „cartesisch-kantisch“ dogmatisierten Prämissen zugleich ontologisch hypostasiert und epistemologisch überhöht und deshalb auch abstrakt verschüttet bleiben. Dies wird hier durch eine knappe Diskussion der Unhaltbarkeit der drei wesentlichen Annahmen der Subjektphilosophie im Ansatz deutlich werden können und macht dann die Substanz der Beiträge dieses Buches aus, die vor diesem Hintergrund Subjektivität, Macht, und Widerstand neu zu entwerfen versuchen. Gehen wir zunächst von der grundlegenden epistemologischen These aus, gemäß welcher das Subjekt sich unmittelbar selbst zugänglich ist. Damit ist auf der basalsten Ebene (vor allem in der empiristisch-positivistischen Philosophie) die Unbezweifelbarkeit von direkt erlebten Sinneseindrücken gemeint. Eine Rotempfindung ist mir z.B. unmittelbar zugänglich, damit als solche absolut gewiss, also einfach da, hier und jetzt. Ebenso kann ich an meinem Zahnschmerz als Schmerzempfindung (leider) nicht zweifeln, ich habe ihn einfach. Aber diese (im analytischen Jargon) Qualia genannten Empfindungen sind weder dazu in der Lage, als alleinige Basis gemeinsame Bedeutungen zu generieren, noch reichen sie hin, gemeinsam geteilte Bedeutungen begründen zu können. Hierzu müssen wir, wie Wittgenstein zeigte, schon gemeinsame Gebärden als vorverstandene

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Ausdrucksformen dieser Erfahrungen voraussetzen, aufgrund derer sich dann Praktiken gemeinsamer Bedeutungszuweisungen etablieren können (Wittgenstein 2003; vgl. auch 1984). Das Argument einer praktischen Voraussetzung geteilten Sinnes stellt dabei keine Zurückweisung der ‚inneren‘ Erfahrung also solcher dar (ist also kein Behaviorismus!), sondern verweist vielmehr auf die je schon gegebenen und legitim in Anspruch genommenen sozial geteilten (also vermittelten) Artikulationen, durch die wir uns gemeinsam auch in unseren individuellen Erfahrungen verstehen. Zugleich sind diese im empiristisch-positivistischen Diskurs als rein bewusstseins-intern und somit ‚privat‘ definierten Gefühle (die durch diesen Privatheitsstatus als unbezweifelbar gewiss gelten sollen) nicht in der Lage, an sich die Deutung komplexer Sachverhalte und Zustände definitiv zu bestimmen. Die Unterdeterminiertheitsthese der post-empiristischen Theorie nach Kuhn und Feyerabend hat ebenfalls deutlich machen können, dass solche momentan und punktuell erfahrenen Phänomene nur innerhalb von sozial und praktisch geteilten Deutungsschemata bzw. Paradigmen relevante Geltung beanspruchen können (vgl. Kuhn 2002; Feyerabend 1976). Das führt uns ins Zentrum der Subjektproblematik zurück, da diese basalen Empfindungsphänomene an sich gar nicht wirklich die eigentliche Komplexität der subjektiven Selbstbeziehung erfassen. Die eigentliche These der Bewusstseinsphilosophie besteht ja in der Behauptung, dass sich das Selbst als Subjekt in dessen voller Reflexivität unmittelbar und transparent gegeben ist.4 Gerade diese Annahme aber ist, wenn wir die komplexere Ebene der reflexiven Selbstzuschreibung von vornherein und zu Recht in die Subjektproblematik miteinbeziehen, mittlerweile völlig unplausibel geworden. Bei den punktuellen Empfindungen kann man sich noch gut vorstellen, dass diese vorsprachlich und unmittelbar erfahren werden, auch wenn der gemeinsame kommunikative Bezug, wie gezeigt, schon gemeinsame Ausdrucksmedien voraussetzt. Aber die reflexive Vergegenwärtigung von höherstufigen Gedanken wie dem Selbstbegriff bzw. der Existenz des eigenen Ich (oder Gottes!) setzen offenbar die Fähigkeit voraus,

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So hat Descartes auch komplexe Gedanken, wie z.B. die Idee Gottes als absolut perfekten Wesens oder die Unbezweifelbarkeit der Existenz des eigenen Ich als individuell existierenden Geistes (als res cogitans) als selbstevident angesehen. Die selbstevidente Gegebenheit dieser Gedanken, also die kognitive Direkt-Zugänglichkeit dieser Ideen, sollte Garant dafür sein, dass z.B. das Selbst, als sich begrifflich vollkommen transparent gegeben, sich selbst und seinen kognitiven Inhalt unmittelbar als existierend weiß und sich dieser Erfahrung immer gewiss sein kann (Descartes 2009, 2. Meditation).

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sich auf etwas bewusst zu beziehen. Diese reflexive Beziehung des Subjekts auf sich selbst ist wiederum eine Tätigkeit, in der ich meine eigenen Leistungen als meinige erfasse, sie also als solche selbst auffasse. Dies wiederum kann ich nur durch sprachliche Vermittlungen tun, in denen ich den Begriff des Selbst bzw. des Ich als Begriff festhalte und identifiziere. Wichtig ist hier nun, dass mich diese sprachliche Vermittlung zugleich in ein Netzwerk von Vorannahmen einbindet, die ich vor-bewusst unterstelle, während ich zugleich jedoch in der sprachlichen Deutung meine Agency realisiere, in dem ich mich (bzw. meine Welt) so oder so deute. Die Selbstinterpretation ist dabei ein paradigmatischer Fall dessen, was wir unter Agency verstehen, nämlich die zugleich bedingte, nie absolute, situierte, durch Zeichenmedien vermittelte Tätigkeit, die zugleich meine Aktivität ausdrückt, sie durch den Akt der Interpretation, durch welchen ich mich als Ich entwerfe, schafft. Die Überwindung des abstrakten Geist- bzw. Bewusstseinsmodells zeigt sich also hier im Festhalten einer intentionalen Reflexivität, die sich aber nicht mehr substanzmetaphysisch als absolut gesetzt dünkt, sondern sich selbst als tätiges Projekt, als ein Sich-Entwerfen vor dem Hintergrund kontingenter Vorannahmen versteht. Reflexivität wird damit als situative Selbsterfassung und Selbstdeutung greifbar, und sie rekonstruiert damit die reflexive Selbstbeziehung, anstatt diese vollständig zu dekonstruieren. Mit der Idee der Agency als situativer Selbstinterpretation wird die vermeintlich unüberwindbare ontologische Differenz von Geist und Körper gegenstandslos. Tatsächlich beinhaltet der Begriff der Situation, in die das potentiell reflexive Subjekt immer schon gestellt ist, von vornherein die Körperlichkeit. Nur ein verkörpertes Subjekt kann sich in einer Situation befinden. Diese Befindlichkeit ist wiederum eine, bei der die subjektive Erfahrbarkeit der Welt auch durch und mit dem Körper des eigenen Selbst vermittelt ist. Der reflexive ‚Geist‘ ist also alles andere als vom ‚Körper‘ getrennt, und beide müssen demnach auch nicht, wie in der Metaphysikproblematik, miteinander vermittelt werden, ihre ontologische Differenz muss nicht aufgehoben oder überbrückt werden. Die korporeale Befindlichkeit ist vielmehr ko-konstitutiv für das In-der-Welt-Sein, wie auch die Fähigkeit zur subjektiven Selbstbeziehung für die spezifisch menschliche Körperlichkeit wiederum zentral ist. Wie Heidegger und Gadamer, Dewey und Mead sowie besonders Merleau-Ponty und Bourdieu in vielfältigen phänomenologisch-soziologischen Analysen zeigten, handelt und entwirft das Subjekt sich vor dem Hintergrund habitueller Praktiken und Institutionen, die bewusste intentionale Bezugnahmen intuitiv und implizit tragen und bestimmen und zugleich selbst durch die Agency der Subjekte einer dauernden Prüfung und Reaktualisierung unterliegen. Die sprachlich gegebene Möglichkeit, die eigenen Handlungen wie auch den Hintergrund zu reflektieren, ohne dabei jemals völlige Transparenz

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oder Selbstgewissheit zu erlangen, konstituiert dabei zugleich eine wesentliche Dimension der Praktiken und Institutionen selbst, ohne dass wir deshalb einem linguistischen Idealismus verfallen müssen, der alles in sprachlich objektivierbare Bedeutungen auflösen würde. Die körperlichen Erfahrungen und Praktiken, wie eindrucksvoll im psychoanalytisch thematisierten Agieren erfasst, stellen eine Agency-Dimension sui generis dar und bleiben dennoch dialektisch, im Sinne der möglichen Versteh- und Thematisierbarkeit durch sprachlich-dialogische Deutungen, auf Sprache und Interpretation bezogen. Durch die körperliche Situativität ergibt sich somit eine unausweichliche Relationalität, die sich immer zugleich in Bezug auf Dinge oder Projekte in der Welt entwirft sowie auch auf andere Subjekte, die sich wiederum auf Dinge und Welt beziehen. Diese Relationen enthalten also zusätzlich zur Subjekt-ObjektBeziehung, die eine ungeheure begriffliche Dominanz innerhalb der Bewusstseins- und Erkenntnistheorie innehat, die Intersubjektivität als phänomenologische Erfahrung. In der gezielten Reflexion auf diese Dimension von Agency entfaltet sich nun das Potential einer Selbstorientierung, die das Zweck-MittelSchema der klassischen Bewussteins- und Handlungstheorie hinter sich lassen kann. Durch unseren Rekurs auf Agency als ein sich aus der Situation heraus entwerfendes Subjekt wird auch die normative Orientierung am Anderen nunmehr stark kontextuell und situativ ausgerichtet. Es geht also, innerhalb des durch die Agency-Perspektive eröffneten Theoriehorizontes, nicht mehr allein um das Auswechseln der rationalen Moraltheorie, die am Einzelsubjekt orientiert ist, gegen eine kommunikations- oder anerkennungstheoretische Konzeption. Die unentrinnbare Situativität von Agency legt vielmehr nahe, nunmehr die ethisch-moralische Sicht als tätige Einstellung, als ein Ethos des sich in der Situation aktualisierenden Potentials von ethischem Respekt und Wertschätzung zu denken. Die durch die situative Reflexivität und Körperlichkeit in die Welt gestellte Subjektivität, welche sich durch die reflexive Orientierung an den Gegebenheiten der Situation von vornherein als nicht festgestellte Agency erweist, ist ontologisch als befindlich-freies Handelns bestimmt. Die Situativität von Agency widerspricht dabei jedoch nicht einer generalisierten Perspektive, die eine solche Kontextbeziehung als allgemeines Ethos des Handelns, Empfindens und Verstehens reflexiv aufnimmt. Reflexive Kontextsensibilität wird selbst eine regulative Idee, die freilich als solche durch ihre inhaltliche Bestimmung jeweils unterbestimmt bleibt und jeweils nur durch hermeneutisch-analytische Kontextarbeit in Bezug auf konkrete Agency vervollständigt werden kann. Genau wie Agency selbst, die sich jeweils aus der Situation durch Artikulation selbstentwerfend konstituiert und sich damit in ihrem ontologischen Grundstock enigmatisch einer vollständigen theoretischen Artikula-

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tion und Verdinglichung entzieht, beinhaltet auch die ethische Anerkennung des Anderen ein je neu zu artikulierendes Projekt. Um die Begründung und Artikulation einer solchen Konzeption von Agency geht es in den folgenden sieben Kapiteln. Agency wird hier als situativ, kontextuell, relational und intersubjektiv eingeführt, und zugleich wird deren enigmatische, sich völliger theoretischer Objektivierbarkeit entziehende Dimension konstitutiv miteinbezogen. Es soll deutlich werden, wie die Reflexion auf Agency eine wesentliche Funktion in unserem Verständnis von Subjektivität, Handlung und Macht ausüben kann und wie diese Begrifflichkeit und deren vielfältige Dimensionen helfen, eine reflexive und widerständige Subjektivität ohne den metaphysischen Ballast der traditionellen Bewusstseins- und Handlungstheorie zu denken. Es geht also, um es nochmals zu betonen, weder um die Reduktion des Subjekts auf Kontexte, Strukturen, Systeme oder Regeln noch um eine Wiedereinführung des transzendentalen oder begründenden Subjekts, sondern vielmehr um die Idee, ein sich situativ und intentional verstehendes Subjekt als Agency zu denken, als die je unabgeschlossene, offene, kreative und radikal transformative Kraft gewollter Selbstverwirklichung. Um diese Denkarbeit auf den Weg zu bringen, orientieren wir uns an drei Disziplinen, die bisher noch nicht in dieser Weise zusammengebracht wurden: der philosophischen Hermeneutik, der Freudʼschen Psychoanalyse und den Cultural Studies. Indem wir knapp deren Vorarbeit in Bezug auf ein neues Denken von Agency umreißen, vermitteln wir den Hintergrund für die materialen Analysen des Bandes. Ein Ausblick wird schließlich auf die politische Funktion einer reflexiven, agierenden und kreativen Agency eingehen und damit als Orientierungsfolie einen transformativen Begriff von Politik vorbereiten.

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Eine wesentliche theoretische Ressource des neuen Denkens über Agency stellt die philosophische Hermeneutik bereit. Der wichtigste Bezugspunkt in diesem Zusammenhang ist der sich durchhaltende Versuch, die Subjektivität der menschlichen Erfahrung als unüberwindbare Dimension unserer Existenz zu erfassen. Die irreduzible Subjektivität der Erfahrung ist im Zentralbegriff des Verstehens bezeichnet, dessen ontologische und epistemologische Grundlagen gänzlich anders als bei Descartes oder Kant bestimmt werden. Verstehen ist essentiell intentional, es ist bewusst-erfahrende Gerichtetheit auf etwas, auf ‚die Sache selbst‘ zielend, und erzeugt damit – auch durch die von allen Hermeneutikern attestierte Vermittlungsfunktion der Sprache – die symbolisch vermittelte Konsti-

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tution von Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist also immer eine für das Subjekt erfasste, eine verstandene, kognitiv erfasste Realität, die aber dabei dennoch das Verstehen bzw. das Subjekt nicht von dieser Wirklichkeit ontologisch abspaltet, sondern es vielmehr aus dieser hervorgehen lässt. Verstehen ist in dessen Ursprungsbedingung möglich, weil das Verstehen ontologisch selbst in die zu verstehende Wirklichkeit eingelassen ist. Die Agency des Subjekts, verstanden als Fähigkeit, sich interpretierend und reflexiv auf sich selbst, Andere und die Welt zu beziehen, wird damit zugleich als Ressource kreativer und eigenbestimmter Handlungen festgehalten und dennoch als in die symbolisch-praktische Welt eingelassen begreifbar. Für die Hermeneutik geht es im Prozess des Verstehens darum, die intentionale Subjektivität als Ausdrucksphänomen in den veräußerten Artikulationen der sozial und praktisch geteilten Welt nachzukonstruieren und dadurch eben überhaupt erst zu ‚verstehen‘. Indem Subjektivität damit allein durch deren eigene Objektivationen erfahrbar wird, wird hier Agency vor letztbestimmender Verdinglichung bewahrt: Die sich in den realisierten Ausdrucksformen von Kultur und Gesellschaft objektivierende Subjektivität schafft sich durch symbolische Formen und Praktiken ihre genuine Wirklichkeit, ohne jedoch auf bestimmte Objektivationen reduzierbar zu sein: Verstehen ist vielmehr der nie stillzustellende Prozess des je neu Erfassens der subjektiven Kreativität und Reflexivität, dessen ontologisches Pendant die niemals reifizierbare Agency der handelnden Subjekte darstellt. Daraus ergeben sich drei Dimensionen der Verstehensproblematik, die zugleich einen konstruktiven Rahmen für die Agency-Problematik bereitstellen: Erstens geht es um eine methodisch ausgerichtete Analyse der Bedingungen von Verstehen als kognitivem Prozess; zweitens wird durch Verstehen als ontologische Grundkategorie die menschliche Agency als sozial situiert, intentional ausgerichtet, und möglichkeits-modal offen bestimmbar; und drittens kann die Reflexion auf die situative Bedingtheit des Verstehens die intersubjektiv-dialogische Normativität des Verstehens freilegen. Verstehen ist zunächst das Verstehen einer anderen subjektiven Intentionalität, und genauer der Prozess, der aus Objektivationen einer anderen Intentionalität – also aus Texten, Sprechakten, Kunstwerken, Dokumenten, Handlungssequenzen und Institutionen – auf den sich in diesen Ausdrucksphänomenen artikulierenden Sinn zurückgeht. Friedrich Schleiermacher erkennt, dass die Rekonstruktion des Textsinnes eine rein methodisch-technische Perspektive sprengt (Schleiermacher 1977; vgl. Frank 1985). Es muss, da Texte die Gedanken der

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Autoren ausdrücken, die Natur von Gedanken erörtert werden.5 Das Verstehen der Gedanken muss sich wiederum als Dialektik innerhalb eines schon vorgegebenen Sprachkontextes vollziehen, in dem die vernünftigste Deutung der diskursiv artikulierten Gedanken das Ziel ist. Dazu aber bedarf es einer Nachkonstruktion des je besonderen und zugleich in der allgemein verständlichen Sprache ausgedrückten Sinnes, ohne über einen archimedischen Punkt der Erkenntnis oder unvermittelt eingegebene Sinninhalte zu verfügen. Damit ist vorgegeben, dass sich das Verstehen als ein doppelsträngiger Prozess der Sinnerschließung zu vollziehen hat, das zum einen den sprachlichen Hintergrundkontext rekonstruiert, innerhalb dessen sich das Denken und Erfahren eines Autoren vollzieht, und zum anderen die je besondere Sinnintention erfasst, die sich als individuelle Agency des konkreten Autors durch einen Text artikuliert und damit zu verstehen gibt.6 Schleiermacher versteht den eigentlichen Sinn des Textes als die je individuelle Faltung des kontext-kulturell Allgemeinen, er sieht verstehbare Texte als kohärente Sinnentwürfe an, die beides, individuelle Agency und sozialen Kontext, immer schon zu einer verstehbaren Form zusammengeschmolzen haben. Was Schleiermacher als die eigentliche Vollendung des Verstehens als nachkonstruierendes Sichhineinversetzen in den Autor beschreibt, meint nämlich keine mystisch-vorsymbolische Geistesanverwandlung zweier für sich seiender Subjekte, sondern vielmehr die hermeneutische Deutungsfähigkeit, sich in die

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Schleiermacher entfaltet eine interessante Beziehung zwischen Hermeneutik und Rhetorik, da es bei der letzteren um die Kunst der Artikulation von gedanklichen Inhalten in effektiver Kommunikation geht, während die Hermeneutik sozusagen den Weg der Rhetorik in umgekehrter Richtung zurückverfolgt, um die im Diskurs artikulierten Gedanken nachzukonstruieren und somit verstehend zu erfassen. Zu Rhetorik siehe das Kapitel von Hetzel, S. 37ff. Schleiermacher hat diese doppelte Dimensionalität des Verstehens, vielleicht nicht ganz glücklich, als zwei unterschiedliche Methoden des Verstehens zu erfassen versucht. Auf der einen Seite kommt es in der sogenannten ,grammatischen Interpretation darauf an, den historisch-kulturellen Kontext der Textautoren derart zu verstehen, ,

dass sich die allgemeine Verwendungsweise der Begriffe klar vom gegenwärtigen Verstehen abhebt, um hier grobe Assimilation und Missdeutung zu verhindern. Auf der anderen Seite aber muss nun, nachdem sich der Interpret sozusagen zeitgleich mit dem Anderen als zeitgenössischer Leser gemacht hat, der ganz besondere, sozusagen der Eigensinn des Textes als Sinnartikulation des konkreten Anderen, ins Bewusstsein gehoben werden. Hierzu dient die ,psychologische Interpretation , bei der es um den

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intentionalen Nachvollzug der besonderen Gedanken des Anderen geht.

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Situation des Anderen interpretativ hineinzuversetzen, um dessen konkrete Agency als Reaktionsvollzug zu den Herausforderungen der je besonderen Situation nachzuvollziehen. Damit hat es Schleiermacher an der Geburtsschwelle der philosophischen Reflexion auf Hermeneutik vermocht, die Idee der essentiell situierten Agency zum Herzstück des verstehenden Nachvollzuges für den kulturwissenschaftlichen Interpreten zu machen. Mit Heideggers ontologischer Wende der Hermeneutik wird nun das In-derSituation-Stehen des Selbst zum entscheidenden Wesenszug der verstehenden Subjektivität (Heidegger 1979). Anstatt direkt vom kulturwissenschaftlichen Interpretationsprozess auszugehen, wird nun praktisch vom Text auf das Leben selbst als existentielle Herausforderung zurückgegangen. Die Welt selbst wird zum Text, das Subjekt zur je schon in der Welt seienden Agency, der es in ihrem Verhalten immer um sich selbst geht, indem sie Welt und Andere erschließt (vgl. auch Ricoeur 1973).7 Heideggers Existenzialhermeneutik versteht Dasein und Welt korrelativ als essentielles In-der-Welt-Sein und die Weltsituiertheit als eine immer zugleich bestimmte, (‚geworfene‘) und zugleich entscheidend offene (resolute‘). Dasein ist praktisch-sozial-holistisches In-der-Welt-sein, was sagen will, dass sich die essentielle Situativität als unüberwindbares Seinsmerkmal des hermeneutischen Seins unserer Existenz festhalten lässt. Diese Einsicht ist für die Agency-Problematik in diesem Buch insofern entscheidend, als Heidegger damit die in der dualistischen Substanzmetaphysik aufscheinende Freiheitsproblematik von vornherein unmöglich macht. Es kann hiermit nie darum gehen, einen abstrakt immateriellen Geist einer materiell determinierten Welt gegenüberzustellen, dessen Opfer dann ein potentiell selbst als Materie verstandener Geist (nämlich als Gehirn) werden könnte. Vielmehr ist hier die sinnhaft-materielle Welt immer schon eine von Agency mitgeprägte und Agency mitumfassende Welt; die Fähigkeit und der Ursprung neuer und kreativer Akte gehören ihr von Anbeginn an. Heidegger macht zudem die Funktion einer Grundsatzreflexion über Agency plausibel, derzufolge Agency (nur scheinbar paradox) als sich vollkommener theoretischer Objektivierung entziehend begriffen wird. Da sich unser Verstehen immer schon vor dem Hintergrund bestimmter ontologischer Annahmen vollzieht, wie Heidegger durch eine Analyse der ‚Vorstruktur des Verstehens‘ nachweist, kann eine angemessene Analyse von Phänomenbereichen nicht allein

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Diese ‚Selbstbezogenheit‘ meint freilich hier keinen psychologischen Narzissmus, sondern ontologisch die unentrinnbare Selbstbezogenheit aller Welterschließung, die sich immer möglichkeits-modal als situiert-entwerfend vollzieht.

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durch Hinstarren oder ‚Vorurteilsfreiheit‘ geschehen, sondern muss die reflexive Analyse der implizit vorhandenen Ontologien einschließen. Dies führt zu der Einsicht, dass unser Dasein selbst essentiell hermeneutisch ist, d.h. wir verstehen unser Selbst, Andere und die Welt immer schon vor dem Hintergrund bestimmter, historisch-kulturell erfüllter, Vorannahmen, die selbst durch Praktiken und Institutionen eingeübt und stabilisiert werden und dadurch wiederum die besonderen Biographien der Subjekte beeinflussen. Die Einsicht in die Reflexivität des Daseins verdankt sich einer hermeneutischen Meta-Reflexion, der ‚formalen Anzeige‘ (Heidegger 1979), welche den Platz früherer philosophischer Ansätze insofern einnimmt, als sie die zugleich intentionale und situierte Erschließung von Welt als unentrinnbare Vermittlung von Erfahrung und Erkenntnis auffasst (und damit Reduktionen dieses Phänomens auf andere Seinsverständnisse wie z.B. Zweckrationalität oder Naturgesetzlichkeit verhindert), dabei aber zugleich eine Vielzahl kultureller Welterschließungen und Seinsdeutungen zulässt.8 Gadamers Weiterentwicklung Heideggers besteht im Wesentlichen in der Entfaltung der impliziten Normativität des Verstehens, deren Möglichkeit durch die Erkenntnis des dialogischen Charakters des Verstehens aufscheint (Gadamer 1975; vgl. Kögler 2015). Diese spezifisch intersubjektive Normativität ergibt sich dabei folgerichtig aus Gadamers ontologisch-prozesshafter Analyse des Verstehens, da dieses aufgrund der Vorverständnisabhängigkeit anderen Sinnes,

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Es sollte sich von selbst verstehen, dass die kritische Aneignung hermeneutischer Ideen hier in einem progressiv-ethischen Selbstverständnis geschieht. Die kognitive Unterscheidung zwischen Werk und Denker, die eine Aneignung wichtiger philosophischer Einsichten auch entgegen der politischen Ansichten des Denkers erlaubt, soll dabei wiederum nicht zu einer Immunisierung der philosophischen Ideen gegenüber Kritik führen, sondern vielmehr deren eigene Macht- und Herrschaftseinbettungen unnachgiebig nachzeichnen. Dennoch erlaubt diese Unterscheidung die systematische Aneignung von Ideen in transformierten Theoriekontexten. Die in diesem Band versammelten Aufsätze, die bestimmte Ideen von Heidegger bzw. Gadamer in diesem Sinn kritisch-systematisch rekonstruieren, betten deren Begrifflichkeiten deshalb auch bewusst in dialogisch-intersubjektive Visionen von reflexiver Agency ein. Sie werden produktiv verknüpft mit Deweys Begriff demokratischer Politik, arbeiten gezielt die bei Gadamer enthaltene normative Ausrichtung des Dialogs heraus, und beziehen sich mit Mead auf die universale Anerkennung des Anderen im Selbst. Zur kritischen Diskussion von Heideggers Philosophie und dessen ebenso lebensgeschichtlicher wie philosophischer Verstrickung in Ideen des Nationalsozialismus, vgl., stellvertretend für viele, Di Cesare 2016 sowie Malpas 2016 und Heinz/Kellerer 2016.

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die Heidegger aufgewiesen hat, immer vom eigenen Fürwahrhalten ausgehen muss. Wenn wir einem sinnhaften Zusammenhang gegenüberstehen, können wir gar nicht anders, insofern wir diesen zu verstehen suchen, als ihn (jedenfalls zunächst) von denjenigen Annahmen und Praktiken aus zu deuten, die wir selbst für sinnvoll halten. Unser eigenes fürwahrgehaltenes Vorverständnis leitet, ob explizit oder implizit, unsere Interpretation. Damit aber wird notwendig der Andere als sich sinnvoll Äußernder entworfen. Der Andere wird also mit einer Rationalitätsannahme, dem ‚Vorgriff auf (vernünftige) Vollkommenheit‘ (Gadamer 1975) ausgestattet, um ihn überhaupt sinnhaft erschließen zu können.9 Die dialogische Modellierung des Verstehens hebt dabei offenbar den sprachlichen Charakter der Interpretation hervor. Tatsächlich nimmt die Sprachlichkeit des Verstehens in Gadamers philosophischer Hermeneutik eine herausragende Bedeutung ein. ‚Sprache‘ ist für Gadamer die gelebt-geteilte Sinnwelt der Tradition, die immer schon sozial und intersubjektiv erschlossene Welt der geteilten Wahrheiten, Werthorizonte, und Institutionsgewissheiten, die das einzelne Selbst in einem es umgreifenden und tragenden Kontext bindend befreien. Verstehen soll nun diese Sinnhaftigkeit erschließen. Die Geistes- und Kulturwissenschaften sollen in ihrer eigentlichsten Aufgabe zu dieser Sinnhaftigkeit beitragen, die tote Geschichte neu lebendig machen, Überlieferungen aufs Heute anwenden, reflexiv und neu-deutend das Werthafte so verstehen, dass es in dessen Geltung und Orientierungskraft wirkmächtig werden kann. Dieser von Gadamer als Spiel gedeuteter Prozess hebt nochmals den anti-cartesischen Zug des Verstehens als ein vom Subjekt nicht kontrollierbares Geschehen hervor, da ich den Fort- und Ausgang eines wirklich produktiven Gespräches nie bestimmen bzw. vorhersagen kann. Der Dialog des Verstehens aktualisiert und überwindet zugleich die selbst sprachlich vermittelten Vorannahmen und situiert damit das Subjekt innerhalb des Geschehens, wobei dessen sinnhafte Erfahrung

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Tatsächlich aber ist diese Minimalbedingung noch zu eng für wirklich produktives Verstehen, das sich in einem Prozess des wechselseitigen Erläuterns der eigenen und anderen Ansichten in Bezug auf die Sache vollzieht, um die es in einem Text oder einer Handlung geht. Denn ein wirklich dialogisches Ethos denkt den Anderen nicht einfach als verdoppeltes Mit-einem-selbst-Gleiches, sondern als potentiell transzendierende Perspektive, als andere Einsicht, als ein das eigene Wissen womöglich überragendes Subjekt. Dialogische Ethik erkennt im Anderen den vernünftig sich auf die Sache Beziehenden, so dass Offenheit für dessen Meinung, Reflexivität in Hinblick auf die eigenen Grenzen sowie Flexibilität bezüglich neu erfassbarer Sacheinsichten und Handlungspotentiale aufscheinen können.

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dennoch ein Bezugspunkt in dem übersteigenden intersubjektiven Prozess bleibt.10 In der hermeneutischen Denkbewegung wird verstehende Agency damit als situatives Nachvollziehen (Schleiermacher), als existentielles In-die-SituationGestelltsein (Heidegger) und als dialogische Anerkennung des Anderen (Gadamer) greifbar. Vor diesem Hintergrund entfalten die ersten drei Beiträge Analysen zu Agency, die die Gefahr des sprachlichen Idealismus bei Gadamer vermeiden. Weder wird der Hintergrund des Verstehens auf die sinnhaft und diskursiv zugängliche Tradition eingeengt, noch wird die reflexive Kraft der je individuellen und eigensinnigen Agency einem übermächtigen Traditionsgeschehen aufgeopfert. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion der genuinen Erfahrungs- und Seinsdimensionen einer symbolisch vermittelten, praktisch situierten und sich reflexiv auf sich selbst beziehenden Handlungsrealität. Es geht um die kritische Arbeit an den hermeneutischen Einsichten in Bezug auf Agency, die in allen diesen Beiträgen durch Rekurs auf pragmatistische Begriffe weiterentwickelt werden. Andreas Hetzel artikuliert in seiner Analyse den Begriff der Situation, der damit zum Komplementärbegriff von Agency avanciert. Hetzel positioniert Agency als ein zugleich situativ bedingtes und dennoch selbstbestimmt auf diese antwortendes Phänomen, als ein „situiertes Tätigsein, das mindestens genauso wie auf ein Subjekt auf die Situation zurückgeführt werden muss, in der sich das Subjekt bildet und auf deren Erfordernisse es eine Antwort finden muss.“ (39) Er führt eine Kritik an der traditionellen sowie analytischen Handlungstheorie mit den Mitteln der Sprechakttheorie und einer neoaristotelischen Lebensformreflexion durch. Weder die Idee eines ‚Geistes hinter den Kulissen‘ (Austin) noch

10 Sprache wird zum neuen Universalmedium, innerhalb dessen sich die historisch situierte Agency je schon verstanden hat und je neu zu verstehen sucht. Deren kulturell malleables Sein ist wesentlich als Sprache gefasst: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ (Gadamer 1975). Tatsächlich aber ist diese Hypostasierung der Sprache, die zweifellos eine wesentliche Dimension des gemeinsamen ‚objektiven Geistes‘ (Dilthey 1970) der Tradition darstellt, aus verschiedenen Gründen problematisch. Zum einen werden die Strukturierungen der sinnvermittelten Tradition durch Macht und Herrschaft nicht systematisch als Faktoren der Sinnkonstitution anerkannt, und zum andern wird der eigenständigen Dimension kritischer und widerständiger Agency, für die es im Gesamten des Wahrheitsgeschehens eigentlich keine konstitutive, allenfalls eine intern korrektive Funktion gäbe, kein Platz eingeräumt. Zur Kritik an Gadamers Sprachidealismus vgl. Habermas 1982 und Kögler 1992.

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die Identifikation von Handlungen als ‚atomaren Entitäten‘ werden der Kontinuität und Prozesshaftigkeit von Handlungen als Ausdruck einer Lebensform gerecht. Handeln in Situationen beschreibt Hetzel als vielschichtig bedingt: durch den Leib, durch Konflikte und Kämpfe, zugleich intersubjektiv und kontingent geprägt, als jeweils in die Situation Gestelltsein und zugleich auf diese einwirkend. Diese situative Reflexivität wird paradigmatisch in der antiken Rhetorik erfasst. Rede wird dialogisch als Antwort auf Situationen erfahrbar, ergreift den rechten Kairos, besteht im anschmiegsamen Sichzueigenmachen des Potentials der Situation, „der sie sich unterstellen, die sie sich allerdings auch kritisch aneignen, brechen, beugen, parodieren und transformieren kann.“ (52) Hetzels rhetorische Situationsphänomenologie entfaltet damit nochmals die wesentlichen Eigenschaften von Agency als weder auf objektiv-determinierende Strukturen noch auf subjektiv-transzendentale Intentionen oder Regeln reduzierbar, da sie sich allein in der je neuen, offenen und kontingenten Antwort auf konkrete Situationen zeigt. Stefan Deines zeigt, dass die Verabschiedung des cartesisch-kantischen Subjektbegriffs keineswegs die Totaldekonstruktion von handlungsfähiger Subjektivität und kreativ-kritischer Agency bedeuten muss. Vielmehr legen die von Hermeneutik und Pragmatismus gleichermaßen betonte Situationseinbettung von Verstehen und Handeln ein neues Subjektkonzept nahe: „Dass gewisse Aspekte der Handlungssituation intransparent und die Konsequenzen des Handelns nicht vollständig kontrollierbar sind, erweist sich hier nicht als Einschränkung der Agency, sondern im Gegenteil als wesentliches Charakteristikum der menschlichen Situation und des menschlichen Handelns.“ (57) Deweys Begriff der Gewohnheiten und Gadamers Begriff der Vorurteile werden hierzu skrupulös rekonstruiert, wobei Erfahrung für beide ein aus der Situation und dessen Krise bzw. Scheitern heraus entstehendes Phänomen reflexiver Neu-Selbstbestimmung darstellt: „Die Welt und das Selbst werden damit wechselseitig in einem beständigen Prozess der handelnden Auseinandersetzung profiliert.“ (68) In einem zweiten Teil, der sich kritisch mit Christoph Menkes Kunstkonzeption und Judiths Butlers Dekonstruktion des Subjekts befasst, arbeitet Deines heraus, dass deren Radikalverabschiedungen des Subjekts weder dem Phänomen der Kunst noch dem der Kritik gerecht werden: Kritische und kreative Agency artikuliert sich nicht vor allem oder gar ausschließlich im absolut Anderen gegenüber normierter Praxis, sondern ist immer schon in den Vorverständnissen und Praktiken der sozialen Kontexte als reflexives Potential der situierten Subjekte enthalten und in diesen wirksam. Hans-Herbert Kögler entwirft eine Neuinterpretation von individueller sowie kollektiver Autonomie anhand der Überwindung des cartesisch-kantischen Sub-

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jektbegriffs durch die sprachpragmatische Wende. Die Abhängigkeit des intentionalen Verstehens von sprachlich-vermittelten Sozialpraktiken und körperlichsituierter Befindlichkeit verlangt geradezu die kognitive Fähigkeit des Subjekts, Regeln und Normen jeweils in der Situation angemessen zu interpretieren: „Die [sozial vorgegebenen] Grundannahmen müssen vielmehr durch eine subjektive Deutungssynthesis so mit dem besonderen Ereignis der Erfahrung verschmolzen werden, das etwas in seiner Bestimmtheit erkannt werden kann.“ (91) Die situative Reflexivität der hermeneutischen Agency entfaltet ihre Kraft zudem in der Vermittlung von konkreten Kontexterfahrungen und kollektiven Idealen, wie Kögler an der Dialektik von Rechtssetzung und Rechtsinterpretation demonstriert. Köglers Explikation der Vorstruktur des Verstehens erlaubt die Erfassung der prägenden Funktion von Macht- und Herrschaftspraktiken bei gleichzeitiger Möglichkeit zur reflexiv-kritischen Distanzierung von machtstrukturierten Deutungsschemen. Die an Mead anknüpfende Rekonstruktion der intersubjektiven Einübung in soziale Praktiken eröffnet eine Perspektive, bei der die Überschreitung machtbestimmter Selbstkonzepte immer im Eingedenken der konstitutiven Funktion des Anderen für das Selbst erfolgen muss: „Die eigene Ich-Identität ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in sich die Notwendigkeit der Existenz des nicht-objektivierbaren Anderen enthält.“ (110) Die hermeneutisch-pragmatische Grundlegung von kritischer und reflexiver Agency vermittelt somit die Idee einer sich aus der Situation heraus bestimmenden Autonomie mit der normativen Anerkennung des Anderen in ethisch-politischen Kontexten.

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Ein weiteres Feld, das es in dem vorliegenden Band zumindest ansatzweise Agency-theoretisch zu erhellen gilt, ist jenes des Unbewussten. Dieses ist an der Schnittstelle von Psyche und Soma angesiedelt, an der sich Triebgeschehen zuträgt. Nun hat die Psychoanalyse zwar (noch) keine explizite Handlungstheorie, doch ihre Erkenntnisse und Theorien sind für eine solche, sei sie nun philosophisch oder sozial- und kulturwissenschaftlich verfasst, unumgänglich. Das Psyche-Soma und das Unbewusste sind zwar auch strukturiert wie die Sprache, aber nicht nur. Das Leibgeschehen, von dem Agency ausgeht, ist irreduzibel; es weist eine eigene somatische vis formandi auf (Pechriggl 2018), die zwar mit der produktiven Einbildungskraft zusammenhängt, aber nicht unter diese subsumierbar ist. Die Psychoanalyse erforscht die Triebe nicht nur an der Schnittstelle von Psyche und Soma, sie entschlüsselt die Symptome und Gesten des Verdrängten, Abgespaltenen oder Verworfenen, sowohl in ihren psychischen als auch in ihren

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somatischen Manifestationen (McDougall 1989). Und wenn wir – wie bereits erwähnt – von der Subjektivität als ebenso kollektiv wie individuell verfasster ausgehen, sind insbesondere auch die Erkenntnisse und Theorien der in Gruppen stattfindenden psychoanalytischen Arbeit (Gruppenpsychoanalyse oder Gruppenanalyse) von Interesse, wie sie seit Bions und Foulkesʼ Pionierarbeit während des Zweiten Weltkriegs umgesetzt und weiterentwickelt werden (Bion 2001, Foulkes 1992). Aus einer die kollektive Praxis erhellenden Perspektive lassen sich die Arbeiten Lorenzers zu dem, was er szenisches Verstehen nennt (Lorenzer 1970), mit den von Elias mitgeprägten Ansätzen der Gruppenanalyse zu einem gruppen/psychoanalytischen Verstehen von Agency verknüpfen. Dabei geht es um einen (tiefen-)hermeneutischen Verstehensprozess im Modus der Freien Assoziation in Gruppen, die es unbewussten Affekten, Wünschen, Vorstellungen und Gedanken ermöglicht, in Erscheinung zu treten und gemeinsam gedeutet und verstanden zu werden. Es war Castoriadis, der für die philosophische Handlungs- und Autonomietheorie einen bahnbrechenden Beitrag in diese Richtung geleistet hat, insbesondere mit seinen Begriffen des gesellschaftlichen Imaginären (Castoriadis 1984) und der „praktisch-poietischen Tätigkeit“, den er für die Politik, die Erziehung und vor allem für die psychoanalytische Arbeit am und aus dem Unbewussten prägte (Castoriadis 1981). Nicht nur, dass er stets auf die gegenseitige Bedingtheit von individueller und kollektiver Autonomie verwies, er hat auch unmissverständlich von einem dialektischen Verhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie gesprochen. In seinem Entwurf geht es denn auch nicht um das Phantasma eines sich selbst transparenten Subjekts, das immer wisse, was bzw. wer es ist und was es tut, sondern um eine Praxis sui generis, im Zuge derer es auch dem Unbewussten Rechnung zu tragen gilt und nicht nur den guten Gründen für diese oder jene Aktion oder Handlung. Die Psychoanalyse könne dabei insofern die Freiheit bzw. die Selbstbestimmung befördern helfen, als sie Anlass gibt zu einem veränderten Verhältnis zum eigenen Unbewussten bzw. zu den verborgenen Triebfedern, die in der Gesellschaft wirken, seien es die verinnerlichten Ausbeutungsmechanismen des Kapitalismus oder der Kontrollzwang der Technobürokratie und dessen Verinnerlichung durch die darin sozialisierten Individuen. Durchaus in Auseinandersetzung mit bzw. in Anknüpfung an die Psychoanalyse-Rezeption der Kritischen Theorie, aber mit einer profunderen MarxKritik und als ausgebildeter Psychoanalytiker verfolgt Castoriadis das psychoanalytische Projekt als ein zumindest implizit politisches. Seine Betonung der Kreativität und dessen, was er das instituierende Imaginäre nennt, geht mehr in eine von Merleau-Ponty und Bergson angedeutete Richtung und weg von Lacans

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Strukturalismus. Der dem Autonomiebegriff entgegengesetzte Begriff der Heteronomie umfasst bei Castoriadis nicht nur die kapitalistische Entfremdung als Ausbeutung von Mensch und Natur, sondern auch die Entfremdung im Sinne der Verkennung der eigenen instituierenden Tätigkeit, womit er offensichtlich stärker auf Hegels Begriff der Bildung und Feuerbachs Religionskritik Bezug nimmt. Die Betonung der instituierenden Kraft der Menschen, ihrer aus dem Leiblichen und dem Unbewussten gespeisten Einbildungskraft als Vermögen, Neues ins Sein zu bringen, bricht mit jeglicher Art von deterministischer Schicksalsmetaphysik, in der das Handeln ebenso obsolet erscheint wie das Denken der Praxis. Stattdessen bringt Castoriadis mit der Magmalogik die ontologische Kategorie der Unbestimmbarkeit ins Spiel, welche im Verbund mit der Einbildungskraft bzw. (auf kollektiver Ebene) mit dem instituierenden Imaginären auf Arendts „Unabsehbarkeit“ des Handelns verweist (Arendt 1981). Dieser offene Horizont von Agency hat affektökonomische Implikationen, die es psychoanalytisch und philosophisch einzubeziehen gilt. Das betrifft zum einen die verstärkte Relevanz der Situation und vor allem des Kairos als „Zeit, in der nicht viel Zeit ist“ bzw. als Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt11; es betrifft aber vor allem die Angst vor Kontrollverlust und den Rationalisierungszwang als eine der verbreitetsten Reaktionen darauf. In dem vorliegenden Buch geht es – auch in den hermeneutischen Ansätzen – weniger um die Rückwärtsgewandtheit, sondern mehr um die Gegenwart als Schnittstelle, an der Handlungen und/oder Agierensweisen vollzogen werden. Während Castoriadis aus seiner mehr poststrukturalistischen Perspektive und Ricœur aus seiner mehr hermeneutischen Perspektive noch aneinander vorbei zu reden schienen, was die Hervorbringung von Neuem als kreativem Akt (Castoriadis) oder als Retroaktion (Ricœur) angeht (Castoriadis/Ricœur 2016), gehen die Ansätze, die in dem vorliegenden Buch versammelt sind, von der Situiertheit der Subjekte, dem Kairos inmitten unendlich vieler Möglichkeiten aus. Aus und in diesen generieren die derart begriffenen Subjekte in einer Mischung aus rationaler und spontaner Agency immer wieder neue Wirklichkeiten, aber auch neue Möglichkeiten. Dass die Subjekte dabei auch sich selbst ständig verändern, ist nunmehr eine begriffslogische Selbstverständlichkeit, die dem von einer letztlich irreduzibel rätselhaften Agency geprägten Subjektbegriff immanent ist. Das Unbewusste, die Unbestimmtheit, die Diffusität und unvorhersehbare Spontaneität sind Teil dieser immer schon sozialen, d.h. a priori im Raum der Sprache und der Geselligkeit entstehenden (Inter-)Subjektivität. Sie bedrohen das rationale Poten-

11 Auch Stefan Hetzel geht in seinem Beitrag in diesem Band darauf ein (siehe S. 52).

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tial dieser Subjektivität keineswegs, im Gegenteil: Sie rufen es auf den Plan, fordern es heraus. Ihnen Rechnung zu tragen, ist genau jene Fähigkeit einer aufgeklärten Praxisvernunft, die über das bloße computing der instrumentellen Vernunft – durchaus im Sinne eines entgrenzten Vernunftbegriffs (Wellmer 1985) – hinauszugehen oder es subversiv und widerständig zu verstören vermag. Dass Rationalisierung selbst zuweilen eine Verschleierung und Legitimierung von Unvernunft ist oder zumindest von Motivationen, die sich den Kriterien der Rationalität entziehen, wissen wir seit Freud; dass sie im aktuellen kapitalistischen Imaginären von zentraler Bedeutung ist, ja selbst eine zentrale Bedeutung darstellt, erfordert eine neuerliche Rückwendung auf die verschiedenen Ausformungen der Rationalität. Wenn die Rationalisierung auch als Ideologisierung, das heißt im Sinne von Marx als Legitimierung heteronomer Sinnstiftungsund Weltgestaltungspraktiken fungiert, dann vermag ein Agency-Begriff, der sich der unbewussten Dimensionen von Agency annimmt, die dahinterliegende – immer auch soziokulturell verankerte – Triebökonomie besser zu erhellen, ihr Potential bzw. ihre Tendenzen zur Autonomie wie auch jene zur Heteronomie. Der für Agency zentrale psychoanalytische Begriff ist Agieren. Er spielt bei Freud (Freud 1999) eine Rolle in der Übertragungsbeziehung zwischen Analysand_in und Analytiker_in. Analysand_innen agieren etwas, was nicht erinnert bzw. angesprochen kann, insbesondere den Abbruch der therapeutischen Beziehung. In Freuds Einschätzung und in jener der klassischen Psychoanalyse nach Freud und Klein soll Agieren vermindert und stattdessen die Fähigkeit entwickelt werden, das (unbewusst) Agierte vorzustellen bzw. zu denken und auszusprechen, ja eigentlich, da es sich um Verdrängtes handelt, es zu erinnern. Dagegen, so zeigt Timo Storck in seinem Beitrag auf, erscheinen Agieren bzw. Enactment beider, Analysand_in und Analytiker_in, sowie deren gemeinsame Reflexion in neueren Ansätzen (relationale Psychoanalyse und andere) als unumgänglich. Sie werden geradezu als der Motor der Analyse betrachtet: ohne neuerliche Verstrickung im analytischen Setting, so könnte es auf den Punkt gebracht werden, keine Auflösung (An-a-lysis). Die Rolle der Inszenierung und das Spielen einer Rolle werden in den Vordergrund gerückt, womit Storck eine Brücke zur Performance und zum kreativen Aspekt des Agierens schlägt. Dass das derart inszenierende Agieren als unbewusstes Tun auf einen anderen bezogen ist und diese Bezogenheit zugleich leugnet, weil sie ängstigt, ist die besondere Dialektik dieses Begriffs. In Abwandlung des Freudʼschen Diktums, dass Denken Probehandeln ist, nennt Storck das Agieren ein Probe-Denken, wobei es hier „nicht um das Ver-Handeln irgendeines Denkens geht, sondern präzise um eine an die motorische Handlung delegierte Form des Herantastens an Ambivalenz, an Beziehungswünsche und -ängste, und zwar solche, die sich auf die Übertra-

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gungsbeziehung und den Analytiker richten.“ Es wird also (um) die Übertragung ver-handelt und dieser Begriff verweist bereits darauf, dass in diesem Ausgang aus dem Agieren schon eine Ebene des Handelns beschritten ist. Doch Agency und psychoanalytisches „Agieren“ zu verknüpfen ist keine Selbstverständlichkeit, zumal es keine psychoanalytische Handlungstheorie gibt. Nach einem kursorischen Überblick über einige Ansätze dazu plädiert Storck für eine negative Hermeneutik in Anschluss an Lorenzers szenisches Verstehen und die Betonung der Kreativität eines zwar determinierenden, aber nicht deterministisch fixierenden Unbewussten. Alice Pechriggl versucht in ihrem Text, den Begriff Agieren aus dem Übertragungssetting herauszulösen und allgemeiner für unbewusstes Agieren in allen denkbaren Situationen zu verwenden. Sie setzt ihn an der Grenze eines semantischen Feldes an, das sie für eine philosophisch-psychoanalytische Handlungstheorie aufspannt, in der es um die Freilegung unbewusster „Triebfedern“ (Kant 1968) geht; demgegenüber steht am anderen Ende des begrifflichen Spektrums das deliberative Handeln. In Weiterführung einiger zentraler Gedanken von Castoriadis zum veränderten Verhältnis zum Unbewussten im Sinne eines befreiteren Handelns entwirft sie – auf der Grundlage einer Emergenzontologie der vier Phasen des Agierens- oder Handlungsvollzugs – neue Perspektiven auf das Verhältnis zwischen „Freiheit zu handeln“ und „Zwang zu Agieren“ bzw. auf das überkreuzgelegte Begriffsgefüge „Freies Agieren“ und „Zwangshandlung/ Handlungszwang“. Die vier Phasen – sie nennt sie mise en acte, mise en scène, mise en sens und mise en abîme – bezeichnen die Hervorbringung bzw. Destituierung, Instituierung und Konstituierung gemäß der Tätigkeit/Umsetzung, der Imagination/Inszenierung, des Logos/der Sinnstiftung und der Zersetzung/des Zerfalls. In Anlehnung an den Satz Freuds, „Wo Es war, soll Ich werden“ oder mit Lacan und Castoriadis abgewandelt „Wo Ich ist, soll Es auftauchen“, geht es ihr im Sinne einer aufgeklärten Agency darum, dass „Wo agiert wird, Handeln möglich werden soll“ bzw. „Wo gehandelt wird, dem Agieren Rechnung getragen wird.“

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G ESELLSCHAFTSKRITIK , C ULTURAL S TUDIES UND POLITISCHE A GENCY Vor allem die Kritik an gesellschaftlichen Missständen ist wichtig, um neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Die Kritische Theorie und die Cultural Studies teilen die Auffassung, dass intellektuelle Arbeit von großer Bedeutung ist, um die Gegenwart zu verstehen und sie durch eingreifendes Denken verändern zu können. Für beide Perspektiven ist dabei dreierlei entscheidend: Erstens eine vermittelnde Überwindung des abstrakten Gegensatzes von ‚Structure and Agency‘, Makro- und Mikroperspektive, individueller und kollektiver Identität, usw., bei der dennoch die wechselseitige Bedingung und Einflussnahme sozialer und individueller Faktoren aufeinander nachkonstruierbar bleiben muss; zweitens die Rekonstruktion der sozialen Dimensionen als Macht- bzw. Herrschaftsrahmen, der situierte Subjekte strukturell ermöglicht und dadurch auch potentiell beschränkt; und schließlich drittens das unnachgiebige Festhalten an den kritischen Widerstands- und Überwindungspotentialen, die mit sozial situierter Agency immer auch gegeben sind. Die sowohl begrifflich-konzeptuellen als auch empirisch-analytischen Anstrengungen von kritischer Gesellschaftstheorie und Cultural Studies unternehmen ihre Arbeit immer im Geiste einer politischen Transformation. Sie sind auf politische Agency und deren Potential ausgerichtet, genauso wie sie sich selbst auch sozial situierten Perspektiven und Relevanzoptionen verdanken. So zeigt Peter Zima in seinem Aufsatz, dass Theorien der Gesellschaft – Marxismus, Kritische Theorie (Adorno, Horkheimer) und Feminismus – als Erzählungen konstruiert sind, denen Relevanzkriterien und Aktantenmodelle im Sinne von Greimasʼ Strukturaler Semiotik zugrunde liegen. Wer gesellschaftliches Geschehen beobachtet, kann entscheiden, dass der Gegensatz Kapital/ Arbeit, Natur/Herrschaft oder männlich/weiblich relevant ist, und seine Erzählung entsprechend einrichten: als Klassenkampf mit den kollektiven Aktanten ‚Bürgertum‘/‚Proletariat‘, als Naturbeherrschung mit den Aktanten ‚Geist‘/ ‚Natur‘ oder als Geschlechterkampf mit den Aktanten ‚Männer‘/‚Frauen‘. Auch theoretische Erzählungen sind auf Fokalisatoren (Genette) ausgerichtet: Marxʼ Erzählung beispielsweise auf das ‚Proletariat‘, aus dessen Sicht der Klassenkampf als Motor der Geschichte erzählt wird. Für die Erzählstruktur ist auch ein Telos als Objekt-Aktant (Greimas) wesentlich: etwa die ‚klassenlose‘ oder ‚herrschaftsfreie Gesellschaft‘. Zima behandelt dadurch das Verhältnis zwischen Kollektivsubjekt (bzw. Struktur oder System), vertreten durch ein Master-Narrativ, und dem Einzelsubjekt, für dessen interpretative Agency sein Ansatz neue Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Die Relativierung der Master-

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Narrative auf Erzählperspektiven, die historisch-soziale Wirklichkeit unter unterschiedlichen Relevanzgesichtspunkten erschließen, rauben jeder einzelnen von ihnen den Absolutheitsanspruch und eröffnen damit auch politisch eine erweiterte Handlungsfähigkeit. Dies ist auch ein erklärtes Ziel der Cultural Studies, die deren Entfaltung in Kontexten lokalisiert. Handlungsfähigkeit ist nicht einfach gegeben, sondern muss in unterschiedlichen Situationen realisiert werden. Seit ihren Anfängen im Kontext der New Left in Großbritannien ist die Analyse und Entfaltung von Agency das zentrale Thema der Cultural Studies (vgl. Winter 2001). So analysieren sie Kultur immer im Kontext von Machtverhältnissen, als den Bereich, durch den Macht ausgeübt und in dem um Macht gekämpft wird, beginnend mit der Aneignung von Althussers Ideologietheorie und Gramscis Hegemonieanalyse über Foucaults Analytik von Macht und Widerstand bis hin zur Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus und der Globalisierung. Williams folgend, der gefordert hatte, dass die Kulturanalyse die „Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise“ (Williams 1977: 50) zum Thema habe, untersuchen Cultural Studies primär Beziehungen, so zwischen kulturellen Texten sowie Praktiken und den gesellschaftlichen Bereichen, die nicht primär kulturell sind, wie z.B. die Ökonomie, soziale Strukturen oder Institutionen. Dies bedeutet, dass sie stets Kontexte in ihrer räumlichen und zeitlichen Beschaffenheit betrachten. Was ein Kontext ist, welcher Kontext untersucht wird, ergibt sich durch die Fragestellung des Forschers/ der Forscherin (vgl. Grossberg 1999). Dies impliziert aber keinen radikalen Konstruktivismus des „anything goes“, denn kulturelle und soziale Kontexte sind bereits vor der Analyse geordnet und strukturiert. Nichtsdestotrotz zeigen die an der Entfaltung von Agency orientierten Untersuchungen der Cultural Studies, die sich den Formen des Widerstands widmen, dass Kontexte nicht nur komplex, sondern auch kontingent und veränderbar sind. Cultural Studies untersuchen das Wirken von kulturellen Formen und Praktiken im Alltagsleben, ihren Beitrag zur Reproduktion, zur Infragestellung und zur Transformation von Strukturen sozialer Ungleichheit (Winter 2001). Ihr Ziel ist, ein Wissen zu produzieren, dass zu einem besseren Verständnis der Machtbeziehungen in einem partikularen Kontext beiträgt und damit vielleicht auch Möglichkeiten eröffnet, ihn zu verändern. „Das heißt, sie trachten nicht nur danach, die Organisationen von Macht zu verstehen, sondern auch die Möglichkeiten von Überleben, Kampf, Widerstand und Veränderung“ (Grossberg 2002: 47). Ihr Interesse gilt primär den Bedeutungen und Prozessen affektiver Ermächtigung, die Personen und Gruppen helfen können, ihre Interessen zu artikulieren, Freiräume zu entfalten, Fluchtlinien zu finden und ihre Agency zu erweitern. Cultural Studies möchten Zusammenhänge zwischen den einzelnen Momenten der Selbst-

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ermächtigung und den umfassenderen kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen herstellen. Hierzu ist auch eine Kritik an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen erforderlich und eine Analyse der Möglichkeiten demokratischer Transformation. Für Cultural Studies sind Herausforderung, Widerstand und Eigensinn der Subjekte wesentliche Elemente der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Formen reflexiver und kritischer Agency müssen nicht in jeder Situation verwirklicht sein, sie sind aber potentiell möglich und können zur Transformation des Bestehenden beitragen. Vor diesem Hintergrund bestimmt Rainer Winter die Möglichkeiten von Agency im Kontext der Cultural Studies näher. Macht und Herrschaft strukturieren das kulturelle und soziale Leben, üben einen alles durchdringenden Einfluss aus. Im Zentrum des Interesses der Cultural Studies, so die Lesart von Winter, steht aber der widerständige und eigensinnige Umgang mit vorgefundenen Lebensbedingungen. Hierbei knüpft Winter stark an die Arbeiten von Michel Foucault an. Eine Diskussion des Verhältnisses von (kritischem) Widerstand und Macht in dessen Werk wird vertieft durch eine Analyse der Emergenz des Politischen bei Jacques Rancière. Ziel ist es, eine reflexive und kritische Agency sichtbar zu machen. Rancières originelle Rekonstruktion des Beharrens auf Gleichheit, die der normalisierenden Polizei des modernen Macht- und Herrschaftsapparates entgegengesetzt ist, holt dabei in widerständig-kritischer Weise den normativen Gehalt einer sich auf Eigensinn und Selbstbestimmung in Situationen verständigenden Agency ein. Cultural Studies sind damit, genau wir eine durch den Fokus auf Agieren transformierte Psychoanalyse und eine innovative hermeneutisch-pragmatistische Agency-Theorie, einem politisch-ethisch orientierten Theoriebegriff verpflichtet, dem es in der Arbeit des (sozialwissenschaftlichen und philosophischen) Begriffs immer um die konkrete Selbstbestimmung der Subjekte geht. Gegen eine vielerorts verkündete Totalverabschiedung des Subjekts, aber ebenso gegen eine unrevidierte Beibehaltung eines auf den cartesisch-kantischen Prämissen aufruhenden Autonomiebegriffs richten sich die folgenden Analysen zu Agency. Sie verstehen sich als Beitrag zu einer Kritischen Theorie der Moderne, der es nicht um eine abstrakt-kognitive Grundlegung der Erkenntnis, sondern von vornherein um die kulturell-soziale Einbettung des Denkens geht, nicht um kontemplativ-szientistische Ausrichtung, sondern um praktisch-transformative Orientierung und nicht um eine solipsistisch-subjektzentrierte Autonomie, sondern vielmehr um eine dialogisch-sensibilisierte Öffnung gegenüber dem Anderen, um die reflexive Erschließung der eigenen Freiheitsspielräume und Möglichkeitshorizonte. Es geht um die Überwindung von Widerständen, Einschränkungen und Grenzen, um die Erweiterung der Möglichkeitshorizonte. Diese Su-

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che nach dem Anderen der Macht – dem, was das Besondere des guten Lebens ausmacht – ist adressiert an alle situierten Subjekte, denen damit eine kognitive Werkzeugkiste zur kritischen Selbstreflexion an die Hand gegeben wird, und basiert dennoch auf der unüberwindbaren Situiertheit der Subjekte, die sich je schon in symbolisch uneinholbaren und machtstrategisch unüberwindbaren Situationen befinden. Diese Befindlichkeit jedoch fordert wiederum, dass Agency – die Handlungsmächtigkeit, die Subjekten innerhalb ihrer situativ erschlossenen Sinn- und Handlungshorizonte immer auch gegeben ist – mit aller Konsequenz rekonstruiert wird.

L ITERATUR Alpen-Adria-Universität (2016): Das Enigma von Agency [Videoaufzeichnung], https://www.youtube.com/playlist?list=PLMGy0xIQHu_VHfsSLuYAjF6g1v czg8RkK vom 20.08.2018. Aristoteles (1994): Politik, Reinbek: Rowohlt. Arendt, Hannah (1981): Vita activa, München Zürich: Piper. Bion, Wilfred R. (2001): Erfahrungen in Gruppen, Stuttgart: Klett-Cotta. Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Castoriadis, Cornelius (1984): Gesellschaft als Imaginäre Institution, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. — (1983): Durchs Labyrinth, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Castoriadis, Cornelius/Ricœur, Paul (2016): Dialogue sur l’histoire et l’imaginaire social, Paris: Editions de l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales/INA. Descartes, René (2009): Meditationen zu einer ersten Philosophie, Hamburg: Meiner. Di Cesare, Donatella (2016): Heidegger und die Juden, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Dilthey, Wilhelm (1970): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. — (2008) Einleitung in die Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften Bd. 1, Stuttgart/Goettingen: Vandenhoek & Ruprecht. Farin, Indo/Malpas, Jeff (Hg.) (2016): Reading Heidegger’s Black Notebooks 1931 – 1941, Cambridge, MA: The MIT Press. Feyerabend, Paul (1976): Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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HERMENEUTISCHE ANNÄHERUNGEN AN AGENCY

Agency: Selbstbestimmung in Situationen A NDREAS H ETZEL

Das Nachdenken über Handlungen wird in der abendländischen Philosophie seit Platon von einem Bild regiert, das jedes Tätigsein als nachträgliche Umsetzung von Ideen oder Absichten erscheinen lässt, die ein autonomer Geist vorab gefasst hat. Wenn wir aus Platons Sicht tätig werden, entwickeln wir, wie François Jullien die Handlungstheorie Platons treffend zusammenfasst, „eine Idealform (eidos), die wir als Ziel (telos) setzen, und dann handeln wir, um sie in die Realität umzusetzen“; für Platon sind unsere Augen im Handeln, „auf das Modell gerichtet“ (Jullien 1999: 13), konkreter: auf das theoretische, nach Maßgabe der Einsicht in überzeitliche Ideen entworfene Modell. Zu handeln bedeutet dann, eine mentale Vorstellung in einer Welt zu verwirklichen, die dadurch dem Modell sowie den ihm zugrundeliegenden Ideen, angepasst wird. Der in diesem Ansatz implizierte Primat der theoretischen Vernunft über die praktische drückt sich noch im Bedeutungsfeld des deutschen Verbs handeln aus. Als Handeln gilt im Neuhochdeutschen zunächst, so etwa Grimms Wörterbuch, „was mit den Händen betrieben und ausgerichtet wird, daher Arbeit, Verrichtung schlechtweg, namentlich sofern es eine länger andauernde oder oft wiederholte ist“ (Grimm/Grimm 1999: Bd. 10, Sp. 370). Die Hand im Verb handeln legt einerseits nahe, dass von ihr etwas behandelt, manipuliert und letztlich bewältigt wird (wie auch im Englischen to handle), andererseits, dass die Hand als ausführendes Organ selbst gesteuert werden muss: von einer theoretischen Vernunft, die sich der Hand als eines Mittels bedient, um die äußere Welt ihren Vorstellungen gemäß zu gestalten. In der neueren philosophischen Handlungstheorie (vgl. paradigmatisch Davidson 1990) wird Handlungsfähigkeit nach wie vor in den Bahnen der platonischen Tradition beschrieben. Als Handeln gilt auch hier ein Tätigsein, das sich an einem Wissen orientiert. Im Unterschied zu Platon ist dieses Wissen allerdings kein Ideenwissen mehr, sondern ein Wissen um Regeln, an denen wir uns

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orientieren müssen, wenn Handeln von einem bloßen Sich-Verhalten unterscheidbar bleiben soll, sowie ein Wissen um Gründe und Begründungen, durch die sich Handeln von Ereignissen und Prozessen abhebt. Ein Prozess wird erst dann zu einer Handlung, wenn wir für ihn einen bestimmten Typ von Grund benennen können, die Intention oder Absicht eines Subjekts. Absichten, Regeln und Gründe gelten in der zeitgenössischen philosophischen Handlungstheorie, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, als Bedingungen der Möglichkeit von Handlungen, deren Zusammenspiel die Handlung als Handlung erst konstituiert. Gegenüber Absichten, Regeln und Gründen werden der konkrete Vollzug des Tätigseins sowie seine Situiertheit in der praktischen Philosophie unserer Zeit meist unterthematisiert. Die Situation, in der und aus der heraus sich eine Handlung vollzieht, bleibt aus der Sicht des Mainstreams der analytischen Handlungstheorie für den Charakter der Handlung als Handlung akzidentell. Ich möchte hier den umgekehrten Weg einschlagen und Handlungsfähigkeit nicht länger ausgehend von einem bereits fertig konstituierten Subjekt denken, das Absichten hat, Regeln folgen und Gründe geben bzw. einfordern kann, sondern von einem situierten und sich in Abhängigkeit von einer je konkreten Situation erst herausbildenden Subjekt. Das in den Cultural Studies entwickelte Konzept einer Agency verwende ich dabei als Inbegriff eines situationsresponsiven Tätigseins, dessen Subjekt sich immer dort konstituiert, wo es die Offenheit einer Situation zu ergreifen vermag und damit sich selbst wie die Situation transformiert. Die Freiheit dieses Subjekts wäre keine abstrakte Freiheit, die sich gegenüber den Koordinaten einer Situation zu bewähren hätte, sondern eine konkrete Selbstbestimmung in Situationen, die die Situation als Ermöglichungsgrund von Handlungen begreift. In der Agency, die im Sinne eines grammatischen Mediums zu beschreiben wäre, lässt sich das Subjekt mindestens genauso von der Situation bestimmen wie es die Situation zu bestimmen sucht. Das Subjekt wäre dann nicht zuletzt als ein Potenzial zu beschreiben, sich aus der Situation heraus auf sich selbst beziehen zu können, sprachlich-reflexiv über das bloße In-derSituation-Sein hinauszugehen und sich über seine (im Sinne Helmut Plessners) exzentrische Positionalität (zugleich in der Situation zu sein und sich reflexiv von ihr zu distanzieren) definiert. Der Begriff der Agency wäre im Sinne Maurice Merleau-Pontys als „bedingte Freiheit“ zu lesen, die sich weder als Willkürfreiheit noch als transzendentale Idee deuten ließe. Merleau-Ponty begreift Freiheit vielmehr als Handlungsfähigkeit in und mit einer Situation. „Die Welt ist schon konstituiert, aber nie ist sie auch vollständig konstituiert“, denn Situationen sind grundsätzlich offen, in unterschiedliche Richtungen entscheidbar. „Der Entscheidung kommt die […] Situation zuhilfe, und in diesem Austausch zwischen der Situation und dem, der

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sie übernimmt, sind der ‚Anteil der Situation und der ‚Anteil der Freiheit unmöglich voneinander abzugrenzen.“ (Merleau-Ponty 1966: 514) In vergleichbarer Weise beschreibt Michel de Certeau Agency als eine situierte „Taktik“ oder „Mobilität“, die, „in Abhängigkeit von den Zeitumständen“, darin besteht, „Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet“ (de Certeau 1988: 89). Alles menschliche Sein ist ein Sein in Situationen, in Verflechtungen und Abhängigkeiten mit vielfältigen kontingenten Faktoren. Ich möchte vorschlagen, den Begriff der Agency für eine Freiheit in, mit und aus Situationen zu verwenden, für ein situiertes Tätigsein, das mindestens genauso wie auf ein Subjekt auf die Situation zurückgeführt werden kann, in der sich das Subjekt bildet und auf deren Erfordernisse es eine Antwort finden muss. Agency wäre dann eine „socially determined capability to act and to make a difference“ (Barker 2004: 4), eine der Situation entspringende Kraft, die zugleich darin besteht, die situativen Determinanten selbst zu verändern und damit einem Subjekt Raum zu geben, das mehr wäre als der bloße Effekt einer Subjektivierung durch Anrufungen und disziplinierende Dispositive. Unter Agency wird im Kontext der zeitgenössischen Cultural Studies eine selbstbestimmte und eigensinnige Handlungsfähigkeit von Individuen verstanden, die sich nicht auf den Ausdruck von sozialen Strukturen, Klassenverhältnissen und Traditionen reduzieren lässt. Agency lässt sich insofern gegenüber Handeln absetzen, als eine Beschreibung von Tätigsein als Handeln dieses tendenziell dekontextualisiert, während eine Beschreibung von Tätigsein als Agency den Vollzug des Tätigseins rekontextualisiert, es also in den vielfältigen Interaktionen zwischen Subjekten und Situationen sichtbar werden lässt. Agency steht aus dieser Perspektive für einen responsiven Vollzug, der sowohl das Subjekt des Vollzugs wie auch die Situation, auf die das Subjekt tätig antwortet, zu transformieren vermag. Sie lässt sich also weder vollständig auf die Elemente einer Situation zurückführen noch auf die Intentionen eines autonomen Subjekts. In ihr verkörpert sich ein Tätigsein, das genau dort möglich wird, wo sich Subjekt und Situation wechselseitig daran hindern, sich gegenüber dem jeweils anderen absolut zu setzen. Ich gehe in drei Schritten vor. In einem ersten Abschnitt weise ich auf eine neoaristotelische Tradition des Denkens einer situierten Praxis hin, die, etwa bei John L. Austin und Michael Thompson, Praxis als Wirksamkeits- und Veränderungsgefüge deutet, das nicht auf individualisierte intentionale Handlungen im engeren Sinne beschränkt bleibt (1). In einem zweiten Abschnitt versuche ich zu klären, was unter einer Situation zu verstehen ist und markiere mit Hegel, dem Existenzialismus und dem Pragmatismus wichtige Stationen einer Ideengeschichte der Situation (2). Ein dritter Abschnitt zeigt am Beispiel des (aus-

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gehend von der klassischen Rhetorik interpretierten) sprachlichen Handelns, wie sich eine Handlungsfähigkeit in Situationen konkret beschreiben ließe (3).

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Als Handlungen interpretiert Donald Davidson Ereignisse, die von einem Subjekt verursacht werden: „Wenn man von jemandem sagt, er habe etwas verpfuscht, seinen Onkel beleidigt oder die Bismarck versenkt, erklärt man ihn automatisch zum Urheber dieser Ereignisse.“ (Davidson 1990: 74) Die Absichtlichkeit dieser Verursachung wird dabei als eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür angesehen, dass ein Ereignis als Handlung beschrieben werden kann. Statt von Absichten bevorzugt es Davidson insofern, von Handlungsgründen zu sprechen. Eine Handlung kann aus seiner Sicht mehrere Gründe haben, von denen sich in der Regel ein Grund als der primäre isolieren lässt. Diesen primären Grund zeichnet Davidson als die kausale Ursache der Handlung aus. Er gibt damit eine Terminologie und ein Erklärungsmuster vor, an die sich weite Teile der analytischen Philosophie bis heute angeschlossen haben. Kritiken eines fundationalistischen, den Vollzug des Handelns auf einen Handlungsgrund reduzierenden Handlungskonzeptes sind bereits von Nietzsche und den amerikanischen Pragmatisten formuliert worden. Eine ausgefeilte Kritik am Handlungsmodell findet sich allerdings auch bei einem der Gründerväter der analytischen Philosophie selbst: in Austins 1956 gehaltenem Vortrag Ein Plädoyer für Entschuldigungen. Austin entfaltet hier eine zugleich genealogische und nominalistische, an Nietzsche gemahnende Lektüre des Handlungskonzepts. Er verweist darauf, „daß ‚eine Handlung vollziehen‘ im philosophischen Sprachgebrauch ein äußerst abstrakter Ausdruck ist. Dieser Ausdruck ist ein Ersatz oder Double für jedes (oder beinahe jedes?) Verb mit persönlichem Subjekt, so wie ‚Ding‘ ein Double für jedes (oder, wenn wir uns besinnen: fast jedes) Substantiv und ‚Eigenschaft‘ ein Double für ein Adjektiv ist.“ (Austin 1986: 233) Wenn wir von einer Handlung im Sinne einer Entität sprechen, fallen wir „auf den Mythos des Verbs herein“, was, wie Austin weiter ausführt, „selbst in diesen halbwegs raffinierten Zeitläuften nicht so häufig erkannt wird.“ (Austin 1986: 233) Austin, der immer wieder auch als Gründervater einer Sprach-akt-theorie beansprucht wird, stellt explizit die Frage, ob „etwas sagen [...] eine Handlung“ (Austin 1986: 234) ist, und verneint dies letztlich. Unser Leben zerfalle nicht in eine Sequenz von isolierbaren Handlungen, die sich wie Perlen auf eine Kette reihen ließen. Unser Leben, so Austin, ist einfach nicht so, „daß man jetzt Handlung A, als nächstes Handlung B und danach Handlung C usw. vollzieht, geradeso, wie man

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sich sonst die Welt so vorstellt, als bestünde sie aus diesem, jenem und noch einem Stoff oder materiellen Gegenstand, ein jeder mit seinen Eigenschaften.“ (Austin 1986: 234) Das gewöhnliche Leben zeichne sich vielmehr durch ein hohes Maß an Kontinuität und Prozesshaftigkeit aus. Ausgehend von Aristoteles und dem amerikanischen Pragmatismus könnten wir auch formulieren: Wir stehen immer schon in Praxiszusammenhängen und -sequenzen, die der Perspektive des intentional handelnden Subjekts vorausgehen. Austin zieht aus diesem pragmatischen Holismus die Konsequenz, sprachliche Wirksamkeit nicht handlungstheoretisch, sondern in Begriffen performativer Kräfte zu beschreiben, die weder in mentalen Intentionen noch in sozialen Institutionen gründen. Austin leugnet dabei zunächst jenen „Geist oder sonst einen Künstler hinter den Kulissen“, der von intentionalistischen Bedeutungstheorien in Anspruch genommen werden muss: „Schließen wir also“, so fordert er uns auf, „solche märchenhaften inneren Akte aus.“ (Austin 1985: 32) Wir versprechen, schwören, taufen nicht innerlich, um diesen inneren Akt dann in einem zweiten Schritt zu veräußerlichen. Sein Geäußertwerden ist dem performativen Akt vielmehr wesentlich. Auch Institutionen, in die Sprechakte eingebettet sind, regieren diese Sprechakte nie vollständig. Austin verweist in diesem Zusammenhang auf Verfahren, die jemand durch einen bewussten Verstoß gegen eine institutionalisierte Regel erfindet. Er erwähnt denjenigen Fußballspieler, der als erster den Ball in die Hand nimmt, damit durchkommt und so ein neues Spiel, Rugby, einführt (vgl. Austin 1985: 50). Dies bedeutet nicht, dass Intentionen und Institutionen für das Zustandekommen von Sprechakten keine Rolle spielen würden. Sprechakte lassen sich für Austin allerdings nie vollständig von zugrundeliegenden Intentionen und Institutionen her verstehen, ihr Vollzug hat vielmehr einen irreduziblen Eigensinn. Austins Kritik am Handlungsbegriff wurde von der analytischen Philosophie im Zuge ihrer Verwissenschaftlichungsbemühungen weitgehend verdrängt. So erwähnt Davidson zwar, dass die handlungstheoretische Grundfrage nach den Merkmalen, die Handlungen als Handlungen auszeichnen, „wie Austin meint, in die Irre führt“ (Davidson 1990: 74). Austins Skepsis, so Davidson weiter, nötige zu einer gewissen Vorsicht in den Formulierungen, dürfe aber nicht dazu führen, die handlungstheoretische Grundfrage zu verabschieden. Davidson geht gegen Austin davon aus, „daß es eine recht deutlich bestimmbare Untermenge von Ereignissen gibt, die Handlungen sind“ (Davidson 1990: 74) und dass sich diese Untermenge eigenschaftslogisch bestimmen lässt. Diese grundlegenden Unterstellungen teilen auch Autoren wie John Searle, Jürgen Habermas und Robert Brandom, wenn sie auch letztlich jeweils andere Antworten auf die Frage geben, welche Eigenschaft ein Ereignis zu einer Handlung macht.

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Als Tätigsein in Situationen lässt sich Agency, wie ich den Begriff hier verwenden möchte, nicht im Sinne Davidsons handlungstheoretisch, also im Ausgang von einem situationsresistenten, freien und sich seiner Absichten jederzeit bewussten Subjekt beschreiben. Komplementär dazu lässt sich Agency aber auch nicht auf die bloße Anwendung bzw. Befolgung kulturell codierter Regeln reduzieren, die ihre Träger gemäß einer soziologistischen Praxistheorie bloß „rekrutieren“ (Shove/Pantzar/Watson 2012: 63–80), sie also subjektivieren und ihnen einen sozialen Ort anweisen würden. Agency ereignet sich demgegenüber in einer eigensinnigen Mitte, als ein gegenüber Subjekten und gesellschaftlichen Strukturen Drittes, das mit zugleich „selbst-bildenden“ (Alkemeyer 2017: 155) wie Strukturen transformierenden Effekten einhergeht. Sowohl die Subjekte wie der Vollzug des Tätigseins finden ihre Entstehungsorte genau dort, wo etablierte Strukturen in einem ergebnisoffenen Vollzug überschritten werden. Dieser sich jedem identifikatorischen Zugriff entziehende Vollzug „wechselseitig sich veranlassender wie limitierender verkörperter Aktionen“ (Alkemeyer/Schürmann/ Volbers 2015: 29) lässt sich als eigentlicher Ort einer nicht-determinierten Praxis ansprechen und theoretisch auszeichnen. Freiheit erscheint dann nicht länger als Fähigkeit eines Subjekts, sich gegen eine Situation zu behaupten, sondern als seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung in Situationen, die immer auch impliziert, mit den Routinen und Habitualisierungen zu brechen, welche unserem Leben ansonsten Kontinuität verleihen. Die aktuelle sozialphilosophische und soziologische Praxistheorie tendiert, im Gefolge von Karl Marx, John Rawls und Anthony Giddens, dazu, Praktiken durch eine „continuity of form“ (Giddens 1979: 216) zu definieren; eine Praxis, so auch Rawls, liege nur dann vor, „wenn mehr oder weniger regelmäßig ihr gemäß gehandelt wird“ (Rawls 1975, 380). Demgegenüber wäre Praxis ausgehend von Theorien der Agency eher als „Vollzugsgegenwart voller Unsicherheit und Überraschungen“ (Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 28) zu begreifen, die nicht von Strukturen regiert wird, sondern als eine „Strukturierung im Vollzug“ (Volbers 2011: 142) betrachtet werden sollte, die also von Situationen der Kontingenz ausgeht. Bereits Aristoteles beschreibt Praxis als denjenigen Bereich des Seins, in dem alles immer auch „anders sein, werden oder sich verhalten kann“ (Aristoteles 2002: 17). Agency wäre dann zugleich als Instanz zu begreifen, die eine Praxis daran hindert, vollständig strukturiert und von Notwendigkeiten diktiert zu werden, und als eine Weise des Umgangs mit der Offenheit und Kontingenz von Praxis, die diese Kontingenz nicht einfach nur auflöst oder abarbeitet, sondern als Movens einer Bewegung nutzt, in deren Vollzug sich „ontologisch verschiedene Einheiten – Körper, Artefakte, Dinge – wechsel-

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seitig als Teilnehmer“ (Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 27) dieser Praxis konstituieren. Agency ließe sich vor diesem Hintergrund auch als Potenzial beschreiben, „Bestimmungen menschlicher Praxis […] neu auszuhandeln“ (Bertram 2014: 57) und damit zu transformieren. In diesem Sinne ist sie, wie ein Blick auf aktuelle Debatten zu Lebens- und Praxisformen zeigen könnte, die im Kontext neoaristotelischer Ansätze geführt werden, eminent politisch. Der Begriff der Lebensform hat derzeit im Rahmen sowohl eines sich auf Aristoteles berufenden „Naturalismus der zweiten Natur“ (McDowell 2001) als auch einer Kritik biopolitischer Herrschaftsformen (Agamben 2002) Konjunktur. In den zurückliegenden Jahren wurde hier insbesondere der Versuch Michael Thompsons relevant, Handlungen holistisch, als Ausdruck einer Lebensform zu fassen. Thompson verteidigt dazu eine „naive“, alltagssprachliche Handlungserklärung („Ich tue A, weil ich B tue“) gegenüber einer „raffinierten“ philosophischen Strategie, die die Intention oder das Wollen eines Subjekts als Erklärungsgrund für Handlungen angibt („Ich tue A, weil ich B tun will“) (Thompson 2011: 109f.). Gegen Autoren wie Davidson und Brandom betont Thompson, dass Handlungen nicht nur „eine bestimmte Art von Erklärung und Gründung“ erlauben, sondern dass eine Handlung „selbst eine bestimmte Art von Erklärung oder Grund ist“ (Thompson 2011: 142), dass Handlungen also nicht einfach nur auf einen ihnen vorausgehenden „Raum der Gründe“ bezogen bleiben, sondern „selbst einen solchen Raum“ (Thompson 2011: 143) konstituieren. Damit wird die Handlungstheorie detranszendentalisiert. Handlungen können für Thompson „zur Ursache und Wirkung ihrer selbst“ (Thompson 2011: 143) werden und lassen sich am adäquatesten im grammatischen Aspekt des „Progressivs“ oder der „Verlaufsform“ (Thompson 2011: 135) fassen. Die Fokussierung der Vollzugs- oder Verlaufsform ausgehend von Thompson bietet die Möglichkeit, Praktiken nicht einfach nur im Kontext von „Räumen der Gründe“ oder „Rechtfertigungsordnungen“ (Boltanski/Thevenot 2007) zu verstehen, sondern zu zeigen, dass und wie Praktiken Begründungs- und Rechtfertigungsordnungen provozieren, irritieren und damit auch transformieren können. Das Subjekt der Agency wäre dann nicht nur das gegenüber den Rechtfertigungszwängen moderner Gesellschaften verantwortliche und über eine Ökonomie des Gebens und Nehmens von Gründen verschuldete Subjekt, sondern die Verkörperung des Widerstands gegen vermeintlich alternativlose Rechtfertigungsordnungen oder Räume der Gründe. Das Subjekt der Agency wird zwar weiter durch soziale Strukturen, insbesondere durch Rechtfertigungsordnungen, hervorgerufen, verkörpert aber auch in einem wesentlichen Sinne das Zurückweisen und Scheitern dieser Ordnungen.

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Die neoaristotelische Kritik an einem atomistischen Handlungskonzept, wie sie etwa von Austin und Thompson formuliert wurde, könnte noch an Kontur gewinnen, wenn sie um ein Konzept der Situation und der Situiertheit menschlichen Tätigseins ergänzt würde. Genau dies versuche ich im folgenden Abschnitt ausgehend von Überlegungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels und John Deweys.1 „Das menschliche Leben“, so Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik, ist ein situiertes Leben, „ein Leben des Streits, der Kämpfe und Schmerzen.“ (Hegel 1985: 178) Wir erfahren es als endlich, widersprüchlich, häufig absurd; es bewegt sich entlang von Brüchen, Mängeln und Kontingenzen, bleibt sich selbst fremd, findet sich eingewoben in ein Netz aus unsteten Zeichen, Affekten, Institutionen und Dingen, die in unser Selbstverhältnis eine unauflösliche Fremdheit einschreiben. Über die Irreduzibilität seines Leibes nimmt jeder Mensch eine singuläre Position in diesem nie gänzlich zu überschauenden Netz ein, sein Dasein bindet sich an eine partikulare Perspektive auf die ihn umgebende Welt. Diese Welt präsentiert sich ihm niemals als Ganze, als „der allgemeine Weltzustand“ (Hegel 1985: 179), sondern in der Besonderheit einer je konkreten Situation, die sich von allen anderen Situationen durch eine einmalige Weise abhebt, in der sich ihre Elemente wechselseitig Bedeutung verleihen. Nehmen wir diese Diagnose Hegels ernst, dann ginge es in der Handlungstheorie, wie Erving Goffman schreibt, nicht mehr „um Menschen und ihre Situationen, sondern um Situationen und ihre Menschen“ (Goffman 1986, 9). Die alltäglichen Situationen, in denen wir uns immer schon vorfinden, wären nur unzureichend als Summe positiver Elemente und Bedeutungen zu kennzeichnen; mindestens genauso verweisen sie auf Mängel, Kontingenzen und Abwesenheiten, die wiederum mit einem Tätigsein korrespondieren. Die Situation definiert sich durch die Notwendigkeit, auf sie reagieren zu müssen, wie durch eine Widerständigkeit gegen unsere Reaktionen. Eine Situation lässt sich nicht wie ein Objekt manipulieren. In vielen Hinsichten widerfährt sie uns eher, als dass sie sich unseren Intentionen fügen würde. Wenn wir in sie eingreifen, sie umgestalten möchten, können wir nur sehr bedingt der Absehbarkeit von Ursache-Wirkungs-Ketten vertrauen, sind ihr aber auch nicht, wie dem Traum, als einem blinden Schicksal ausgeliefert. Situationen haben Potentialitätsgefälle, die wir erkennen und taktisch nutzen können. Situationen sind veränderlich, sie ge-

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Die folgenden Abschnitte fassen Überlegungen zusammen, die ich ausführlicher in Hetzel (2013) entwickelt habe.

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hen permanent in andere Situationen über; sie sind Übergängigkeit, eher Möglichkeit als Wirklichkeit, eher offener Prozess als Zustand. Situationen haben immer mehrere Ausgänge, die in ein Pluriversum möglicher Welten führen. Ich kann die Situation, in der ich mich vorfinde, nicht prinzipiell überschreiten, sondern nur auf andere Situationen hin; „Überschreiten“ sollte in diesem Kontext also weniger räumlich (als ein Heraustreten) verstanden werden, denn als eine Praxis. So überschreite ich die Situation, indem ich sie handelnd zu einer anderen mache. Wenn ich auf diesem Weg eine einzelne Situation überschreiten kann, trage ich die Situationalität mit mir wie einen Horizont. Gänzlich situationslos wäre allenfalls der Tod. Situationen sind darüber hinaus niemals nur meine, sie werden – wiederum im Gegensatz zum Traum – intersubjektiv geteilt. Goffman schreibt hierzu: „A situation arises when ever two or more individuals find themselves in one another’s immediate presence and it lasts until the next-to-last person leaves“ (Goffman 1964: 135). Situationen werden allerdings nicht nur geteilt, sondern bleiben zugleich wesentlich umstritten. Was wir Kommunikation nennen, ist vielleicht nichts anderes als der Streit um die Definition der Situation, in der wir uns gemeinsam vorfinden. Die Situation, in der wir uns befinden, stiftet also zugleich eine Kontinuität und eine Diskontinuität, sie trennt und verbindet uns, verbindet uns vielleicht gerade in denjenigen ihrer Aspekte, durch die sie uns trennt. Eine Philosophie der Situationen hätte von einer Kritik aller Universalismen auszugehen, von einer Kritik insbesondere philosophischer und wissenschaftlicher Versuche, über eine Reduktion von Kontingenz und Unbestimmtheit eine transsituative Wirklichkeit des Menschen, der Vernunft oder der Welt zu etablieren, eine Reduktion, die insbesondere die Philosophie nur um den Preis einer Austreibung der Erfahrung aus ihren Texten, Verfahren und Institutionen zu erkaufen vermochte. Die Rückgewinnung der Situationen wäre zugleich eine Rückgewinnung der Erfahrung, einer vollen Erfahrung ohne Geländer, aus der das Subjekt dieser Erfahrung, als verändertes, erst hervorginge und sie insofern nicht machen oder fundieren, sondern sich ihr unterziehen würde. Der Begriff der Situation konnte erst in einer kontingenzbewussten Moderne zu einem philosophischen Begriff sui generis avancieren. Als Disziplin, die ihr Selbstverständnis häufig (wenn auch natürlich nicht immer) daraus schöpft, allem Besonderen einen allgemeinen Grund zu geben, Partikulares auf ein Universales hin zu überschreiten, die Mannigfaltigkeit der Welt auf ein mit sich identisches und ewiges Sein zurückzuführen, definiert sich die vormoderne Philosophie tendenziell über eine Indifferenz gegenüber Situationen, über ihre Überschreitung auf die transsituative Wahrheit einer kosmischen Ordnung. Als Inbe-

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griff des Kontingenten, Flüchtigen, Partikularen und Unbestimmten gilt die Situation den Philosophen seit Parmenides als Nichtseiendes, das zugleich nicht sein soll. Erstmals umfassend thematisiert und untersucht wird die Situation insofern auch nicht in der Philosophie, sondern, wie wir im dritten Abschnitt sehen werden, in der klassischen Rhetorik. In der neuzeitlichen Philosophie wird der Situationsbegriff erstmals in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik ausführlich reflektiert und zwar in einem Kontext, in dem sich Hegel für die Entstehungsbedingungen der antiken Tragödien zu interessieren beginnt. Die Tragödie, die von Aristoteles als „Nachahmung einer ernsthaften und in sich geschlossenen Handlung [praxis] von einer bestimmten Größe“ (Aristoteles 1986: 19) definiert wurde, erschließt für Hegel nicht länger (wie noch die archaische Plastik) einen „allgemeinen Weltzustand“, sondern bezieht sich auf die „Besonderheit“ eines Zustands der Welt, auf eine „Situation und deren Konflikte“ (Hegel 1985: 179). Die Situation vermittelt dabei zwischen „dem allgemeinen Weltzustand“ und der „eigentlichen Handlung“ (Hegel 1985: 1979). In ihr ist der Weltzustand „zur Bestimmtheit partikularisiert“, so dass er „von den Individuen ergriffen werden“ (Hegel 1985: 198) kann. Handeln, das sich in der Tragödie erstmals selbst reflektiert, wäre genau dieses Ergreifen, es wird erst in einer Welt möglich, die sich zu einer Situation verbesondert und damit die „Situation der Situationslosigkeit“ (Hegel 1985: 198) hinter sich gelassen hat. Was Hegel hier als Handeln bezeichnet, ließe sich, gemäß der Ausführungen im ersten Abschnitt, also weit adäquater als Agency beschreiben. Die Bestimmung der Situation erfolgt über eine „Entzweiung“ oder „Kollision“ (Hegel 1985: 198), eine „wesentliche Differenz“ oder „Verletzung“ (Hegel 1985: 203), mittels derer sich die „Situation“ vom bloßen „Zustand“ unterscheidet; erst diese „Verletzung, die nicht Verletzung bleiben kann“ (Hegel 1985: 203), macht ein Handeln zugleich notwendig und möglich. Das Handeln entspringt für Hegel also wesentlich aus der Situation, aus einem Ergreifen genau jener Verletzung, die einen Zustand zur Situation werden lässt. Als solche Verletzungen diskutiert Hegel zunächst „Kollisionen, welche aus rein physischen, natürlichen Zuständen hervorgehen“ (Hegel 1985: 204), also etwa Krankheiten oder Katastrophen, die uns in unseren Routinen erschüttern und zu einer bewussten Reaktion zwingen. An zweiter Stelle nennt er „geistige Kollisionen, welche auf Naturgrundlagen beruhen“ (Hegel 1985: 204), und denkt hier an soziale Konflikte, die auf natürlichen Ursachen (wie etwa Verwandtschaftsverhältnissen) beruhen. Hegel erwähnt in diesem Zusammenhang den von Ödipus begangenen Inzest. An dritter Stelle folgen „Zwiespalte, die in geistigen Differenzen ihren Grund finden und erst als die wahrhaft interessanten Gegensätze aufzutreten berechtigt sind, insofern sie aus der eigenen Tat des Menschen hervor-

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gehen“ (Hegel 1985: 204). Diesem dritten Typ gilt Hegels besonderes Interesse; er charakterisiert ihn dadurch, dass in ihm der „Widerstreit des Bewußtseins und der Absicht bei der Tat und des nachfolgenden Bewußtseins dessen, was die Tat an sich war, [den] Grund des Konflikts aus[macht]“ (Hegel 1985: 211), was er ebenfalls am Beispiel des Ödipus illustriert. Die Tragödiendichter von Aischylos bis Shakespeare gestalten, wie Hegel ausführlich zeigt, vor allem Kollisionen dieses dritten Typs. Im Sinne der Definition dieses dritten Typs ist nun, und das macht Hegels Situationstheorie über den engeren Kontext der Dramentheorie hinaus relevant, alles Handeln dramatisch, da alles Handeln, wie Hegel insbesondere in der Phänomenologie des Geistes zeigt, von einer Diskrepanz zwischen Absicht und Folge heimgesucht wird, die immer wieder neue Verletzungen und damit neue Situationen produziert. Für Hegel ist „die kollisionsvolle Situation vornehmlich der Gegenstand der dramatischen Kunst“ (Hegel 1985: 203), deren spezifische Schönheit sich daraus ergebe, dass die Verletzung in eine Entwicklung überführt werde. Die Tragödie inszeniere kollisionsvolle Situationen, die dann handelnd einer Auflösung zugeführt werden können. Damit führt sie uns eine Dialektik von Situation und Handlung vor Augen, die auch unser außerkünstlerisches Handeln prägt. Die Situation wird in Kunst und Leben nicht einfach als vorfindliche vorausgesetzt, sondern emergiert gleichsam im dramatischen Geschehen, das sich zwischen Situation und Handlung entspannt, sie fällt selbst unter die dramatis personae. Genauso wie das Handeln von der Situation abhängig bleibt, lässt sich die Situation erst nachträglich, von einem Handeln aus, als solche ansprechen: Für Hegel „werden […] die äußeren und inneren bestimmten Umstände und Zustände und Verhältnisse zur Situation erst durch das Gemüt, die Leidenschaft, welche sie auffaßt und in ihnen sich erhält“ (Hegel 1985: 214). Das Subjekt der Handlung ist letztlich nichts anderes als die ergriffene Verletzung, die ergriffene Kollision in der Situation. Indem er das Verhältnis von Subjekt und Situation als eines der wechselseitigen Konstitution und Dekonstitution beschreibt, bereitet Hegel das antifundationalistische und negativistische Denken einer Agency vor, für die das Konzept der Situation zentral wird. Eine zunehmend kontingenzbewusster werdende philosophische Moderne wendet sich, etwa im Pragmatismus und Existenzialismus, von einer Suche nach letzten Gründen und Fundamenten des Handelns ab und den je konkreten Situationen menschlichen In-der-Welt-Seins bzw. dem Dasein als einem InSituationen-Gestelltsein zu. Wie Hegel betonen auch die Existenzialisten und Pragmatisten ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis von Situation und Praxis. Für den Existenzialismus zeichnet sich das menschliche Dasein seit Heidegger durch eine Geworfenheit in Situationen aus, über die wir nicht frei verfü-

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gen können. Jaspers hebt diese Geworfenheit deutlich hervor, wenn er schreibt: „Niemals kann ich als Dasein aus dem In-Situationen-Sein heraus“ (Jaspers 1974: 56). Bei Sartre wird dieser Gedanke dadurch erweitert, dass die Situation zugleich als Bedingung der Unmöglichkeit und Möglichkeit meiner Freiheit erscheint: „Sie ist die totale Faktizität, die absolute Kontingenz der Welt, meiner Geburt, meines Platzes, meiner Vergangenheit, meiner Umgebung, der Tatsache meines Nächsten – und sie ist meine grenzenlose Freiheit als das, was macht, daß es für mich eine Faktizität gibt.“ (Sartre 1991: 943) Zum Geworfensein in Situationen gehört für Sartre auch die Freiheit, auf die Situation zu antworten, sie zu distanzieren: „Es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschliche-Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche-Realität ist“ (Sartre 1991: 84). Als überdeterminierte Gefüge von Handlungsspielräumen und -beschränkungen sind Situationen auch für die Existenzialisten antinomisch verfasst. Die Handlungen und Handlungsmöglichkeiten, die in einer Situation konvergieren, sind in der Regel gegenstrebig. Die Situation ist mehreren Akteuren gerade darin gemeinsam, dass sie sie in unterschiedlicher Weise interpretieren und in unterschiedlicher Weise an sie anschließen wollen. Die Möglichkeiten, die die Situation dem einen darbietet, erweisen sich als Hindernisse für den anderen. Da sie in mehrere Richtungen und Dimensionen überschritten werden können, begegnen uns Situation als unentschiedener agon. Martin Buber trägt dem antinomischen Sinn der Situation in einmaliger Weise Rechnung, wenn er schreibt: „Wer die These annimmt und die Antithese ablehnt, verletzt den Sinn der Situation. Wer eine Synthese zu denken sucht, zerstört den Sinn der Situation. Wer die Antinomik zu relativieren strebt, hebt den Sinn der Situation auf. [...] Der Sinn der Situation ist, daß sie in all ihrer Antinomik gelebt und nur gelebt und immer wieder, immer neu, unvorhersehbar, unvordenkbar, unvorschreibbar gelebt wird.“ (Buber 1984: 97) Die Gründerväter des Pragmatismus interpretieren den Umgang mit dieser Antinomik als experimentellen und ergebnisoffenen Prozess, der uns eine Kreativität abverlangt, die auf das Konzept der Agency vorausweist. In seinem 1938 erschienenen Hauptwerk Logik. Die Theorie der Forschung begreift Dewey Forschung weniger als institutionalisierte Wissenschaft, denn als experimentellen Modus der Transformation von Situationen, der für alles (und insofern nicht nur das menschliche) Leben charakteristisch sei. Dewey charakterisiert die Situation ganz explizit durch eine „negative Aussage“: „Was durch das Wort ‚Situation‘ bezeichnet wird, ist weder ein einzelnes Objekt oder Ereignis, noch eine Menge

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von Objekten und Ereignissen“ (Dewey 2002: 87), sondern, so ließe sich ergänzen, die offene Interaktion von Objekten bzw. Ereignissen und ihrem „kontextuellen Ganzen“ (Dewey 2002: 87). Erfahrungen machen wir nicht mit isolierten Objekten oder Ereignissen, sondern nur mit solchen, die „ein besonderer Teil, eine besondere Phase oder ein besonderer Aspekt einer umgebenden Erfahrungswelt – einer Situation“ (Dewey 2002: 88) sind. Umgekehrt sind Situationen auch für Dewey nicht einfach gegeben, sondern eine Funktion dessen, „was sie mit uns“ und wir mit ihnen „machen“ (Dewey 1980: 252). Die Situationen, in denen wir uns immer schon vorfinden, sind für Dewey zunächst „unbestimmt“ (Dewey 2002: 132). Forschung besteht für ihn in einer Weise des Umgangs mit dieser Unbestimmtheit: Sie ist die „gesteuerte oder gelenkte Umformung einer unbestimmten Situation in eine Situation, die in ihren konstitutiven Merkmalen und Beziehungen so bestimmt ist, dass die Elemente der ursprünglichen Situation in ein einheitliches Ganzes umgewandelt werden“ (Dewey 2002: 132. Herv.i.O.). Forschung beginnt also, wie die Handlung bei Hegel, mit und ausgehend von einer verletzten Situation, einer Situation, die „gestört, aufgewühlt, mehrdeutig, verworren, widersprüchlich, dunkel usf.“ (Dewey 2002: 132) ist. Die Praxis der Forschung, die sich auch in eine kreative, der Agency analoge Form kleiden kann, überführt eine in eine Krise geratene Lebenspraxis in eine neue Gestalt oder Situation.

3.

S PRACHLICHES H ANDELN ALS A NTWORT AUF S ITUATIONEN : E INE RHETORISCHE P ERSPEKTIVE

Auch die aktuellen philosophischen Theorien sprachlichen Handelns zeichnen sich durch eine weitgehende Dethematisierung der Situationalität menschlicher Rede aus. Sprachliche Handlungen werden von der Sprechakttheorie durch ihre Verwiesenheit auf Intentionen, Regeln und Begründungen charakterisiert. Das Sprechereignis wird auf das Zusammenspiel dieser Pole zurückgeführt, wobei sich die verschiedenen Versionen der Sprachpragmatik darin unterscheiden, dass sie jeweils einen dieser Pole gegenüber den anderen auszeichnen. Etwas zu sagen, bedeutet aus der Sicht dieser Theorien, dadurch eine Intention zum Ausdruck zu bringen, dass ich bestimmten, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln folge sowie mit dem Gesagten einen Geltungsanspruch verbinde, den ich unter Rekurs auf vorgängige Bedingungen der Möglichkeit jeder Kommunikation zu begründen vermag. In der antiken Rhetorik wird demgegenüber eine Konzeption situierten Redens entwickelt, die als frühe Theorie sprachlicher Agency gelesen werden

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kann.2 Für Hans Blumenberg gelten „Evidenzmangel und Handlungszwang [als] die Voraussetzungen der rhetorischen Situation“ (Blumenberg 2003: 117). Wir können die Situation, in der wir uns hier und jetzt vorfinden, nie gänzlich überschauen, uns aber zugleich nicht nicht zu ihr verhalten. Die Situation zeichnet sich dadurch aus, dass wir sie nicht theoretisch beherrschen können, sie aber gleichwohl praktisch verändern müssen. Auf Situationen wirken aus rhetorischer Sicht weniger transzendentale als vielmehr höchst konkrete, häufig vom Zufall bestimmte Faktoren ein, mit denen sich der Redende zu arrangieren hat. Für Isokrates liegt das oberste Gebot der Rhetorik demgemäß in der Forderung, „nicht zu verfehlen, was die jeweilige Gelegenheit verlangt“ (Isokrates 1997: XIII 16); insofern wäre es „am besten [...] eine günstige Gelegenheit jeweils gerade im rechten Augenblick zu ergreifen“ (Isokrates 1997: II 33). Gebildet ist für Isokrates nicht derjenige, der über ein exzeptionelles Wissen verfügt, sondern derjenige, der „die tagtäglich anfallenden Aufgaben gut verrichten und sich ein Urteil bilden kann, das in der jeweiligen Situation das Richtige trifft und das Vorteilhafte zu erkennen vermag“ (Isokrates 1997: XII 30). Die antiken Rhetoriker tragen dem Stellenwert, den sie dem Hier und Jetzt geben, dadurch Rechnung, dass sie eine komplexe Situationsphänomenologie entfalten. Zur Bezeichnung der Situation verwenden sie das Konzept der prágmata (die Pluralform von prâgma,  die  Sache); prágmata lassen sich mit Lage, Kontext, Umstände oder eben Situation übersetzen, sie umfassen das Getane, das Geschehene, die Taten oder die Geschäfte, stehen mithin für eine Einheit von Handeln und Handlungskontext. Unser Handeln wirkt aus rhetorischer Sicht nicht von außen auf eine objektive Welt ein, sondern entfaltet sich in Kontexten, die bereits in sich handlungsförmig strukturiert sind. Dass die prágmata nicht einfach als Bestandteile einer objektiven Welt begriffen werden können, zeigt sich an ihrer Fähigkeit, selbst die Stimme zu erheben. „Diese [= die Angeklagten] klagt die Situation [prágmata] an“, schreibt Lysias in seiner Rede gegen Epikrates (Lysias 2004: XXVII 8). Die rhetorische Figur der Prosopopoia, der Vermenschlichung einer Sache, tritt sehr häufig im Zusammenhang mit den prágmata auf. Bei den rhetorischen Situationen handelt es sich um Konstellationen des Redens und Handelns, um etwas, das durch Tun und Sprechen hervorgebracht wurde, das sich durch Tun und Sprechen verändern lässt, das aber auch selbst agiert. Prágmata bezeichnen nicht nur ein Befinden, eine Lage, einen Zustand oder Verhältnisse, sondern Zustände, sofern sie auf eine Entscheidung bzw. Veränderung drängen, genauer also schwierige Ver-

2

Die folgenden Abschnitte fassen Passagen aus Hetzel 2011, 235–265, zusammen.

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hältnisse und Lagen. Sie ermöglichen damit ein Subjekt der Entscheidung, das nie gänzlich von der zu entscheidenden Lage getrennt werden kann. Die prágmata sind in rhetorischer Darstellung dynamisch, umstritten, unvollständig und mangelhaft. „Eine rhetorische Situation“, so führt Øivind Andersen aus, „ist eine Mangelsituation, die das Wort als Ergänzung nötig hat“ (Andersen 2001: 28). Die Rede wird gleichsam vom Mangel der Situation auf- und hervorgerufen. Sie antwortet dem Mangel, ohne ihn zu beheben. Sie überführt nicht einfach das Chaos in Ordnung, sondern etabliert ein Drittes zwischen diesen beiden Extremen. Sie hindert sowohl das Chaos als auch die Ordnung daran, sich vollständig zu verwirklichen. Unser Sprechen sagt in jeder seiner Artikulationen nein sowohl zum „sprachlosen Einssein“ mit dem Sein wie zum „sprachlosen Getrenntsein“ (Heinrich 2002: 42) von der Welt und allen anderen, zu den beiden Grundformen eines situationslosen Seins. Es hält die Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Ordnung. Das Wort erhält die Situation in ihrer ontologischen Unvollständigkeit, es hält sie im Werden. Es ließe sich mit einem Derridaʼschen Begriff auch als Aufschub der Behebung eines Mangels des Seins bezeichnen. Die Rede antwortet auf eine Leere, eine Nichtfestgestelltheit des Seins, die sie zu kompensieren sucht und gleichzeitig fortschreibt. Aus der Sicht einer rhetorischen Situationsphänomenologie sind Situationen nicht einfach nur antinomisch, sondern in einer je besonderen Weise geneigt. Sie haben ein Gefälle, tendieren auf etwas hin, das es zu erkennen und zu nutzen gilt. Situationen erweisen sich dem Rhetor als Gefüge potentieller Wirksamkeiten. Der Redner kann sich sowohl in die Fließrichtung als auch gegen sie stellen. In beiden Fällen wird er allerdings die Energie des Stroms für sich nutzbar zu machen suchen. Explizit bedient sich Isokrates einer Metapher der Geneigtheit, wenn er in der Antidosis-Rede über „unsere Polis“, Athen, spricht: „Wegen ihrer Größe und der hohen Einwohnerzahl ist sie nicht leicht überschaubar und auch nicht leicht kontrollierbar, sondern wie ein Bergbach reißt sie alles mit sich fort, Mensch oder Dinge, wie sie es gerade jeweils erfaßt“ (Isokrates 1997: XV 172). Die Polis als größte denkbare Situation tendiert, angetrieben durch Meinungen, Interessen und Machtgruppen, auf etwas hin. Dem muss der Redner Rechnung tragen; seine Aufgabe besteht darin, die Fließrichtung des Bergbachs zu ändern. Er wird den Bach allerdings nie dahin bringen können, bergauf zu fließen, und konzentriert sich insofern auf das Machbare. Es ist durchaus zutreffend, mit Andersen zu sagen, die „Situation“ sei „eine der größten Hilfsquellen des Redners“ (Andersen 2001: 30). Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass der Redner nicht über die Situation verfügt, sondern sich in sie stellt, sie als Wirksamkeitsgefüge begreift, welches sich nicht beliebig handhaben lässt. Ihre soziale Wirksamkeit wird der Rede nicht durch

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den Redner verliehen, sondern entspringt der Situation selbst, ihrer Unfestgestelltheit. Die Rede partizipiert in der Situation an einer ihr vorgängigen Wirksamkeit, der sie sich unterstellen, die sie allerdings auch kritisch aneignen, brechen, beugen, parodieren und transformieren kann. Die Wirksamkeit kommt der Rede nicht als Eigenschaft zu, die ihr vom Redner intentional verliehen würde, sondern wird von der Rede aus der Situation aufgenommen. Die Rede kommuniziert in diesem Sinne mit der Situation in ihrer unvollständigen Ganzheit. Das Gefälle der Situation verweist aus rhetorischer Sicht auf einen kritischen Punkt, einen Anfangspunkt der Bewegung, an dem die Bewegungsrichtung noch nicht determiniert ist, an dem die Kugel vom Berggipfel aus nach allen Seiten ins Tal rollen könnte. Es genügt an diesem Anfang ein Weniges, um der Kugel ihre Richtung zu geben. Doch nur mit beträchtlichem Kraftaufwand lässt sich der einmal eingeschlagene Weg später korrigieren. Der kairós oder Moment der Entscheidung markiert genau diesen Anfangspunkt. Im Anfang liegt, worauf die beiden Hauptbedeutungen von arché  (Macht und Ursprung) verweisen,  eine ganz spezifische Macht. Die Aufgabe der rhetorischen Epistemologie richtet sich also darauf, den Moment des Anfangs oder der möglichen Entscheidbarkeit zu ermitteln. Der kairós könnte von hier aus auch als Möglichkeit in einer Situation gedeutet werden, die ergriffen werden muss. Zum kairós kommt es immer dann, wenn etwas an der Situation über diese Situation hinausweist, wenn sich ein Ereignis im Sinne eines Bruches mit dem bisherigen Gang der Dinge abzeichnet. Die Angemessenheit einer Rede ergibt sich aus ihrer Fähigkeit, dem Ruf des kairós zu folgen. Das Hören auf den kairós verlangt allerdings gleichwohl eine Art Restintentionalität, ein irreduzibles Moment von Handlung, von Ergreifen. Der kairós geht nicht einfach der Handlung als ein sie erst ermöglichendes Ereignis voraus, sondern lässt sich umgekehrt erst von der ihn ergreifenden Geste her ansprechen. Diese Geste erschöpft sich aber wiederum nicht in einem intentionalen Akt. Es gilt vielmehr, sich gegenüber dem kairós offen zu halten, eher etablierte Institutionen zu ent-setzen als neue zu setzen. Indem sie dem kairós einen zentralen Stellenwert einräumt, vermeidet die Rhetorik bestimmte Prämissen einer philosophischen Handlungstheorie, die das Subjekt als Souverän der Situation definiert. Aus der Sicht der philosophischen Handlungstheorie setzt ein vorgängiges Subjekt seine Intentionen um, indem es sich bestimmter Mittel bedient, mit denen es, entlang sozial vorgegebener Regeln, Situationen manipuliert. Subjekt und Situation stehen sich dabei abstrakt gegenüber. Ausgehend vom rhetorischen Konzept des kairós ließen sich an diesem Handlungsmodell Verschiebungen vornehmen, die die Möglichkeit eines

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sprachlichen Handelns im Sinne einer Agency begreifen würden, eines transformativen Handelns in, aus und mit Situationen.

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Kreativität und Kritik Spielräume des Handelns nach Dewey und Gadamer S TEFAN D EINES

Eine der Grundfragen der Handlungstheorie ist die Frage danach, wie wir Handlungen von unwillkürlichen Körperbewegungen oder bloßem Verhalten differenzieren können. Die übliche Weise, diese Unterscheidung zu treffen, ist die, eine Körperbewegung nicht (bloß) als Effekt in einem Ursache-WirkungsZusammenhang zu begreifen, der sich auch rein naturwissenschaftlich begreifen ließe, sondern als intentional zu verstehen, als eine Bewegung, die mit den Wünschen und Überzeugungen des handelnden Akteurs in einer ursächlichen Verbindung steht. Eine Körperbewegung ist insofern eine Handlung, insofern wir sie einem Akteur zuschreiben können, der auf die Frage, ‚warum‘ er sie vollzogen hat, Rechenschaft geben kann, indem er die Wünsche, Ziele und Überzeugungen angibt, die für die Handlung leitend waren.1 Was Handlungen sind, wird damit im Spannungsfeld der Gegensätze von Aktivität und Passivität, Bewusstsein und Unbewusstem, Freiheit und Unfreiheit, Kontrolle und Unverfügbarkeit, Intentionalität und Unabsichtlichkeit in Abgrenzung zu reinen Widerfahrnissen bestimmt. Ein bestimmtes Verhalten kann als Handlung kaum verständlich werden, wenn es ausschließlich mit Bezug auf passive, unbewusste, zwanghafte, unbeabsichtigte und unkontrollierte bzw. unkontrollierbare Prozesse beschrieben wird. Handlungen sind im Gegensatz dazu mit Bezug auf Aktivität, Bewusstheit, Freiheit, Intentionalität und Kontrolle zu erläutern bzw. sie sind eben die Akte von Wesen, deren Verhalten in Bezug auf diese Aspekte verstehbar ist. Die theoretische Beschreibung von Handlungen

1

Vgl. zu diesem Verständnis des Handelns bspw. Anscombe (2011) und Davidson (1985).

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geht daher mit einem bestimmten Verständnis von Handlungssubjekten einher. Als Handlung wird das Verhalten von Wesen mit Handlungsfähigkeit (Agency) bezeichnet (insofern es dieser Handlungsfähigkeit entspringt), und das heißt von Wesen, die in einem bestimmten Maße aktiv, bewusst, frei, absichtlich und kontrolliert agieren können. Dass die Frage nach der Agency zum Enigma wird, liegt nun nicht einfach daran, dass die Frage nach der Handlungsfähigkeit mit den Fragen nach Willensfreiheit, Selbstbewusstsein und dem Verhältnis von Körper und Geist zusammenhängt und damit zu einer äußerst komplexen und komplizierten Problemstellung der Philosophie gehört, sondern (darüber hinaus) daran, dass seit dem 19. Jahrhundert theoretische Strömungen den Blick auf das Subjekt grundlegend verändert haben, indem die Dimensionen der Freiheit, der Selbsttransparenz und des Selbstbesitzes des Subjekts (bzw. bestimmte Verständnisse dieser Aspekte) in Frage gestellt wurden. Verschiedene (z.B. existenzialistische, psychoanalytische, hermeneutische, pragmatistische, strukturalistische und poststrukturalistische) Spielarten subjekt-kritischer bzw. subjekt-dezentrierender Theorie haben dagegen vielmehr die Dimensionen der Abhängigkeit, Intransparenz und Unverfügbarkeit betont. Das Subjekt tritt in diesem Bild nicht vorrangig als selbstbestimmte Ursache in Erscheinung, sondern eher als Resultat oder Schnittpunkt von Kräften und Prozessen, die dem Bereich des Verfügbaren in epistemischer und praktischer Hinsicht entzogen sind. Dass mit solchen Überlegungen zentrale Hintergrundannahmen der menschlichen Handlungsfähigkeit mit in Frage gestellt sind, lässt sich insbesondere an der Debatte um Agency ablesen, wie sie im Bereich der Kritischen Theorie und Sozialphilosophie geführt wird. Wenn das Subjekt durch Faktoren bestimmt wird, die es nicht selbst überblicken und bestimmen kann, scheint es seine Handlungsfähigkeit zu verlieren, insoweit es als unfrei, passiv und opak beschrieben werden muss. Und dies betrifft insbesondere das im engeren Sinne kritische Handeln bzw. die kritische Handlungsfähigkeit – denn je mehr das Subjekt als durch historische, soziale, politische, institutionelle und sprachliche Faktoren konstituiert erscheint, desto mehr scheint die Fähigkeit verloren zu gehen, genug Distanz gegenüber diesen prägenden Faktoren zu gewinnen, um sich mit ihnen aktiv, bewusst und gezielt auseinandersetzen zu können. Agency wird also zum Enigma, insofern die verschiedenen subjekt-dezentrierenden theoretischen Strömungen ein Bild des Subjekts zeichnen, das es zunehmend rätselhaft erscheinen lässt, wie wir den Menschen als ein (kritisch) handelndes Wesen überhaupt verstehen können. Im Folgenden sollen mit den Theorien von John Dewey und Hans-Georg Gadamer zwei Ansätze subjekt-dezentrierender Philosophie betrachtet werden,

K REATIVITÄT

UND

K RITIK

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die die Handlungsfähigkeit des Subjekts im Kontext der es konstituierenden historischen, sozialen und materialen Bedingungen erläutern. Dass gewisse Aspekte der Handlungssituation intransparent und die Konsequenzen des Handelns nicht vollständig kontrollierbar sind, erweist sich hier nicht als Einschränkung der Agency, sondern im Gegenteil als wesentliches Charakteristikum der menschlichen Situation und des menschlichen Handelns. Dabei zeigt sich auch, dass in hermeneutisch-pragmatistischer Perspektive ein Bild von Subjektivität und Handeln gezeichnet wird, das in besonderer Weise geeignet ist, mit dem kreativen und dem kritischen Handeln diejenigen Formen des Handelns zu erläutern, die für viele handlungstheoretische Ansätze problematische Grenzfälle darstellen.

1.

S ITUIERTES H ANDELN

NACH

D EWEY

UND

G ADAMER

Sowohl bei der philosophischen Hermeneutik als auch beim Pragmatismus handelt es sich um Ansätze, die die Situiertheit des Handelnden betonen, ohne damit einen Begriff der Handlungsfähigkeit aufzugeben. Beide Strömungen bieten Erläuterungen dafür an, wie menschliche Aktivität auf der Basis und im Kontext von unverfügbaren Bedingungen zu denken ist. Auch wenn der Pragmatismus, etwa bei Dewey, unter anderem die Bedingung von Körperlichkeit und triebhaften Impulsen berücksichtigt und sich die Hermeneutik, z.B. bei Gadamer, verstärkt auf die historisch-geistigen Bedingungen konzentriert, bieten doch beide ein Modell, in dem die jeweiligen Vorbedingungen nicht in einem Gegensatz zur Möglichkeit des Handelns gesehen werden, sondern als seine Basis. Mit der Erörterung der Bedeutung von Gewohnheiten (Habits) bei Dewey und von Vorurteilen und Überlieferung bei Gadamer wird jeweils die produktive Rolle von Faktoren herausgearbeitet, die häufig nur als Einschränkungen intentionalen Handelns begriffen werden. Wenn Gadamer betont, dass es der Hermeneutik nicht nur darum geht, „was wir tun“ oder „was wir tun sollten“, sondern vor allem auch darum, „was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht“, (Gadamer 1993b: 438) dann betont er mit dem Geschehenscharakter den Aspekt, dass unser Handeln im Rahmen einer größeren Konstellation situiert ist, die wir als solche nicht vollständig reflektieren und kontrollieren können. Die Kritik an der Kontrollierbarkeit ergibt sich jeweils durch den Hinweis auf die Situation, die Heidegger mit

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den Begriffen der ‚Geworfenheit‘ bzw. der ‚Befindlichkeit‘ charakterisiert hat.2 (Vgl. Heidegger 1993: §29ff.) Wir finden uns je schon auf die eine oder andere Weise vor, in einem gewissen Kontext, in einer gewissen Stimmung, mit gewissen Dispositionen, im Raum herrschender Deutungen und Praktiken usw. – und erst auf Basis dieser Umstände können wir uns reflexiv orientieren und aktiv betätigen. Wir kommen daher stets zu spät, wenn wir die Bedingungen unseres Verstehens und Handelns aktiv kontrollieren wollen, weil unser Erkennen und Handeln immer schon durch die vorfindliche Situation bedingt ist. Der Pragmatismus ist auf dem Weg einer Kritik am cartesischen Skeptizismus zu einer sehr eng verwandten Position gelangt. Wir können dieser (zunächst von Charles S. Peirce vorgebrachten) Kritik zufolge nicht an allen unseren Überzeugungen zweifeln, um auf diesem Weg zu einem Fundament fester Gewissheit zu gelangen – vielmehr zweifeln wir nur dort, wo wir Gründe zum Zweifeln haben. D.h. wir befinden uns in einem fortdauernden Prozess, in dem wir lokal auftretende Probleme lösen und auf konkrete Unstimmigkeiten reagieren, ohne jemals diesen bereits im Vollzug befindlichen Prozess des Prüfens und Problemlösens selbst auf eine unerschütterliche Basis stellen zu können. Bekanntlich deutet Wittgenstein, insbesondere in Über Gewissheit, in die gleiche Richtung, wenn er betont, dass unsere Erkenntnis, unsere Praktiken und unser Verhältnis zur Welt nicht auf einer durch umfassenden Zweifel gewonnen Basis von Gewissheiten errichtet werden kann, weil wir, um zu zweifeln, schon an dem intersubjektiven Sprachspiel des Begründens und In-Zweifel-Ziehens teilnehmen müssen, hinter dessen Bedingungen wir mit den konkreten Akten des Zweifelns dann selbst nicht mehr zurückkönnen. Und jedes Sprachspiel basiert letztlich auf Abrichtung und auf Vertrauen, das heißt auf praktischer Einübung und dem ungeprüften Glauben daran, dass das, was wir beigebracht bekommen, stimmig und

2

Ich beziehe mich auf Heidegger und das hermeneutische Denken, insofern ich der Meinung bin, dass es in systematischer Hinsicht einen produktiven Einsatzpunkt für das Verständnis des menschlichen Seins und des situierten kritischen Handelns bietet und insofern es nicht Vorentscheidungen trifft, die in philosophischer und politischer Hinsicht zweifelhaft sind. Es ist eine wichtige Aufgabe im Lichte der biographischhistorischen Erkenntnisse, stets zu überprüfen, inwieweit und in welchen Aspekten unrühmliche persönliche politische Einstellungen einen systematisch-philosophischen Niederschlag gefunden haben. Vgl. zu dieser Problematik die Ausführungen in der Einleitung zu diesem Band.

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verlässlich ist. Und nie lassen sich diese Faktoren des Vertrauens und der Einübung im Nachhinein vollständig in Wissen und Kontrolle übersetzen.3 Deweys Gewohnheiten Im Zentrum der Handlungstheorie von Dewey, wie er sie etwa in seinem Buch Human Nature and Conduct darlegt, steht der Begriff der Habits. Dewey, der neben Hegel und Peirce auch durch Darwin beeinflusst ist (vgl. Rorty 2003), hat als Urszene von aktivem Verhalten einen Organismus vor Augen, der in einem mehr oder weniger harmonischen Verhältnis mit einer Umwelt steht, die seinen Lebensraum ausmacht. Der Organismus ist in vielen Hinsichten – Sinnesorgane, Ernährung, Bewegungsapparat, Atmung etc. – an diese Umwelt angepasst und befindet sich in einem kontinuierlichen Prozess adaptiver Interaktion. Ist das harmonische Gleichgewicht zwischen Organismus und Umwelt gestört, im banalsten Fall durch eine ‚Krise’, wie sie durch Hunger- oder Durstgefühl angezeigt wird, ist der Organismus durch aktives Verhalten, in diesem Fall durch Essen oder Trinken, darauf aus, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Diese anpassende Aktivität, die zu einem Gleichgewicht bzw. einer gesteigerten Existenz im Wachstum führt, ist für Dewey das Grundmodell aktiver Auseinandersetzung mit der Welt.4 Ganz in diesem Sinn führt er auch den Begriff der Gewohnheiten in Analogie zu physiologischen Funktionen wie der Atmung oder der Verdauung ein, die als angepasste Kooperation zwischen Körper und Umwelt verstanden werden können. Auch Gewohnheiten sind solche Voreinstellungen, die die Interaktion zwischen einem Menschen und seiner natürlichen und kulturellen Umwelt koordinieren, aber sie sind im Gegensatz zu den physiologischen Funktionen sozial erworben, der bewussten Reflexion zugänglich und durch uns selbst veränderbar. Gewohnheiten sind Dispositionen, die uns in bestimmten Situationen, in der Konfrontation mit bestimmten Umständen oder Problemlagen auf eine bestimmte Weise – körperlich oder geistig – handeln lassen. Diesem Handlungsmodell zufolge ist es nicht eine vorgängige bewusste und reflektierte Entscheidung, die einen sonst passiven Körper zu einer bestimmten Handlung aktiviert, sondern wir sind stets bereits in Aktivität befindliche, in einer Umwelt verkörperte We-

3

Wittgenstein betont die „Grundlosigkeit unseres Glaubens“, die daraus resultiert, dass wir in allem Prüfen schon etwas voraussetzen, „was nicht geprüft wird“. (Wittgenstein 1992: §§166 u. 163)

4

Vgl. hierzu auch die ersten Kapitel von Kunst als Erfahrung. (Dewey 1988)

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sen, die durch ihre Gewohnheiten disponiert sind, auf die eine oder andere Weise tätig zu sein. Das Subjekt wird hier also nicht als rein geistige Entscheidungsinstanz konzipiert, sondern es konstituiert sich zu einem großen Teil aus seinen Gewohnheiten, welche seine Wahrnehmung, seine Überzeugungen, seinen Willen und seine Aktivität strukturieren. Insofern Gewohnheiten als Reaktionen auf die Anforderungen der Umwelt verstanden werden und insofern sie zunächst durch Lernen und Erziehung nach Maßgabe der sozialen Üblichkeiten von anderen übernommen werden, ist das Subjekt als Produkt seiner natürlichen und sozialen Umwelt anzusehen.5 Dennoch ist in diesem Bild Raum für Selbstbestimmung, Individualität und Originalität. Gewohnheiten bestimmen uns und machen uns aus, aber sie haben uns nicht auf eine Weise im Griff, wie es die naheliegende Assoziation mit ‚schlechten Angewohnheiten‘ wie etwa dem Rauchen suggerieren mag. Zwar sind Gewohnheiten Dispositionen, auf eine bestimmte Weise zu handeln, aber sie bedürfen, um tatsächlich mit den stets neuen und einmaligen Herausforderungen des Lebens klarzukommen, einer fortlaufenden intelligenten und kreativen Anpassung. Der Begriff der Gewohnheit darf nicht im Sinne von Sucht, geistloser Routine oder mechanischer Reproduktion verwechselt werden. Solches Verhalten markiert für Dewey vielmehr Grenzen bzw. Schwundstufen dessen, was als lebendiges Handeln verstanden werden kann. Denn ganz ähnlich wie bei Gadamers Begriff der Applikation (bzw. auch ganz ähnlich dem Begriff der Tugenden) sehen sich die Gewohnheiten, die auf eine allgemeine Handlungssituation ausgerichtet sind, mit der Individualität eines konkreten Falls konfrontiert, in Bezug auf den sie zur Anwendung gebracht bzw. angepasst werden müssen. Das rein mechanisch routinierte Verhalten geht auf die Spezifik der konkreten Situation nicht ein und kann so den gegebenen Problemlagen und Herausforderungen nicht gerecht werden.6

5

„The stuff of belief and proposition is not originated by us. It comes to us by others, by education, tradition, and the suggestion of the environment. Our intelligence is bound



up […] with the community life of which we are part. (Dewey 2002: 314) 6

Gilbert Ryle hat ebenfalls die Bedeutung der Einübung und der praktischen Fähigkeiten des knowing how gegenüber dem bewussten und theoretisierenden Verhalten des knowing that betont. Er bezeichnet mit dem Begriff der Gewohnheit allerdings das rein routinemäßige Handeln und grenzt es gegenüber den intelligenten Fähigkeiten ab; diese Differenz entspricht ungefähr derjenigen, die Dewey zwischen bloßen, automatistischen Gewohnheiten und intelligenten Gewohnheiten trifft. (Vgl. Ryle 2002: 49– 54)

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Für Dewey ist die Notwendigkeit zu Anpassung und Transformation unserer Gewohnheiten stets gegeben. Zum einen liegt dies an der erwähnten Individualität und Spezifik der Handlungssituation und der Tatsache, dass uns die Welt kontinuierlich mit neuen Gegebenheiten, Aufgaben, Problemen und Möglichkeiten konfrontiert. Des Weiteren entsteht die Notwendigkeit der Rekonfiguration aus der Tatsache, dass verschiedene unserer Gewohnheiten, die immer im Plural auftreten, in Reibung oder in Konflikt miteinander stehen. Letztlich liegt aber die motivierende Kraft hinter dem Prozess der Anpassung und Veränderung der Gewohnheiten in dem, was Dewey mit Impulse bezeichnet, also die Dimension der Triebe, Antriebe oder Begierden. Dewey geht von einer Mehrzahl solcher Triebe und von der grundsätzlichen Plastizität des Bereichs der Impulse aus. D.h. die Triebe sind nicht von Natur aus bestimmt und auf ein vorgegebenes Ziel hin ausgerichtet (wie es zum Beispiel der Begriff des Sexualtriebs suggeriert), sondern sie sind auf unterschiedliche Weise kanalisierbar und formbar. Die Gewohnheiten sind nun bestimmte Formungen, durch die vermittelt die Triebe in tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt gebracht werden. Triebe wirken also nicht unmittelbar, sondern immer durch die Konfigurationen und Konstellationen der Gewohnheiten hindurch. Nun stehen aber Impulse, Gewohnheiten und Umwelt niemals in einem Verhältnis restlos harmonischen Gleichgewichts, sondern es bleibt stets ein impulsiver Überschuss, der einen Anpassungs- oder Transformationsdruck darstellt. Oder, wie William James es in einem verwandten Kontext einmal formuliert hat: „The pinch is always here“ – stets gibt es den unabgegoltenen, unberücksichtigten Impuls, der zu einer Veränderung und Erneuerung einer gegebenen Konstellation treibt (James 1891: 347). Auch wenn wir durch unsere Gewohnheiten in vielen Situationen auch ohne vorgängige Reflexion und bewusste Entscheidung handeln, so sind die bewussten geistigen Vermögen im Zuge der Anpassung und Transformation von Gewohnheiten durchaus gefordert. Im Gegensatz zu mechanischer Routine sieht Dewey in der ‚intelligenten Gewohnheit‘ das Ideal des Handelns und dieses geht mit Reflexion, Imagination und Kreativität in der Anwendung und Abwandlung einher. Das Selbst ist nun aber, wie bereits angedeutet, nicht allein in diesen bewussten Akten oder Entscheidungen zu finden, sondern es besteht in der gesamten Konstellation verschiedener Impulse, Gewohnheiten und reflexiver Modifikationen. Das Selbst ist nicht eine Instanz hinter den Handlungen, sondern ein andauernder Prozess; nicht ein abschließend Gegebenes, sondern etwas, das sich im Zuge von Aktivität herausbildet und transformiert. Das Handeln auf Basis von intelligenten Gewohnheiten involviert das Subjekt damit in einen fortlau-

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fenden Prozess der Selbsttransformation, der Rekonfiguration der Perspektive, des Willens und der Stellung zur Welt. Damit findet sich in der Handlungstheorie Deweys ein dynamisches Verhältnis von Tradition und Innovation. Ein Handelnder zu sein, bedeutet einerseits, auf eine Weise in die Welt eingelassen zu sein, die durch die Gemeinschaft und die Kultur, in die man hineinwächst, bestimmt ist. Subjekte sind (zunächst und zumeist) durch Handlungsdispositionen konstituiert, die intersubjektiv vererbt und geteilt werden. Aber ein Handelnder zu sein, bedeutet eben auch, von diesem übernommenen Ausgangspunkt her, intelligent und kreativ mit veränderten Gegebenheiten umzugehen, die Gewohnheiten zu modifizieren und damit letztlich auch der gesamten sozialen und kulturellen Welt verändernde Impulse zu geben. Der Einzelne ist also durch die Gemeinschaft geprägt, aber nicht durch sie festgelegt. Vielmehr ist es für Dewey von zentraler Bedeutung, dass der Einzelne seine jeweils eigenen Erfahrungen macht, seinen Impulsen und Interessen nachgeht, seine individuellen Krisen und Konflikte durchlebt, um die so gewonnenen Erfahrungen und Einsichten wiederum bereichernd in die Gemeinschaft einzubringen.7 Unter anderem aus diesem Grund ist der Begriff des Handelns bei Dewey – genauso wie auch die Begriffe der Forschung (Inquiry) und der Erkenntnis im Pragmatismus insgesamt – substanziell mit der Idee einer demokratisch organisierten Gesellschaft verbunden. Denn nur in einer Gemeinschaft von grundsätzlich Gleichberechtigten und in der Offenheit für die Position des Anderen kann sich die Erfahrung und die Innovationskraft des Einzelnen überhaupt geltend machen, während sie in einer hierarchischen, dogmatischen und kompartmentalisierten Gemeinschaft unterdrückt und marginalisiert wird. Nur eine demokratische Gesellschaft ist dazu in der Lage, besitzt genug Plastizität, um die Einsichten, Entdeckungen und Haltungen ihrer Mitglieder in einer produktiven Weise aufzunehmen. Damit umfasst Handeln in seiner vollen Bedeutung bei Dewey die aktive Teilhabe an einem Prozess der Transformation des eigenen Selbst sowie der sozialen und kulturellen Welt, in dem die jeweils gegebenen Überzeugungen,

7

„[E]very individual is in his own way unique. Each one experiences life from a different angle than anybody else, and consequently has something distinctive to give others if he can turn his experiences into ideas and pass them on to others. Each individual that comes into the world is a new beginning; the universe itself is, as it were, taking a fresh start in him and trying to do something, even if on a small scale, that it has never done before.“ (Dewey 2008b: 127)

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Zwecke, Haltungen, Prinzipien und Handlungsmuster appliziert, geprüft und modifiziert werden. Gadamers Vorurteile Im Folgenden sollen vor allem die strukturellen Analogien in den Theorien von Dewey und Gadamer herausgearbeitet werden, obwohl es neben den Gemeinsamkeiten auch gravierende Unterschiede in den Ansätzen gibt. Zum einen ist bei Gadamer die Dimension von Natur, Antrieben und Körperlichkeit ausgeblendet, die für Deweys Überlegungen zentral ist. Zum anderen ist Gadamer in sehr viel geringerem Maße mit einer dezidierten Handlungstheorie beschäftigt als Dewey. Ja, man könnte durchaus fragen, ob bei Gadamer überhaupt so etwas wie eine explizite Thematisierung menschlichen Handelns gegeben ist – schließlich beschäftigt er sich vorrangig mit einer Theorie des Verstehens – also der Rezeption sinnhafter Äußerungen. Dennoch denke ich, dass Gadamer im Aufweis der aktiven Aspekte, die für das Verstehen notwendig sind, durchaus ein Modell entwirft, das für menschliche Aktivität insgesamt Relevanz besitzt. So ist für Gadamer einerseits das aristotelische Konzept der phronesis von zentraler Bedeutung, das ein wichtiges Element einer allgemeinen Theorie des Handelns darstellt. Und zum anderen geht Gadamer von Heideggers Erörterungen in Sein und Zeit aus, worin ‚Verstehen‘ und ‚Auslegung‘ als wesentliche Aspekte von menschlicher Praxis insgesamt dargestellt werden. In der Passage von Sein und Zeit, die für Gadamer mit am wichtigsten gewesen sein dürfte, geht es Heidegger allerdings weniger um Praxis im Allgemeinen, sondern um das Verstehen von Texten; sie kann durchaus als die Keimzelle von Wahrheit und Methode begriffen werden: „Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert. Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen. Wenn sich die besondere Konkretion der Auslegung im Sinne der exakten Textinterpretation gern auf das beruft, was ‚dasteht‘, so ist das, was zunächst ‚dasteht‘, nichts anderes als die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers, die notwendig in jedem Auslegungsansatz liegt.“ (Heidegger 1993: §32) In dieser Passage, in der Heidegger seine Konzeption der allgemeinen Vorstruktur des Verstehens für den konkreten Fall der Textinterpretation erläutert, ist bereits der entscheidende Gedanke zu finden, den Gadamer in seiner Theorie der Vorurteile aufnimmt. Dieser besagt, dass wir nicht passiv und neutral an einen Text herangehen, um die Informationen, die in ihm enthalten sind, aufzunehmen, sondern dass Interpretation eine Aktivität ist, in die wir mit bestimmten Voreinstellungen und Dispositionen hineingehen. Verstehen basiert also auf et-

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was, was wir als Verstehende in den zirkelhaften Prozess des Verstehens einbringen müssen. Das, was wir mitbringen – die Vormeinungen, Vorurteile, Deutungsmuster und Erwartungen –, ist allerdings nichts, was wir im Vorhinein bewusst reflektiert und gewählt hätten, sondern es sind die Einstellungen, die wir als Teilnehmer einer kulturellen Tradition zunächst ungeprüft geerbt und übernommen haben. Dass die Überlieferung uns in unserer Aktivität zwar prägt, aber nicht ein für alle Mal festlegt, erläutert Gadamer (wie Dewey auch) mit Hinblick auf die Notwendigkeit der Konkretion der überlieferten Vorurteile in der jeweiligen Anwendungssituation. Hierfür ist, wie bereits erwähnt, die aristotelische phronesis für Gadamer ein wichtiger Bezugspunkt.8 Denn hier findet er eine Form von Wissen exemplarisch formuliert, die sich gegen das Paradigma des naturwissenschaftlich-methodischen Wissens in Stellung bringen lässt. Dieses Wissen lässt sich als ein spezifisches Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem fassen. Das, was hier gewusst wird, kann sozusagen nicht als Allgemeines gewusst werden, es kann nicht in Form allgemeiner Sätze und Regeln gelernt und transportiert werden, wie die Sätze der Naturwissenschaften. Es handelt sich dagegen um ein Wissen, das erst in den Situationen der konkreten Applikation seine eigentliche Realisierung erfährt. Diese Anwendung ist nicht eine einfache Subsumierung des Einzelfalls unter allgemeine Regeln und Maximen: Was beispielsweise in einer bestimmten Situation eine gerechte Handlung ist, lässt sich nicht aus einer Regel ableiten, so wie sich die Reaktion zweier Stoffe aus einem chemischen Gesetz ableiten lässt. Der Handelnde ist zwar durch seine Erziehung im Allgemeinen mit den geltenden Tugenden einer Gesellschaft vertraut, diese lassen sich aber Aristoteles zufolge abstrakt lediglich ‚im Umriss‘ wissen; was in der spezifischen Situation dann tatsächlich tugendhaft ist, muss sich im Tun des jeweils Handelnden erweisen. (Aristoteles 1995: 1103b26) Diese Aufgabe des auslegend-anwendenden Tuns kann dem handelnden Subjekt niemand abnehmen, denn es gibt wiederum keine allgemeinen Regeln für die Anwendung des Allgemeinen in der besonderen Situation. Hier zählen lediglich das Augenmaß und die Urteilskraft des Handelnden selbst. Dieses Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem im sittlichen Wissen führt zu einem dynamischen Verhältnis von Tradition und Innovation, von passiver Bestimmtheit und aktiver Bestimmung. Zwar ist es richtig, dass wir immer schon durch die Tradition, in der wir stehen, geprägt sind; wir sind im Lichte

8

Vgl. zu den folgenden Ausführungen Deines (2013), zur Bedeutung der phronesis bei Gadamer auch Warnke (2002), zur Rolle der phronesis bei Dewey Rogers (2007).

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von Verständnissen und Werten herangewachsen, die unsere Sicht auf die Welt vorstrukturieren. Aber dieses uns prägende Wissen der Überlieferung wird bei Gadamer eben nach dem Modell der phronesis gedacht, und das heißt, es handelt sich nicht um ein Wissen, das unser Denken und Handeln determiniert wie fixe Regeln oder Naturgesetze. Das Wissen der Überlieferung gewinnt nur Realität, wird überhaupt nur zur ‚Wirkungsgeschichte‘, indem Subjekte in der verstehenden Praxis überlegen, auf welche Weise es konkret angemessen auszudeuten und anzuwenden sei. Die Tradition hat zwar Macht über die Handlungssubjekte, insofern die Teilhabe an einem Horizont überlieferter Verständnisse für deren Inder-Welt-Sein konstitutiv ist; aber die Subjekte haben umgekehrt auch Macht über die Tradition, indem diese auf Akte konkreter und immer wieder neuer und unterschiedlicher Anwendung angewiesen ist. Der Gehalt der Normen und Verständnisse der Überlieferung wird im Licht der gegenwärtigen Praxis immer neu gedeutet und verhandelt — und ist damit wesentlich zukunftsoffen.9 Dieses dynamische Verhältnis lässt sich auch an der Struktur des lebendigen Gesprächs aufweisen, das für Gadamers Philosophie von paradigmatischer Bedeutung ist. Das Gespräch stellt den Schauplatz dar, an dem die tradierten Verständnisse und Werte in ihrer Tragfähigkeit und Geltung geprüft werden. In der Praxis des argumentativen Austauschs setzen wir unsere Vorurteile und normativen Orientierungen aufs Spiel und können im Lichte der anderen Meinung prüfen, ob sie sich bewähren oder ob sie als falsch und unzureichend verworfen werden müssen.10 Damit der Dialog diese kritische und transformative Wirkung aber tatsächlich entfalten kann, müssen die Gesprächspartner offen für die Meinung des Anderen sein. Sie müssen den ‚Vorgriff der Vollkommenheit‘ in Anschlag bringen und davon ausgehen, dass die andere Meinung die Wahrheit verkörpert und sich die eigene Meinung dementsprechend als falsch herausstellt. Nur auf diese Weise ist gewährleistet, dass die eingebrachten Verständnisse, Ansichten und Werte auch wirklich in ihrer Geltung auf dem Spiel stehen. Der Horizont der Überlieferung bildet dem Modell des Gesprächs zufolge demnach also keinen fixierten Bereich, in dem unser Denken und Handeln festgelegt und

9

Albrecht Wellmer hat in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Nähe zu Derridas Konzept der ‚Iterabilität‘ hingewiesen. (Vgl. Wellmer 2007)

10 Damit sich die impliziten normativen Gehalte der dialogischen Situation entfalten

können und jeder gleichberechtigt zur Artikulation seiner Perspektive befähigt und nicht ausgeschlossen oder zum Schweigen gebracht wird, benötigt die Hermeneutik eine diskursanalytische bzw. ideologiekritische Flankierung. In diese Richtung argumentieren Kögler (1992) sowie Vasilache (2001).

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eingeschränkt wäre, sondern er ermöglicht uns die Teilhabe an einer bedeutsamen Welt, in der wir uns im Dialog mit anderen Sichtweisen und Horizonten über richtige und sinnvolle Verständnisse und Werte kritisch auseinandersetzen können. Diese Prüfung und Bewertung von Vorverständnissen kann nur in den konkreten Vollzügen des Gesprächs stattfinden. Sie lässt sich nicht in Abstraktion, gleichsam monologisch, durch Selbstreflexion vollziehen: die kritische Reflexion ist immer nur in der Auseinandersetzung mit der anderen Meinung möglich, die bestimmte unserer Vorurteile aufgrund ihrer Andersheit ‚reizt‘ und so erst als solche auffällig werden lässt. Ganz ähnlich wie für Dewey bedeutet für Gadamer, an einer Praxis teilzunehmen, demnach, dass man sich auf die konkrete Auseinandersetzung mit der Welt und mit den Anderen einlässt, die potentiell zu einer Transformation des Selbst, der überlieferten Verständnisse und Wertorientierungen und der Haltung der Welt gegenüber insgesamt führen kann. Dieser Prozess ist sowohl bei Dewey als auch bei Gadamer eng mit dem Begriff der Erfahrung verknüpft; an einer lebendigen Praxis teilzunehmen, bedeutet potentiell, auf eine bereichernde Weise mit Neuem und Fremden konfrontiert zu werden, und dies bedeutet für die Handelnden, aus dieser Praxis immer wieder anders hervorzugehen, als man in sie hineingegangen ist. Grundzüge des Handelns in Pragmatismus und Hermeneutik Für die Handlungstheorie nach Dewey und Gadamer ist es ein zentraler Aspekt, dass wir uns als Handelnde stets in einer ‚Situation‘ vorfinden. Beide wenden sich gegen die Vorstellung, dass wir mit vorgängig artikulierten Intentionen und Zielen einer Welt gegenüberstehen, deren Gegebenheiten wir dann in einem zweiten Schritt in Bezug auf die Tauglichkeit als Mittel zum Erreichen unserer Zwecke durchmustern. Mit dem Begriff der Situation wird dagegen betont, dass wir der Welt nicht gegenüberstehen, sondern wir uns stets bereits in ihr befinden, dass sie uns immer schon als ein sinnhafter Raum von Herausforderungen und Widerständen, von Möglichkeiten und Gefahren gegeben ist. Wie die Welt sich in einer Situation präsentiert, ist dabei durch Vorannahmen, Erwartungen, Gewohnheiten, Stimmungen und Strebungen des Handlungssubjekts geprägt.11 Diese Aspekte unseres Subjektseins sind uns in ihrer Gänze aber nicht reflexiv prä-

11 Ein solches Bild ist es auch, das Heidegger in Sein und Zeit im Zuge der Zeuganalyse

und der Erörterung des In-der-Welt-Seins insgesamt entwirft.

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sent und zugänglich, sondern sie zeigen sich vielmehr in der Situation, sie werden wirksam und auffällig in der Tatsache, dass eine Situation auf eine bestimmte Weise erfahren wird, dass sich in ihr etwas als verlockend oder abschreckend, als dringlich oder überraschend, als relevant oder irrelevant präsentiert.12 Wir treten also nicht mit unabhängig gefassten und durchgängig bewussten Plänen und Zielen in die Welt ein, sondern aus der konkreten Situation heraus erfahren wir etwas über die Vorannahmen und Voreinstellungen, aufgrund derer wir die Gegebenheiten der Welt verstehen und bewerten. Wir kommen uns, so könnte man sagen, als in Situationen Handelnde selbst entgegen. Wenn wir unsere Ziele und Vorlieben bewusst artikulieren, führen wir uns reflexiv einzelne Aspekte und Elemente einer ganzheitlichen Struktur vor Augen, die vorreflexiv je schon gegeben und wirksam sind. Die Situation, in der wir uns befinden, kann dabei zwar aspekthaft, nicht aber als Ganze reflektiert werden, weil sie den Hintergrund mit umfasst, vor dem etwas als etwas allererst thematisch werden kann. Dewey schreibt entsprechend: „The situation is such that it is not and cannot be stated or made explicit. […] The situation cannot present itself as an element in a proposition any more than a universe of discourse can appear as a member of discourse within that universe.“ (Dewey 2008b) Und Gadamer formuliert ganz in diesem Sinn: „Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist.“ (Gadamer 1993a: 307) Die Situation des Handelnden ist also durch Unüberschaubarkeit und Unverfügbarkeit gekennzeichnet. Weder über die eigenen Verständnisse, Wünsche und Strebungen, noch über die Strukturen und Zusammenhänge der Welt kann sich das Subjekt vollständig im Klaren sein, bevor es sich handelnd in der Welt bewegt. Immer ist die Situation durch implizite und unthematische Aspekte geprägt, die sich erst im Zuge konkreter Handlungen erfahren lassen. Aus diesem Grund ist der Begriff der Erfahrung für Dewey und Gadamer jeweils von zentraler Bedeutung. Denn erst in den Erfahrungen, die wir im Handeln machen, in den Momenten des Scheiterns, des Widerstands und der Krise, in den Momen-

12 Vgl. zu diesen Überlegungen auch die Ausführungen zum Situationsbegriff von Hans

Joas (2002: 235ff.), dazu auch Jung (2010) und Colapietro (2009). In einer ähnlichen Weise beschreibt auch Hubert Dreyfus (mit Bezug auf Heidegger und Charles Taylor) die Bedeutung der Struktur der Situation für das menschliche Handeln. (Vgl. Dreyfus 1992: Kap. 8 u. 9)

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ten, in denen wir auf Unbekanntes reagieren müssen und durch Unvorhergesehenes irritiert werden, gewinnen wir ein tieferes Verständnis sowohl der Gegebenheiten der Welt als auch der eigenen Annahmen, Erwartungen und Wünsche. Die Welt und das Selbst werden damit wechselseitig in einem beständigen Prozess der handelnden Auseinandersetzung profiliert. In diesem Prozess setzt das Subjekt nicht einfach seine Wünsche und Ziele in Realität um, sondern dieser Prozess lässt auch die Wünsche und Ziele sowie das Subjekt des Handelns selbst nicht unverändert. Statt also die Welt nach Maßgabe der eigenen Vorstellungen zu transformieren, riskiert das Subjekt stets, in der Auseinandersetzung mit der Welt selbst transformiert zu werden (vgl. Salaveria 2007: 156ff.). Auf dieses ‚Risiko‘, auf diesen existenziellen Einsatz im Handeln bezieht sich Dewey, wenn er davon spricht, dass unser Handeln experimentellen Charakter besitzt und wir von den Ergebnissen und Resultaten unseres Handelns immer überrascht werden können, und Gadamer, wenn er betont, dass wir in den Situationen der Auseinandersetzung immer auch selbst auf dem Spiel stehen und dass wir uns durch die Auseinandersetzung mit dem anderen gezwungen sehen können, unsere Welt- und Selbstverständnisse zu revidieren. (Gadamer 1993b: 495) Das Subjekt wird im Rahmen dieser Theorien nicht als stabile, isolierte und selbstpräsente Instanz gefasst, sondern als etwas, das wesentlich in Bewegung ist. Es ist stets im Werden, insofern es sich, wie Heidegger es formuliert hat, als existierendes Wesen auf Möglichkeiten des Seins hin entwirft.13 Es verhält sich zu sich nicht im Sinne des selbstreflexiven Bewusstseins eines gegebenen Objekts, sondern es verhält sich zu seiner eigenen Zeitlichkeit und Zukünftigkeit, als etwas, was es zu übernehmen, zu bestimmen und zu er-leben gilt. Die Offenheit für Erfahrungen, auf die Dewey und Gadamer verweisen, ist damit nicht nur eine tolerante Haltung, die andere und anderes als solches neben sich akzeptiert, sondern es ist die Offenheit für ein verändertes Selbst, für eine Wandlung des Eigenen, die sich aus den Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit den Eigenheiten und der Widerständigkeit des anderen ergibt.14 Das Handeln des Sub-

13 „[W]eil das Sein des Da durch das Verstehen und dessen Entwurfcharakter seine Kon-

stitution erhält, weil es ist, was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst sagen: ‚Werde, was Du bist!‘.“ (Heidegger 1993: 145) 14 „Den Anderen gegen sich selbst gelten zu lassen […] heißt nicht nur, die Begrenztheit

des eigenen Entwurfs im Prinzip anerkennen, sondern verlangt geradezu im dialogischen kommunikativen, hermeneutischen Prozeß über die eigenen Möglichkeiten hinauszukommen.“ (Gadamer 1995: 97)

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jekts ist als eine wesentliche Dimension dieses Prozesses der Selbstwerdung zu verstehen. Das Handlungssubjekt ist in dieser Perspektive nicht lediglich als Ausgangspunkt und Ursache von Handlungen zu sehen, sondern vor allem auch als deren Resultat.15 Denn erst im Zuge der tätigen Auseinandersetzung mit der Welt und den Anderen kann das Subjekt zu dem werden, was es ist. Durch diesen expressiven und explorativen Charakter kann Handeln nach Dewey und Gadamer nicht rein instrumentell verstanden werden. Denn die Strebungen des Subjekts, die Artikulation von Zielen und Zwecken und die Wahl der Mittel lassen sich nicht isolieren und unabhängig voneinander verstehen. Durch die Erfahrungen, die das Subjekt im Handeln (potentiell) macht, und die damit einhergehenden veränderten Haltungen und Verständnisse wandeln sich auch die Ziele und Zwecke, an denen sich das Handeln orientiert. Handeln ist eine aktive Dimension des Prozesses, in dem die Selbst- und Weltverständnisse, die Strebungen und Werte auf dem Spiel stehen, das heißt, artikuliert, geprüft und transformiert werden. In diesem Verständnis des Handelns sind die Aspekte des Nichtbewussten und der Unkontrollierbarkeit, der Widerfahrnis und der Unabsehbarkeit nicht als Einschränkung der Handlungsfähigkeit zu sehen, sondern sie gehören (in einem gewissen Maße bzw. in einer bestimmten Hinsicht) wesentlich zum Handeln dazu. Das heißt aber nicht, dass mit einer solchen theoretischen Perspektive die Konsequenz einhergehen würde, dass die Differenz zwischen Handeln und reiner Widerfahrnis nicht mehr gemacht werden kann, die für unser Selbstverständnis als Handlungssubjekte wesentlich ist, sondern in ihr tritt schlicht der Umstand explizit zutage, dass Aktivität, Intention, Selbstzuschreibung und Kontrolle lediglich Aspekte einer Gesamtstruktur sind, für die auch bestimmte in epistemischer und praktischer Hinsicht unverfügbare Aspekte konstitutiv sind.

2.

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Eingangs ist gesagt worden, dass die dezentrierenden Theorien des Subjekts dazu geführt haben, dass sich das Rätsel der menschlichen Handlungsfähigkeit ver-

15 „There is no ready-made self behind the activities. […] [A]ction becomes an adven-

ture of discovery of a self that is possible but as yet unrealized, an experiment in creating a self which shall be more inclusive than the one which exists.“ (Dewey 2002:



138f.) Siehe zur „riskanten Struktur [des] Subjekts auch Jörg Volbers (2017: 100; 2014).

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schärft, indem fraglich wird, wie wir uns als handelnde Subjekte verstehen können, wenn wir uns immer auch als durch Kräfte bestimmt wissen, die wir nicht vollständig übersehen und kontrollieren können. Dewey und Gadamer haben nun bedenkenswerte Angebote gemacht, wie wir Handlungen und Handlungssubjekte im Rahmen einer subjekt-dezentrierenden Philosophie verstehen können. Im Anschluss daran soll abschließend kurz dargestellt werden, dass sich damit nicht nur ein Verständnis des Handelns bewahren bzw. vor dem Hintergrund geänderter theoretischer Annahmen zurückgewinnen lässt, sondern dass wir damit auch ein reiches Bild von Handeln besitzen, dass über die Ressourcen verfügt, auch solche Arten von Handeln zu beschreiben und zu erläutern, die die gängigen Handlungstheorien vor besondere Probleme stellen. Während nämlich für eine Handlungstheorie, die sich vorrangig an Beispielen überschaubarer Routinehandlungen orientiert (wie dem Betätigen des Schalters zum Zwecke des Lichtanschaltens), das (gesellschafts-)kritische Handeln oder die künstlerische Produktion zu Problemfällen werden, weil sich hier eben Absicht und Kontrolle nicht im selben Maße finden,16 so sind die Aktivitäten im Rahmen von kritischen und kreativen Praktiken für eine Handlungstheorie im Anschluss an die skizzierten pragmatistischen und hermeneutischen Überlegungen geradezu paradigmatische Formen des menschlichen Handelns. Man könnte die Differenz der beiden Herangehensweisen wie folgt darstellen: Während einige Handlungstheorien die Grenze zwischen Handeln und Nicht-Handeln auf der Grenze von Kontrolle und Unverfügbarkeit, von Bewusstsein und Unbewussten, von Aktivität und Passivität verorten, legen uns Dewey und Gadamer nahe, statt dessen bestimmte Verhältnisse und Konstellation dieser Aspekte als Charakteristikum paradigmatischer Formen des Handelns zu begreifen, die in der Mitte eines Spektrums zu lokalisieren sind, an dessen einem Ende sich reine Widerfahrnis und an dessen anderem Ende sich reine Routine befindet. Im Folgenden werde ich kurz skizzieren, wie Christoph Menke und Judith Butler dazu tendieren, die Aktivitäten im Rahmen von Kunst und Kritik nach dem ersten Modell zu konzipieren, um abschließend anzudeuten, dass sie sich im Anschluss an Dewey und Gadamer möglicherweise erhellender mit dem zweiten Modell beschreiben lassen.

16 „Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten“ ist nach Wittgenstein eine „einsei-

tige Diät: man nährt sein Denken nur mit einer Art von Beispielen.“ Man könnte sagen, dass in der Handlungstheorie eine einseitige Ernährung mit einer bestimmten Sorte von Beispielen das Problem der Agency verschärft hat. (Wittgenstein 1995: §593)

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Menke über Kunst In den Büchern Kraft und Die Kraft der Kunst entwirft Menke eine Theorie der Kunst, in der diese nicht als ein Bereich der Gesellschaft bzw. der Kultur unter anderen Bereichen verstanden wird, sondern in einem gewissen Sinn als deren Anderes: „Kunst ist […] keine soziale Praxis.“ (Menke 2013: 14) Um diese starke Differenz zwischen Kunst und Praxis zu verstehen, muss man die zentrale Unterscheidung zwischen Kraft und Vermögen, die Menke macht, nachvollziehen. Subjekte mit rationalen Vermögen sind wir Menke zufolge nicht von vornherein, sondern erst geworden; wir sind zu Subjekten gemacht worden, nachdem wir vorher rein sinnliche Wesen waren, Wesen, die durch die (von Herder so genannten) dunklen Kräfte bewegt werden. Erst indem diese dunklen Kräfte durch die Prozesse der Übung und Abrichtung eingeschränkt und kanalisiert werden, tritt das Handlungssubjekt mit seinen Vermögen des Erkennens und Beurteilens auf den Plan. Dieses Subjekt ist nun der Akteur in den verschiedenen sozialen und kulturellen Praktiken, es kann in einem normativen und intersubjektiven Raum wiederholbare Tätigkeiten und Handlungen ausführen, die nach einem allgemein geteilten Maßstab der Bewertung gelingen oder misslingen können. Die Kunst ist nun Menke zufolge genau nicht als eine dieser sozialen Praktiken anzusehen, weil sie der Schauplatz ist, an dem sich die untergründige dunkle Kraft wieder geltend macht, an dem sie als solche sicht- und erfahrbar wird. In der Kunst erfahren wir die „Freiheit von der sozialen Gestalt der Subjektivität“ und treten (wieder) in Kontakt mit uns als sinnliche Wesen. (Menke 2013: 14) Dieser Aspekt betrifft nun auch das kreative Handeln im Zuge der Produktion von Kunstwerken. Wir können die Kunst nicht als handelnde Subjekte hervorbringen, weil das Herstellen von Kunst keine soziale Praxis ist, die man einüben und beherrschen kann und die sich nach geteilten Maßstäben beurteilen ließe. Als Subjekte, so sagt Menke, sind wir Könner, aber die Produktion von Kunst ist nichts, was man können könnte, eben weil die Kraft, die sich in ihr geltend macht, gegen das Subjekt und seine Vermögen, gegen das Können und die Praxis selbst steht. Deshalb beruft sich Menke in Bezug auf die Frage, wie die Kunst in die Welt kommt, auf Theorien von Platon bis Nietzsche, die die Begeisterung, die Besessenheit und den Rausch als Bedingungen der Kunstproduktion betonen. Das Machen von Kunst hat den Verlust des Handlungs- und Vernunftsubjekts zur Voraussetzung – das Produzieren von Kunst ist kein Handeln, sondern ein Geschehen, das die Vermögen des Subjekts übersteigt. Menke bringt also den eingangs nahegelegten Begriff des Handelns in Anschlag; es ist für ihn die „selbstbewusste, kontrollierte Ausübung eines durch Übungen erworbenen praktischen Vermögens“, woraus die wesentliche Diffe-

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renz mit den Aktivitäten resultiert, die diese Eigenschaften nicht oder nicht im selben Maße aufweisen. (Menke 2013: 23) Wenn das Machen von Kunst nicht selbstbewusst, kontrolliert und wiederholbar ist, ist es kein Handeln und kein Können. Und daraus resultiert auch die klare Trennung zwischen dem, was die soziale Praxis und das handelnde Subjekt sind, einerseits, und dem, was jenseits der Praxis und des sinnlichen Selbst ist, andererseits. Butler über Kritik Eine verwandte Figur findet sich bei Butler im Zuge der Erläuterung der Möglichkeit kritischer Einflussnahme auf gesellschaftliche Strukturen. Auch bei ihr ist der Ausgangspunkt der Überlegungen ein Modell der Subjektwerdung, dem zufolge das Subjekt erst im Zuge einer Einordnung in und Unterordnung unter gegebene Normen- und Machtverhältnisse konstituiert wird. Sie teilt die von Nietzsche über Adorno und Foucault laufende Traditionslinie, der zufolge Subjektivität, Freiheit und Rationalität nicht einfach den Gegenpol zu Macht und Herrschaft darstellen, sondern nur aufgrund von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zur Existenz kommen können. Diese fundamentale Verstrickung von allen – wie Nietzsche in der Genealogie der Moral sagt – „guten Dinge[n]“ bzw. „Prunkstücke[n] des Menschen“ wie eben Rationalität oder Freiheit mit Machtausübung führt zu einer schwierigen Ausgangsbedingung für das Denken von Kritik und kritischem Handeln (Nietzsche 1988: 295). Denn wenn die Rationalität und die Subjektivität mit den Verhältnissen von Unterdrückung und Herrschaft immer schon konstitutiv verbunden sind, können jene nicht einfach gegen diese in Stellung gebracht werden. Rationalität und Subjektivität sind keine reinen Refugien von denen her Unterdrückungsverhältnisse diagnostiziert, bewertet und verändert werden können, sondern sie sind selbst Formen von Regulierung und Normalisierung und damit selbst Formen von Herrschaft. Wenn nun Kritik in einer Distanzierung der herrschenden normativen Ordnung besteht, dann, so scheint die Schlussfolgerung bei Butler zu sein, muss dies auch mit einer Distanzierung von den herrschenden Formen von Rationalität und Subjektivität einhergehen. Diese theoretische Ausgangslage führt zu einer ähnlich dichotomischen Trennung im Reich des menschlichen Tuns wie bei Menke. Wir haben zum einen das Handeln im Rahmen der gegebenen intersubjektiven gesellschaftlichen Praktiken, also das Handeln nach Maßgabe der herrschenden normativen Ordnungen. Handlungen, die der Handlungsfähigkeit des Handlungs- und Vernunftsubjekts entspringen, in denen der Handelnde intentional, bewusst und kontrolliert tätig ist, bzw. Handlungen, die andere als rational begreifen können und

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für die ein Handelnder verantwortlich gemacht werden kann, all dies sind Handlungen, die die gegebenen Formen von Subjektivität und Rationalität in Anspruch nehmen und damit bestätigen und verfestigen. Rationales, intentionales und kontrolliertes Handeln ist diesem Bild gemäß, man könnte sagen per definitionem, unkritisch, denn es distanziert sich nicht von den herrschenden normativen Strukturen, sondern perpetuiert sie.17 Kritische Handlungsfähigkeit wird von Butler dagegen so konzipiert, dass sie auf die Instanz des Subjekts, auf Gründe und Absichten im üblichen Verständnis gar nicht angewiesen ist. Die Aktivitäten der Kritik – subversiv anknüpfende Wiederholung, Parodie, aneignende Rekontextualisierung von sexistischen oder rassistischen Äußerungen etc. – sind gar nicht als planbare, legitimierte und bewertbare Züge im Spiel der sozialen Praxis zu begreifen, sondern sie geben den normativen Konfigurationen einen Impuls, der (im besten Fall) die Spielräume des Handelns, Planens und Bewertens verändert. Die kritische Agentin im Sinne Butlers agiert daher nicht als Handlungs- und Vernunftsubjekt, sondern überschreitet gerade ihre Subjektposition, indem sie etwas anstößt, was die Bedingungen der Möglichkeit ihres gegenwärtigen subjektiven Seins und der gegenwärtigen Überzeugungen, Motive und Wünsche subversiv verändert.18 Was aus den kritischen Interventionen folgt, ist für den Handelnden nicht absehbar und intendierbar. Deshalb kann man, um mit Menke zu sprechen, Kritik nicht können. Kritisches Verhalten ist kein planbares, beherrschbares und wiederholbares Handeln innerhalb eines geteilten Felds normativer sozialer Praxis, sondern es führt zu singulären Impulsen der Transformation dieses Feldes als Ganzem. Wie die Produktion von Kunst, so sind auch die Aktivitäten der Kritik dem dargestellten Modell nach von den Handlungen eines Subjekts im Raum sozialer Praxis wesentlich unterschieden. Die Akte von Kritik und Widerstand – das, was in der Theorie Butlers als die eigentliche Agency beschrieben wird – sind die Im-

17 „Das Streben nach Beharren im eigenen Sein erfordert die Unterwerfung unter eine

Welt von anderen, eine Welt, die von Grund auf nicht unsere eigene ist […]. Nur indem man in der Alterität beharrt, beharrt man im ‚eigenen‘ Sein. Bedingungen ausgesetzt, die man nicht selbst geschaffen hat, beharrt man immer auf diese oder jene Weise mittels Kategorien, Namen, Begriffen, und Klassifikationen, die eine primäre und inaugurative Entfremdung im Sozialen markieren. Wenn solche Bedingungen eine primäre Unterordnung, ja Gewalt bedeuten, dann entsteht ein Subjekt, um für sich selbst zu sein, paradoxerweise gegen sich selbst.“ (Butler 1997: 32) 18 Deshalb erfordert Butler zufolge Kritik die Bereitschaft, „nicht zu sein“, sie geht mit

einer „kritischen Desubjektivation“ einher. (Butler 1997: 122)

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pulse und Abweichungen, die über die Handlungsfähigkeit sozialer Subjekte hinausgehen. Sie sind kritisch und widerständig genau in dem Maße, in dem sie eine Freiheit von der sozialen Rolle des Subjekts ermöglichen. Kreativität und Kritik in hermeneutisch-pragmatischer Perspektive Aus der skizzierten hermeneutisch-pragmatistischen Perspektive ließe sich die Trennung zwischen Handeln und Nicht-Handeln, zwischen subjektiver Handlungsfähigkeit und übersubjektivem Geschehen, wie sie in den Ausführungen von Menke und Butler in Bezug auf die Aktivitäten in Kunst und Kritik vorgenommen wird, als die Konsequenz aus einem zu engen Verständnis des Subjekts begreifen.19 Je mehr das Subjekt als Instanz von Selbstbewusstsein und Kontrolle bestimmt wird, desto stärker werden die Aspekte des Überraschenden, Unabsehbaren und Unbewussten als solche gezeichnet, die das Subjekt wesentlich überschreiten. Handeln findet sich dementsprechend dort, wo die handelnden Subjekte bewusst und kontrolliert agieren und Handlungsfähigkeit ist das Vermögen, bewusst und kontrolliert auf die Welt einzuwirken. Insofern die Ergebnisse der Aktivitäten in Kunst und Kritik in gewissen Hinsichten nicht bewusst planbar und kontrollierbar sind, werden sie nicht dem Bereich menschlicher Handlungsfähigkeit zugeordnet, sondern einer ereignishaften Dynamik jenseits des Subjekts zugeschrieben. Im Gegensatz dazu besteht die subjektdezentrierende Bewegung bei Dewey und Gadamer, wie gezeigt wurde, darin, ein weiteres Verständnis von Subjektivität zu gewinnen, in dem Kräfte des Unbewussten und des Unkontrollierten dem Subjekt nicht gegenübergestellt werden, sondern in dem sie als Aspekte seiner dynamischen Struktur kenntlich gemacht werden können.20 Dewey und Gadamer zeichnen das Subjekt als den unabgeschlossenen Prozess der Selbst-

19 In diesem Sinn hat Hans-Herbert Kögler deutlich gemacht, dass Butlers Konzeption

einer kritischen Praxis ohne bzw. gegen Subjektivität letztlich aus einem Festhalten an einer cartesischen Vorstellung des Subjekts resultiert (vgl. Kögler 2003). 20 Man könnte denken, dass Gadamer wenn er, wie oben erwähnt, erkunden will, „was

über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht“, eine ähnliche Spaltung zwischen Handeln und Geschehen zu beschreiben scheint, wie in den skizzierten Positionen von Menke und Butler; in der hier dargelegten Deutung und in der Verwandtschaft mit Deweys Denken scheint sein Anliegen aber tatsächlich darin zu bestehen, deutlich zu machen, ‚was in unserem Wollen und Tun mit uns geschieht‘.

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transformation und Selbstwerdung im Zuge der konflikthaften Auseinandersetzung und der explorativen Orientierung in durch Kontingenz und Intransparenz charakterisierten Situationen und machen damit die „Grundbewegtheit“ des menschlichen Daseins deutlich (Gadamer 1993b: 440). Menschliches Handeln ist dann zwar durchaus absichtsvoll und gerichtet, aber es ist immer ein situierter tätiger Eingriff, der sowohl Ausdruck von als auch Auseinandersetzung mit Unbewusstem und Unkontrolliertem ist. In dieser Weise als im Voraus nicht abzusicherndes Eingreifen mit unabsehbaren Folgen konzipiert, gehören kreative und kritische Aspekte dem Handeln konstitutiv zu. Handeln ist insofern (potentiell) kreativ, als es auf stets neue und verändernde Gegebenheiten reagieren muss,21 und es ist insofern (potentiell) kritisch, als es eine prüfende und wertende Haltung zu den im Spiel befindlichen Haltungen, Überzeugungen und Werten mit umfasst. Damit können die Aktivitäten im Bereich von Kunst und Kritik diesem Ansatz zufolge als diejenigen Formen des Handelns verstanden werden, an denen wesentliche Aspekte der Situation, in der der Mensch sich als Handelnder befindet, in besonderer Weise erkennbar werden. Das schöpferische Handeln in der Kunst ist häufig als eine besondere Art der Hervorbringung verstanden worden, die sich beispielsweise von der Herstellung im Handwerk unterscheidet. Collingwood hat im Zuge seiner Kritik an technischen, d.h. rein handwerklichen Verständnissen der Kunst diese Differenzen deutlich herausgearbeitet (Collingwood 1958: 20f.): Während in der Produktion der Handwerkerin Zwecke und Mittel klar voneinander getrennt werden können und auch eine Differenz zwischen Planung und Durchführung besteht, sind diese Momente in der künstlerischen Hervorbringung nicht unterschieden.22 Genauso wie sich im Zuge der Durchführung die Zielsetzung konkretisiert und transformiert, ändert sich damit das Verhältnis und die Bestimmung von Zwecken und Mitteln. Im Prozess der künstlerischen Produktion tritt allererst etwas zutage, was vorher nicht explizit zugänglich war und was den weiteren Verlauf des Handelns bestimmt. Die Hervorbringung von Kunst wird von Collingwood trotz dieses wesentlich explorativen Charakters als ein Handeln des kreativen Subjekts beschrie-

21 Die Frage nach der Kreativität des Handelns diskutieren neben Hans Joas auch Kurt

(2008) und Siegmund (2015). 22 Collingwood setzt sich hier kritisch mit dem antiken Begriff der techne auseinander,

insofern er ein handwerkliches Verständnis der Kunstproduktion nahelegt. Ähnlich geht auch Heidegger vor, wenn er das „Schaffen von Werken“ vom „Anfertigen von Zeug“ unterscheidet. (Heidegger 1960: 58)

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ben23: „[W]orks of art […] are not made as means to an end; they are not made according to any preconceived plan […]. Yet they are made deliberately and responsibly, by people who know what they are doing, even they do not know in advance what is going to come of it.“ (Collingwood 1958: 129) Sowohl Collingwood als auch Dewey fassen das explorative Handeln der Kunstproduktion mit dem Begriff des Ausdrucks (vgl. Dewey 1988: Kap. 4 u. 5). Dass hier in Werken und Medien der Kunst etwas zum Ausdruck kommt, heißt, dass hier etwas explizit und öffentlich wird, was vorher und auf andere Weise nicht zugänglich war. Auch das tätige Subjekt selbst artikuliert sich erst im Zuge der produktiven Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Material in einer Weise, die es ihm erlaubt, zu seinen eigenen Dispositionen und Motivationen reflexiv Stellung zu nehmen. Das Handeln in der Kunst hat selbst- und welterschließenden Charakter, insofern hier etwas vorher Implizites oder Unbewusstes zugänglich und fassbar wird. Diese erschließende Dimension des Handelns ist es auch, die für ein Verständnis des kritischen Handelns von Bedeutung ist.24 Wenn das Problem der kritischen Handlungsfähigkeit mit der Vorstellung virulent wird, dass das Subjekt dem Bannkreis der es konstituierenden Traditionen, Normen und Verständnisse nicht entkommen, d.h. sich nicht distanzierend, wertend und verändernd zu diesen verhalten kann, dann setzt das hermeneutisch-pragmatistische Verständnis dem entgegen, dass die bestimmenden Einstellungen, Normen und Verständnisse in jedem Handeln auf dem Spiel stehen und dass jede Auseinandersetzung mit den Anderen und der Welt mit kritischer Bewertung und Veränderung einhergehen kann. Im Handeln erschließt sich, inwieweit sich die eigenen Dispositionen und Überzeugungen bewähren und inwieweit die (soziale) Welt auf eine Weise eingerichtet ist, die der Entfaltung der eigenen Strebungen entgegenkommt. Handeln ist diesem Bild zufolge damit potentiell immer Anlass der kritischen Prüfung und der Veränderung sowohl des Selbst als auch der Welt, es ist

23 Diese explorative Dimension des Handelns hat Kleist anschaulich für ‚die Verferti-

gung von Gedanken beim Reden‘ beschrieben: „Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus […].“ (Kleist 1984: 319f.) 24 Vgl. zum Verhältnis von Pragmatismus und Kritischer Theorie Festenstein (2001),

Hetzel (2008) und Särkelä (2017), zum kritischen Potential der Hermeneutik Kögler (1992) und Deines (2013).

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ein erprobender und erschließender Eingriff, der den Raum des Möglichen auf vorher nicht absehbare Weise transformiert. Diese Eingriffe sind dabei durchaus rational und normativ motiviert, wobei die Gründe und normativen Orientierungen allerdings nicht den bewussten Gehalt einer prior intention darstellen müssen, sondern im Zuge des Handelns erst artikuliert und reflexiv zugänglich werden können.25 Diese kurzen Ausführungen sollen ausreichen, um anzudeuten, dass Aspekte der Intransparenz und der eingeschränkten Planbarkeit und Kontrolle nicht notwendig als Einschränkungen der menschlichen Handlungsfähigkeit betrachtet werden müssen, sondern mit Dewey und Gadamer vielmehr als wesentliche Aspekte der menschlichen Situation und bestimmter Formen des Handelns verstanden werden können. Damit zeigt sich auch, dass sich die Fragen, was Handeln ist und was Handlungssubjekte sind, vom zweckrationalen und technischen Handeln her in lediglich einseitiger Weise beantworten lassen und dass sich die wesentlich dynamische und riskante Struktur, die das menschliche Dasein ausmacht, besser im Zuge einer Analyse von Formen des kreativen und kritischen Handelns herausstellen lässt.26

25 Ganz in diesem Sinn formuliert David Hoy in seiner Theorie kritischen Widerstands:

„Agents need not know explicitly all their reasons and principles in advance. Resistance itself may be required to make explicit through the resulting situation what the motives and grounds for that act of refusal are. On this account, the engaged agents will find out what is possible by seeing what their resistance opens up.“ (Hoy 2005: 11) 26 Es ist ein verwandter Gedanke, wenn Hannah Arendt davon ausgeht, dass sich das

menschliche Dasein nicht allein von den Tätigkeiten des Arbeitens und des Herstellens her verstehen lässt. (Vgl. Arendt 2002)

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Autonomie und Überschreitung Bruchstücke einer Theorie der hermeneutischen Agency H ANS -H ERBERT K ÖGLER In der klassischen Bewusstseinsphilosophie ist die Bedingung der Möglichkeit von Autonomie, also unbedingter bzw. absoluter Selbstbestimmung, an die Existenz einer allein dem Subjekt zugänglichen Sphäre des Geistigen gebunden. Mit der linguistischen Wende wird diese Sphäre ins Reich des sozialen Seins zurückgestoßen und mit der poststrukturalistischen Einsicht in die Machtbestimmtheit unseres sozialen Seins scheinbar vollends der empirischen Heteronomie überantwortet. Demgegenüber werden wir zu zeigen versuchen, dass die enigmatische Dimension der Agency, verstanden als die begrifflich irreduzible Quelle des intentionalen Handelns, eine Rekonstruktion von situierter und hermeneutisch begründeter Autonomie ermöglicht. Die aus begrifflicher Sicht dunkle Quelle der Agency beinhaltet positiv den Entzug von identifizierender, klassifizierender und verdinglichender Herrschaft und schreibt so in die existierenden Machtverhältnisse ein untilgbares Moment des Widerstandes und der Überschreitung ein. Die hermeneutische Agency wird sich freilich selbst nicht in abstrakter Entgegensetzung, sondern vielmehr als Quelle eines sich je neu und anders entwerfenden Selbstverhältnisses als wirkmächtig erweisen. Indem Agency damit als notwendig sozial situierter, jedoch nie sozial determinierter Ursprung des interpretativen Selbstentwurfes fassbar wird, verschafft uns der Rekurs auf sie einen rekonstruierten Begriff der Autonomie, der Überschreitung ein- und nicht ausschließt. Um dieses Programm in den entscheidenden Punkten plausibel zu machen, wird die Autonomieproblematik vor dem Hintergrund der sprachpragmatischen Wende eingeführt. Die These der Unaufgebbarkeit des Autonomiebegriffs in Lebenswelt sowie kritischer Theorie wird mit der Notwendigkeit verknüpft, die Idee der Selbstbestimmung in Bezug auf unser Urteilsvermögen, auf unseren Status als Rechtssubjekt und schließlich auf unser individuell verursachtes Han-

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deln rekonstruieren zu können (1). Genau diese Rekonstruktionen bestimmen die Einführung der Idee einer autonomen Verstehensleistung des Subjekts (2) sowie die Idee des Rechts als dem umkämpften Möglichkeitshorizont der Etablierung von sozialen Räumen der Selbstverwirklichung (3), die beide vor dem Hintergrund der klassischen Urteils- bzw. Rechtsidee durchgeführt werden. Ein aus der Engführung auf den Staat befreiter Begriff des Rechts wird gegenüber relativistischen und machtreduktionistischen Bedenken verteidigt (4). Die diesen poststaatlichen Rechtsbegriff tragende hermeneutische Agency wird schließlich in zwei entscheidenden Dimensionen begrifflich artikuliert. Zum einen zeigt die Situiertheit jeden Verstehens vor dem Hintergrund eingespielter Vorverständnisstrukturen, dass Agency zwar notwendig sozial eingebettet und strukturiert ist und dennoch nie vollkommen durch diskursive und soziale Machtbestimmungen determiniert wird (5). Zum andern wird die Artikulation des eigenen Selbstverständnisses durch die reflexive Bezugnahme auf den Anderen die intersubjektive Quelle des Selbstverständnisses freilegen, wodurch wir die monologischkontrollierende Fassung des subjektphilosophischen Autonomiebegriffs in Hinsicht auf eine offene und dialogische Artikulation des selbstbestimmten Handelns überwinden können (6). Der Rekurs auf den Anderen, der auch den Rekurs auf das Andere der selbstbestimmten Vernunft einschließt, ermöglicht einen freieren und offenen Umgang mit eben jenen Dimensionen der Agency, durch deren Einbezug die menschliche Subjektivität überhaupt erst ihre volle Selbstverwirklichung erreichen kann.1

1.

D IE U NVERZICHTBARKEIT

VON

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Autonomie beinhaltet die Idee der Selbstbestimmung des handelnden Individuums. In einem derart knappen und vermeintlich selbstverständlichen Satz stecken freilich eine ganze Reihe ontologischer Vorannahmen. Von einem Individuum ist die Rede, das wiederum handelt und dadurch ‚autonom‘ wird, dass es

1

Dieser intersubjektive Aspekt der normativen Anerkennung des Anderen in dialogischer Form markiert einen wesentlichen Unterschied zu allen nietzscheanischlebensphilosophisch ausgerichteten Überschreitungsphilosophien. Es ist wichtig, dass die Radikalität der Transgression als Ereignis denkbar wird, aber es ist ebenso wichtig, dass diese Kraft nicht in ein ungebändigtes Aufbäumen reiner Lebenskraft und Gewalt mündet, in dessen Prozess der konkrete Andere nurmehr als Moment des Ereignisses, als Vehikel eines ethisch ungehemmten Befreiungs-Geschehens erscheint.

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sich selbst ‚bestimmt‘. Gräbt man tiefer, würde sich dann vielleicht zeigen, dass diese Vorannahmen alles andere als selbstverständlich sind: Weder ist klar, inwiefern ein ‚Individuum‘ als solches existiert, noch, dass es sich auf sich selbst als selbst-bestimmend beziehen kann, noch schließlich, dass ‚Autonomie‘ allein und ausschließlich auf die Handlungsdimension bezogen werden muss. Die Bezugnahme auf Autonomie erweist sich damit als ungemein voraussetzungsreich, und dennoch sollten wir den Bezug zu selbstbestimmer Handlung nicht aufgeben. Autonomie stellt nämlich nicht allein eine gewissermaßen neutrale Prämisse unseres alltäglichen Selbstverständnisses dar, etwa wenn wir, ohne dafür einer philosophischen Letztbegründung der Willensfreiheit zu bedürfen, uns Handlungen als selbstverursacht zuschreiben, was sich wiederum in unseren Praktiken der intersubjektiv unterstellten Zurechnungsfähigkeit ausdrückt. Vielmehr ist Autonomie auch vor allem eine normative Leitidee, an der wir uns in der Kritik von sozialer Macht und Herrschaft intuitiv immer schon orientieren. Eine wesentliche Voraussetzung der Ablehnung praktisch etablierter Ordnungen ist, dass diese die Freiheit der Subjekte missachten, dass diese also die Autonomie der zu Selbstbestimmung fähigen Individuen zunichtemachen bzw. nicht anerkennen. Ich gehe also davon aus, dass wir den Begriff der Autonomie nicht aufgeben können. Dann stellt sich aber die Frage, in welcher Weise wir Autonomie so denken können, dass sich die problematischen ontologischen Fundamente, auf denen der klassische Autonomiebegriff der Moderne aufruht, vermeiden lassen. Tatsächlich beruht der klassisch-moderne Autonomiebegriff auf einer cartesischkantischen Basis, die sich weder phänomenologisch halten lässt noch unsere besten normativen Intuitionen wirklich einholt. Wenn Autonomie am absolut bzw. transzendental verstandenen Subjekt fest gemacht wird, das sich wiederum monologisch auf eine Welt von Tatsachen beziehen soll, wird Autonomie in einer Weise gedacht, die zu Recht die weitreichende Kritik am modernen Subjektbegriff aus poststrukturalistischer Sicht auf sich zog (Foucault 1980; vgl. Habermas 1995). Wenn Autonomie dennoch als normativer Bezugspunkt denkbar sein soll, müssen die ontologischen Weichen so gestellt werden, dass sich weder die Abspaltung des Subjekts in eine transzendentale Welt noch die damit gemeinhin einhergehende Subjekt-Objekt-Perspektive einstellen. Es muss, als Projektthese formuliert, Autonomie so denkbar werden, dass sich die Selbstbestimmung des Subjekts (a) als ein sich in der Welt immer schon vollziehender Prozess darstellt, dessen (b) interne Bedingung der Möglichkeit aus der intersubjektiven Situation des Mit-dem-Anderen-Seins hervorgeht. Die erste Bedingung ist notwendig, weil sich die Fiktion einer reinen Sphäre des noumenalen Sinns phänomenologisch nicht erweisen lässt und somit einer plausiblen und verteidigbaren philosophischen Grundlage entbehrt (Heidegger 1979; Zahavi 2009). Die zweite Bedin-

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gung ist notwendig, weil erst aus der interaktiven Begegnung zwischen zwei Individuen ein Begriff des Subjekts ableitbar wird, der nicht mehr monologisch und damit objektivierend gedacht ist, sondern sich im Kern einer dialogischen Selbstkonstitution verdankt, die damit eine nicht-verdinglichende Sicht, auf den Anderen wie auf sich selbst, ermöglicht. Die Rekonzeptualisierung von Autonomie soll sich also, nach diesen suggestiven Programmvorgaben, auf einer sozialontologischen Basis derart vollziehen, dass daraus die Möglichkeit des selbstbestimmten Handelns hervorgeht und denkbar wird. Zugleich soll die Handlungsfähigkeit aus einer intersubjektiven Situation derart erwachsen, dass sich eine solche Autonomie nicht mehr instrumentell-monologisch durchsetzt, sondern sich im Kern einer dialogischen Anerkennung des Anderen verdankt, womit wir eine wünschenswerte Neubestimmung der normativen Orientierung von autonomem Handeln einholen. Das Projekt soll durch die Prolegomena einer Theorie der hermeneutischen Agency eingelöst werden. Der Ursprung der Autonomie ist hier die interpretative Fähigkeit, d.h. die vom Subjekt durch soziale Beziehungen erworbene Kompetenz, sich in bestimmter kognitiver Weise auf sich selbst, die Anderen und die Welt zu beziehen. Hermeneutische Agency existiert dabei zugleich immer an der Schwelle des nicht bloß Sprachlichen, also des Reichs der Emotionen und Begierden, sowie innerhalb sozialer und kultureller Praktiken, in die sich das reale Handlungssubjekt immer schon eingelassen weiß.2 Axel Honneth hat in einem eher wenig beachteten Aufsatz ebenfalls die wichtige Frage der Autonomie des Subjekts nach dem Wegfall zentraler Prämissen des klassischen Subjektbegriffs gestellt. Vor dem Hintergrund der klassischmodernen Geist-Philosophie ergibt sich das Problem, wie autonomes Urteilen

2

Worum es in dieser knappen, als heuristischer Vorbote gemeinten Analyse allein geht, ist die Plausibilisierung eines solchen Ansatzes. Im Gegensatz zu dem weitaus detaillierteren Programm der Diskursethik, in der die moralische Phänomenologie der Lebenswelt als Ausgangspunkt der kontrafaktischen Unterstellung des moralischen Universalisierungsstrebens mit der Notwendigkeit realer Diskurse mit den Subjekten verknüpft wird, geht es hier um die im Subjekt durch intersubjektive Sozialität erworbenen kognitiven Fähigkeiten, sich auf sich selbst reflexiv beziehen zu können, um das eigene Handeln selbstbestimmt und in normativer Hinsicht regeln zu können. Die hermeneutischen Kompetenzen der Subjektivität werden von uns als realsoziale Bedingung der Möglichkeit von situierter Autonomie behandelt und als solche in der Diskussion als eine wesentliche Denkoption in Bezug auf ein neues, besseres Verständnis von Autonomie gehandelt. 

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und Handeln nach der Zurückweisung einer allein dem Subjekt zugänglichen (transzendentalen oder anderweitig privilegiert zugänglichen) Sinnsphäre noch denkbar sein soll. Wie lässt sich der Begriff eines selbstbestimmten Denkens und Handelns überhaupt noch denken, wenn wir die Paradigmenwende des späten 19. und 20. Jahrhunderts ernstnehmen, wonach sich das Subjekt selbst vorgängig existierenden, durch Geschichte, Körper, Sprache und Gesellschaft bestimmten Prozessen und Strukturen verdankt? Wenn das Subjekt immer schon in ein kulturell und gesellschaftlich strukturiertes Weltverhältnis eingelassen ist und dieses Weltverhältnis die kognitiven Leistungen des Subjekts immer schon entscheidend prägt, wie kann dann ein Begriff von Autonomie, der auf völliger Independenz und freier Selbstbestimmung beruht, noch möglich sein? Wenn höherstufige Denkleistungen von sprachlichen Diskursen ermöglicht werden und diese wiederum auf sozialen Praktiken und Macht gründen, wie kann dann das Subjekt eine autonome, der Kontingenz enthobene Ebene der Reflexion sowie der Willensbestimmung überhaupt noch in Anspruch nehmen?3 Ich möchte nun zeigen, dass diese Fragen eine produktive Sicht auf die Autonomieproblematik werfen, insofern sie uns zwingen, die reflexive Selbstbestimmung des Subjekts in verschiedenen Dimensionen seiner Selbstbeziehung neu zu denken. Tatsächlich lassen sich nach Honneth drei Autonomiebegriffe unterscheiden, die zwischen Autonomie in Bezug auf das Urteilssubjekt, das Rechtssubjekt, und das Handlungssubjekt differenzieren. Erstens kann sich Autonomie auf die geltungsrelevante Unabhängigkeit des Urteilssubjekts beziehen, für welches etwas ein Gegenstand der reflexiven Bewertung wird. Hier hat exemplarisch Kant apriorische Kategorien bzw. Imperative aufzeigen wollen, die sich auf ein transzendentales Subjekt als Fundament von universalen Werturteilen (etwa in Bezug auf den Gegenstandsbereich der Natur oder in Bezug auf die eigenen Handlungsabsichten) beziehen. Zweitens kann sich Autonomie auf die politischsozial garantierte Etablierung eines Rechtsraumes beziehen, das dem Subjekt als

3

Wird diese Schranke zwischen Subjekt und Welt durch die Einsicht in das unentkommbare symbolisch-praktische In-der-Welt-Sein des Subjekts aufgehoben, scheint damit jede Basis des Autonomiebegriffs ebenfalls hinfällig. Damit aber stellt sich eine umso radikalere Frage: Soll und kann, nach dem hermeneutisch-pragmatischen Paradigmenwechsel, das Subjekt überhaupt noch verteidigt bzw. rekonstruiert werden? Sollten wir das Subjekt nicht als Gegenpol des Sprachgefängnisses unseres Daseins ebenso verabschieden? Handelt es sich beim Subjektbegriff nicht schlicht um eine Cartesische Intuition, die als Restbestand einer noch nicht restlos ausgetriebenen Begriffswelt in unserem diskursiven Arsenal herumspukt? 

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freiem und gleichem unveräußerliche Rechte und damit einen Spielraum autonomen Handelns zugesteht. Hier wird das Subjekt bereits als von einer sozialen Situation her ermöglichtes gedacht, auch wenn die Ermöglichung dieser Rechte selbst wiederum auf ein im Subjekt universal gegründetes Menschenrecht zurückgeführt wird, um dessen kämpferische Anerkennung es geht. Die konkrete Situierung des Subjekts in sozial-praktischen Verhältnissen, die uns vor allem in hermeneutischer Absicht interessiert, wird dann im dritten Autonomiemodell vollends greifbar. Nach Honneth besteht die dritte Bedeutungsschicht des Autonomiebegriffs im Bezug auf die Selbstbestimmung des situierten Handelns. Es handelt sich hierbei um die eigentliche Handlungsautonomie des je konkreten individuellen Selbst, also um die „empirische Fähigkeit von konkreten Subjekten [...] ihr Leben im ganzen frei und ungezwungen zu bestimmen.“ (Honneth 2000: 242) Honneth geht zu Recht davon aus, dass der derzeitige Kenntnisstand der Sprach- und Gesellschaftstheorie weder die Annahme einer Bedürfnistransparenz (also das ungetrübte Wissen um die eigenen Nöte und Bedürfnisse) noch eine unmittelbare Bedeutungsintentionalität (also die Transparenz der eigenen Sinnunterstellungen als vom Subjekt autark kontrolliert und bestimmt) in Bezug auf die eigenen subjektiven Handlungsprämissen nahelegt. Vielmehr verdankt sich das Subjekt, sofern man diesen Begriff dann überhaupt noch verwenden will, vorgängigen Strukturen und Praktiken, in deren hermeneutisches Dickicht es unentwirrbar eingewoben ist. Dann muss freilich der Begriff der praktischen Handlungsautonomie selbst fragwürdig werden.4 Honneths eigene Überlegungen gehen der Frage nach, wie diese Form der individuellen Handlungsautonomie noch gedacht werden kann. Für uns stellt sich aber die radikalere Frage, wie die beiden ersten Autonomiedimensionen nach der sprachpragmatischen Wende produktiv auf die dritte, existentiell-individuelle Lebensdimension bezogen werden können. Es kann sich nämlich nicht allein darum handeln, das individuelle Handlungssubjekt in dessen quasi-privater Autonomiesphäre zu rekonstruieren. Worum es vielmehr gehen muss, ist die Fähigkeit zu reflexivem Denken (Ur-

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Honneth unterstellt hier zu recht, ohne es explizit zu machen, dass unser intuitives Vorverständnis der subjektiven Selbstbestimmung erstens die Kenntnis der eigenen Motive und Handlungsgründe voraussetzt; zweitens einen Einfluss durch unser Handeln auf unsere Umwelt (weit gefasst) unterstellt; und drittens die kognitive Differenzierung zwischen meinen eigenen Handlungen und externen Kausalfaktoren auf innerweltliche Zustände (meine eigenen Dispositionen eingeschlossen) als durchführbar annimmt. Zu diesen Voraussetzungen siehe Kögler (2012). 

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teilssubjekt) und die Fähigkeit zu politisch-ethischer Selbstbestimmung (Rechtssubjekt) derart mit den konkreten Dispositionen des Individuums (Handlungssubjekt) zu vermitteln, dass klar wird, wie sich konkrete Individuen als autonom urteilende und politisch bewusste, d.h. in voller Reflexivität, aus ihrer jeweiligen Situation selbstbestimmt entwerfen können. Die dritte Dimension der ‚individuellen Autonomie‘ wird also von uns hier weniger auf die Idee des geglückten Lebens als Realisierung einer Biographie bezogen, sondern vielmehr auf den sozial-politischen Entwurf einer sich kritisch-verstehenden, d.h. unter gegebenen Herrschafts- und Machtstrukturen befindlichen Subjektivität, die sich als solche sozial situiert begreift. Um dieses Projekt anzugehen, müssen wir die Analyse des Autonomiebegriffs vertiefen. Diese Diskussion hat zum doppelten Ziel, die Grenzen des klassisch-modernen Autonomiebegriffs ebenso wie die Möglichkeit einer aus der sozialen Lebenswelt hervorgehenden Autonomie darzulegen. Dabei werden wir so vorgehen, dass wir in Bezug auf Urteils- und Rechtssubjekt die traditionell bewusstseinsphilosophische Position evozieren, um zu zeigen, wie (a) deren Deplatzierung durch die linguistisch-pragmatische Wende die vorhergehenden Fundamente des Autonomiebegriffs in dieser Dimension untergraben, dass aber dennoch (b) in dieser Deplatzierung die Quelle für dessen Rekonstruktion angelegt ist. Diese Quelle verweist uns auf die existentiell-lebenspraktische Situation des Selbst, auf dessen Grundlage wir einen holistischen Reflexionsbegriff gewinnen. Wir werden zeigen, wie selbst in der Dekonstruktion des bewusstseinsphilosophischen Denk- und Rechtssubjekts Möglichkeiten einer Rekonstruktion von reflexiver und normativer Selbstbestimmung angelegt sind.

2.

Z UR R EKONSTRUKTION DER A UTONOMIE NACH DER D EKONSTRUKTION DES S UBJEKTS

In der ursprünglichen, von der Philosophie des Geistes ausgehenden Sicht bauen kognitive und normative Autonomiedimensionen auf einem Modell von Selbstbestimmung auf, das in dualistischer Weise den reflexiven Selbstbesitz kategorialer oder regelkonformer Strukturen auf der einen Seite von der empirischen Bedürfnisstruktur des real-existierenden Selbst auf der anderen Seite unterscheidet.5

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Im cartesisch-kantischen Schema ist das Subjekt autonom, gerade insoweit als es weltfern, weltfremd, anders-als-innerweltlich existiert. Wird diese Schranke durch die Einsicht in das unüberwindbare, symbolisch-praktische In-der-Welt-Sein des Subjekts

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Demnach entwirft sich ein freies Subjekt als freies dadurch, dass es die eigene Triebnatur autonom zu kontrollieren lernt. Autonomie besteht geradezu darin, sich nicht von animalischen Instinkten, Trieben oder Bedürfnissen bestimmen zu lassen. Autonomie bedeutet vielmehr, aus eigener Kraft, die in der selbstständigen Geist-Struktur des Subjekts gegründet ist, die empirisch-körperlichen Regungen zu bändigen. Dieser Bändigung folgt dann positiv der konstruktive Entwurf eines sich aus sich selbst heraus bestimmenden Subjekts, das deshalb frei ist, weil es sich nicht der sozusagen fremdgesteuerten Kontrolle von externen Einflüssen (auch wenn diese vom eigenen Körper ausgehen) verdankt, sondern diese vielmehr in eigener Regie, aufgrund einer eigenen Gesetzgebung der Vernunft beurteilt und reguliert werden. Dieses Modell beruht auf einer ontologischen Geist-Natur-Unterscheidung, in der sich der Geist der eigenen Denkgesetze bzw. normativen Handlungsorientierungen sicher sein kann. Wie bei Descartes und Kant klassisch ausgeführt, besteht der Geist in einer vollständig unabhängigen Substanz bzw. vergewissert sich transzendental der vollständig eigenen Kategorien und Moralmaximen, worauf sich dann der absolute bzw. transzendentale Begriff der Autonomie gründen kann.6 In Bezug auf das Urteilssubjekt ist es die kognitive Synthesis, die ein besonderes intentionales Erlebnis unter einen allgemeinen Begriff zu bringen erlaubt, um es so zu einer Erfahrung zu machen. Kant stellte die Erkenntnisfrage als die Suche nach den Bedingungen der Erfahrung dar, so dass die Rekonstruktion der grundlegenden Kategorien der Erkenntnis (allen voran Kausalität und Substanz in Bezug auf die physische Natur) die objektive Erfassung der Natur als gesetzmäßigen Zusammenhang bestimmt (Kant 2005). Da Kant die Prämisse des Bewusstseins nach Descartes (und Hume) als unüberschreitbar ansieht, muss die Objektivität aufgrund der Unzugänglichkeit des ‚Dings an sich‘ als Universalität des Urteils bestimmt werden. Wenn die transzendentale Rekonstruktion nun zwingende Voraussetzungen unserer Naturerkenntnis, d.h. als vorauszusetzende Kategorien einer jeden solchen Erfahrung, nachweisen kann, ist damit die Objektivität der Erkenntnis (eben als universale Denkregel) begründet. Für Kant

aufgehoben, scheint damit jede Basis des Autonomiebegriffs ebenfalls hinfällig. In Wahrheit wird erst die Überwindung dieser dualistischen Sicht den Blick auf die wirkliche Grundlage der autonomen Selbstbestimmung freilegen. 6

Die folgende Analyse richtet sich dabei gegen eine Totalverabschiedung des Subjekts, wie sie in einflussreichen Zirkeln vertreten wird, aber dabei ebenso emphatisch gegen eine unrevidierte Beibehaltung des früheren, bewusstseinsphilosophischen Autonomiebegriffs. 

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wird damit die begriffliche Konstruktion der Wirklichkeit als Objektivität rechtfertigbar, weil alle denkenden Subjekte derselben universalen Regel, d.h. denselben allgemeinen Grundbegriffen in der Bestimmung des Objektbereiches, folgen müssen. (Kant 2005) Die sprachpragmatische Wende in Philosophie und Gesellschaftstheorie scheint nun genau diejenigen Bedingungen zu untergraben, die einen solchen Autonomiebegriff des Urteilssubjekts erst möglich machen. Tatsächlich wird die transzendentale Begründung durch die Situierung des begrifflichen Verstehens in sprachlich-praktischen Kontexten ihrer unmittelbaren Universalität beraubt, da nun die Begrifflichkeit als sprachlich vermittelte auf einem nie gänzlich transparenten Hintergrundwissen aufruht (Wittgenstein 1984; Searle 1995). Dieses implizite Wissen entwirft zugleich den hermeneutischen Horizont, innerhalb dessen sich etwas als etwas überhaupt erst zu zeigen vermag, und bleibt strukturell immer an die konkrete Verstehenssituation gebunden. Wie Gadamer und Searle, und vordem schon der späte Wittgenstein, zu Recht betonen, wird das explizite Verständnis eines Begriffs von einer nie gänzlich objektivierbaren Menge von Grundannahmen getragen, die zugleich semantisch definierend und doch als solche unthematisch bleiben (Gadamer 1975). Damit wird die Erschließung der Wirklichkeit durch eine unüberwindbare Kontextabhängigkeit bestimmt, denn die konkrete Objekterfahrung wird immer in einer bestimmten Sprechsituation, vor dem Hintergrund bestimmer Grundanahmen, im Licht bestimmer Werteinstellungen, erfolgen. Sie verdankt sich also nicht mehr, wie Kant und andere Universalisten annahmen, einer den Kontexten enthobenen `transzendentalen´ Subjektivität, sondern bleibt in ihrer sinnerschließenden Funktion konstituiv an die konkrete Denksituation gebunden. In Kants Modell spielte nun zweierlei eine die Autonomie des Denksubjekts begründende Rolle: Die Kategorien, aufgrund derer ein bestimmtes Urteil möglich ist, verdanken sich universalen Regeln und garantieren somit Objektivität. Insofern ist das Subjekt nicht blind an bestimmte Kontexte gebunden und in sie heteronom eingeschlossen. Auf der anderen Seite sind diese Kategorien in der onto-kognitiven Sphäre der transzendentalen Subjektivität angesiedelt. Sie sind also auch ontologisch nicht heteronomen Ursprungs, sondern entspringen förmlich aus dem transzendentalen Subjekt selbst. Genau damit ist nun aber nach der Abdankung des transzendentalen Subjekts infolge der linguistischen Wende Schluss. Die transkontextuale Kategorientafel des reinen Subjekts wird nun durch das kontextual situierte, immer schon in seinen Vorannahmen konkret bestimmte Subjekt ersetzt. Der späte Wittgenstein und die philosophische Hermeneutik haben diese Abhängigkeit, wie wir bereits sahen, im Allgemeinen analysiert. Konkreter hat zum Beispiel die Foucaultʼsche Diskursanalyse gezeigt, in-

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wiefern bestimmte Diskurse die ontologischen Vorannahmen der situierten Subjekte bestimmen (Foucault 1977a). Die Frage ist freilich, inwieweit diese Einsichten selbst schon zu einer Totaldestruktion des Subjekts führen. In der Tat sprechen drei wesentliche Motive dagegen. Erstens ist die generelle Unbestimmtheit und Nichttransparenz des Vorverständnisses für die kognitive Subjektivität, die denkend die Welt erfasst, nur eine abstrakte Einschränkung. Insofern nicht gezeigt wird, inwiefern konkrete Heteronomien bestehen, bleibt diese Abhängigkeit ohne Wirkung oder Relevanz. Es würde vielmehr eines Gottesgesichtspunktes bedürfen, um von der generellen Uneinsehbarkeit des Hintergrundes auf die prinzipielle Ungültigkeit der Urteile zu schließen. Genau dieser absolute Standpunkt ist aber generell, und zwar gerade auch für die linguistisch situierte Position, nicht vertretbar bzw. einnehmbar. Zweitens könnte man demgegenüber geltend machen, dass z.B. Diskursanalyse und Cultural Studies sehr genau zeigen können, dass jede kognitive Leistung, also auch die des denkend-urteilenden Subjekts, je schon diskursiv vorstrukturiert ist und dieses demnach heteronom statt autonom agiert. Tatsächlich aber beruht dieses Argument selbst auf der Prämisse, die diskursiven Vorannahmen explizit machen zu können. Die Fähigkeit des Subjekts, sich über die eigenen Regeln Gewissheit und dem Denken damit Autonomie, zu verschaffen, werden also beansprucht statt abgeschafft. Zugegeben, die reflexive Rekonstruktion der eigenen Vorannahmen erzielt (oder erstrebt) keine universale Regelgebung mehr; dennoch wird das Urteilssubjekt in der Gestalt des Diskursanalytikers, der dessen Analyse mit den situierten Subjekten teilt, als ein auf die Kontextregeln verpflichtetes Denken rekonstruiert. Schließlich fragt sich trotzdem drittens, ob der kantische Anspruch der Universalität der Gültigkeit, die dann der Kontextheteronomie entkommt, mit diesem kontextualisierten Analysebegriff überhaupt noch gerettet werden kann. Die Antwort hier muss eine hermeneutische sein. Die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt eine Rekonstruktion der Diskursstrukturen der situierten Subjekte durchführen zu können, muss auf einer gemeinsam geteilten Basis des Sprachverstehens beruhen. Insofern ist das Subjekt, das sich mithilfe der Diskursanalyse über andere wie eigene Diskursvoraussetzungen informieren kann, gerade nicht heteronom in bestimmte Kontexte eingekapselt. Die diskursanalytische Rekonstruktion, die nur für den epistemologisch Naiven eine kognitive Kontext-Unentrinnbarkeit bedeutet, nimmt den sprachlich ermöglichten Weltbezug in Anspruch, ohne wiederum naiv die eigenen Vorannahmen zu verabsolutieren. Vielmehr werden diese als Brückenköpfe produktiv ins Spiel gebracht, um eigene wie andere Annahmen zu rekonstruieren (Kögler 1992). Wenn also die Kontextsituiertheit des kognitiven Subjekts keineswegs mit einer totalen Verabschiedung der Denkautonomie einhergehen muss oder kann,

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dann fragt sich, inwiefern diese neue Situation des Subjekts vielmehr als Autonomie ermöglichend verstanden werden kann. Hier schlage ich nun vor, die jeweils notwendige Interpretationsleistung des konkret-situierten Subjekts als Autonomie der Situation gegenüber zu begreifen. Dieser Punkt lässt sich durch eine an Wittgenstein anschließende Überlegung in Bezug auf die Kontextregeln der Diskurssituationen einführen. Tatsächlich verdankt sich die je besondere, in den Kontexten eingelassene Objekterfahrung einer je eigenen subjektiven Interpretationsleistung. Denn die vom Kontext vorgegebenen Grundannahmen tragen in sich nicht das Regelwerk, das dessen eigene Anwendung auf den je konkreten Fall regeln kann. Die Grundannahmen müssen vielmehr durch eine subjektive Deutungssynthesis so mit dem besonderen Ereignis der Erfahrung verschmolzen werden, dass etwas in seiner Bestimmtheit erkannt werden kann. Kant selbst hat den impliziten Schematismus, der die konkrete sinnliche Erfahrung (als momentanes direktes Erlebnis) mit den Kategorien synthetisch zusammenbringt, als die wohl basalste und auch dunkelste Aktivität des Subjekts bezeichnet. Aber genau diese kognitive Agency, die Kant noch im Transzendentalen (bzw. im Zwischenreich zwischen diesem und der Sinnlichkeit) ansetzte, wird nun im linguistischhermeneutischen Modell von der konkret situierten Subjektivität selbst ausgeführt. Die intentional die Welt erfahrenden Subjekte werden hier, als hermeneutische Akteure vor dem Hintergrund eingespielter Vorverständnisse, die Objektgesamtheit unter die jeweiligen Begrifflichkeiten in den hermeneutischen Hintergrund integrieren und damit die Möglichkeit einer situierten Autonomie der Erkenntnis nach der linguistischen Wende bestätigen. Damit aber erarbeiten sie sich hermeneutisch, immer neu und immer situativ, ihre autonomen Urteile.

3.

D ER SOZIALE R AUM DES R ECHTS ALS M ÖGLICHKEITSHORIZONT

In Bezug auf das Rechtssubjekt stellt sich die Lage anders dar. Was nun ins Zentrum rückt ist nicht allein die Fähigkeit des Subjekts, bestimmte kognitive oder interpretative Leistungen zu erbringen. Mit der Frage des Rechts wird vielmehr die soziale Abhängigkeit des Subjekts in die Theorie eingeholt. Es geht im Begriff des Rechts eines Subjekts nämlich in erster Linie darum, inwieweit bestimmte ontologisch mögliche Handlungsoptionen dem Subjekt (innerhalb eines sozial durch Mitgliedschaft bestimmten Kontextes) als garantierte Verwirklichungschancen zukommen sollen. Wenn ein Subjekt z.B. das Recht auf Heirat hat, dann muss jeder entsprechenden Person dazu die Möglichkeit gegeben werden. Natürlich steht diese Zuschreibung von Rechten immer unter gewissen

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Vorbehalten, d.h. die Wahrnehmung der Rechte bezieht sich auf die entsprechenden Personen, also diejenigen, die die jeweiligen Kriterien erfüllen – z.B. ein gewisses Alter haben, nicht in ihrer Willensfreiheit beeinträchtigt sind und, bis vor kurzem, nicht den Vertreter des gleichen Geschlechts heiraten wollen. Die Debatte um die Ehe von Homosexuellen macht deutlich, dass die Zuschreibung von konkreten Rechten immer in einem kulturell-sozialen Raum verankert ist, innerhalb dessen die Rechte als Verwirklichungsmöglichkeiten bestimmtqualifizierter Subjekte gefasst ist. Genau dieser Aspekt wird in der Theorie der hermeneutischen Agency zentral, denn es geht in dieser Perspektive vor allem darum, inwieweit der existierende Begriff der konkreten Rechtszuschreibungen durch die Erfahrungen und Einwendungen der konkreten Subjekte erweitert und jeweils neu definiert werden kann. Im Zentrum der Thematik der Rechte steht also nicht die Aufstellung einer Liste universaler Rechte oder die Entfaltung einer menschlichen Natur zwecks ihrer Begründung (vgl. Searle 2012: 292 ff.). Es geht vielmehr um die Dialektik zwischen einem universalen Rechtsbegriff, der uns zur Anerkennung des Anderen als gleichwertigem Mitglied der Gemeinschaft nötigt, und dem konkreten Interpretationsschema, innerhalb dessen ein Recht entweder zuerkannt oder aber verwehrt wird. Genau in dieser Dialektik besteht die politische Dimension der reflexiven Agency, die sich als Kampf um die Erweiterung, Neudefinition und Zurückweisung bestimmter Rechtsvorstellungen versteht. In der klassischen Subjektphilosophie, die in der Rechtsthematik mit Hobbes ansetzt und dann über Rousseau und Kant bis zu Hegels einflussreichem Staatsbegriff reicht, wird der Begriff unveräußerlicher (Menschen-)Rechte intrinsisch an den Begriff des Staates angeknüpft. Der Staat wird geradezu zum Inbegriff der Bewahrung und des Schutzes des Rechtssubjekts. Subjekte erhalten innerhalb des Staates den Status des Bürgers, der ihnen garantiert, dass die Rechte, die ihnen als Subjekte überhaupt zukommen sollen, auch erfüllbar und durchsetzbar sind.7 Das Grundprinzip dieser Integration und Vereinnahmung der Idee des Rechts als Staatsrecht ist in Hobbesʼ Konzeption des Sozialvertrags angelegt, derzufolge das Subjekt an sich – also im sogenannten Naturzustand – allein über ein Natur-Recht zu leben verfügt, während erst der Übergang in den Gesellschaftszustand einen sozial-etablierten Rechtszustand erwirkt, innerhalb dessen dann überhaupt erst angemessen von Rechten gesprochen werden kann (Hobbes 2011). Erst wenn ein staatlicher Regelkontext existiert, innerhalb dessen dem

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Zu den zwei richtungsweisenden Traditionen innerhalb der klassisch modernen Rechtsstaatstheorie, siehe Habermas (1998).

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Subjekt gewisse Handlungsoptionen als für alle normativ bindend und mit durch Sanktionsgewalt gestützter Wirksamkeit zuerkannt werden, entsteht ein sozialer Raum, innerhalb dessen gewisse Handlungsmöglichkeiten für die Subjekte zu rechtlich realen Optionen werden. Bekanntermaßen bestimmt Hobbes den Sozialvertrag als die Aufkündigung der eigenen Willkürfreiheit, zu tun und zu lassen, was man will, um im Gegenzug als Rechts- bzw. Staatssubjekt nunmehr die Freiheit zu haben, sich innerhalb eines Rahmens frei zu entfalten, der vor den Willküraktionen der Anderen geschützt ist. Die absolute Position des Souveräns ist für Hobbes ein ebenso angemessener wie auch notwendiger Preis, da allein durch das Gewaltmonopol des Staates der allgemeine Frieden garantiert, der Krieg aller gegen alle vermieden und damit die zivilgesellschaftliche Entfaltung der Einzelnen in allen ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten Wirklichkeit werden kann (vgl. Foucault 2009). Gewiss hat das Sozialvertragsmodell seine eigentliche Wirkung vor allem durch Rousseaus Konzeption erlangt (Rousseau 1986). Dessen dezidiert demokratische Wendung der Souveränität, nun als Volkssouveränität des ‚Allgemeinen Willens‘ des Volkes repräsentiert, überwindet durchaus die autoritären Züge des Hobbesʼschen Ansatzes, insofern bei Hobbes der Souverän dem Volk als absolute Autorität gegenübersteht, anstatt es wirklich darzustellen. Rousseau kann Hobbes ursprüngliche Idee durch drei entscheidende Änderungen auf diese moderne Bahn bringen. Erstens macht Rousseau unmissverständlich klar, dass es sich bei dem Sozialvertrag keineswegs um ein Abdanken bzw. Übergeben der eigenen Rechte an einen absolut herrschenden Souverän handeln kann. Die Rechte sind dem Subjekt als solchem eingeschrieben, und keine spätere Entscheidung, auch nicht die eigene, kann die Autonomie des Subjekts als Entscheidungsträger annullieren. Die Selbstübereignung an einen Anderen, wie vorteilhaft auch immer sie für Herrscher oder System ist (z.B. als Sklave), ist als Akt unvorstellbar und nichtig. Zweitens ist es irrig, die legitime Autorität des Souveräns auf das Gewaltmonopol zu gründen, das ihm qua Sanktionspotential der Staatsgewalt zuerkannt wird. Die Frage der angemessenen Regierung ist eine Frage nach der Legitimität derselben, und die Frage der Legitimität ist im Kern eine normative Frage. Deren Antwort kann nicht in Gewalt oder Macht, sondern muss in rational anerkennbaren Gründen für das Gewaltmonopol bzw. dessen Anwendung bestehen. Insofern bestätigt und vertieft dieser Punkt die Undenkbarkeit einer aufkündigenden Übergabe der eigenen Rechte an einen Herrscher, eben weil dessen Legitimität von der Anerkennung der Subjekte abhängig bliebt und diese somit zu einer solchen fähig bleiben müssen (Rousseau 1986). Drittens überwindet Rousseau mit seiner nunmehr klar egalitaristisch ausgerichteten Sozialordnung die reduktive Vorstellung eines Staates, der ein Gewaltmonopol

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schützend wie einen autoritären Schirm öffentlich über alle privaten Aktivitäten ausbreitet. Das Hobbesʼsche Modell sieht den Staat nur als externen Garanten für die eigentlich entscheidenden privaten Aktivitäten, die zivilgesellschaftlich den Kern der Gesellschaft ausmachen sollen. Rousseau erkennt demgegenüber die wichtige Bedeutung der integrativen Funktion des Staates als einer Gemeinschaft von Wertüberzeugungen und Kulturtraditionen, in der sich die Subjekte wechselseitig als gleichwertig und frei anerkennen und damit zu einer neuen und eigentlicheren Form der Selbstverwirklichung fortschreiten. Rousseau entfaltet mit seinem Gesellschaftsvertrag das Modell einer kollektiven Selbstbestimmung, die durch die egalitär garantierte Zustimmung aller zu den Gesetzen die Autonomie des Einzelnen als in der Autonomie des Allgemeinen aufgehoben sieht. Hegel hat dann darauf aufbauend, in Kritik an Hobbes und durch die Vermittlung von Kants Moralphilosophie, versucht weiter auszudifferenzieren, wie genau die individuale Selbstverwirklichung in der Zivilgesellschaft mit der öffentlichen Anerkennung als Moralsubjekt durch den Staat vermittelt werden kann, ohne dabei auf das notwendige Bedürfnis nach emotional-affektiver Zuwendung zu vergessen: Familie ermöglicht Liebe, die Zivilgesellschaft soziale Wertschätzung, und der Staat also solcher verschafft dem konkreten Subjekt Respekt als moralisch unverwechselbarem Individuum (Hegel 1979; Honneth 1995; Taylor 1983). Die Freiheit gewinnt hier geradezu einen erhöhten, von Rousseau antizipierten Status, denn selbst die Verfolgung von Eigeninteressen wird so derart in einen sozialen Zusammenhang eingebettet, dass der privatistische Atomismus, demzufolge die Gesellschaft nur ein Aggregat aus Einzelsubjekten ist, überwunden wird. Da der Einzelne, wie Hegel bekanntlich begrifflich sagt, im Allgemeinen aufgehoben ist, wird die Kollektivität sich nicht über ihre eigene Substanz und Bedeutung täuschen, ohne freilich deshalb den Einzelnen kollektivistisch dem Ganzen aufopfern zu müssen. Wenn demnach in dieser gerafften Genealogie die Potenz der subjektphilosophischen Autonomie des Rechtssubjekts aufgefangen wird, so entgeht doch keiner dieser Entwürfe den schweren Einwänden, die mittlerweile gegenüber diesem Rechtsstaatsmodell der Autonomie gemacht werden müssen. Tatsächlich wird das subtil gewebte Netz an rechtlichen Anerkennungsverhältnissen, wie auch immer es im Einzelnen gestrickt und begründet ist, an der Schranke der Nationalstaatlichkeit eine wesentliche Grenze der Begründbarkeit von universaler rechtlicher Autonomie finden. Eine knappe Skizze dieses Problems wird durch die linguistisch-poststrukturalistische Kritik verschärft ins Bewusstsein treten, um zugleich Wegweiser bereitzustellen, wie diesem Dilemma entkommen und die Rechtproblematik auf eine post-staatliche Basis gestellt werden kann.

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Das Problemfeld zwischen Staat und Recht ergibt sich selbst schon aus einer internen Spannung zwischen der Idee unveräußerlicher (Menschen-)Rechte, und dem Staat als derjenigen Institution, die überhaupt erst einen Rechtszustand des Subjekts als solchen möglich machen soll.8 Wichtig ist hier zu daran erinnern, dass die Sozialvertragsidee durch die Konstruktion eines Naturzustandes motiviert wird, innerhalb dessen bestimmte Bedingungen herrschen sollen, die den rationalen Übergang zum rechtlichen Staatszustand zwingend nahelegen. Klassisch ist dies bei Hobbes im Modell des Kriegs aller gegen alle angelegt, dem allein durch die Selbstintegration in einen absolut beherrschten Sozialverband entkommen werden kann. Wichtig sind hier nicht die Differenzen zwischen den Vorschlägen, nicht einmal, dass bei Hegel dieser Naturzustand nur noch eine geringe Rolle spielt. Worauf es ankommt, ist, dass hier ein vor-sozialer Zustand als begriffliches Sprungbrett für die normative Selbstverpflichtung auf gemeinsam geteilte Regeln und Gesetze benutzt wird. Uns interessiert, dass dieser Naturzustand als Zu-Überkommendes nur aus der Perspektive des konkreten Nationalstaates erscheint. Es ist die bestimmte Selbstübereignung an den absoluten Herrscher (Hobbes), die Selbsteingliederung in den Allgemeinen Willen (Rousseau) oder die reflexive Einordnung des eigenen Selbst in den konstitutionellen Staat (Hegel), die so aus dem bloßen Natur-Subjekt ein eigentliches Rechts-Subjekt machen können soll. Gerade dieser Schritt wird aber fraglich, wenn sich die Konstruktion des Naturzustandes als vor-normativer Sphäre eines reinen Selbstinteresses bzw. eines nicht normativ geregelten Kampfes um Anerkennung als problematische Konstruktion entlarvt. Die Projektion eines Naturzustandes, der aus der Sicht sozialisierter Subjekte unvorteilhaft ist, erzwingt nur scheinbar die unabdingbare Einordnung in ein bestimmtes Gemeinwesen. Das vor-staatliche ‚Subjekt‘ wird fälschlich als vor-soziales bzw. vor-normatives Wesen ausgegeben, dessen moralische Rettung nur in einer normativ ausgewiesenen und staatlich sanktionierten Rechts-Ordnung bestehen kann, denn die Konstruktion des Menschen als vor-sozialem Wesen entbehrt jeder Grundlage. Insofern das Subjekt überhaupt als Subjekt agieren kann, ist es immer schon wesentlich in soziale bzw. intersubjektive Sinn- und Handlungszusammenhänge eingebunden. Die Rede von einem Selbst, das vor dessen eigener Sozialität exis-

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In der liberalen Perspektive ist der Staat als Garant und Beschützer der (wie auch immer begründeten) unveräußerlichen Rechte des Einzelnen eingesetzt, während in der ‚republikanischen‘ bzw. kommunitaristischen Perspektive die Rechte unmittelbar aus der Selbst-Zuschreibung eines autonom handelnden Kollektivsubjekts ‚Volk‘ fließen. Siehe Habermas 1998.

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tiert, ist ebenso sinnlos wie die Idee von vor-sprachlichen Sprechern, die zusammen Sprache erfinden: Die Idee der sprachlichen Verständigung muss für die Idee von sich gemeinsam auf Begriffe einigenden Subjekten ebenso vorausgesetzt werden wie die Idee gemeinsamer Praktiken und Handlungskontexte für die Idee von sozial interagierenden Subjekten.9 Was bei dem Schritt von der vermeintlich vor-sozialen Natursituation zu der rechtsstaatlich geregelten Normsituation eigentlich zur Rede steht, was sozusagen den Kern der Wahrheit ausmacht, ist der Schritt von gemeinsamen impliziten Praktiken, denen bislang noch eine explizite Formgebung durch Normartikulation fehlt, zu einer expliziten Kodifizierung der Regeln. Gemeinsame Praktiken, aufgrund derer sich auch Sprache erst entwickeln kann, stellen den hermeneutischen Horizont einer kollektiven Intentionalität dar, die sich erst allmählich einer Kodifizierung ihrer Praktiken und Verständnisformen unterzieht. Der kulturell unendlich wichtige und dramatische Schritt der fortschreitenden Explikation der Normen, die dadurch auch durch explizite Konstruktionen neue Realitäten und Entitäten (wie z.B. den Staat) schaffen, darf nicht per se mit der vermeintlich notwendigen Schleusenfunktion von Natur- zu Staatszustand kurzgeschlossen werden: Weder ist der vorstaatliche Zustand ein sozial- bzw. normfreier Zustand, noch ist der normativ-artikulierte Rechtszustand notwendig der des Staates. Diese Einsicht, die in der hermeneutisch-pragmatischen Dimension der linguistischen Wende enthalten ist, hat eine befreiende Wirkung für den Begriff des Rechtssubjekts. Die Idee der rechtlichen Anerkennung muss sich nun nicht mehr als an den Staat als dessen Garanten gekoppelt verstehen. Vielmehr wird die Anerkennung des Subjekts mit Bezug auf dessen Anerkennungspotential direkt an die sozial verankerte Konstitution desselben angebunden: Eine universale Idee

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Sobald ein solcher sozialer Zusammenhang vorausgesetzt ist und damit von identifizierbaren Subjekten, die sich auf sich selbst und andere beziehen, gesprochen werden kann, ist natürlich die jeweilige Orientierung einzelner Subjekte an bloß eigenen ‚partikularen‘ Interessen möglich. Aber der egoistische Selbstbezug ist selbst nur aufgrund sozialer Praktiken möglich und stellt selbst wiederum eine soziale Subjektivitätsform dar; bestimmte soziale Praktiken, wie z. B. kapitalistische Wirtschaftsformen, fördern und erzeugen genau solche Einstellungen, deren Dispositionen zur Reproduktion der eigenen sozialen Formen beitragen und wahrscheinlich unabdingbar sind. Das glaubte z.B. Marx.

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des Menschenrechts als in dessen universaler Sozialnatur begründet wird nun denkbar.10

4.

R ECHT , S ITUIERTHEIT

UND

M ACHT

Es geht nun darum, diese trans-staatliche Perspektive des Rechts mit widerständiger Agency so zusammenzudenken, dass das reflexive Potential der hermeneutischen Neuinterpretationen, die sich aus den sozialen Situationen ergeben, fassbar wird. Dabei muss zum einen die unentrinnbare Situiertheit des Subjekts entschieden verteidigt und zum andern der Machteinfluss auf hermeneutische Deutungen, gerade auch auf die Rechtsvorstellungen, einbezogen werden. Daraus ergeben sich zwei knifflige Problemlagen, die sich schlagwortartig mit dem Problem des Relativismus (in Bezug auf die radikale Situativität) und dem des Machtreduktionismus (ohne dabei den Machteinfluss sozialer Faktoren aufs Verstehen leugnen zu müssen) bezeichnen lassen. Tatsächlich stellt sich vor dem Hintergrund der Dekonstruktion der vermeintlich universalen Natur des Menschen und der damit einhergehenden Kontextualisierung der Deutungen die Frage nach der Relativität aller Rechtsvorstellungen. Der Anspruch auf eine universale Legitimitätsbasis, aufgrund welcher legale Ordnungen begründet werden könnten, scheint damit hinfällig, denn die gesamten Ressourcen des Subjekts erwiesen sich nunmehr an konkrete Kontexte gebunden. In diesem Sinn könnte die Idee des universalen Rechts überhaupt, wie auch die Idee eines diese Rechte in Anspruch nehmenden Subjekts, als selbst vollkommen kontextabhängig zurückgewiesen werden. Die kommunitaristische Emphase bestimmter Traditionen mitsamt der Zurückweisung einer universalen Perspektive, wie etwa bei MacIntyre oder Walzer, markiert auch nach der Überwindung der Staatsfixierung des Rechts eine wichtige Gegenposition. Die hier vertretene hermeneutische Perspektive auf die Universalität des Rechts sucht hingegen die universale Rechtsidee im Begriff der Menschenrechte mit konkreten Wert- und Sinntraditionen zu vermitteln. Dies wird dadurch möglich, dass man zwei Analyseebenen unterscheidet: zum einen die der formalen Voraussetzungen des Verstehens und zum andern die Ebene der materialen Bestimmungen des konkret situierten Verstehens. Das universale Potential des Subjekts, inner-

10 Eine weitere Ausführung dieser Grundlage als Rechtstheorie ist hier nicht möglich. Martha Nussbaums Konzeption kann als Beispiel für ein solches kosmopolitisches Projekt gelten. Siehe auch meine eigenen Versuche, z.B. in Kögler (2011; 2018).

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halb konkreter Kontexte die Fähigkeit zu reflexiven Verstehensleistungen verschiedener Art auszubilden und zu diesen in der Lage zu sein, bildet dabei die universale Schiene. Auf dieser kann ein universaler Rechtsbegriff aufbauen, von dem aus sich die konkreten Rechtstraditionen reflexiv selbst verstehen und innovativ erweitern können. Die materiale Bestimmtheit des Verstehens kommt dagegen in der konkreten hermeneutischen Arbeit in den Geistes- und Kulturwissenschaften zum Tragen, wie z.B. in der Diskursanalyse oder den Cultural Studies. In dieser Schiene werden konkrete kulturelle Dispositionen und Konstellationen nachgezeichnet und dem reflexiven Selbstverständnis zugeführt. Insofern also eine begriffliche Trennung zwischen universalen Verstehensfähigkeiten und bestimmten Vorverständnissen möglich ist, ist die jeweilige Tradition zugleich kontextuell und universell bestimmt. Damit kann der Relativismus rechtsphilosophisch überwunden und forschungspraktisch operationalisiert werden, ohne eine philosophische Gefahr der Selbstuntergrabung des eigenen Anspruchs darzustellen.11 In Bezug auf die Machtproblematik stellt die linguistisch-poststrukturalistische Wende das Recht als diskursiv-ideologische Überformung von tatsächlichen Machtpraktiken dar. In unserer Aufnahme dieser Herausforderung geht es dabei nicht um die Zurückweisung der empirischen Einsichten bzw. der wichtigen real-machtpraktischen Perspektive, die vor allem durch die Foucaultʼsche Forschungsrichtung, z.B. bezüglich Strafpraktiken und die Institution des Gefängnisses, aufgerollt wurde (Foucault 1977b). Die realgeschichtliche Einbettung des Rechtsdiskurses in soziale Macht- und Herrschaftszusammenhänge kann in einer ausschließlich normativ orientierten Rechtsphilosophie nicht angemessen einbezogen werden. Die normative Rechtsproblematik bedarf also einer machttheoretischen Analyseperspektive, um nicht in einem abstrakten Normativismus zu enden, der normativ-projektierte Rechtsverhältnisse schon als realsoziale Kategorien der Wirklichkeit darstellt. Foucaults Analysen transzendieren auf ihre Weise die Orientierung am Staat, da die disziplinären Machtpraktiken als kapillar, den gesamten Sozialkörper netzwerkartig durchziehend erfasst werden. Es handelt sich also nicht um eine Zentralmacht des Staates, um eine über den anderen Kontexten schwebende Zitadelle der Herrschaft; vielmehr erweisen sich die Überzeugungen und Handlungsorientierungen der Subjekte durch körperliche, intuitive, habituell eingeübte Vorverständnisse geprägt. Dieser radikal situierte, ins Subjekt selbst eingepflanzte Machtbegriff erlaubt empirisch-analytisch, spe-

11 Zur Konzeption formaler Verstehensbedingungen siehe meine Analysen zu den kognitiven Voraussetzungen einer kosmopolitischen Öffentlichkeit (Kögler 2011, 2018).

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zifische Dimensionen moderner Macht als Subjektivitätssteigerung zu begreifen, ohne dabei in eine metaphysische Redeweise von Macht und Herrschaft generell zu verfallen. Entgegen den defätistischen Interpretationen Foucaults finden sich hier Ressourcen für widerständige Praktiken im Subjekt selbst (Foucault 2005; Kögler 2003). Die hermeneutische Perspektive wird zur kritischen Hermeneutik, indem sie die Dimension von Macht und Herrschaft in allen ihren Facetten aufnimmt, dabei aber den Ausgang immer von einem symbolisch konstruierten Selbstverständnis nimmt. Tatsächlich verdankt sich ja selbst noch die biologische Konstruktion des ‚nackten Lebens‘ (Agamben 2002) in Wahrheit einer hermeneutischen Reduktion, die das ‚nackte Dass‘ des jeweiligen Daseins als ‚bloßes Leben‘ kategorial bestimmt. Die völlige Aberkennung der hermeneutischkognitiven Fähigkeiten des Subjekts, dessen Reduktion auf das biologische Zoe, enthält zum einen eine interpretative Abstraktion von den eigentlich gegebenen Fähigkeiten des Subjekts; zum andern entwirft sie dieses Subjekt als soziale Konstruktion in bestimmten Kategorien und Merkmalen, nach welchen der Andere dann als bloßes Leben, als Untermensch, als Eigentum usw. klassifiziert und identifiziert werden kann. Foucault hat in seinen Analysen zur Disziplinarmacht gerade diesen diskursiven Kategorisierungen nachgespürt, vor allem auch in Bezug auf deren Kraft, sich dem Subjekt selbst als dessen eigene Selbstzuschreibung einzuverleiben (Foucault 2005). Demgegenüber stellt die Orientierung am nackten Leben bloß eine weitere, zugegebenermaßen radikalisierte Form der machtbestimmten Verdinglichung dar, ohne selbst die Ressourcen bereitzustellen, wie dieser Macht Widerstand geleistet werden kann. Genau dies leistet eine hermeneutische Fundamentalanalyse der kognitiv-praktischen Fähigkeiten des Subjekts, durch die gezeigt werden kann, wie die Subjekte die ihnen auferlegten Deutungsschemata reflexiv durchbrechen können.12

12 Die Radikalisierung dieses Ansatzes in der politischen Theorie Agambens, die wesentliche Motive von Carl Schmitt aufnimmt und mit der bio-politischen Konzeption der Macht in Foucault verknüpft, stellt demgegenüber einen Rückschritt dar. Agamben geht den Weg zur Souveränitätsmacht zum Absolutismus zurück, um die normative Bodenlosigkeit des Rechts, welches sich in Wahrheit dem exzeptionellen Entscheidungsakt einer außerhalb des Rechts situierten Herrschaft verdankt, zu erweisen (Agamben 2002). Dieser Schritt erweitert freilich unser analytisches Vokabular, obwohl nur sehr bedingt, und kauft sich negativ die Ausschließlichkeit einer politischen Perspektive ein, die am Subjekt allein die objektivierten Merkmale am ‚nackten Leben‘ abliest. Diese Ausnahmeperspektive, die ohne Zweifel als Gefahr dem Politi-

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Das Phänomen der Überschreitung legt vielmehr einen völlig anders konzipierten Rechtsbegriff nahe: Dieser Begriff muss die Identifikation von Recht und Norm vermeiden, um den im positiven Recht immer mitgegebenen Normalisierungstendenzen entgegenzuwirken. Das positive Recht wird hier als die Eröffnung eines bestimmten Möglichkeitshorizontes verstanden, innerhalb dessen sich die Subjekte so oder so realisieren können, während die Wirkkraft dieses Rechts wiederum von der interpretativen Anerkennung der konkret situierten Subjekte abhängt und damit beständig neuinterpretiert, herausgefordert, neu entworfen und angegriffen wird. Von den Subjekten selbst soll die konstituierende Kraft des Rechts13 ausgehen, und von diesen Subjekten hängt die transzendierende Möglichkeit des gegebenen Rechts auf immer neue Verwirklichungshorizonte ab. Der Begriff des Rechts wird damit durch Rekurs auf die universal-hermeneutischen Fähigkeiten des menschlichen Subjekts begründet, sich reflexiv in Situationen auf sich selbst als Subjekt beziehen zu können. Indem damit zugleich die Reflexivität und die unentrinnbare Situiertheit in den Rechtsbegriff aufgehoben sind, wird der Anspruch eingelöst, die Dialektik zwischen etablierten Rechtsnormen und transzendierenden Verwirklichungsansprüchen zu vermitteln. Die Verbindung beider Aspekte vermeidet einen relativistischen Fehlschluss ebenso wie dies die Aufmerksamkeit für die immer potentiell wirksamen Irrtümer des eigenen Standpunktes miteinbezieht. Das Recht wird zudem nicht, wie bei Foucault oder Agamben (aber auch vom klassischen Marx), als reine Ideologie beiseite gefegt. Vielmehr wird das Recht als diskursive Kampfkategorie, als der Schauplatz eines hermeneutischen Agons selbst zum Moment der Überschreitung etablierter Machtverhältnisse. Die Bedingung der Möglichkeit eines derart transzendierenden Rechtsbegriffs, in dem Recht als die

schen schon immer innewohnt, obwohl sie sich dramatisiert erst seit der Moderne zeigt, vergibt sich aber durch ihre begriffliche Haftung am biopolitischen Modell die Ressourcen, der Biomacht eine Gegenmacht der kritischen Agency gegenüberzustellen. Agambens Obsession mit Biomacht führt das Politische in die Sackgasse des nackten Lebens, dessen vollständige Analyse wie auch Überwindung allein durch eine Rekonstruktion des symbolisch-vermittelten Lebens, also der hermeneutischen Agency, möglich wird.  13 Zum Begriff der konstituierenden Macht in Bezug auf das Recht und zur Unterscheidung von konstitutivem und konstituiertem Recht vgl. Schmitt (2015). Schmitt hat diese Unterscheidung einflussreich herausgearbeitet, ohne dass man deshalb dessen Theorie der Unterscheidung folgen muss, wie ich selbst im Folgenden zeige (vgl. auch Mouffe 2005).

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utopisch immer neu zu besetzende Vision der universal anerkannten Möglichkeiten der eigenen Selbstverwirklichung im Ganzen ist, besteht freilich in der hermeneutischen Agency. Das Potential der hermeneutischen Agency besteht darin, die konstitutive Situiertheit des Subjekts mit dessen Überschreitungspotentialen so zusammenzudenken, dass die subversive Kraft des widerständigen Selbst zwar durch Machtstrukturen strukturell mitgeprägt, diese Kraft aber zugleich symbolisch vermittelt ist und deshalb niemals vollständig durch diese Machtstrukturen determiniert werden kann. Die bereits intuitiv eingeführte Verwiesenheit jeder intentionalen Projektion auf einen durchs Subjekt entworfenen Deutungsakt lässt sich kausal nicht beschreiben, sondern verlangt vielmehr ‚ein Gefühl der Freiheit‘ (Searle 2012), das unserem Selbstbewusstsein eigen und irreduzibel ist. Zugleich wird diese Artikulation unseres Selbstbewusstseins durch intersubjektive Strukturen der Anerkennung geleistet, durch die das Selbst zugleich als Identisches erzeugt sowie auch in einer prinzipiellen Offenheit und Unabgeschlossenheit gehalten wird. Wir werden diese zwei Grundgedanken nun durch eine existential-hermeneutische (5) und eine sozial-pragmatische Analyse (6) untermauern, um damit die entscheidenden Fragmente für eine Theorie der hermeneutischen Agency bereitzustellen. Wie eine sozial-situierte Agency aus der konkreten Situation des eigenen Selbstverstehens zu überschreitenden Interpretationen in der Lage sein kann, wird damit deutlich werden.

5.

H ERMENEUTISCHE R EFLEXIVITÄT UND DER H INTERGRUND DER M ACHT

Die hermeneutische Analyse des situierten Selbstverständnisses überwindet die problematische Aufspreizung unseres intentionalen Bewusstseins in ein rein geistiges, der Welt vorgeordnetes Wesen und eine objektive Welt, auf die sich der Geist dann irgendwie bezieht. Vielmehr wird das menschliche Dasein (Heidegger 1979) als immer schon eingebettet in sprachlich-praktisch-soziale Zusammenhänge erkannt. Menschliches Verstehen ist intentional strukturiert, immer auf etwas als etwas gerichtet. Wenn ich denke, muss ich (an) etwas denken. Der Gegenstand meines Denkens, mein intentionales Objekt, wird dabei kognitiv zugänglich, weil ich es sprachlich artikulieren kann. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ (Gadamer 1975). Dieser sprachlichen Welterschließung eignet nun aber wiederum der Zug, dass die konkrete Sacherschließung von etwas – also meine Intentionalität, die bewusste Gerichtetheit auf etwas, auf eine Sache – nur, wie vordem gezeigt, vor dem Hintergrund bestimmter

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Vorannahmen möglich ist. Wenn ich, etwas zu denken, imstande bin, tue ich das aufgrund meiner Vormeinungen, meiner Vorurteile, die ich schon in Bezug auf das besagte ‚Objekt‘ habe. Somit ergibt sich mein Verstehen nicht aufgrund eines völlig beherrschten, cartesisch selbst-transparenten Bewusstseins, sondern vielmehr vor dem Hintergrund – dem Background (Searle 1995) – dieser Vorannahmen. Damit haben wir in dieser Analyse die Abhängigkeit des bewussten Handelns, insofern ein intentionales Handeln immer auch von der bewussten Erfassung der Situationsbedeutung abhängig ist, von dem nicht-transparenten Hintergrund eingeholt. Die Vorstruktur des Verstehens weist eine dreidimensionale Schichtung auf, die den Hintergrund der intentionalen Ausrichtung als durch eine symbolischdiskursive, sozial-praktische und individual-perspektivische bestimmt. Heidegger nannte dieses Gerüst Vorgriff, Vorhabe und Vorsicht. Gemeint ist, dass jedes Phänomen, auf das sich unser Verstehen intentional richtet, im Grunde schon vor-verstanden bzw. vor-erschlossen ist und dass sich diese Welterschließung auf verschiedenen Ebenen vollzieht, dass also verschiedene Konstruktionsraster sich über- und ineinander lagern und insgesamt den Sinn der Sache – zumindest in dessen ersten Sichzeigen – darstellen.14 Die symbolische Welterschließung ist dabei zentral, da sich in ihr das Verstehen sozusagen in dessen eigenem Medium befindet, dem des geteilten Sinns. Dieser Dimension gehören wiederum drei wesentliche Merkmale an: Erstens ist die symbolische Vermittlung der Erfahrung (von etwas als etwas) nicht in einem metaphysischen Grund angelegt; vielmehr entwirft die symbolische Ordnung die

14 Aufbauend auf der Unterscheidung zwischen Werk und Denker (siehe Einleitung, S. 19, FN 8) gehe ich von Heideggers Vorstruktur des Verstehens als formalontologischem Rahmen dreier Sinndimensionen aus, die inhaltlich gänzlich anders als bei Heidegger in einem progressiv-ethischen Theoriekontext situiert werden. Die Differenzierung in symbolische, praktische und individual-perspektivische Dimensionen des Vorverständnisses werden mit Diskurs- und Machtanalyse derart artikuliert, dass die reflexive Thematisierung von Macht- und Herrschaftsfunktionen im Vorverständnis reflexiv werden können; zugleich wird dieser Hintergrund in eine dialogische Konzeption der Anerkennung des Anderen eingebunden. Die Notwendigkeit der Rekonstruktion der Vorstruktur erfolgt im Geiste von Adornos Diktum: „Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu.” (Adorno 1980: 281) Die Vorstruktur ist die Formalontologie dieser Bedingtheit, die jedoch machtreflexiv und anerkennungsdialogisch eingeholt werden muss.

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ihr entsprechende ontologische Ordnung kontingent, ihren eigenen Strukturen gemäß (Cassirer 2010; Foucault 1980). Zweitens sind diese Erschließungen als Diskurse organisiert. Das Subjekt denkt nicht und befindet sich nicht einfach in einer allgemein geteilten (natürlichen) Sprache; vielmehr werden Phänomene je gemäß bestimmten Diskursformationen erschlossen, die wiederum Subjektpositionen, Objektbereiche, Begriffsrahmen sowie praktische Kontexte festlegen. Drittens stellen diese Hintergrunddiskurse den Horizont der jeweils in einem Gespräch verstrickten Subjekte dar. Die Kommunikation sozialer Subjekte vollzieht sich vor dem Hintergrund dieser Sinnstrukturen, die als kognitive Ressourcen die expliziten Deutungen der Subjekte vorstrukturieren. Wie wir sehen werden, stellt die Kommunikationssituation auch eine Logik der Anerkennung dar, doch wird die Art und der Umfang der jeweils erwiesenen konkreten Anerkennung prägend von den Hintergrunddiskursen bestimmt. Die sozial-praktische Dimension des Vorverständnisses ist jeweils über und mit den diskursiven Rahmen vermittelt, wirkt aber dennoch in genuiner Weise. Das ist so zu verstehen, dass sich der praktische Modus als jeweilige Bewährung der sprachlich formulierten Weltverständnisse erweist, obwohl tatsächlich das praktische Funktionieren nichts über eine eigentliche Wahrheit der Sachverständnisse aussagt, sondern vielmehr nur zum Ausdruck bringt, dass die entsprechenden Sachkontexte und Subjektivitätsmodi derart aufeinander abgestimmt sind, dass sich die Handlungszusammenhänge nahtlos ineinander fügen.15 Eine solche praktische Vorbestimmung für die entsprechenden funktionalen Kontexte leistet der kognitive Habitus, den Pierre Bourdieu, Merleau-Ponty folgend, zum zentralen Schlüssel des intentionalen Weltzugangs gemacht hat. Die Idee ist dabei, dass sich der Erfolg des Weltumgangs dadurch erklären lässt, dass sich die kognitive Werkzeugkiste des Subjekts selbst dem interaktiv-praktischen Umgang mit der Welt verdankt. Der Habitus entsteht aus dem In-der-Welt-Sein in bestimmten strukturierten Kontexten, die deren Struktur als habituell-kognitive Schemata dem Subjekt anverwandelt und es damit als Äquivalent, als Alter Ego der Weltstruktur anpasst (Bourdieu 1979). Entscheidend ist nun der machttheoretische Witz dieser Analyse, denn da sich der kognitive Habitus – also die praktisch-schematische Welterschließung des Subjekts, die diesem somit die Möglichkeit einer reflexiven Beziehung auf die Welt und sich selbst ermöglicht – aus dem besonderen machtstrukturierten

15 D.h. auch ein systematisch-verzerrter, ideologischer Praxiszusammenhang kann funktionieren. Sklaverei war ein (mehr oder weniger) gut funktionierendes System; Astrologie war eine gut funktionierende Deutungspraxis.

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Umfeld ergibt, werden die objektiven Möglichkeiten und Grenzen der Subjektumgebung zu den subjektiven Denkregeln und Reflexionspotentialen der Subjekte. Das Umfeld injiziert gewissermaßen die objektiven Strukturen in das malleable Sinnnetz und Deutungspotential der Subjekte und macht sie so zu dessen Welt. Es stattet das Subjekt mit Sinnkategorien aus, die eine prinzipiell offene, jedenfalls infrage stellbare Welterschließung zum konkreten Apriori des Verstehens machen. Hinzu kommt die praktische Dimension des körperlichen Eingewöhntseins, das den Habitus nun wahrlich zu einer zweiten Natur werden lässt: Die durch die objektiv gegebenen Herrschaftsstrukturen vermittelte soziale Position wird nun zu einer verkörperten zweiten Haut, zu einer im eigenen Wesen angesiedelten Sinnstruktur, die die eigene Ich-Identität in ihrer sozialen Dimension entscheidend prägt. Insofern die herrschaftsbestimmten Kontexte die je potentiell offene Weltschließung – das Magma des Castoriadis (1984) – auf bestimme Habitusformationen einschwören, kommt nun der dritten Dimension der Vorstruktur – der individuellen Sinnperspektive – eine ganz besondere Bedeutung zu. Denn mit den diskursiven und praktischen Hintergrunddimensionen sind allein zwei sozial geteilte und anerkannte Verständnisnetzwerke benannt; die unleugbare Verankerung dieser in einer je besonderen Perspektive, die sich aus der konkreten Positionalität des Subjekts als lebensgeschichtlichem Individuum ergibt, ist noch nicht Rechnung getragen. Tatsächlich erweist sich jede Sinnerschließung immer auch als von der besonderen Brechung der eigenen Erlebnisse und Geschichten geprägt. Und tatsächlich wird sich jede Deutung eines Sinnangebotes auch immer durch die eigene Interpretationsleistung als je besondere Deutung erweisen. Wir hatten genau diesen Aspekt schon bei der Rekonstruktion der kognitiven Synthesis nach Kant herausarbeiten können. Was nun aber in diesem Kontext interessiert, ist die machtgetränkte Struktur der diskursiven Sinnerschließung. Es wird deutlich, dass die kognitiven Ressourcen, die sich dem Subjekt eröffnen, selbst immer schon von machtbestimmten Vorstrukturen des Selbstverstehens geprägt sind. Zur entscheidenden Frage einer kritischen Hermeneutik wird damit die Frage nach der Macht der Agency selbst. Es geht darum, wie sich ein derart sozial situiertes Subjekt frei und kritisch vor dem Hintergrund der etablierten Machtverhältnisse bestimmen kann. Wie ist es möglich, dass sich der Verstehensprozess reflexiv-kritisch auf die eigenen Sinnschranken zurückwendet, sodass deren Grenzen überschritten und die eingeimpften Vorurteile und Machtpropositionen aufgekündigt und transzendiert werden können? In welcher Form können die verinnerlichten Verkrustungen sozial eingepflanzter Sinnschemata so erschüttert und angegriffen werden, dass sich ein neuer Möglichkeitsraum des eigenen Selbstentwerfens für die Subjekte zu zeigen beginnt?

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6.

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I NTERSUBJEKTIVE A NERKENNUNG UND Ü BERSCHREITUNG

Die Konzeption der hermeneutischen Vorstruktur rekonstruiert die verschiedenen Erschließungsebenen, und die begriffliche Verknüpfung mit einer poststrukturalistischen Analyse erlaubt uns zu erkennen, inwiefern wir hier eine Theorie der Überschreitung der vorbestimmten Verständnisweisen der Subjektivität benötigen, da diese sozial bestimmt und daher herrschaftsstrukturiert ist. Der Witz dieses Ansatzes besteht darin, die Überschreitung des gegebenen Vorverständnisses als radikale Infragestellung der vorgestanzten, normalisierten und machtgetränkten Verständnisformen zu begreifen, wobei diese Überschreitung selbst, wie situiert auch immer, die reflexive Kraft des Subjekts einschließt und erweist. Es wird also die Skylla der reinen Überschreitung, als Feier ungezügelter Transgression im Sinne eines nietzscheanischen Dionysianismus, ebenso vermieden wie die Charybdis des Bezugs auf das Subjekt in einer transzendentalen oder abstrakt-idealistischen Weise. Vielmehr wird die selbstbestimmte Handlungsorientierung, also die situierte Autonomie, aus der reflexiven Leistung des Widerstandes gegenüber machtbestimmten Sinnverhältnissen selbst hervorgehen. Diese letzte Leistung wird sich normativ erst durch die Rekonstruktion der intersubjektiven Anerkennungslogik begründen lassen, aus der heraus sich das Subjekt als Subjekt reflexiv generiert. Die intersubjektive Quelle des Selbst verankert die nie völlig zu beherrschende Dimension des Anderen im eigenen Selbst, was durch diese Abhängigkeit die normative Anerkennung des Anderen in das Selbstverständnis des Subjekts einholt. Zugleich wird sozial-ontologisch durch die relationale Bestimmung des Subjekts in Verhältnis zum Anderen die eigene Identität des Selbst nicht zur unumstößlichen Essenz gerinnen können: Die osmotische Porosität der Selbst-Identität, durch die ich mich erst als Selbst durch den Anderen konstituiere, hält die machtbestimmte Konstitution des eigenen Selbst latent offen und veränderbar, wie sie ebenso eine freie und gleiche Anerkennung des Anderen verlangt (vgl. Kögler 2012). Die hier in Anspruch genommene Struktur der Selbst-Identität kann durch das intersubjektivistische Modell der Bewusstseinstheorie von George Herbert Mead erläutert werden.16 Bei Mead wird Selbst-Identität durch die Übernahme

16 Der Anschluss an Meads Theorie erlaubt zudem den wichtigen Einbezug der prädiskursiven Bedürfnisebene, die dieser als Handlungsmovens einführt (Mead 1936). Deren reflexive Einholung setzt uns durch eine dialogische Selbsttheorie instand, den kontrollierenden Zug des Kantischen Moralmodells zu überwinden. Die eigene Identi-

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der Perspektive des Anderen möglich. Die entscheidende Idee ist, dass das individuelle Selbstbewusstsein aus einer notwendig sozial zu denkenden Situation hervorgeht. In diesem schwachen, nicht-reduktionistischen Naturalismus wird der Ausgangspunkt der evolutionären Entwicklung der Möglichkeit von kognitivem Selbstverstehen darin gesehen, dass ein Organismus innerhalb der objektiven Umwelt durch die Begegnung mit einem anderen Organismus dazu angeleitet wird, sich auf sich selbst beziehen zu können. Eine erste Stufe bildet dabei die gestengesteuerte Kommunikation, bei der die Organismen ihr Verhalten durch Reaktion auf die Geste des Anderen abstimmen, etwa so wie durch Fluchtverhalten nach dem Fletschen der Zähne. Diese Gesten haben funktionalen Wert, aber Bewusstsein kann als evolutionäre Stufe dann markiert werden, wenn es einem Organismus möglich wird, durch die Geste des Anderen dessen Verhalten zu antizipieren und dadurch das eigene Verhalten reflexiv zu bestimmen. Ich nehme also in dieser kognitiven Leistung die Perspektive des Anderen auf mich ein, um mich dadurch auf mich selbst zu beziehen. Ein solcher Selbstbezug aber ist Selbst-Bewusstsein. Ich existiere also als solches für mich selbst, wenn ich in der Lage bin, mich selbst als Objekt zu thematisieren bzw. zu repräsentieren. Dazu muss es mir möglich sein, die Perspektive eines Anderen auf mich selbst einzunehmen. Die kognitive Struktur des Selbstbewusstseins kann also als die Perspektiven-Übernahme des Anderen auf mich selbst rekonstruiert werden. Diese Begründung der sozial-ontologischen Möglichkeit des Selbstbewusstseins enthält gleichermaßen einen epistemologischen Gewinn wie auch einen lebenspraktischen Wert. Erstens zeigt eine intersubjektive Identitätstheorie, dass die Konstitution des eigenen Selbst von der Übernahme der Perspektive des Anderen abhängt, womit die Identität als dialogisch offen, als im Prinzip schon auf die Offenheit gegenüber der Sicht des Anderen angelegt ausgewiesen ist.17 Zweitens zeigt dieser Ansatz, dass eine reflexive Thematisierung dieser Perspektivenübernahmen tatsächlich zu gesteigerter Einsicht führt, denn die Selbst-Identität ist ja durch solche Perspektiven, die oft eher ungefragt oder unthematisiert übernommen werden, mitbestimmt.18 Drittens scheint daraus klar zu folgen, dass eine gesteigerte Einsicht in diese Konstitutionszusammenhänge auch lebenspraktisch-

tät wird nicht mehr als monologische Herrschaft des einen Selbst über dessen Triebe, sondern vielmehr als dialogische Selbstverständigung mit verschiedenen Dimensionen des eigenen Selbstseins aufgefasst.  17 Vgl. Honneth (1995). 18 Vgl. die empirische Erziehungsforschung, in der Empathie und Perspektivenübernahme eine zentrale Rolle spielen.

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ethisch sinnvoll ist. Denn durch diese Einsichten werden ja bestimmte Vorannahmen und praktische Habitusformationen in deren sinnbestimmender Funktion überhaupt erst dem eigenen expliziten Denken zugänglich gemacht und eröffnen damit für das eigene Handeln alternative Möglichkeiten und Horizonte.19 Die Funktion der Perspektivenübernahme erweist sich in der Entwicklung der konkreten Selbst-Identität, die das menschliche Individuum mit Selbstbewusstsein auszeichnet, als zentraler Mechanismus. Denn die sozio-kulturelle Integration des Subjekts vollzieht sich über die Fähigkeit, bestimmten Erwartungen der Umwelt durch Übernahme von deren Wertorientierungen und Handlungsanforderungen Genüge zu tun, was sich in der spielerischen Aneignung dieser Rolle bei Kindern exemplarisch ausweist. Das heranwachsende Kind probiert hier bestimmte Rollen durch die Übernahme von deren Erwartungsperspektive aus.20 Mead geht davon aus, dass sich ein kohärentes Subjekt gerade insofern auszubilden vermag, als die besonderen Rollen- bzw. Spielkontexte vom Subjekt in Bezug auf allgemeine Regeln hin überschritten werden können, die dann als universales Normgerüst wiederum das Äquivalent des eigenen moralischen Selbst bilden. Die Figur des ‚Generalisierten Anderen‘ beschreibt diese kognitive Stufe, die sich von bestimmten Perspektiven und Rollen löst und das handelnde Subjekt als ein mit sich kohärentes, durch das Normgefüge gewissermaßen zusammengehaltenes Subjekt bestimmt.21

19 Es ist diese Perspektive, die Axel Honneths zuvor erwähnten Aufsatz (Honneth 2000) in dieser Hinsicht sehr wichtig werden lässt. Honneth beschreibt ebenfalls die Idee eines ungezwungen offenen, sozusagen auf sich selbst hörenden Neuverstehens der eigenen Regungen und Triebe. Freilich mag ein solches Sichverstehen immer schon durch sozial-vermittelte Deutungsschemata bestimmt sein, woran sich wiederum der hier vorgestellte Ansatz richtungsweisend orientiert. Ohne eine reflexive Distanzierung von machtgetränkten Selbst-Schemata wiederholen die eigenen Dialogversuche womöglich nur die eingepflanzten Überzeugungen. 20 Vgl. die neueren Arbeiten von Paul Harris (2012) der gegenüber Piagets lange Zeit dominierendem Ansatz die Funktion der intersubjektiven Beziehungen und in diesem Kontext auch die Rolle des Spiels entscheidend aufgewertet und neu gewichtet hat.  21 Natürlich spielt in dieser Entwicklung die durch das Selbstbewusstsein möglich gewordene menschliche Sprache eine entscheidende Rolle dafür, dass hier die Perspektivenübernahme gemeinsame Bedeutungen zu generieren vermag, wodurch ein gemeinsam geteilter Sinnhorizont entsteht, innerhalb dessen ein Selbstbewusstsein als eine gemeinsam identifizierbare Sinneinheit, die sich auf sich selbst bezieht, entstehen kann. Gerade deshalb ist die hermeneutische Fähigkeit, diesen Hintergrundkontext

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Mit dieser Idee eines projektiven Kollektiv-Subjekts, das sich intersubjektiv aus der wechselseitigen Perspektivenübernahme durch Verallgemeinerung entfaltet, haben wir einen intersubjektiven Ursprung für das Urteils- und Rechtssubjekt erreicht. Die hermeneutische Analyse der Vorstruktur kann nun dahingehend ergänzt werden, dass sich das intentionale Subjekt durch die Orientierung an einem gemeinsamen Wissen bzw. Status als epistemisches bzw. rechtliches Subjekt generieren kann. Innerhalb des Wissens bedeutet dies, dass das je konkret situierte Subjekt innerhalb wahrheitsorientierter Diskurse als allgemeines spricht, d.h. die eigenen Vorannahmen und Überzeugungen innerhalb eines seriösen (wahrheitsorientierten) Dialogs als gemeinsam teilbare Einsicht vertritt. Innerhalb des normativen Raumes des Rechts bedeutet dies, dass sich nun das je konkrete Individuum als allgemeines Rechtssubjekt der Anerkennung aller vergewissern kann. Diese Anerkennung und ihre ‚Vergewisserung‘ stellen freilich genau jene Spannung dar, die die Dialektik des existierenden positiven Rechts gegenüber den Ansprüchen und Realisierungsbedürfnissen der Individuen ausmacht. Gegenüber dem positiven Recht werden die konkreten Subjekte zum einen die Erweiterung des Rechtskatalogs selbst einklagen, um eine umso vollere und umfassendere Ermöglichung der eigenen Realisierungspotentiale zu erlangen; zum anderen werden kulturelle und soziale Einschränkungen der Anwendungsbereiche existierender Rechte aufgebrochen und erweitert, um zunehmend weiteren Individuen und Gruppen hier Anerkennung – und damit erweiterte Selbstverwirklichung – zu verschaffen.22 An dieser Stelle hilft Meads Unterscheidung des Selbst und Ich weiter, um ein wichtiges Moment der hermeneutischen Agency zu artikulieren. Mead holt die entscheidende Spannung zwischen sozial anerkanntem Selbst und dem sozial noch-nicht-bestimmten Überschreitungspotential ein, indem er das Subjekt aus den unentschränkbar doppelten Komponenten einer sozial-anerkannten, regelgeleitet normierten Selbst-Identität und eines demgegenüber opak bleibenden Ich-

explizit zu machen, ein wesentlicher Baustein für einen umfassenden Reflexivitätsbegriff. 22 Die Orientierung des Einzelnen an den universalen Normen, die sich bei Mead nicht transzendental als mentales Apriori, sondern als Verallgemeinerung der sozialen Normen herleiten, garantiert hier die Selbstbestimmung des Subjekts, insofern es sich über die konkreten Kontexte als normgeleitet freies selbst bestimmen kann. Wiederum kann die rechtliche Verankerung dieser Normen als gesellschaftspolitische Realisierung dieses Subjektivierungsschubes gelten, wodurch allen Subjekten die moralische Selbstorientierung auch sozial zugestanden wird.

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Potentials rekonstruiert. Einer durch Perspektivenübernahme erzeugten sozialen Selbst-Identität, dem Mich (Me), steht das Ich (I) als ein die sozialen Schemata transzendierendes Triebpotential gegenüber. Allein beide Aspekte zusammen erklären Agency. Die Ich-Dimension wird auf ein untergründiges Triebpotential im Individuum zurückgeführt, aus dem sich die prinzipielle Unvorhersagbarkeit des Handelns herleiten lässt. Die soziale Rolle, als Sinn-Perspektive einverleibt, gibt sozusagen die Richtung, den Rahmen vor, aber dem Handeln wohnt das Überschreitende, das radikal Offene inne, das sich als sinnhaftes Geschehen zwar immer vor dem Hintergrund des sozial geteilten Sinnhorizontes entfaltet, das aber dennoch nicht von diesem her vorausgesagt oder bestimmt werden kann. Durch die Dimension des begehrenden Ich, das sich zunächst noch vor dem diskursiv-artikulierten Selbstverständnis als Potential befindet, erfährt sich das Subjekt überhaupt erst als volles Individuum. Dabei wird die sozial vorgestanzte Rolle sozusagen von zwei nicht-verdinglichten Polen her vermittelt, die sich beide als Aspekte einer sich selbst durch die Position eines selbst nicht verdinglichbaren Anderen als Identität des Subjekts erweisen. Zum einen besteht der transsoziale, vor-normative Zug in dem Begehrenspotential, aus dem sich neue und unvorhergesehene Handlungen entfalten: transgressiver Ursprung der Agency. Auf der anderen Seite wird diese neue Handlung dann als die meines Ich durch eine Selbst-Reflexion zuerkannt, die die Handlung allein mir als dem Subjekt zuschreiben und zugleich diese Zuschreibung selbst wiederum nur in einem sozial-etablierten Sinnrahmen durchführen kann: Reflexivität des situierten Selbst. In der narrativ-biographischen Reflexion nehme ich meine Handlung in Kontexten als meine wahr, und doch kann dieser autonome Interpretationsakt nur wiederum im sozialen Universum gemeinsamer Bedeutungen und Praktiken stattfinden. Ich weiß mich in diesen Kontexten als mich selbst und doch zugleich als von den symbolischen und praktischen Vorannahmen wesentlich mitgeprägtes Subjekt. Die reflexive Rückbeugung, durch die ich mich dann als unverwechselbares und konkret handelndes Selbst bestimme, muss also selbst in einem Kontext geschehen, der wesentlich von der prinzipiellen Positionsübernahme des Anderen geprägt ist. Dieser Positions-Pol des Anderen besteht wiederum in einem Subjekt, das als ein Sich-selbst-verstehend-Entwerfendes nicht objektiviert werden kann: Der Andere leistet selbst die Objektivation des Verstehens, existiert also ontologisch in einer Subjekt- und nicht in einer Objektposition. Ein Objekt könnte ein anderes Objekt gar nicht objektivieren. Es bedarf dazu eines anderen Subjekts, dass selbst nicht-dinglich die Verdinglichung, also die Zuschreibung einer bestimmbaren Handlung durchführt. Damit ist aber gezeigt, dass die reflexive

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Zuschreibung meiner Handlungen als meiner besonderen und eigenen die Position eines Anderen, den ich als Subjekt und nicht als Objekt anerkenne, voraussetzt. Die eigene Ich-Identität ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in sich die Notwendigkeit der Existenz des nicht-objektivierbaren Anderen enthält. Als zugleich ontologisches und normatives Fazit bleibt: Es ist am Ende diese Rekonstruktion der eigenen Selbst-Identität aus der Anerkennung der nichtobjektivierbaren Anderen, die eine wirklich wechselseitige Grundlegung der kritischen Reflexion innerhalb von sozialen Sinn- und Machtverhältnissen begründen kann. Durch die Verschränkung von Selbst-Identität und Anerkennung des Anderen wird der sinnhafte Entwurf, den jedes Subjekt innerhalb der geteilten kulturellen und sozialen Wirklichkeit in Anschlag bringt, sozialontologisch zurückgebunden an die Existenz eines Anderen. Die situierte Autonomie des Subjekts bemisst sich damit weder an dem Maß allgemeiner Wertideen oder Normsysteme noch (allein) an der Entwicklungsstufe von Rechtskatalogen oder Verfassungen. Vielmehr besteht die wirkliche Freiheit allein in den Entfaltungsmöglichkeiten der konkreten Agency, die jeweils die bestimmten eingeimpften Sinn- und Machtschemata aufs Neue in Frage stellen und überwinden können muss. Dabei spielt die Vermittlung der eigenen Bedürfnisse mit anzuerkennenden Rechtsnormen ebenso eine Rolle wie die Rekonstruktion jener Schemata, die eine solche Neuformulierung verhindern und untergraben wollen. Da sich diese Selbstreflexivität nur durch den Bezug auf den nicht-objektivierbaren Anderen vollziehen kann, ist in die Überschreitung der Macht die normative Anerkennung des Anderen unverzichtbar mit eingebaut.

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Ü BERSCHREITUNG

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PSYCHOANALYTISCHE ZUGÄNGE ZU AGENCY

How to do things without words: Worum handelt ES sich beim Agieren? T IMO S TORCK

In meinem Beitrag werde ich mich den Feldern der Sprachphilosophie oder Agency-Forschung von psychoanalytischer Seite nähern, mit dem Ziel der Formulierung bzw. Präzisierung gemeinsamer Problemstellungen. Im Titel wird mein Anliegen ersichtlich, zu prüfen, welchen performativen Gehalt man in der Sprachlosigkeit ausfindig machen kann oder wie aus der Vorstellungsohnmacht die Handlungsmächtigkeit erwächst – allerdings in unbewusster Hinsicht, in einer die eigene Performativität aus psychodynamischen Gründen nicht einholbaren Weise. Also: Austin – aber ohne Worte. Also: Performativität – aber unter der Perspektive eines „doing transference“, der Zur-Schau-Stellung von Bedeutung in Beziehung in psychoanalytischer Hinsicht. Also: Agency – aber im Rahmen der Frage nach einer Ohnmacht der Sprache. Dabei ist der psychoanalytische Begriff des Agierens, und weitergeführt der Begriff des Enactments, hilfreich1. Ich werde daher im Wesentlichen dem nachgehen, worum ES sich beim Agieren handelt. Damit ist eine doppelte Perspektive eingenommen, ist damit doch zum einen danach gefragt, wie das Konzept zu bestimmen und klinisch anschaulich zu füllen ist, aber zum anderen auch danach, um welchen Dreh- und Angelpunkt sich das psychoanalytische Es, hier als Platzhalter-Vokabel für unbewusste Aspekte der psychischen Welt, bewegt, wenn in der Psychoanalyse gehandelt statt gesprochen wird. Kurz gesagt: Es handelt sich – aber worum?

1

Die grundlegenden Begriffsklärungen im Hinblick auf Agieren und Enactment habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Storck 2013).

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In einem ersten Teil werde ich ein kurzes Fallbeispiel präsentieren. Im zweiten Teil skizziere ich die konzeptuelle Geschichte und Bedeutung von Agieren, Handlungsszenen und Enactment in der Psychoanalyse, bevor ich im dritten Teil der Frage nachgehe, wie in Auseinandersetzung mit dem Agieren/Enactment psychoanalytisch Bedeutungen verstanden werden können. Ich beschließe meine Arbeit dann im vierten Teil mit Überlegungen zum enigmatischen und denigmatischen Beitrag der Psychoanalyse zur Agency. Eine weitere knappe Vorbemerkung ist noch zu machen: Ich wende mich nicht explizit den gesellschaftlichen Rahmen- und Formungsbedingungen zu, die im Zusammenhang psychoanalytischer Prozesse und im Zusammenhang von Agency wirksam sind. Damit soll nicht gesagt sein, dass ich soziale oder überindividuelle Aspekte für sekundär oder wenig erheblich halte.

1.

A M B EISPIEL

EINES

F ALLS

Ich möchte zunächst ein psychoanalytisches Fallbeispiel schildern (vgl. Storck 2016, S. 456ff.): Eine 31-jährige Patientin, Frau J., wird für eine zehnwöchige Behandlung in einer Tagesklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie aufgenommen. Sie sucht die Behandlung auf wegen mehrjähriger Urin- und zeitweiliger Stuhlinkontinenz, wegen anhaltender Kränkungen und Entwertungen am Arbeitsplatz und in kurzen, meist auf den sexuellen Akt beschränkt bleibenden Partnerbeziehungen, Konflikten in der Primärfamilie (insbesondere mit Mutter und Schwester) sowie verschiedener somatischer Beschwerden und körperlicher wie psychischer Verletzungsanfälligkeiten. Aus Sicht des Behandlungsteams ergeben sich Hinweise auf eine psychische Bedrohung durch überflutende Affekte, wenig verlässliche oder konturierte Vorstellungen von Selbst und Anderem sowie ein sprunghafter, assoziativer Denk- und Sprachstil. Als psychodynamischer Behandlungsfokus (vgl. z.B. Lachauer 2012) wird formuliert: „Ich bin auf der Suche nach einer inneren und äußeren Beziehung, aber ich habe Angst, dass ichʼs nicht halten kann“. Nachdem die Patientin sich während der ersten Behandlungswoche dem Behandlungsteam gegenüber überaus offen bis distanzlos (bezüglich der Wahrung der Grenzen ihrer eigenen Intimität und der Anderer) gezeigt und damit eine abweisende Haltung der Behandelnden ausgelöst hat (bis zur Diskussion der Frage, ob die Patientin nicht in einer psychiatrischen Klinik besser behandelbar wäre), verunfallt sie am Montag der zweiten Behandlungswoche auf dem Weg zur Klinik im Bus: Als dieser abrupt bremst, verliert die stehende Patientin den Halt und verdreht sich den Oberkörper. Sie kann darauf-

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hin unter Schmerzen aussteigen und in eine Anschluss-Straßenbahn steigen, die sie zur Klinik bringt. Zusteigenden Mitpatientinnen berichtet die Patientin von ihren Schmerzen und bittet eine von ihnen, ihre für den Tag benötigte Sporttasche an sich zu nehmen und die Mitarbeitenden in der Tagesklinik darüber zu informieren, was passiert sei. Eine andere Mitpatientin bringt die verunfallte Patientin auf deren Drängen zur Zentralen Notaufnahme des Krankenhauses, in das auch die psychosomatische Klinik eingegliedert ist. Dort stellt sich der Zustand der Patientin als nicht gravierend heraus, sie erhält ein Schmerzmittel und kehrt zur Behandlung in der psychosomatischen Klinik zurück. Üblicherweise würde das Geschehen psychoanalytisch als ein Agieren der Patientin beschrieben, genauer: dass sie die Notaufnahme aufsucht, statt sich an ihre Behandelnden zu wenden (vgl. Storck 2017; Storck/Winter 2016 für eine Erörterung des Vorgehens des Behandlungsteams in einer Fallbesprechung). Was ist damit gemeint?

2.

A GIEREN , E NACTMENT UND IN DER P SYCHOANALYSE

VERWANDTE

K ONZEPTE

Levenson (2006: 321) berichtet einen psychoanalytischen Witz. Es wird gefragt: „What is acting out?“ und die Antwort lautet: „Whatever makes the analyst nervous.“ Dies greift auf, dass, so Klüwer (2000, S. 43), „[k]ein anderer psychoanalytischer Begriff eine solche Bedeutungserweiterung erfahren [hat] wie der des Agierens“, mit der Folge einer „erhebliche[n] Verwirrung der Bedeutungen“. Ich skizziere zunächst die Entwicklung des Konzepts bei Freud und nachfolgenden Autoren und komme dann über einige Akzentsetzungen zu szenischen Elementen der analytischen Beziehung zum Konzept des Enactments, das zu den meistdiskutierten der zeitgenössischen Psychoanalyse gehört. Der Begriff des Agierens ist konzeptgeschichtlich und klinisch in hohem Maß mit dem der Übertragung verbunden, also mit der Wiederholung von Beziehungserfahrungen, -erwartungen, -fantasien und -sehnsüchten sowie begleitenden Affekten in der therapeutischen Beziehung. Die Psychoanalyse wird seit der entsprechenden Titulierung durch Josef Breuers Patientin Anna O. als „talking cure“ bezeichnet, eine Referenz, die für das Weitere wichtig sein wird. Im Bruchstück einer Hysterie-Analyse von 1905 ist Freud mit dem Behandlungsabbruch seiner Patientin Dora konfrontiert, den er darauf zurückführt, dass er von der Übertragung „überrascht“ worden sei. Er habe erst nach dem verfrühten Ende der Analyse erkannt, dass Dora mit ihm etwas wiederholte, das mit „Herrn K.“ zu tun hatte, einem Bekannten ihrer Eltern, in den Dora Freuds An-

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nahme zufolge verliebt war, ohne dass diese Liebe erwidert wurde. Aufgrund einer sich in Doras Erleben einstellenden Gemeinsamkeit zwischen ihm und Herrn K., so Freud, „rächte sie sich an mir, wie sie sich an Herrn K. rächen wollte, und verließ mich, wie sie sich von ihm getäuscht und verlassen glaubte. Sie agierte so ein wesentliches Stück ihrer Erinnerungen und Phantasien, anstatt es in der Kur zu reproduzieren“ (Freud 1905: 283). Was hier erstmals als ein Agieren benannt wird, ist als eine Dynamik zu verstehen, in der die Analysandin den Analytiker so behandelt wie das (infantile) Objekt: Dora will sich an Herrn K. rächen; und weil sie Freud so erlebt wie diesen, rächt sie sich an ihm und wendet so eine Passivität in etwas Aktives. Statt getäuscht und verlassen zu werden, ist sie es, die verlässt. Wenn sie nun nicht mehr in der Analyse ist, kann sie ihre Fantasien und Konflikte nicht mit Freuds Hilfe durcharbeiten. Es wäre also für den Fortgang der Kur nötig gewesen, dass Dora „in der Kur […] reproduzier[t]‘ statt ihre „Erinnerungen und Phantasien“ zu agieren und damit gerade nicht zu erinnern oder zu fantasieren. Freud (1914: 130) weist darauf hin: „Je größer der Widerstand, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren (Wiederholen) ersetzt.“ In Freuds Vorstellung ist es die Aufgabe des Analytikers, im „Agieren“ diesen Widerstandsaspekt zu erkennen – den Widerstand gegen das Erinnern in Form des Sprechens und im den eigenen Assoziationen und Fantasien Nachgehen in einer analytischen Stunde auf der Couch. Dies gründet auf der Annahme, dass das handlungsmäßige Abreagieren bzw. die Abfuhr von Triebenergie diese vom Erleben fernhält. Psychoanalytisch ist die Situation in der Stunde der Traum- bzw. Schlafsituation nachgebildet: das Liegen auf der Couch, die versuchte Abkehr von diskursiver Nachvollziehbarkeit, das Lockern der psychischen Zensur, das weitgehende Ausschalten von Blickkontakt mit dem Analytiker zugunsten eines nach innen gerichteten Blicks. Wie im Schlaf ist die Motorik ausgeschaltet, so dass sich triebhafte Impulse ins Fantasieleben einbilden können – daher das Erfordernis, nicht agierend zu handeln. Ein zweiter Grund dafür, das Agieren des Analysanden als ungünstig zu betrachten, steht im Zusammenhang mit der Regressionsförderung durch den analytischen Prozess. Die Erwartung, der Analysand solle in der Stunde sprechen, statt innerhalb oder außerhalb dieser seine unbewussten Fantasien gleichsam an seinem Erleben vorbei handelnd und infantile Fantasien realisierend umzusetzen, soll auch dessen Schutz dienen (ob es nun der agierte Banküberfall oder die agierte Heirat ist, deren Bedeutungen einer Reflexion nicht zugänglich sind). Damit ist bereits auf zwei weitere Aspekte des Agierens im Freudʼschen Sinn verwiesen: die Übertragung als Agieren und das Agieren außerhalb der analytischen Stunde. 1905, in der Aufarbeitung des Behandlungsabbruchs der eben ge-

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nannten Patientin Dora war das Agieren für Freud vor allem bezogen auf das Fortgehen aus der Analyse: Dora agiert ihren Rachewunsch, indem sie die Behandlung abbricht, statt darin über ihre Gefühle Freud gegenüber zu sprechen. Freuds Diskussion des Begriffs in der Arbeit Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten von 1914 folgt einem erweiterten Verständnis. Dort schreibt er über Fälle, in denen es keinen „erfreulich glatten Ablauf“ gebe, man könne sagen „der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt. Zum Beispiel: Der Analysierte erzählt nicht, er erinnere sich, daß er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt.“ (Freud 1914: 129). Hier wird nun nicht nur erneut die Gegenüberstellung von Agieren und Erinnern deutlich, sondern zudem ein zweiter für das Freudʼsche Begriffsverständnis von Agieren bedeutsamer, die Angelegenheit verkomplizierender Aspekt, nämlich dass sich Agieren in einem weiter gefassten Sinn auf das ‚Benehmen‘ des Analysanden gegenüber dem Analytiker bezieht. Als ein Agieren ist nicht allein Doras übertragungsgetragenes Abbrechen der Analyse zu verstehen, sondern auch z.B. ein trotziges oder ungläubiges Benehmen in der Analyse. Auch hier ist nun Agieren sehr eng an die Übertragung angebunden: Wiederholt der Analysand mit dem Analytiker etwas, das auch in seiner Beziehung zu den Eltern bedeutsam war, ist dies dann ein Agieren, wenn von ihm nicht erinnert werden kann (oder darf), was sich darin wiederholt (vgl. Laplanche/Pontalis 1967: 46f.). Der Widerstand, der sich im Agieren zu erkennen gibt, ist also in erster Linie ein Übertragungswiderstand, also ein Widerstand gegen die analytische Beziehung und das, was diese mit sich zu bringen droht. Laplanche und Pontalis (1967: 34) meinen, Agieren im Sinne der Zuflucht zur motorischen Aktion sei „im Zusammenhang mit der Übertragung zu verstehen und oft als ein Versuch, diese völlig zu verleugnen“. In Doras Behandlungsabbruch und dem „Benehmen gegen den Arzt“ zeigen sich zwei Dimensionen des Agierens, die etwas später von Otto Fenichel (1945) als „Agieren außerhalb einer Analyse“ und „Agieren innerhalb einer Analyse“ unterschieden worden sind (später: acting out und acting in). Besonders ungünstig sind natürlich die erstgenannten Fälle, und das nicht allein wegen eines etwaigen Behandlungsabbruchs, sondern auch deshalb, weil der Analytiker vom Agieren außerhalb einer Analyse nur dann überhaupt Kenntnis erhält, wenn der Analysand davon berichtet. Agieren ist, so kann zusammengefasst werden, als eine Kompromissbildung aufzufassen, die in dreierlei Weise spezifisch zu sein scheint: Zum einen handelt es sich nicht bloß um Kompromissvorstellungen, sondern um Kompromisshand-

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lungen, weiter um solche, die sich – ein infantiles Konfliktthema wiederholend – auf den Analytiker richten und in deren psychischer Repräsentation genau dieser Aspekt der Abwehr unterliegt, sowie letztlich um solche Handlungen, die der Triebabfuhr unter Einbeziehung der Motorik dienen. Agiert wird auf motorischhandelndem Weg eine Wunsch-Abwehr-Konstellation zum Zweck der Spannungsreduktion und des zumindest partiellen Aufrechterhaltens der Abwehr im Hinblick auf die Übertragungsbeziehung. Eine gesonderte Schwierigkeit im Begriff des Agierens entsteht angesichts des nahezu völligen Fehlens einer psychoanalytischen Handlungstheorie. Während bei Freud das Agieren dem Sprechen entgegensteht, lassen sich andere Ansätze finden, in denen berechtigterweise darauf hingewiesen wird, dass auch das Liegen und Sprechen auf der Couch (und ebenso das Schweigen) als Handlungen verstanden werden müssen. Loewald (1975: 366) gibt den Hinweis, dass es auch eine „action in speech“ gebe, und Busch (1989; 1995) legt ein Konzept der „action-thoughts“ vor, die er zum einen von „motoric actions which have symbolic meaning“ (und dem Agieren; Busch 1989: 542) und zum anderen von „thoughts expressed directly in words“ (a.a.O.: 535) unterscheidet. Action thoughts sind dabei angebunden an eine Auffassung einer „compulsion to repeat in action“ (a.a.O.: 536). Das bezieht sich auf die Art des Sprechens von Analysanden: „The vehicle by which action-thoughts are particularly suitable to be expressed in analysis is via the patient’s manner of talking. Thus, while the patient is expressing thoughts via words, their way of talking is expressing something else.“ (a.a.O.: 540). Diese Aspekte müssten weit ausführlicher diskutiert werden, als es an dieser Stelle möglich ist, mit dem Ziel der Formulierung eines psychoanalytischen Handlungskonzepts, das u.a. in Relation zu Intendiertheit oder Motilität zu setzen wäre. In diesem Kontext wäre auch Schafers (1976) Konzeption einer „Handlungssprache“ zu beachten, auf die ich weiter unten etwas genauer eingehen werde. Zu beachten ist ferner ein weiterer wichtiger Punkt des Konzepts, nämlich seine Doppelstruktur. Nicht nur muss im Agieren ein Widerstandsaspekt gesehen werden (gegenüber der Aufhebung der Verdrängung, dem Setting, den Grundregeln, der analytischen Beziehung), sondern notwendigerweise ebenso ein kommunikativer Aspekt, der im ganz eigentlichen Sinn dem Analytiker etwas vor Augen führt, das anders verborgen bleiben müsste. Ich komme später darauf zurück. Eine weitere Bemerkung zu den konzeptuellen Verzweigungen erscheint mir noch nötig zu sein, nämlich die Differenzierung zwischen dem Agieren und der französischen passage à l’acte (Lacan geht dem in seinem Angstseminar von 1962/1963 nach). Passage à l’acte meint zunächst einen psychiatrischen Begriff

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und bezieht sich auf diejenigen gewalttägigen und/oder kriminellen Handlungen, die Ausdruck eines beginnenden psychotischen Schubes sein können – die Attribuierung einer Handlung als passage à l’acte enthebt den Handelnden von seiner zivilrechtlichen Verantwortung (Evans 1996, S. 217). Lacan (1962/63) stellt nun heraus, inwiefern es – im Unterschied zum Agieren – ein „Fallenlassen“ vorführt, damit ist gemeint, dass hier der Bezug auf den Anderen gelöst, vor diesem gleichsam geflohen wird. Es ist nicht wie das Agieren „Anschnitt der Übertragung“ (s.u.), sondern deren radikale Zurückweisung. Im Hinblick auf die Psychodynamik der Psychose könnte man sagen, dass hier Selbst und Objekt zusammenfallen (bzw. ist es eine Identifizierung mit dem Objekt klein a), in einem Moment massivster Angst. Darin gibt es keine Botschaft und keine Sprache. Das Konzept des Agierens wandelt sich im Zusammenhang behandlungspraktischer und damit auch konzeptueller Überlegungen zur analytischen Beziehung, insbesondere im Umfeld der Ausdifferenzierung des Begriffs der Gegenübertragung. Fenichel (1945, S. 347) betont, dass eine Gefahr der analytischen Behandlung nicht in der Gegenübertragung des Analytikers liege, sondern im Agieren dieser. Damit gibt er den Hinweis, dass die Frage des Agierens des Analysanden notwendigerweise die Frage nach dem Mitagieren des Analytikers bzw. nach der Antwort des Analytikers darauf aufwirft. Ganz offensichtlich ist es ja nicht möglich, ein Agieren nicht zu beantworten – auch das abwartende NichtEinsteigen auf eine Handlung oder ein Handlungsangebot muss schließlich als Antwort und als Handlung verstanden werden. Im Zuge der behandlungstechnischen Aufwertung der Gegenübertragung ist ein weiterer wichtiger Einflussfaktor in der Begriffsgeschichte des Agierens die Einsicht gewesen, das analytische Geschehen stärker in Richtung gemeinsam gestalteter Szenen (in denen sich die lebensgeschichtlichen Wiederholungen des Analysanden zeigen, aber in Gestalt einer Neubildung) zu konzipieren. In diesem Zusammenhang schreibt Sandler (1976) von der „Bereitschaft zur Rollenübernahme“, die vom Analytiker gefordert ist, d.h. eine Haltung, die „sich auch in den offenen Reaktionen des Analytikers gegenüber dem Patienten, ebenso wie in seinen Gefühlen und Gedanken“ zeige, also „auch in seinen Einstellungen und seinem Verhalten und […] ein entscheidendes Element innerhalb der ‚nützlichen‘ Gegenübertragung dar[stellt]“ (Sandler 1976: 301). Josephs Konzeption der Übertragung als „total situation“ folgt einem ähnlichen Grundgedanken. Im deutschsprachigen Raum sind in ähnlicher Überlegung Konzeptionen des Szenischen und des szenischen Verstehens entwickelt worden, so von Argelander (1967) in klinischer und von Lorenzer (1970) in metatheoretischer Hinsicht (vgl. Storck 2018c). Und ferner ist Klüwers (1983) Gedanke eines Handlungsdialogs zu nennen, verstanden als ein „passagere[s] Mitagieren des Analytikers“ (Wolf

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2000: 706). Darin hebt Klüwer hervor: „Der Verbaldialog […] tendiert bei zunehmender Übertragungsaktualisierung dazu, in einen Handlungsdialog überzugehen, und muß, analog der Gegenübertragung, als mögliche Erkenntnisquelle in die selbstanalytische Reflexion mitaufgenommen werden.“ (a.a.O.: 838). Hier wird, so Wolf (2000: 706), „von beiden aktiv eine Szene gestaltet und damit Material für eine spätere analytische Bearbeitung geschaffen, das wegen der IchStörung des Patienten zunächst noch nicht verbalisierbar ist“. Nebenbei kann und muss hier angemerkt werden, dass meist angenommen wird, es seien Patienten mit schwereren Beeinträchtigungen in der psychischen Entwicklung, die dazu neigen, das Sprechen, Erinnern, Assoziieren oder Fantasieren durch Handlungen zu ersetzen. Klüwer (2001: 351f.; Kursiv. aufgeh. TS) unterscheidet dabei drei „aufeinanderfolgende Schritte jedes Handlungsdialogs“: Erstens gebe es ein „Auftauchen einer auf ein Objekt gerichteten Tendenz im Patienten, die bisher im inneren System des Unbewußten geschlafen hat“, zweitens sei das „Objekt […] der Tendenz sofort mit ihrem Auftreten auf der Bühne der analytischen Situation in Form eines ihn bewegenden Drucks ausgesetzt“, und diese Tendenz „erreicht ein Gegenüber und sucht es zu bewegen, jetzt den Therapeuten, früher in der Kindheit ein infantiles Objekt“. Schließlich habe es drittens um die „Auflösung des Handlungsdialogs“ zu gehen, die mit dem „Verstehen der entstandenen Verwicklung“ beginne. Dabei ist für Klüwer „immer damit zu rechnen, daß man sich in einem Enactment befindet“, jedoch wird es als prinzipiell möglich erachtet, eine Verstrickung im Moment ihres Geschehens zu erkennen. Damit ist bereits ein weiteres vergleichbares Konzept erwähnt, nämlich das 1986 von Jacobs erstmals erwähnte Enactment, das im internationalen Sprachgebrauch das acting out weitgehend abgelöst zu haben scheint (während die Konzepte von Szene oder Handlungsdialog als solche fast ausschließlich auf deutschsprachige Arbeiten beschränkt bleiben). Jacobs argumentiert, es seien „those subtle, often scarcely visible countertransference reactions“, die den „greatest impact on our analytic work“ hätten (Jacobs 1986: 289). Das Konzept des Enactments bezieht sich auf „the analyst’s inadvertent actualization of the patient’s transference fantasies“ (Ivey 2008: 19). Dessen Agieren erzeuge „a certain pressure to act“ (Jimenez/Fonagy 2011) gegenüber dem Analytiker in Folge der in der Übertragungsbeziehung aktualisierten Wünsche und Fantasien. Es ist dabei die gemeinsame Konstellation der Handlungen beider, Analytiker und Analysand, die als Enactment bezeichnet wird. Um das Konzept ranken sich weit verzweigte inner-psychoanalytische Diskussionen, die von Ivey (2008) als „enactment controversies“ bezeichnet worden sind. Ich werde diese nicht im Einzelnen nachzeichnen, es muss der Hinweis ge-

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nügen, dass aus der Perspektive der Freud-Klein-Richtung argumentiert wird, dass Enactments zwar unvermeidlich, aber ungünstig bis schädigend seien, insofern nämlich, als sie eine (passagere) Intoleranz des Analytikers anzeigen würden, einen ihm von Seiten des Analysanden (projektiv-identifikatorisch) kommunizierten Spannungszustand aushalten (containen) zu können (also eine Form des Gegen-Widerstands und der Spannungsabfuhr). Das würde den Analysanden schlimmstenfalls in der Angst bestätigen, dass kein Umgang damit und kein Platz in einer Beziehung dafür gefunden werden kann. Dieser Perspektive steht die Haltung der sogenannten relationalen Psychoanalyse gegenüber, die die Position vertritt, dass Enactments und deren gemeinsame Reflexion mit dem Analysanden der entscheidende Aspekt analytischer Arbeit sei, insofern dort, unter Einschluss eines höheren Maßes an self-disclosure seitens des „mit offen Karten spielenden“ Analytikers (Renik 1999), Beziehungsaspekte beleuchtet werden könnten. Eine Mittelposition findet sich dort, wo die Unausweichlichkeit und der Nutzen eines Verwickelt-Seins des Analytikers in Begriffe gefasst wird – so etwa von Hinz (2002), der formuliert: „Wer nicht verwickelt wird, spielt auch keine Rolle“. (Eine deutlich anders akzentuierte Bedeutung von Agieren und Enactment, ebenso wie von Widerstand und Übertragung, muss für stationäre und teilstationäre Behandlungssettings in Betracht gezogen werden, da hier die Ebene von „Sprechen und Zuhören“ des ambulanten Settings soziotherapeutisch erweitert wird.) Eine weitere Fortführung hat das Konzeptfeld des Agierens im Zusammenhang von Konzeptionen von Inszenierung und/oder Performanz gefunden. Schmidt (2003: 889) setzt Enactment und „handelnde[.] Inszenierung“ zueinander im Sinne eines „zunächst handelnden Erinnerns“ in Beziehung. Von einer Inszenierung spricht auch Holderegger (2005), und Pflichthofer (2008: 50f.) meint, eine solche sei „keine bloße Darstellungs-, sondern auch eine Erzeugungsstrategie […] Der Analysand ‚wiederholt‘ nicht bloß seine Vergangenheit, indem er sie ‚in Szene setzt‘, sondern er erlebt gerade eine neue, bis dahin eben noch nicht dagewesene Situation“, in der eine Reaktion erzeugt werde. Auch Scharff (2009: 14) greift auf den Ausdruck ‚Inszenierung‘ zurück, wenn er die „vorbewußt und bewußt operierenden Gestaltungmöglichkeiten“ des Analytikers „unter dem Begriff der psychodramatisch-inszenierenden Seite unserer Interventionen fassen“ möchte. Einen ähnlichen Ausgangspunkt nehmen Überlegungen zur psychoanalytischen Adaption des kulturwissenschaftlichen Konzepts der Performanz (Pflichthofer 2008; Danckwardt/Wegner 2007). Danckwardt/ Wegner (2007: 1120) verknüpfen das Enactment-Konzept mit demjenigen der performance, beide hätten „similar meanings, both involving putting up on a stage“. Zugleich bestünde ein Unterschied, insofern sich Performanz aus ihrer Sicht

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auf eine andere Art der Produktion bezieht: „The analyst is not only pulled in as a spectator […], he also becomes […] forced into a role in an unconscious script of the analysand that already exists. In a performance, the analyst is included as ‚material for the show‘“ (Danckwardt/Wegner 2007: 1121). Der Analysand leihe sich dafür Teile des Analytikers aus, was von den Autoren als eine „annihilation“ konzeptualisiert wird. Der theoretische Kerngedanke ist, dass im Performance-Akt im Sinne der Autoren, anders als im Enactment, ein vorsymbolisches Funktionieren anzunehmen sei, eines, in dem das Gegenüber als materiales Objekt erlebt wird: „A performance rather emanates out of and into the analyst. In a performance, a one-person psychology and a monologue in action prevail“ (a.a.O.). Dies wird aufgefasst als das Zerstören einer Beziehung, um eine neue möglich werden zu lassen, und insofern liegt in dieser ‚annihilatorischen‘ Auffassung der Performanz neben dem destruktiven auch ein potentiell kreatives Element. Ein letzter Aspekt einer Sicht auf Agieren und Enactment, die das Handeln des Analytikers darin aufgreift, besteht schließlich in den Konsequenzen für eine Ethik der Psychoanalyse; ist doch immer auch der schmale Grat zwischen Grenzüberschreitung und Grenzzerstörung berührt. Der wesentliche Punkt einer Ethik liegt hier m.E. darin, wie die Antwort des Analytikers auf das Agieren des Patienten bzw. sein Anteil am Geschehen metapsychologisch verstanden wird. Ich halte es für ungünstig, von einem Mitagieren zu sprechen, und zwar insofern, als es der wesentliche Punkt des Agierens des Analysanden ist, dass der Objektbezug der Handlung abgewehrt wird, d.h. das Bezogensein des Agierens auf den Analytiker. Dieser Bezug der Handlung auf das Objekt, und hier genauer noch auf das Objekt Analysand, ist in umgekehrter Richtung nun etwas, das der Analytiker seinerseits aus behandlungstechnischer wie -ethischer Perspektive nicht aus dem Blick verlieren darf: Was er tut oder sagt und nicht tut und nicht sagt, ist auf den Analysanden als Analysanden bezogen und dessen muss er gewahr bleiben.

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Diesen zuletzt genannten Aspekt gilt es, etwas genauer zu beleuchten. Zum einen möchte ich daher einen Blick auf die beziehungshafte Dimension des Agierens werfen, zum anderen die Frage aufgreifen, wie Verstehenszugänge zum Agieren und Agierten gefunden werden können. Das soll auch die Brücke dazu liefern, die Relevanz der psychoanalytischen Konzepte für den Agency-Diskurs zu prüfen.

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Im Hinblick auf die Handlung selbst, die als Agieren bezeichnet wird, ist zu sagen, dass ihr nicht prinzipiell anzusehen oder an ihr abzulesen ist, dass es sich bei ihr um ein Agieren handelt. Das heißt zum Beispiel, dass man nicht sagen könnte, Drogenkonsum im Anschluss an eine analytische Stunde wäre ein Agieren, der Mutter Blumen Kaufen keines, oder umgekehrt. Vielmehr wird eine Handlung erkenntnislogisch zu etwas, das als Agieren bezeichnet werden kann, wenn sie als ein solches vom Analytiker angesehen wird, insofern er sie und ihre möglichen Bedeutungen auf die Übertragungsbeziehung bezieht. Das Kriterium, eine Handlung als Agieren aufzufassen, ist ihr „link to the analytic process, especially to the transference“ (Roughton 1995: 130f.). Damit ist in besonderer Weise im Konzept des Agierens eine notwendige technisch-psychoanalytische Setzung zu sehen: Die berichtete oder sich vollziehende (motorische) Handlung wird als auf den Analytiker und die Beziehung zu ihm bezogen aufgefasst. Auch im Verständnis Lacans (1962/63: 155) ist der Hinweis auf die Bezogenheit des Agierens zentral: „Der demonstrative Aspekt eines jeden acting out, seine Ausrichtung hin auf den Anderen, muss festgehalten werden.“ Dabei rufe „das acting out […] nach der Deutung“ (a.a.O.: 158), und „[i]m Unterschied zum Symptom ist das acting out wiederum, nun ja, der Anschnitt der Übertragung. Es ist wilde Übertragung.“ (a.a.O.: 159). Wenn also etwas „ein acting out [ist]“, dann „richtet es sich an den Anderen, und wenn man in Analyse ist, richtet es sich also an den Analytiker“ (a.a.O.: 161). Auch Greenson (1967: 260; vgl. Bird 1957) bezeichnet das Agieren treffend als „Griff nach dem Objekt“. Dabei liegt der Clou darin, dass eben dieser Objektbezug/Beziehungsaspekt es ist, der abgewehrt wird. Oben habe ich auf die Verwobenheit von Widerstand und Kommunikation hingewiesen, man könnte auch sagen, das Agieren sei eine Kompromissbildung aus Beziehung und Nicht-Beziehung. Worum ES sich im Agieren also handelt, sind die widerstreitenden Wünsche und Affekte gegenüber dem Analytiker, wie sie sich in der Analyse aktualisieren. Dass das Agieren im Bezogensein auf die Übertragung diesen Beziehungsaspekt gerade abwehrt, muss zum Gegenstand der analytischen Interventionen werden. Das Agieren soll in seinem Bezug auf die Übertragungssituation und dann „sofort“ gedeutet werden (Freud nach Fenichel 1945: 347), denn „[d]en Charakter einer Mitteilung bekommt das Agieren erst durch die Deutung des Analytikers“ (Zepf/ Zepf/Hartmann 2002: 209). Die Deutung unbewusster Konflikte und Fantasien ist nur sinnvoll bzw. kann nur dann eine Veränderung bewirken, wenn diese eine Aktualisierung in der gegenwärtigen Beziehung erfahren haben, und das heißt: indem der Analytiker das Gesagte und das Sich-Ereignende auf sich bezieht. Im Agieren ist also analytisch zu verstehen, dass es um Beziehungshaftes geht, das inszenierend wiederholt wird – und zwar deshalb in Handlungen statt

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in Denken und Sprechen, weil es zu ängstigend ist. Ich habe daher den Vorschlag gemacht, eine Freudʼsche Formulierung umzuwenden, um verständlich zu machen, wie Widerstand und Kommunikation zusammen zu denken sind und das Agieren dahingehend verstanden werden kann. Freud bezeichnet an mehreren Stellen das Denken als Probehandeln, so etwa: „Die notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen Abfuhr (des Handelns) wurde durch den Denkprozeß besorgt, welcher sich aus dem Vorstellen herausbildete. Das Denken wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem seelischen Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung während des Aufschubs der Abfuhr ermöglichten. Es ist im Wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben.“ (Freud 1911: 233)

Etwas probeweise denken zu können, statt die vorzustellende Handlung auszuüben, vollzieht sich in diesem Sinn als „Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten“ im Zuge einer „Aufhaltung der motorischen Abfuhr“, wozu das „Ertragen der erhöhten Reizspannung“ erforderlich ist. An anderer Stelle beschreibt Freud denselben Zusammenhang mittels einer Analogie: „Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen, ähnlich wie die Verschiebungen kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt.“ (Freud 1933: 96). Der agierende Patient macht es nun umgekehrt: Für ihn ist der strategische Ernstfall nicht die Bewegung, sondern das Denken. Das Denken als Probehandeln steht hier (zumindest passager) nicht zur Verfügung und die „erhöhte Reizspannung“ während des „Aufschubs der Abfuhr“ ist nicht ertragbar, sodass nur der Weg in die Handlung offensteht. Es kann für den Fall des Agierens also vielmehr ein Handeln als ein probeweises Denken angenommen werden2. Ob ein In-Beziehung-Stehen psychisch bzw. emotional ausgehalten werden kann, muss ausprobiert werden. Zieht man weiter eine dritte Bemerkung Freuds zum Denken als Probehandeln hinzu, dann wird auch die Figur der Umwendung deutlicher: „Das Urteilen ist die intellektuelle Aktion, die über die Wahl der motorischen Aktion entscheidet, dem Denkaufschub ein Ende setzt und vom Denken zum Handeln überleitet. […] [Der] Denkaufschub […] ist als eine Probeaktion zu betrachten, ein motorisches Tasten mit geringen Abfuhraufwänden. […] Nach unserer Annahme ist [...] die Wahrnehmung kein rein passiver Vorgang, sondern das Ich schickt periodisch kleine Besetzungsmengen

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Diese Wendung gebraucht auch Scharff (2010, S. 147).

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in das Wahrnehmungssystem, mittels deren es die äußeren Reize verkostet, um sich nach jedem solchen tastenden Vorstoß wieder zurückzuziehen.“ (Freud 1925: 14)

Beim Agieren nun, verstanden im Sinne eines Handelns als Probe-Denken, entscheiden die motorische Aktion und deren Folgen darüber, was gedacht werden kann: Es ist gerade ein „motorisches Tasten“ mit hohen Abfuhraufwänden, es werden die inneren Reize, und d.h. Beziehungsvorstellungen, tastend „verkostet“, indem motorische Abfuhr geschieht. Dies vermeidet nun nicht einfach Unlust, ist nicht bloß gelingender kontraphobischer Akt. Dies ist anzunehmen, da es nicht um das Ver-Handeln irgendeines Denkens geht, sondern präzise um eine an die motorische Handlung delegierte Form des Herantastens an Ambivalenz, an Beziehungswünsche und -ängste, und zwar solche, die sich auf die Übertragungsbeziehung und den Analytiker richten. Dies ist es, was im Agieren ver-handelt wird. Dies wiederum kann man sich vorstellen als ein Doing transference, eine Vor- bzw. NebenStufe der Übertragung. In der Konsequenz ist das erlebnis- und handlungsmäßige Sich-Bewegen in der Übertragung ein performativer Akt: Austin (1962) zufolge vollziehen sich performative Äußerungen durch Autorisierung und Rahmung (vgl. Wirth 2002). Auch das Agieren erhält eine Rahmung durch den deutenden Bezug auf die Übertragung, d.h. indem die performative, szenische, gerade nicht sprachliche Äußerung des Analysanden derart gehört wird, dass sich in ihr etwas vermittelt, für das in der talking cure Psychoanalyse (noch) die Worte fehlen. Das zeigt unter anderem, wie sich psychoanalytisches Verstehen, insofern es sich mit unbewussten Bedeutungen beschäftigen will, immer mit der Aufgabe konfrontiert sieht, auch jenseits der Sprache zu operieren, d.h. an der Grenze des Sinns und im Bereich der Vermeidung, Zerstörung oder radikalen Abwesenheit von Sinn. Angehrn (2010 u.a.) hat in einigen Arbeiten die Negativität der Psychoanalyse begreiflich zu machen versucht, ich habe für die Entwicklung einer negativen psychoanalytischen Hermeneutik argumentiert (Storck 2014; 2016; auch Warsitz/Küchenhoff 2015), in denen Nichtverstehen, Missverstehen und Andersverstehen im Zentrum stehen.

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4.

D ER B EITRAG DER P SYCHOANALYSE ZUM E NIGMA DER A GENCY

Welches sind nun die Beiträge der Psychoanalyse zur Agency, in enigmatischer oder de-nigmatischer, erhellender Hinsicht? Ich nehme dazu Aspekte von Determiniertheit und Wiederholungszwang innerhalb des psychoanalytischen Theoriegebäudes zum Ausgangspunkt, um von dort zu zwei Problembereichen der Agency zu kommen (nämlich unbewusste Agency und Ambivalenz in der Agency), auf welche die Psychoanalyse hinweisen und zu deren Thematisierung sie etwas beizutragen haben könnte. Psychoanalytische Arbeiten haben sich in einigen wenigen Fällen in einer direkten Auseinandersetzung mit dem Konzept der Agency oder diesem zugrundeliegenden Denkfiguren beschäftigt. Als zumindest impliziter Ausgangspunkt kann dabei Schafers (1976) Handlungssprache dienen, durch welche er die Freudʼsche Metapsychologie ersetzen zu können meint. Es geht ihm darin um den Versuch einer Betrachtung von „jede[m] psychischen Vorgang, jede[m] Ereignis, Erlebnis oder Verhalten als eine Art von Tätigkeit […], die wir von nun an eine Handlung nennen wollen“. Dabei sollen Handlungen „mit einem aktiven Verb bezeichne[t werden], das ihren Charakter angibt, und, sofern nötig, mit einem Adverb (oder einem adverbialen Ausdruck), das den Modus dieser Handlung angibt.“ (Schafer 1976: 22). Schafer formuliert einige weitere Regeln: Es soll keine „Ortsangaben“ bzgl. des Psychischen gehen, die Hilfsverben haben/sein/werden sollen vermieden, keine Passiva verwendet und „knappe, schmucklose, einsilbige Formen“ gebraucht werden, die aktiv und tätigkeitsbezogen sind: „Wir müssen folglich alles Denken einfach als eine bestimmte Art Handeln verstehen“ (a.a.O.: S. 27). Ich kann an dieser Stelle keine Kritik dieser Auffassung vorlegen, sondern lediglich darauf verweisen, dass, die psychoanalytische Metapsychologie zu verabschieden, gravierende Schwierigkeiten in der Begründungsstruktur psychoanalytischen Denkens nach sich zieht. Allerdings kann ausgehend von den Überlegungen Schafers auf psychoanalytische AgencyÜberlegungen geblickt werden. Das Konzept findet in erster Linie in der zeitgenössischen psychoanalytischen Selbstpsychologie bzw. der relationalen Psychoanalyse Beachtung. Wenn in allgemeiner Weise die Frage aufgeworfen wird, wie das dynamisch Unbewusste als Gegenstand der Psychoanalyse sich zur Agency stellt, dann rekurriert beispielsweise Frie (2008) darauf, dass Freud „attributed agency to the psychic apparatus, not to the person. Indeed, I would argue that Freud had less interest in the person per se than in showing how the psychic apparatus functions. As a result, it is not always clear who is acting: the apparatus or the per-

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son. Psychological agency, in Freudʼs project, is curiously depersonalized.“ (Frie 2008: 369). Ein anderer Bereich betrifft das Verhältnis von Agency zu den Zielen psychoanalytischen Arbeitens. So meint etwa Caston (2011: 907): „Competent agency is a basic assumption of psychoanalytic change“ bzw. dass „through treatment we can become freer, […] showing changes toward greater agency“ (a.a.O.: 908), im Sinne einer (relativen) Freiheit von „conflictedness“. Er benennt drei Marker für Agency: „reversibility“, „self-observation“ und „appropriateness“. Hier taucht Agency eher als Gegenspieler zum Unbewussten auf, die Idee einer unbewussten Agency wird indirekt in den Bereich des Symptoms verlegt. Beachtet werden muss allerdings auch das Argument von Safran (2016), in dem zumindest die Frage aufgeworfen wird, in welcher Weise der Anspruch auf Agency (in einem bestimmten Sinn) als eine Omnipotenz-Fantasie angesehen werden muss. Slavin (2016) diskutiert von einem anderen Standpunkt aus die Sexualität als Grundlage oder Quelle von Agency, betont aber zugleich die gegenläufige Richtung, nämlich das Erwachsen der Sexualität aus der Erfahrung von Agency: „Perhaps we can further say that the experience of agency is the medium par excellence for the construction of ourselves as sexual beings.“ (Slavin 2016: 16) Eine Position wie die Greenbergs (2013: 73) schließlich, in der ein Moment von Differenz oder Alterität einbezogen wird, steht eher am Rand: „[W]hen we presume and insist on agency we immerse ourselves, inescapably, in otherness. We are thus bound to view the psychoanalytic situation as one in which two people act upon each other continuously.“ Ich folge im Weiteren nicht der Mehrheit der Meinungen zu Psychoanalyse und Agency, wie sie sich in Veröffentlichungen der vergangenen Jahre ergeben hat, welche die Kohärenz des Selbst und/oder die potentielle und analytisch erstrebenswerte relative Konfliktfreiheit (im Dienste der Freiheit von Wille, Entscheidung oder Erleben) in den Mittelpunkt setzen. Vielmehr vertrete ich einen grundlegenden Standpunkt, dass es gerade die Determiniertheit (in einem spezifischen Sinn) durch Unbewusstes ist, die Freiheit gewährleistet – aber eben damit nicht bloße Selbsttransparenz oder ein Höchstmaß an Bewusstheit. In der psychoanalytischen Theorie findet man Denkfiguren, die mit den Wirkungen unbewusster Motivstrukturen zu tun haben, in erster Linie bezogen auf Trieb und unbewusste Fantasie (Storck, 2018a). So ist etwa die Rede davon, in der freien Assoziation (der psychoanalytischen Grundregel für den Analysanden, ohne Vorauswahl alles zu sagen, was ihm in den Sinn kommt) komme „nach der Unterdrückung aller bewussten Denkabsichten eine Determinierung der Einfälle durch das unbewusste Material zum Vorschein“ (Freud 1924: 410f.). Gemeint ist damit, dass in der spontanen Rede „Wunschanziehungen“ und „Seitenbesetzun-

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gen“, also die lebensgeschichtlich gebildeten Verknüpfungen von Vorstellungen miteinander deutlich werden (nicht zuletzt die Abwehrbewegungen). Von daher sind sowohl „freie“ Assoziation als auch „Determinierung“ (welche die freie Assoziation gerade unfrei werden lässt) in ihren jeweils besonderen Bedeutungen zu betrachten: Unsere Triebstruktur determiniert unser Denken, Fühlen, Begehren oder Handeln nicht dahingehend, dass diese dadurch festgesetzt wären, sondern, so Freuds Betonung, unser „Ich“ ist nicht „Herr im eigenen Haus“ – was wir für unsere freien, spontanen, gar zufälligen Einfälle halten, folgt konsequent unserer psychischen Struktur auf der Grundlage ihrer Geschichte. Und diese psychische Struktur ist aus psychoanalytischer Sicht getragen von dynamisch unbewussten Prozessen. Die „Determinierung“ ist dabei erst dann eine festgesetzte, starre und undynamische, wenn die Abwehrbemühungen gegenüber den Triebimpulsen (die definitionsgemäß nicht geordnet sind) allzu sehr die Oberhand gewinnen – also in der (neurotischen) Symptombildung, die sich dadurch auszeichnet, als Kompromissbildung zwar für unbewusste Trieb-Abwehr-Konflikte eine „Lösung“ bereitzustellen, für die aber der Preis einer mehr oder minder hohen Einschränkung der Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten gezahlt wird. In diesem Feld bewegt sich auch der psychoanalytische Begriff des Wiederholungszwangs, insofern dieser zwei Konzeptbedeutungen zeitigt, die sich in der Freudʼschen Verwendung zwischen 1914 und 1920 abbilden: Zum einen ist der Wiederholungszwang auf der Seite der Abwehr und der Symptombildung situiert (und bezieht sich damit auf ein eher statisches Phänomen: die habituelle, wiederkehrende Ersatzbildung im Symptom, die gleichbleibt, weil sie eine psychoökonomische Funktion erfüllt, nämlich die Vermeidung von Angst und Unlust), zum anderen bezieht der Begriff sich auf das Element der Wiederholung, wie es im Pulsieren des Triebes, in dessen Kreisbahn o.Ä. wirksam ist. Hier geht es um einen eher Kierkegaardʼschen Begriff, der ungleich dynamischer ist und in dem Differenz und Neuschöpfung enthalten sind. Determinierung und Freiheit, wenngleich keine genuin oder auch nur häufig gebrauchten psychoanalytischen Vokabeln, zeigen sich auch im Agieren, spätestens dann, wenn man dies als eine Art „(freie) Handlungsassoziation“ begreift. Auch hier ist etwas durch die Wirkung von Trieb und Abwehr (und psychischer Struktur) gekennzeichnet. Im Hinblick auf Agency ist das interessante Moment, dass potentiell Zuschreibungen von Handlungsmächtigkeit erfolgen, etwa im Fall Frau J.s, die sagen könnte: „Ich habe mich verletzt“ oder „Ich bin in die Notaufnahme gegangen, um zu wissen, wie ernst meine Verletzung ist“ o.Ä. Allerdings hat in der Szene auch etwas in ihr gewirkt, dass zunächst nicht reflektierbar, und d.h. hier dem Selbst als Akteur nicht zuschreibbar, ist. Nicht sagen

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kann Frau J. etwas wie „Es hat mir Angst gemacht, mich auf die Behandlung einzulassen“ oder „Lieber wäre es mir, wenn ich eine Behandlung bekäme, die nicht mit Gefühlen, Beziehung und meinem aktiven Beitrag dazu zu tun hätte“. Gleichwohl ist anzunehmen, dass solche Aspekte eine Rolle spielen, darum handelt ES sich in ihrem Agieren. Denn sagen kann sie es nicht, was los ist, aber sie kann tun, was los ist. Sie kann sogar gar nicht anders, als es zu tun. In der Handlung setzt sich etwas von ihr in Szene, und das durchaus in einer handlungsmächtigen Weise. Das verweist auf die beiden oben von mir anvisierten Problembereiche der Agency: Zum einen nämlich kann hier das Vorliegen eines Falles von unbewusster Agency angenommen werden (die Handlungsmächtigkeit des eigenen Fremden; im Sinne eines dynamisch Unbewussten; Storck 2018b), zum anderen wird die Frage aufgeworfen, welchen Platz Ambivalenz in der Agency haben kann. Beide Bereiche kann ich nur benennen und einige Skizzen zur weiteren Diskussion anbieten. Das Problem der unbewussten Agency im Agieren hat sich vor allem damit auseinanderzusetzen, dass hier das Sprechen umgangen wird, und mehr noch: dass es um eine funktionale Veränderung in den Möglichkeiten der Zuschreibungen von Absichten o.Ä. an das Selbst geht. Handlungsmächtigkeit ist hier etwas, das in Handlungen stattfindet, und per Definition ergibt sich ein Bruch zwischen dem, was potentiell als Text oder Sprache gebildet werden kann, und den Motiv- bzw. Steuerungskräften. Wie auch das psychoanalytische Verstehen müsste sich dann eine begriffliche Konzeption von Agency mit der Negativität (als Bewegungsprinzip?) in Handlungszuschreibungen und -ermächtigungen beschäftigen (in erster Linie: mit dem Sinn der Vermeidung sprachlichen Sinns). Ähnlich schwierig sieht es mit der Ambivalenz der Agency aus. Frau J. „sagt“ in ihrem Agieren, dass sie zum einen Angst vor der Behandlung hat, vor einer allgemeinen affektiven Überflutung mit Angst, Scham, Schuld, Wut, Verzweiflung zum Beispiel, aber ebenso vor der Intimität und Nähe zu Anderen, einschließlich der Behandelnden. Aber zum anderen zeigen sich auch große Sehnsüchte, Versorgungs- und Nähewünsche, die sich in der Notaufnahme, aber in einer somatischen Abteilung, oder darin zeigen, dass sie ihre Sporttasche vorschickt. Eine begriffliche Fassung von Agency müsste also einbegreifen, dass in Handlung statt in Verbalisierungen „gesagt“ wird: „Ich habe Angst vor der Behandlung und möchte nicht wiederkommen“ und im selben Moment „Ich möchte, dass sich jemand um mich kümmert, damit es mir besser geht“. Behandlungstechnisch lässt sich mit diesen Inszenierungen und den sich darin zeigenden Ambivalenzen mehr oder weniger gut arbeiten, ein wichtiges Ziel der Arbeit mit Frau J. wäre ja, über das Widerstreitende darin zu sprechen.

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Auf unbewusste Agency zu blicken, die deshalb mit Unbewusstem zu tun hat, weil es ambivalente Gefühle und Motive gibt sowie die drohende Angst, die handeln statt sprechen lässt, hat dann auch damit zu tun, dass dem Analysanden Handlungsmächtigkeit zugeschrieben wird, aber in Anbetracht dessen, dass er seine Performativität in ihrer Beziehungsbedeutung (noch) nicht erkennt. Das müsste ein ambivalenzinformierter Agency-Begriff umfassen können. Beim psychoanalytischen Agieren handelt es sich um Unbewusstes, Konflikthaftes und die Sprache Unterlaufendes oder Umgehendes. Das stellt für den Agency-Begriff eine ebensolche Herausforderung dar, wie es für die Entwicklung einer den Agency-Begriff nutzenden psychoanalytischen Handlungstheorie der Fall ist.

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Agieren und Handeln: ein Chiasma zwischen Freiheit und Zwang A LICE P ECHRIGGL

Im Folgenden werde ich eine Frage diskutieren, die im Zentrum eines längeren Projekts zur Erhellung des semantischen Spannungsfeldes zwischen Agieren und Handeln steht (Pechriggl 2018). Es ist die Frage nach der Grenze bzw. nach der Permeabilität der Grenze zwischen dem unbewussten oder nicht bewussten Agieren an einem Pol des semantischen Felds von Agency und deliberativem Handeln am anderen Pol, insofern es als Deliberatio oder Boulesis, d.h. als Beraten und Entscheiden bzw. als Mit-sich- und Mit-Anderen-zu-Rate-Gehen a priori bewusst und zielorientiert ist. Spezifischer geht es mir um die Überkreuzlegung der herkömmlichen Gegensatzpaare von rationalem Handeln und irrationalem Agieren. Agieren nenne ich zuerst das, was im Anschluss an Freuds Gebrauch des Begriffs gemeinhin auch Ausagieren (von unbewussten oder unterdrückten Affekten oder Wünschen) genannt wird. Wie Storck in seinem Aufsatz im vorliegenden Buch ausführt, ist Agieren bei Freud im Rahmen der Übertragung angesiedelt.1 Es ist wichtig, für die Begriffsgenese daran zu erinnern; doch es ist die seit langem über die psychotherapeutische Semantik hinausgehende Entgrenzung des Begriffs auf Alltagssituationen, die ihm eine für die philosophische Handlungstheorie nunmehr unumgängliche Bedeutung verleiht.

1

„[...] der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt. Zum Beispiel: Der Analysierte erzählt nicht, er erinnere sich, daß er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt.“ (Freud 1914: 129)

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Diese handlungstheoretische Bedeutung von „Agieren“ ist Ausgangspunkt für meine philosophische Begriffsbildung. Was in der Philosophie und oftmals auch darüber hinaus Handeln genannt wird, ist vor allem das bewusste Tun im Sinne der Deliberatio, das mit sich und/oder anderen bzw. mit sich als zwei oder mehreren zu Rate Gehen (auch wenn der Handlungsbegriff zum Beispiel in den Sozialwissenschaften auch nicht- oder vorbewusstes Tun einschließt). Ich behandle das erwähnte Spannungsfeld zwischen Agieren und Handeln also über das Chiasma „Zwang zu Agieren/Freiheit zu Handeln“ und „freies Agieren/ Handlungszwang bzw. Zwangshandlung“. Aus diesem Chiasma heraus erscheinen mir Praxis, Tun und schließlich Handeln im engeren Sinn der Deliberatio besser erhellbar. Ich gehe zuerst von einem Subjektbegriff auf allen Ebenen von agency im übergreifenden Sinn aus. Dieser umfasst Einzelne, Gruppen und Gesellschaften, insofern sie als für sich seiende Instanz, das heißt selbstreflexiv, aktiv, aber immer auch passiv an einem Vollzug beteiligt sind. Im Altgriechischen gibt es eine grammatikalische Form zwischen Aktiv und Passiv: Medium. Sie wird für Reflexivverben verwendet, aber auch für alle Vollzüge, die vollzogen und zugleich erlitten werden, die durch die Subjekte gleichsam hindurchgehen, sie passieren bzw. ihnen passieren. Dieses Passieren ist gerade für das Agieren relevant, weil die Subjekte des Agierens die Aktion oftmals als etwas wahrnehmen, das ihnen passiert ist, bevor sie eventuell eine andere, mehr als Handeln einzustufende Haltung dazu einnehmen. Die Vollzüge sind einmal bewusster und verantwortlicher, ein anderes Mal unbewusst und dennoch verantwortlich oder unbedacht und unverantwortlich, mehr getrieben als planend oder aktiv am Werk. Das Spektrum der Attribuierungsweisen einer Handlung oder eines Vollzugsgefüges zu einem Wer ist schier unendlich und schließt ja zunehmend auch Cyborgs und andere Hybride ein, ebenso Berliner Schlüssel, Geschlechterapparate und sonstige nicht dem Reich des Bios oder der Gattung Mensch zugehörende Aktanten. Das Spannungsfeld Agieren und Handeln behalte ich allerdings dem menschlichen Vollziehen vor.

1.

T RANSZENDENTALES S PANUNGSFELD / V IER P HASEN DES V OLLUZGS

Wird das Spannungsfeld Agieren und Handeln aus einer transzendentalen Perspektive betrachtet, dann sollte über die ontologischen Kategorien des Werdens und des Vergehens, über Raum-Zeit und über die für alle Vollzüge relevanten grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit für Agieren und Handeln nachge-

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dacht werden, die ich allerdings im Konkreten des GesellschaftlichGeschichtlichen ansiedle und nicht im rein Begrifflich-Intelligiblen. Im Zentrum einer solchen Entwicklung steht eine Emergenzontologie, die dem Oszillieren zwischen Agieren und Handeln besser gerecht werden soll als die zumeist noch gebräuchliche Aristotelische Ursachenontologie, die der Philosoph in der Metaphysik entwickelte und in fast allen seinen Werken – der jeweiligen Seinsweise gemäß – angewendet hat. Form-, Stoff-, Wirk- und Zweckursache. Dieses Abgehen von Aristoteles bedeutet nicht, dass er für das erwähnte Projekt nicht einer der wichtigsten Autoren wäre. Ich beanspruche im Übrigen nicht, Metaphysik im starken Sinn zu betreiben: Wenn ich von Emergenzontologie spreche, meine ich damit das begriffliche Erhellen des Seins als Werden und Vergehen im Register menschlichen Vollzugs. Dieser schließt Agieren, Handeln, Tun, Machen etc. ein, wobei ich mich hier auf das Spannungsfeld zwischen unbewusstem Agieren und explizit deliberativem Handeln in dem anderen Spannungsfeld zwischen Autonomie (Freiheit) und Heteronomie (Zwang) konzentriere. Es handelt sich bei dieser Emergenzontologie um das Gefüge der „vier Phasen des Vollzugs“, die gleichsam als konkrete Transzendentalien der Hervorbringung auf alle Vollzüge im Spannungsfeld von Agieren und Handeln angewandt werden können: 1) Potenz und ihre Aktualisierung (Vollziehbarkeit hinsichtlich der Kraft der Umsetzung), ich nenne sie die Phase der mise en acte 2) Kreativität (die Fähigkeit, neue Eiden bzw. Gestalten und damit neues Sein hervorzubringen), in actu nenne ich sie die Phase der mise en scène, die im Bereich des Imaginären angesiedelt ist 3) Logos (In-Sinn-Setzbarkeit als Akt oder deliberative und verantwortliche Handlung), in actu nenne ich sie die Phase der mise en sens 4) Chaos als die Negativität, also die ständige Möglichkeitsbedingung des Zerfalls (von Formen/Szenen, Zusammenhängen, Machtverbindungen, Legierungen etc.), in actu nenne ich sie die Phase der mise en abîme. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Tuns zwischen (unbewusstem bzw. vorbewusstem) Agieren und deliberativem Handeln betrifft also nicht nur die psychologischen Dispositionen des Menschen (orektische, affektive, repräsentationale bzw. kognitive Dispositionen und die Qualitäten unbewusst/ vorbewusst/bewusst), sie betrifft auch diese seinskategorialen Begriffe. Die vier Phasen des Vollzugs sind in je unterschiedlicher Anordnung und Verknüpfung in unterschiedlichen Handlungs- bzw. Agierensmodi am Werk. Sie

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orientieren sich sowohl an den transzendentalen Kategorien als auch an den psychischen Haltungen des Volitiv-Begehrenden und Affektiven (mise en acte bzw. Erleiden als dessen Hemmung), des Szenisch-Repräsentationalen (mise en scène) und des Kognitiv-Rationalen (mise en sens), sodann an der Folie der Negativität (mise en abîme). Dabei ist mit der Gerichtetheit, der Motivation und der Teleologie bzw. ihrem Negativ, der Repulsion, der Angst/Unlust oder der Hemmung, im Aktionsvollzug nicht a priori Bewusstsein vorausgesetzt. Das impliziert nun zweierlei: erstens, dass auch von unbewussten und jedenfalls von vorbewussten Antizipationen und Rückwendungen gesprochen werden sollte, und zweitens, dass Agieren und Handeln als gesamtes Spannungsfeld unbewusster, vorbewusster und bewusster Akte bzw. Agierensvollzüge begrifflich zu fassen ist, und genau darum geht es in meinem Ansatz. Was die akademisch immer noch vorherrschende Bewusstseinsphilosophie, die Freud zurecht geißelte, an solchen Ansätzen am meisten stört, ist dass die mise en sens, also Sinnstiftung und teleologische Gerichtetheit auch für unbewusstes Agieren angenommen wird. Ich nehme dies aber nun nicht nur als Möglichkeit an, sondern möchte es auf seine begrifflichen Implikationen hin genauer untersuchen. Die mise en abîme stellt für die philosophische Tradition nicht mehr so ein Problem dar: Sie ist seit Heraklit, den unterschiedlichen Spielarten des Skeptizismus, in der ästhetischen Theorie und vor allem seit Hegel als Negativität bekannt, wurde aber ontologisch erst durch die Einbeziehung der Unbestimmbarkeit zentral2. Die von der Psychoanalyse angestoßene Logozentrismuskritik wurde vor allem in der Französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ausgeführt, die unbewussten Logiken im Agieren bzw. Handeln in und von Gruppen haben sich aber erst in den letzten Jahrzehnten genauer darstellen lassen, und dafür war nicht zuletzt die bereits erwähnte, dem Unbewussten und der Unbestimmbarkeit Rechnung tragende Ontologie wichtig, die über die dekonstruktive Methode hinausging und die Rolle des Chaos (abîme, sans fond) für die Frage nach Werden, Sein und Vergehen hervorhob, sei es im Rahmen der Dekonstruktion oder der Magmalogik. In und an Kollektiven betrachtet sind die Legierungsmodi der Seelentätigkeit bis hin zum Denken in Begriffen oder Formeln im kollektiven Handeln ganz an-

2

Siehe hierzu vor allem die Magmalogik von Castoriadis, die dem Unbestimmbaren Rechnung trägt (Castoriadis 1984) sowie Gamms Positivierung der Unbestimmtheit (Gamm 1994).

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ders am Werk als in der analytischen Behandlung eines Denkexperiments. Den unumgänglich spekulativen Aspekt der Philosophie als Begriffe bildender gilt es aber für die Analyse des Spannungsfeldes von Agieren und Handeln durchaus einzubeziehen.

2.

G RUPPEN / PSYCHOANALYSE

Wie eingangs angedeutet hat Agieren im klassischen Freudʼschen Sinn eine spezifische Bedeutung und ist innerhalb der Übertragung und des dyadischen Settings der Einzeltherapie angesiedelt. Da ich vor allem gruppenpsychoanalytisch arbeite und auch theoretisiere, möchte ich hinzufügen, dass sich in einer psychoanalytisch arbeitenden Gruppe die Übertragung anders vollzieht, den Projektionsmodi im Handeln und Agieren als genuin gesellschaftlichem Phänomen (d.h. im Modus der Pluralität) analoger. Sie ist dezentriert, nicht nur auf den_die Therapeut_in, sondern auch auf die einzelnen Mitglieder und vor allem auf die Gruppe als Ganze gerichtet, d.h. die Übertragung diffundiert in die Gruppe. Somit nimmt das Agieren eine andere, soziale und – je größer die Gruppe – auch protopolitische Bedeutung und Qualität an. Beispielsweise wird die Erzählung eines Traums in einer Gruppe aus gruppenanalytischer Sicht nicht nur als die Erzählung eines Traums in der Gruppe betrachtet, auch geht es nicht so sehr um den Trauminhalt selbst, also im klassischen Freudʼschen Sinn um die interpretationswürdige Differenz zwischen manifestem und latentem Trauminhalt, sondern es geht vor allem um den pragmatischen Aspekt dessen, was den in der Gruppe erzählten Traum zum Traum macht, der immer auch schon als ein in der Gruppe zu erzählender und für die Gruppe geträumter Traum geträumt und vorgestellt wurde und der sodann von der Gruppe auf- bzw. auseinandergenommen wird. Das heißt, dass die semantische, symbolisierende und sprachanalytische Ebene nur als eine von mehreren Schichten im Kontext aller seinskonstitutiven Vollzugsebenen zu betrachten ist; es heißt auch, dass Bedeutungen in actu in, für und durch die Gruppe relevant sind und nicht in einem die Gruppe ins Mediale, Ideelle oder gar Metaphysische hin transzendierenden Sinn. Auch wenn es der Sinn von Sinn ist, das Hier und Jetzt jeder Gruppe zu transzendieren, auch wenn in analytischen Gruppen ebenfalls um „objektive Bedeutungen“ gerungen wird: In der analytisch-therapeutischen Arbeit der Gruppe geht es vor allem um die Affekt- und Triebdynamik und um ihre vielgestaltigen Verbindungen zur semantischen und rhetorischen Ebene der Kommunikation als Gruppengeschehen, das immer schon ein Agierens- und Handlungsvollzug ist.

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Dieser Perspektivenwechsel hat vor allem für die Handlungstheorie triftige Konsequenzen: •



Erstens agiert und handelt die Gruppe ständig im Miteinander, auch wenn alle schweigen und auch wenn die Gruppe nicht zusammen ist, also zeitlich gesprochen zwischen den Sitzungen, räumlich gesprochen außerhalb der Gruppe, raumzeitlich gesprochen über die Grenzen der Makrophysik hinweg als feinstoffliche Ebene der Gruppenmatrix (Foulkes 1974), also der Gesamtheit aller bewussten, vorbewussten und unbewussten Vorstellungen, Wünsche, Regungen und Affekte in einer Gruppe. Zweitens kann jede Manifestation, ob sie unbewusst, vorbewusst, nicht bewusst oder bewusst (für manche oder für alle) ist, jederzeit in einen anderen Modus in diesem Spektrum der Bewusstheit wechseln. In der Arbeit mit/in Gruppen wird deutlich, wie durchlässig oder undurchlässig diese Grenzen, je nach Situation und Affektlage der Gruppe, sind.

Agieren wird also aus der Perspektive der Gruppenpsychoanalyse nicht als eine Frage der analytischen Technik betrachtet, der Fokus liegt vielmehr auf dem Wechsel zwischen Agieren und Handeln, zwischen Unbewusstheit und Bewusstheit durch das Gruppengeschehen. „Agieren“ wird damit deutlicher zu einer Frage der spezifischen Aktions- und Vorstellungsweise zwischen Menschen, die miteinander fühlen, sprechen, inter/agieren und handeln. Für die Figur des Chiasmas von Agieren und Handeln haben sich die begrifflichen Entgegensetzungen von unbewusstem Agieren und bewusstem Handeln in Verknüpfung mit der Entgegensetzung von irrationalem Agieren und besonnenem Handeln und schließlich jene von Freiheit zu handeln und Zwang zu agieren über die Bewusstseinsphilosophie dogmatisch etabliert. Agieren

Zwang

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Wenn Agieren im von Freud eröffneten, aber darüber hinaus erweiterten Sinn dem Handeln als Deliberatio gleichsam ausschließend entgegengesetzt wird, dann weil Menschen, wenn sie agieren, nicht wissen, was sie tun und aus welchen Gründen, in welchem motivationalen Kontext. Diese Logik herrscht in den akademischen Philosophie-Instituten vor, in denen kollektivierter Kontrollzwang gerne phantasiert, affektiv besetzt und hochschulbürokratisch verwirklicht und

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genossen wird. Diese Logik setzt voraus, dass Agieren a priori unvernünftig, irrational, ziellos, ja sogar gefährlich und zutiefst krisenhaft ist. Sie postuliert, dass alles, was unserem Wachbewusstsein entgeht, bar jeder Vernunft ist, unverantwortlich und unverantwortbar, weil nicht berechenbar. Gleichzeitig muss die kapitalistische Berechenbarkeit die Kreativität mit allen Unschärfen ihrer mise en acte et en sens ankurbeln, beschwören und ständig neue Produkte aus ihr hervor- und „an den Mann bringen“ lassen. Der eklatante Widerspruch dieser Produktivität liegt darin, dass Kreativität genau jene „Transzendentalie“ ist, deren Wesen und Emergenz nicht berechnet oder gezählt werden kann und nicht bezahlbar ist: Der Kunstmarkt setzt dies mit horrenden Preisen für bestimmte, der kapitalistischen Logik geradezu spottende Bilder in Szene, trägt diesem Umstand also in der Tat Rechnung. Anders als in Zeiten des rohstoffverarbeitenden Industriekapitalismus vollzieht sich die permanent stattfindende „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“, die Rosa Luxemburg herausarbeitete (Luxemburg 1913), immer expliziter über die Einbildungskraft und mit ihr über die Kreativität; sie tut dies in Sparten, in denen das Irreduzible, das Unbestimmbare der Kreativität wie ein unsichtbarer Kontinent um jeden Preis kolonisiert werden müssen, und wogegen Künstler_innen und Kulturarbeiter_innen zunehmend agierend und auch ganz bewusst handelnd aufbegehren. Das Unbewusste fordert die Vernunft heraus, ist rebellisch gegen diese Art der kapitalistisch berechenbaren Verantwortung. Aber wie steht es mit der Verantwortung als ganzer, mit dem logon didonai, d.h. dem Gründe und Rechenschaft Geben, insofern es nicht auf diese Art der Berechenbarkeit reduziert ist? Es setzt voraus, dass man ungefähr weiß, was man tut und warum, bzw. dass man in der Lage ist, darüber nachzudenken und zu sprechen. Das ist nicht immer möglich, weil die unvorhergesehenen Ereignisse, die uns „passieren“ im Zuge des jeder Handlung minimal innewohnenden Agierens, sich diesen Einschätzungen des logon didonai oft gänzlich entziehen. Und doch: zuweilen sind es gerade die unvorhergesehenen Ereignisse, die zum Erfolg einer Handlung oder eines Akts maßgeblich beitragen. Diese an sich triviale Feststellung hat allerdings Konsequenzen für die hergebrachten, bewusstseinsphilosophischen Handlungstheorien, die alles andere als trivial sind. Wenn die damit verbundene Zuordnung im Sinne von rationales Agieren vs. irrationales Handeln in der sich rationalistisch wähnenden bewusstseinsphilosophischen Handlungstheorie ausgeblendet wird, dann gerade weil sie die Vorherrschaft einer bestimmten Vernunft und ihrer Ideologisierung als technobürokratischer Planungsvernunft, wie sie nicht zuletzt den Wissenschaftsbetrieb beherrscht, unterminiert. Dazu kommt, dass diese Subversion das bewusste Ego

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bedroht, insofern es sich in diese dem Kontrollzwang unterworfene Rationalität eingefügt hat, und zwar nicht so sehr im Sinne einer das Selbst unterwerfenden Subjektivierung, sondern vor allem im Sinne einer projektiven Affektökonomie autoritären und nicht mehr reflektierbaren Gehorsams. Der kollektivierte Kontrollzwang technobürokratischer Regime ist die intrinsische Motivation des Fortschritts im Agency-Getriebe, das die faux pas, die outcasts, die Übertretungen ins Experimentelle, welche die jeweils verkündete Planungsteleologie in Zweifel ziehen, durch das System und seine Verinnerlichung möglichst automatisch gleichzuschalten und zu kolonisieren sucht. Ich verwende diese Vokabeln, weil die Kontinuität zwischen totalitärer und technobürokratischer Rationalität auf der Sprachebene im Getriebe selbst tabuisiert wird. Die mit diesem kollektivierten Kontrollzwang verbundene Affektökonomie schürt den Neid auf all jene, die es noch irgendwie schaffen, die Muße für die Produktivität ihrer Kreativität zu erkämpfen, und wertet sie als nutzlose Simulierer ab, aber auch auf, weil sie als tabuisierter Rest der Verwertungslogik zugleich auch Fundament ihres Mehrwertschöpfungsprozesses sind. Da diese enge Teleologie des technobürokratischen Kontrollzwangs gerade aufgrund der Ausblendung der – aus einer breiter gefassten Teleologie – sinnvoll zu erachtenden Seite des Agierens auf prekären Beinen steht, wird sie umso dogmatischer und aggressiver vertreten. Es erhellt zudem auch, dass bereits die Setzung von Zielen von Lapsi, unerwarteten Einfällen und anderen triebhaft oder phantastisch hervorgebrachten Manifestationen durchdrungen ist. Die Illusionen, die sich Menschen machen, die Ideologien, denen sie anhängen oder die diesen Anhänglichkeiten zugrundeliegenden unbewussten Wünsche und Affekte im Zeichen der Un/lust stehen oftmals sowohl im Dienst der bewusst gewählten Ziele wie auch entgegengesetzter Ziele oder Absichten. Sie begleiten und bedingen die Verwirklichung solcher Ziele ebenso wie deren Formulierung. Nicht selten erweisen Ziele und Absichten sich gerade aufgrund der Abwandlung durch diese niemals erschöpfend erklärbaren geheimen Triebfedern (Kant) als diejenigen, die dem Kontext angemessener oder für die höheren Ziele geeigneter sind. Diese geheimen Triebfedern sind vor allem als das geheim, was uns eine unerhörte Handlung nicht ausführen hat lassen oder eine andere anders als geplant. Wie oft getraut der sinnvolle oder lebensnotwendige Widerstand gegen eine bevorstehende Entscheidung sich nur verhohlen, nur verkleidet oder gar nicht zu manifestieren oder gar sich zu artikulieren? Diese unterdrückende, zensierende und damit auch politische, weil die Herrschaft und Unterdrückung in und durch die Affektökonomie betreffende Dimension hat Freud relativ klar artikuliert. Das soll aber nicht verdecken, dass neben dem Gelingen auch höchste Gefahr und Terror von den undurchschaubaren, nicht kontrollierbaren „Triebfedern“ aus-

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gehen können, wenn diese eine Gruppe oder eine politische Gemeinschaft im Zeichen des Todestriebs beherrschen. Die Psychoanalyse und die Gruppenpsychoanalyse können dabei behilflich sein, die unterschiedlichen Logiken des Handelns, wie sie im Somatischen und im Unbewussten am Werk sind, nachzuvollziehen und für ein reflexives, deliberatives Handeln zugänglich zu machen. Psychoanalytisch arbeitende Gruppen befolgen die Regeln der freien Assoziation und der verbalen Kommunikation, egal ob sie therapeutisch (Gruppenanalyse) oder z.B. bild- und textanalytisch (vgl. u.a. Lorenzer 2006) arbeiten. In ihnen lassen sich sowohl klassisch psychoanalytisch relevante Phänomene beobachten wie Übertragung, Widerstand, projektive Identifikation, Wiederholungszwang, Reinszenierung ödipaler Konflikte und allgemeiner Objektbeziehungskonflikte. Es lassen sich darüber hinaus in psychoanalytisch arbeitenden Gruppen aber vor allem geschwisterliche und gruppenspezifische Phänomene unbewusster agency beobachten und bearbeiten. Diese soziokulturellen Phänomene sind als solche irreduzibel, das heißt nicht auf die Einzelpsyche herunterzubrechen. Einige solcher Phänomene hat einer der Begründer der Gruppenanalyse, nämlich Bion, als Grundannahmen bezeichnet (Bion 1971). Die Grundannahmen Kampf/Flucht, Generativität/Paarung, Zerfall/Integration beschreiben die Art der Verknüpfung oder Legierung zwischen Affekt-Wunsch-Vorstellung und ermöglichen eine Beschreibung des Oszillierens zwischen Angst vor Zerfall und Reintegration abgespaltener oder unterdrückter Elemente. Wenn in einer Gruppe die Grundannahme von Kampf/Flucht vorherrscht, dann sind die Gruppenmitglieder überwiegend in einer Vorstellungswelt, die von der Angst vor Zerfall und anderen paranoiden Ängsten geprägt ist, die Kommunikation ist dabei von kurzen, wie Brocken in die Gruppe geworfenen Wortmeldungen (Kampf) geprägt, nach denen sich die Sprechenden sofort wieder in die vermeintliche Unangreifbarkeit des Schweigens zurückziehen (Flucht). Diese Grundannahme herrscht vor allem am Beginn von Gruppen vor. Die Grundannahme der Abhängigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass ein_e Einzelne_r gleichsam prophetisch etwas verkündet, während die Gruppe seinen Gedanken gläubig anzuhängen scheint. Die im Zeichen von Generativität und Sexualisierung stehende Grundannahme der Paarung geht mit dem Phantasma einher, dass alle, die miteinander sprechen, ein Paar bilden und sich von der Gruppe absondern oder sie beherrschen wollen. Die Integration ist die Hauptaufgabe der von Bion als Arbeitsgruppe bezeichneten Gruppe, d.h. es ist die Art von agency, die als Handeln im Zeichen der deliberatio bezeichnet wird und die während des Vorherrschens einer der Grundannahmen gestalttheoretisch gesprochen in den Hintergrund tritt. Im Ge-

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gensatz zum Vorstellungs-Wunsch-Affekt und Sprechmodus der Grundannahmen ist die Gruppe als Arbeitsgruppe realistischer im Sinne des Realitätsprinzips und im Hinblick auf die Verwirklichung eines Vorhabens, im Falle der therapeutischen Gruppe im Hinblick auf die psychische Genesung bzw. die Lösung leidvoller Konflikte der Gruppe bzw. ihrer Mitglieder, die Mitglieder unterhalten sich kohärent und nachvollziehbar miteinander. Diese „therapeutische Arbeit“ an sich selbst als therapeutischer Gruppe geschieht aber keineswegs, wie im Geist der rationalistisch-technobürokratischen Planbarkeit anzunehmen wäre, durch bewusstes Hintanstellen oder die Unterdrückung der symptomatischen Grundannahmen, sondern gerade durch ihre rekurrierende Reinszenierung, ihre remise en acte zwischen den Phasen, in denen die Arbeitsgruppe überwiegt. Das ist es, was ich das Oszillieren zwischen Agieren und Handeln nenne. Dieser Prozess der Konfliktbearbeitung durch Wiederholen und Durcharbeiten in der Gruppe kann nicht direkt in ein philosophisches Handlungsbegriffsgefüge übersetzt werden, sondern nur vermittels einer strukturellen Abstraktion und der Bildung neuer Begriffe, die dieser Art der agency gerecht werden oder sie jedenfalls nicht undenkbar machen, wie dies in den rationalistischen und meist auch teleologischen Zugangsweisen innerhalb der Bewusstseinsphilosophie des Handelns der Fall war bzw. ist.3 Ich versuche dies, indem ich mich sowohl aus psychoanalytischer als auch aus philosophischer Perspektive mit Gruppenphänomenen auseinandersetze. Diese sind hinsichtlich der Umwandlungsprozesse im Agierens-Handlungsspektrum vor allem deshalb relevant, weil die Analyse der erwähnten Relationen zwischen Affekt-WunschVorstellungsmodi für die Analyse der Phasen des Vollzugs und damit von agency unumgänglich ist. Dies gilt insbesondere für die Affektökonomie und für die ontologische Frage nach der Dichte bzw. dem situativ unterschiedlichen Bestimmtheits- respektive Unbestimmtheitsgrad und für die Beurteilung der je akuten Handlungs- bzw. Agierensmodi (strategisch, pragmatisch, dogmatisch, realistisch, abspaltend, projektiv, wahnhaft etc.) Die allgemeineren Charakteristika dieser Legierungen und Modulationen sind für eine adäquatere Begriffsbildung bezüglich der Register der Potentialität, der bereits erwähnten „Transzendentalien“ und ihrer Aktualisierung im Vollzug wichtig; aber auch für die Frage nach der Zeitlichkeit und Räumlichkeit und für die Konzeptualisierung der

3

So versucht zwar Davidson, dem Unbewussten handlungstheoretisch gerecht zu werden, reduziert es dann aber doch wieder auf rationalisierbare Gründe für Aktionen (Davidson 2004).

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Modi und Schichten, die in einem Kontinuum von Träumen-Vorstellen-DenkenSprechen-Agieren-Handeln zu fassen sind. Das betrifft nicht nur die philosophischen Implikationen der „Pathien“ und Pathologien (im Sinne von konflikthaften Erleidensschicksalen), in die Gruppen, ja ganze Gesellschaften eintreten unter dem Druck von tyrannischem Delir, einer Katastrophe, eines Krieges, großer Armut und Hunger etc. Diese Grenzzustände zeigen höchstens etwas deutlicher bestimmte Strukturen oder Ordnungen in den affektökonomischen Veränderungen und in den Verhältnissen zwischen Affekt, Wunsch, Vorstellungen, imaginären Bedeutungen, habituellen Praktiken; zwischen somatischer Matrix und Gruppenimaginärem, zwischen Einzelnen und Gruppe/n. Die Veränderung unseres Verhältnisses zum Unbewussten – also zu den abgespaltenen bzw. verdrängten und anders abgewehrten Affekten-WünschenVorstellungen – kann als eine Bedingung der Möglichkeit für die Entwicklung der Freiheit sowohl im Bereich des Agierens als auch in jenem des Handelns gesehen werden. Dem Motto „Wo Es ist, soll Ich werden“ und dem abgewandelten „Wo Ich ist, soll Es auftauchen“ könnte von da her ein anderes, die angebliche Rückwärtsgewandtheit der Psychoanalyse dekonstruierendes angefügt werden: „Wo agiert wird, soll Handeln möglich werden“ bzw. „Wo gehandelt wird, soll dem Agieren Rechnung getragen werden.“ Dies setzt die Entwicklung von Handlungs- und Reflexionsbegriffen voraus, durch welche die Bewusstmachung dieser Differenz auf unterschiedlichen Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst erfahrbar und in Handlungsperspektiven umsetzbar wird. Solche Begriffe sind nicht als abstrakt allgemeine Funktionskategorien zu verstehen, sondern als je situativ und kollektiv-praktisch hervorgebrachte Bedeutungs- und Unterscheidungssystematiken. Wenn ich die Veränderung unseres Verhältnisses zum Unbewussten als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit um soziokulturelle Aspekte erweitere, dann geht es mir nicht um die Feststellung eines konkretistisch gefassten „kollektiven Unbewussten“, sondern um die Wahrnehmbarkeit und wenn möglich um die begriffliche Erhellung dieser zumeist unbewussten Dimensionen und Prozesse, welche in einer Gruppe am Werk sind und wirken (agissent). Es geht dabei um die Erhöhung der Durchlässigkeit der Grenze, also um die Fähigkeit oder Unfähigkeit einer kreativen und zugleich realistischen Beziehung zwischen unbewussten und bewussten Dimensionen des Vollzugs, ob es sich nun um improvisierendes Agieren bzw. Handeln oder um eine durchgeplante Entscheidung handelt. Mit realistisch im Sinne des oben erwähnten Realitätsprinzips meine ich genauer eine Beziehung zu sich, der Welt und den anderen, die nicht vorwiegend

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unbewusst den privaten Phantasmen und dem je meinigen Un-/Lustprinzip gehorcht, sondern die dieser Dimension bewusst Rechnung trägt und dabei das Real-Gegenständliche ebenso wie das soziokulturell Verbindende wahrnimmt und möglichst angemessen in das Handeln einbezieht. Die Erhellung dieser Dimensionen und Beziehungen erleichtert die Einsicht sowie das Lernen aus Erfahrung. Sie befördert somit die Freiheit auf der Ebene des Kollektivs und nicht einiger weniger Aufgeklärter, die als Avantgarde die anderen anführen, instruieren und zum Handeln wieder nur anleiten. Die Öffnung für das unbewusste Agieren als einem Fundus, einem unerschöpflichen Reichtum, der neben Schreckensphantasien auch freie, ja sogar visionäre Ausdruckskraft enthält, schränkt den Handlungsspielraum nur aus der engen Perspektive eines akademisch zuweilen immer noch vorherrschenden Bewusstseinsrationalismus ein. Die Öffnung zieht eine Reduktion oder Lockerung des Rationalisierungszwangs nach sich, der sich in Institutionen meist zu verselbstständigen tendiert. Das hat wiederum zur Folge, dass Verstandesenergie und Vernunftkräfte für die Deliberatio freigesetzt werden, anstatt der Kontrolle, dem Rationalisierungszwang, d.h. den Gruppenideologien, dienen zu müssen. Erst daran wird das Ausmaß des Zwangs und seine einengende, die Angst, die er einzudämmen vorgibt, nur potenzierende Herrschaft deutlich. So ist diese Arbeit an den Handlungsspielräumen des unbewussten Agierens als gleichsam begriffliche Umgebung des deliberativen Handelns eine philosophische wie auch praktisch-poietische Arbeit an den – durchlässigen – Grenzen der praktischen Vernunft als deliberative Vernunft: Die boulêsis ist nicht nur Deliberatio und deliberativer Wille, sondern sie begründet auch die positive Freiheit als das, worin und wodurch die Menschen über sich und ihre Welt entscheiden; institutionengeschichtlich begründet sie die demokratische Regierung (boulê) als kollektives Mit-sich-zu-Rate-Gehen, d.h. die Selbstregierung der Polis. Indem ich mich philosophisch eines Begriffs (Agieren) bediene, der aus der klinischen Erfahrung mehrerer Generationen entwickelt wurde, entfremde ich ihn notgedrungen und transferiere ihn im Zuge einer metaphorischen Arbeit, die es noch einmal kurz zu erläutern gilt: Agieren in diesem praktisch-poietischen Sinn lässt die therapeutische Situation hinter sich, diffundiert den Begriff wieder in die Allgemeinheit des Sprachgebrauchs, aus der Freud ihn nahm, und geht davon aus, dass in jedem Akt, jeder Handlung, jedem Tun eine unbewusste Agierens-Dimension vorhanden ist, ja dass diese nicht nur Fundus, Grund und Hintergrund des Handelns ist, sondern zugleich der Raum, aus dem die Motorik der mise en acte aktiviert wird oder eben passiert, aus den Konflikten, Trieben und Affekten heraus, die erst durch das Ausagieren benennbar und reflektierbar werden.

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In diesem Sinn ist Agieren, und hier komme ich noch einmal zu Freud, eine Art von Probehandeln (eine Bezeichnung, die er für das Denken verwendete) ohne bewusstes Zutun, gleichsam hinter dem Rücken des kontrollierenden, moralisierenden, gehorchenden und planenden Bewusstseins. Danach ist es die wohlwollende und nicht drakonische Rezeption des Agierens (z.B. eines Lapsus), die nach seinem Sinn fragen lässt und es allmählich zu deuten oder zu erkennen erlaubt. Das dauert allerdings und bedarf einiger Übung, denn – wie Heraklit schrieb – „die Natur liebt es, sich zu verbergen“. Was mit der Gruppen(psycho)analyse deutlicher in Erscheinung tritt und theoretisierbar wird, ist die Gruppenmatrix als permanenter, unabschließbarer und letztlich unbestimmbarer Prozess der Sozialisation an der Schnittstelle von gesellschaftlichem bzw. Ego-zentriertem Imaginären einerseits, Realität andererseits. Die Wirklichkeit der Gruppenmatrix und aller in ihr vernetzten Teile bzw. (Mit-)Glieder ist ein Prozess der Instituierung, Destituierung und Konstituierung von Welt. Die Politik als explizite Instituierung und Konstitutierung von Regimen ist analog zum Bewusstsein nur die Spitze eines Eisbergs unterschiedlicher kollektiver bzw. gesellschaftlicher Agierens- und Handlungsformen, sowohl in einer punktuellen als auch in einer historisch-regimevergleichenden Perspektive.

3.

B ESTIMMUNG UND U NBESTIMMTHEIT , UND WIE SICH DAS A GIEREN ÜBER DIE P SYCHOANALYSE HINAUS DENKEN LÄSST

Aus einer ontologischen Perspektive auf die Grenzregion zwischen un-/ vorbewusstem Agieren und deliberativem Handeln macht eine starre Unterscheidung zwischen Determinismus und Kontingenz wenig Sinn, vielmehr geht es um die unterschiedlichen Dichtegrade bzw. Un-/Bestimmbarkeitsgrade. Aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive erscheint die Unbestimmbarkeit im Bereich des unbewussten Agierens zwar weit größer als im Bereich des Handelns, doch das heißt nicht, dass in diesem Bereich keine Bestimmungen vorgenommen werden könnten.4 Die Bestimmungen, die wir aufgrund psychoanalytischer Zugangsweise auch auf Gruppenphänomene anwenden können und damit auf das semantische Feld

4

Die Physiker_innen schrecken ja auch nicht bei jedem Hinweis auf schwarze Löcher, „dunkle Materie“ oder sonstigen, aus den gerade noch aktuellen Theorierahmen fallenden Phänomenen zurück wie die Bewusstseinsphilosophen vor dem Unbewussten.

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von agency, beziehen sich auf Motivations-, Hemmungs-, Schöpfungsverhältnisse zwischen Imaginärem und Affektivem einerseits, zwischen sozialer bzw. kultureller Wirklichkeit und einzelnem Psyche-Soma andererseits. Die Grenzregion zwischen unbewusstem Agieren und Handeln ist dabei ein Resonanzraum, in dem sich alle unbewussten wie auch bewussten Wünsche, Vorstellungen und Gedanken aufhalten. Für das Handeln relevant werden sie vermittels eines Denkresonanzraums, aus dem das Nachdenken über das Tun und Lassen als deliberatives Handeln hervorgeht (Pechriggl 2016). Das Denken vollzieht sich als explizite mise en sens permanent im Umfeld und mit Hilfe des assoziativen Agierens in Worten und Gedanken.

4.

S CHLUSS

Welche Rolle spielt nun zusammenfassend die Grenzregion zwischen Agieren und Handeln für Agency? Wie erwähnt, fasse ich diese Grenze als Region oder begriffliche Zone. In Konflikten, die von massiver Spaltung im Kollektiv geprägt sind, wie etwa Bürgerkriege oder Phasen xenophober Ausschreitungen, ist die phantasmatische und triebökonomische Perspektive auf die Spaltung bzw. Abspaltung (Verleugnung, Verkennung, Dissoziation) durchaus relevant. Aber was geschieht mit der Grenze, wenn eine Gruppe, eine Nation oder ein Land von einer im Zeichen radikaler Spaltung stehenden Situation in eine offenere, freiere und die Teile wieder integrierende Situation wechseln? Ein sehr dünner und fast undurchlässiger Streifen, ja Strich, auf dem nichts und niemand sich aufhalten kann, ohne das Kippen in das Lager des Feindes und damit in den Tod – und zwar nicht nur imaginär – zu riskieren, verwandelt sich in einen Resonanzraum. Die begriffliche Logik, die dies ermöglicht, ist keine bloß textuelle der Dekonstruktion, sondern die rationale wie auch affektive Logik der die Spaltung performativ dekonstruierenden Eröffnung eines Grenz- und Resonanzraums. Dazu muss die Grenze sich radikal verändern, von einer Projektionsfläche für Hass und Todestrieb zu einer oder mehreren Zonen und schließlich zur Region für Veränderungen und Übergänge werden, in der alle möglichen chiastischen Verbindungen und damit Umordnungen angestellt werden können, damit projektives Agieren gegen den feindlichen „Anderen“ in gemeinsames Handeln übergehen kann. In einer solchen Perspektive auf das Agieren erweist sich die strategische und durchaus auch deliberative „Handlung“ einer genozidären Vernichtung als nicht notwendig, in höchstem Grade willkürlich und einer Gruppe ebenso auferlegt wie eingetrichtert, wobei die betreffende Gruppe dies auch zulassen muss.

A GIEREN

UND

H ANDELN :

EIN

C HIASMA

ZWISCHEN

F REIHEIT

UND

ZWANG

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Die Deliberatio erscheint plötzlich als irrational und nur noch dem – Affektabfuhr versprechenden – Verbrechen zu Diensten zu sein; Verbrechen, das sonst tabu ist; das heißt, sie erweist sich dann als Epiphänomen eines mörderischen Agieren-Handelns. Es ist seit Adorno und Horkheimer viel darüber geschrieben worden, inwieweit auch ein solches Agieren und Handeln in höchstem Maße rationell ist; für uns Heutige wäre es wichtig, genauer zu sehen, in welcher Hinsicht es für das technobürokratische Funktionieren der aktuellen kapitalistischen Wissensgesellschaften geradezu paradigmatisch ist. Besonders deutlich wird das an den rhetorischen Strategien wie sie Klemperer und Orwell aus der totalitären Sprache herausgearbeitet haben (Klemperer 1957; Orwell 1976). Insofern diese Sprache den double bind permanent inszeniert und zur totalen Norm macht, zerstört sie die Denk- und Urteilstätigkeit als eine das Agieren einbeziehende Deliberatio, engt sie ein in ein Angst- und Schreckensszenario, das an die emotional-phantasmatischen Erfahrungen von psychotischen Menschen erinnert, die keinen Raum für die Entwicklung eigener Gedanken haben und deren sinnstiftende Verbindungsanstrengungen ständig von Zerfall (mise en abîme) bedroht sind (Aulagnier 1979). Die totalitäre Sprache ist eine Sprache kodifizierter Brocken im Sinne der universalisierten Grundannahme Kampf/Flucht. Die mörderische Unausweichlichkeit solcher aggressiv-spaltender Rhetorik und Affektdispositionen führt in die Anforderung einer „Metabolisierung“ (Bion 1990) dieser Spaltung bzw. der durch sie verworfenen Elemente, Feinde, Introjekte, Abjekte. Dieses Durchbrechen eines spaltenden Meisterdiskurses kann zuerst überhaupt nur durch unbewusstes Agieren geschehen, weil eine bewusste Auflehnung aufgrund der in totalitären Regimen durchaus realistischen Todesängste, die sie mobilisiert, fast nicht möglich ist. Der spaltende Diskurs, der alle Teile und Energien des Kollektivs zu absorbieren schien, beginnt an dieser Integration der verworfenen Mitglieder und Elemente zu zerfallen. Unter den Mitgliedern einer Gesellschaft nehmen nicht nur Normopathiekritische Therapeut_innen und Ärzt_innen an dieser Metabolisierung teil, auch Aktivist_innen, Künstler_innen, Jurist_innen oder Lehrende, also alle jene, die sich eben wohlwollend und sinnvoll am Prozess der Herstellung eines neuen Verhältnisses zwischen unbewusstem Agieren und deliberativem Handeln beteiligen, zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, zwischen unterschwelligen Logiken, dem Verdrängten, Verleugneten und Tabuisierten einerseits und den offiziellen Diskursen andererseits.

152 | A LICE P ECHRIGGL

L ITERATUR Aulagnier, P. (1979): Les destins du plaisir: aliénation, amour, passion, Paris: PUF. Bion, W. R. (1971): Erfahrungen in Gruppen, Stuttgart: Klett Cotta. Bion, W. R. (1990): Lernen durch Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Castoriadis, C. (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Davidson, D. (2004): „Paradoxes of Irrationality“, in: Ders., Problems of Rationality, Oxford: Clarendon Press, S. 169–187. Freud, S. (1990): „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, in: Gesammelte Werke, Band X, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 126–136. Foulkes, S. H. (1974): Gruppenanalytische Psychotherapie, München: Pfeiffer. Gamm, G. (1994): Flucht aus der Kategorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Klemperer, V. (2010): LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart: Reclam. Lorenzer, A. (2006): Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten (= Kulturanalysen. Bd. 1), hg. von U. Prokop und B. Görlich, Marburg: Tectum. Luxemburg, R. (1913): Die Akkumulation des Kapitals, Berlin: Vorwärts. Orwell, G. (2002): 1984, München: Heyne. Pechriggl, A. (2016): „Denkakte im Leibbezug“, in: M. Soboleva, Das Denken des Denkens, Bielefeld: transcript, S. 137–154. Pechriggl, A. (2018): Agieren und Handeln, Bielefeld: transcript.

GESELLSCHAFTSKRITIK, CULTURAL STUDIES UND POLITISCHE AGENCY

Wie kommen Erzählungen über Gesellschaft zustande? Klassenkampf, Naturbeherrschung, Geschlechterkampf: Marxismus, Kritische Theorie und Feminismus P ETER V. Z IMA

Der kämpferische Untertitel kündigt ein Engagement an, das zwar in der Argumentation enthalten ist, jedoch nicht in einer Kampfansage gipfelt, sondern in einer Frage. Die Frage lautet: Wie wird im theoretischen (philosophischen, soziologischen) Bereich Gesellschaft erzählt, und wie kommen Gesellschaftstheorien als theoretische Erzählungen zustande? Diese Frage lässt zusätzliche Fragen aufkommen: Welche Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit treten in einer Erzählung zutage, die in einer anderen Erzählung oder in anderen Erzählungen verdeckt werden? Und schließlich die Frage: Wie können verschiedene theoretische Erzählungen oder Diskurse so aufeinander bezogen, so miteinander konfrontiert werden, dass komplementäre Aspekte der Wirklichkeit sichtbar werden? Konfrontation beinhaltet Kritik, aber nicht immer Widerlegung, sondern Dialog und wechselseitige Erhellung oder Ergänzung. Im vorliegenden Fall geht es um drei Theoriekomplexe, deren Diskurse als Erzählungen über die Gesellschaft einander widersprechen, einander aber auch dialogisch erklären und ergänzen. Es geht um die – durchaus verwandten – Theoriekomplexe „Marxismus“, „Kritische Theorie“ (im Sinne von Adorno und Horkheimer) und „Feminismus“. Diese drei Theoriekomplexe sollen hier – zumindest ansatzweise – als Erzählungen rekonstruiert werden. Es soll deutlich werden, dass alternative Konstruktionen stets möglich und wohl auch wünschenswert sind.

156 | P ETER V. Z IMA

1.

G ESELLSCHAFTSTHEORIEN ODER E RZÄHLUNGEN

ALS

D ISKURSE

Zunächst sei etwas zur Theoriebildung im philosophischen und soziologischen Bereich angemerkt. Jede Gesellschaftstheorie, die als erzählender Diskurs aufgefasst werden kann, geht von bestimmten semantischen Entscheidungen aus und schafft so ihre eigenen Grundlagen, auf denen sie sich weiterentwickelt. Die semantischen Entscheidungen kann man als Relevanzen oder Relevanzbestimmungen bezeichnen, die von der Beobachtung der Gesellschaft (der Wirklichkeit allgemein) durch ein individuelles oder kollektives Subjekt (Wissenschaftlergruppe) abhängig sind. Während das Subjekt der Theorie die Wirklichkeit beobachtet, entscheidet es, was für es relevant ist und was nicht. Das gilt sowohl für die Naturwissenschaften als auch für die Sozialwissenschaften. Der Klimaforscher, der die Auswirkungen eines Vulkanausbruchs auf das regionale Klima untersucht, betrachtet alle anderen Faktoren, die den Klimawandel der Region mitbeeinflussen (Industrie, Luftfahrt, globale Erwärmung) als für sein Projekt irrelevant. Ähnlich verfährt der Sozialwissenschaftler: Er beobachtet die gesellschaftliche Entwicklung und entscheidet sich – in Übereinstimmung mit seinen Wertsetzungen, Vorlieben und Befürchtungen – für bestimmte Relevanzen, mit deren Hilfe er schließlich klassifiziert und definiert. Anders gesagt: Seine Klassifikationen und Definitionen gründen auf seinen Relevanzkriterien. Zur Veranschaulichung seien einige Beispiele angeführt. Marx, auf den ich noch zu sprechen komme, beobachtet die Gesellschaft – erst in Deutschland, später in Frankreich und Großbritannien – und kommt zu dem Schluss, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit relevant ist. Aus dieser Relevanzsetzung geht ein Diskurs als Geschichte der Gesellschaft hervor, den ich noch – in großen Zügen – analysieren werde. Im Gegensatz zu Marx geht sein um 20 Jahre jüngerer Zeitgenosse Auguste Comte von dem Gegensatz Glaube/Wissenschaft aus und erzählt die Gesellschaft ganz anders. Seine Erzählung gerät zu einer Theorie der Säkularisierung und Verwissenschaftlichung. Obwohl Marxʼ und Comtes Theorien ihre Bedeutung für das Verständnis der zeitgenössischen Gesellschaft nicht verloren haben, kristallisieren sich bei einem Sozialphilosophen wie Habermas und einem Soziologen wie Luhmann ganz andere Relevanzkriterien heraus, die mit der Beobachtung zeitgenössischer Entwicklungen zusammenhängen. Während Luhmann den Gegensatz von System und Umwelt für relevant hält und den Differenzierungsprozess erzählt, der die Komplexität der Gesellschaft von Jahr zu Jahr steigert, hält Habermas den Gegensatz von System und Lebenswelt für relevant und erzählt die „Kolonisierung der Lebenswelt“.

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Man sieht, dass hier theoretische Diskurse als „Erzählungen“ miteinander konkurrieren, von denen uns keiner ganz befriedigt. Wir haben das Gefühl, dass jeder von ihnen auf seine Art Recht hat und doch recht weit von der ganzen Wahrheit entfernt ist. Immer wieder drängt sich uns die Frage auf: Was ist nun das eigentliche Problem unserer Gesellschaft? Kommt es primär darauf an, die „Irritabilität der Systeme“ zu steigern1, wie Luhmann rät, oder soll in erster Linie die „Lebenswelt“ im Sinne von Habermas gegen die „Kolonisierung“ durch die Systeme „Macht“ und „Geld“ verteidigt werden, wie Habermas meint?2 Wir kennen Diskurse über die Postmoderne, die erzählen, warum die „großen Metaerzählungen“ nicht mehr möglich sind. Ohne es zu beabsichtigen, entwirft Lyotard eine neue Metaerzählung, wenn er in La Condition postmoderne schreibt: „Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ‚postmodern‘.“ (Lyotard 1986: 14) In nuce enthält dieser Satz selbst eine neue Erzählung, die sich als Antwort auf die Frage versteht, „welche Entwicklungen denn dazu führten, dass wir Metaerzählungen mit Skepsis betrachten“. Mit anderen Worten: Das Ende der Metaerzählungen kann wieder nur erzählt werden. Insofern sind Marxʼ und Comtes Erzählungen alles andere als Anachronismen, und die neuen Erzählungen Luhmanns und Habermasʼ zeigen, dass das Erzählen kaum zu vermeiden ist. Aber was genau lassen die Erzählungen über die Gesellschaft erkennen – und welche Aspekte verdecken sie?

1

„Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen Operierens geschehen kann. Genau darauf zielt aber die Systemtheorie, wenn sie die Unterscheidung von System und Umwelt als die Form des Systems behandelt.“ (Luhmann 1997: 185) Dies scheint also der zentrale Lösungsvorschlag der Luhmannʼschen Systemtheorie zu sein.

2

„Die alternative Praxis richtet sich gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule.“ (Habermas 1981: 581) Hier wird deutlich, dass Habermas die gesellschaftliche Entwicklung nicht nur anders erzählt als Luhmann, sondern im Rahmen dieser Erzählung auch ganz andere Lösungsvorschläge macht.

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2.

D ER M ARX ʼ SCHE D ISKURS ALS NARRATIVE K ONSTRUKTION

Zurück zu Marx, der den Gegensatz von Kapital und Arbeit für relevant hält. Ausgehend von diesem als relevant postulierten Gegensatz schlägt er eine ganz neue Erzählung der Menschheitsgeschichte vor: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (Marx 1971: 58–69) In diesem Satz, der als Zusammenfassung des Marxʼschen Diskurses gelesen werden könnte, wird unsere Geschichte rekonstruiert und neu erzählt. In ihr stehen nicht mehr wie in den bisherigen Erzählungen Könige und Fürsten in Schlachten und Intrigen einander gegenüber, sondern die kollektiven Aktanten „Bourgeoisie“ und „Proletariat“: „Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ (Marx 1971: 526) Die beiden hier zitierten Sätze zeigen, wie sehr Beobachtung und die aus ihr hervorgehenden Relevanzkriterien in den Diskurs als Erzählung eingehen. Es wird ein Gegensatz für relevant erklärt, der bisher nicht für relevant gehalten wurde: der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Es fragt sich allerdings, ob der Gegensatz, für den Marx seine „Epoche“ verantwortlich macht, in Wirklichkeit nicht von ihm selbst konstruiert wurde. Denn in seinem eigenen Werk ist oft von „Bauern“ (etwa von ihrer Schlüsselrolle am 18. Brumaire von Louis Bonaparte), von „Lumpenproletariern“, „kleinen Industriellen“, „Handwerkern“ und allgemein von „Mittelständen“ die Rede. (Marx 1971: 58–69) Immer wieder versucht Marx, diese Gruppierungen einem der beiden miteinander ringenden kollektiven Aktanten „Bourgeoisie“ und „Proletariat“ zu subsumieren, um das von ihm konstruierte dualistische Aktantenmodell zu erhalten. In diesem Aktantenmodell (im Sinne von Greimas) erscheint die Geschichte als Auftraggeberin, die Reaktion (oder Negation der Geschichte) als Gegenauftraggeberin, das „Proletariat“ als das von der Geschichte beauftragte Subjekt, das „Bürgertum“ als Anti-Subjekt, die „klassenlose Gesellschaft“ als ObjektAktant (als telos der Erzählung), der „materialistische Philosoph“ als Helfer des „Proletariats“ und der „idealistische Philosoph“ (oder „Ideologe“) als Widersacher des „Proletariats“ bzw. als Helfer des „Bürgertums“, der die wahren Verhältnisse idealistisch verbrämt. (Greimas 1966: 181) Es ist nicht meine Absicht, hier näher auf alle diese narrativen Funktionen einzugehen. Eine dieser Funktionen scheint mir aber von besonderer Bedeutung

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zu sein, weil sie zeigt, wie sehr narrative Fiktion an die Stelle empirischwissenschaftlicher Erklärung treten kann. Dadurch wird Theorie fragwürdig und kann auch an der Wirklichkeit scheitern – oder zumindest teilweise ihre Überzeugungskraft einbüßen. Es geht um die Funktion des Proletariats als Subjekts der Erzählung und um die komplementäre Funktion des „materialistischen Philosophen“, der zum Helfer (adjuvant, Greimas 1966: 180) des Proletariats wird und die soziale Welt aus dessen Sicht beobachtet. Aus der Sicht der Erzähltheorie – in diesem Fall der Narrativik Gérard Genettes – bedeutet dies, dass das „Proletariat“, das an die Stelle der Hegelʼschen „Volksgeister“ tritt, nicht nur Subjekt der Geschichte ist, sondern zugleich die Funktion des Fokalisators erfüllt, die bei Hegel dem „Weltgeist“ zufiel. Was versteht man unter einem Fokalisator? Er ist (bei Genette) die Instanz, mit deren Augen im Roman oder in der Novelle die Wirklichkeit betrachtet und erlebt wird. So erfüllt beispielsweise in Thomas Manns bekanntem Bildungsroman Der Zauberberg Hans Castorp die beiden Schlüsselfunktionen des handelnden Subjekts und des Fokalisators, aus dessen Sicht der Erzähler Wirklichkeit und Handlung betrachtet. Wenn Marx in „Das Elend der Philosophie“ (einer Kritik an Proudhon) die Sozialisten und Kommunisten als „Theoretiker der Klasse des Proletariats“, d.h. als Helfer (adjuvants, Greimas) auffasst, so nimmt er implizit die Position eines theoretischen Erzählers ein, der die Geschichte des „Proletariats“ aus dessen Sicht erzählt: d.h. aus der Sicht des Subjekt-Aktanten. Dadurch wird das Proletariat zu seinem Fokalisator, so wie etwa Tonio Kröger und Aschenbach (in Tod in Venedig) zu Fokalisatoren des Schriftstellers Thomas Mann und seiner Erzähler werden. Freilich bezieht sich Marx auf eine historische Wirklichkeit und auf wirkliche Menschen mit ihren Einrichtungen, Handlungen und Kämpfen, nicht auf eine von ihm konstruierte fiktionale Welt. Dennoch hat auch er anhand bestimmter Relevanzkriterien und Erzählschemata seine soziale Welt konstruiert, in der nicht etwa die Arbeitsteilung im Sinne von Durkheim oder das individuelle Charisma im Sinne von Max Weber, sondern der wirtschaftlich bedingte Klassenkampf als die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint. Zu diesem Erzählschema als Konstruktion gehört auch die Fokussierung, die in der Erzähltheorie zwei wesentliche Aspekte aufweist: innere und äußere Fokussierung. Während in einer Erzählung mit innerer Fokussierung der Erzähler die Gedanken und Regungen des Helden oder Protagonisten kennt, ist ihm in einer Erzählung mit äußerer Fokussierung die Gedanken- und Gefühlswelt des Helden nicht zugänglich. Genette spricht in diesem Zusammenhang vom „betonten Nichtwissen des Erzählers im Hinblick auf die eigentlichen Gedanken des Helden“ (Genette 1972: 210).

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Das Besondere an der von Marx konstruierten Erzählstruktur besteht nun darin, dass der Erzähler-Autor sowohl in den Frühschriften als auch im Kapital zwischen äußerer und innerer Fokussierung oszilliert. Obwohl die verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sachverhalte stets aus der Sicht des „Proletariats“ oder des „Arbeiters“ dargestellt werden, wird die in Marxʼ Diskurs vorherrschende äußere Fokussierung nicht durchgehalten. Sie wird im folgenden Satz veranschaulicht, der die Arbeitsteilung als Ausbeutung zum Gegenstand hat: „Was die Teilarbeiter verlieren, konzentriert sich ihnen gegenüber im Kapital.“ (Marx 1981: 322) Marx beschreibt hier im Rahmen des von ihm postulierten Gegensatzes von „Arbeit“ und „Kapital“ bestimmte Vorgänge aus der Sicht der Ausgebeuteten, ohne deren Ansichten und Gedanken wiedergeben zu wollen. Diese „Außenansicht“ herrscht auch in dem folgenden Satz aus dem „Kommunistischen Manifest“ vor: „Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.“ (Marx 1971: 535) In diesem Satz, in dem es u.a. um die Konstitution des kollektiven Aktanten „Proletariat“ geht, wird die Schwächung des Kollektivbewusstseins als Klassenbewusstsein durch das marktbedingte, individualisierende Prinzip der Konkurrenz beobachtet – und zwar ohne Kenntnis der Ansichten und Gedankengänge des Aktanten. Zu einer Perspektivenverschiebung kommt es im folgenden Satz aus Das Kapital, in dem die geistige Entwicklung des Arbeiters nachgezeichnet wird, der sich zunächst als „Maschinenstürmer“ gegen die Maschine kehrt, die er für den Verlust seines Arbeitsplatzes verantwortlich macht: „Es bedarf Zeit und Erfahrung, bevor der Arbeiter die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf dessen gesellschaftliche Exploitationsform übertragen lernt.“ (Marx 1981: 386) Hier wird – wie in einem Bildungsroman – eine „Innenansicht“ geboten nach dem Motto: „Zunächst begriff er nicht … später lernte er unterscheiden.“ Erzählt wird wiederum aus der Sicht des Helfers, der es als seine Aufgabe ansieht, durch Erläuterungen des Gesamtzusammenhangs das revolutionäre Bewusstsein des „Proletariats“ zu wecken. Der Übergang zur inneren Fokussierung findet im folgenden Satz aus der Deutschen Ideologie statt, in dem von einer Klasse die Rede ist, „die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht […].“ (Marx 1971: 366) Hier drückt der Helfer des Proletariats nicht die Hoffnung aus, dass die Arbeiterklasse ein revolutionäres Bewusstsein entwickelt, indem sie zur „Klasse an und für sich“ wird, sondern orientiert sich selbst am Bewusstsein des „Proletariats“, dessen Gedanken, Ansichten und Affekte er

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zu kennen scheint – wie der Romancier die inneren Regungen seines Helden. Es ist jedoch keineswegs sicher, dass das „Proletariat“ oder die Arbeiterklasse als homogener, kollektiver Aktant jemals dieses revolutionäre Bewusstsein hatte. Im Übergang von der äußeren zur inneren Fokussierung verwandelt sich das „Proletariat“ von einem kollektiven in einen mythischen Aktanten. In den Frühschriften wird das revolutionäre Bewusstsein dem „Proletariat“ aufgrund seiner Klassenlage im Kapitalismus von Marx zugerechnet. Diese Zurechnung erfolgt in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie nach altbewährter Hegelʼscher Manier. Die Rolle des „Weltgeistes“, der zu Hegels Fokalisator wurde, fällt dort dem „Proletariat“ zu. Es wird mit der Aufgabe betraut, den menschlichen Emanzipationsprozess durch die Verwirklichung der Philosophie zu vollenden: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats; das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (Marx 1971: 224) Diese metaphorisch postulierte Symbiose zwischen der gesellschaftskritischen Philosophie und dem „Proletariat“ ist eine Fortsetzung der Hegelʼschen Dialektik mit scheinbar materialistischen Mitteln, hat aber mit der materiellen Existenz der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert wenig zu tun. Ich habe in großen Zügen zu zeigen versucht, wie der Marxʼsche Diskurs konstruiert ist: Er geht von ganz bestimmten Relevanzkriterien aus (Kapital/ Arbeit), auf denen ein Aktantenmodell gründet, das zum Motor der Marxʼschen Erzählung wird. Zwei Klassen stehen einander gegenüber, Bourgeoisie und Proletariat, und die Geschichte wird als Geschichte von Klassenkämpfen erzählt – und zwar aus der Sicht des Fokalisators: des „Proletariats“. Dieser Fokalisator wird im Übergang von der äußeren zur inneren Fokussierung zu einem mythischen Aktanten, in den Marx seine Vorstellungen, Hoffnungen und Ängste projiziert, so dass Wirklichkeit und Fiktion ineinandergreifen – und kaum noch zu unterscheiden sind.

3.

N ATURBEHERRSCHUNG UND S UBJEKTIVITÄT : A DORNOS UND H ORKHEIMERS K RITISCHE T HEORIE

Es war nicht meine Absicht, Marxʼ Theorie als Mythos zu „widerlegen“ oder gar zu diskreditieren. Es galt zu zeigen, dass sein Diskurs eine mögliche, d.h. kontingente Konstruktion ist, die einige Aspekte der Wirklichkeit schlaglichtartig beleuchtet, andere aber im Dunkeln lässt. Dies wird auch bei einer genaueren Betrachtung der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers deutlich, die von

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ganz anderen Relevanzkriterien ausgeht als Marx. Um welche Relevanzkriterien geht es? Adorno und Horkheimer schreiben in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation (während des Zweiten Weltkriegs und nach dem Weltkrieg), in der der marxistische Diskurs seine Überzeugungskraft eingebüßt hat. Es kam nicht zu der von Marx prophezeiten Verelendung der Arbeiterklasse, und die von ihm herbeigesehnte Revolution blieb aus. Auf diese Tatsache bezieht sich der bekannte erste Satz der Negativen Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ (Adorno 1966: 13) Dieser Satz kann als eine Replik auf den schon zitierten Satz des jungen Marx gelesen werden: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats; das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ In dieser Situation sehen sich Adorno und Horkheimer genötigt, der Frage nachzugehen, warum die Marxʼsche Erzählung als „métarécit“ in der Wirklichkeit versagt hat. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung beantworten diese Frage, indem sie neue Relevanzkriterien vorschlagen, aus denen eine ganz andere Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung hervorgeht. In ihren Augen erscheint nicht der Gegensatz Kapital/Arbeit, sondern der Gegensatz Natur/ Naturbeherrschung als relevant. Der Gegensatz Kapital/Arbeit, der auch ein Herrschaftsverhältnis bezeichnet, wird den neuen Relevanzkriterien subsumiert. Anders gesagt: Marx und Engels haben mit ihren Relevanzkriterien nicht die gesamte Problematik der Herrschaft erfasst, so dass ihre Theorie zu kurz greifen musste. Sie musste auch deshalb zu kurz greifen, weil Marx und Engels die Herrschaftsmechanismen in ihrem eigenen Diskurs nicht reflektierten. Sie blieben allzu sehr dem Hegelianismus verhaftet, dessen „Vergottung der Geschichte“ und dessen „Identitätsdenken“ sie reproduzierten: „Es ging um die Vergottung der Geschichte, auch bei den atheistischen Hegelianern Marx und Engels.“ (Adorno 1966: 313) Diese Vergottung der Geschichte als Auftraggeberin, als säkularisierte Gottheit, bringt eine hegelianische Identifizierung des Diskurses, der Erzählung mit der Wirklichkeit mit sich. Dieser Identifizierung wohnt der Hegelʼsche Herrschaftsanspruch inne, den Adorno und Horkheimer überwinden möchten. Dies ist der Grund, weshalb sie – vor allem in der Dialektik der Aufklärung – weiter ausholen und, ausgehend von dem Gegensatz Natur/Naturbeherrschung, die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Herrschaft über die Natur erzählen. Dabei erscheint das menschliche Subjekt als eine ambivalente Instanz, die einerseits die Herrschaft über die Natur als Objekt organisiert und

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festschreibt, andererseits aber durchaus in der Lage ist, als kritisches Subjekt über die Folgen dieser Herrschaftsbeziehung nachzudenken und das Verhältnis von Mensch und Natur, von Subjekt und Objekt neu zu bestimmen. Dabei entsteht das folgende Aktantenmodell: Die Auftraggeberin des Menschen ist nicht mehr (wie bei Marx und Engels) die „Geschichte“, sondern die „Natur“. Die Gegenauftraggeberin ist die „Herrschaft“ als Herrschaftsprinzip. In beiden Fällen ist die beauftragte Instanz das „Subjekt“, das in diesem Fall einen ambivalenten Charakter hat: Es ist einerseits ein kritisches, von der Natur beauftragtes Subjekt, andererseits ein herrschaftliches Subjekt, das die Naturbeherrschung immer weiter treibt und dabei verfeinert. Die Helferin des von der Natur beauftragten Subjekts ist die „kritische Kunst“ mit ihren mimetischen Verfahren, ihrer mimetischen Sprache, die sich den Herrschaftsmechanismen entzieht. Die Widersacher dieses Subjekts und Helfer des herrschaftlichen Antisubjekts sind die rationalistischen, positivistischen und hegelianischen Philosophen, die die Herrschaft des Antisubjekts über die Natur perpetuieren. Die Ambivalenz des Subjekts besteht u.a. darin, dass das kritische und das herrschaftliche Subjekt nicht sauber zu trennen sind. Dies ist der Grund, weshalb Adorno in immer neuen Anläufen versucht, die Herrschaftsmechanismen in seinem eigenen Diskurs durch neue Verfahren zu überwinden. So heißt es beispielsweise in einem Kommentar zu den Darstellungsschwierigkeiten seiner Ästhetischen Theorie: „Sie bestehen […] darin, daß die einem Buch fast unabdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist, daß deswegen eine Disposition im traditionellen Sinne, wie ich sie bis jetzt noch verfolgt habe (auch in der Negativen Dialektik verfolgte), sich als undurchführbar erweist. Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einem Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken.“ (Adorno 1970: 541) Diese Passage, in der das Wort „Konstellation“ auf Walter Benjamins „Konfiguration“ und Mallarmés „constellation“ in „Un Coup de dés“ verweist, zeugt von der Ambivalenz, ja der Spaltung des Subjekts, das in zwei miteinander ringende Instanzen zerfällt: eine herrschaftliche und eine herrschaftskritische, die sich der Mimesis der Kunst verpflichtet fühlt. Die eine agiert im Auftrag der beherrschten Natur, die andere im Auftrag der rational organisierten Herrschaft und des Herrschaftsprinzips. Dadurch entsteht eine ganz neue, selbstkritische Erzählung, die auf die Emanzipation von Herrschaft und instrumenteller Vernunft ausgerichtet ist. Diese Emanzipation als Befreiung des menschlichen Subjekts, das Teil der Natur ist, ist Ziel und Objekt-Aktant der Erzählung, die sich als Alternative zu Rationalismus, Hegelianismus und Marxismus präsentiert.

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In Adornos Modell fällt der Kunst die Rolle der Helferin zu, die das Subjekt mit einer neuen Kompetenz („Modalität“, würde [Greimas 1983; 67] sagen) ausstatten soll: mit einer mimetischen Vernunft, die es dem Subjekt gestatten soll, die Herrschaftsansprüche und Herrschaftsmechanismen des Antisubjekts und der Gegenauftraggeberin zu überwinden. Es soll eine Alternative zu der herrschenden, der instrumentellen Vernunft, wie Horkheimer sie nennt, entwerfen. Schon in der Dialektik der Aufklärung heißt es: „Mit fortschreitender Aufklärung haben es nur die authentischen Kunstwerke vermocht, der bloßen Imitation dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen.“ (Horkheimer, Adorno 1947: 29) Das kritische, das „authentische“ Subjekt soll der Kunst bis dorthin folgen, wo sich eine Alternative zur instrumentellen Vernunft der Rationalisten, Positivisten, Hegelianer und Marxisten abzeichnet. Zur Funktion der Kunst in Adornos Diskurs bemerkt Karl Markus Michel: „Ja ich behaupte: für Adorno ist die Kunst das, was für die linke Intelligenz hundert Jahre lang das Proletariat war […].“ (Michel 1979, 1980: 73) Ich sehe es etwas anders: Die Kunst ist die Helferin des individuellen Subjekts, das versucht, sich der Herrschaft der instrumentellen Vernunft in allen ihren Varianten zu entziehen. Der Kunst stehen die Widersacher dieses Subjekts gegenüber: die positive Wissenschaft im Sinne von Comte, der Hegelianismus und nicht zuletzt auch der hegelianische Marxismus, der die Geschichte „vergottet“ und dessen Zukunftsvisionen eher dazu angetan sind, die bestehenden Herrschaftsmechanismen zu stärken, als sie aufzulösen. Es sei in diesem Zusammenhang an einige Passagen im Kommunistischen Manifest erinnert, in denen die Stärkung der neuen, der sozialistischen Staatsmacht gefordert wird: „Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.“ (Marx 1971: 547) Durch den „Arbeitszwang“ und die Errichtung von „industriellen Armeen“ wird die Herrschaft über die Natur und den Menschen noch verstärkt: „Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.“ (Marx 1971: 548) All dies deutet auf eine Stärkung der „instrumentellen Vernunft“, nicht auf deren Auflösung. Im realen Sozialismus wurden alle diese Entwürfe verwirklicht, und die Herrschaft über Natur und Mensch nahm noch nie gekannte Ausmaße an. In letzter Zeit zeigt sich dies vor allem in China, wo (wie seinerzeit in der Sowjetunion) ganze Bevölkerungen umgesiedelt werden, wenn es gilt, die Energieversorgung mit Hilfe eines Staudamms zu sichern. Die Folgen für die Umwelt sind in solchen Fällen sekundär. In diesem Zusammenhang ist die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers nicht nur als eine Kritik an Rationalismus, Hegelianismus und Marxismus

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zu verstehen, sondern auch als eine Reaktion auf den real existierenden Sozialismus, dessen Vertreter auf allen Ebenen versuchten, die Herrschaftsmechanismen (Planwirtschaft, Parteidisziplin, militärische Aufrüstung) zu stärken. Als Alternative stellen sich Adorno und Horkheimer ein Denken vor, das sich vom Herrschaftsprinzip in allen seinen Ausprägungen löst. Die Kunst soll wesentlich zur Loslösung von der instrumentellen Vernunft und deren Herrschaftsmechanismen beitragen. Sie soll dem Einzelsubjekt als Geist helfen, sich von der herrschaftlichen Vernunft zu verabschieden. Dazu heißt es in Adornos Ästhetischer Theorie: „In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden.“ (Adorno 1970: 202) In der Versöhnung mit der Natur ist die Emanzipation des menschlichen Subjekts angelegt. Adornos und Horkheimers Aktantenmodell, das ihrer Erzählung zugrunde liegt, unterscheidet sich wesentlich vom Hegelʼschen und Marxschen dadurch, dass es nicht auf kollektive Aktanten (Klassen, Gruppen) ausgerichtet ist, sondern das Subjekt als Einzelsubjekt, als Individuum auffasst. Im individuellen Subjekt ist aus Adornos Sicht das kritische Potenzial angelegt, nicht in einer sozialen Klasse wie dem Proletariat: „Das individuelle Bewußtsein, welches das Ganze erkennt, worin die Individuen eingespannt sind, ist auch heute noch nicht bloß individuell, sondern hält in der Konsequenz des Gedankens das Allgemeine fest. Gegenüber den kollektiven Mächten, die in der gegenwärtigen Welt den Weltgeist usurpieren, kann das Allgemeine und Vernünftige beim isolierten Einzelnen besser überwintern, als bei den stärkeren Bataillonen, welche die Allgemeinheit der Vernunft gehorsam preisgegeben haben.“ (Adorno 1971: 84–85) Dies bedeutet konkret, dass die Kritische Theorie das kritische Denken nicht länger im Klassenkollektiv sucht, sondern es mit der individuellen Partikularität, dem „isolierten Einzelnen“, identifiziert. Entsprechend richtet sie ihr Aktantenmodell und die aus ihm hervorgehende Erzählung der Gesellschaft ein.

4.

H ERRSCHAFT , S UBJEKTIVITÄT UND K RITIK IM F EMINISMUS : A GENCY ODER „D EKONSTRUKTION “?

Es geht hier primär, obwohl nicht ausschließlich, um die Frage nach dem Nexus von Relevanzkriterien als semantisch-ideologischen Entscheidungen und den narrativen Abläufen von Diskursen, von denen ein jeder die soziale Wirklichkeit anders erzählt, d.h. anders konstruiert. Daher steht hier nicht die Frage im Vordergrund, welcher Diskurs diese Wirklichkeit richtig abbildet, sondern die Frage,

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ob sich sinnvolle Beziehungen zwischen den diskursiven Konstruktionen herstellen lassen. Wer aus seiner Sicht die Verfahren eines theoretischen Diskurses beobachtet, nimmt gleichsam die Stellung eines Beobachters zweiter Ordnung im Sinne von Luhmann ein. Von ihm heißt es in Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft: „Der Beobachter des Beobachters ist kein ‚besserer‘ Beobachter, nur ein anderer.“ (Luhmann 1997: 1142) Wer von seiner Warte aus (d.h. immer von einem partikularen Standort aus) mehrere Beobachter und ihre Diskurse beobachtet und vergleicht, hat andere Möglichkeiten und könnte als Beobachter dritter Ordnung aufgefasst werden. Er ist möglicherweise kein besserer Beobachter, sieht aber wesentlich mehr. In diesem Zusammenhang erscheinen die verschiedenen und (wie sich zeigen wird) einander widersprechenden feministischen Theorien als Alternativdiskurse, die sowohl mit der Marxʼschen Erzählung als auch mit der Adornos und Horkheimers konkurrieren, indem sie vor allem deren Relevanzkriterien in Frage stellen. In allen drei Fällen geht es aber – und dies ist hier das Entscheidende – um Herrschaftsverhältnisse. Der Herrschaftsbegriff bildet den gemeinsamen Nenner der drei Theorienkomplexe und macht sie vergleichbar. Während jedoch Marx den Gegensatz Kapital/Arbeit für relevant hält und die Herrschaftsverhältnisse in der modernen (bürgerlichen) Gesellschaft aus ihm ableitet, holen die feministischen Theoretikerinnen – wie Adorno und Horkheimer – weiter aus, indem sie den Gegensatz zwischen den Geschlechtern für relevant erklären. Allerdings sind ihre Relevanzkriterien konkreter als die der Kritischen Theorie, die beim sehr allgemeinen Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt ansetzt. Dabei setzt sie sich dem Vorwurf aus, dass sie die Entstehung des Herrschaftsverhältnisses nicht genau (historisch) bezeichnen kann und sich in der Dialektik der Aufklärung genötigt sieht, auf den Odysseus-Mythos zu rekurrieren, um ihre Erzählung plausibel erscheinen zu lassen. Indem die feministischen Theorien den Gegensatz männlich/weiblich für relevant erklären, konkretisieren sie zwar den Herrschaftsbegriff im Vergleich zur Kritischen Theorie, erreichen aber nicht die soziologische und historische Konkretheit der Marxʼschen Relevanzkriterien, die aus der Beobachtung kapitalistischer Verhältnisse im 19. Jahrhundert hervorgehen. Die umstrittenen Theorien des Matriarchats oder der Matriarchate reichen für eine Konkretisierung im Sinne von Marx nicht aus. In diesem Sinn scheinen die Marxʼschen Relevanzkriterien sowohl denen der Kritischen Theorie als auch denen der feministischen Ansätze überlegen zu sein. Besonders anschaulich wirkt die Entscheidung für Relevanzkriterien im Sinne des Feminismus in Françoise d’Eaubonnes schon älterem Buch Feminismus

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oder Tod, in dem alle Herrschaftsformen aus der Dominanz des männlichen Geschlechts über das weibliche abgeleitet werden. Es handelt sich eher um einen ideologischen (monologischen) als um einen theoretischen (konstruktivistischdialogischen) Diskurs. Dem Satz „Das ist absolut evident“ folgen Behauptungen, die die neuen Relevanzkriterien plausibel machen sollen: „An der Basis des ökologischen Problems finden sich gewisse Machtstrukturen. Wie das Problem der Übervölkerung ist dies ein Problem der Männer; nicht nur weil die Männer die Macht der Welt in Händen haben und schon seit einem Jahrhundert die radikale Empfängnisverhütung hätten anwenden können, sondern weil die Macht so verteilt ist, daß sie durchweg von Männern über Frauen ausgeübt wird. In der Umweltzerstörung und in der Übervölkerung prallen die Widersprüche des Kapitalismus hart aufeinander, wenngleich diese Probleme weit über den Rahmen des Kapitalismus hinausgehen und der Sozialismus sie genausogut kennt, weil dort wie hier der Sexismus die herrschende Macht ist.“ (d’Eaubonne 1975: 195) Es geht hier nicht so sehr um die Bewertung der einzelnen Argumente, sondern um die Tatsache, dass bestimmte soziale Prozesse wie „Übervölkerung“ und „Umweltzerstörung“ im Rahmen einer Erzählung dargestellt werden, in der der „Weiblichkeit“ die Funktion der Auftraggeberin zufällt, während die „Männlichkeit“ als Gegenauftraggeberin auftritt. In diesem narrativen Schema ist das Subjekt die „Frau“ oder die „Frauenbewegung“, das Antisubjekt der „Mann“ und der Objekt-Aktant – als telos der Geschichte – eine weibliche, von aller Herrschaft befreite Gesellschaft. Dieses recht einfache Aktantenmodell stellt Günter Dux – zumindest implizit – in Frage, wenn er in seinem Buch Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter von dem Grundgedanken ausgeht, dass das Macht- und Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern gleichsam von außen in die Mann-FrauBeziehung hineingetragen wurde: dass es mithin vom sozialen Umfeld bedingt ist, und zwar aufgrund der Tatsache, „daß sich die Organisationskompetenz des Menschen über die Welt hat steigern lassen“. (Dux 1997: 418) Günter Dux fasst seine These zusammen: „Exakt diese Strategie hat uns zu der These veranlaßt, die Bedrückung des Geschlechterverhältnisses durch Macht rühre nicht aus dem her, was die Geschlechter miteinander verbindet, sie stelle vielmehr eine Rückwirkung der Konstitution der umfassenderen Gesellschaft über Macht dar, denen [der?] das Geschlechterverhältnis eingeordnet sei.“ (Dux 1997: 418) Der Machtfaktor dringt vor allem dadurch in das Geschlechterverhältnis ein, dass der Mann seit der Entstehung der archaischen Gesellschaften die Familie „nach außen“ vertritt. Dux spricht von der „Außenzuständigkeit des Mannes“ (Dux 1997: 421), die noch in Talcott Parsonsʼ Systemtheorie (vgl. Parsons/Bales 1956/2000: 13) zur Sprache kommt.

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Dux holt weiter aus im Sinne der Kritischen Theorie, indem er das Machtverhältnis von der Geschlechterbeziehung in die Herrschaft des Subjekts über das Objekt verlagert: in „die Organisationskompetenz des Menschen über die Welt“. Er schreibt: „des Menschen“, nicht „des Mannes“ und stellt so die feministischen Relevanzkriterien einer Autorin wie Françoise d’Eaubonne in Frage. Folglich erzählt er eine andere Menschheitsgeschichte. Ich zweifle allerdings daran, dass die Macht- und Herrschaftsstrukturen ausschließlich von außen in die „Liebesbeziehung“ der Geschlechter eindringen. Denn ich habe im Laufe der Jahre den Eindruck gewonnen, dass schon Tiere und Kleinkinder beiderlei Geschlechts Machtansprüche erheben und versuchen, sie – bisweilen mit fragwürdigen Mitteln – durchzusetzen. Das Machtstreben ist möglicherweise in der menschlichen Subjektivität als solcher angelegt und wird durch Einwirkungen von „außen“ nur potenziert. Diese Hypothese spielt in neueren feministischen Diskussionen eine zentrale Rolle. Dabei geht es einerseits um die Konstitution einer weiblichen (individuellen und kollektiven) Subjektivität als agency, andererseits um eine dekonstruktivistische Kritik des Subjektbegriffs als männlicher Konstruktion und als Ausfluss der Machtausübung. Die Vertreterinnen des agency-Theorems handeln nach der von Dux formulierten Maxime, „daß Macht ausgeübt wird, ist Grund genug, um auch Gegenmacht zu üben“ (Dux 1997: 439). Für sie ist entscheidend, dass sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene die Handlungsfähigkeit der Frau gestärkt und ihr Handlungsspielraum erweitert wird. In diesem Sinn äußert sich Françoise Gaspard (eine Schülerin von Alain Touraine) zu den Relevanzkriterien in der Soziologie, wenn sie für eine Neuorientierung dieses Fachs am Geschlechterverhältnis plädiert: „Wie in der Geschichte sollten wir uns auch in der Soziologie stärker am Verhältnis zwischen den Geschlechtern orientieren.“ (Gaspard 1995: 147) Nicht das Verhältnis zwischen sozialen Klassen, auch nicht das Verhältnis Mensch-Natur wird hier für relevant erklärt, sondern die Mann-Frau-Beziehung. Damit wird zugleich eine neue Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung gefordert. Ähnlich argumentiert Sabina Lovibond, wenn sie sich für eine feministische Subjektivität als agency einsetzt und für eine „voll entwickelte Subjektivität“ (Lovibond 1990: 159) der Frau plädiert. Ihre Vorstellungen werden von der amerikanischen Feministin Honi Fern Haber ergänzt, die den Subjektbegriff gegen alle Arten des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion verteidigt: „Kurzum: die Gefahr besteht darin, dass das Gesetz der Differenz so verstanden wird, dass es die Universalisierung von Differenz fordert, dass es die Dekonstruktion jeder Art von Zentrum verlangt, also auch die eines einigen, zusammenhängenden

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Subjekts.“ (Fern Haber 1994: 120) Diese Art von Subjekt hält sie für unverzichtbar, weil sie zu Recht der Meinung ist, dass Frauen ohne individuelle und kollektive Subjektivität keine „Gegenmacht ausüben“ können. Im Gegenzug zu den Dekonstruktivistinnen fordert sie eine individuelle und kollektive „Handlungsbefähigung“ als empowerment. Dennoch haben die Vertreterinnen der Dekonstruktion nicht völlig Unrecht. Im Anschluss an Adorno und Horkheimer könnten sie geltend machen, dass die Ausrichtung des Denkens auf agency und politisches Handeln die Theorie blendet und kritische Selbstreflexion verhindert. In dieser Situation wird Subjektivität von Judith Butler als vorkonstruierte soziale Position, d.h. als Rollenmuster im funktionalistischen Sinn und als „männliche Fantasie der Autogenese“ (Butler 1992: 9), abgelehnt. Sie plädiert für eine kritische Analyse von Subjektivität, die deren sprachliche, psychische und soziale Ursprünge erkennen lässt. Ihre Betrachtungsweise ist eher dekonstruktivistisch als destruktiv, da sie sich – wie Derrida – eine „radikale Strukturanalyse“ vornimmt. „Die Subjektkritik“, erklärt sie, „ist keine Negation oder Ablehnung des Subjekts, eher eine Art, dessen Konstruktion als Grundvoraussetzung oder Gründungsprämisse in Frage zu stellen.“ (Butler 1992: 9) Es geht hier nicht darum, in der Kontroverse zwischen Befürworterinnen von agency und empowerment und Dekonstruktivistinnen Partei zu ergreifen. Wichtiger scheint die Tatsache zu sein, dass auch die beiden feministischen Gruppen versuchen, die gesellschaftliche Entwicklung auf zwei verschiedene Arten zu erzählen: Im ersten Fall geht es primär um die Möglichkeit eines wachsenden sozialen empowerment auf kollektiver und individueller Ebene; im zweiten Fall wird die Entstehung einer männlich dominierten Subjektivität nachgezeichnet und nach den Möglichkeiten gefragt, sich den Mechanismen dieser vorkonstruierten Subjektivität zu entziehen. In beiden Fällen ist die Erzählung, wie der Historiker Werner Schiffer sagt, „bereits als solche eine Form der Erklärung“ (Schiffer 1980: 23). Dies bedeutet konkret, dass Marx die Geschichte nicht nur als Klassenkampf erzählt, sondern ihre Bewegungen zugleich im Rahmen des Gegensatzes Kapital/Arbeit erklärt. Und dies ist worauf es hier ankommt: Zu erkennen, dass in Sozialphilosophie und Soziologie „Verstehen“ und „Erklären“ die Form narrativer Konstruktionen annehmen, die bestimmte Relevanzkriterien zur Voraussetzung haben. Es erscheint sinnvoll, diese Konstruktionen dialogisch aufeinander zu beziehen, um ihre Stärken und Schwächen zu erkennen. Denn erst wenn die heterogenen Diskurse des Marxismus, der Kritischen Theorie und des Feminismus aufeinander bezogen werden, wird klar, dass keiner dieser Diskurse den Gesamtzusammenhang erkennen lässt. Der Marxʼsche Diskurs lässt die Frage nach den ge-

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schlechtsspezifischen Komponenten der Herrschaft erst gar nicht aufkommen; die feministischen Theorien blenden die ökonomischen Strukturen aus, die die Sachzwänge der spätkapitalistischen Gesellschaft bedingen; und die Kritische Theorie holt in ihrer Erklärung/Erzählung der Herrschaft so weit aus, dass deren Entstehung nicht konkret erfasst wird. Das „Gegen-sich-Selbst-Denken“ (Adorno 1966: 142), für das Adorno in der Negativen Dialektik plädiert, wird aber durch den Dialog auf Metaebene ermöglicht, in dem jede Erzählung-Erklärung gleichsam von außen – mit den Augen eines Beobachters dritten Grades – betrachtet wird. Diese Beobachtung dritten Grades kann uns davor bewahren, als Subjekte in einem theoretischen Diskurs aufzugehen und seinem ideologisch-theoretischen Machtanspruch zum Opfer zu fallen. An der von Adorno postulierten Nichtidentität – notfalls mit dem eigenen Diskurs – ist festzuhalten.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, Frankfurt: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, Frankfurt: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1971): Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp. Butler, Judith (1992): „Contingent Foundations: Feminism and the Question of Postmodernism“, in: Judith Butler/Jane W. Scott (Hg.), Feminists Theorize the Political, London/New York: Routledge, S. 7–31. d’Eaubonne, Françoise (1975): Feminismus oder Tod. Thesen zur Ökologiedebatte, München: Frauenoffensive. Derrida, Jacques (1992): Points de suspension. Entretiens, hg. v. Elisabeth Weber, Paris: Galilée. Dux, Günter (1992): Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen Frau und Mann, Frankfurt: Suhrkamp. Fern Haber, Honi (1994): Beyond Postmodern Politics: Lyotard, Rorty, Foucault, London/New York: Routledge. Gaspard, Françoise (1995): „Le Sujet est-il neutre?“, in: François Dubet/Michel Wieviorka (Hg.), Penser le sujet. Autour d’Alain Touraine (Colloque de Cerisy), Paris: Fayard, S. 143–155. Genette, Gérard (1972): Figures III, Paris, Seuil. Greimas, Algirdas Julien (1966): Sémantique structurale, Paris: Larousse. Greimas, Algirdas Julien (1983): Du Sens II, Paris: Seuil.

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Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt: Suhrkamp. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung, Amsterdam: Querido. Lovibond, Sabina (1990): „Feminism and Postmodernism“, in: Roy Boyne, Ali Rattansi (Hg.), Postmodernism and Society, London: Macmillan. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp. Lyotard, Jean-François (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, GrazWien: Böhlau-Passagen. Marx, Karl (1971): Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, hg. v. S. Landshut, Stuttgart: Kröner. Marx, Karl (1974): „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: MarxEngels Studienausgabe, Bd. IV, hg. v. Iring Fetscher, Geschichte und Politik, Frankfurt: Fischer, S. 58–69. Marx, Karl (1981), Das Kapital, Bd. I. Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein. Michel, Karl Markus (1979): „Versuch, die Ästhetische Theorie zu verstehen“, in: Burkhard Lindner, W. Martin Lüdke (Hg.), Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt: Suhrkamp, S. 41–107. Parsons, Talcott/Bales, R. F. (1956, 2000): Family Socialization and Interaction Process, London/New York: Routledge. Schiffer, Werner (1980): Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart: Metzler.

Praktiken des Eigensinns und die Emergenz des Politischen R AINER W INTER

Seit ihren Anfängen im Kontext der New Left in Großbritannien ist für die Cultural Studies die Frage nach Agency zentral. Es geht ihnen gerade darum zu untersuchen, wie Subjekte ihr Leben unter sozialen Bedingungen gestalten, die sie selbst nicht wählen konnten und die durch Herrschafts- und Machtverhältnisse geprägt sind. Es ist der Bereich der Kultur, in dem in Auseinandersetzung mit den auf Reproduktion angelegten Strukturen des Bestehenden auch neue Bedeutungen artikuliert und alternative Interpretationen geschaffen werden können.

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In Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht (Winter 2001) habe ich in einer historisch-theoretischen Auseinandersetzung mit den Ursprüngen und der Entwicklung dieses politischen Projekts gezeigt, dass die kritische Analyse von Machtverhältnissen, die mittels und durch Kultur geschaffen, aufrechterhalten und verändert werden, im Zentrum der Cultural Studies steht. Dies unterscheidet sie deutlich von der neueren deutschen Tradition der Kultursoziologie (vgl. Moebius/Albrecht 2014), die im Großen und Ganzen den Versuch darstellt, Kulturanalyse zu betreiben, als ob wir bereits in der besten aller Welten leben würden. Gesellschaftskritik wird tabuisiert, die negativen Folgen des Kapitalismus werden nicht beachtet. Eine argumentative Auseinanderset-

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zung mit der kritischen Tradition der Kultursoziologie, die im westlichen Marxismus verankert ist (vgl. Jones 2016), findet nicht statt.1 Cultural Studies gehören zu dieser Tradition. Sie sind antikapitalistisch orientiert (vgl. Gilbert 2008). Sie möchten die Welt verändern und sind so vornehmlich an der Kultur der Gegenwart interessiert. Sie möchten die jeweilige ,Konjunktur‘, die aktuelle Konstellation von Machtverhältnissen, verstehen, um – in einem zweiten Schritt durch die Produktion kritischer Erkenntnis – zu ihrer Veränderung beizutragen. Deshalb ist ihre theoretische Arbeit, ihre Kulturanalyse, immer politisch orientiert. Sie ist verbunden mit sozialen Bewegungen wie z.B. der New Left, dem Feminismus oder dem Kampf gegen Rassismus, die einen Einfluss auf ihre Anliegen und Fragestellungen haben. So stellt Stuart Hall (1992: 283) fest: „movements provoke theoretical moments. And historical conjunctures insist on theories: they are real moments in the evolution of theory“. Vor diesem Hintergrund sind Theorien nicht rein akademische Anliegen, sondern im Sinne der Kritischen Theorie (Horkheimer 1937/1970) Ausdruck einer intellektuellen Praxis, die intervenieren, zur demokratischen Veränderung und zum progressiven sozialen Wandel beitragen möchte. In der Nachfolge von Antonio Gramsci, der seit den 1970er Jahren intensiv rezipiert wurde, wird intellektuelle Arbeit daher als eine Form von Politik begriffen, die einen strategischen, interventionistischen und performativen Charakter hat. Folglich ist das Wissen, das generiert wird, als „umkämpft“, „lokalisiert“ und „konjunkturell“ (Hall 1992: 286) zu verstehen. Im Dialog mit den Betroffenen soll es zur Lösung ökonomischer, gesellschaftlicher und sozialer Probleme beitragen oder zumindest Veränderungen wahrscheinlicher machen. Diese kritische Orientierung unterscheidet das Projekt der Cultural Studies, das am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham entwickelt wurde und auch heute noch betrieben sowie weiterentwickelt wird (vgl. Grossberg 2010; Winter 2011), von Formationen im englischen Sprachraum, die diese Orientierung nicht teilen, aber ebenfalls auf die Analyse der gegenwärtigen Kultur fokussiert sind, und von den Fel-

1

Eine neuere Veröffentlichung heißt Kultursoziologie im 21. Jahrhundert (Fischer/ Moebius 2014). Zu diesem Band tragen nur deutsche Autoren und Autorinnen Beiträge bei. Dennoch erheben die Herausgeber einen globalen Anspruch. Ein Blick in aktuelle englischsprachige Handbücher (z.B. Inglis/Amila 2016) lässt einen bereits nach der Lektüre der Inhaltsverzeichnisse erkennen, dass der bei einer Tagung in Dresden gewählte Titel sich überlokal nicht halten lässt. Zudem wird die neuere deutsche Tradition nicht erwähnt.

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dern der „Kulturwissenschaften“ im deutschen Sprachraum, die aber gerade auch historisch, z.B. im Sinne einer Kulturgeschichte, ausgerichtet sein können. In Die Kunst des Eigensinns (Winter 2001) zeige ich, dass diese explizit formulierte Perspektive der Cultural Studies mit dem Motiv einer Kunst des Eigensinns verbunden ist. Bereits Oskar Negt und Alexander Kluge haben in Geschichte und Eigensinn (1981) diesen Begriff mit einer ähnlichen Zielrichtung verwendet. Sie haben ihn aber nicht systematisch expliziert. So führen sie vornehmlich Beispiele aus der Literatur und aus Märchen an, um ihn zu illustrieren. Er hilft in ihrer baukastenartig angelegten Aktualisierung von Marx als Abgrenzung gegen deterministische und strukturalistische Geschichtsauffassungen. Hierbei liegt der Schwerpunkt ihrer Darstellung jedoch auf der geschichtlichen Entwicklung der Arbeitsvermögen und ihrer widersprüchlichen sowie transformierenden Kraft. Allerdings entwarf ein Autor, der in den Cultural Studies weitgehend ignoriert wird, eine kraftvolle, systematische und einflussreiche Konzeption des Eigensinns, nämlich Sigmund Freud. In seiner Analyse des persönlichen Lebens arbeitete er heraus, dass jeder ein zufälliges, von sozialen und historischen Kontingenzen abhängiges, aber einzigartiges Unbewusstes hat, das eigensinnige Bedeutungen in Auseinandersetzung mit Kultur und Gesellschaft produziert. Sein Interesse galt gerade der je besonderen Weise, in der ein Individuum Wünsche angesichts gesellschaftlicher Anforderungen und Repressionen unbewusst mit Erfahrungen und Erinnerungen verknüpft. So entsteht „eine innere, eigensinnigcharakteristische Quelle von Motivationen, die dem Individuum zugehören“ (Zaretsky 2006: 30). Ziel der Psychoanalyse ist es, den „Eigensinn der eigenen Natur zu verstehen“ (ebd.: 31), der in der individuellen Geschichte entstanden ist. Die persönliche, gleichwohl gesellschaftlich geformte Dimension des Lebens bleibt in den politisch orientierten Analysen der Cultural Studies oft unterbelichtet, ist aber implizit vorhanden, mithin Teil der Kunst des Eigensinns. Eine in der Lebenswelt verankerte Agency kann Machtverhältnisse transformieren und auch im Verhältnis zu sich selbst Veränderungen bewirken. Bereits in Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess (Winter 1995/2010) habe ich herausgearbeitet, dass die Rezeption und Aneignung von medialen Texten durch produktive und kreative Prozesse geprägt sein kann. So können z.B. Horrorfilme eigensinnig anverwandelt werden, indem sie auf das eigene Leben, auf Probleme, Ängste und Traumata, bezogen werden. Der Umgang mit den Filmen kann dann zur Kartographierung eigener Ängste führen und eine intensive Selbsterfahrung erlauben. Die Fans schaffen in Auseinandersetzung mit den Produkten der Kulturindustrie eigene Kulturen und ästhetische Gemeinschaften, die sich von anderen abgrenzen und

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sehr wichtig für die persönliche Lebensgestaltung werden können. Die Untersuchungen zu Jugendkulturen und zur Populärkultur, die Paul Willis et al. (1991) oder John Fiske (1989a, 1989b; Winter/Mikos 2001) durchgeführt haben, unterstreichen, wie Kreativität im Alltag spontan und unvorhersehbar entstehen kann. Die Bilderwelt der Medien und die Kontexte des eigenen Lebens regen zu solchen Aneignungen an. Digitale Medien vervielfachen die Möglichkeiten produktiven Umgangs (Winter 2010). Wegweisend in der Entwicklung dieser Perspektive war auch der von der Lacanʼschen Psychoanalyse geprägte Michel de Certeau, der in Kunst des Handelns (1988) herausgearbeitet hat, dass alltägliche Praktiken erfinderisch, trickreich, taktisch, heterogen oder eigensinnig im Umgang mit der strategisch organisierten Macht sein können. Das Alltagsleben ist ein Ort kultureller Auseinandersetzungen und sozialer Kämpfe. De Certeau konzipiert kulturellen und gesellschaftlichen Wandel nicht als radikalen Bruch, sondern als eine den Alltagspraktiken immanente Potentialität. Deren Entfaltung hängt von der jeweiligen Konfiguration der Machtverhältnisse ab. Diese latente Spannung zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen in den alltäglichen sozialen Praktiken prägt auch die Arbeiten von John Fiske und Lawrence Grossberg (Winter 2001: Kap. 4). Für Fiske (1993) sind es gerade alltägliche Praktiken, mit denen Menschen versuchen, sich zurecht zu finden, die Kontrolle über ihre unmittelbaren Lebensbedingungen zu erweitern und eine „Gegenmacht“ zu entwickeln versuchen. „Agency is making do with what one has. [...] Making do is an act of social relations, and the struggle for control is always involved“ (Fiske 1993: 21f.). Ergänzend betonen Grossbergs Studien zur Rockmusik (1992), dass affektive Ermächtigung eine wichtige Voraussetzung für Handlungsfähigkeit sein kann, weil sie das Gefühl einer gewissen Kontrolle über das eigene Leben vermittelt. Während Fiske eher optimistisch in Bezug auf die Transformation von Machtverhältnissen durch Formen einer Macht ,von unten‘ ist, hält Grossberg Fluchtlinien temporär für möglich, zeigt jedoch in einer gesellschaftliche Diskursformationen berücksichtigenden konjunkturellen Analyse, dass gerade die Rockmusik von der „Neuen Rechten“ zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie genutzt wurde. Hall (1981) folgend sind jedoch auch seine Analysen auf den Kampf um das Populäre gerichtet. „By ,the politics of the popular‘, I do not mean merely the political inflections of popular texts, or the relations of such texts to ideological positions, subjectives or pleasures. Rather I mean to point to the intersections of popular culture, popular politics (or political identity) and systemic structures and forces of political and economic inequality and domination.“ (Grossberg 1997: 199f.)

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Grossberg (2005, 2010) betont die große Bedeutung der theoretischen Analyse der historischen Konjunktur der Gegenwart, um verstehen zu können, ob und wie ein progressiver kultureller und gesellschaftlicher Wandel überhaupt möglich sein kann. Meine Analyse der Kunst des Eigensinns, die sich in alltäglichen Praktiken entfaltet, möchte diese an Gramsci anschließenden Versuche eines „cognitive mapping“ (Jameson 1986) der Gegenwart dadurch ergänzen, dass nicht nur die je besondere Perspektive der im Alltag Handelnden angemessen berücksichtigt wird, wie dies z.B. in der Tiefenhermeneutik von Alfred Lorenzer (1974) der Fall ist, sondern auch der Eigensinn von Erfahrungen und Praktiken. Dies macht hegemonietheoretische Analysen und Modelle nicht überflüssig, verschiebt das Augenmerk gleichwohl auf das kreative Potential in alltäglichen Praktiken, auf die Verknüpfung von Eigensinn und Widerstand, die zentral für politische Handlungsfähigkeit ist. Damit ist auch die Frage nach der Emergenz des Politischen (vgl. Flügel/Heil/Hetzel 2004) gestellt. Dies ereignet sich vielleicht selten, ist kontingent, es kommt aber vor, wie zuletzt die Occupy-Bewegung eindrucksvoll demonstriert hat. Verschiedene Fragen stellen sich hier. Wie entsteht aus eigensinnigen und widerständigen Praktiken das Politische? Wie hängt die Politik der Kultur mit der Entstehung des Politischen zusammen? Die Beantwortung dieser Fragen scheint mir wichtig zu sein, um das Projekt der Cultural Studies heute sinnvoll fortführen zu können. Bevor ich daher in Auseinandersetzung mit dem Werk des Philosophen Jacques Rancière, das in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, die Ursprünge und Konturen des Politischen näher bestimme, möchte ich zunächst betrachten, wie Widerstand von Michel Foucault konzipiert wird, der zentrale Beiträge zur Entfaltung dieses Konzepts geliefert hat und neben Gramsci für die Entwicklung der Cultural Studies, beispielsweise für die Arbeiten von Michel de Certeau, John Fiske und Lawrence Grossberg, aber auch für die Arbeiten von Rancière grundlegend war. Dabei betrachte ich vor allem die Formen des Widerstandes, die sich in eigensinniger Weise gegen Machtverhältnisse stellen. Wenn eine Kraft (eine Handlung) auf eine andere Kraft (Handlung) stößt, erfährt sie einen Widerstand, der sie ablenkt, destabilisiert, aufhält oder neue Wege suchen lässt. So versteht Foucault (1977: 113) unter Macht ein Diagramm, „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verschiebt“. Vor diesem Hintergrund nehmen die Formen des Widerstands heterogene Gestalt an, ereignen sich kontextuell und erscheinen zufällig. Widerstand setzt sich aus Formen der Reaktion und der Aktion zusammen. Er reagiert auf ein Ereignis, ist der Macht unterge-

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ordnet, der er gleichwohl widersteht. Gleichzeitig negiert er das Bestehende, ist durch Erfindungsgeist und Eigensinn bestimmt. Widerstand entsteht, sobald eine Macht erscheint. Er findet sich nicht resignativ mit dem Gegebenen ab. So drückt Bartleby bei Herman Melville durch seine Einstellung „I would prefer not to“ eine Form absoluten Ungehorsams aus, die die alltäglichen Routinen und Erwartungen in Frage stellt. Schließlich scheint er verrückt zu werden, aber durch dieses eigensinnige Verhalten – der Widerstand scheint ihm immanent zu sein – richtet sich der Blick auf eine Veränderung des Bestehenden und auf neue Möglichkeiten, auch wenn bisweilen nicht sicher ist, wie diese aussehen sollen. Soziale Bewegungen leisten ebenfalls oft Widerstand, ohne in absehbarer Zeit eine tragfähige Alternative anbieten zu können. So macht die weltweite Durchsetzung der Logik des Kapitals Arbeitsverhältnisse zunehmend prekär. Nichtsdestotrotz wird von Demonstranten die 30-Stunden-Woche und ein Grundeinkommen für alle gefordert. Diese utopische Verankerung macht den Widerstand nicht unvernünftig, sondern gerade sie kann aufrütteln, neue Räume der Diskussion und des gemeinsamen Handelns eröffnen. Zudem führt die Gesellschaft im Internet-Zeitalter, die Manuel Castells (2012) als „network society“ bestimmt, zur Konzentration von Macht in Netzwerken. Deshalb müssen sich Formen von Gegenmacht, die Machtverhältnisse verändern möchten, heute vor allem auf digitale Medien stützen (Winter 2010). Neue soziale Bewegungen, von den Protesten in Seattle über den „Arabischen Frühling“ bis zur „Occupy Wall Street-Bewegung“, nutzen die digitalen Mechanismen der Macht. „By engaging in the production of mass media messages, and by developing autonomous networks of horizontal communication, citizens of the Information Age become able to invent new programs for their lives with the materials of their sufferings, fears, dreams and hopes.“ (Castells 2012: 9)

Subversive Kommunikationspraktiken, die Medien kreativ gebrauchen, artikulieren eigene Erfahrungen, leisten Widerstand und schaffen solidarische Bindungen. Der Widerstand mag wild, leidenschaftlich, unverständlich, blind für die Folgen oder ziellos erscheinen. Im Laufe oder am Ende eines solchen Prozesses kann den Handelnden die tiefere Motivation für ihren Protest, die ihnen zu Beginn vielleicht nicht ganz klar war, deutlich werden. Um Widerstand zu leisten, ist es gerade nicht erforderlich, vorher seine Gründe kommunikativ darzulegen und dessen Folgen abzuschätzen. Das Beispiel sozialer Bewegungen zeigt, dass

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im Prozess des Widerstands neue Werte und Ziele hervorgebracht werden. Der Widerstand scheint ein Geschehnis, ein Gesetz des Seins zu sein, wie Françoise Proust (1997) in ihrer Philosophie des Widerstands feststellt, weniger eine ethische Verpflichtung als eine logische Folge der Existenz von Machtstrukturen. Er lässt sich aber keinesfalls auf diese reduzieren, sondern ist ein Experiment mit der Freiheit, deren Ausdruck er ist. Deshalb werden Formen des Widerstands immer von Formen der Subjektivierung begleitet.

2. W IDERSTAND UND M ACHT VON M ICHEL F OUCAULT

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Widerstand ist kontextuell an die besonderen sozialen Strukturen gebunden, gegen die er opponiert. So stellt Foucault (2005: 917) fest: „Der Widerstand stützt sich stets, in Wirklichkeit, auf die Situation, die er bekämpft“. In seiner Analytik der Macht hat er gezeigt, dass wir in der Moderne zwischen verschiedenen Formen des Widerstandes unterscheiden können, die aber eng miteinander verknüpft sind: dem Widerstand gegen die Disziplinarmacht (Foucault 1976), die sich in der Macht von Institutionen ausdrückt, dem Widerstand gegen die in Bekenntnispraktiken zugewiesenen Identitäten (Foucault 1977) und dem Widerstand gegen die Biomacht, die Bevölkerungen durch staatlich gelenkte, sozialpolitische Maßnahmen kontrollieren möchte. Mittels eines genealogischen Vorgehens stellt sich Foucault die Aufgabe zu diagnostizieren, in welchem Verhältnis Macht, Wissen und Körper zueinander stehen (vgl. Dreyfus/Rabinow 1987: 133ff.). Er untersucht den konkreten Kontext, die Hintergrundpraktiken, vor denen der Widerstand sich entfaltet, eine Eigenschaft, die er in der Lesart von David Hoy mit Jacques Derrida oder Gilles Deleuze teilt. „Poststructuralism prefers a genealogical critique that wrestles with the emancipatory potential of the concrete social situation“ (Hoy 2004: 5). In der genealogischen Perspektive werden unsere Praktiken und auch unser Selbstverständnis von verkörperten, sozial bestimmten Hintergrundpraktiken von Machtrelationen bestimmt, die uns nicht vollständig bewusst werden können, weil sie für unser Dasein konstitutiv sind. So führen sie zur Herausbildung spezifischer Formen von Identität und strukturieren unseren Selbstbezug. HansHerbert Kögler (1994/2004: 194) schlägt vor, von „impliziten Interpretationsmustern“ auszugehen, die unbewusst seien. Diese determinieren das Verhalten aber nie vollständig, die herrschaftsbestimmte Vorstrukturierung lässt sich verändern und potentiell umkehren.

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Bei Nietzsche, der für die Entwicklung des Poststrukturalismus zentral war, findet sich eine Philosophie der Interpretation (oder genauer des interpretierenden Körpers), die kulturelle und soziale Praktiken entschlüsselt, gleichzeitig jedoch betont, dass es plurale Weisen des Verstehens und des In-der-Welt-Seins gibt. Für Nietzsche ist der Interpretationsprozess nie abgeschlossen. Dabei wird der Körper zum Reservoir konkurrierender und alternativer Interpretationen (vgl. Blondel 1986: Kap. 9), die uns in ihrer jeweiligen Form zu dem machen, was wir sind. Hier knüpft Foucault an. Seine Kritik zielt nicht nur auf eine Problematisierung unseres Selbstverständnisses, sondern auch auf einen Prozess der „Entsubjektivierung“. Foucault sagt uns nicht, wer wir wirklich sind und was wir zu tun haben. Dagegen sollen seine genealogischen Analysen uns helfen, den Identitäten zu widerstehen, die uns durch die Praktiken vermittelt werden, in die wir kulturell sowie gesellschaftlich eingebunden sind und die uns konstituieren. So äußert er sich in einem Interview: „Ich bin vielmehr bestrebt, Mechanismen der effektiven Machtausübung zu erfassen; und ich tue es, weil diejenigen, die in diese Machtbeziehungen eingebunden sind, die in sie verwickelt sind, in ihrem Handeln, in ihrem Widerstand und in ihrer Rebellion diesen Machtbeziehungen entkommen, sie transformieren können, kurz, ihnen nicht mehr unterworfen sein müssen.“ (Foucault 2005: 115)

In Foucaults Sichtweise produzieren organisierte Herrschaftsstrukturen unsere Identität. In Überwachen und Strafen (1976) zeigt er nicht nur, wie der Körper diszipliniert, sondern auch, dass er deformiert, in seinen Möglichkeiten eingeschränkt wird, wenn er Normalisierungsprozeduren unterworfen wird. Die Individuen sind in diese Prozesse mit einbezogen, indem sie schrittweise lernen, sich selbst zu normalisieren. Foucault kritisiert, dass das Normale zur sozialen Norm wird, nach der Verhalten beurteilt wird, bzw. dass sich die Vorstellung entwickelt hat, es gebe nur eine Art des normalen Verhaltens, die verbindlich sei. Wenn er aber die Produktivität von Macht hervorhebt, will er damit Disziplin und Selbstdisziplin (z.B. Techniken der Askese) nicht grundsätzlich problematisieren. Erst wenn die Normalisierungsprozeduren unseren Alltag so weit durchdringen, dass ihre Normen als notwendig, alternativlos und universal erscheinen, ist Kritik und Widerstand gegen diese Form von Herrschaft unerlässlich, wenn also vergessen wird, dass die Wirklichkeit nur eine Besonderheit des Möglichen (Tarde 1890/2003) ist. „Critical resistance thus flows from the realization that the present’s self-interpretation is only one among several others that have been viable, and that it should keep itself open to alternative interpretations.“ (Hoy 2004: 72)

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Foucault entwickelt eine soziale Ontologie des Widerstands, weil dieser mehr als ein sekundärer Effekt der Macht sei, wie Deleuze (1992: 99ff.) herausgestellt hat, der paradoxerweise behauptet, dass der Widerstand der Macht vorgängig sei. Foucault (1977) hält im ersten Band von Sexualität und Wahrheit fest, wenn Macht sich etabliert, entsteht auch Widerstand. Dabei gibt es eine Pluralität von Widerstandspunkten, die Einheiten fragmentieren und soziale Trennungen hervorbringen, aber dann auch zu Neugruppierungen und neuen Formen des Widerstands führen können. „Resistance is found in the social ontology from the start. Without a power network it would not even make sense to speak of either resistance or domination, and patterns of resistance and domination are the signs that a power network exists.“ (Hoy 2004: 82) Die Macht benötigt Widerstandspunkte, um überhaupt operieren zu können. Bisweilen wird sie durch Widerstand sogar verstärkt. Foucault kann sich eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse und organisierte Formen von Herrschaft nicht vorstellen. Den Wert seiner genealogischen Analysen sieht er darin, dass sie durch ihre diagnostische Kritik dazu beitragen sollen, Machtrelationen bewusst zu machen, die asymmetrischen Beziehungen der Herrschaft zu reduzieren und in Richtung größerer Gleichheit neu auszurichten. Für Foucault ist Macht immer in soziale Praktiken eingebunden. Durch ihre Ausübung versucht man Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten anderer zu nehmen. Deshalb muss auch ein Widerstand, der Herrschaftsverhältnisse verändern möchte, die Mechanismen der Macht nutzen. So hat John Fiske (1993: 11ff.) gezeigt, dass subordinierte soziale Formationen versuchen, Formen von Gegenmacht zu entwickeln. Diese haben einen lokalisierenden Charakter, weil sie darauf ausgerichtet sind, die eigene Kontrolle über die unmittelbaren Lebensbedingungen zu erweitern und auszudehnen. So kann Herrschaft destabilisiert oder zurückgedrängt werden. Die Disziplinierung des Körpers kann auch dazu führen, dass Gesundheit, Lust und Vergnügen wichtigere Werte als die ursprünglich angestrebte Arbeitstüchtigkeit werden. Freilich kann auch dieser Widerstand gegen Repression erneut vereinnahmt werden, z.B. durch subtilere Kontrollen im Bereich des Konsums oder durch den Illusionsapparat der Schönheitschirurgie. In seinem Spätwerk hat Foucault (1993) dargelegt, wie sich das Subjekt durch Technologien des Selbst, die Disziplinartechniken beinhalten, ästhetisch gestalten und erschaffen kann. Das Leben wird als ein zu formendes Kunstwerk betrachtet. Durch Selbstpraktiken verändert man die eigene Existenzweise und leistet auf diese Weise Widerstand gegen herrschende Konzeptionen von Normalität. Es geht gerade darum, die habituell verinnerlichten sozialen Strukturen und Mechanismen der Macht zu thematisieren, Distanz zu ihnen aufzubauen und sie zu transformieren (vgl. Kögler 1994/2004: 161ff.).

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In diesem Zusammenhang hat Foucault (2005) auch die Rolle der Kritik präzisiert. Sie soll die Grenzen unseres Selbstverständnisses problematisieren, deutlich machen, dass es andere Formen der Welt- und Selbsterfahrung geben kann. Damit soll der Raum für Selbstkreation, in dem wir uns selbst als Kunstwerk erschaffen, erweitert werden. „Therefore, domination must be resisted if only because it restricts the range of possibilities open to agents. That is why Foucault saw his own philosophical ethos as constantly exposing and challenging oppression. The point of his own critical resistance was to do whatever was possible to make sure that the games of power were played with a minimum of domination.“ (Hoy 2004: 92f.)

Foucaults Genealogie zielt also darauf ab, dem Einzelnen durch Widerstand und Kritik neue Handlungsräume zu eröffnen. Hierzu muss er sich selbst, seine Genese und die sozialen Kontexte, in denen er agiert, kritisch reflektieren. So kann es zu einem Prozess einer interpretativen Selbstgestaltung kommen. Kögler (1994/2004: 197) bezeichnet dies als einen „Akt der reflexiv-narrativen Selbstsetzung“. In seiner Lesart fordert Foucault „ein kritisch-widerständiges Ethos des Subjekts“ (ebd.: 199) ein, das politisch von großer Bedeutung ist. Kögler (1996) selbst plädiert für ein „self-empowerment“. Die Handelnden sollen ein Verständnis ihrer Situation entwickeln. Sie sollen die verborgenen, impliziten und vorstrukturierten interpretativen Schemata, die ihre Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten beschränken, problematisieren sowie Fähigkeiten und Praktiken entwickeln und ausbauen, die ihre Selbstbestimmung fördern. „Selfempowerment is a complex concept that encompasses both self-determination – the capacity of agents to control their own actions – and self-realization – the capacity to choose and to actualize the form of life they wish.“ (Kögler 1996: 14) Wie Hoy (2004) verknüpft Kögler Foucaults Denken mit der hermeneutischen Tradition und der Kritischen Theorie. Beide gehen davon aus, dass Reflexivität ein wesentlicher Bestandteil der Lebenswelt ist und Foucault sie leider erst spät in seinem Leben in seiner Analyse von Selbstpraktiken berücksichtigt. Die kontinuierliche und reflektierte Arbeit an sich selbst lässt sich als Widerstand gegen Herrschaftsstrukturen begreifen. Die machtbestimmte Vorstrukturierung von Erfahrungen und Praktiken soll aufgedeckt und überwunden werden. Die Selbstpraktiken sollen den Eigensinn entfalten und fördern. Diese Hervorhebung von Selbstpraktiken stellt eine wichtige Ergänzung zum Ansatz der Cultural Studies dar, die diese Dimension nicht explizit behandeln. So stießen Foucaults Arbeiten zur „Ästhetik der Existenz“ nicht auf Interesse, wogegen seine Analytik der Macht intensiv rezipiert wurde, wie ich in Die Kunst

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des Eigensinns (2001) zeige. Dies mag damit zusammenhängen, dass Cultural Studies lange Zeit die Analyse des Populären favorisierten. Ein großer Teil der Faszination, die sie weltweit auslösen, ist darauf zurückzuführen, dass sie das Populäre ernst nehmen und zeigen, wie vielschichtig und komplex die populäre Kultur sein kann. Sie untersuchen, welchen Beitrag sie zur Konstitution sozialer Subjektivität und auch zur politischen Handlungsfähigkeit leisten kann. Daher ist es wichtig zu verstehen, wie populäre Musik und Filme erfahren und verstanden werden, um dann (vielleicht) politisch Einfluss nehmen zu können. Eine Analyse von Selbstpraktiken unterbleibt weitgehend (vgl. aber Winter 1995/2010: 190ff.). In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Cultural Studies das Ästhetische nicht ablehnen. Vielmehr zeigen sie, dass es in der Gesellschaft unterschiedliche Formen von Ästhetik und damit auch von Werturteilen gibt. „Cultural studies reminds us that there are other arguments, other values, other ways of appreciating and discriminating between works, than those that reign in the classroom.“ (Felski 2005: 35) Dick Hebdige (1979) hat am Beispiel der Punks die eigensinnige Ästhetik von Subkulturen beschrieben, Paul Willis (1991) hat die elementaren Ästhetiken des Alltags und John Fiske (1989a, 1989b; Winter/Mikos 2001) eingehend die populäre Ästhetik der Medienkultur analysiert. Es wäre sinnvoll, diese Analysen durch eine stärkere Berücksichtigung von Selbstpraktiken in Subkulturen oder im Bereich der populären Kultur zu ergänzen. Dies könnte helfen, strukturelle Zwänge zu erkennen, zu modifizieren und sich von ihnen zu distanzieren. Auch auf diese Weise könnte bisher nicht erkannten Möglichkeiten der Weg bereitet werden. Von zunehmender Relevanz für die Weiterentwicklung von Cultural Studies ist jedoch die Analyse der Emergenz des Politischen in der Gegenwart, wie es spätestens seit den Protesten gegen das Treffen der World Trade Organization in Seattle 1999 zu beobachten ist. Im Anschluss haben sich weltweit soziale Bewegungen für eine globale Demokratie herausgebildet (vgl. Smith 2008). Von Anfang an lassen sich Cultural Studies als politisches Projekt begreifen, das außer an Foucaults Analytik der Macht vor allem an die Analysen der Hegemonie von Gramsci anschließt. In der Zwischenzeit sind ihre Forderungen nach einer radikalen Demokratisierung der Gesellschaft nicht nur von Aktivisten, sondern auch im Bereich der politischen Philosophie neu belebt bzw. fortgesetzt worden (vgl. Flügel/Heil/Hetzel 2004). Mir scheint es in diesem Zusammenhang sinnvoll, vor allem die Arbeiten von Jacques Rancière zu diskutieren, die ähnliche Fragen stellen und entsprechende Problematiken wie die Cultural Studies bearbeiten. Es wird dann deutlicher werden, wie Widerstand und Eigensinn in das Politische münden.

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Jacques Rancière hat bei der 9. Crossroads in Cultural Studies Conference im Juli 2012 in Paris den Eröffnungsvortrag gehalten. Seine Arbeiten sind zuvor in den Cultural Studies jedoch so gut wie nicht rezipiert worden. In dem ambitionierten und innovativen Buch New Cultural Studies. Adventures in Theory (Hall/Birchall 2006), das aktuelle Theorien und Entwicklungen innovativ und aufschlussreich zur Tradition der Cultural Studies in Bezug setzt, finden sich z.B. Auseinandersetzungen mit Alain Badiou, Toni Negri, Michael Hardt oder Giorgio Agamben, die politische Philosophie von Rancière wird aber an keiner Stelle erwähnt. Auch in der lesenswerten Studie Anticapitalism and Culture. Radical Theory and Popular Politics (2008) von Jeremy Gilbert kommt Rancière nicht vor. Diese überraschende Nichtbeachtung mag mit der allgemein verzögerten Rezeption seines Werks zusammenhängen, das oft als eigentümlich zeitlos betrachtet wird. So setzt sich Rancière (2002) z.B. intensiv mit der griechischen Philosophie auseinander. Wie ich zeigen werde, sind seine Fragestellungen allerdings dem Ansatz der Cultural Studies sehr nahe und von zentraler Bedeutung für die Problematik einer reflexiven Agency. Er scheint, vor allem mit seinen Studien zur Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert (Rancière 1981), auf ihre Herausforderung reagiert zu haben (vgl. Niederberger 2004: 132), ohne sich explizit mit ihrer in Birmingham entstandenen Formation auseinanderzusetzen oder den Begriff der Kultur zu verwenden. Foucault, Bourdieu und auch de Certeau sind aber wichtige Referenzautoren für ihn, auf deren Arbeit er aufbaut, die er kritisiert und mittels derer er seinen eigenen Ansatz profiliert. Rancière arbeitet aber nicht ethnologisch oder ethnographisch, seine Analysen stützen sich jedoch wie bei Foucault auf die Analyse von historischen Dokumenten in Archiven. Dabei macht er vor allem die eigensinnigen Stimmen außergewöhnlicher Figuren wieder zugänglich. So untersucht er z.B. eine Gruppe von Arbeitern im 19. Jahrhundert, die in der Nacht nicht schlief und sie zur Erholung nutzte, sondern poetisch und schriftstellerisch tätig war (Rancière 1981). Die Arbeiter ergriffen diese Möglichkeit aktiv, indem sie der herrschenden „Aufteilung der Sinnlichkeit“ widerstanden, den Alltag träumerisch transzendierten und poetisch ein zusätzliches Leben einforderten. Diese nächtliche Entfaltung von Eigensinn jenseits der täglichen Arbeitsroutinen mündete dann in eine kurze Revolte, wie Rancière (1981) darlegt. Die Beispiele von Arbeiter-Intellektuellen machen deutlich, dass die Arbeiterbewegung nicht homogene Räume der Erfahrung hervorbrachte. Rancière ist es wichtig, die unterschiedlichen Stimmen und Subjektivitäten, die verschiedenen Formen des Selbstverständnisses zu erfassen sowie die damit verbundenen Arten kultureller Produktion zu betrachten, um zu verstehen,

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wie das auf Gleichheit gerichtete Politische entstehen kann. Er kann zeigen, dass es sich nicht nur in Aufständen und Rebellionen, sondern auch infolge von ästhetischen Praktiken, Tagträumen und Eigensinn entfalten kann. „Rancière‘s project, in this sense, could be said to be at the forefront of one kind of cultural studies – but only an anti-identitarian one. A cultural studies where the concept of culture has been banished from the outset and identitarian matters twisted into a fluid and unscheduled nonsystem of significant misrecognition.“ (Ross 2009: 21)

Lassen sich die Erfahrungen und Praktiken der Arbeiter-Poeten bzw. -Intellektuellen verallgemeinern oder stellen sie exzentrische Einzelfälle dar? Für Rancière ist klar, dass das Politische nur selten vorkommt, aber nichtsdestotrotz ereignet es sich und stellt das Bestehende in Frage, vor allem die traditionellen Formen von Politik. Es nimmt die Voraussetzung der Gleichheit in Anspruch, die Rancière als ein aktives Prinzip bestimmt. Sie muss errungen und erkämpft werden. Sie unterscheidet sich von der passiven Gleichheit, die von Regierungsinstitution gewährt und geschützt wird. Deshalb kann eine aktive Gleichheit nicht durch eine fairere Umverteilung in einem bestehenden System erreicht werden. Sie fordert dessen Institutionen und politische Traditionen im Namen derjenigen heraus, die nicht von dem System profitieren bzw. von ihm ausgeschlossen sind. Sie ist aufrührerisch und möchte Formen hierarchischer Ungleichheit abschaffen. „The essence of equality is not so much to unify as to declassify, to undo the supposed naturalness of orders and replace it with controversial figures of division. Equality is the power of inconsistent, disintegrative and ever-played division.“ (Rancière 1995: 32f.) Wie Raymond Williams, Richard Hoggart oder John Fiske geht auch Rancière davon aus, dass jeder denken kann, gleich intelligent ist und unabhängig von seiner gesellschaftlichen Positionierung, die subordiniert sein kann, seine soziale Situation erfassen kann. Die Gleichheit, die vorausgesetzt wird, muss dann aktiv in Auseinandersetzung mit organisierten Machtstrukturen immer wieder erkämpft werden. Rancière nennt die Herrschaftsordnung, die Plätze und Funktionen hierarchisch verteilt und Systeme ihrer Legitimierung hervorgebracht hat, „Polizei“. Er schließt hier an Foucault (2004) an, der den Ursprung des Begriffs im 17. Jahrhundert lokalisiert. Die Polizei umfasst Praktiken, die das Verhalten der Bevölkerung regulieren, damit die Macht des Staates gesteigert wird, er wachsen und gedeihen kann (Foucault 2004: 471). Sie ist ein wesentliches Glied der Praxis des Regierens. Rancière (2002: 73ff.) verfolgt die Foucaultʼsche Problematik in die Anfänge des westlichen politischen Diskurses zurück und zeigt, dass die Vorstellung einer

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angemessenen und strukturierten sozialen Ordnung bereits bei Platon zu finden ist. Alles soll seinen Platz in einer harmonischen Ordnung finden und behalten. In dessen Konzeption verschmelzen charakteristischerweise Polizei und Politik. „Das Prinzip der Politik der Philosophen besteht darin, das Prinzip der Politik als Tätigkeit mit der Polizei als Bestimmung der Aufteilung des Sinnlichen, die die Anteile des Einzelnen und der Teile definiert, zu identifizieren“ (Rancière 2002: 75). Die Inanspruchnahme von Gleichheit soll dagegen jede Ordnung aufsprengen, die Menschen bestimmte Orte und Rollen zuweist. Diese Konzeption demokratischer Politik stellt Rancière der Polizei entgegen. „Die Politik bringt hingegen diesen einzigartigen Prozess in Gang, in dem der nicht gezählte Teil des Volkes in diesen trennenden Raum einbricht und die natürliche Ordnung der Dinge bestreitet, indem er den Ausdruck eines erlittenen Unrechts hörbar macht und somit das sichtbar macht, was unter dem dichten Schleier der natürlichen Herrschaft verborgen war.“ (Rancière 2012: 123)

Die polizeiliche Ordnung führt zu einer Aufteilung des Sinnlichen, zur Etablierung von Rahmen und Gewohnheiten, mit denen die gemeinsame Welt sozial wahrgenommen, gedeutet und klassifiziert wird. Es gibt Ereignisse und Praktiken, die als relevant ausgewählt werden, andere werden als irrelevant betrachtet oder gar nicht zur Kenntnis genommen. So stellt Rancière (2006: 25) fest: „,Aufteilung des Sinnlichen‘ nenne ich jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb eines Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden“. Eine Aufteilung schafft eine Norm, der die Mehrheit folgt. Politik entsteht dann, wenn die Aufteilung des Sinnlichen in Frage gestellt und herausgefordert wird. Wenn Gleichheit eingefordert wird, wird ein Dissens zur herrschenden Ordnung und ihren Erfahrungsweisen artikuliert und damit auch eine Distanz des Sinnlichen zu sich selbst. In diesem Fall liegt kein Streit von Interessen und Meinungen vor, sondern ein politisches Subjekt konstituiert sich, das zugewiesene marginalisierte Positionen zurückweist, um Gleichheit zu verwirklichen. Dieses „Volk“, das sich konstituiert, kann z.B. aus ethnischen oder sexuellen Minderheiten zusammengesetzt sein, die im Rahmen der Polizeiordnung unsichtbar waren und zur öffentlichen Debatte bisher nichts beitragen durften. Für Rancière beinhaltet Politik die Zurückweisung vorgegebener Positionen und einen Prozess der Deklassifikation. Zugeordnete Identitäten der Subordination werden verworfen, jedoch nicht durch eine Politik neuer Identitäten ersetzt, wie es bei sozialen Bewegungen der Fall ist, die die Perspektive unterdrückter Gruppen stark ma-

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chen und für ihre Anerkennung kämpfen. Gleichheit vorauszusetzen, bedeutet gerade, die Kategorien der Einteilung selbst in Frage zu stellen, so z.B. nicht mehr zwischen „weiß“ und „schwarz“ unterscheiden zu wollen. Auf diese Weise entfaltet sich eine reflexive und kritische Agency. Für Rancière ist Widerstand gegen die polizeilichen Ordnungen, die Foucault (2004) eindringlich beschrieben hat, nur durch eine Politik möglich, die dieser opponiert, indem sie zugewiesene Identitäten zurückweist und sich auf die Gleichheit der beteiligten individuellen Subjekte beruft. In seiner Interpretation wird Politik zu einem Subjektivierungsmodus. „Eine politische Subjektivierung ist für mich eine Form der Neueinteilung des gemeinsamen Sinnlichen, der Gegenstände, die es enthält, und eine Art und Weise, wie die Subjekte sie bezeichnen und über sie argumentieren können“ (Rancière 2012: 127). Sie verweist auf ein Kollektiv, das durch ein Dispositiv des Aussagens und Aufzeigens bestimmt wird. Wie Edward P. Thompson (1963, dt. 1987) und andere Vertreter der Cultural Studies geht auch Rancière davon aus, dass erst in politischen Auseinandersetzungen Subjekte, Gruppen oder „Klassen“ formiert werden. Es gibt keine dem Politischen vorgegebenen Interessen oder Klassen. Während die Herrschaft auf Einteilungen und Klassifizierungen basiert, schafft die Revolte Unordnung und bringt Subjekte auf der Basis von Gleichheit hervor. Sie führt zu einer Rekonfiguration des Sinnlichen und Sichtbaren. Das neue Kollektiv teilt Rahmen und Relevanzmuster, die bestimmen, was gesehen, erlebt, für wichtig gehalten und wofür Sorge getragen wird. Dabei hat Politik für Rancière einen theatralen, spektakulären und improvisierenden Charakter, wie die aktuellen Beispiele von Streiks, Besetzungen und Demonstrationen eindrucksvoll illustrieren. Die Subjekte agieren auf improvisierten Theaterbühnen, inszenieren spielerisch Konflikte und Oppositionen, wobei sie eigene kleine Welten hervorbringen, die zeitlich und lokal gebunden sind. Es kommt zu Prozessen gemeinsamer Ermächtigung und gegenseitiger Bereicherung, die neue Räume für komplexe Gruppendynamiken und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten kreieren. Dem Prinzip der Gleichheit folgend, geht es nicht um die Darstellung einer spezifischen Identität, die anerkannt werden soll. „What is staged is not an identity, but a gap between the ,we‘ that is speaking and ,the people‘ in whose name this ,we‘ purports to speak“ (Citton 2009: 133). So stellte z.B. die Occupy-Bewegung politische Bühnen bereit, die temporär und räumlich Prozesse der Ermächtigung bewirkten. Es gelang ihr, durch geschickt inszenierte Spektakel, Besetzungen von öffentlichen Räumen und den Einsatz digitaler Technologien auf sich aufmerksam zu machen und sich als „We are the 99%“ zu präsentieren.

188 | R AINER W INTER „Die um die Welt gehenden Bilder der verschwörerisch anonymen Guy-Fawkes-Masken, die rasch zirkulierenden Slogans und Plakate der Bewegung, die Zeltstädte als neu belebtes Emblem nomadischen Daseins und die in unzähligen Webforen wiedererzählten Rituale von Vollversammlungen, ,menschlichen Mikrophonen‘ und direkter Demokratie wurden gemeinsam zu einem lokal adaptierbaren Mechanismus der Selbstermächtigung vieler Personen.“ (Mörtenböck/Mooshammer 2012: 87)

Es wurde die Gleichheit der 99% eingefordert, die nicht vom Finanzkapitalismus profitieren, sondern im Gegenteil unter ihm leiden. Occupy Wall Street inszenierte sich nicht als eine Identität der an den Protesten aktiv Teilnehmenden, sondern artikulierte Protest und Dissens durch widerständige Formen der Subjektivierung, die auch die Nicht-Protestierenden (der 99%) erfassen sollte. Rancière gelingt es, eindringlich zu zeigen, dass das Verständnis einer demokratischen Politik sich erst erschließt, wenn sie von der polizeilichen Ordnung des Staates abgegrenzt wird. Diese steht in Foucaults Geschichte der Gouvernementalität und der zahlreichen an ihn anschließenden Arbeiten zur Biopolitik im Zentrum (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000). Das Unbehagen, das diese Arbeiten oft wegen ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit auslösen, bringt Rancière auf den Begriff: „Ich denke, ihm [Foucault; RW] hat ganz einfach das theoretische Interesse an der Politik gefehlt. Was ihn in der Theorie am Begriff Politik interessiert hat, ist eigentlich das Verhältnis der Staatsmacht zu den Arten der Verwaltung der Bevölkerungen und der Produktion von Individuen. Das fällt für mich in den Bereich der Polizei. Foucault hat im strengen Sinne eine Theorie des Polizeistaates aufgestellt.“ (Rancière 2012: 128)

Die funktionalistisch angelegten Studien zur Gouvernementalität blenden den politisch Handelnden, seinen Eigensinn und Widerstand, weitgehend aus. Eine Abschaffung des „Polizeistaates“ können sie sich nicht mehr vorstellen. Es ist aber die Aufgabe einer kritischen Theorie, über das Bestehende hinauszudenken und die Möglichkeiten der Transformation, mögen sie auch unwahrscheinlich erscheinen, aufzuzeigen. Dies zeichnet die Arbeiten von Jacques Rancière in hervorragender Weise aus.

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4. S CHLUSSBETRACHTUNG Meine Analyse des Verhältnisses von Macht und Widerstand in Die Kunst des Eigensinns (Winter 2001) zielte in Auseinandersetzung mit den Cultural Studies darauf ab zu zeigen, dass die Analytik der Macht von Foucault produktiv weitergedacht werden kann, indem Formen eigensinniger Rezeption und Aneignung als temporär und räumlich lokalisierte Akte des Widerstands begriffen werden. Auch wenn diese Prozesse vielleicht nicht häufig sind, existieren sie. Das Populäre im Sinne der Cultural Studies konstituiert sich in ihnen. Auch „the people“ ist keine vorab konstituierte Kategorie, sondern sie bildet sich im Kampf gegen den „power bloc“ (vgl. Fiske 1993). Auf diese Weise entfaltet sich eine reflexive und kritische Agency. Rancière zeigt, dass auch das Politische selten ist, nichtsdestotrotz kommt es vor, wie die sozialen Bewegungen der Gegenwart eindringlich zeigen. Sein Werk veranschaulicht, wie demokratische Politik zu Formen der Subjektivierung führt. Es ist ein Widerstand, der Gleichheit voraussetzt und sie durch kollektives Handeln aktiv dennoch erst schaffen möchte, um es paradox zu formulieren. Seine Arbeiten können helfen, die kritische Kultursoziologie der Cultural Studies fruchtbar und vertiefend fortzusetzen.

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Autor_inneninformation

Stefan Deines ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zum Verhältnis der Künste an der Freien Universität Berlin. Er hat an der JustusLiebig-Universität Gießen Philosophie und Germanistik studiert und an der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Arbeit zu Konzeptionen situierter Kunst promoviert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Instituten für Philosophie in Gießen und Frankfurt und Post-doctoral Fellow an der Universität Macau. Er hat Beiträge zu seinen Arbeitsschwerpunkten im Bereich der Ästhetik und Kunstphilosophie, Sprachphilosophie, Geschichtsphilosophie und der kritischen Theorie publiziert und arbeitet zurzeit an einer pluralistischen Theorie der Funktionen und des Werts der Kunst. Buchpublikationen: Sprache und Kritische Theorie (Hg. mit Ph. Hogh, Frankfurt 2016); Kunst und Erfahrung, (Hg. mit J. Liptow und M. Seel, Frankfurt 2012); Formen kulturellen Wandels (Hg. mit D. Feige und M. Seel, Bielefeld 2012); Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte (Hg. mit St. Jaeger und A. Nünning, Berlin 2003). Andreas Hetzel ist Professor für Sozialphilosophie an der Universität Hildesheim; er ist Mitherausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie sowie der Buchreihe Zeitgenössische Diskurse des Politischen. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur (Würzburg 2001) und Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie (Bielefeld 2011). Hans-Herbert Kögler ist Professor für Philosophie an der University of North Florida, Jacksonville. Gastprofessuren an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und der Karls-Universität, Prag; National Endowment of Humanities Fellowships an der Boston University und University of Arizona. Wichtige

194 | E NIGMA A GENCY

Buchpublikationen: Die Macht des Dialogs (Stuttgart 1992), The Power of Dialogue: Critical Hermeneutics after Gadamer and Foucault (Cambridge, MA 1996/1999). Michel Foucault, (Stuttgart/Weimar 2004, 2. Aufl.); Kultura, Kritika, Dialog (Prag 2014, 2. Aufl.). Empathy and Agency: The Problem of Understanding in the Human Sciences (Hg. mit K. Stueber, Boulder, CO 2000). Zahlreiche Essays zu Hermeneutik, Philosophie der Sozialwissenschaften, Kritischer Theorie und Sozialontologie in führenden Zeitschriften wie z.B. Philosophy & Social Criticism, Social Epistemology (Special issue zu Köglers BourdieuKritik), Journal of European Social Theory, New Ideas in Psychology (Special issue zu human agency & development), Inquiry, Philosophy of the Social Sciences. Alice Pechriggl ist Philosophin und Psychotherapeutin (Gruppenpsychoanalyse, psychoanalytische Psychotherapie). Nach Gastprofessuren in Paris und Wien ist sie seit 2003 Professorin am Institut für Philosophie der Universität Klagenfurt. Zu ihren wichtigsten Publikationen zählen: Corps transfigurés. Stratifications de l’imaginaire des sexes/genres, 2 Bände, Paris 2000; Chiasmen. Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns (Bielefeld 2007); Eros (Wien 2009) sowie Agieren und Handeln. Studien zu einer philosophisch-psychoanalytischen Handlungstheorie (Bielefeld 2018). Timo Storck ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin und psychologischer Psychotherapeut (analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie). Diplom in Psychologie 2005, Promotion 2010 mit einer Arbeit zu künstlerischen Prozessen aus psychoanalytischer Sicht, Habilitation 2016 mit einer Arbeit zum Verstehen in der Arbeit mit psychosomatisch erkrankten Patientinnen und Patienten. Mitherausgeber der Zeitschriften Forum der Psychoanalyse und Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung sowie der Buchreihe Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie. Mitglied im Herausgeberbeirat der Buchreihe Internationale Psychoanalyse. Forschungsschwerpunkte: Psychoanalytische Konzeptforschung und Methodologie (insbes. psychoanalytische Hermeneutik), psychosomatische Erkrankungen, Konzeption und Praxis von Fallbesprechungen in der stationären Psychotherapie, konzeptvergleichende Psychotherapieforschung. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: Psychoanalyse und Psychosomatik (Stuttgart 2016), Von The Walking Dead bis Game of Thrones. Interpretation von Kultur in Serie (Hg. mit S. Taubner, Berlin/Heidelberg 2017), Grundelemente psychodynamischen Denkens (Buchreihe, Stuttgart, seit 2018), Psychoanalyse nach Sigmund Freud (Stuttgart 2018).

A UTOR _ INNENINFORMATION

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Rainer Winter, seit 2002 Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt am Wörthersee, Vorstand des Instituts für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Adjunct Professor an der Charles Sturt University in Sydney von 2012 bis 2017, seit 2017 Honorarprofessor an der University of International Business and Economics in Peking, Mitglied des Vorstandes der Association for Cultural Studies. (Mit-)Herausgeber von vier Buchreihen. Zahlreiche Buchpublikationen: 2018 als Mitherausgeber Die Herausforderung des Films. Soziologische Antworten (Wiesbaden 2018), Handbuch Mediensoziologie (Baden-Baden 2018), (Mis)Understanding Political Participation. Digital Practices, New Forms of Participation and the Renewal of Democracy (London u.a. 2018) und Mediatisierung und Subjekt (Wiesbaden 2018). Peter V. Zima war bis 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Klagenfurt. Im Jahre 1998 wurde er als korr. Mitglied in die Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt, im Jahre 2010 in die Academia Europaea in London. Seit 2014 ist er Honorarprofessor der East China Normal University in Schanghai. Seit 2015 bereitet er ein Buch mit dem Arbeitstitel Soziologische Theoriebildung vor, in dem soziologische Theorien von Hegel-Marx bis zur Postmoderne (Bauman, Maffesoli) als Erzählungen in einem dialogischen Kontext miteinander konfrontiert werden. Neueste Publikationen: Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft (Tübingen 2014); Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur (Tübingen 2016, 4. Aufl.); Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Tübingen 2017, 2. Aufl.); Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne (Tübingen 2017, 4. Aufl.).

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)

Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

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