Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen: Theoretische Überlegungen und biographisch-professionelles Wissen aus der Bildungspraxis [1. Aufl.] 9783658310042, 9783658310059

Empowerment aus People-of-Color-Perspektive ist im wissenschaftlichen Feld um Bildung und Migration in der BRD bisher we

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Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen: Theoretische Überlegungen und biographisch-professionelles Wissen aus der Bildungspraxis [1. Aufl.]
 9783658310042, 9783658310059

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXVIII
Front Matter ....Pages 25-28
ZUM VERSTÄNDNIS VON SUBJEKT, MACHT UND WISSEN – POSTKOLONIALE UND SUBJEKTTHEORETISCHE PERSPEKTIVEN (Maryam Mohseni)....Pages 29-63
DAS KONZEPT PEOPLE OF COLOR (Maryam Mohseni)....Pages 64-99
DAS KONZEPT EMPOWERMENT IN DER BILDUNGSARBEIT (Maryam Mohseni)....Pages 100-133
Front Matter ....Pages 134-136
DISKURSVERLÄUFE UM BILDUNG UND MIGRATION (Maryam Mohseni)....Pages 137-178
RASSISMUSKRITISCHE BILDUNGSARBEIT: THEORETISCHE GRUNDLAGEN (Maryam Mohseni)....Pages 179-243
DETHEMATISIERTES IN DER INTERKULTURELLEN BILDUNGSARBEIT: SUBJEKTIVIERUNGSPROZESSE VON PEOPLE OF COLOR IM KONTEXT VON RASSISMUS (Maryam Mohseni)....Pages 244-283
Front Matter ....Pages 284-288
METHODOLOGIE DER FORSCHUNGSARBEIT: ZUR QUALITATIVEN BEFRAGUNG EINER WENIG REPRÄSENTIERTEN GRUPPE UND EINES KAUM BESPROCHEN THEMAS IN DER WISSENSCHAFT (Maryam Mohseni)....Pages 289-329
EMPOWERMENT ALS WIDERSTANDSSTRATEGIE: ZU DEN SUCHBEWEGUNGEN DER INTERVIEWTEN (Maryam Mohseni)....Pages 330-410
(UN-)MÖGLICHKEITEN VON EMPOWERMENT-WORKSHOPS: BEDINGUNGEN DES GELINGENS AUS DER PERSPEKTIVE VON PROFESSIONELLEN OF COLOR (Maryam Mohseni)....Pages 411-479
HERAUSFORDERUNGEN, WIDERSPRÜCHLICHKEITEN UND GRENZEN DER EMPOWERMENT-ARBEIT (Maryam Mohseni)....Pages 480-512
ZUSAMMENFASSUNG DER EMPIRISCHEN ERGEBNISSE: AN-ERKENNUNG ALS GELINGENSBEDINGUNG VON EMPOWERMENT-ARBEIT (Maryam Mohseni)....Pages 513-529
Back Matter ....Pages 530-580

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Maryam Mohseni

Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen Theoretische Überlegungen und biographisch-professionelles Wissen aus der Bildungspraxis

Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen

Maryam Mohseni

Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen Theoretische Überlegungen und biographisch-professionelles Wissen aus der Bildungspraxis

Maryam Mohseni Berlin, Deutschland Diese Dissertation wurde von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Januar 2019 angenommen.

ISBN 978-3-658-31004-2 ISBN 978-3-658-31005-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31005-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG .................................................................................................... 7 BLOCK I: THEORETISCHE GRUNDLAGEN: ZENTRALE BEGRIFFLICHKEITEN, ANSÄTZE UND KONZEPTE ............................................................................. 25 1

ZUM VERSTÄNDNIS VON SUBJEKT, MACHT UND WISSEN – POSTKOLONIALE UND SUBJEKTTHEORETISCHE PERSPEKTIVEN ................. 29 1.1 Rassismus bildet – Subjektivierungsprozesse aus Perspektive der Migrationspädagogik .................................................................................30 1.2 Zum Verhältnis von Wissen und Macht: Postkoloniale Perspektiven auf Wissen(-schaft) ..............................................................40 1.2.1 Kurzer Überblick zur Postkolonialen Theorie ......................... 42 1.2.2 Zur Frage des objektiven Wissens ........................................... 48 1.2.3 Zur Repräsentation von Wissen of Color ................................. 52 1.2.4 Zur Wissensproduktion als politische Praxis ........................... 58 2

DAS KONZEPT PEOPLE OF COLOR ...................................................... 64 2.1 Auf der Suche nach einer antirassistischen Sprache .....................65 2.2 Historische Kontextualisierung des Konzepts People of Color ....69 2.2.1 Ursprünge des Begriffs People of Color .................................. 69 2.2.2 Das People-of-Color-Konzept in Deutschland ......................... 72 2.3 Zur Bedeutung des People-of-Color-Ansatzes und seinen Herausforderungen ....................................................................................76 2.4 Theoretische Überlegungen: Zum Konzept der kollektiven Identität und der Frage der Essentialisierung ............................................91

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DAS KONZEPT EMPOWERMENT IN DER BILDUNGSARBEIT............... 100 3.1 Die unterschiedlichen Empowerment-Konzepte in Deutschland .... ....................................................................................................103 3.1.1 Die Empowerment-Landschaft in Deutschland: Wer nutzt das Konzept wie? ...................................................................................... 105 3.1.2 Empowerment aus People-of-Color-Perspektive in der Bildungsarbeit ..................................................................................... 110 3.2 Kontextualisierung von Empowerment aus People-of-ColorPerspektive ..............................................................................................115

3.2.1 Historische Traditionslinien von Empowerment .................... 116 3.2.2 Vergessene Grundlagen: Solomons Arbeit zu Empowerment im Bildungswesen (USA)......................................................................... 118 3.2.3 Empowerment als Teil einer kritischen Politischen Bildung . 125 3.3 Kontroversen: Empowerment als individuelle Selbstermächtigung oder als gesellschaftliche Veränderung? .................................................129 BLOCK II: BILDUNG UND MIGRATION: FORSCHUNGSSTAND UND WEITERFÜHRUNGEN ................................................................................... 134 1

DISKURSVERLÄUFE UM BILDUNG UND MIGRATION ......................... 137 1.1 Wissenschaftliche Diskursverläufe in der Interkulturellen Pädagogik ................................................................................................141 1.1.1 Von der Ausländerpädagogik … ............................................ 143 1.1.2 … über die Interkulturelle Pädagogik … ............................... 147 1.1.3 … zur Rassismuskritischen Bildungsarbeit............................ 153 1.1.4 Zwischenbilanz zum wissenschaftlichen Diskurs: Wer spricht innerhalb der Interkulturellen Pädagogik mit welchen Effekten über wen? ............................................................................................... 158 1.2 Neuere Ansätze aus der Bildungspraxis .....................................164 1.2.1 Kontextualisierung ................................................................. 165 1.2.2 Theoretische Konzeptionen.................................................... 168 1.2.3 Diversity-Ansätze und Empowerment-Arbeit als neuere Ansätze in der Bildungspraxis ............................................................ 171

2 RASSISMUSKRITISCHE BILDUNGSARBEIT: THEORETISCHE GRUNDLAGEN.............................................................................................. 179 2.1 racial turn: Von ‚Rasse‘ zu Rasse und von Objekt zu Subjekt ...180 2.2 Die Funktionsweisen von Rassismus .........................................182 2.2.1 Rassismus als gesellschaftliches Ordnungsprinzip ................ 182 2.2.2 Rassismus als Praxis des Unterscheidens: Othering als Konstruktionsprozess .......................................................................... 187 2.3 Die Alltäglichkeit von Rassismus ..............................................190 2.4 Die Schwierigkeit, in Deutschland über Rassismus zu sprechen193 2.4.1 Die Abwehr des Sprechens von Rassismus als Analysekategorie................................................................................. 194

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2.4.2 Die Dethematisierung von Rassismuserfahrungen................. 197 2.5 Perspektivwechsel: Weißsein als Normalität .............................201 2.6 Gendered Racism – Vergeschlechtlichter Rassismus .................206 2.7 Formen von Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland......210 2.7.1 Kolonialer Rassismus ............................................................. 211 2.7.2 Kulturrassismus...................................................................... 221 2.7.3 Orientalismus und antimuslimischer Rassismus .................... 224 2.7.4 Antiromaismus ....................................................................... 233 2.7.5 Antisemitismus ...................................................................... 238 2.8 Die Funktion von Rassismen ......................................................243 3 DETHEMATISIERTES IN DER INTERKULTURELLEN BILDUNGSARBEIT: SUBJEKTIVIERUNGSPROZESSE VON PEOPLE OF COLOR IM KONTEXT VON RASSISMUS .................................................................................................. 244 3.1 Das ‚Integrationsgebot‘ als Othering-Prozess ............................246 3.2 Alltägliche Rassismuserfahrungen: Eine nähere Analyse ..........249 3.2.1 Zur (Nicht-)Zugehörigkeiten von People of Color in Deutschland: „Wo kommst du her?“ ................................................... 253 3.2.2 Zur Stellvertreter*in-Position von People of Color: „Du als Iranerin, was sagst du denn dazu?“ ..................................................... 256 3.2.3 Zum ambivalenten Spiel des Rassismus: „Du hast aber schönes Haar! Darf ich mal anfassen?“ ............................................................ 258 3.3 Verinnerlichter Rassismus ..........................................................261 3.4 Rassismus und Trauma ...............................................................265 3.5 Umgangsstrategien mit Rassismuserfahrungen und alltäglicher Widerstand gegen Rassismus ..................................................................274 BLOCK III: EMPIRISCHE ERGEBNISSE: STIMMEN DER EMPOWERMENTTRAINER*INNEN: BIOGRAPHISCH-PROFESSIONELLES WISSEN ZU DEN PERSÖNLICHEN EMPOWERMENT-WEGEN UND ZU DER EMPOWERMENTARBEIT ........................................................................................................ 284 1 METHODOLOGIE DER FORSCHUNGSARBEIT: ZUR QUALITATIVEN BEFRAGUNG EINER WENIG REPRÄSENTIERTEN GRUPPE UND EINES KAUM BESPROCHEN THEMAS IN DER WISSENSCHAFT.......................................... 289 1.1 Ethische Fragen, Reflexionen und Widersprüchlichkeiten in meiner empirischen Forschungsarbeit .....................................................292

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1.1.1 Reflexion I: Die Widersprüchlichkeiten der Repräsentation und die eigenen Rolle als Repräsentantin .................................................. 292 1.1.2 Reflexion II: Spannungsverhältnis zwischen der Platzierung des Themas in der Wissenschaft und der Verantwortung gegenüber dem sensiblen Inhalt ................................................................................... 295 1.1.3 Reflexion III: Wissen der Interviewten und die Frage der Repräsentativität ................................................................................. 296 1.1.4 Reflexion IV: Das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz zu den Interviewten ............................................................................. 297 1.2 Zur Methode der Grounded Theory ...........................................305 1.2.1 Sampling und Feldzugang ...................................................... 309 1.2.2 Das Problemzentrierte, leitfadengestützte (Expert*innen)Interview ............................................................................................ 313 1.2.3 Kontaktaufnahme, Interviewführung und Handhabung des Leitfaden ............................................................................................. 318 1.2.4 Auswertungsprozess der qualitativen Interviews ................... 323 2 EMPOWERMENT ALS WIDERSTANDSSTRATEGIE: ZU DEN SUCHBEWEGUNGEN DER INTERVIEWTEN ................................................ 330 2.1 Facetten von Rassismuserfahrungen: Zu den subjektiven Deutungsmustern rassistischer Wirkungsweisen .....................................331 2.1.1 „Rassismus schleicht sich durch meine gesamte Biographie“: Rassismus als unsichtbarer, permanenter und subtiler Stressfaktor .... 333 2.1.2 „Rassismus zieht dir den Boden weg“: Rassismus als unberechenbare seelische Erschütterung ............................................. 336 2.1.3 „Dieses Klein-Machen und trotzdem Exponiert-Sein“: Auswirkungen des Rassismus auf Körper(-wahrnehmungen) ............ 340 2.1.4 „Hat sie das wirklich nicht mitgekriegt oder ist das ‘ne Strategie?“: Reaktionsweisen auf den alltäglichen Rassismus ............ 344 2.2 Anfänge der Empowerment-Prozesse ........................................347 2.2.1 Empowerment als ein „bewusster (Politisierungs-)Prozess“ . 348 2.2.2 Empowerment durch Begegnungen mit Schwarzen Menschen/ Menschen of Color .............................................................................. 351 2.2.3 Empowerment durch Schwarzes Wissen/ Wissen of Color und Rassismuskritik ................................................................................... 363 2.3 Subjektive Sichtweisen auf Empowerment ................................367

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2.3.1 „Choosing wellness is an act of political resistance”: Wellness als Bedingung für Befreiung ............................................................... 369 2.3.2 Community Building als Bedingung für Befreiungsprozesse 386 2.3.3 Räume aneignen: Von Selbstbezeichnungen, Grenzen Setzen und unbequem sein.............................................................................. 395 2.3.4 Durchbrechen der rassistischen Dynamiken durch kritische (Selbst-)Reflexionen der eigenen Verstrickung .................................. 401 2.4 Zwischenfazit .............................................................................407 3 (UN-)MÖGLICHKEITEN VON EMPOWERMENT-WORKSHOPS: BEDINGUNGEN DES GELINGENS AUS DER PERSPEKTIVE VON PROFESSIONELLEN OF COLOR ................................................................... 411 3.1 „Überhaupt die Möglichkeit zu haben, in so 'nem Raum Rassismuserfahrungen zu artikulieren, ist so ungewöhnlich“: Safe Spaces als „geschütztere“ Räume für People of Color ........................................412 3.1.1 Zur Bedeutung von Safe Spaces ............................................ 412 3.1.2 Zu den Herausforderungen und Ambivalenzen des „Wagnisses Safer Space“ ........................................................................................ 417 3.2 „Rassismuserfahrungen einen radikal anderen Platz geben“: Wissen of Color anerkennen ...................................................................424 3.3 „Ich kann das auch verorten, Also was mir Bauchschmerzen macht“: Rassismus als System verstehen ................................................429 3.4 „Nicht die Einzige, die …“: kollektive Erfahrungen entindividualisieren und Verbindungen schaffen ....................................432 3.5 Über das Kognitive hinaus: Körper- und Gefühlsarbeit .............437 3.5.1 Emotionen als Bestandteil von Empowerment-Workshops ... 437 3.5.2 „Was macht Rassismus mit meinem Körper“: Arbeit mit dem Körper als Lernraum ........................................................................... 449 3.6 „Irgendwie diesen Bewältigungsstrategien auf die Spur zu kommen“: Kraftressourcen erkennen sowie Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit erfahren ...................................................................459 3.7 „Spuren“ nach dem Workshop: Netzwerken, Communities bilden und politischer Aktivismus ......................................................................464 3.8 Empowerment als liebevoller Wellness-Raum ...........................468 3.8.1 Wellness: (Selbst-)Liebe, Selbstachtung und Fürsorge .......... 468

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3.8.2 Empowerment als Raum der (Selbst-)Kritik und politischer Raum: Über das individuelle Wellness-Verständnis hinaus ............... 472 3.9 Zwischenfazit .............................................................................477 4

HERAUSFORDERUNGEN, WIDERSPRÜCHLICHKEITEN UND GRENZEN DER EMPOWERMENT-ARBEIT .................................................................... 480 4.1 Voraus_Setzungen: Wer nimmt an Empowerment-Workshops teil? Zu den Zugängen und Zugangsbarrieren in EmpowermentWorkshops ...............................................................................................480 4.1.1 Voraus_Setzung 1: Bildungsbürgerlicher Hintergrund und Akademischer Kontext ........................................................................ 480 4.1.2 Voraus_Setzung 2: Bewusstsein über eigene Positionierung und Wissen über Rassismus ....................................................................... 484 4.1.3 Voraus_Setzung 3: Eindeutigkeiten in den Positionierungen und Zugehörigkeiten ........................................................................... 487 4.2 Differenzlinien innerhalb von Empowerment-Workshops .........497 4.3 Selbsthilfegruppe oder politische Bildungsarbeit? .....................501 4.4 Strukturelle Grenzen der Empowerment-Arbeit.........................507 4.5 Zwischenfazit .............................................................................511 5 ZUSAMMENFASSUNG DER EMPIRISCHEN ERGEBNISSE: ANERKENNUNG ALS GELINGENSBEDINGUNG VON EMPOWERMENT-ARBEIT ............................................................................................................ 513 5.1 Bedingung des Gelingens von Empowerment-Workshops ........517 5.2 Herausforderungen in der Praxis der Anerkennung ...................521 FAZIT: „EMPOWERMENT BEDEUTET AUS EINEM SCHATZ SCHÖPFEN ZU KÖNNEN“: SUCHBEWEGUNGEN FÜR EINE BEFREIUNG VOM RASSISTISCHEN ALLTAG ....................................................................................................... 530 LITERATURVERZEICHNIS............................................................................ 547

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EINLEITUNG Vor einer Weile geriet ich im Regionalexpress in eine Unterhaltung mit einem Schwarzen Jugendlichen und seiner Mutter, die mich noch lange beschäftigte. Er fragte mich, nachdem wir uns schon eine Weile unterhalten hatten: „Maryam, wo kommst du denn her?“ Ich: „Ich bin Deutsche.“ Er: „Und... nein, ich meine, (überlegt) wo kommt das Braune bei dir her?“ Ich: „Von meinen Eltern.“ Er: „Und das von deinen Eltern?“ Ich: „Na, von ihren Eltern denk ich mal.“ Er: „Ja und das von ihren Eltern?“ (schmunzelt) Ich: „Von den Eltern-Eltern?“ Er: „Haaach!“ (lacht) Ich: „Weißt du, ich mag das nicht so gern, immer gefragt werden, wo ich herkomm'. Ich find's nervig!“ Er überlegt kurz und guckt mich an und sagt: „Ja, ich kenn' das. Weiß, was d' meinst. Ich werd' das mega oft gefragt. Niemand glaubt mir, dass ich aus Düsseldorf komm'.“ Eine ganze Weile gucken wir schweigend aus dem Fenster. Ich lese diese kurze Episode als ein Gespräch zwischen zwei Menschen, die auf einen gleichen Erfahrungshorizont und ein gemeinsames Wissen zurückgreifen: die alltägliche Rassismuserfahrung in Deutschland, nicht als zugehörig zur weißen Dominanzgesellschaft (vgl. Rommelspacher 1989) zu zählen. Motiviert von der Frage, wie ein Austausch über solche und andere Erfahrungen von alltäglichem Rassismus in der Bildungsarbeit möglich gemacht werden kann, entstand diese

Einleitung Forschungsarbeit. Im Blick meiner Arbeit stehen Empowerment-Workshops, Bildungsangebote von People of Color (PoC)1 für People of Color, in deren Fokus der Austausch von Rassismuserfahrungen und Empowerment-Prozessen als eine Form des Widerstands gegen Rassismus steht.

DISKURSE UM BILDUNG UND MIGRATION: WER SPRICHT MIT WELCHEN EFFEKTEN ÜBER WEN? Der Anteil von Menschen mit sogenanntem ‚Migrationshintergrund‘ macht mittlerweile ein Fünftel der in Deutschland lebenden Bevölkerung aus, bei Kindern unter fünf Jahren liegt er sogar bei mehr als einem Drittel (vgl. Statistisches Bundesamt 2016: S. 8). People of Color machen einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung aus, sie sind eigentlich selbstverständlicher Bestandteil der Bevölkerung und schon lange keine Ausnahme mehr. Sich auf diese Zielgruppen einzustellen und angemessene Bildungsangebote für sie anzubieten, ist eine unumgängliche Aufgabe deutscher Bildungseinrichtungen, der diese bisher nicht nachkommen. Die generelle Schlechterstellung von ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ ist offensichtlich und vielfach belegt (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009: 9; Statistisches Bundesamt 2016: 8). Insgesamt ist es eine Errungenschaft, dass der Migrationsforschung, die auf die Diskriminierungsverhältnisse aufmerksam macht, mittlerweile eine immer bedeutendere Rolle zukommt. Problematisch am gesamtgesellschaftlichen Diskurs um Bildung und Migration ist jedoch, dass er oftmals entlang einer kapitalistischen Verwertungslogik von „sozialer Differenz als Schlüsselkompetenz“ (Jain 2012: 265) und der Unterscheidung zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Migrant*innen verläuft (vgl. Castro Varela/Mecheril 2011: 155). Dabei werden ‚kulturelle Differenz‘ und ‚Vielfalt‘ zu marktförmigen Begriffen, in denen Menschen, die anders sind, als nützliches Humankapital verobjektiviert werden. 1

Zur Begriffserklärung von People of Color, Schwarz und weiß siehe Kapitel I.2.

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Einleitung So scheint es eine neue imaginäre Hierarchie zu geben, in der bestimmte Formen der Differenz, die lange Zeit defizitär besetzt waren, zum erstrebenswerten Ziel der postmodernen Selbstverwirklichung im flexiblen Kapitalismus instrumentalisiert werden. Diversity ist im Trend (vgl. kritisch dazu Scherr 2008). Gleichzeitig sind immer noch die gleichen Ausschlussmechanismen entlang bedeutungsvoller sozialer Unterscheidungslinien wirksam. Laut statistischem Bundesamt sind Menschen mit Migrationshintergrund in Bezug auf unterschiedliche sozioökonomische Faktoren deprivilegiert: Sie verfügen im Durchschnitt über niedrigere Bildungsabschlüsse, sind häufiger von Arbeitslosigkeit und von Armut betroffen (vgl. Statistisches Bundesamt 2016: 8). Tendenzen einer Verobjektivierung von People of Color spiegeln sich auch im Mainstream der Interkulturellen Pädagogik wider. Trotz einer nunmehr schon längeren Tradition des Begriffs bleiben die zentralen Fragen der Interkulturellen Pädagogik noch immer: ‚Was‘ genau ist interkulturell? und ‚Wie‘ wird man ‚interkulturell kompetent‘? Kritisch zu hinterfragen bleibt, inwiefern der Blick auf ‚differente Kulturen‘ die wichtige Perspektive auf Rassismus als machtvolles gesellschaftliches Unterscheidungs- und Ordnungsprinzip verschleiert. Rassismus als Alltagsphänomen (vgl. Essed et al. 1991; Melter/Mecheril 2009; Arndt/Ofuatey-Alazard 2011; Hall 1994; Fereidooni/El 2016) wird in diesen Zusammenhängen noch zu selten thematisiert. Dass Rassismus eine diskursive Praxis darstellt, die negativ oder positiv auf Subjektivierungsprozesse wirkt (vgl. Hall 2000; Broden/Mecheril 2010a), ist in der Interkulturellen Pädagogik ebenso wenig selbstverständlich wie die Frage, wie Rassismus als Unterscheidungsmerkmal in die eigene Bildungsarbeit hineinragt (vgl. Elverich et al. 2006). In der Interkulturellen Pädagogik werden zwar People of Color aufgrund der heftigen Kritik an der Ausländerpädagogik nicht mehr offensichtlich als defizitäre Subjekte dargestellt (vgl. Yildiz 2009). Es bleibt aber nach wie vor tendenziell bei einem Verständnis von PoC, das sie entweder als hilfsbedürftige Objekte einer weißen paternalistischen

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Einleitung Fürsorge stilisiert oder als Repräsentant*innen und Anschauungsobjekte der anderen Kultur festschreibt, zu der sie sich womöglich selbst gar nicht zugehörig fühlen (vgl. Kalpaka 2005). Die durch diese Pädagogik angerufenen Subjekte sind – auch wenn sich die Angebote an alle richten – implizit weiß-deutsche Lernende. Sie sollen in der Regel zur Toleranz erzogen werden, sich mit den eigenen Vorurteilen auseinandersetzen, die andere Kultur verstehen, ‚interkulturell kompetent‘ werden sowie mit ‚interkulturellen Konflikten‘ umgehen lernen: „Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Migration, Interkulturalität und Ethnizität im deutschsprachigen Raum ist vornehmlich eine Auseinandersetzung, die von Personen geführt wird, welche auf einer kulturellen, ethnischen und ‚rassischen’ Ebene der Mehrheit angehören.“ (Mecheril 1999: 248)

People of Color werden als lernende Subjekte selten mitgedacht. Auf sie wird geblickt, insofern sie besprochen, analysiert und unter die Lupe genommen werden. Innerhalb Interkultureller Bildungsprozesse wird somit beständig der Objektstatus der Anderen hergestellt und dadurch eines der wichtigsten Elemente von Rassismus – das Othering, die gewaltvolle Einteilung in Wir und die Anderen – (re-)produziert. Es bleibt bei einem ,Sprechen über Andere‘, und Weißsein gilt weiter als unhinterfragte Normalität (vgl. Eggers et al. 2009). Insgesamt sind in Deutschland Wissenschaftler*innen of Color in der universitären Landschaft unterrepräsentiert (vgl. bspw. Fereidooni 2017; Organisationen und Mitglieder von Black Communities in Deutschland und Österreich 2015). Auch in der Bildungsarbeit sind prozentual – sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich – überdurchschnittlich viele weiße Menschen beschäftigt. Nur 7 % der pädagogisch tätigen Personen des formalen Bildungswesens haben einen ‚Migrationshintergrund‘ (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009: 8). Folglich sind die beruflichen Positionen, die sich mit dem Thema Rassismus explizit beschäftigen und hierüber sprechen

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Einleitung ‚dürfen‘, sowohl in der Theoriearbeit als auch in der Praxis, hauptsächlich von Weißen besetzt (vgl. bspw. Eggers et al. 2009; Kilomba 2010; Yildiz 2009; Broden/Mecheril 2007b). Gleichzeitig entwickeln sich in jüngster Zeit in Deutschland zahlreiche Empowerment-Initiativen für und von People of Color. Auf lokaler, bundesweiter wie auch virtueller Ebene sind zahlreiche Projekte, Initiativen, Bündnisse und Netzwerke entstanden, die mit dem Empowerment-Ansatz in geschützten Räumen2 arbeiten (vgl. Can 2013). Bei Empowerment aus People-of-Color-Perspektive handelt es sich um Workshops von und für People of Color, die den Anspruch verfolgen, Menschen mit Rassismuserfahrungen zu den Subjekten der Bildungsarbeit zu machen und dabei ressourcenorientiert zu arbeiten (vgl. Yiğit/Can 2006; Rosenstreich 2006; Yiligin 2010). Die im Bundesgebiet überschaubare Anzahl an Empowerment-Trainer*innen of Color leisten Pionierarbeit in diesem Feld und schaffen eine Grundlage für die konzeptionelle Entwicklung, praktische Umsetzung, Anerkennung und Etablierung von Empowerment aus der Perspektive von People of Color im Allgemeinen (vgl. Can 2013). An diese Bildungsarbeiten knüpft meine Forschungsarbeit an, um Konzepte des Empowerments von PoC im wissenschaftlichen Feld der Rassismuskritik weiter zu etablieren. Selbst aus der rassismuskritischen Bildungsarbeit kommend, beschäftige ich mich schon lange – theoretisch wie praktisch – mit der Frage nach Räumen, in denen ein Sprechen über Rassismus möglich ist, ohne dass in der Reaktion darauf Rassismus dermaßen reproduziert wird. Ausgehend davon, dass in den Seminaren und Workshops, die ich mitgestalte, Rassismus genauso wenig wie andere Herrschaftsformen vor der Tür bleibt, frage ich, welche Bedingungen notwendig sind, um zunächst einen Austausch über Rassismus(-erfahrungen) zu ermöglichen. Diesem Anspruch kommen Empowerment-Workshops zumindest am 2

Geschütze Räume werden kreiert, da das Thematisieren von Rassismuserfahrungen in hegemonialen Diskursen kaum möglich ist, ohne dass die Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wird (vgl. Mecheril 2005b) und mit Abwehr reagiert wird (vgl. Wachendorfer 2005).

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Einleitung nächsten: Angebote von People of Color für People of Color, in denen Rassismuserfahrungen als Ausgangspunkt gesetzt werden und ein Austausch darüber im Vordergrund steht. Im Gegensatz zu den meisten Angeboten der Interkulturellen Pädagogik sind hier People of Color die lernenden Subjekte – ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Emotionen sind Grundlage des gemeinsamen Arbeitens. Empowerment-Workshops für PoC scheinen somit eine spezifische Antwort auf die oben beschriebene Schieflage innerhalb der Interkulturellen Pädagogik zu bieten. Sich diesem Praxisfeld nun in empirisch-rekonstruktiver Absicht der Theoretisierung zu nähern ist nicht nur interessant, weil damit ein neues wissenschaftliches Feld erfasst wird, das bisher noch wenig bekannt ist, sondern auch, weil dieses neue Feld Aufschluss über die bisherigen Probleme und Auslassungen gibt. „Empowerment bedeutet Lebensmöglichkeiten entdecken“ sagt Mutlu Ergün-Hamaz (Ergün-Hamaz 2015: 139). Die Frage danach, was Empowerment sein kann – im Spezifischen in Bezug auf Bildungsarbeit – , ist eine der leitenden Fragen für meine Dissertation. Die pädagogische Praxis des Empowerments und ihre theoretischen Grundlagen zu erforschen, scheint mir ein lohnendes Forschungsziel zu sein. Dabei interessiert mich das Potenzial des Empowerment-Ansatzes ebenso wie seine Herausforderungen und Grenzen.

ANLIEGEN, FORSCHUNGSFRAGEN UND FORSCHUNGSDESIGN DER STUDIE Ausgangspunkt dieser Arbeit ist, dass eine rassismuskritische Forschung, die den Anspruch hat, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern, nicht losgelöst vom Wissen von Menschen mit Rassismuserfahrungen gedacht werden kann, weil sie sonst weiße Vorherrschaft reproduziert (vgl. Eggers et al. 2009).3 3

Zieht man die Frauen- und Geschlechterforschung als Vergleich hinzu, erschiene es absurd, wenn in dieser Disziplin nur Männer forschen würden. In den Disability Studies gibt es den bekannten Slogan: ‚Keine Forschung über uns, ohne uns!‘.

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Einleitung „In most studies we become visible not through our own self-perception, but rather through the perception and political interest of the dominant white national culture, as most studies, and public debates on racism have a ‚white point of view‘.“ (Kilomba 2010: 40)

Es ist mein Anliegen, mit dieser Dissertation einen Beitrag dazu zu leisten, dem „weiß-weißen Selbstgespräch“ (Lück/Stützel 2009: 335) über Rassismus, der pädagogischen Praxis in diesem Kontext und der bisherigen Forschungslücke entgegenzuwirken, indem die Forschungslandschaft um weitere Perspektiven of Color ergänzt wird. Rassismus wirkt als diskursive Praxis und System machtvoller gesellschaftlicher Unterscheidungen auf Subjektivierungsprozesse von Menschen. Er dient als Begründungsmuster für den Ausschluss von knappen Ressourcen und stellt für People of Color (PoC) – individuell wie auch kollektiv – körperlich und seelisch eine destruktive Gewalt- und Unterdrückungserfahrung dar (vgl. Velho 2010; Sequeira 2015). Gleichzeitig zwingt ein Leben unter Bedingungen rassistischer Normalität zu einer spezifischen Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit. PoC müssen Lösungswege für den Umgang mit durch Rassismus verursachte Handlungsbarrieren suchen, um in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft handlungsfähig zu bleiben (vgl. Eggers 2013: 4). Dieser normale Alltag zwischen Rassismuserfahrung und (Über-)Lebensstrategien von PoC bildet den Ausgangspunkt von EmpowermentWorkshops. In ‚geschützten‘ Räumen geht es um Rassismuserfahrungen, die Überwindung von Ohnmacht sowie um das (Wieder-)Entdecken von Widerstandspotenzial, die Entwicklung von Empowermentund Widerstandsstrategien über das Erinnern, Erzählen und Dokumentieren der eigenen Geschichten (vgl. Can 2013): „Es wurde deutlich, dass Empowerment-Räume vor allem Orte der Begegnung, des Erfahrungs- und Wissensaustauschs sind. Es handelt sich um Orte der Solidarität, der schöpferischen und positiven Energie, der Inspiration. Empowerment bedeutet Wellness, denn in diesen Räumen herrschen Gefühle der Herzlichkeit, der Offenheit, Akzeptanz, des gegenseitigen Verständnisses und der Verständigung, Befreiung. […] Empowerment-Räume helfen außerdem, Handlungsfähigkeit (zurück)zugewinnen.“ (Bello 2013)

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Einleitung Als empirische Daten liegen der Studie Interviews von EmpowermentTrainer*innen zugrunde, die sich entweder als Schwarz oder als PoC positionieren. Diese Positionierung ist aus zwei Gründen relevant: Zum einen interessieren mich Perspektiven von Pädagog*innen of Color als bisher wenig wahrgenommene und marginalisierte Perspektive in der wissenschaftlichen Forschung um Bildung und Migration. Dabei begreife ich die Erzählungen dieser Pädagog*innen als „situiertes Wissen“ (Harding 1994: 138) von „outsider within“ (Collins 1986: 1). Zum anderen interessiert mich speziell das Wissen von EmpowermentTrainer*innen, weil es sich hier um Bildungsformate handelt, in denen People of Color explizit die lernenden Subjekte sind. Geleitet von dem Interesse herauszuarbeiten, was das Spezifikum von Empowerment-Workshops ist und welche Impulse Empowerment-Arbeit für die anderen Formate rassismuskritischer Bildung liefern kann, liegt der Fokus meiner Studie auf der Frage nach den Gelingensbedingungen von Empowerment-Workshops. Meine Untersuchungsfragen dabei sind folgende: (1) Was verstehen Empowerment-Trainer*innen unter Empowerment? (2) Wann beschreiben Empowerment-Trainer*innen Workshops als gelungen bzw. als gescheitert? (3) Was sind aus ihrer Perspektive Herausforderungen oder Spannungsverhältnisse in den Empowerment-Workshops? Bisher gibt es nur wenige verschriftlichte Forschungsarbeiten zu Empowerment-Workshops von People of Color in Deutschland.4 Die vorliegende Arbeit reagiert auf dieses Forschungsdesiderat, indem empirische Analysen zur Empowerment-Arbeit um Theorien der Rassismuskritik ergänzt und diese miteinander in Verbindung gesetzt werden. Um Empowerment-Arbeit theoretisch zu unterfüttern, wird der Frage nachgegangen, was genau Rassismus bedeutet und wie er wirkt. Speziell die 4

Es gibt vereinzelt Beiträge in Sammelbänden wie Çetin/Ergün-Hamaz 2015; Can 2011a; 2011b; Yiğit/Can 2006; Rosenstreich 2006 sowie zwei Reader zu Empowerment: Rosa-Luxemburg-Stiftung 2015; Heinrich-Böll-Stiftung 2013.

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Einleitung Subjektivierungsprozesse von People of Color durch Rassismus sind dabei von Interesse. Welche Erfahrungen machen People of Color in Deutschland und was sind Strategien des Umgangs mit diesen Erfahrungen? Insgesamt handelt es sich bei dieser Arbeit um eine doppelte Bewegung: Zum einen wird die Empowerment-Arbeit theoretisch eingebettet in Rassismustheorien, zum anderen wird das Forschungsfeld Rassismuskritik um die Ideen der Empowerment-Arbeit, die empirisch aus den Interviews herausgearbeitet wurden, erweitert. Bei meinem Forschungsvorgehen orientierte ich mich an der qualitativempirischen Herangehensweise der Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1996), da es sich hierbei um ein standpunkttheoretisch fundiertes Forschungsvorgehen handelt, in dem wissenschaftliches Arbeiten als eine Interpretation von Wirklichkeit verstanden wird. Für die Datenerhebung wurden neun leitfadengestützte, problemzentrierte Expert*innen-Interviews geführt, da mein Erkenntnisinteresse sowohl offen narrative Fragen als auch konkrete Fragen in Bezug auf die Empowerment-Workshops erforderte. Die Datenauswertung erfolgte in Anlehnung an die Grounded Theory spiralförmig, da es sich um ein interaktiv hergestelltes Forschungsprojekt handelt (vgl. Strübing 2008: 37ff.). Nach den ersten Interviews wurden bereits erste theoretische Konzepte entwickelt, die wiederum als Grundlage für die Auswahl der Personen sowie der Fragen für die nächsten Interviews dienten. Die bis dahin entwickelten theoretischen Konzepte wurden auf der Basis weiterer Interviews überprüft, ergänzt bzw. verworfen.

AUFBAU DER ARBEIT Die Forschungsarbeit ist in drei Blöcke gegliedert: In Block I geht es um die theoretischen Grundlagen. Hier werden zentrale Begrifflichkeiten, Ansätze und Konzepte der gesamten Arbeit eingeführt. Im Block II, der den Titel Bildung und Migration trägt, stelle ich den Forschungsstand der Interkulturellen Pädagogik und der Rassismuskritik als ihrer Teildisziplin dar. Letztere erweitere ich um theoretische Positionen zu 15

Einleitung Subjektivierungsprozessen durch Rassismus. In Block III werden die Ergebnisse der empirischen Analysen vorgestellt. Hier werden die Stimmen von Professionellen of Color zu Empowerment im Hinblick auf ihre persönlichen Empowerment-Entwicklungen sowie in Bezug auf ihr Verständnis von Empowerment-Workshops interpretiert. Als Abschluss der Arbeit folgt ein zusammenfassendes Fazit sowie ein Ausblick. Block I: Theoretische Grundlagen: Zentrale Begrifflichkeiten, Ansätze und Konzepte In Kapitel I.1 führe ich – in Anlehnung an feministische und postkoloniale Theorien, die eine Standpunktbestimmung als Bestandteil einer kritisch-reflexiven Forschung begreifen – mein Verständnis von Subjekt, Macht und Wissen(-schaft) aus einer subjekttheoretischen und postkolonialen Perspektive aus und stelle diese Begriffe in ein Verhältnis zu Rassismus. In Kapitel I.2 diskutiere ich Idee, Herkunft sowie theoretische Überlegungen des Konzepts People of Color als ein konstitutiv mit Empowerment verknüpftes Bestreben, eine Möglichkeit der Bezeichnung für unterschiedliche Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland zu finden. Hierfür kontextualisiere ich die Entstehung des Konzepts, das aus dem US-amerikanischen Raum stammt und von afro-deutschen Feminist*innen für den deutschen Kontext adaptiert wurde. Abschließend verbinde ich das Konzept People of Color mit den theoretischen Reflexionen Stuart Halls zur kulturellen Identität und Gayatari Spivaks Konzept des strategischen Essentialismus. Dabei diskutiere ich auch das nicht aufzulösende Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit von Kategorien und der Gefahr ihrer Essentialisierung. Kapitel I.3 führt in die Debatten um Empowerment in der Bildungsarbeit ein und verortet Empowerment aus der Perspektive von People of Color innerhalb dieser Debatten. Da der Empowerment-Begriff mittlerweile in sehr unterschiedlicher Weise verwendet wird, ist eine Abgrenzung des hier zur Anwendung kommenden Verständnisses notwendig. Hierzu wird das

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Einleitung Konzept von Empowerment-Workshops, die von PoC für PoC angeboten werden, in Traditionslinien aus der antirassistischen Widerstandsbewegung verortet; ebenso werden Verbindungslinien zur Bildungsarbeit aufgezeigt. Block II: Bildung und Migration: Forschungsstand und Weiterführungen Im Kapitel II.1 wird der Diskurs um Bildung und Migration vorgestellt – von der Ausländerpädagogik bis zur Rassismuskritik. Dies verdeutlicht, wie bisherige (vergangene und bestehende) Ansätze der Bildungsarbeit pädagogisch mit einer Migrationsgesellschaft wie Deutschland konzeptionell umgegangen sind. Die Darstellung des Forschungsstandes erfolgt unter der Fragestellung, wer innerhalb der Interkulturellen Pädagogik mit welchen Effekten über wen spricht. Zudem wird Empowerment aus PoC-Perspektive mit weiteren jüngeren Praxisansätzen der Anti-Diskriminierungsarbeit in Bezug gesetzt. In Kapitel II.2 wird das Verständnis von Rassismus aus der Perspektive der Rassismuskritik, in deren theoretischen Traditionslinien die folgende Arbeit steht und die als Analyseinstrument für den empirischen Teil genutzt wird, weiter vertieft. Um die Ideen von Empowerment zu verstehen, bedarf es nicht nur eines analytischen Verständnisses von Rassismus und dessen Wirkungsweisen, sondern auch ein Wissen zu den Subjektivierungsprozessen jener Menschen, die in Deutschland Rassismus unmittelbar und alltäglich erfahren. In Kapitel II.3 geht es deshalb um Wirkungsweisen, Auswirkungen und Umgangsweisen mit Rassismuserfahrungen. Block III: Stimmen der Empowerment-Trainer*innen: Zum Empowerment-Verständnis und den Gelingensbedingungen von EmpowermentWorkshops In Kapitel III.1 des dritten Blocks stelle ich die methodologischen Grundlagen der Arbeit vor, indem ich einige grundlegende Gedanken in Bezug auf das wissenschaftliche Arbeiten im Allgemeinen sowie im Spezifischen diskutiere und mein Forschungsdesign, meine Vorgehensweise und meinen Auswertungsprozess skizziere. In den Kapiteln III.2, 17

Einleitung III.3 und III.4 stelle ich die empirischen Ergebnisse der Interviews vor. Dabei beleuchtet Kapitel III.2 die persönlichen Entwicklungsprozesse der Empowerment-Trainer*innen und arbeitet deren Verständnis von Empowerment heraus. In Kapitel III.3 systematisiere ich die Bedingungen des Gelingens für Empowerment-Workshops aus Perspektive der Empowerment-Trainer*innen. In Kapitel III.4 arbeite ich die Herausforderungen, Spannungsverhältnisse und Grenzen der EmpowermentArbeit im Bildungsbereich heraus. In Kapitel III.5 fasse ich die Ergebnisse unter der Schlüsselkategorie ‚An-Erkennung als Gelingensbedingung von Empowerment-Workshops‘ zusammen. Im letzten Abschnitt stelle ich zusammenfassend die (Un-)Möglichkeiten der Empowerment-Arbeit und diskursive Kontroversen dar. Abschließend diskutiere ich offene Fragen, deren Untersuchung mir lohnenswert erscheinen.

PROBLEMATISIERUNG DER BENENNUNGSPRAXIS UND VERSTRICKUNGEN WISSENSCHAFTLICHEN ARBEITENS Beim Sprechen über Rassismus und Empowerment stellt sich rasch die Frage, wie die von Rassismus negativ betroffenen Menschen zu bezeichnen sind – ohne in dieser Benennung rassistische Logiken zu reproduzieren. Da Benennungspraxen grundsätzlich, wie jede Form von Sprachhandlungen, Orte der Diskursproduktion sind (vgl. Castro Varela 2001: 26), ist eine Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten innerhalb der eigenen wissenschaftlichen Arbeit unabdingbar. An verschiedenen Stellen wurden die Problematiken und Unzulänglichkeiten bisheriger Bezeichnungen wie ‚Migrant*innen‘ sowie anderer Begriffe wie ‚biodeutsch‘, ‚Mehrheit‘ und ‚Minderheit‘ diskutiert (vgl. bspw. Fereidooni 2016: 15-26; Ha et al. 2007a: 10-12; Castro Varela/Mecheril 2010b: 35-41).5 Als die angemessenste Bezeichnung 5

Der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ beispielsweise unterstellt eine Homogenität unter den Migrant*innen und macht bedeutsame Unterscheidungen unsichtbar zwischen denen, die kommen wollten, (...) die kommen sollen, (…) die kommen müssen, (…)

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Einleitung für Menschen, die in Deutschland aufgrund von angenommenem, zugeschriebenem oder faktisch bestehendem ‚Migrationshintergrund‘ Rassismuserfahrungen machen, erscheint mir der Begriff People of Color. Bei People of Color geht es um mehr als nur eine Bezeichnung. Als politischer Bündnisbegriff zielt er darauf, Menschen mit unterschiedlichen Rassismuserfahrungen in Deutschland trotz und mit ihren Differenzen zu verbinden.6 Dabei betrachte ich auch diesen Begriff als einen vorläufigen Versuch auf der Suche nach einer nicht-rassistischen Benennungspraxis. Denn jeder Versuch, für rassistisch marginalisierte Subjekte einen angemessenen Begriff zu finden, ist grundsätzlich mit dem Widerspruch konfrontiert, dass auch er sich innerhalb historischgesellschaftlicher Kontexte und vorherrschender Diskurse bewegt, die rassistisch geprägt sind (vgl. Ha 2007a: 39). Trotz der Begriffswahl People of Color bewege ich mich in dem grundsätzlichen Dilemma der Reproduktion binärer rassistischer Logiken durch ihre Benennung. Wissenschaft ist allgemein gefährdet und dafür kritisierbar, gesellschaftlich gegebene Differenzordnungen hervorzubringen und zu bekräftigen, in denen machtvoll unterschieden wird. Mit der ‚Krise der Repräsentation‘7 wird das Dilemma beschrieben, dass die kommen dürfen“ (Fereidooni 2001: 18). Fundamentale Statusunterschiede zwischen beispielsweise einer türkischen Putzfrau und einem weißen Banker aus den USA werden in diesem Begriff ausgeblendet (vgl. Ha et al 2007b: 11). 6 Da dieses Konzept auch in Empowerment-Kontexten von Bedeutung ist, widme ich mich der Idee und Praxis sowie den Widersprüchlichkeiten darin in Kapitel I.3 genauer. 7 Zurückzuführen ist diese Erkenntnis und damit auch ein internationaler Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren vor allem auf Judith Butlers dekonstruktivistische Kritik an feministischen Diskursen (vgl. Butler 1991). Das Bestreben der gänzlichen Repräsentation des ‚Weiblichen’ in gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen schafft ein kollektives Subjekt mit einer zugehörigen fixierten Identität. Dabei werden zum einen Ambivalenzen innerhalb einer Identität ignoriert und zum anderen verkannt, dass die Kategorie ‚Frau’, das Subjekt des Feminismus, selbst eine Konstruktion der Machtstrukturen ist, die bekämpft werden sollen. Alle Identitäten sind damit wesentlich politisch und kulturell konstruierte Kategorien (vgl. Butler 1991: 17). Aus postkolonialer feministischer Perspektive arbeitete Gayatri Chakravorty Spivak zudem heraus, dass Repräsentationspolitiken, die das Schweigen der Marginalisierten hörbar machen wollen, generell eine gewaltvolle Politik darstellen und koloniale Züge in sich tragen.

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Einleitung auch eine kritische Wissenschaft, die zum Abbau von Herrschaftsverhältnissen beitragen möchte, in der Benennung dieser Verhältnisse selbst zu ihrer Reproduktion beiträgt. Binäre Kategorien wie Frau/Mann oder krank/gesund oder mit/ohne Migrationshintergrund bieten zwar die Möglichkeit zur Benennung und Sichtbarmachung von Herrschafts- und Machtverhältnissen und damit Raum für politischen Widerstand. Gleichzeitig läuft das Arbeiten mit diesen Analyseinstrumenten zu Differenzverhältnissen unweigerlich Gefahr, ein binäres Kategoriendenken zu reproduzieren und soziale Konstruktionen sowie kollektive Identitäten zu essentialisieren (vgl. Mecheril/Melter 2010: 171-172). So ist es mir in meiner Arbeit ein Anliegen, die Kritik am Essentialismus zu berücksichtigen und gleichzeitig Widersprüche auszuhalten – wie beispielsweise die Herausforderung, zwar von People of Color zu sprechen und gleichzeitig zu betonen, dass es nicht die People of Color gibt.

SELBSTPOSITIONIERUNG UND MOTIVATION DER AUTORIN „So the voice that I now seek is both individual and collective, personal and political, one reflecting the intersection of my unique biography with the larger meaning of my historical time.“ (Collins 2000, XI)

Wissenschaft betrachte ich als ein politisches und parteiisches Projekt, das unausweichlich mit einer gesellschaftlichen Position und politischen Überzeugungen der jeweiligen Wissenschaftler*innen verknüpft ist. Der soziale Ort, von dem aus ich spreche, ist die Perspektive einer Woman of Color mit Flucht-, Rassismus- und Empowerment-Erfahrung in Deutschland. Seit zehn Jahren arbeite ich als freiberufliche Bildungsreferentin, vor allem im Bereich der Rassismuskritik. Persönlich und professionell interessieren mich die Möglichkeiten innerhalb der

Denn auch diese Repräsentationen – so gut die Absichten auch sein mögen – bleiben immer einem ‚Sprechen über‘ bzw. einem ‚Sprechen für‘ Marginalisierte verhaftet (vgl. Spivak 1981).

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Einleitung politischen Bildungsarbeit, Rassismus als gewaltvolles Machtphänomen zu thematisieren sowie (Selbst-)Reflexions- und EmpowermentRäume zu schaffen. Mein persönliches, professionelles, politisches und wissenschaftliches Interesse an meiner Untersuchung lassen sich nicht voneinander trennen. Gerade meine spezifische persönliche und berufliche Positionierung und das Privileg eines mehrjährigen Promotionsstipendiums ermöglichen es mir, das Empowerment-Konzept für People of Color theoretisch weiter zu fundieren und im wissenschaftlichen Feld zu verankern. Meine Forschungsarbeit sehe ich in der Kontinuität von Bemühungen, Worte zu finden für das Erlebte und Erfahrene, eine Sprache für das, was uns gegen und trotz Rassismus stärkt. Meine Gesprächspartner*innen haben mich auf dieser Suche begleitet und mir bei diesem Schreiben geholfen. Dabei motivierte mich der Wunsch, bisherige Repräsentationspolitiken innerhalb der Interkulturellen Bildungsarbeit ins Wanken zu bringen und Stimmen of Color, die immer schon vielfach existieren, jedoch marginalisiert werden, ins Zentrum zu rücken: Da jedes Wissen situiert und damit auch begrenzt ist (vgl. Harding 1994: 207), gehe ich nicht davon aus, dass das Wissen von People of Color zwangsläufig ‚besser‘ oder ‚richtiger‘ ist. Jedoch handelt es sich um eine wichtige und notwendige Perspektive, die bisher ein marginalisiertes Dasein in der Wissenschaft führt. „Zudem kann vor dem Hintergrund der Geschichte der Ignoranz, des Verschweigens, des Desinteresses und der bloß instrumentellen Bezogenheit auf ‚die Anderen‘ von einem momentanen Vorrang der Selbst-Geschichten der Anderen gesprochen werden.“ (Mecheril 1999: 259)

Das Reflektieren der eigenen Positionierung und die Annahme einer Parteilichkeit soll nicht den Eindruck erwecken, dass ich Wissenschaft durch Politik ersetzen möchte. Auch feministische Standpunktansätze geben die kritisierte Kategorie Objektivität nicht auf, sondern bestimmen sie neu (vgl. Harding 1994: 151). Gerade die Reflektion und der Einbezug der eigenen gesellschaftlichen Situiertheit ermöglicht nach Harding eine „strenge Objektivität“ (ebd.: 159). Strenge Maßstäbe für 21

Einleitung Objektivität erfordern, dass Forschungsprojekte die Reflexion ihrer historischen und sozialen Verortung und ihrer kulturellen Partikularität als Mittel nutzen, um eine größere Objektivität zu erreichen (vgl. Harding 1994: 180). Je mehr Kenntnisse Wissenschaftler*innen über die Bedeutung ihrer Positionierung und Verstrickung innerhalb von Herrschaftsverhältnissen erwerben, die diese für ihre Forschungsperspektive haben können, desto größer ist das Ausmaß der Transparenz und Validität, das sie in ihrer Forschung herstellen können.8 Der Forschungsprozess und die Zielsetzung der vorliegenden Studie orientieren sich an den Grundsätzen der empirischen Sozialforschung, der es um die Erkenntnisgenerierung bezüglich sozialer Strukturiert- bzw. Verfasstheit der Welt und der Beziehungen ihrer Akteur*innen untereinander geht (vgl. Lamnek 2010). Dementsprechend dienten auch die Gütekriterien qualitativer Sozialforschung der vorliegenden Studie als Maßstab (vgl. Helfferich 2009; Flick et al. 2000; Mecheril/Rose 2012; Strauss 1998).9

DANK Der Anfang meines Dissertationsprojekts war von Vorsicht und Unsicherheit geprägt. Wenn ich gefragt wurde, was ich derzeit mache, fiel es mir schwer zu sagen: „Ich promoviere.“ Ich fügte relativierende Sätze hinzu, wie „Ich hab jetzt mal damit angefangen, mal sehen, ob ich das zu Ende bringe.“ oder „Erstmal bin ich ja finanziert und so lange nutze ich die Zeit, wahrscheinlich wird das Projekt sowieso nicht fertig.“ Ich traute mir den Abschluss und die Veröffentlichung einer Doktorarbeit nicht zu. Die Arbeit an meiner Doktorarbeit entwickelte sich zu einem sehr wichtigen Teil meines eigenen Empowermentweges. Die vielen spannenden Gespräche mit meinen Interviewpartner*innen, die Auseinandersetzung mit Schwarzer und rassismuskritischer Literatur, der Austausch 8

Eine solche politisch orientierte und parteiliche Wissenschaft birgt ebenso wie andere Formen von Wissenschaft ihre spezifischen Chancen und Gefahren, die in Kapitel III.1.1 thematisiert werden. 9 Zu mehr siehe Kapitel III.1.2.

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Einleitung mit Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen of Color haben meinen Horizont erweitert und mein Herz erwärmt. Es ist viel Zeit vergangen, seit ich mit dem ersten Exposé angefangen habe, das zunächst von einer Stiftung als „analytisch unscharf“ und „zu subjektiv“ abgelehnt wurde. Die Dissertation schickte mich auf eine so aufregende wie aufreibende Reise. Begonnen in Köln, beendet in Berlin, gerahmt von Selbstzweifeln, Widerständen und finanziellen Engpässen. Mittendrin wurde aus einer Beziehung eine Familie mit zwei wunderbaren Kindern. Ohne die vielen Menschen, die mich auf diesem Weg begleitet haben, wäre das Projekt nie fertig geworden. Als erstes möchte ich David danken für seine emotionale Unterstützung und für das Vertrauen in mich. Wenn mich mein Glaube verlassen hat, weil meine wissenschaftlichen Kompetenzen wieder einmal von irgendwelchen Instanzen in Frage gestellt wurden, erinnerte er mich an meine Stärke. Ich bin dankbar für seine Fürsorge um unsere Familie, während ich forschte, und auch sein beständiges Korrekturlesen und Feedback geben. Ich glaube, am Ende war David noch glücklicher als ich, als das Dissertationsprojekt beendet war. Ich danke meiner Doktormutter Bettina Lösch für ihre wundervolle und kompetente Betreuung während der gesamten Zeit. Von ihr bekam ich stets reflektierte und ehrliche Rückmeldungen, aber auch emotionale Unterstützung. Besonders dankbar bin ich Bettina für ihren stets kritischen Umgang mit der Universität als Ort der Wissensproduktion, ihren Blick auf gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und ihre beständige Kapitalismuskritik. Ich danke auch den Wissenschaftler*innen aus dem Forschungskolloquium von Paul Mecheril, die mir so viele rassismussensible Denkanstöße mitgaben und die mich lehrten, mein eigenes Tun stets kritisch zu hinterfragen. Ohne die finanzielle Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung wäre das Projekt nie über das Exposé hinausgekommen, dafür ebenfalls ein großes Dankeschön.

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Einleitung Ich danke meiner lieben Crew aus Köln dafür, dass sie mich über die vielen Jahre in meinem Prozess begleitet haben – ob sie Korrektur gelesen, Formatierungen angepasst oder mich in meiner emotionalen Achterbahnfahrt von Freude, Frust, Wut, Zweifel und Glück unterstützt haben. Besonders danke ich Stephan Gilles, der die Muße hatte, das gesamte Werk innerhalb kürzester Zeit zu lektorieren und Till Kühnhausen für sein unermüdliches Formatieren. Nicht zuletzt danke ich den vielen Frauen of Color in meinem Umfeld für ihre inhaltlichen Rückmeldungen und für die spannenden Gespräche. Ohne euch hätte ich mich nicht getraut, die Dissertation zu beenden und zu veröffentlichen. Mein besonderer Dank gilt Nina Khan, Iris Rajanayagam und Hanna Mai. Unendlicher Dank gilt meinen Eltern und meinem Bruder. Wir kamen als Geflüchtete nach Deutschland und ich besuchte die Schule, ohne ein Wort deutsch zu sprechen oder zu verstehen. Es war im deutschen Bildungssystem nicht vorgesehen, dass ich studieren und promovieren würde. Meiner Familie verdanke ich meine Bildung, mein kritisches Denken und mein politisches Bewusstsein. „Without community, there is no liberation.“ (Audre Lorde)

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BLOCK I: THEORETISCHE GRUNDLAGEN: ZENTRALE BEGRIFFLICHKEITEN, ANSÄTZE UND KONZEPTE „It should be the primary concern of scholarship's decolonization to bring out change for alternative emancipatory knowledge production.“ (Kilomba 2010: 31)

Im ersten Abschnitt der Dissertation arbeite ich theoretische Grundlagen dieser Arbeit aus und führe zentrale Begrifflichkeiten, Konzepte und Ansätze ein. Dieses Kapitel stellt den Rahmen des gesamten Forschungsprojekts dar. Weder das Konzept ‚Empowerment von Menschen mit Rassismuserfahrungen‘ noch der Ansatz ‚People of Color‘ sind im hegemonialen wissenschaftlichen Kontext in Deutschland geläufig. Deshalb benötigen sie vorab eine Einführung, in der ich die Konzepte vorstelle und Auseinandersetzungen innerhalb der Fachdebatte reflektiere. Dass in wissenschaftlichen Forschungsfeldern Themen wie Empowerment von PoC, die den Fokus auf Subjektivierungsprozesse von Menschen mit Rassismuserfahrungen legen, kaum Beachtung finden, ist kein Zufall, sondern Teil von Rassismus als Ordnungssystem und seiner Ausschlussmechanismen. Rassismus ist eine machtvolle Praxis des Unterscheidens zwischen einem machtvollen, dominanten und als fraglos dazugehörig Wir sowie einem durch herabwürdigende Zuschreibungen gekennzeichneten, nicht fraglos dazugehörigen Anderen10. Auch oder besonders in der Produktion von ‚wissenswertem Wissen‘ wirken diese Ausschlusspraxen. Hier wird gerne unterschieden zwischen weißem wissenschaftlich wertvollem ‚Wissen‘, das als ‚objektiv‘ und ‚universell‘ gesetzt, und ‚spezifischen Erfahrungen‘ of Color, die als zu ‚befangen‘, zu ‚politisch‘ oder zu ‚emotional‘ und ‚nicht wissenschaftlich 10

Eine kursive Schreibweise wie die Anderen, die Fremde oder der Westen verweist auf die Tatsache, dass es sich um Konstruktion handelt.

Block I: Theoretische Grundlagen genug‘ degradiert werden. Anknüpfend an die postkolonialen Studien betrachte ich Wissenschaft jedoch immer als ein politisches und parteiisches Projekt innerhalb eines umkämpften Feldes. Eine kritische Standpunktbestimmung der eigenen Position ist Teil dieser Dissertationsarbeit. Im ersten Kapitel führe ich deshalb zunächst allgemein mein Verständnis von Subjekt, Macht und Wissen aus einer subjekttheoretischen und postkolonialen Perspektive aus. Rassistische Herrschaftsverhältnisse werden dabei als komplexe Subjektivierungsprozesse begriffen, welche sowohl unterdrückend als auch produktiv auf das Subjekt wirken (Kapitel I.1.1). Da es unter den Bedingungen rassistischer Herrschaftsverhältnisse keine Subjekt-Werdung außerhalb des Rassismus geben kann11, ist auch das wissenschaftliche Forschen unweigerlich perspektivisch (Kapitel I.1.2). Deshalb ist es notwendig, das Verhältnis von Wissen(-schaft) und Macht zu diskutieren (Kapitel I.1.2). Hier geht es neben der Kritik an vermeintlich objektivem und neutralem Wissen (Kapitel I.1.2.1) um Repräsentationsverhältnisse im universitären Kontext. In Bildungsinstitutionen, in denen Wissen verhandelt und produziert wird, sind Stimmen of Color kaum zugegen. Die Verstrickung der Universität in rassistische Verhältnisse erschwert die Präsenz von Wissenschaftler*innen of Color und die Produktion von Wissen of Color (Kapitel I.1.2.2). Nach einer Darstellung der rassistischen Herrschaftsverhältnisse geht es im letzten Kapitel I.1.2.3 um die eigene Verortung dieser Arbeit innerhalb der Wissensproduktion. Hier führe ich einige Gedanken zur Idee eines dekolonisierten emanzipatorischen Wissens aus. Sprache (re-)produziert Rassismus, deshalb ist ein reflexiver Umgang mit Sprechhandlungen unverzichtbar. Gleich zu Beginn dieses Forschungsprojekts stellte sich deshalb für mich die Frage, wie ich die 11 An

dieser Stelle sei angemerkt, dass es weitere – genauso bedeutsame – Herrschaftsverhältnisse existieren (wie Geschlecht und Klasse) und diese miteinander verschränkt wirken (Siehe mehr zur Intersektionalität: Walgenbach/Reher 2018). In dieser Arbeit konzentriere ich mich auf Rassismus als Herrschaftsordnung.

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Block I: Theoretische Grundlagen Gruppe von Menschen bezeichne, von denen ich schreiben möchte. Im zweiten Kapitel widme ich mich insofern dem People of Color Konzept. Hierbei handelt es sich um eine Bezeichnung für Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland, für die ich mich in dieser Arbeit entschieden habe. Dabei ist People of Color ist nicht nur als ein Begriff zu verstehen, sondern vielmehr als ein Konzept, das eine Verbindung zwischen allen Menschen, die Rassismuserfahrungen machen, herstellen möchte – und zwar über nationale und ethnische Hintergründe hinweg. Ziel ist es, die konstruierte Trennung zwischen verschiedenen rassistisch diskriminierten Gruppen zu überwinden und eine gemeinsame politische Basis zu entwickeln, ohne jedoch die Differenzen zu leugnen. Dieses Konzept beinhaltet ein seltenes Potenzial für eine etwas andere kollektive Identitätskonstruktion als bisherige klassische Konzepte. Als ein großes übergreifendes Projekt birgt es aber auch eigene Gefahren. Zunächst stelle ich in Kapitel I.2.1 den Zusammenhang von Rassismus und Sprache her und begründe die Wahl des PoC-Konzepts. Im Kapitel I.2.2 gehe ich auf die in den USA liegenden Ursprünge dieses Ansatzes ein. Die Idee wurde ab den 1970er und 1980er Jahren durch Schwarze Feminist*innen auch nach Deutschland getragen. In Kapitel I.2.3 stelle ich das People of Color-Konzept genauer vor und diskutiere dabei sein Potenzial sowie seine Herausforderungen. Im letzten Schritt ergänze ich das Konzept um theoretische Ausführungen zu dem bekannten Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit von Kategorien und die Gefahr ihrer Essentialisierung (Kapitel I.2.4). Im dritten Kapitel konzentriere ich mich auf ein zentrales Thema der Dissertationsarbeit im engeren Sinne und stelle das EmpowermentKonzept aus PoC-Perspektive vor. People of Color machen in der deutschen Gesellschaft rassistische Ausgrenzungserfahrungen. Die Allgegenwärtigkeit von Rassismus bestimmt nicht nur über die Verteilung von begrenzten Ressourcen, sie hat auch direkte Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Persönlichkeitsentwicklung von People of Color. Diesem Umstand wird im Bildungswesen und in der Bildungsarbeit selten Rechnung getragen. Die Interkulturelle Pädagogik, die sich 27

Block I: Theoretische Grundlagen mit migrationsbedingten Phänomen befassen soll, beschäftigt sich kaum mit den Subjektivierungsprozessen von Menschen mit Rassismuserfahrungen. Empowerment-Workshops für People of Color thematisieren dagegen diesen normalen Alltag von Menschen mit Rassismuserfahrungen (Kapitel I.3). Nachdem ich den Empowerment-Begriff in seinen mittlerweile sehr unterschiedlichen Verwendungen kontextualisiere (Kapitel I.3.1), stelle ich daraufhin das hier im Fokus stehenden Empowerment-Konzept vor (Kapitel I.3.2). Im Kapitel I.3.3 gehe ich auf die Traditionslinien des Ansatzes ein, indem ich zum einen die historische Verbindung zu antirassistischen Widerstandsbewegungen (Kapitel I.3.3.1) sowie die ersten Arbeiten mit Empowerment in der Bildungsarbeit (Kapitel I.3.3.2) aufzeige. In Kapitel I.3.3.3 gehe ich auf die Verbindungen zwischen der Empowerment-Idee und kritischer politischer Bildung ein. Im letzten Kapitel I.3.4 greife ich einen wichtigen Diskurs innerhalb der Empowerment-Arbeit auf und thematisiere die Frage, ob Empowerment als eine persönliche Selbststärkung oder ein politisches Projekt betrachtet werden kann. Ziel dieses Dissertationsprojektes ist es – anknüpfend an Grada Kilombas eingangs zitierten Gedanken – einen Beitrag für eine dekolonisierte Wissenschaft zu leisten, in der alternatives emanzipatorisches Wissen produziert wird.

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1

ZUM VERSTÄNDNIS VON SUBJEKT, MACHT UND WISSEN – POSTKOLONIALE UND SUBJEKTTHEORETISCHE PERSPEKTIVEN

Warum ist es wichtig, das Verhältnis von Subjekt, Macht und Wissen für diese Forschungsarbeit zu thematisieren? Anknüpfend an postkoloniale Theorien gehe ich davon aus, dass jeder wissenschaftlichen Arbeit – bewusst oder unbewusst – ein Gesellschaftsverständnis zugrunde liegt, das sich auf die Sicht der Forschenden und damit auch auf den Prozess und die Ergebnisse der Forschungsarbeit auswirkt. Denn je nach Gesellschafts-, Subjekt- sowie Wissensverständnis werden Kontexte unterschiedlich interpretiert, fallen Analysen und Deutungsmuster anders aus, werden Interviews unterschiedlich gelesen und damit auch Ergebnisse verschieden dargestellt. Gehe ich beispielsweise davon aus, dass Herrschaftsverhältnisse so machtvoll sind, dass Subjekte ihnen einfach nur unterworfen sind, werde ich die empirischen Daten anders auswerten, als wenn ich von einem Konzept des autonomen Subjekts ausgehe, das sich frei machen kann von den eigenen Erfahrungen und gesellschaftlichen Strukturen. Was ist in diesem Zusammenhang mit ‚Wissen’ der interviewten Subjekte gemeint, das prominent im Titel der Arbeit auftaucht? Allgemeiner noch: Was bedeutet wissenschaftliches Forschen, das an der Produktion von ‚Wissen’ und ‚Wahrheit’ beteiligt ist? Diese Annahmen, die unweigerlich die gesamte Forschungsarbeit durchziehen, sollen anfangs verdeutlicht werden. Um mein Verständnis von Wissenschaftlichkeit diskutieren zu können, ist es sinnvoll, zuerst das eigene Gesellschaftsverständnis, welches dieser Forschungsarbeit implizit zugrunde liegt, zu klären und offenzulegen. Deshalb führe ich im Folgenden anknüpfend an die Rassismuskritik und die Migrationspädagogik mein subjekttheoretisches Verständnis aus und stelle die Verbindung zum Rassismus her. Dabei verstehe ich

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mohseni, Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31005-9_1

Block I: Theoretische Grundlagen Rassismus als eine diskursive Praxis, welche die Verteilung und Legitimation von materiellen und symbolischen Ressourcen regelt. Die Subjekte innerhalb dieses Herrschaftsverhältnisses werden weder als ‚Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse’ noch als ‚autonome Wesen’ verstanden. Stattdessen wird die Aufrechterhaltung der rassistischen Ordnung erst durch die Subjekte möglich. Gleichzeitig sind die Subjekte selbst angewiesen auf die gesellschaftliche Ordnung, weil sie durch diese erst zu angerufenen Subjekten werden (Kapitel I.1.1). Aus diesem Subjekt- und Herrschaftsverständnis ergibt sich ein unvermeidliches Verstricktsein im wissenschaftlichen Tun, welches im Kapitel über das Verhältnis von Wissen und Macht aus postkolonialer Perspektive (Kapitel I.1.2.1) aufgegriffen wird (Kapitel I.1.2). Wissenschaft nimmt unweigerlich einen spezifischen Blickwinkel ein und spricht von einem kontextspezifischen Ort (Kapitel I.1.2.2). Meine Forschungsarbeit verstehe ich als eine politische Praxis (I.1.2.4), welche sich den kaum repräsentierten Perspektiven von Menschen of Color innerhalb rassismuskritischer Bildungsarbeit widmet (1.2.3).

1.1

RASSISMUS BILDET – SUBJEKTIVIERUNGSPROZESSE AUS PERSPEKTIVE DER MIGRATIONSPÄDAGOGIK

In der Migrationspädagogik (Mecheril 2016a) wird Macht und Herrschaft nicht im traditionellen Sinne als eine Ordnung mit einem lokalisierbaren Zentrum verstanden (vgl. Broden/Mecheril 2010a). Komplexen Herrschaftsverhältnissen kommt kein binäres Verhältnis von ‚den Herrschenden’ und ‚den Beherrschten’ zu, ebenso wenig wird Macht als ein Phänomen verstanden, das sich von oben nach unten durchzieht (vgl. ebd.). Stattdessen geht die Migrationspädagogik, anlehnend an Michel Foucault, von einer Allgegenwart der Macht aus: „[N]icht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem

30

Block I: Theoretische Grundlagen Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt. Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall.“ (Foucault 1984: 114-115)

Macht ist überall, jedoch nicht verstanden als ein Phänomen, das durch gesellschaftliche Normen deterministisch auf das Subjekt einwirkt und dieses als ein reines Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse hervorbringt. In Anlehnung an poststrukturalistische Theoretiker*innen wie Michel Foucault und Judith Butler weisen Wissenschaftler*innen in der Rassismuskritik und Migrationspädagogik darauf hin, dass rassistische Ordnungen nicht nur das Handeln von Menschen regulieren, sondern dass die Subjekte erst innerhalb dieser Ordnungen produktiv hervorgebracht werden (vgl. Yildiz 2009; Rose 2012; Broden/Mecheril 2010b: 16; Velho 2010). Die Macht der Ordnungen wendet sich somit nicht gegen das Subjekt, sondern verwirklicht sich erst durch das Subjekt (vgl. Broden/Mecheril 2010a). Macht im foucaultschen Verständnis wirkt nicht nur unterdrückend, sondern zugleich erzeugend und produktiv. Sie ist nicht eine Erscheinung, gegen die Individuen sich wehren, sondern das, was sie zu dem macht, was sie sind (vgl. Mecheril 2014c: 16). Dieser subjekttheoretische Machtbegriff in der Migrationspädagogik, der Macht als produktiv und unterdrückend zugleich versteht, geht von einem performativen Subjektivierungsprozess aus, der aus Individuen Subjekte macht (vgl. Yildiz 2009: 48). Mit dem Prozess der Subjektivierung beschreiben Foucault und später Butler, wie das Subjekt als Subjekt in der Unterwerfung unter normierende Zwänge im Diskurs zu verstehen ist (vgl. Foucault 1984: 114-115; Butler 2001). In der Migrationspädagogik beschreibt Nadine Rose Subjektivierung folgendermaßen: „Mit dem Begriff der Subjektivierung werden solche Praxen bezeichnet, in denen Individuen in ihrer Unterwerfung unter gesellschaftliche Normen überhaupt erst als ‚Subjekte’ konstituiert werden. […] Subjektivierung [steht] für jenen Vorgang, in dem der oder die Einzelne in die herrschenden (diskursiven) Ordnungen der Gesellschaft eingepasst wird und in ihnen seine oder ihre Position als Subjekt erhält.“ (Rose 2010: 211)

31

Block I: Theoretische Grundlagen Subjektivierung steht also für einen – diskursiv vermittelten – Vorgang, in dem das Subjekt hervorgebracht und gleichzeitig in dieser Hervorbringung bereits den normativen Vorgaben des Sozialen unterworfen wird. Es handelt sich um einen Prozess mit einer doppelten Bewegung – der Unterwerfung und der Subjektwerdung. Das Subjekt entsteht gerade dadurch, dass es sich den Normen unterwirft, die Normen wiederum sind davon abhängig, dass sie als subjektives Selbstverhältnis reproduziert werden. Vor allem Butler beschäftigt sich mit der paradoxen Wirkung dieser Subjektivierungsprozesse, die sowohl ermöglichen als auch regulieren (vgl. Butler 2001: 7). Für Butler bedeutet dies vor allem, dass das Subjekt weder durch die Macht voll determiniert ist noch seinerseits die Macht determiniert (vgl. ebd.: 22). „Subjektivation besteht eben in dieser grundlegenden Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält. ‚Subjektivation‘ bezeichnet den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung.“ (Butler 2001: 8)

Um genauer auszuführen, wie der Prozess der Subjektivierung vonstattengeht, bezieht sich Butler auf Althussers Konzept der Anrufung (vgl. Althusser 1977). Durch die ideologische Anrufung, wie Althusser beschreibt, erkennt das Individuum, wer es ist und zugleich wo der soziale Ort ist, an dem es sich wissen soll und von dem aus es handeln kann. Erst durch den Prozess der Anrufung als Sprechakt wird jemand existent (ebd.: 142).12 Der Vorgang der Anrufung und Ansprache durch die symbolischen Ordnungen ist ein Prozess, der die Macht hat, soziales Leben und Subjekte zu schaffen. Die Handlungsfähigkeit, die dem Subjekt aus diesem Vorgang zuteilwird, ist dabei abgeleitet aus der Macht, die seine Unterwerfung impliziert. Herrschaftsverhältnisse sind somit weder strikt determinierend 12

Louis Althusser beschreibt diesen Prozess der Anrufung mit Hilfe des Beispiels eines Polizisten, der auf der Straße ruft: „He, Sie da!“. In dem Moment, in dem sich das Individuum umdreht, erkennt es an, dass der Anruf ihm galt und wird dadurch ansprechbar und existent. Erst durch diesen Prozess wird die Person als Subjekt existent (vgl. Althusser 1977: 142).

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Block I: Theoretische Grundlagen noch notwendig, sondern kontingent13 (vgl. Yildiz 2009: 63). Sie entfalten ihre Kraft erst durch die Performativität, die ständige Wiederholung durch die Subjekte: „Die Performativität ist [...] kein einmaliger ‚Akt’, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsfähigen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist.“ (Butler 1997: 36)

Butler verdeutlicht den Prozess der Performativität am Beispiel der binären Geschlechterkonstruktion. Über die Anrufung, also die Zuordnung zu einem ‚Geschlecht’, erlangt das Kind einen Platz in der symbolischen Ordnung von ‚männlich-weiblich’ als ein ‚Mädchen’. ‚Sie’ erhält ihren Subjektstatus dabei aber nur unter der Bedingung, als ‚sie’ in Erscheinung zu treten und ist permanent dazu aufgefordert, sich als ‚Mädchen’ aufzuführen, zu zeigen und zu identifizieren. Um ihren Subjektstatus nicht zu gefährden, wiederholt ‚sie’ ohne notwendige explizite Aufforderung von außen das Verhalten eines ‚richtigen Mädchen’ und bestätigt dadurch die Differenzordnung ‚Mädchen-Junge’, die ‚ihrem’ Erscheinen vorausgeht und ihr gleichzeitig zugrunde liegt (vgl. ebd.: 29). „Das Subjekt ist somit nicht Eigentümer seiner Akte, Positionen und Handlungen, sondern erhält seine Subjektivität und Handlungsmacht über die Zitation vorgängiger, erprobter und autoritativ bestätigter Praktiken.“ (Butler 2006: 228)

Subjektivierung erweist sich jedoch als ein mit Unsicherheiten behafteter Prozess, denn keine Norm kann ihre ‚ordnungsgemäße’ Wiederholung vollständig sicherstellen. Zwischen der Norm und ihrer Wiederholung verbirgt sich immer eine Differenz, eine Kluft, in der ein Raum für Handlungsfähigkeit entsteht.

13

Mit Kontingenz ist hier eine prinzipielle Offenheit und Ungewissheit von Verhältnissen gemeint.

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Block I: Theoretische Grundlagen „Aus dieser Perspektive ist innerhalb der gesellschaftlichen Performativität, der in der Regel praktisch bestätigenden Wiederholung des Status Quo, immer auch ein Moment der Nicht-Übereinstimmung aufbewahrt und eingelagert.“ (Rose 2015: 69)

Da Performanz also immer mit einer kleinen Modifikation verknüpft ist, liegt hier der Handlungsspielraum von Subjekten. Diese Handlungsfähigkeit Einzelner, die sich relativ zu Handlungskontexten ergibt, wird so im Subjektbegriff zum Thema: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. [...] Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung [...]. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände.“ (Foucault 1984: 114-115)

Subjekte sind also grundsätzlich in der Lage, sich zu rassistischen Ordnungen zu verhalten und auch diese zu verschieben. Denn genauso wie das Individuum auf die soziale Ordnung angewiesen ist, um einen Platz innerhalb der Gesellschaft zugeordnet zu bekommen, ist die soziale Ordnung auf die Subjekte angewiesen. Da die Wirksamkeit von Normen sich aus ihrer mannigfaltigen Wiederholung speist, ist jede Norm darauf angewiesen, dass die Subjekte ihre Wiederholungen performativ vollziehen (vgl. Butler 1991: 7). Die Performanz ist deshalb notwendig, weil in der Wiederholung der Eindruck aufrechterhalten wird, dass gemachte Normen als selbstverständlich gelten und fraglos gerechtfertigt sind. Nur durch diese ständige Wiederholung können Ordnungen ihre Wirkungskraft entfalten und den ihnen zugrundeliegenden unterdrückenden Charakter verschleiern oder verbergen. Wie ist nun Rassismus mit dieser subjekttheoretischen Perspektive zu verstehen? Rassismus ist eine der global machtvollsten Ordnungen. Durch rassistische Subjektivierungsprozesse werden wertvolle und weniger wertvolle Subjekte hervorgebracht und Ausschlussmechanismen produziert und legitimiert. Rassismus interpretieren Anne Broden und Paul Mecheril als eine Praxis des Unterscheidens zwischen einem 34

Block I: Theoretische Grundlagen machtvollen, dominanten und als fraglos dazugehörig gedachten Wir sowie einem durch herabwürdigende Zuschreibungen gekennzeichneten, nicht fraglos dazugehörigen Anderen. „Diese rassistischen Unterscheidungen können als eine Praxis der Fremdund Selbstpositionierung bezeichnet werden, die von den Individuen als normal, als ordnend und strukturierend wahrgenommen werden, die ihre Sicht auf die Welt bilden. Das rassistische Ordnungsprinzip des machtvollen Unterscheidens wirkt somit nicht allein als ‚äußerliche’ Verteilung von Ressourcen, sondern ist auch in dem Sinne produktiv, als es auf Selbst-, Gegenstands- und Weltverständnisse einwirkt: Rassismus bildet.“ (Broden/Mecheril 2008: 1)

Rassismus14 ist also ein System machtvoller Unterscheidung. Durch diesen Prozess der Differenzierung wird eines der grundlegenden Ordnungsschemata moderner Staaten und Gesellschaften hergestellt, indem in einer komplexen, nicht immer widerspruchsfreien Weise zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören, unterschieden wird. Diese Ordnung erscheint durch ihre ständige Wiederholung als Normalität und verschleiert dadurch ihren machtvollen Charakter. Die rassistische Normalität wirkt sich auch auf die Selbstverständnisse der Subjekte aus. Mit ihrem irritierenden und provozierenden Titel ‚Rassismus bildet‘ verweisen Broden und Mecheril (2010) auf genau diese produktive Wirkung der rassistischen Realität: „‚Rassismus bildet’ verweist […] darauf hin, dass Rassismus mittels Wissen und Erfahrung auf Prozesse der Konstitution und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen positiv oder negativ Einfluss nimmt.“ (Broden/Mecheril 2010b: 7)

Stuart Hall beschreibt Rassismus als eine „diskursive Praxis“ (Hall 2000) und meint einen dynamischen und mehrdimensionalen Prozess der Produktion von rassistischem Wissen und Macht. Menschen werden innerhalb dieser Differenzierungspraxis an unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen platziert und Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen werden darüber reguliert. Dieses „Klassifikationssystem“ 14

Mehr zur Wirkungsweise von Rassismus siehe Kapitel II.2.

35

Block I: Theoretische Grundlagen (ebd.: 7) der Differenzierung dient dazu, soziale, politische und ökonomische Praxen zu rechtfertigen, welche bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen ausschließen. Die „machtvolle Differenzierungslogik“ (Broden/Mecheril 2010b: 17) beschränkt sich aber nicht allein auf ihre materialistische Funktion, sondern beinhaltet eine symbolische Funktion für die Konstituierung von Subjekten.15 Sie konstituiert und strukturiert Erfahrungen durch Zugehörigkeitsordnungen16. Rassistische Ordnungen wirken also auch in dem Sinne, dass sie auf Selbstverständnisse und Praxen der Subjekte einwirken. Sie durchziehen Menschen in einer Weise, die sie in ihrem Wissen, ihren Erfahrungen, ihren Stellungnahmen, Wünschen und Ansichten konstituiert (vgl. ebd.). Das bedeutet, dass es unter den Bedingungen einer rassistisch strukturierten symbolischen Ordnung keine Subjektwerdung außerhalb des Rassismus geben kann, wohl aber unterschiedliche Verstrickungen. Meine Forschungsarbeit interessiert sich für die Subjektwerdung von Menschen, die innerhalb der rassistischen Ordnung als die Anderen markiert werden. Ihren komplexen, widersprüchlichen Erfahrungen, Selbstverständlichkeiten und subjektiven Deutungsmustern und Wahrnehmungen widmet sich diese Arbeit. Wie erfahren Menschen of Color Rassismus und was bedeutet Empowerment als eine mögliche Bewegung gegen diese rassistische Ordnung für sie? Subjekte werden dabei in Anlehnung an Stuart Hall als verstrickt und handlungsfähig zugleich begriffen. Mit seinem Rückgriff auf Foucaults Diskursbegriff17 zeigt Stuart Hall auf, dass rassistische Diskurse nicht determinierend auf die Subjekte wirken, ebenso wenig stoßen Einzelnen diese Zuschreibungen 15

Mehr zu den Subjektivierungsprozessen von People of Color siehe Kapitel II.3. Zugehörigkeit kennzeichnet eine Relation zwischen einem Individuum und einem sozialen Kontext, in dem Praxen und Konzepte der Unterscheidung von ‚zugehörig‘ und ‚nicht-zugehörig‘ konstitutiv für den Kontext sind. Zugehörigkeitserfahrungen sind Phänomene, in denen die Einzelne ihre Position in einem sozialen Zusammenhang und darüber vermittelt sich selbst erfährt (vgl. Broden/Mecheril 2010b: 14). 17 Foucault meint mit Diskurs Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen (vgl. Yildiz 2009: 31). 16

36

Block I: Theoretische Grundlagen ‚einfach nur’ zu (vgl. Hall 2000). Die Wirkungsmacht der rassistischen Diskurse entfaltet sich nur durch die Beteiligung der Individuen, die dadurch, dass sie diese wiederholen, zu Subjekten werden (vgl. Mecheril 2014c: 18). „Rassismus ist ein strukturierter und strukturierender Raum, in dem aus Individuen ‚Subjekte’ werden, deren Handlungsfähigkeit und Selbstverständnis vermittels der Erfahrungen, die sie in dem Raum machen, an die Struktur des Kontextes gebunden bleiben, diese aufnehmen, bestätigten, aber auch transformieren und modifizieren.“ (Mecheril/Melter 2010: 157)

Im Rahmen dieses Sich-ins-Verhältnis-Setzens der Subjekte zu Differenzordnungen können Differenzordnungen und Identifizierungen nicht nur angenommen, sondern auch zurückgewiesen, herausgefordert, transformiert oder erweitert werden. Rassistische Ordnungen werden in individuelles Tun und Erfahrungen transformiert und über Erfahrungen und durch das Handeln angeeignet. Mit der konkreten Bildungsarbeit für Menschen mit Rassismuserfahrungen versuchen Empowerment-Trainer*innen of Color innerhalb der rassistischen Ordnung Räume anzubieten, in denen Erfahrungen von alltäglichem Rassismus sprechbar und Handlungsmöglichkeiten damit und darin eruiert werden. Mich interessieren diese Räume als mögliche Orte von Transformationsprozessen. Mein Forschungsinteresse und die Frage nach Veränderungspotenzialen im rassistischen System schließt an die Migrationspädagogik (Mecheril 2004a) an, der es darum geht, Subjektivierungs- und Bildungsprozesse unter den Bedingungen von Herrschaftsstrukturen zu untersuchen. Sie bezeichnet einen Blickwinkel, unter dem Fragen gestellt und thematisiert werden, die bedeutsam sind für eine Pädagogik in der Migrationsgesellschaft. Besonders von Interesse sind Herrschaftsverhältnisse, in denen Differenz- und Zugehörigkeitsverhältnisse als Unterscheidungspraxen dienen (vgl. Mecheril/Scherschel: 2009: 54-55). Ziel der Migrationspädagogik ist erstens die Untersuchung der lokalen Hervorbringung dieser migrationsgesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen (z. B. in der Schule) mit Hilfe der machtvollen Unterscheidungspraxis 37

Block I: Theoretische Grundlagen von Wir und die Anderen. Im migrationspädagogischen Blick rücken institutionelle und diskursive Ordnungen sowie Möglichkeiten ihrer Veränderung ins Zentrum. Zweitens geht es um die Analyse der Subjektivierungsprozesse unter den Bedingungen dieser rassistischen Strukturen. Bei den Untersuchungen zu Subjektivierungsprozessen kommen sowohl Vorgänge der Diskriminierung und Einschränkung in den Blick als auch die Möglichkeiten und Formen der Verschiebung und Veränderung von Zugehörigkeitsordnungen und Herrschaftsstrukturen sowie des Widerstandes gegen diese und in ihnen (vgl. Mecheril et al. 2013: 48-49). An der Untersuchung der Räume und Optionen der Kontingenz ist Migrationspädagogik in besonderer Weise interessiert, denn hier werden Alternativen sichtbar, die der „Komparativform des ‚Freieren’, des ‚Würdigeren’“ (Mecheril 2014a: 170) entsprechen. Das Interesse am Aufzeigen von Verschiebungen, Veränderungen und Brüchen, welcher Bestandteil subjekttheoretischer Überlegungen ist, kommt von einem anderen theoretischen Zugang und ist auch Teil von postkolonialen Perspektiven. Postkoloniale Theorien zielen auf Brüche und Risse der hegemonialen rassistischen Normalität, indem sie auf die von einer historisch spezifischen Wissensordnung marginalisierten Erfahrungen und Geschichten aufmerksam machen (vgl. Ha 2007b). In Ansätzen, die durch Cultural und Postcolonial Studies inspiriert sind, wird der sozialen Kontextualisierung von Erkenntnisproduktion eine explizite Aufmerksamkeit zuteil, in denen machtvoll unterschieden und epistemische Gewalt18 ausgeübt wird (vgl. Spivak 2008). Hier wird ebenso ein differenzierter und komplexer Machtbegriff stark gemacht (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 24), indem von einem relationalen, dynamischen und kontextuellen Verhältnis von Ungleichheit, Macht

18

Epistemische Gewalt meint die gewaltvolle Produktion von Wissen und Wahrheit. Dieser Begriff wurde von Gayatari Chakravorty Spivak unter Bezugnahme auf Foucault geprägt und bezieht sich auf die Produktion von kolonialem Wissen über die Anderen als machtvollen Prozess. Epistemologie fragt, was Wissen ist und wie es Gültigkeit erlangt (vgl. Böcker 2011: 348).

38

Block I: Theoretische Grundlagen und Dominanz ausgegangen wird, welches permanent neu ausgehandelt werden muss. „Die Unabgeschlossenheit von gesellschaftlichen Machtverhältnissen sowie die unvermeidliche Involvierung der Subjekte darin fordern dazu auf, die eigene Position im Diskurs sowie in der Gesellschaft zu lokalisieren und zu hinterfragen.“ (Ha 2007b: 41)

Dieser besondere Fokus auf die wechselseitige wie nachhaltige Durchdringung kolonial-rassistischer Beziehungen und ihre Einschreibung in die politische Kultur bis in die Gegenwart kennzeichnet den postkolonialen Blick (vgl. Ha 2010b: 260). Durch diesen differenzierten Machtund Subjektbegriff können nicht nur die einschränkenden rassistischen Verhältnisse und strukturelle Bedingungen sichtbar werden.19 Stattdessen geht es darum, auch die Möglichkeiten der Interventionstaktiken und die unterschiedlichen Formen von Widerstand freizulegen (vgl. Castro Varela 2007: 96). Postkoloniale Studien sind bestrebt, jene Perspektiven und Themen aufzuwerten, die innerhalb der bestehenden weißen androzentristischen Geschichte und Wissenschaft kaum vorkommen (vgl. Ha 2011: 183). Formen der Verschiebungen und Veränderungen von Herrschaftsstrukturen sowie des Widerstandes werden dabei weder als heroische Handlung von Individuen noch als bloßes Spiel einer strukturellen Logik in den Blick genommen. Widerstand wird als ein Spannungsverhältnis von beidem verstanden: Veränderungen sind in den Herrschaftsverhältnissen eingeschrieben, und sie sind gleichzeitig als ein politisch aktives Vermögen zu verstehen (vgl. Mecheril et al. 2013: 49b). So kann widersprüchliche Geschichte neu geschrieben und Wissen dekolonisiert werden, indem „das Deplatzierte“ (Ha 2007b: 45) unterstützt wird und jene Themen und Perspektiven aufgewertet werden, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Platz beanspruchen dürfen.

19

Hier kann es durch eine zu deterministische Zeichnung kolonialer Herrschaftsverhältnisse dazu kommen, dass rassifizierte Subjekte einen passiven Objektstatus erhalten oder ihre Handlungspotenziale ganz aus dem Blickfeld rücken.

39

Block I: Theoretische Grundlagen Meine Forschungsarbeit knüpft an der Idee der Kontingenz von Herrschaftsverhältnissen aus subjekttheoretischer Perspektive an. Hierdurch können Verschiebungen und Brüche in und zu hegemonialen Strukturen in den Blick geraten. Ebenso schließt diese Arbeit sich einem Streben nach Dekolonisierung von Wissen aus postkolonialer Perspektive an und untersucht Räume, in denen ‚freiere‘ und ‚würdigere‘ Bildungsprozesse möglich sein können. Ob und wie Empowerment-Workshops für Bildungsprozesse einen Raum von Verschiebungen und Veränderungen darstellen, gilt es in dieser Studie herauszufinden. Worin dieses ‚Freiere‘ und ‚Würdigere‘ besteht, soll Gegenstand meiner empirischen Untersuchung sein. Wie steht nun aber dieses Subjekt- und Herrschaftsverständnis im Verhältnis zu einer Wissensproduktion, die die Praxis dieser und jeglicher wissenschaftlicher Arbeit ist? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, wenn ich das Subjekt als machtvoll und unterwerfend und Herrschaftsverhältnisse als machtvoll und wandelbar zugleich verstehe? Das Verhältnis von Wissen und Macht vor allem aus postkolonialer Perspektive soll im Folgenden besprochen werden, da der Wissensbegriff – der im Titel der Arbeit steht – von zentraler Bedeutung für diese Arbeit ist und über den Wissensbegriff einige grundlegende Implikationen transparent gemacht werden können.

1.2

ZUM VERHÄLTNIS VON WISSEN UND MACHT: POSTKOLONIALE PERSPEKTIVEN AUF WISSEN(SCHAFT)

„[Wir sollten] uns daran erinnern, daß jeder Diskurs ‚plaziert' ist, und somit auch das, woran das eigene Herz hängt, seine Gründe hat.“ (Hall 1994: 26-27)

Welches Wissen ist eigentlich wissenswert? Welches Wissen ist als solches anerkannt und welches Wissen nicht? Wer ist befugt, über wissenswertes Wissen zu verfügen?

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Block I: Theoretische Grundlagen Zu einem der global bedeutsamsten Herrschaftssystemen gehören die verschiedenen Rassismen mit ihren gewaltvollen Ausbeutungs- und Ausgrenzungspraktiken. Wie oben aufgezeigt, regulieren rassistische Herrschaftsverhältnisse nicht nur die Verteilung materieller Ressourcen, Herrschaft wirkt auf allen gesellschaftlichen Ebenen und damit auch auf diskursiver Ebene. Dies bedeutet, dass auch Wissen und Wahrheit(en) eng geknüpft sind an Machtverhältnisse. Michel Foucault schreibt hierzu: „Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt; daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“ (Foucault 1994: 39)

Foucault verwendet in dem aufgeführten Zitat das Wort „Wahrheit“ als die Gesamtheit wahrer Dinge oder Aussagen, stattdessen sagt Wahrheit etwas aus über die jeweils aktuellen Regeln, nach denen Aussagen gemacht und beurteilt werden. Unter der Produktion von Wahrheit versteht Foucault nicht die Produktion wahrer Aussagen, „sondern die Einrichtung von Bereichen, in denen die Praktik von wahr und falsch reguliert wird und seine Gültigkeit erhält" (Foucault 2005 [1980]: 34). Die Wahrheiten dienen somit nicht der Kennzeichnung eines adäquat erfassten Erkenntniszusammenhanges, stattdessen erweitern sie die Macht selbst und erweisen sich damit als Produkt eines Diskurses, dessen Ziel letztlich in der Rechtfertigung bestimmter Verhaltensweisen oder Verfahrensvorschriften.20 Wissen und Macht sind also immer untrennbar miteinander verbunden, und die Wahrheitsproduktion dient oftmals der Rechtfertigung hegemonialer Herrschaftsverhältnisse. Wahrheiten vom „Westen und dem Rest“ (Hall 1994: 137) werden seit Jahrhunderten zur Legitimierung rassistischer Herrschaftsverhältnisse produziert. Ob es nun um ‚den Orient’, um ‚Afrika’ oder um die ‚Migrantin’, den ‚Araber’ oder die ‚Muslimin’ geht. Die postkolonialen Studien beschäftigen sich mit genau solchen Herstellungsprozessen von 20

Mehr dazu siehe Kapitel I.1.1.

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Block I: Theoretische Grundlagen gewaltvollen Repräsentationen, das heißt mit der machtvollen Konstruktion von Wissen in ihrer spezifischen Verbindung mit der kolonialen Vergangenheit und ihren Konsequenzen für die Gegenwart (vgl. Ha 2007b). „Colonialism is not only the imposition of the western authority about land, but the imposition of western authority over all spaces: knowledge, language and culture.“ (Kilomba 2010: 19)

Postkoloniale Kritik konzentriert sich vor allem auf Fragen der postkolonialen Prägung von Wissensproduktion, Repräsentation und Identitätsbildung nach der formalen Dekolonisierung und analysiert, wie dabei machtvoll zwischen Wir und die Anderen unterschieden wird (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 24). Wie wird die Kategorie vom ‚Westen und dem Rest‘ als Effekt europäischer Diskurse reproduziert und welches Wissen wird in diesem Zusammenhang als wissenswert und wahr produziert? Dem europäischen Wissen, das Stuart Hall unter den gegebenen postkolonialen Bedingungen als „the big narrative“ (Hall 1994: 141) bezeichnet, liegt die Ausblendung und Marginalisierung anderer Erzählungen, Geschichten und Erfahrungen zugrunde. Auf den deutschen Kontext bezogen bedeutet dies, dass das Bestehen von dominanten weiß-deutschen Wissens- und Erfahrungskontexten zu einer Unsichtbar-Machung und Unhörbar-Machung von Wissen of Color führt.21 Wer über was wie spricht und warum, folgt nicht nur dem simplen Begehren nach Erkenntnis und Wissen (vgl. Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2012b: 9). Ausgehend von der Unmöglichkeit einer Objektivität wird im Kapitel I.1.3 der Standpunkt dieser Forschungsarbeit transparent gemacht.

1.2.1

KURZER ÜBERBLICK ZUR POSTKOLONIALEN THEORIE

Die postkolonialen Studien beschäftigen sich mit den Kontinuitäten der kolonialen Vergangenheit und ihren Konsequenzen für die Gegenwart. 21

Zur Unsichtbar-Machung von People of Color im universitären Kontext siehe Kapitel I.1.2.

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Block I: Theoretische Grundlagen Der Begriff ‚postkolonial’ verweist darauf, dass koloniale Beziehungen und Herrschaftsverhältnisse in der heutigen Welt fortbestehen – wenn auch in neuer veränderter Form. Unter diesem Aspekt bedeutet das Präfix ‚post’ nicht nur ‚danach’. Es steht dafür, dass die gegenwärtigen Verhältnisse von der kolonialen Vergangenheit überlagert und von deren Effekten geprägt und konstituiert sind. Somit drückt das ‚Post’ die „Ungleichzeitigkeit zwischen der politisch faktisch erlangten Befreiung und der fortwährenden kulturellen, psychischen und sozialen Kolonisierung“ aus (Gutiérrez Rodríguez 2012: 19). Die Kolonialisierung wird dabei als ein wechselseitiger Prozess verstanden – auch wenn ihre Vor- und Nachteile für die Kolonisierten und Kolonisierenden sehr ungleich verteilt bleiben. In dem Maße, wie weiße Mächte Andere unterwarfen und ausbeuteten, wurden auch europäische Gesellschaften zu Kolonialgesellschaften, die eine koloniale Kultur und Denkweise ausbildeten (vgl. Ha 2007b). Die heutige Globalisierung wird deshalb als ein ambivalenter und widersprüchlicher Prozess begriffen, welcher auf den Folgen des (Post-)Kolonialismus und ihren territorialen Besetzungen sowie Grenzüberschreitungen fußt. Die Grenzen überschreiten dabei nicht nur die, welche andere Länder eroberten, sondern eben auch die, welche in der Folge aus den Kolonien in die Metropolen der Kolonialmächte gekommen sind. In ihrer Beschäftigung mit den widersprüchlichen Entwicklungen der Globalisierung kann die postkoloniale Theorie jedoch nicht der Komplexität und der Besonderheit einzelner lokaler Kontexte gerecht werden. Trotzdem gibt es aus sozialhistorischer wie auch aus poststrukturalistischer feministischer Sicht Merkmale und Auswirkungen auf die ehemals Kolonialisierten, die in allen Kontexten Parallelen aufweisen und durchaus gemeinsam aus einer postkolonialen analytischen Perspektive betrachtet werden können (vgl. Heinemann 2014: 78). Koloniale Verhältnisse lassen sich dabei nicht nur auf die Ausbeutung von Arbeitskraft und Ressourcen der Kolonisierten durch die Kolonialmächte reduzieren. Durch die weiße Vormachtstellung in Wissenschaft

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Block I: Theoretische Grundlagen und Literaturproduktion waren die Kolonialmächte außerdem diejenigen, die die Darstellung der Wirklichkeit in den Kolonien und Mutterkolonien wesentlich gestalten. Sie agierten also als ‚Wissens- und Wahrheitsproduzenten’. Daher fokussieren die postkolonialen Studien die Analysen der epistemischen Gewalt bei der Herstellung des sogenannten Südens (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 24). So geht es weder nur um die ökonomische oder militärische Gewalt des Westens, noch nur um die moderne Nationalstaatenbildung vor dem Hintergrund des Kolonialismus. Fragen der kolonialen Prägung von Wissensproduktion, Repräsentation und Identitätsbildung nach der formalen Dekolonisierung rücken in den Vordergrund: Postkoloniale Studien decken somit das „Zusammenwirken von materiellen und diskursiven Bedingungen im Machen und Werden von Machen und Werden von Welt in Bezug auf das imperiale Projekt Europa“ auf (Gutiérrez Rodríguez 2012: 18). Ausgangspunkt postkolonialer Studien sind dabei jene Perspektiven und Themen, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Platz beanspruchen dürfen. Dazu gehören gerade die unterrepräsentieren und kodierten Äußerungen marginalisierter Subjekte: „Postkoloniale Kritik lässt sich von ihrem Selbstverständnis her als ein politisches Projekt charakterisieren, das sich unterdrückten Subjektivitäten verpflichtet fühlt. Sie nimmt die wechselseitige Durchdringung und historische Verstrickung von unterschiedlichen Machtinteressen zum Ausgangspunkt von politischen Interventionen.“ (Ha 2011: 183)

Die postkolonialen Studien verstehen sich in der Tradition von Widerstandsbewegungen und setzen sich mit Dekolonisierungsbewegungen auseinander. Somit sind sie als eine Pendelbewegung zu verstehen, bei der auf der einen Seite Theorie politisiert wird und auf der anderen Seite neue Politisierungsformen über theoretische Debatten erschlossen werden (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 8). Indem Postkolonialität auf die von einer historisch spezifischen Wissensordnung marginalisierten, untergegangen Erfahrungen und Geschichten aufmerksam macht, zeigt sie eigene Brüche und Risse der hegemonialen Normalität 44

Block I: Theoretische Grundlagen sowie die Gewalt der postkolonialen Gegenwart auf. Anstatt Geschichte als lineare Progression zu betrachten, wendet sich postkoloniale Theorie den Widersprüchen historischer Prozesse zu. Theoretisch beschreiben die postkolonialen Studien ein komplexes Gebäude, erwachsen aus dem Dreieck Marxismus (Kolonialismus- und Imperialismustheorie), Poststrukturalismus (Foucault, Dekonstruktion) und Feminismus (Third World Feminism, Postmoderne) (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2012: 19). Die poststrukturalistische Herangehensweise hat zur Kritik an westlichen Epistemologien und zur Theoretisierung einer eurozentristischen Gewalt beigetragen. Die marxistische Perspektive bietet eine Basis für eine Kritik, die eine internationale Arbeitsteilung und die aktuellen Prozesse des Neokolonialismus und der Rekolonialisierung in den Blick nimmt. „Postkoloniale Theorie gilt als die kontinuierliche Verhandlung dieser beiden scheinbar gegensätzlichen Erkenntnismodi“ (Castro Varela/Dhawan 2005: 8). Der postkoloniale Feminismus verbindet die postkoloniale Perspektive mit der internationalen feministischen Theorie und Praxis, welche versucht weibliche Perspektiven herauszuarbeiten und politische Sichtbarkeit zu erzielen. Als Vorläufer der postkolonialen Studien werden unterschiedliche Angaben gemacht. Bei Castro-Varela/Dhawan (2005) und Rodríguez (2012) werden die antikolonialen Widerstandskämpfe wie die Negritude-Bewegung in Frankreich genannt, welche die Kritik an der Kulturhegemonie des Westens propagierten und sich für eine eigenständige Schwarze Geschichts-, Wissens- und Kulturtradition einsetzten. Hier wäre als ein Beispiel der Poet und Aktivist Aimé Césaire zu nennen, der die kulturellen Antagonismen zwischen Europa und den Anderen hervorhob (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2012: 21). Zeitgleich veröffentlichte in Frankreich der Widerstandskämpfer und Psychiater Franz Fanon sein Werk ‚Schwarze Haut, weiße Masken‘, worin er die psychischen Effekte auf die Schwarzen Subjekte untersucht und die Kolonisierung des Bewusstseins thematisiert. Er richtet seinen Blick auf die psychoanalytischen Diskurse und beleuchtet, wie der weiße Mann sich

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Block I: Theoretische Grundlagen durch die Konstruktion der Schwarzen Mannes als Subjekt konstruiert.22 Als die drei prominentesten Figuren der postkolonialen Studien gelten heute Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha. Der US-amerikanisch-palästinensische Theoretiker Edward Said, der als einer der wichtigsten Impulsgeber der postkolonialen Studien gilt, veröffentlichte 1978 die diskursanalytischen Studien ‚Orientalism, Western Concepts of the Orient‘, worin er herausarbeitet, wie die europäischen Kolonialmächte maßgeblich an der Konstruktion des Orients beteiligt waren. Der Orient wird als imaginäres inferiores Anderes des Westens konstruiert, der als irrational, feminin und primitiv im Gegensatz zum rationalen, maskulinen und fortschrittlichen Westen entworfen wird. Durch die Wechselwirkung von Orient und Okzident legt Said offen, wie Wissen und Macht miteinander verwoben sind und wie die eurozentristische Wissensproduktion mit der Repräsentation der orientalischen Anderen in Europa zusammenhängt. In Anlehnung an Foucault weist Said dabei auf die Rolle der vermeintlich neutralen Wissenschaften hin und zeigt, wie z. B. die Orientwissenschaften eng an die koloniale Expansion und die Ausbeutung durch den Westen gebunden waren und Kolonisierung legitimierten. Der Fokus der Arbeit kann als doppelter beschrieben werden: Es geht auf der einen Seite um die Konstruktion des Orients durch Europa sowie um die damit einhergehenden Repräsentationspolitiken und auf der anderen Seite um die Instrumentalisierung dieses akademisch informierten Wissens zur kolonialen Herrschaftsstabilisierung (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 32). Diese Erkenntnisse ermöglichen eine radikale Kritik an den hegemonialen westlichen Wissensproduktionen, an ihren Ausschlüssen und ihrer Repräsentationspolitik.23 Der indisch-amerikanische Theoretiker Homi K. Bhabhas untersucht auf Grundlage Fanons Arbeiten das Verhältnis von Kolonisator*innen 22

Mehr hierzu siehe: Castro Varela/Dhawan 2005: 16-22. Mehr zu Said und auch zur Kritik seiner Studien siehe Castro Varela/Dhawan 2005: 30-54. 23

46

Block I: Theoretische Grundlagen und Kolonisierter und legt sein Augenmerk auf Widerstandsstrategien, welche hegemoniale Wissensproduktionen und Repräsentationstechniken unterlaufen können. Mit dem Konzept der ‚Hybridität’ und der Denkfigur des dritten Raumes beschreibt Bhabha „ein ambivalentes Anerkennungsmodell der Identifikation und Des-Identifikation“ (Gutiérrez Rodríguez 2012: 28). Identitäten sind weder eindeutig, noch abgeschlossen, sondern immer uneindeutig, ‚hybrid’ und ‚unrein’. Hybridisierung heißt dabei nicht einfach das Vermischen, sondern die strategische und selektive Aneignung von Bedeutung. Bhabha geht es um das Nebeneinander und das sich ständig verschiebende und miteinander koalierende Moment der Identifikation. Bhabha weicht dabei nicht nur das traditionelle Verständnis von Kultur auf, sondern begründet zugleich einen von ethnozentristischen Vorstellungen befreiten Begriff von Subjektivität und Identität. Die postkoloniale Analyse der gesellschaftlichen und kulturellen Konstruktionsprozesse bewegt sich weg von fixen Identitätsvorstellungen hin zu der Verschränkung widersprüchlicher Erfahrungen und Unterdrückungsmechanismen.24 Eine feministische Kapitalismus- und Imperialismuskritik entwickelte die indisch-amerikanische Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak und erweitert auf der einen Seite Saids Arbeiten zu Repräsentation und zeigt auf der anderen Seite die Leerstellen des Marxismus auf, welcher in seiner Werttheorie die Arbeitskraft der Frau aus dem Süden ausblendet (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 63). In ihrem Werk ‚Can the Subaltern speak?’ arbeitet sie heraus, dass Repräsentation keineswegs ein unschuldiges Tun ist, indem sie die Verhinderung des Redens der subalternen Frau herausarbeitet, die auch nicht gehört wird, wenn sie sich bemüht zu sprechen. Die Vertretungspolitik wird dann zur Farce, wenn die Sprechenden sich immer wieder als Sprechende reproduzieren und hierdurch andere Stimmen im Feld verstummen lassen und an den Rand drängen. So beschäftigt sich Spivak mit der Funktion der postkolonialen Wissenschaftler*in und ihrer Verantwortung bei dem Versuch, die 24

Mehr zu Bhabha siehe Castro Varela/Dhawan 2005: 83-109.

47

Block I: Theoretische Grundlagen Praktiken und das Denken derer zu beschreiben, die in der herrschenden Öffentlichkeit faktisch nicht vertreten sind (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2012: 26).25 Zudem formuliert Spivak eine Kritik an Bhabha, sowie dem Feiern der migrantischen Hybriden und warnt vor der Gefahr, die brisanten politischen Fragen um die internationale Arbeitsteilung in den Schatten zu stellen. „Eher handelt es sich um einen handfesten Interessenskonflikt, der mit riskanten Politiken einhergeht, etwa wenn postkoloniale klassenprivilegierte Migranten und Migrantinnen in den Metropolen die Position der Subalternen einnehmen und sich damit eigene Vorteile verschaffen.“ (Castro Varela/Dhawan 2015: 309)

DuBois zitierend, beschreibt Spivak, dass es eine größere Frage gibt als die ‚color line’, eine, die sie sowohl überschattet und ihr gleichzeitig inhärent ist: die ‚question of labor’ (vgl. Castro Varela/Dhawan 2010: 310). Die Frage politischer Repräsentation – wer sich also in legitimer Weise und in Abhängigkeit von welchen Voraussetzungen politisch artikulieren darf und kann – entscheidet sich unter Bedingungen knapper Ressourcen, sowie ungleich verteilter Artikulations- und Beteiligungsbedingungen.

1.2.2

ZUR FRAGE DES OBJEKTIVEN WISSENS „Wissenschaft ist von Menschen GE_MACHT.“ (Kuria 2015: 20)

Obwohl mittlerweile in unterschiedlichen Disziplinen der Begriff der Objektivität vielfach aus herrschaftskritischer Perspektive angeprangert wurde, wie zum Beispiel von feministischer Seite (vgl. Harding 1994; Haraway 1995) oder aus postkolonialer Perspektive (vgl. z. B. Said 2009; Spivak 2008), hält sich der Mythos der Objektivität und Neutralität hartnäckig weiter und wird in vielen Teilen der Wissenschaft noch immer als Ideal hochgehalten. Objektivität ist jedoch selbst perspektivisch. Unparteilichkeit und Universalität sind dabei partikuläre klassen-

25

Mehr zu Spivak siehe Castro Varela/Dhawan 2005: 55-81.

48

Block I: Theoretische Grundlagen und geschlechtsspezifische sowie euro- und heterozentristische Vorstellungen (vgl. Harding 1994). Problematisch ist diese perspektivische Vorherrschaft, weil jene soziale Gruppe, „die in einem Fachgebiet die Möglichkeit hat, wichtige Problematiken, Konzepte, Annahmen und Hypothesen zu definieren, ihre sozialen ‚Fingerabdrücke’ auf dem Weltbild hinterläßt, das auf den Ergebnissen der Forschungsprozesse dieses Feldes aufbaut“ (ebd.: 207). Diese ‚Fingerabdrücke‘ des forschenden Subjekts fließen unmittelbar in das wissenschaftliche Tun mit ein. Auch der sozialwissenschaftliche Blick war lange Zeit ein Blick von nirgendwo und überall: „Dieser Blick schreibt sich auf mythische Weise in alle markierten Körper ein und verleiht der unmarkierten Kategorie die Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen“ (Haraway 1995: 80). Wissenschaftliche Analysen liefern weniger den empirischen Nachweis für die Wirklichkeit oder die Realität. In Beobachtungen und sich daran anschließenden Beschreibungen und Analysen fließen Wissensbestände, Interessen, Präferenzen und Annahmen mit ein. Ohne diese wäre das Beobachten nicht möglich, weil wir gar nicht wüssten, was wir beobachten (vgl. Mecheril/Rose 2012: 131). Wissen ist damit niemals ein unschuldiges Streben nach Erkenntnis, sondern situiert und perspektivisch. Miriam Popal beschreibt in ihrer Analyse, wie durch das Konzept der Objektivität imperiale und koloniale Narrationen normalisiert wurden und werden (vgl. Popal 2011). Das Konzept dient als „diskursiver Grenzschutz zur Aufrechterhaltung hegemonialer Erzähl- und Blickräume“ (ebd.: 464). Grundsätzlich soll der Begriff der Objektivität ein Abbild der Wirklichkeit als richtig monopolisieren und zugleich die Autorität der beobachtenden Person und ihrer Aussage über diese Wirklichkeit als gesichert absegnen. Dabei wird das Objekt, welches schon im Begriff Objektivität eingeschrieben ist, beschrieben und benannt. Das Subjekt jedoch, die Beschreibende, die sich unwiderruflich hinter

49

Block I: Theoretische Grundlagen der Objektivität versteckt, bleibt ausgeblendet (vgl. ebd.: 467). Im Konzept der Objektivität wird das Subjekt also aus der Betrachtung herausgenommen: „Eine Objektivität ohne Subjekt drückt das Begehren aus, ungestört beobachten und sprechen zu können. Das betrachtende Subjekt blendet sich selbst, mit der Absicht, wertneutral zu sein, als Betrachtende/r komplett aus. Es wird, in Spivaks Worten, transparent. Es spricht unsichtbar und sichert sich eine Position, die gleichsam über dem Betrachteten liegt.“ (ebd.: 476477)

Objektivität umschreibt eine Erlaubnis für das Sprechen und Erzählen mit einem „Anstrich natürlicher und logischer Abfolge“ (ebd.: 477) – ohne nach dem Subjekt und seinen Motiven zu fragen. Jedes Wissen ist jedoch gesellschaftlich und historisch situiert und daher beschränkt (vgl. Ha 2007b: 45). „Da Wissen immer auch in Anschluss an und in Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen sozialen und diskursiven Wissensbeständen generiert, reproduziert oder transformiert wird, ist Wissensproduktion niemals unabhängig von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen, Debatten und Positionen zu betrachten. Die diskursive Produktion von Wissen steht somit immer auch in engem Zusammenhang mit der Perspektive, in der bzw. mit dem Ort, von dem aus geforscht, gesprochen und geschrieben wird.“ (Scharathow 2010: 91)

Universitäre Räume spielen in der Produktion von wissenswertem Wissen eine besondere Rolle, denn sie stellen Orte dar, in denen legitime Wissensproduktion stattfindet. Sie sind die letzte Instanz für glaubwürdiges Wissen, das eben nicht nur Alltagswissen und Meinung, sondern vermeintlich neutrales, allgemeingültiges Wissen darstellt. Die afroamerikanische Schriftstellerin bell hooks bezeichnet den universitären Raum kritisch als Ort für „truthtelling“ (hooks 2003: 29). Objektivität bezeichnet in universitären Kontext ein Merkmal und Prinzip, das darauf ausgerichtet ist, in den von ihr abgebildeten Thesen und Theorien die Realität widerzuspiegeln. Hier wird auf Sachlichkeit, wissenschaftliche Distanz und ähnliche unhinterfragte Axiome verwiesen. Aus subjektiven Wünschen, Meinungen, Neigungen, spezifischen Interessen, 50

Block I: Theoretische Grundlagen Vorurteilen, Zuschreibungen können hier maßgebliche Sachverhalte entstehen (vgl. Popal 2011: 464). Die Wahrheit wird von allen akzeptiert und ist angelegt auf Konsens. Hierbei handelt es sich um einen machtvoll hergestellten weißen Konsens, denn unterschiedliche Perspektiven finden in der Universität kaum Eingang: „Moreover the structures of knowledge validation, which define what ‚true’ and ‚valid’ scholarship is, are controlled by white scholar, both male and female, who declare their perspectives universal requirements. As long as Black people and People of Color are denied positions of authority and command in the academy, the idea of what science and scholarship are prevail intact, remaining the exclusive and unquestionable ‚property’ of whiteness. Thus it is not an objective scientific truth that we encounter in the academy, but rather the result of unequal power ‚race’ relations.“ (Kilomba 2010: 29)

Objektive Wissenschaft ist nach der Wissenschaftlerin und Künstlerin Grada Kilomba das Ergebnis von ungerechten rassistischen Machtverhältnissen. Herrschaftsverhältnisse werden dadurch sichergestellt, dass nur bestimmte Menschen das Recht auf bestimmte Positionen haben (vgl. Castro Varela 2001: 26). „This is not peaceful coexistence of words, but rather a violent hierarchy that defines who can speak in the academic space“ (Kilomba 2010: 26). Es handelt sich dabei weniger um das Nebeneinanderstehen unterschiedlicher Meinungen, sondern vielmehr um machtvolle Fragen, wer sprechen darf und wem Wissen und Wahrheit zugesprochen wird: „The act of speaking is like a negotiation between those who speak and those who listen, between the speaking subject and their listeners. Listening is in this sense, the act of authority toward the speaker. One can only speak when one’s voice is listened to. Within this dialect, those who are listened to are those who belong.“ (ebd.: 21)

Kilomba knüpft an Spivaks Ausführungen an, in denen sie nicht nur das hegemoniale Sprechen für die Wahrheitsproduktion hervorhebt, sondern ebenso die Bedeutung des hegemonialen Hörens herausarbeitet (vgl. Spivak 2008). Auch wenn marginalisierte Stimmen sprechen, ist damit nicht garantiert, dass sie gehört werden. Zur Produktion des hegemonialen Wissens gehört somit neben dem hegemonialen Sprechen 51

Block I: Theoretische Grundlagen auch ein hegemoniales (Nicht-)Hören. Maria do Mar Castro-Varela spricht in diesem Zusammenhang von der Macht der Ignoranz (vgl. Castro Varela 2009: 348). Es handelt sich dabei um eine belohnende Ignoranz, die nicht blamiert, sondern im Gegenteil die eigene Position der Macht stabilisiert. So ist die Frage nach der Verortung von Wissen als politische Strategie zu begreifen: „Als politische Größe trägt die Kategorie der Verortung Sorge dafür, dass kritische Intervention immer auch danach fragt, wer von welcher Position aus welche Frage stellt. Die politische Verortung verdeutlicht somit, dass der Ort, von dem aus […] interveniert wird, in direktem Zusammenhang mit der Subjektposition steht.“ (Castro Varela/Dhawan 2012: 280-282)

Dabei ist die Rolle von Universitäten als anerkannte Räume der Produktion von bedeutsamem Wissen in Bezug auf Rassismus nicht außer Acht zu lassen. Die Wissenschaft übernahm im 19. Jahrhundert eine tragende Rolle und war tonangebend bei der Produktion von allgemein gültigen Rassentheorien, mit deren Hilfe rassistische Ausbeutungsverhältnisse ein bis dahin nicht vergleichbares Ausmaß erreichen und legitimiert werden konnten (vgl. Terkessidis 2004: 111). Historisch ist die Akademie der Ort, an dem Menschen of Color stimmlos gemacht wurden, indem weiße Wissenschaftler*innen theoretische Diskurse konstruierten, in denen Menschen of Color als unterlegene Andere konstruiert wurden, wobei Afrikaner*innen als die absolut minderwertige Rasse26 erfunden wurden.

1.2.3

ZUR REPRÄSENTATION VON WISSEN OF COLOR

Die Universität ist nicht nur historisch betrachtet verstrickt in die Produktion rassistischer Verhältnisse. Auch heute noch sind Schwarze Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen of Color an deutschen Universitäten kaum repräsentiert. Der Begriff des institutionalisierten Rassismus verweist auf die Kompliz*innenschaft der deutschen Institutionen und Organisation in rassistische Diskurse und Strukturen. 26

Zur Schreibweise von Rasse siehe Kapitel II.2.2.1.

52

Block I: Theoretische Grundlagen Institutionen wie Bildungseinrichtungen besitzen in ihren Alltagsroutinen Muster der Ungleichbehandlung (vgl. Gomolla/Radtke 2002), in denen die Interessen, Bedürfnisse, Ansprüche, Anliegen und Perspektiven von Weißen privilegiert und Schwarze Menschen und People of Color erkennbar benachteiligt werden. Diese institutionalisierten Formen von Rassismus im Bildungs- und Hochschulsystem erschweren den Zugang zu einem akademischen Status enorm (vgl. Fereidooni 2011), sodass kaum Wissenschaftler*innen of Color an universitären Stellen repräsentiert sind. Die Realität an deutschen Universitäten ist, dass akademische Fragestellungen, Paradigmen, Methoden, Ziele und Programme die politischen Interessen der weißen Mehrheit repräsentieren (vgl. Kilomba 2013). Die Arbeiten von Schwarzen Forscher*innen bleiben daher oft außerhalb des universitären Kontexts. „Within racism, Black bodies are constructed as improper bodies, as bodies that are ‚out of place’ and therefore as bodies which cannot belong. White bodies on the contrary are constructed as proper; they are bodies ‚in place’, ‚at home’, bodies that always belong. They belong everywhere: in Europe, in Africa: North, South, East, West, at the center as well as at the periphery.“ (Kilomba 2010: 30)

Während weiße Körper überall am richtigen Ort sind und eine Selbstverständlichkeit darstellen, müssen Menschen of Color um ihre Glaubhaftigkeiten kämpfen und sie ‚beweisen’27. Die herrschenden Strukturen definieren nicht nur, was als Wissenschaft anerkannt wird, sondern auch, wem Glauben zu schenken ist und wem vertraut werden kann. Das bezieht sich sowohl auf die Arbeiten als auch auf die Subjekte selbst im akademischen Kontext (vgl. ebd.: 29). „In this sense, academia is neither a neutral space nor simply a space of knowledge and wisdom, of silence and scholarship, but also a space of v – i – o – l – e – n – c – e“ (ebd.: 27).

27

Dieses Beweisen-Müssen der Leistungsfähigkeit hängt damit zusammen, dass mentale Fähigkeiten und Konzepte wie Intelligenz selbst rassifiziert sind. Immer noch haften PoC das Stereotype wie ‚infantil‘ oder ‚weniger intelligent‘ an (vgl. Kuria 2015: 656).

53

Block I: Theoretische Grundlagen Die wenigen Körper of Color, die es in universitäre Räume schaffen, sind verschiedenen Praxen ausgesetzt, die sie zum Schweigen bringen, wenn sie versuchen, kritisch zu intervenieren. Schwarze Wissenschaftler*innen, die es an die Universität geschafft haben, beschreiben ihre Erfahrungen der Diskriminierung und Diskreditierung (vgl. Collins 1991; hooks 2003; Kilomba 2010: 19). Wenn es um Gesellschaftsanalysen geht, schreibt die Schwarze feministische Wissenschaftlerin Patricia Hill Collins zu ihren Ausgrenzungserfahrungen an der Universität: „I now know that my experiences are far from unique. Like African-American women, many others who occupy societally denigrated categories have been similarly silenced. So the voice that I now seek is both individual and collective, personal and political, one reflecting the intersection of my unique biography with the larger meaning of my historical times.“ (Collins 1991: VI)

Einen eindrücklichen Einblick in die Erfahrungen von Schwarzen und Erfahrungen of Color in Deutschland bietet das Werk von Emily Ngubia Kuria ‚Eingeschrieben – Zeichen setzen gegen Rassismus an deutschen Hochschulen‘ (2015). Hier werden die vielfältigen Exklusionsmechanismen, die sowohl auf personeller als auch inhaltlicher Ebene stattfinden, thematisiert. Zu systematischen Diskreditierungsmaßnahmen des Silencing28 von Wissen of Color und Schwarzer Perspektiven gehört das Pathologisieren von entsprechenden Stimmen (vgl. ebd.: 61) oder das Abwenden von Wissen als zu politisch, unwissenschaftlich, ideologisch oder moralisch (vgl. Popal 2011: 478-479). Diese strukturellen Diskriminierungsverhältnisse haben zur Folge, wie bell hooks es für die US-amerikanischen Verhältnisse zusammenfasst, dass die meisten weißen Menschen in universitären Räumen es nicht gewohnt sind, von einer Schwarzen Wissenschaftlerin zu lernen, und dass die meisten Menschen noch nie in ihrem Leben eine halbe Stunde einer Schwarzen Frau zugehört haben. „They could ask themselves ‚who do I listen to?’ or ‚whose words do I value?’“ (hooks 2003: 31). 28

Silencing meint einen Prozess des systematischen Zum-Schweigen-Bringens von Perspektiven of Color.

54

Block I: Theoretische Grundlagen Dieser Umstand trifft auch auf den bundesdeutschen Kontext zu. Ein Zusammenschluss von Schwarzen und of Color Wissenschaftler*innen und Organisationen verfasste Anfang 2015 ein Papier, das diese strukturell rassistischen Zustände anprangert: „Angesichts der Tatsache, dass eine institutionelle und gesamtgesellschaftliche Anerkennung der Diskriminierung Schwarzer Menschen in Deutschland noch immer aussteht, ist einerseits der Mangel an Daten/Forschungen zu Schwarzen Rassismuserfahrungen und Empowerment-Praxen in Deutschland sowie andererseits die strukturbedingte Absenz von Schwarzen Wissenschaftler*innen besonders gravierend.“ (Organisationen und Mitglieder von Black Communities in Deutschland und Österreich 2015)

Finanzielle Ressourcen werden meist dazu genutzt, Stellen für weiße Wissenschaftler*innen zu sichern. Im Zuge der Institutionalisierung von Gender und Queer Studies, von Postcolonial Studies sowie von Critical Whiteness Studies im deutschen Hochschulsystem kommt es sogar dort zu einer Einverleibung und Entpolitisierung Schwarzer Studien. Das Wissen und die Namen von Schwarzen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen werden hierbei, wenn sie überhaupt Erwähnung finden, als Token29 verwendet. Eine solche Vorgehensweise bekräftigt das koloniale Modell der Enteignung. Schwarze Deutsche dürfen weißen Akademiker*innen gern das ‚Rohmaterial’ und ‚native informants’ übermitteln, es wird ihnen allerdings nicht erlaubt, als eigenständige Wissenschaftler*innen zu agieren. „In einer Welt, in der das Töten Schwarzer Menschen und die vorsätzliche Enteignung Schwarzer Denkarbeit die Norm sind, stellt die untrennbare Verbindung des Akademischen und des Politischen, wie sie üblicherweise 29

Tokenismus ist die symbolische Verwendung und Erwähnung von Begriffen, um den Anschein von Wissenschaftlichkeit oder politischer Korrektheit zu erwecken, ohne jedoch die Theorie und ihre Auswirkungen auf das Gesagte weiter zu berücksichtigen (Popal 2011: 479). Auf den wissenschaftlichen Kontext bezogen werden im hegemonialen deutschen Hochschulkontext die fundamentalen Fragen wissenschaftskritischer Selbstreflexion inzwischen vielfach zu einer mit zeitgemäßem Vokabular versehenen äußeren Etikette ohne nennenswerte praktische Auswirkungen (vgl. Organisationen und Mitglieder von Black Communities in Deutschland und Österreich 2015).

55

Block I: Theoretische Grundlagen in den Black Studies zu finden ist, eine bedeutsame Verteidigung gegen intellektuelle und physische Gewalt dar.“ (ebd.)

Obwohl Schwarze deutsche Forscher*innen bezüglich der Black Studies in Deutschland historiographische und konzeptionelle Pionierarbeit geleistet haben, bleiben sie nach wie vor entweder an die Peripherie des weißen deutschen Wissenschaftsbetriebs verbannt oder sehen sich dazu gezwungen, das Land zu verlassen, um eine akademische Anstellung im Ausland zu suchen (vgl. ebd.). Zwar kann das Sprechen über das Marginalisiertwerden Schmerz, Enttäuschung und Wut hervorrufen, denn für Menschen of Color sind sie „reminders of the places we can hardly enter, the places at which we either never ‚arrive’ or ‚can’t stay’“ (hooks 1990a: 148). Weißen Menschen rücken solche Erzählungen ihre unhinterfragten Privilegien und gesellschaftliche Ungleichheiten, die durch Rassismus produziert werden, ins Bewusstsein. Aber solche Realitäten müssen ausgesprochen und theoretisiert werden. Sie brauchen einen Platz im Diskurs, denn es sind keine privaten Informationen, persönlichen Geschichten oder heimlichen Beschwerden, sondern Berichte über rassistische Zustände. Dieses Wissen vom Rand ist ein komplexer Ort, das nicht nur Kenntnisse der Unterdrückung und Repression beinhaltet, sondern auch Erfahrungen des Widerstands. bell hooks beschreibt Marginalität als Ort der Unterdrückung und der „radikalen Möglichkeiten“ (hooks 1996: 152). Beides ist gleichzeitig präsent, denn wie oben ausgeführt ist da wo Macht ist auch Widerstand. „In this sense, the margin is a location that nourishes our capacity to resist oppression, to transform, and to imagine alternative new worlds and new discourses“ (Kilomba 2010: 37).30 Wissen von den Rändern bietet also Möglichkeiten der Veränderung. Menschen of Color können in dem Fall ein einzigartiges Wissen mitbringen, das auf einer Mischung aus Erfahrung und analytischem Wissen basiert: 30 An

dieser Stelle sei auf die Gefahr der Romantisierung von marginalisierten Positionen hingewiesen. Siehe dazu III.1.

56

Block I: Theoretische Grundlagen „When I use the phrase ‚passion of experience’, it encompasses many feelings but particularly suffering, for there is a particular knowledge that comes from suffering. It is a way of knowing that is often expressed through the body, what it knows, what has been deeply inscribed on it through experience. This complexity of experience can rarely be voiced and named from a distance. It is a privileged location, even as it is not the only or even always the most important location from which one can know.“ (hooks 1994b: 92)

Das Wissen von Marginalisierten besitzt nicht per se einen privilegierteren Zugang zum Gegenstand. Auch sagt allein die Hautfarbe oder der Hintergrund der Sprechenden noch nichts über die vertretenen politischen Standpunkte aus. Das Einfordern veränderter Repräsentationsverhältnisse geht nicht von einer ‚authentischen Stimme‘ aus31, denn Wissen ist weder authentisch noch unverfälscht oder rein, es ist Ergebnis von Vermittlungsprozessen und ist wie jedes Wissen ein lokales (vgl. Terkessidis 2004: 113).32 Die persönliche Betroffenheit verleiht nicht das Monopol, über ein bestimmtes Thema sprechen zu können. Aber Menschen of Color sollten als von Rassismus Betroffene über die Möglichkeit verfügen, von einer gesellschaftlich anerkannten Position aus über Rassismus zu sprechen, um eigene Erfahrungen als gesellschaftlich verhandelbare Wissensressource in die Debatte einzubringen. Diese Perspektive ist deshalb so wichtig, weil es eine zentrale Perspektive auf die Realität zur Geltung bringt, die lange Zeit wenig Platz gefunden hat und immer noch wenig Platz hat. Wenn von Rassismus Betroffene kaum Möglichkeiten haben

31

Die Forderung nach veränderten Repräsentationsverhältnissen ist mit einer Reihe von Problemen verknüpft, die letztendlich mit einer grundsätzlichen Kritik an der Idee einer legitimen Vertretung und Darstellung zusammenhängen. Mehr dazu siehe Kapitel III.1.1. 32 Solche reduktiven Darstellungen, die mit Zuschreibungen operieren, sind auch deshalb gefährlich, weil People of Color als Vertreter*innen und Übersetzer*innen ‚ihrer’ Kultur, quasi als Spezialist*innen, das Bild starrer Kultur und fixierter Zugehörigkeit perpetuieren. Dies führt zu einer Kulturalisierung und zu einem starren Bild von Kultur (vgl. Broden/Mecheril 2007: 20) sowie zu einer Festschreibung auf kollektiv konstruierte Imaginationen und zu einer Reduktion der PoC auf solche Konstruktionen.

57

Block I: Theoretische Grundlagen mitzubestimmen, was Rassismus und was Antirassismus ist, dann stoßen antirassistische Diskurse unweigerlich an die Grenzen ihres politischen Anspruchs (vgl. Velho 2010: 115). Folglich kann das privilegierte Wissen wenn überhaupt – wie bell hooks es ausdrückt – verstanden werden als eine Leidenschaft zur Erfahrung und Erinnerung: „To me this privileged standpoint does not emerge from the ‚authority of experience’ but rather from the passion of experience, the passion of remembrance“ (hooks 1994b: 92).

1.2.4

ZUR WISSENSPRODUKTION ALS POLITISCHE PRAXIS

Neutralität oder Objektivität gibt es weder in der Universität noch in der Pädagogik. Wissensproduktion und Wissenschaftlichkeit sind immer eingebunden in Herrschaftsverhältnisse. Jedes Wissen, Sprechen und Handeln ist an Interessen geknüpft und geschieht von einem bestimmten gesellschaftlichen Ort und aus einer spezifischen politischen Position heraus. Damit ist auch mein wissenschaftliches Tun als eine spezifische Form der Herstellung privilegierten Wissens und einer ‚Wahrheit’ über einen Gegenstand zu begreifen (vgl. Mecheril/Rose 2012: 116).33 Ich verstehe meine Forschungsarbeit in Anlehnung an postkoloniale Perspektiven als ein parteiliches Eingreifen und als ein politisches Projekt innerhalb eines gesamtgesellschaftlich bedeutsamen und umkämpften Feldes (vgl. Ha 2011: 183). Maria do Mar Castro Varela und Nhikita Dhawan plädieren dafür, angelehnt an Ranajit Guha (1999), Gegengeschichten zum ‚big narrative‘ zu schreiben, die den Fokus auf andere Schauplätze lenken als auf hegemoniale Diskurse. Dies kann gelingen, indem kontinuierlich gegen den Strich gelesen wird und im gleichen Schritt die eigene Wissensproduktion, Wissensanerkennung und Wissensdarstellung vorangetrieben wird (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 68). Zu den ‚big narratives‘ im wissenschaftlichen Feld um Bildung und Migration gehören die Arbeiten zur Interkulturellen Pädagogik, in denen People of Color durch Othering-Prozesse als 33

Mehr zur eigenen Rolle siehe Kapitel III.1.

58

Block I: Theoretische Grundlagen Andere reproduziert werden.34 Mögliche Gegengeschichten hierzu bieten Empowerment-Arbeiten. Diese Gegengeschichten, in denen People of Color die Subjekte der Bildungsarbeit sind, möchte ich stark machen und mit meiner Arbeit einen Beitrag dazu leisten, dass sie in hegemoniale Diskurse miteinfließen und damit den Ungleichheitsverhältnissen entgegenwirken. Beim Suchen nach Gegengeschichten35 folge ich der Grundausrichtung kritischer Gesellschaftstheorie, so wie sie von der Politikwissenschaftlerin Bettina Lösch beschrieben wird: „Kritische Gesellschaftstheorie analysiert Herrschafts- und Machtverhältnisse (wie Rassismus, Geschlechter- oder Klassenverhältnisse). […] Sie zielt auf Demokratisierung und Emanzipation, wobei sie beide Prozesse der Selbstbestimmung (des Gemeinwesens und der Individuen) als widersprüchliche und stets umkämpfte begreift.“ (Lösch 2013b: 12)

Lösch versteht dabei unter Demokratisierung folgendes: „[D]ie Ausweitung politischer Teilnahme und sozialer Teilhabe ist daher nicht ohne den Abbau von Unterdrückung, sozialer Ungleichheit und sozialen Ausschlusses zu realisieren. Kritische Gesellschaftstheorie eröffnet in ihren Analysen Alternativen und Perspektiven, wie eine zukünftige Gesellschaft gestaltet sein kann.“ (Lösch 2013a: 174)

Mit meiner wissenschaftlichen Arbeit geht es mir in Anlehnung an eine kritische Gesellschaftstheorie darum, Wissen zu produzieren, das zum Abbau rassistischer Verhältnisse beitragen kann. Theorieentwicklung, die zum Ziel hat, einen Beitrag zum Abbau von Ungleichheitsverhältnissen zu leisten, verstehe ich als eine soziale Praxis, weiter noch, in Anlehnung an bell hooks, als eine „liberatory practice“ (hooks 1994b: 92), die den oftmals konstruierten Dualismus zwischen Theorie und Praxis aufzubrechen versucht. bell hooks betont:

34

Mehr zu Otheringprozessen von PoC siehe Kapitel II.2.2. Diese Gegengeschichten sollen ebenso wenig als Wahrheit gemeint sein. Denn auch diese Geschichten sind, wie jedes Wissen, selbst in Machtverhältnisse eingelassen (vgl. Kapitel III.1). 35

59

Block I: Theoretische Grundlagen „[W]e need new theories rooted in an attempt to understand both the nature of our contemporary predicament and the means by which we might collectively engage in resistance that would transform our current reality.“ (ebd.)

Vor allem von feministischen Aktivist*innen wurden akademische Eliten für ihre überhebliche Annahme kritisiert, dass nur sie die Fähigkeit besitzen, qualifiziert Theorie zu produzieren. Solch ein eingeschränktes Verständnis von Theorie als abstraktem Gebilde schließt diejenigen aus, die nicht die Sprache der Elite sprechen, und verstärkt Ausschließungspraxen: „Theory of all types is often presented as being so abstract that it can be appreciated only by a selected few“ (Collins 1991: VII). Hier entstehen elitäre Abgrenzungsattitüden zur Sicherung des eigenen Status und der Privilegien, indem Theorien auf solch einem abstrakten Niveau konstruiert werden, dem nur wenige ihnen folgen können. Dieser alleinige Anspruch auf Theorieproduktion hat wiederum zur Folge, dass Menschen mit einer antiintellektuellen Haltung reagieren (vgl. hooks 1994b: 92). So kommt es zu einer Trennung und Hierarchisierung von Theorie und Praxis und zur Reproduktion eines dualistischen Verständnisses (vgl. ebd.). Ich schließe mich bell hooks Verständnis von Theorie und Praxis an, wenn sie sagt: „To me […] theory emerges from the concrete, from my efforts to make sense of everyday life experiences, from my efforts to intervene critically in my life and the lives of others“ (ebd.). Sie beschreibt, dass sie zur Theorie kam, weil sie verstehen wollte, was um sie herum und mit ihr passiert, und vor allem wollte sie den Schmerz beenden, den sie spürte (vgl. ebd.). Wenn ich an meine eigene Begegnung mit Theorie zurückdenke, dann war eine treibende Kraft darin die Suche nach Erklärungen für mein vages Empfinden von Ungerechtigkeit – verbunden mit dem Wunsch, mich selbst und meine Erfahrungen für mich begreifbar zu machen. Das Konzept von Erfahrungen verstehe ich dabei, inspiriert von Philomena Essed, als multidimensional, welches weitaus mehr Bereiche einschließt als den alltäglichen Gebrauch: „Experiences include specific (micro) events, but experience can also be seen as the impact of knowledge of general (structural) phenomena on one´s

60

Block I: Theoretische Grundlagen definition of reality. In this view general knowledge represents the connecting element between the individual and the social structure.“ (Essed 1995: 58)

Erfahrungen, die aus Erlebtem und Berichtetem bestehen, stellen somit die Schnittstelle zwischen individueller und sozialer Struktur dar. Sie sind eng geknüpft an unsere Erinnerungen. Diese bilden die Grundlage dafür, dass man in bestimmten Situationen jeweils auf dieses Wissen aus der Erinnerung zurückgreift und mit ihrer Hilfe neue Situationen interpretiert. bell hooks’ Verständnis von Erfahrung ist folgendes: „I ask them [the students] what standpoint is a personal experience. Then there are times when personal experience keeps us from reaching the mountaintop and so we let it go because the weight of it is too heavy. And sometimes the mountaintop is difficult to reach with all our resources.“ (hooks 1994b: 92)

Erfahrungen sind – wie weiter oben Collins beschreibt – sowohl individuell als auch kollektiv, sie sind sowohl persönlich als auch politisch, und die biografische Einzigartigkeit eines Menschen kann verbunden werden mit der breiteren historischen Bedeutung (vgl. Collins 1991: VI). Wenn davon ausgegangen wird, dass individuelle Erfahrungen mit kollektiven Erinnerungen und historisch-politischen Verhältnissen zusammenhängen, so soll nicht ausgedrückt werden, dass Subjekte einfach nur Produkte dieser sind. Denn Subjekte nehmen auch Einfluss auf sie, indem sie entlang kulturell ermöglichter Interpretation und Handlungen in ein Verhältnis zu ihren Erfahrungen treten. Vielmehr soll ausgedrückt werden, dass es ein interpendentes Verhältnis zwischen individueller Erfahrung, kollektivem Wissen und gesellschaftlichen Verhältnissen gibt. Auf der einen Seite reicht es zwar nicht aus, nur Erlebtes auszutauschen. Aus Erfahrungen lernt man nicht notwendigerweise, sie können auch im Wege stehen, um Neues zu lernen, das nicht direkt aus den eigenen Erfahrungen stammt. Gleichzeitig lernt man nichts ohne Erfahrungen: Theorien bleiben leer und erfahrungsarm, wenn sie nicht durch eine kri-

61

Block I: Theoretische Grundlagen tische Reflexion ihrer Handlungsbedingungen angereichert werden, genauso wie Erfahrungen mit kritischer Theorie angereichert werden sollten (vgl. Eggers 2007: 245). Solch ein Verständnis von Erfahrung hilft, die binäre Unterscheidung zwischen einem Wissen, das alltagspraktisch ist und aus Erfahrungen stammt, und einem Wissen, das ein theoretischabstraktes Gebilde bezeichnet, aufzubrechen. Denn diese Trennung knüpft an die hierarchische Unterscheidung von Theorie und Praxis an und verkennt dabei das Ineinanderwirken dieser nicht klar unterscheidbaren Sphären. Im Kontext der Produktion von Wissen über Rassismus im universitären Raum ist der Umgang mit Begrifflichkeiten von großer Bedeutung. Denn in der Universität wird das theoretisch-abstrakte Wissen meist von weißen Wissenschaftler*innen repräsentiert, während das ‚Rohmaterial‘, die ‚Erfahrungen’ von Menschen of Color geliefert werden dürfen. Hier werden koloniale Gegensätze reproduziert: Sie sind universell – ich spezifisch, sie sind objektiv – ich bin subjektiv, sie haben Fakten – ich habe eine Meinung, sie haben Wissen – ich habe Erfahrung. Für diese Forschungsarbeit habe ich mich daher entschieden, den Begriff Wissen statt den der Erfahrung zu verwenden, welcher – wie oben ausgeführt – situiert ist in historisch-politischen Gegebenheiten und welcher explizit Erfahrungen inkludiert. Dabei bin ich motiviert von dem politischen Anspruch, leicht zugänglich zu schreiben. Es ist ein Bemühen, die Komplexität von sowohl wissenschaftlichem als auch alltäglichem Leben zu untersuchen und die Erkenntnisse so zu präsentieren, dass sie nicht weniger stark oder präzise werden, aber dennoch zugänglich bleiben. Ich bemühe mich, die Verständlichkeit im Blick zu behalten, denn sich Theorie so zu nähern, „challenges both the ideas of educated elites and the role of theory in sustaining hierarchies of privilege“ (Collins 1991: VII). Diesem Bemühen sind äußere Grenzen gesetzt, wie die Anforderungen an eine wissenschaftliche Qualifizierungsarbeit sowie meine zeitlichen Ressourcen. Im Wissen, dass das Bestehen als Wissenschaftlerin of Color an deutschen Universitäten ein harter Kampf sein kann, motivierte mich bell 62

Block I: Theoretische Grundlagen hooks’ Idee, Theorie auch als einen Ort für den Umgang mit Schmerz zu begreifen: „It is not easy to name our pain, to theorize from that location. […] I am grateful to the many women and men who dare to create theory from the location of pain and struggle, who courageously expose wounds to give us their experience to teach and guide, as a means to chart new theoretical journeys. Their work is liberatory.“ (hooks 1994b: 74-75)

Theorie kann direkt zum Schmerz sprechen, ein Ort der Heilung sein und wertvolle Worte anbieten. Theorie bedeutet deshalb in Anlehnung an bell hooks eine „Befreiungspraxis“ (ebd.: 59) aus einem Ort des Schmerzes und Kampfes. 36

36

Siehe mehr unter: Theory as a Liberatory Practice (vgl. hooks 1994b: 59-75).

63

2

DAS KONZEPT PEOPLE OF COLOR „Worte finden. Eine Sprache für das Nicht-Benennbare finden. Mich selbst definieren, anstatt beschrieben und besprochen zu werden.“ (Dean 2011: 598)

Sprache ist nicht die Darstellung der Realität, vielmehr schafft sie Wirklichkeitsvorstellungen, Sprache spiegelt Machtverhältnisse wider, und Sprache kann verletzen (vgl. Ayim 2005: 78). Auf der Suche danach, wie ich die Menschen bezeichne, die in Deutschland Rassismuserfahrungen machen, habe ich mich für den Begriff People of Color (PoC) entschieden. Hierbei handelt es sich um mehr als nur eine Bezeichnung. Es geht um ein Konzept, das eine Verbindung zwischen allen Menschen herstellen möchte, die Rassismuserfahrungen machen – und zwar über nationale und ethnische Hintergründe hinweg. Es geht darum, gemeinsame Erfahrungshintergründe zu entdecken und dadurch artikulierbar zu machen. Gleichzeitig betont der Ansatz die Differenzen innerhalb der Identitätskategorie People of Color. Es geht also nicht um eine Gleichmachung der heterogenen Erfahrungen und Positionierungen von Menschen, sondern um ein Identitätsverständnis, das in und mit Differenzen lebt. Dieses Konzept soll im Folgenden vorgestellt werden. Nachdem auf den Zusammenhang von Sprache und Rassismus eingegangen und der People-of-Color-Begriff als eine vorübergehende Bezeichnung eingeführt wird, werden in Kapitel I.2.2 die Ursprünge des Konzepts People of Color dargestellt. Zum einen wird dabei auf den US-amerikanischen Entstehungskontext eingegangen, aus dem der Begriff ursprünglich stammt (Kapitel I.2.2.1), aber genauso werden die Anfänge des Ansatzes im deutschen Kontext aufgezeigt (Kapitel I.2.2.2). Hierbei orientiere ich mich an der Geschichtsschreibung des Politologen Kien Nghi Ha, der das Konzept im wissenschaftlichen Feld in Deutschland besonders stark gemacht hat (vgl. Ha 2007a; 2010a). In seiner Darstellung legt er Wert darauf, Geschichte nicht als eine widerspruchsfreie Erzählung von den guten widerständigen Held*innen zu

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mohseni, Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31005-9_2

Block I: Theoretische Grundlagen begreifen, sondern als eine Darstellung von Menschen sowie Bewegungen und ihren Widersprüchen im Kontext der jeweiligen Verhältnisse, um dadurch auch den brüchigen Charakter des Konzepts People of Color aufzuzeigen.. In Kapitel I.2.3 wird das Konzept PoC genauer vorgestellt sowie Herausforderungen thematisiert. Als ein Konzept, das den Anspruch hat, Differenzen nicht zu leugnen, als auch ein Identitätsangebot zu bieten, ist der Ansatz vor komplexe Herausforderungen gestellt. Hier diskutiere ich exemplarisch das Problem der eigens produzierten Ausschlüsse innerhalb der Kategorie People of Color einerseits sowie dem Schutzbedürfnis vor gewaltvoller rassistischer Reproduktion andererseits. In Kapitel I.1.4 wird der People-of-Color-Ansatz mit der Idee der ‚kulturellen Identität‘ von Stuart Hall und dem Konzept des ‚strategischen Essentialismus‘ von Gayatri Chakravorty Spivak in Verbindung gesetzt.

2.1

AUF DER SUCHE NACH EINER ANTIRASSISTISCHEN SPRACHE „alle worte in den mund nehmen egal wo sie herkommen und sie überall fallen lassen ganz gleich wen es trifft.“ (Ayim 2005: 78)

Sprache verstehe ich grundsätzlich als sprachliche Handlung. Ob Kommunizierende sich dessen bewusst sind oder nicht, jeder Sprechakt ist ein Handeln, da damit immer eine bestimmte Wirklichkeitsvorstellung geschaffen wird (vgl. Hornscheidt/Nduka-Agwu 2010: 29). In ihren sprachlichen Handlungen beziehen sich Personen auf frühere sprachliche Handlungen. Diese Sprechakte sind häufig gesellschaftlich autorisiert und werden kaum hinterfragt, weil alle sie zu verstehen scheinen. Ein Satz bringt jedoch nicht nur Inhalt, sondern auch Konventionen, gesellschaftlich autorisiertes Wissen und Annahmen zum Ausdruck. Sprache reproduziert normalisiertes Wissen. Hierzu gehört 65

Block I: Theoretische Grundlagen auch die permanente Konstruktion von Identitäten über sprachliche Kategorisierungen und Zuschreibungen, wie auch alle sprachlich geschaffenen kollektiven und individuellen Selbst- und Fremdbenennungen: „Sprache, d. h. sprachliche Handlungen, macht Wissen verständlich, macht Personen zu fassbaren sozialen Wesen. Über sprachlich produziertes Wissen werden Identitäten aufgerufen, reProduziert und verändert. Sprachliche BeNennungen schaffen Identitätsvorstellungen durch ihre sprachlichen Konstruktionen.“ (ebd.: 30)

Es wird nicht angenommen, dass Identitäten wie z. B. deutsch vor ihrer ersten Benennung einfach so da waren, sondern dass sie mit jeder Aufrufung und Nennung neu geschaffen und bestätigt werden. Sie werden durch ihre ständige Verwendung quasi naturalisiert.37 Sprecher*innen haben die Illusion, dass Sprache selbst nur ein neutrales Transportmittel von Inhalt sei, dass sie mit ihr lediglich etwas benennen, was jenseits der Sprache existiert, was Sprache lediglich abbildet. Damit ignorieren sie, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, Dinge zu benennen. Worte sind nie neutral, sie haben eine Geschichte, die mit tradiert wird. Worte können verletzen und sind auch als Machtinstrumente zu lesen, wie May Ayim in ihrem oben zitierten Gedicht zum Ausdruck bringt. Da Sprache ein wichtiger Ort von Diskursproduktion ist, spielen Bezeichnungen eine wichtige Rolle. Begriffe und Bezeichnungen im Interkulturellen Feld sind nicht selten Ausdrücke, die ein Wir und ein Nicht-Wir herstellen und stabilisieren. Sie legen fest. Begriffe ermöglichen eine bestimmte Sicht auf Wirklichkeit und erzeugen diese sogleich. Sie sind „keine Spiegel der Wirklichkeit, sondern soziale Werkzeuge, die Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnen und gleichzeitig verschließen“ (Castro Varela 2001: 26). Innerhalb der postkolonialen Studien und Critical Whiteness Studies hält die Suche nach treffenden sprachlichen Ausdrücken immer noch an. Mittlerweile sind einige Sammelwerke erschienen, die Bezeichnungen mit rassistisch-kolonialistischer Prägung etymologisch aufdecken 37

Zum hier beschriebenen Prozess der Normalisierung durch den Akt der Performanz siehe ausführlich Kapitel I.1.1.

66

Block I: Theoretische Grundlagen und kritisch hinterfragen.38 Außerdem werden in verschiedenen Werken die Schwierigkeiten von Begriffen wie ‚Migrant*in‘, ‚mit eigenem Migrationshintergrund‘, ‚Andere Deutsche‘ (Mecheril 1994), ‚Schwarz‘ (Oguntoye et al. 1992), ‚People of Color‘ (Ha 2007a), aber auch Begriffe wie ‚Normaldeutsche‘ (Beck-Gernsheim 2004), ‚rassistisch Dominante‘ (Weiß 2001) kritisch diskutiert.39 Gängige Begriffe, welche momentan im Umlauf sind, erscheinen mir als unzureichend bzw. als unbrauchbar. Der Begriff ‚Migrant*in‘ zum Beispiel reicht nicht mehr aus, um die rassistisch wirksamen Strukturen auszudrücken, denn bei ‚Migrant*in‘ handelt es sich um ein zu undeutliches Konzept für die Thematisierung von Rassismus. Ein Migrant ist auch ein in Deutschland lebender gebürtiger weißer US-Amerikaner oder eine Französin. Diese Menschen sind aber weniger von Rassismus betroffen, im Gegensatz etwa zur kurdischen Migrantin oder dem Migranten aus Syrien. Der Begriff ist auch deshalb unzureichend, weil beispielsweise Schwarze Menschen, die selbst nicht migriert sind und sich als deutsch begreifen, nicht Teil der Bezeichnung sind. Für meine Dissertation habe ich mich für die Bezeichnung People of Color40 entschieden. Der Grund für die Auswahl liegt erstens in dem Argument begründet, dass es sich um eine politische Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrungen handelt. Ein wichtiger Aspekt auf der Suche nach geeigneten Begriffen, die Rassismus nicht reproduzieren, ist nämlich das Recht, sich selbst zu benennen, statt von außen definiert zu werden. Denn einer der wirkungsmächtigsten Mechanismen von Rassismus sind Otheringprozesse, in denen Menschen 38

Die Problematik bestimmter Begriffe wird mittlerweile ausführlich diskutiert und wird deshalb an dieser Stelle nur erwähnt. Siehe hierfür Arndt/Ofuatey-Alazard 2011; Nduka-Agwu/Hornscheidt 2010; Arndt et al. 2004; Hentges 2014. 39 Mehr zur Diskussion von Begrifflichkeiten und ihren Unzulänglichkeiten bei Ha et al. 2007a: 11-12; Ha 2007b: 48-52; Wollrad 2005: 19-22; Eggers 2009a: 13. 40 Im Folgenden verwende ich die US-amerikanische Schreibweise ‚People of Color‘, da sich diese im deutschsprachigen Raum weitgehend gegenüber der britischen Schreibweise ‚People of Colour‘ durchgesetzt hat (vgl. z. B. Popoola/Sezen 1999; Ha 2007a; Dean 2011).

67

Block I: Theoretische Grundlagen of Color zu Objekten gemacht werden. Fremdbezeichnungen als Akt des Bestimmens über die sogenannten Anderen sind Teil solcher entmündigenden Otheringprozesse. Zweitens handelt es sich bei dem Konzept People of Color um einen Versuch, Solidarität zwischen Menschen unterschiedlicher rassistischer Erfahrungen herzustellen, ohne dabei Differenzen zu leugnen (vgl. Kapitel I.2.3). Dabei betrachte ich den Ansatz – wie jedes Wissen – als vorübergehend und begrenzt auf seinen historisch-gesellschaftlichen Kontext. Der Begriff hat keinen Anspruch auf Universalität und kann nicht in jeder Situation Gültigkeit beanspruchen. Wenn Sprache als „a place of struggle“ (hooks 1989: 28) betrachtet wird und Bezeichnungen oftmals eine kolonial-rassistische Prägung innehaben, dann ist die Suche nach nicht-rassistischen, würdevollen Bezeichnungen als Teil einer antirassistischen Praxis zu betrachten. Insgesamt bleibt jedoch jeder Versuch, für rassistisch marginalisierte Subjekte einen angemessenen Begriff zu finden, grundsätzlich mit dem Widerspruch konfrontiert, dass dabei auf eine dominante eurozentrierte Sprache zurückgegriffen werden muss (vgl. Ha 2007a: 39). Denn alle Versuche der Selbstbenennung können sich nur innerhalb eines rassistischen Diskurses bewegen. Subjekte sind in komplexe Machtstrukturen verstrickt und auch wenn wir uns Mühe geben, „in den Quellen und Mythen außereuropäischer Sprachen nach Möglichkeiten der SelbstIdentifikation zu suchen, tun wir das von einer postkolonialen und nie von einer präkolonialen Position aus“ (ebd.: 38). Da es also kein Außen gibt, kann die Suche nach einer diskriminierungsfreien Sprache nur innerhalb einer rassistischen Gesellschaft stattfinden: „Letztlich ist der Kampf mit der eigenen Sprache als anhaltende Suche nach befreienden Ausdruckmöglichkeiten zu verstehen. Solange Rassismus und andere Machtformen weiterhin existieren, wird auch der Kampf dagegen durch ein Ringen mit der eigenen Sprache reflektiert.“ (ebd.: 39)

Auf der Suche nach einer angemessenen Sprache knüpfe ich an Jean Deans anfangs zitierte Worte an, der es darum geht, eine Sprache zu

68

Block I: Theoretische Grundlagen finden, um sich selbst zu definieren, anstatt beschrieben und besprochen zu werden (vgl. Dean 2011: 598).

2.2

HISTORISCHE KONTEXTUALISIERUNG ZEPTS PEOPLE OF COLOR

DES

KON-

Der PoC-Begriff ist eine Anlehnung an die französische Bezeichnung für ‚freie Schwarze Menschen‘ in der Sklavenzeit, von denen viele für die Abschaffung der Sklaverei kämpften. In dieser Darstellung wird versucht, ‚free people of color‘ in ihren brüchigen Biographien und in ihrem ambivalenten Charakter innerhalb damaliger kolonialer Verhältnisse darzustellen, statt mit einer geradlinigen Darstellung des Lebens von Heroen irrezuführen. Der aktuelle Bezug des Begriffs ist vor allem im US-amerikanischen Kontext von unterschiedlichen antirassistischen Widerstandskämpfen zu sehen, die sich miteinander solidarisierten. In Deutschland steht die Geschichte des Begriffs People of Color vor allem im Zusammenhang mit den Bündnisarbeiten von Schwarzen, Jüd*innen und Migrant*innen.

2.2.1

URSPRÜNGE DES BEGRIFFS PEOPLE OF COLOR

Etymologisch stammt der Begriff People of Color von der französischen Bezeichnung ‚gens de couleur libres‘ (engl. ‚free people of color‘) ab, die zuerst in den französischsprachigen Kolonien verwendet wurde, um formal freie Schwarze Menschen – häufig ehemalige Versklavte – zu bezeichnen (vgl. Dean 2011: 600). Der erste Nachweis des Begriffs stammt aus dem Jahr 1781. In den frankophonen Kolonien existierte für Menschen mit europäisch-afrikanischen Elternteilen die Entsprechung ‚gens de couleur libres‘. Es wird vermutet, dass der englische Begriff aus dem Französischen übernommen wurde (vgl. Ha 2009). In der US-amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft wurden insbesondere freie Schwarze Menschen mit afrikanischen Herkünften neben rassistischen Begriffen wie ‚free negros‘ auch als ‚free people of color‘ bezeichnet. Viele von ihnen – wie etwa der afroamerikanische 69

Block I: Theoretische Grundlagen Publizist Frederick Douglass oder diejenigen freien Schwarzen, die sich solidarisch der von Nat Turner angeführten Sklavenrebellion von 1831 anschlossen – setzten sich vehement für die Abschaffung der Sklaverei ein. Eine Minderheit von ihnen war aber selbst direkt an der Ausbeutung Schwarzer Menschen beteiligt und profitierte auf unterschiedlichste Weise davon. Einige free people of color waren z. B. auch als Vorarbeiter*innen und Informant*innen tätig oder sogar selbst Plantagen- und Sklavenbesitzer*innen (vgl. Ha 2007a: 32). Kien Nghi Ha macht deutlich, dass es sich um „komplexe Macht- und widersprüchliche Interessenkonfigurationen“ handelte, „die keine einfache oder unverbrüchliche Identifikation zulassen“ (ebd.). Es wäre eine einseitige Darstellung, wenn freie Schwarze Menschen als ausnahmslos gute und widerständige Subjekte dargestellt würden. Stattdessen zeigt er in seinem historischen Aufsatz die ambivalenten Machtverhältnisse von free people of color auf und erschwert damit eine einfache heroische Identifizierung. Er stellt die widersprüchlichen Konfigurationen von brüchigen Biographien freier Schwarzer Menschen mit ihren Irrtümern und Ungereimtheiten innerhalb der Kolonialzeit dar (vgl. ebd.: 32). Die historischen Ursprünge des Begriffs People of Color zu kennen, ist nicht nur wichtig, um Kontinuitäten von Widerständen sichtbar zu machen. Sie zeigen mehrdeutige Zwischenpositionen sowie koloniale Verwicklungen von free people of color und können Impulsgeberin für eine kritische Diskussion um den Begriff in der Gegenwart sein. Aufgegriffen wurde der Begriff in den Widerstandsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre in den USA, die von Theoretiker*innen wie z. B. Frantz Fanon inspiriert wurden, die Begriffe wie ‚gens de couleur‘ in ihren Schriften verwendeten (vgl. Ha 2010a: 80-81). Martin Luther King Jr. verhalf dem Ausdruck zu größerer Popularität, als er in seiner Rede am 28. August 1963 bei einer großen Protestkundgebung der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung vor dem Lincoln Memorial in Washington D. C. von ‚America's citizens of color‘ sprach (vgl. Dean 2011: 600). Zur Bekanntheit verhalf ihm vor allem aber die Black-Panther-Bewegung in den 1960er Jahren, die einen Vorbildcharakter für 70

Block I: Theoretische Grundlagen weitere soziale Bewegungen in den USA hatte. Als übergeordneter Begriff umfasste er alle Menschen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt und vom Rassismus der ‚WASP-Dominanzgesellschaft‘ (White-Anglo-Saxon-Protestant) betroffen waren (vgl. Ha 2007a: 36). Denn die unterschiedlichen politischen Gruppierungen der Black Americans, Asian Americans, Native Americans oder Mexican Americans waren trotz aller Unterschiede in ihrer historischen Verortung und aktuellen Entwicklungen einer gemeinsamen rassistischen Unterdrückungsstruktur ausgesetzt. Um die Überlegenheit des Weißseins als gesellschaftliche Norm abzusichern, arbeitet das rassistische System daran, durch eine Strategie des Teilens und Herrschens bzw. des ‚divide et impera‘ die unterschiedlichen Betroffenengruppen gegeneinander auszuspielen: „Wer die moderne Unterdrückungsgeschichte des Rassismus einer postkolonialen Revision unterzieht, kommt nicht umhin festzustellen, dass die Menschen des kolonialisierten Trikonts einschließlich der Indigenen in Australien und Ozeanien durch massive Eingriffe und soziale Disziplinierungen auch immer untereinander hierarchisiert und voneinander isoliert wurden.“ (ebd.: 31)

Dazu wurden unter anderem Körpertechniken, Raumpolitik, Ehegesetze, ökonomische Arbeitsteilungen sowie diskursive Ordnungen einschließlich kultureller Fremddarstellungen in Schrift und Bild eingesetzt, deren Effekte bis heute nachwirken (vgl. ebd.: 31). Durch das Prinzip des divide et impera wurden Solidarisierungsprozesse über die künstlich geschaffenen Rassengrenzen hinweg enorm erschwert, jedoch gab es Ansätze von Solidarisierungskämpfen in den 1960er und 1970er Jahren. Ein Beispiel dieser communityübergreifenden Arbeit ist die Unterstützung der Alcatraz-Besetzung von Native Americans durch das Asian American Movement (vgl. Dean 2011: 600). Die Bewegung der feminists radical women of color wiederum ist ein Beispiel für einen

71

Block I: Theoretische Grundlagen erstmaligen Zusammenschluss von Women of Color unterschiedlichster Herkünfte.41 „Als politischer Kampfbegriff, der marginalisierte Communities und ihre Mitglieder über die Grenzen ihrer ‚eigenen‘ ethnischen, nationalen, kulturellen und religiösen Gemeinschaften mobilisiert und miteinander verbindet, reflektiert er in den westlichen Metropolen die zu dieser Zeit stark ausgeprägte internationalistische Solidarität gegen imperialistische Aggression und koloniale Besatzungen.“ (Ha 2007a: 31)

Obwohl diese revolutionären Bewegungen berechtigte Kritiken geerntet haben und ihre Ansätze teilweise verkürzt waren, haben sie wichtige identitätspolitische Anstöße für die nachfolgenden antirassistischen Kämpfe geliefert (vgl. ebd.).

2.2.2

DAS PEOPLE-OF-COLOR-KONZEPT IN DEUTSCHLAND

Auch in Deutschland gibt es bereits seit langem Versuche auf verschiedenen Ebenen, Bündnisse zwischen verschiedenen Communities of Color zu schaffen. Eine der wichtigsten historischen Kontinuitäten stellen die feministischen Kämpfe von Schwarzen Frauen, Migrantinnen und Jüdinnen dar. Gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenlehre und Vernichtungspolitik gab es innerhalb feministischer Bewegungen Versuche, tragfähige Bündnisse untereinander zu schaffen. Die Notwendigkeit einer solchen Bündnispolitik zeigte sich besonders in den Jahren nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, die von einem Klima der Angst vor rassistischen und antisemitischen Übergriffen geprägt waren.42 Zugleich trug der zweite Golfkrieg 1990/91 wesentlich dazu bei, antiarabische und antiislamische Ressentiments in der BRD

41

Zur Entstehung dieser Bewegung trug der von Moraga und Anzaldúa herausgegebene Sammelband ‚The Bridge Called My Back‘ (1983) entschieden bei. 42 Siehe hierzu: Duvalar Walls Mauer, ein dreisprachiger Dokumentarfilm von Can Candan: http://duvarlarmauernwalls.blogspot.co.uk/.

72

Block I: Theoretische Grundlagen offener zutage treten zu lassen. Gleichzeitig wurde der sekundäre Antisemitismus43 virulent (vgl. Hügel et al. 1999a: 11). Vor diesem Hintergrund fanden im Jahre 1990 und 1991 erstmalig zwei Kongresse „ausschließlich von und für Immigrantinnen, Schwarze deutsche, jüdische und im Exil lebende Frauen“ (Ayim/Prasad 1992) statt. Eine Dokumentation, herausgegeben von May Ayim und Nivedita Prasad, bringt Beiträge von Frauen zusammen, die unterschiedliche Ausgrenzungserfahrungen und Visionen, Möglichkeiten von gegenseitiger Unterstützung und politischer Bündnisarbeit thematisieren. Der Sammelband ‚Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung‘ (Hügel et al. 1999b) war eine Fortsetzung dieser Bündnispolitik. Von hier an fanden weitere gemeinsame Kongresse statt, so z. B. 1994 ein Kongress von Immigrantinnen, Frauen im Exil, jüdischen und Schwarzen Frauen in Bonn. Die Bündnisarbeit blieb niemals frei von Konflikten, die zum Teil produktiv gelöst werden konnten, zum Teil noch offen in ihrem Ausgang sind. Die internationale Tagung ‚Marginale Brüche‘ im Jahr 1997 in Köln war Ausdruck eines Konflikts zwischen Schwarzen Frauen und Migrantinnen auf der einen und Jüdinnen auf der anderen Seite. 2013 fand eine erneute Bündniskonferenz statt, welche explizit an die bisherigen feministischen Kämpfe von Women of Color in Deutschland anschließt: „FemoCo2013 will die Arbeit fortsetzen, die in den 1990er Jahren u. a. mit der ‚Frauentagung von/für ethnische und afrodeutsche Minderheiten‘ (1990) sowie dem ‚Zweiten Bundesweiten Kongress von und für Immigrantinnen, Schwarze deutsche, jüdische und im Exil lebende Frauen‘ (1991) aufgenommen wurde.“ (FemoCo Orga-Team 2013)

Hier ging es darum, in Zusammenarbeit mit Frauen der ersten Konferenzen einen Ort zu kreieren, an dem Frauen sich über feministisches Wissen, ihre Selbstverständnisse sowie ihre Erfahrungen von Mehrfachdiskriminierung austauschen können, um gemeinsam Empowerment-Strategien zu entwickeln (vgl. ebd.). 43

Zum sekundären Antisemitismus siehe Kapitel II.2.7.

73

Block I: Theoretische Grundlagen Auf wissenschaftlicher Ebene stellt der 2007 erschienene Sammelband ‚re/visionen – Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland‘ einen wichtigen Versuch aus jüngerer Zeit dar, den People–of-Color-Begriff als gemeinsames Dach einzuführen und die PoC-Politikform im deutschen Kontext bekannter zu machen. Der Begriff People of Color wird hier nicht in Konkurrenz, sondern ergänzend zur politischen Kategorie Schwarz verwendet, um diese auszudifferenzieren und „Myriaden von Zwischenpositionen“ (Ha et al. 2007b: 14) innerhalb der Konstruktion des Schwarzseins gleichberechtigt einbeziehen zu können. Die Bezeichnung People of Color etablierte sich nach und nach in ihrer Zielgruppendefinition, weil sich herausstellte, dass andere Formulierungen wie ‚Menschen nichtdeutscher Herkunft‘ oder ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ nicht ausreichten. Insbesondere Menschen ohne direkte Migrationserfahrung und/oder mit einem deutschen Elternteil wurden mit diesen Begriffen nicht angesprochen. Derzeit gibt es einige politische Netzwerke und Gruppen sowie Wissenschaftler*innen, die mit Hilfe des People-of-Color-Begriffs Bündnisse zwischen Angehörigen verschiedener Communities of Color zu schaffen versuchen. Im Feld der Beratung gibt es viele Organisationen, welche mit dem People-of-Color-Ansatz arbeiten und sich in der Tradition von Kämpfen of Color verorten, wie zum Beispiel das Antidiskriminierungsnetzwerk (www.adnb.de), ReachOut Berlin e. V. (www.reachoutberlin.de), LesMigraS e. V. (www.lesmigras.de), GLADT e. V. (www.gladt.de) oder der Migrationsrat Berlin-Brandenburg e. V. (www.mrbb.de). Auch Schwarze Selbstorganisationen verbünden sich mit People of Color in communityübergreifenden Projekten, wie zum Beispiel ADEFRA e. V. – Schwarze deutsche Frauen und Schwarze Frauen in Deutschland (www.adefra.de) ebenso wie die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e. V. (www.isdonline.de). Es bilden sich Gruppen an den Universitäten, Lesekreise, Cafés für People of Color, Gesangs- und Yogagruppen, welche ihre Angebote als Teil einer Community-Arbeit begreifen. In den Bereich der politischen 74

Block I: Theoretische Grundlagen Bildung wurde der Ausdruck People of Color von der Projektinitiative HAKRA eingeführt, die Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen anbietet.44 Ein Beispiel der erfolgreichen Vernetzung von People of Color in Deutschland ist das bundesweite ‚move-on-up-Forum‘, ein Netzwerk, das im Anschluss an das ‚Empowerment-Forum‘ aus der Perspektive von People of Color im Oktober 2008 entstanden ist. Das Netzwerk ist offen für alle People of Color, d. h. Menschen, die (potentiell) Rassismuserfahrungen in Deutschland (bzw. im deutschsprachigen Raum) machen. Es ist über die Zeit zu einem Raum geworden, in dem Menschen, die sich als von Rassismen betroffen positionieren, austauschen können. Einerseits werden politische Nachrichten geteilt, es wird auf politische Aktionen hingewiesen und es werden politische Diskussionen geführt. Aber auch alltägliche Fragen über Handlungsmöglichkeiten gegen Rassismus werden geteilt. Hier werden empowernde Impulse wie Musikvideos, Gedichte, Artikel und Bücher und Filme usw. geteilt. Genauso werden auch Stellenanzeigen und Wohnungsanzeigen geteilt, um durch diese Vernetzung der strukturellen Benachteiligung von Menschen of Color entgegenzuwirken. Diese Liste wird im Moment von über 500 Menschen sehr unterschiedlich genutzt, und seit ein paar Jahren nun werden ca. 30 Mails pro Tag über diesen Verteiler geschickt. Auch wenn anzumerken bleibt, dass etablierte Strukturen von People of Color bisher vor allem in größeren Städten wie Berlin, Hamburg und Frankfurt vorzufinden sind, entwickeln sich in den letzten Jahren auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Feldern an unterschiedlichen Orten Gruppen und Gemeinschaften, Arbeitszusammenhänge und politisch-aktivistische Kreise, die sich explizit auf den People-of-Color-Ansatz beziehen.

44

Mehr zu den aktuellen People-of-Color-Initiativen siehe Dean 2011: 600.

75

Block I: Theoretische Grundlagen

2.3

ZUR BEDEUTUNG

DES PEOPLE-OF-COLOR-ANSATZES UND SEINEN HERAUSFORDERUNGEN

Obwohl der Begriff und das Konzept People of Color sich immer mehr verbreiten, ist der People-of-Color-Ansatz im deutschsprachigen wissenschaftlichen sowie antirassistischen Diskurs im Vergleich zu anderen Ländern weniger bekannt. In den anglophonen Metropolengesellschaften ist der Begriff hingegen inzwischen als politischer ebenso wie kritisch-analytischer Begriff weit verbreitet (vgl. Dean 2011: 600).45 Der Ausgangspunkt des Ansatzes beruht auf dem oben beschriebenen Teile-und-herrsche-Prinzip, das ein zentrales Mittel zur Aufrechterhaltung weißer Hegemonie darstellte und heute noch darstellt. Verschiedenen Gruppen of Color wird ein unterschiedlicher Zugang zu Privilegien eingeräumt, und es entsteht eine künstlich hergestellte Hierarchie von wertvolleren und weniger wertvollen Gruppierungen. Menschen werden so durch ihre unterschiedlichen Zugänge und Positionen gegeneinander ausgespielt und entsolidarisieren sich voneinander. Ein besonders wirksames Prinzip innerhalb dieser rassistischen Herrschaftslogik ist das Passing46. Die Wahrnehmung bzw. Nichtwahrnehmung von Differenzen ist mit bestimmten Erwartungshaltungen verbunden, die sich auf der äußerlichen Ebene besonders ausgeprägt zeigen. Passing bedeutet in diesem Zusammenhang, „als jemand anderes zu passieren, als jemand anderes wahrgenommen zu werden oder auch irgendwo durchzukommen“ (Ahmed 2009: 270). Passing kann als eine weiße Strategie identifiziert werden, bei der Menschen ‚passieren‘ dürfen, also ‚als weiß durchgehen' und damit entscheiden können, ob sie auf das Angebot des ‚Aufstiegs durch Rassismus‘ eingehen wollen. Es wird suggeriert, dass sie zur Norm dazugehören und dass sie genauso die weißen Privilegien 45Die

Tatsache, dass der People-of-Color-Ansatz in Deutschland wenig bekannt ist, verweist nach Kien Nghi Ha, Nicola al-Samarai und Sheila Mysorekar auf einen Zustand der politischen Unsichtbarkeit und auf das Fehlen einer grenzüberschreitenden Ausrichtung in der antirassistischen Identitätspolitik marginalisierter Gruppen und Communities (vgl. Ha et al. 2007a: 13). 46 Mehr zum Thema ‚Passing‘ siehe Ahmed (2009); Mysorekar (2007).

76

Block I: Theoretische Grundlagen genießen wie Weiße. Manchen Menschen, die äußerlich zum „weißen Club“ (Wollrad 2005: 38) gehören könnten, wird somit die Möglichkeit gegeben, sich auf die Seite der Machthabenden zu schlagen, was jedoch mit Widersprüchen und Verleugnungen der passierenden Person verbunden ist (vgl. Mysorekar 2007). „Als Schnittstelle einer binären Aufteilung in weiß und Schwarz ermöglicht das Thema passing zum einen, die Ungewissheit beider Kategorien hervorzuheben, wie auch normative Vorgaben von Authentizität und essentialisierenden Identitätskonstruktionen zu hinterfragen.“ (ebd.: 172)

Rassismus produziert folglich Trennungen. Hier wird unterschieden nach Nationalitäten und Kontinenten, es wird aufgeteilt zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Migrant*innen sowie zwischen Migrant*innen und Geflüchteten, zwischen ‚dunkler‘ und ‚nicht so dunkler‘ Haut, es folgen Aussagen wie ‚du bist ja gar nicht so Schwarz‘ oder ‚du bist ja schon quasi deutsch‘. Verbindungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen rassistischen Erfahrungshorizonten werden gekappt und gemeinsame politische Organisierungen dadurch erschwert. People of Color ist eine politische Selbstbezeichnung für Menschen mit Rassismuserfahrungen und hat das Ziel, diese Trennungen zu überwinden und Solidarität zwischen Menschen mit Rassismuserfahrungen zu ermöglichen (vgl. Dean 2011: 600). Dafür ist es notwendig, die unterschiedlichen Geschichten, die auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind, miteinander in Beziehung zu setzen. „Es handelt sich dabei um entfernte Verbindungen oder verbindende Entfernungen, die erst (wieder-)gefunden und wahrnehmbar gemacht werden müssen“ (Dean 2011: 600). Als eine politische Plattform dient der People-of-Color-Ansatz dazu, Bündnisse zwischen allen rassifizierten Menschen in Deutschland zu schließen: „Eine solche aktive und bewusste Grenzüberschreitung unterläuft nicht nur rassistische Strategien des Teilens und Herrschens, mit denen Minorisierte voneinander getrennt und gegeneinander ausgespielt wurden und immer noch werden. Vielmehr eröffnet die People of Color Perspektive rassifizier-

77

Block I: Theoretische Grundlagen ten Menschen einen alternativen Raum, in dem wir uns miteinander in Beziehung setzen können, unsere Geschichten, unsere Erfahrungen, unser Wissen anerkennen können.“ (Ha et al. 2007a: 13)

Das Konzept bietet die Möglichkeit, Zwischenpositionen einzunehmen – ein wichtiger Aspekt in Zeiten der modernen Globalisierung und der komplexen, uneindeutigen Subjektpositionen sowie Mehrfachzugehörigkeiten. Da der Begriff ohne einen Bezug auf Kultur, ethnische Zughörigkeit oder Nationalität auskommt, ist er geeignet, eine diskursive Lücke zu schließen, in die bisher diejenigen gefallen waren, die sich weder Schwarzen Organisationen noch Migrant*innen-Communities zugehörig fühlten. Der Begriff räumt zudem Platz ein, die Erfahrungen von Schwarzen Menschen sichtbar zu machen, die als weiß passieren (können) und vermeintliche dichotome Eindeutigkeiten in Frage stellen (vgl. Ahmed 2009: 272). Der People-of-Color-Begriff bringt den Vorteil mit sich, im Gegensatz zu den politischen Kategorien Schwarzsein (Blackness) und Weißsein (Whiteness) nicht auf Konstruktionen von Gegensätzlichkeiten beschränkt zu werden. Dabei ist People of Color nicht als Gegenkonzept zu Schwarz zu verstehen, sondern als ergänzende Möglichkeit, die analytische Kategorie Schwarzsein weiterzuentwickeln und auszudifferenzieren. Durch die erweiterte Anrede wird ein weiterer Rahmen geschaffen, der dazu ermutigt, sich nicht mehr auf binäre Konstruktionen zu berufen, sondern vielmehr die Vielschichtigkeiten und Differenzen innerhalb der Kategorie Schwarz weiter zu betonen (vgl. Ha et al. 2007a: 14-15). Geläufige Formen widerständiger Identitätspolitik in sozialen Bewegungen orientierten sich meist nach singulären Zugehörigkeiten oder waren auf eine einzige Machtform beschränkt, anstatt die Zusammenhänge mit anderen Unterdrückungsverhältnissen zu thematisieren. Nicht selten endeten diese Bewegungen in der Sackgasse des GegenNationalismus und waren mit einer maskulinen sowie heterosexuellen Dominanz verbunden, wodurch sie ignorant gegenüber Erfahrungen von anderen Marginalisierten waren (vgl. Ha 2007a: 31). Im Unterschied zur konventionellen Identitätspolitik hat der People-of-Color78

Block I: Theoretische Grundlagen Ansatz den Vorteil, dass er strukturell multiperspektivisch angelegt ist. Er beruht auf der gleichzeitigen Anerkennung von differenten Subjektpositionen, die in einem gleichberechtigten und dialogischen Rahmen miteinander in Verbindung treten. Dazu gehört, dass es einen Austausch geben muss über die Eingewobenheit in eine matrix of domination, d.h. Rassismus ist auch immer vergeschlechtlicht und vom Klassenunterschied, Bildungshintergrund oder dem Pass abhängig. Dazu gehört auch, dass viele People of Color durch ihren Wohnort im Globalen Norden relativ privilegiert sind. Weitere Unterschiede ergeben sich aus unseren voneinander verschiedenen sozialen (familialen und persönlichen) Umfeldern (vgl. Dean 2011: 599). Zudem haben sich historisch verschiedene Rassismen mit verschiedenen Erscheinungsformen herausgebildet, die von denen, gegen die sie gerichtet sind, jeweils anders erlebt werden. Da rassistische Ausschlusspraxen auf unterschiedliche Weise auf die jeweiligen Positionierungen wirken, können sie nie vereinheitlicht dargestellt werden (vgl. ebd.). In Deutschland ist ein antischwarzer Rassismus besonders virulent, ebenso wie anti-muslimischer Rassismus sowie ein spezifischer Rassismus gegen Sinti und Roma und ein Rassismus gegen Geflüchtete. Eine Reflexion dieser unterschiedlichen Erfahrungen sowie die unterschiedliche Heftigkeit dieser Erfahrungen sind für ein Gelingen des Ansatzes Voraussetzung. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass sich progressive Bewegungen und Organisationen, die sich dem People-of-Color-Ansatz verpflichtet fühlen, gegen alle Formen von Gewalt und Unterdrückung aussprechen. In ihrer Praxis versuchen sie, die Zusammenhänge zwischen kapitalistischer Ausbeutung, Rassismus, Kolonialismus, Sexismus und Homophobie zu berücksichtigen (vgl. Ha 2007a: 38). Gleichzeitig bilden sich immer wieder Gruppen und Bewegungen, die ihre vielschichtige Verwobenheit durch weiter ausdifferenzierte Selbstbezeichnungen ausdrücken, wie z. B. Women of Color oder Queers of Color (vgl. Dean 2011: 599). Allerdings stellt ein intersektionaler Ansatz, der die Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Machtbeziehungen zum Ausgangspunkt 79

Block I: Theoretische Grundlagen von postkolonialer Kritik und Politik nimmt, eine nicht leicht zu erfüllende Herausforderung dar. Auch wäre es vereinfacht zu glauben, dass der People-of-Color-Ansatz im Stande ist, alle Problemlagen und Machtkonflikte offenzulegen und eine endgültige Lösung zu bieten (vgl. Ha 2007a: 38). Die Übertragbarkeit des People-of-Color-Konzepts für Deutschland wird derzeit in der antirassistischen Bewegung viel diskutiert. Ein oft kritisierter Aspekt am Konzept betrifft den People-of-Color-Begriff selbst. Er sei leicht zu verwechseln mit dem rassistisch-kolonial geprägten Begriff ‚Colored‘, der ebenfalls im 19. Jahrhundert entstanden ist. Mit ‚Colored‘ bezeichnete man aus einem biologistischen Herrschaftsblick heraus Menschen mit ‚mixed-raced‘ Herkünften, die als nichtweiß und unrein abgestempelt wurden (vgl. Ha 2007a: 34). ‚Interracial‘ Ehen galten dabei als ein Verbrechen. Eleore Wiedenroth-Coulibaly zitiert einen Auszug solch eines rassistischen Gesetzes, das am 17. März 1866 von der Generalversammlung des Staates Georgia verabschiedet wurde: „Alle Schwarzen (= N…), Mulatten, Mestizen und ihre Nachkommen, die ein Achtel Schwarzes oder afrikanisches Blut in ihren Adern haben, sind als Personen der Farbe/Persons of Color zu bezeichnen. Jeder Beamte, der wissentlich eine Heiratsurkunde an Paare ausstellt, von denen eine beteiligte Person afrikanischer Abstammung und die andere weiß ist, ein solcher Beamte macht sich einer Ordnungswidrigkeit schuldig.“ (Wiedenroth-Coulibaly 2006: 14)

Vom südafrikanischen Apartheitsregime wurde der Begriff sogar bis in die 1990er Jahre dafür genutzt, um die Rassengrenze zwischen Schwarz, Indisch und Weiß aufrechtzuerhalten (vgl. Ha 2007a: 31). Auch wenn der Begriff People of Color aus einem anderen Kontext stammt und an eine Widerstandskultur erinnern soll, statt an eine rassistisch-koloniale Fremdbezeichnung, bleibt die Verknüpfung mit ‚Colored‘ nicht aus (vgl. Wiedenroth-Coulibaly 2006: 12). Auch die direkte

80

Block I: Theoretische Grundlagen deutsche Übersetzung des Begriffs People of Color – ‚farbige‘ Menschen – ist ein kolonial-rassistische Pendant zu ‚Colored‘.47 Bei der Verwendung des Begriffs People of Color kann es also sehr schnell zur Reproduktion rassistischer Bezeichnungen kommen. Außerdem besteht beim Wort People of Color oder auch bei der Bezeichnung Schwarz die Gefahr einer Verknüpfung, gar Fixierung des Ansatzes mit Hautfarbe (vgl. Messerschmidt 2010b: 259). Der Ansatz will jedoch über die biologistische Kategorie ‚Hautfarbe‘ hinaus und meint eigentlich eine politische Kategorie. Eine generellere Kritik an der Bezeichnung formuliert WiedenrothCoulibaly in Bezug auf die Adaption englischer Begriffe für den deutschsprachigen Raum. Sie kritisiert das Argument einer scheinbaren Unübersetzbarkeit und merkt an, dass Begriffe dann tatsächlich unübersetzbar bleiben, wenn es kein Bemühen in Deutschland gibt, sich mit den hier zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln neue Begrifflichkeiten einfallen zu lassen. „Der Import von solchen Schlagwörtern erscheint mir fragwürdig und halbherzig, da die innere Auseinandersetzung und das Aushandeln eigener Lösungen damit auf unbestimmt hinausgeschoben, wenn nicht gar umgangen wird.“ (Wiedenroth-Coulibaly 2006: 12)

Wenn das Sprechen in Begriffen stattfindet, die nicht aus der eigenen Innerlichkeit kommen und von außen angeeignet werden müssen, können sie kaum „Wurzeln schlagen“ (ebd.). Damit sich Wörter mit dem Selbst tief verbinden und verinnerlicht werden können, braucht es Begriffe, die aus dem eigenen alltäglichen Kontext stammen, statt aus einem anderen. „Ich plädiere aus diesem Grund für Übertragungen in die eigene Sprachwelt. Da wir hier in diesem Land Macht in der deutschen Sprache verhandeln, wäre es nur angemessen, wenn Neu- und QuerdenkerInnen die Frage der Umverteilung, Teilhabe oder Aufhebung von Machtverhältnissen in eben auch dieser Sprache diskutierten.“ (ebd.: 13)

47

Siehe dazu Sow 2011: 684-686; Sow 2008: 20-25.

81

Block I: Theoretische Grundlagen Zudem kann die Kritik um die Frage ergänzt werden, welche Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland den Begriff People of Color überhaupt kennen und sich mit ihm identifizieren. Hier kommt schnell der Verdacht auf, dass es sich nicht nur um ein Importprodukt handelt, sondern vielmehr um ein Importprodukt im akademischen Raum, der (bisher) nur bestimmten Menschen zugänglich ist. Ein Beispiel der Einführung eines deutschen Begriffs ist die widerständige Aneignung des Begriffs ‚Kanake‘, wie es unter anderem die Aktivist*innen- und Künstler*innengruppe Kanak Attak gemacht haben (vgl. Kanak Attak 1998; Nobrega 2011). Hier wurde ein ursprünglich rassistischer Begriff von Betroffenen angeeignet und als positive Selbstbezeichnung neu umgedeutet. Aber dieser Begriff meint nur eine bestimmte Gruppe von Menschen48, während der People-of-Color-Ansatz, auch wenn er bisher nur in bestimmten Kreisen verbreitet ist, den Vorzug der solidarischen Grenzüberschreitung von Nationen mit sich bringt. Trotz der berechtigten Kritik am PoC-Begriff muss der Begriff meines Erachtens nicht verworfen werden. Vielmehr geht es darum, seine Beschränkungen nicht zu verdrängen, sondern diese in die Praxis zu integrieren, statt von einem widerspruchsfreien Ansatz auszugehen. Besonders kontrovers wird die Frage diskutiert, wer zu ‚den‘ People of Color gehört. Wie jede Form der Identitätspolitik birgt auch dieser Ansatz die Gefahr, neue Leerstellen und Ausschlüsse zu produzieren. Denn wie jede Kategorie produziert auch dieses Konzept Grenzen und Ränder und dadurch Menschen, die eindeutig dazugehören, und Menschen, die sich ‚dazwischen‘ bewegen oder eine ‚uneindeutige‘ Position zugeteilt bekommen. Kien Nghi Ha formuliert recht klar, wen er mit People of Color meint: Der Begriff beziehe sich auf „alle rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, arabische, jüdische, indigene oder pazifische Herkünfte und Hintergründe verfügen“ (Ha 2010a: 83). Jasmin Dean 48

Der Begriff bezeichnet heute Menschen arabischer, persischer, türkischer, kurdischer und südeuropäischer Herkunft.

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Block I: Theoretische Grundlagen (2011) lässt mehr Spielraum für Interpretationen, wenn sie schreibt: „People of Color ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die von rassistischer Unterdrückungserfahrung betroffen sind“ (Dean 2011: 597). Oftmals wird der People-of-Color-Begriff mit der Ergänzung genutzt, dass es sich um Menschen handelt, die in Deutschland (potenziell) alltägliche Rassismuserfahrungen machen. Wer genau im deutschen Kontext als PoC gilt, ist nicht abschließend geklärt. Da der Begriff aus dem US-amerikanischen Diskurs übernommen wurde, befindet er sich in Deutschland in politischen Debatten immer wieder in einem wichtigen und notwendigen Aushandlungsprozess. Hier bleibt zu klären, ob es sich um eine Adaption des Ansatzes aus dem US-amerikanischen Kontext handeln oder ob nach einem spezifischen People-ofColor-Begriff für den deutschen Kontext gesucht werden soll. Für die Frage, wer People of Color sind, hat dies unterschiedliche Konsequenzen. Einigkeit herrscht darüber, dass weiße Menschen, die zur hegemonialen Macht Europas, der USA oder Australien gehören, nicht gemeint sind. Somit werden Menschen mit einem nur schwedischen oder französischen Hintergrund beispielsweise nicht zu People of Color gezählt, denn sie gehören zur Gruppe, die von Rassismus profitiert. In Einladungen für Empowerment-Workshops sind oftmals folgende oder ähnliche Aussagen vorzufinden: „Selbstverständlich dazugehörig sind nicht nur Menschen, die aufgrund ihres Aussehens und ihrer physischen Sichtbarkeit, sondern eben auch aufgrund ihrer Religion, ihrer Herkunft, aber auch ihrer Sprachmöglichkeiten Diskriminierung erfahren.“ (Empowerment-Workshop 2014)

Bei genauerem Hingucken werden hier viele Uneindeutigkeiten erkennbar. Gilt diese Selbstverständlichkeit für alle religiösen Zugehörigkeiten oder nur für den Islam, der als ‚feindlich‘ gegenüber und ‚unvereinbar‘ mit der christlich-abendländischen Religion imaginiert wird? Das Judentum hingegen wird im hegemonialen Diskurs als eine Religion interpretiert, die dem Christentum sehr nahesteht. Gleichzeitig hat

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Block I: Theoretische Grundlagen Deutschland aber eine spezifische Geschichte mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Antisemitismus hat hier einen einzigartigen Stellenwert in Geschichte und Gegenwart. Daher ist die Frage berechtigt, ob aschkenasische Jüd*innen49 auch gemeint sind, wenn von People of Color gesprochen wird. Wenn von einer Diskriminierung nach Herkunft gesprochen wird, welche Herkünfte sind hier genau gemeint? Sind auch Spätaussiedler*innen angesprochen, denen die deutsche Staatsbürgerschaft zugesprochen wurde, die aber, aus osteuropäischen Ländern kommend, aufgrund ihres Akzents Diskriminierungserfahrungen machen? Osteuropäer*innen wurden in Nazideutschland zu ‚slawischen Untermenschen‘ degradiert, um ihr Töten zu rechtfertigen. Gleichzeitig erfahren sie in Deutschland nicht so einen harschen Rassismus, wie Schwarze Menschen oder als Muslim*innen gelesene Menschen. Ein weiteres deutsches Spezifikum ist die starke Anwerbephase der 1960er- und 1970er-Jahre, in der vor allem türkische und italienische Arbeiter*innen nach Deutschland migriert sind. Menschen mit türkischen Hintergründen gehören zu People of Color. Sie werden in der hiesigen Gesellschaft als Andere markiert, weil ihnen zusätzlich eine muslimische Zugehörigkeit zugesprochen wird und sie als nicht-europäisch gelten. Wie ist es jedoch mit Italiener*innen, die bis in die 1980er Jahre noch stark als die Anderen diskriminiert wurden, jedoch durch ihre Nähe zum europäischen Abendland einen Aufstieg in der rassistischen Hierarchie erfahren haben? Was ist grundsätzlich mit Menschen, dessen Eltern aus Ländern einwanderten, die mittlerweile der EU beigetreten sind? In Zeiten der Krise ist Deutschland für Griech*innen, Spanier*innen oder Portugies*innen zu einem Zufluchtsort geworden. Auch diese Menschen erleben hier Diskriminierung, jedoch gehören sie als aner-

49 Als Aschkenasim

bezeichnet man mittel-, nord- und osteuropäische Jüd*innen. Es wird speziell nach dieser Gruppe gefragt, da es zum Beispiel auch Schwarze Jüd*innen gibt.

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Block I: Theoretische Grundlagen kannte Europäer*innen mehr zum imaginären weißen Wir als Menschen, die weder als europäisch noch als christlich-abendländisch gelten. Und soll eine Schwarze Kolumbianerin in einer People-of-ColorCommunity den Raum mit einer Spanierin teilen, die in Deutschland Diskriminierungserfahrungen macht, historisch jedoch zu den größten weißen Kolonialmächten gehört? In der Verhandlung über einen weiten bzw. engeren PoC-Begriff wird auf der einen Seite die Position vertreten, dass Menschen selbst über ihre eigene Benennung entscheiden sollten, anstatt dass dies von außen fremdbestimmt wird. Gerade im Kontext von Rassismus kommt der Selbstbezeichnung und Selbstpositionierung eine besondere Bedeutung zu, da es historisch und aktuell zur kolonial-rassistischen Praxis gehört, Menschen of Color degradierende und beleidigende Namen zu geben. Selbstbezeichnungen sind deshalb nicht nur eine individuelle Praxis, sondern eine antirassistische Politik. Wissend um die Verletzungen durch Fremdbezeichnungen, ist es daher im PoC-Kontext bedeutsam, nicht von außen zu bestimmen, wer sich nun als PoC bezeichnen darf und wer nicht. Hierbei wird darauf vertraut, dass Menschen, die diese Selbstbezeichnung wählen, einen Grund dafür haben, dies zu tun. Hinzu kommt, dass PoC eine politische Selbstbezeichnung und ein gemeinsamer Kampfbegriff ist, der eben nicht um biologistische Merkmale kreist. Stattdessen geht es um erschwerte Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen sowie Erfahrungen, die aufgrund von rassistischen Zuschreibungen erfolgen. Menschen werden nicht als People of Color geboren, sondern in einer rassistischen Gesellschaft zu People of Color gemacht. Es handelt sich also nicht um eine essentialistische Kategorie, sondern um eine politische, die sich Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen aneignen können. Ziel sollte es sein, diese Konstruktionen von Schwarz, weiß und of Color abzuschaffen. Die Frage von PoC oder Nicht-PoC können nicht allein an Schablonen wie Geburtsort, Herkunft, Sprache etc. festgemacht werden, sondern an der Person, die einem gegenübersteht, und an den Fragen, die sie sich bezogen auf ihre Position stellt; ob sie ähnliche Fragen und Gedanken mit anderen PoC 85

Block I: Theoretische Grundlagen teilen kann und ob sich in ihren Narrativen andere PoC wiedererkennen. Es gibt keine klaren Linien, und es wäre ein Fehler zu versuchen, diese herzustellen. Eine eindeutige Definition von PoC ist nicht möglich. Da Rassismen historisch spezifisch und auch flexibel sind, lassen sich Rassismuserfahrungen nicht eindeutig definieren. Ein Beharren auf und eine Schaffung von Identitäten muss immer wieder hinterfragt und verhandelt werden, um nicht die gleichen hierarchisierenden rassistischen Mechanismen der Einteilung und Skalierung zu wiederholen. Der PoCBegriff sollte vielmehr als strategisches Instrument verstanden werden, das sich ebenso wandeln lässt, wie Rassismen es auch ständig tun. Natürlich gibt es dabei Unterschiede im Hinblick darauf, wer warum und wie stark von Diskriminierung betroffen ist. Es ist deshalb wichtig, dass in der PoC-Community diese Unterschiede diskutiert werden, gerade damit verstanden wird, wo Menschen stehen und wie man sich miteinander solidarisieren kann. Rassismus betrifft aktuell Schwarze Menschen, Roma oder Muslima mit Kopftuch auf eine viel harschere Weise als andere Menschen. Jedoch sollte es dabei nicht um einen Konkurrenzkampf gehen, wer die Unterdrückteste innerhalb des rassistischen Systems ist. Gegenseitiges Zuhören und eine Anerkennung der unterschiedlichen Erfahrungen sind Bedingungen für das Aushalten von Differenzen innerhalb einer kollektiven Identität. Auf der anderen Seite wird für einen engen PoC-Begriff in Anlehnung an die US-amerikanische Gebrauchsweise plädiert. Hier wird argumentiert, dass es zwar stimmt, dass Osteuropäer*innen auch rassistischen Konstruktionen ausgesetzt sind, die ihren Höhepunkt in der NS-Zeit erlangt haben, wo sie zu ‚slawischen Untermenschen‘ degradiert und auf dieser Grundlage vertrieben und ermordet wurden. Die deutsche Polenfeindlichkeit ist ein Beispiel dafür, dass Rassismus nicht entlang der Hautfarbe verlaufen muss. Er braucht an sich keine materielle Basis, die durch körperliche Andersheit definiert ist, um Ausgrenzung und Ausbeutung anhand ethnisch-kulturell hergestellter Kategorien zu realisieren (vgl. Ha 2012: 83). Wer weiß ist, ist also Verhandlungssache und abhängig von sozioökonomischen und politischen Interessen. 86

Block I: Theoretische Grundlagen Gleichzeitig galten und gelten Osteuropäer*innen als ‚Europäer*innen zweiter Klasse‘, was ein Distinktionsmerkmal gegenüber Menschen mit afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Bezügen darstellt. Diese Position teilt ihnen einen höheren Stellenwert auf der rassistischen Hierarchieskala zu. Dieses Distinktionsmerkmal wurde historisch immer wieder dazu genutzt, sich durch rassistisches Verhalten in Form von Abgrenzung zu anderen Menschen of Color ein Mehr an weißen Privilegien zu verdienen und sich auf die weiße Seite zu schlagen. Weiße Vorherrschaft ist so angelegt, dass osteuropäische Menschen als kollektive Gruppe sich immer wieder neu entschließen können, das Angebot des ‚Aufstiegs durch Rassismus‘ anzunehmen oder eben nicht. Selbstverständlich beruht dieser Effekt ebenfalls auf dem Teile-undherrsche-Prinzip, aber eben mit dem Unterschied, dass die ‚unteren Ränge‘ weißer Vorherrschaft für die einen durchlässig sind, für die anderen aber nicht. So gehört es zum Schwarzen Erfahrungshintergrund an unterschiedlichen Orten der Welt, dass ein Aufstieg in der Hierarchie für bestimmte Gruppen durch ein ‚Treten nach unten‘ erreicht wird – und zwar durch rassistische Gewalt gegenüber Schwarzen.50 Historisch betrachtet basiert das Aufsteigen von Menschen ‚zweiter Klasse‘ auf einem besonders rassistischen Verhalten gegenüber Schwarzen Menschen (vgl. Wollrad 2005: 73). Im kleineren Ausmaß kommt es auch in PoC-Räumen in Deutschland zu Herabwürdigungen und rassistischen Reproduktionen gegenüber Schwarzen Menschen. Solche Erfahrungen des Rassismus von Menschen in People-of-Color-Zusammenhängen führen dazu, dass Schwarze Menschen sich aus People-of-Color-Räumen zurückziehen, weil sie ihre kollektiven Erfahrungen nicht anerkannt sehen. Denn wenn es um die Akzeptanz von unterschiedlichen Rassismuserfahrungen und den Differenzen geht, dann ist es auf der einen Seite wertvoll, offen zu sein gegenüber den unterschiedlichen Ausprägungen von Diskriminierung. Dies ist auch wünschenswert und 50

Ein Beispiel solch eines Aufstiegs durch rassistische Gewalt gegenüber Schwarzen ist das Beispiel der Ir*innen in den USA, das Eske Wollrad ausführt (vgl. Wollrad 2005: 73-81).

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Block I: Theoretische Grundlagen notwendig, wenn Schwarze über ihre Rassismuserfahrungen innerhalb der Community sprechen. Im Zuge des ‚Aufstiegs‘ im rassistischen System verhalten sich viele Menschen besonders rassistisch gegenüber Schwarzen, weil sie von der Trennung zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Migrant*innen profitieren bzw. diese Trennung sogar bedienen und davon profitieren. Vor diesen Erfahrungshintergründen ist die Skepsis gegenüber eines weiten People-of-Color-Begriffs zu sehen. Kritiker*innen sprechen sich dafür aus, innerhalb der Aushandlungsprozesse um eine PoC-Community auch die unter People of Color vorhandenen Hierarchien dahingehend zu respektieren, dass die Schutzbedürfnisse von denjenigen, die historisch und gegenwärtig harschem Rassismus ausgesetzt sind, in diesen Aushandlungen ein besonderes Gewicht haben. Eine Schwierigkeit der Auseinandersetzung besteht darin, dass es sich nicht um theoretisch-abstrakte Aushandlungen handelt, sondern dass die Positionen zu Fragen um Identität direkt an konkrete, ausschließende und oft schmerzhafte Erfahrungen geknüpft sind. Bei den einen knüpft die Frage von „Gehöre ich dazu oder nicht?“ an verletzenden Erfahrungen von Nicht-Zugehörigkeit und Nicht-Akzeptanz an, die alltäglich durch die rassistische Einteilung in Wir und die Anderen erlebt werden. Sich rechtfertigen zu müssen für rassistische Erfahrungen, ist eine Prozedur, die allzu bekannt ist aus alltäglichen Situationen. Auf der anderen Seite beruhen die Positionen für einen engeren People-ofColor-Begriff ebenfalls auf schmerzhaften rassistischen Erfahrungen von Schwarzen Menschen und Menschen of Color, die nicht nur rassistische Erfahrungen mit der weißen Mehrheitsgesellschaft machen müssen, sondern eben auch in Kontexten von People-of-Color-Räumen, in denen rassistische Muster reproduziert werden. Hier kommt es zu besonders schmerzhaften Erfahrungen, da es sich um vermeintliche Schutzräume handelt. Aufgrund der potenziellen Aufstiegsmöglichkeit innerhalb des rassistischen Systems sind manche Positionierungen nicht zu vergleichen mit einer Schwarzen oder Of-Color-Position aus

88

Block I: Theoretische Grundlagen dem Raum Afrika, Asien oder Lateinamerika. Dass es sich bei der Aushandlung von PoC-Räumen für viele Beteiligte um einen schmerzhaften Prozess handelt, ist ebenso Teil des Musters rassistischer Erfahrungen. Doch dieser Schmerz muss innerhalb von PoC-Kontexten benannt werden, um ihn konstruktiv bearbeiten und um nach gemeinsamen Wegen suchen zu können. Diese beispielhaft ausgewählten Ausführungen verdeutlichen die Komplexität von Zuordnungen allgemein, aber auch im Speziellen in Bezug auf die (Nicht-)Zugehörigkeit zu People of Color. Hierbei wird die Unmöglichkeit deutlich, allgemeingültige Aussagen darüber zu treffen, wer nun zu People of Color gehört und wer nicht.51 Es handelt sich um verschiedene Machtebenen, die miteinander verstrickt und daher komplex werden. Zunächst gibt es die Ebene der Machtverhältnisse in Bezug auf Deutschland und den deutschsprachigen Raum. Hier stellt sich die Frage, wer in Deutschland Rassismuserfahrungen aufgrund dessen macht, dass sie zur Anderen gemacht wird und Ausschlusserfahrungen machen muss. Allein diese Machtverhältnisse eindeutig zu klären, ist nicht einfach. Der People-of-Color-Begriff will jedoch nicht nur auf deutsche Verhältnisse beschränkt bleiben, sondern auch globale (post)koloniale Machtbeziehungen miteinbeziehen. Hinzu kommen also globale Machtbeziehungen und ihre Auswirkungen sowie die spezifische kolonial-rassistische Geschichte der jeweiligen Kontinente und Länder. Zusätzlich herrschen spezifische lokale Machtverstrickungen, die sich je nachdem, an welchem Ort sich jemand bewegt, verändern können. Eine Person of Color kann in Deutschland Rassismuserfahrungen machen, in ihrem Herkunftsland gehört sie jedoch zur privilegierten Dominanzgesellschaft. Außerdem kommen zu den auf biologistischen Kategorien beruhenden Rassismen auch noch kulturell-religiöse Unterscheidungskategorien hinzu, die eine eindeutige Bestimmbarkeit fast verunmöglichen.

51 Ausführlicher

zur Problematik von Identitätskonstruktionen siehe Kapitel I.2.4.

89

Block I: Theoretische Grundlagen Wenn man den Anspruch hat, globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse miteinzubeziehen, wird eine eindeutige Zuordnung von Menschen sehr schwierig.52 Diese Uneindeutigkeit des Konzepts kann als eine Stärke des Ansatzes gelesen werden, denn so kann er je nach Kontext und Zusammensetzung, je nach Zielen des Zusammenkommens und je nach Ansprüchen der Menschen neu bestimmt werden und flexibel bleiben. Eine Schwierigkeit dieses Aushaltens der Uneindeutigkeit besteht darin, dass gerade im Kontext von Rassismus, in dem die Anerkennung von bestimmten Zugehörigkeiten umkämpft ist, das ständige neue Aushandeln von diesen schmerzhaft sein kann. Diese Ausführungen sollten Transparenz bezüglich komplexer und widersprüchlicher Aushandlungsprozesse schaffen und die Brüchigkeit des Konzepts verdeutlichen. Sie sind nicht als ein Indiz für die Unbrauchbarkeit des Konzepts zu lesen, sondern in Anlehnung an Nghi Ha als ein Versuch zu deuten, Ambivalenzen und Brüche nicht zu leugnen, sondern als Bestandteil einer kritischen Praxis zu betrachten (vgl. Ha 2007a: 38). Stuart Hall spricht in diesem Zusammenhang von der Suche nach einer Politik, die darin besteht, Identität in der Differenz zu leben (vgl. Hall 1994: 19; 65). In Deutschland herrscht eine ambivalente Haltung gegenüber Identitätspolitiken vor: Während die Allgegenwärtigkeit nationaler Symbole und die Konstruktion nationalkultureller Semantiken in den wenigsten Fällen als dominante identitätspolitische Projekte problematisiert werden, stößt die identitätspolitische Artikulation antirassistischer Kritik sowohl in der politischen Sphäre als auch in der Migrationssoziologie auf Skepsis (vgl. Ha 2014). Nghi Ha, der den People-of-Color-Ansatz in Deutschland stark macht, führt aus, dass postmigrantische, postkoloniale und antirassistische Formen der Identitätspolitik – im Gegensatz zu Gewerkschaften und Frauenorganisationen, die inzwischen nicht mehr grundsätzlich infrage gestellt werden – einen

52 An

dieser Stelle soll angemerkt werden, dass sich hier nur auf die Kategorien Rasse und Religion bezogen wurde. Eine Einteilung würde sich weiter verkomplizieren, wenn noch weitere Kategorien wie Gender und Class hinzukommen.

90

Block I: Theoretische Grundlagen erstaunlich schlechten Ruf haben. Wenn rassistisch diskriminierte Personen eigenständige Organisationen gründen, kommt rasch der Verdacht der kulturellen Abschottung in parallelgesellschaftlichen Nischen auf: „Nicht selten wird auch der Vorwurf erhoben, dass diese Politik auf regressiven Formen der kulturellen Identität beruhe und in der modernen, gleichberechtigten und liberalen Gesellschaft anachronistisch sei. Identitätspolitik ist aber zunächst nichts anderes als eine gewöhnliche Form der demokratischen Partizipation. Sie organisiert und mobilisiert politisch-kulturelle Interessenvertretung, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe basiert.“ (ebd.)

Im Folgenden soll diese Frage der Identitätspolitik diskutiert und in Bezug auf den People-of-Color-Ansatz mit theoretischen Überlegungen ergänzt werden.

2.4

THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN: ZUM KONZEPT DER KOLLEKTIVEN IDENTITÄT UND DER FRAGE DER ESSENTIALISIERUNG

Das Arbeiten mit Analyseinstrumenten wie Schwarz und weiß bzw. strategischen Bündnisbegriffen wie ‚People of Color‘ läuft unweigerlich Gefahr, ein binäres Kategoriendenken zu reproduzieren und soziale Konstruktionen kollektiver Identitäten zu essentialisieren. Sowohl im feministischen als auch im postkolonialen Diskurs wird der Widerspruch zwischen der Strategie von Kategorisierungen bzw. Repräsentationen auf der einen sowie der Dekonstruktion von Identitäten bzw. Kategorien auf der anderen Seite viel diskutiert.53 Auch diese Dissertationsarbeit mit dem Fokus auf die konstruierte Gruppe ‚People of Color‘ bzw. ‚Menschen mit Rassismuserfahrungen‘ bewegt sich innerhalb dieses Spannungsverhältnisses. Deshalb soll dieses Verhältnis im Folgenden mit theoretischen Überlegungen reflektiert werden. 53

Dieses Spannungsverhältnis wird innerhalb der feministischen und postkolonialen Diskurse seit den 1990er Jahren verhandelt. Für den Diskurs in den postkolonialen Studien siehe Castro Varela/Dhawan 2005; Broden/Mecheril 2007; Ha 2007a.

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Block I: Theoretische Grundlagen In der Kritik am essentialisierenden Charakter von Kategorien kam es in den 1990er Jahren zu einem internationalen Paradigmenwechsel und zu einer dekonstruktivistischen Denkweise, die vor allem durch Judith Butlers Kritik an feministischen Diskursen mit ihren festschreibenden Identitäten angestoßen wurden (vgl. Butler 1991). Das Bestreben der gänzlichen Repräsentation des ‚Weiblichen‘ in gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen schafft ein kollektives Subjekt mit einer zugehörigen fixierten Identität. Dabei werden zum einen Ambivalenzen innerhalb einer Identität ignoriert, und zum anderen wird verkannt, dass die Kategorie ‚Frau‘, das Subjekt des Feminismus, selbst eine Konstruktion der Machtstrukturen ist, die bekämpft werden sollen (vgl. ebd.: 17). Gleichzeitig geht mit der Benutzung von Sprache nach einem dekonstruktivistischen Verständnis einher, dass es nicht denkbar ist, sich Kategorisierungen zu entziehen bzw. zu verweigern. Ein Verlassen des kategorialen Paradigmas ist nicht möglich; alternative Denkweisen fallen letztlich immer wieder in Kategorisierungen zurück und reproduzieren das, was sie kritisieren. Es existiert kein Außen, kein Jenseits von Kategorien. Eine wissenschaftliche oder politische Analyse und Denkweise scheint dementsprechend nicht möglich, ohne zu kategorisieren und zu essentialisieren (vgl. Spivak 2008). Auch in den Cultural Studies (vgl. Hall 1994) und in den Postcolonial Studies (vgl. Spivak 1993) wird ein Umgang mit Essentialisierungen von widerständigen Identitäten diskutiert. In meinen weiteren Ausführungen beziehe ich mich auf die theoretischen Ausführungen zur ‚kollektiven Identität‘ von Stuart Hall und Gayatri Spivaks ‚strategischem Essentialismus‘, da ihre Konzepte das People-of-Color Konzept theoretisch untermauern und kritisch ergänzen. Einer der bekanntesten Wissenschaftler in den Cultural Studies, Stuart Hall, beschäftigte sich intensiv mit der Frage von kollektiven Identitäten und Repräsentationen. Er suchte nach Alternativen zwischen dem oben ausgeführten Spannungsfeld, das oftmals als ein binäres ‚Entweder-oder‘ beschrieben wird. Hall betont, dass Kategorien durch ihre naturalisierende Wirkung zwar einen Gewaltcharakter haben, sie schaffen 92

Block I: Theoretische Grundlagen jedoch auch die Möglichkeit zur Repräsentation – einer Repräsentation, die natürlich selbst nicht widerspruchsfrei bleibt. Kategorien – hier speziell die kulturelle Identität als eine wichtige konstruierte Kategorie – bieten die Möglichkeit zur Benennung und Sichtbarmachung von Herrschaftsverhältnissen und damit den Raum für politischen Widerstand. Auf seiner Suche nach solch einer angemessenen „neuen Politik der Repräsentation“ (Hall 1994: 19) unterscheidet Hall schematisch zwei Formen der widerständigen kulturellen Identität.54 Die erste Form von kultureller Identität ist eine, die im Sinne einer gemeinsamen Kultur und einem gemeinsamen Kern gedacht ist und von einem „kollektiven einzig wahren Selbst [ausgeht], das hinter vielen oberflächlichen oder künstlich auferlegten ‚Selbsten‘ verborgen ist“ (ebd.: 27). Diese gemeinsame Einheit, die allen anderen oberflächlichen Differenzen zugrunde liegt, wird als die Wahrheit oder das Wesen der Erfahrung verstanden. Auch wenn diese Gegenidentifikationen dem herrschenden Repräsentationsregime in der Umkehrung verhaftet bleibt – gegen das wesenhafte weiße Subjekt der Herrschaft ein wesenhaft Schwarzes entgegensetzen – ist die Bedeutung dieser wichtigen sozialen Bewegungen des Antirassismus und Antikolonialismus nicht zu unterschätzen. Der Begriff Schwarz zum Beispiel wurde für sehr unterschiedliche Gruppen, Geschichten und Traditionen zum Bezugspunkt für gemeinsame Erfahrungen von Rassismus und bildete eine gemeinsame Identität über ethnische und kulturelle Differenzen hinweg (vgl. ebd.: 15). Schwarz wurde zu einer organisierenden Kategorie für eine neue Politik des Widerstands, in der es um eine strukturelle Veränderung von Repräsentationsverhältnissen ging und in der entgegen einer Stereotypisierung positive Schwarze Bilder erkämpft wurden (vgl. ebd.: 17-18). Dabei ging es um eine „Wieder-Erzählung der Vergangenheit“ (ebd.: 27) und eine „imaginäre Widerentdeckung“ (ebd.) dessen, was die koloniale Erfahrung begraben hat. Ein derartiges Konzept 54

Wie eine solche kulturelle Identität aussehen könnte, konkretisiert Hall am Beispiel der Schwarzen Diaspora, indem er Kontinuitäten und Differenzlinien aufzeigt (vgl. Hall 1994).

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Block I: Theoretische Grundlagen der kulturellen Identität spielte in vielen postkolonialen Kämpfen und anderen sozialen Bewegungen eine entscheidende Rolle und war eine wichtige Kraft innerhalb vieler feministischer und antirassistischer Widerstandskämpfe. Den dekonstruktivistischen Paradigmenwechsel bezeichnet Hall als eine Verschiebung vom „Kampf um Repräsentationsverhältnisse“ zur „Politik der Repräsentationen selbst“ (ebd.: 17). Es kommt zu einem „Ende der Unschuld“ (ebd.: 18), das Ende einer unantastbaren Vorstellung vom wesenhaften guten Schwarzen Subjekt, und das Erkennen, dass Schwarz eine wesentlich politische und kulturell konstruierte Kategorie ist. Damit kann Politik nicht mehr nur nach einer Strategie der Umkehrung funktionieren. Die zweite Form der kulturellen Identität, die Hall stark macht, ist genau aus dieser Verschiebung zu verstehen. Sie erkennt neben dem, „was wir wirklich sind“, oder besser „was wir geworden sind“, neben den vielen Ähnlichkeiten auch die entscheidenden Punkte der Differenz innerhalb einer kollektiven Identität an (vgl. ebd.: 19). „Statt Identität als eine vollendete Tatsache zu begreifen, die erst danach durch neue kulturelle Praktiken repräsentiert wird, sollten wir uns Identität vielleicht als eine ‚Produktion‘ vorstellen, die niemals vollendet, sich immer im Prozess befindet und immer innerhalb – und nicht außerhalb – der Repräsentation konstituiert wird.“ ( ebd.: 26)

Es ist nicht von einer wesenhaften kulturellen Identität auszugehen, die bloß darauf wartet, ‚entdeckt‘ zu werden, und wenn sie ‚entdeckt‘ wurde, unser Bewusstsein für immer abzusichern. Stattdessen ist Identität in einem ständigen Prozess der Produktion. Wenn Identität als sich im Prozess befindend begriffen wird, ist sie nichts Fertiges mit einem ‚Kern‘ und daher auch nicht einfach so unabhängig vom Kontext existent. Sie ist also nicht essentiell, sondern im Produktionsprozess in Abhängigkeit von den strukturellen Verhältnissen zu verstehen. Identitäten gehören also ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit und unterliegen wie alles Historische ständiger Veränderung. Sie sind deshalb alles

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Block I: Theoretische Grundlagen andere als eine für immer fixierte wesenhafte Vergangenheit, stattdessen sind sie „dem permanenten Spiel von Geschichte, Kultur und Macht unterworfen“ (ebd.: 29). Nur mit dieser Sichtweise auf Identität als unvollendet und kontextgebunden ist es möglich55, den traumatischen Charakter der kolonialen Erfahrung zu verstehen. Die Effekte der gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung sind nicht nur die Unterscheidung zwischen einem Wir und den Anderen, sondern vielmehr die Verinnerlichung des eigenen Selbst als Andere. Es gibt also kein Subjekt außerhalb der Verhältnisse, ebenso wenig wie einen kulturellen Determinismus. Hall fasst es folgendermaßen zusammen: „In dieser Perspektive ist kulturelle Identität alles andere als ein fixiertes Wesen, das unveränderlich außerhalb von Geschichte und Kultur läge. Sie ist nicht irgendein in uns vorhandener universeller und transzendentaler Geist, in dem die Geschichte keine grundlegenden Spuren hinterlassen hat. Sie ist nicht ein für allemal festgelegt. Sie ist kein fixierter Ursprung, zu dem es irgendeine letzte und absolute Rückkehr geben könnte.“ (ebd.: 30)

Identitäten sind also nicht ein wahrer, fixer Punkt, unveränderlich und außerhalb von gesellschaftlichen Verhältnissen stehend. Aber Identität ist nicht nur ein „bloßes Trugbild. Sie ist etwas Reales“ (ebd.). Nur weil sie ständiger Veränderung und Transformation ausgesetzt ist, macht es sie keinesfalls zu etwas Imaginärem, denn Geschichten haben sehr wohl reale, materielle und politische Effekte. „Vergangenheit spricht weiterhin zu uns. [Jedoch] spricht sie zu uns nicht als einfache faktische ‚Vergangenheit‘. Sie wird immer durch Erinnerung, Phantasie, Erzählungen und Mythen konstruiert“ (ebd.). Daher sind Identitäten niemals einheitlich und homogen, und vor allem in der Postmoderne auch zunehmend als fragmentiert zu betrachten. Es ist nicht möglich, über Erfahrung und 55

Halls Verständnis von kultureller Identität bezieht sich auf Jacques Derridas Konzept der ‚Différance‘ (vgl. Derrida 1972). Derrida betrachtet Sprache als ein Differenzsystem, wobei er den Begriff ‚Differenz‘ in ein Spannungsverhältnis zwischen ‚unterscheiden‘ und ‚aufschieben‘ setzt. So wird Bedeutung nie als etwas Abschließbares, sondern stets als vorläufiger und offener Prozess betrachtet, der durch das Spiel der Signifikation immer aufgeschoben wird.

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Block I: Theoretische Grundlagen Identität zu reden, ohne dabei Brüche und Diskontinuitäten zu benennen: „Kulturelle Identitäten sind die instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden. Kein Wesen, sondern eine Positionierung, für die es keine absolute Garantie eines unproblematischen, transzendentalen ‚Gesetz des Ursprungs‘ gibt.“ (ebd.)

Dementsprechend definiert Hall kulturelle Identität als ständige, diskursive Neupositionierung, die sich in Abgrenzung zu anderen Identitäten entwickelt und immer nur kontextuell und zeitlich begrenzt verstanden werden kann (vgl. ebd.: 33-34). Der People-of-Color-Ansatz ist ein Versuch, an ebendieser zweiten Form von kultureller Identität nach Hall anzuknüpfen. Hier geht es darum, gemeinsam mit der Kategorie ‚als Rassismuserfahrene in Deutschland‘ aufzutreten und damit zu einer Sichtbarmachung von Rassismus als alltägliches Phänomen beizutragen – über die konventionellen Grenzen von Nationalität und Ethnie hinaus. Dabei geht es um die Suche nach Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen und um eine gegenseitige Stärkung darin, indem Verbindungen wiederendeckt und geschaffene Grenzen überwunden werden. Gleichzeitig steht die Anerkennung von Differenzen als Herausforderung im Zentrum. Es gibt nichts Wesenhaftes an der Kategorie People of Color, stattdessen gibt es eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Gegenwart, welche die gemeinsamen Erfahrungen in Deutschland darstellen. Genauso gibt es viele Erfahrungen, die sich stark voneinander unterscheiden. Es ist also unverzichtbar, ein selbstreflexives Wissen über Identitätspolitik herzustellen und die politischen Prozesse der Identifikation bezüglich interner Ausschlüsse und dominanter Perspektiven zu hinterfragen. Dazu gehört das Bewusstsein, dass politische Identifikationsprozesse intersektional zwischen unterschiedlichen Zugehörigkeiten, Positionalitäten und Loyalitäten vermitteln müssen. Sie sind wie Solidarisierungen an Bedingungen gebunden, die immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.

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Block I: Theoretische Grundlagen Beim People-of-Color-Konzept geht es um „eine Politik, die wirkungsvoll politische Grenzlinien zieht, ohne welche die politische Auseinandersetzung unmöglich ist, aber dabei die Grenzen nicht verewigt“ (ebd.: 19). Solch eine Betrachtung von Identität kann als eine Drohung, als ein Verlust der Identitätskategorie gelesen werden, weil ein geschlossenes politisches Weltbild zerstört wird. Es macht es nicht viel leichter, sich vorzustellen, wie eine Politik entwickelt werden kann, die mit den Unterschieden und durch sie arbeitet und die imstande ist, Formen von Solidarität und Identifikation aufzubauen, ohne jedoch die reale Heterogenität der Identitäten zu unterdrücken. Es kann aber auch als Erleichterung wahrgenommen werden, dass nicht alle Menschen, die Rassismuserfahrungen machen ‚gut‘ sein müssen, und vor allem, dass nicht alle gleich sein müssen. Denn dies ist eine der Kernaussagen des Rassismus selbst, dass man Unterschiede nicht erkennen kann, „weil alle so gleich sind“ (ebd.). Auch Gayatri Chakravorty Spivak, oftmals als postkoloniale, feministisch-marxistische und dekonstruktivistische Wissenschaftlerin bezeichnet (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 153), arbeitet zu der Frage, wie sich die Subalternen56 emanzipieren, das heißt zu einem eigenständigen und repräsentierten politischen Subjekt werden können. Sie stellt fest, dass wir viel von einer Essentialismuskritik lernen können, doch dass damit nicht ein politisches Programm zu schreiben sei. Im Diskursiven nicht zu essentialisieren ist aus einem kritisch-dekonstruktivistischem Bewusstsein nicht möglich. Denn die Sprache, die aus Mangel an Alternativen gebraucht wird, um zu kritisieren, ist zugleich die Sprache, die kritisiert wird. Es kann dabei nichts außerhalb der eigenen Sprache dekonstruiert werden, weshalb eine dekonstruktivistische Kritik am Essentialismus nicht die Enthüllung eines Fehlers – weder ein 56

Subalterne sind nicht marginalisierte Positionen per se, sondern heterogene Subjektpositionen, die innerhalb präkolonialer und kolonialer Strukturen – und auch durch die nationalistische Bourgeoisie nach der Unabhängigkeit – in unterschiedlicher Weise ausgebeutet und unterdrückt worden sind (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 71).

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Block I: Theoretische Grundlagen eigener noch einer der anderen – darstellt, sondern die Anerkennung von etwas Gefährlichem, was man nicht nutzen kann (vgl. Spivak 2008: 5). Zudem ist es nicht denkbar, auf einer anti-essentialistischen Haltung ein politisches Programm oder eine entsprechende Praxis zu gründen. Eine vollständige Verwerfung der Kategorie ‚Identität‘ zum jetzigen Zeitpunkt der gesellschaftlichen und weltweiten Dominanzverhältnisse kann kein angemessener und befreiender Weg sein. Denn politisches Interesse setzt eine Identität voraus, aus der heraus gesprochen und widersprochen werden kann. Deshalb wählt Spivak als eine Art des Umgangs eine strategische Betrachtungsweise auf Essentialismus (vgl. Spivak 1996) und führt als vorläufige Lösung des Problems ihr Konzept des ‚strategischen Essentialismus‘ ein, worin sie sich mit der Frage beschäftigt, welche strategischen Repräsentationsarten möglich sind (vgl. ebd.: 159). Hier betrachtet Spivak essentialistische Beschreibungen und Kategorisierungen nicht als Wesensart von Dingen, sondern als etwas, was man gezielt einsetzen, billigen und sich aneignen muss, um Kritik an Verhältnissen formulieren zu können. Obwohl sie eine Vertreterin des radikalen Konstruktivismus ist, betont sie, dass – zeitweise und aus strategischen Gesichtspunkten – soziale Gruppen oder kollektive Identitäten durchaus von Bedeutung für Emanzipationsprozesse sein können. Dabei problematisiert sie den eurozentristischen Blickwinkel vieler postmoderner Ansätze der Dekonstruktion, die ein überhebliches und vernichtendes Urteil gegenüber den Kämpfen vieler sozialer Bewegungen aussprechen. Strategischer Essentialismus ist ein Ansatz, der einer Politik der Anerkennung zur Verfügung steht, auch wenn sie nicht mehr von einem Modell der Authentizität ausgehen will. Allerdings weist Spivak immer wieder auf die Notwendigkeit von Dekonstruktion und Problematisierung von Essentialisierungen und ihren gefährlichen Auswirkungen hin. Es gilt, wachsam hinsichtlich der eigenen (Sprech)Handlungen zu werden und diese bewusst als Strategie zu verwenden,

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Block I: Theoretische Grundlagen statt sie in kontraproduktiver Geste zu verleugnen.57 Eine Kritik am möglichen fetischisierenden Charakter essentialisierender Identitäten muss ständig betrieben werden, auch wenn es kontraproduktiv erscheinen mag. Wird diese Kritik nicht betrieben, verwandelt sich die Strategie in das, was man versucht, aus dekonstruktivistischer Perspektive zu vermeiden. Spivak warnt davor, dass ein vermeintlich strategischer Gebrauch von Essentialismus als Alibi für das verwendet wird, was eigentlich als missionierender Essentialismus verstanden wird. Dies geschieht in ihren Augen insbesondere dann, wenn temporär sinnvolle Strategien als universelle Theorien gelehrt werden (vgl. Spivak 1993: 4) und in unpassender Weise auf (personelle) Kontexte übertragen werden. Demzufolge gilt es beim Inbetrachtziehen einer Strategie zu reflektieren, wie und wo Gruppen, Einzelpersonen oder Bewegungen situiert sind. In diesem Sinne bilden Strategien, wie Spivak (1993) dezidiert betont, keine Theorien, die übergeordnet anwendbar sind, stattdessen sind sie als situationsabhängig bzw. -spezifisch zu verstehen. So kann das People-of-Color-Konzept als eine widerständige kulturelle Identität betrachtet werden, die sich ihrer Grenzen, Brüche und Differenzen bewusst ist und sich als ein vorläufiger strategischer Essentialismus versteht, der gezielt rassistische Verhältnisse in Deutschland thematisieren möchte und diese zu verändern sucht – in Richtung eines würdigeren und freieren Lebens.

57

Besonders weist sie hierbei hin auf die Bedeutung der eigenen Wachsamkeit bzw. Reflexivität beim strategischen Gebrauch von Essenzen als mobilisierende Parolen oder Schlagwörter/ ‚masterwords‘ (vgl. Spivak 1993).

99

3

DAS KONZEPT EMPOWERMENT IN DER BILDUNGSARBEIT „Ja, wir singen unsere eigenen Lieder und wir singen sie laut…“ (Tank 2013: 13)

Welche Plätze werden uns im Wirken von Rassismus zugeordnet? Was macht diese Zuordnung mit uns und was machen wir mit ihr? People of Color (PoC) machen in der deutschen Gesellschaft, die durch rassistische Machtstrukturen und Ausgrenzungspraxen gekennzeichnet ist, andere Erfahrungen und nehmen eine andere Perspektive ein als Angehörige der weißen Dominanzkultur. Mit dem Ausdruck ‚Rassismus bildet‘ (Broden/Mecheril 2010a) wurde im vorherigen Kapitel deutlich gemacht, dass die Art und Weise, wie wir gesellschaftlich positioniert sind bzw. positioniert werden, unser Leben stark bestimmt. Strukturell werden Menschen of Color benachteiligt – sowohl auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt als auch auf der Bildungsebene (vgl. z. B. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013). Individuell wie auch kollektiv gehört Rassismus für viele People of Color körperlich wie auch seelisch zum normalen Alltag in Deutschland.58 Diese Art der Unterdrückung und Verletzung der menschlichen Würde wird von den Betroffenen in subtiler wie auch offener Form in allen von der Mehrheitsgesellschaft dominierten gesellschaftlichen Zusammenhängen permanent erlebt. Otheringprozesse führen zudem zur Verinnerlichung der eigenen Position als Andere bzw. Objekte (vgl. Hall 1994; Kilomba 2010). Rassistische Diskriminierung manifestiert sich somit für PoC als ein Phänomen kollektiver Unterdrückungs- und Gewalterfahrung (vgl. Can 2011a: 245). Die Allgegenwärtigkeit von Rassismus und die ihm innewohnende Gewalt haben also nicht nur direkte Auswirkungen auf die gesellschaftliche Positionierung, sondern auch auf das Selbstwertgefühl und die Persönlichkeitsentwicklung von People of Color. Die wenigen Studien in

58

Mehr zu den Auswirkungen von Rassismus für People of Color in Kapitel II.3.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mohseni, Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen,, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31005-9_3

Block I: Theoretische Grundlagen Deutschland zum Zusammenhang von Rassismuserfahrungen und psychischer Belastung zeigen, dass Diskriminierung und eine schwierige soziale Lage die Gesundheit belasten und die Vulnerabilität in Beziehungen erhöhen kann (vgl. Velho 2011: 14-17). Gleichzeitig bedeutet Rassismus aus PoC-Perspektive nicht nur eine Unterdrückungserfahrung, sondern ebenso alltäglicher Widerstand und die Entwicklung von vielfältigen Strategien im Umgang mit diesen Erfahrungen. Der Begriff Empowerment steht vor allem in der Tradition von antirassistischen Befreiungsbewegungen in den USA, aber auch in Deutschland. Das hierin enthaltene Konzept von Befreiung beruht auf der Organisierung von Kämpfen gegen rassistische Gesellschaftsstrukturen. Empowerment in der Bildungsarbeit knüpft an diese Ideen des Widerstands gegen Rassismus an. Hier geht es darum, gemeinsam eine Sprache für das zu finden, was People of Color oftmals sprachlos macht. Es beschreibt Prozesse der Selbstermächtigung, in denen Menschen, die gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren, sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden und aus ihren ohnmächtigen Positionen heraustreten (vgl. Can 2011b: 587). Dabei geht es darum, die „seelische Widerstandskraft“ (Madubuko 2015) zu mobilisieren, sich der individuellen und kollektiven Ressourcen bewusst zu werden sowie diese (politisch) zu nutzen. Empowerment ist ein Prozess, der einsetzt „as one comes to understand how structures of domination work in one’s own life, as one develops critical thinking and critical consciousness, as one invents new, alternative habits of being and resists from that marginal place of difference inwardly defined.“ (hooks 1990b: 15)

Empowerment-Ansätze können in rassistisch strukturierten gesellschaftlichen Zusammenhängen als Instrumente vielschichtiger Befreiungsprozesse dienen. Sie sind Teil eines politischen Konzepts, das die Vision einer gerechten Gesellschaft verfolgt (vgl. Fleary 2011: 11). In Deutschland haben sich seit den 1990er Jahren im Rahmen von aktivistisch-politischen Netzwerken von People of Color verschiedene Orte 101

Block I: Theoretische Grundlagen für die Entwicklung neuer Impulse in der Empowerment-Arbeit herausgebildet (vgl. Yiligin 2010: 108). Auf lokaler, bundesweiter wie auch virtueller Ebene sind mittlerweile zahlreiche Projekte, Initiativen, Bündnisse und Netzwerke entstanden, die mit dem Empowerment-Ansatz in geschützten Räumen59 arbeiten. Von politischen Gruppen und Netzwerken über künstlerisch-aktivistische und pädagogische Initiativen bis hin zu akademischen Zusammenschlüssen sind seit den 1990er Jahren Zusammenhänge vorzufinden, die unter der Bezeichnung Empowerment von People of Color zusammenkommen. Die vorliegende Dissertationsarbeit beschäftigt sich theoretisch wie empirisch mit den seit jüngster Zeit vermehrt stattfindenden Empowerment-Workshops, die speziell von Trainer*innen of Color für People of Color im außerschulischen Bildungsbereich angeboten werden. Bevor es im weiteren Verlauf zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Rassismus und Empowerment kommt, sollen im folgenden Kapitel die Grundlagen von Empowerment in der Bildungsarbeit vorgestellt und kontextualisiert werden. Wie Halil Can, einer der wenigen Forscher, der zu EmpowermentWorkshops veröffentlicht, ausführt, geht es bei dem Konzept Empowerment weniger um ein konkret fundiertes theoretisches Konzept als vielmehr um „eine philosophische, weltanschauliche und politische Grundhaltung und Lebenspraxis“ (Can 2013: 8). Ein offener Empowerment-Begriff bietet die Chance, dass unterschiedliche Gruppen ihn für sich selbst mit spezifischen Inhalten füllen können. Gleichzeitig birgt der sehr weit und offen gefasste Begriff die Gefahr einer inhaltlichen Beliebigkeit. Um dem entgegenzuwirken, wird in diesem Kapitel das hier zu Grunde liegende Empowerment-Konzept präzisiert. In Deutschland ist Empowerment breitgefächert und wird in sehr unterschiedlichen Bereichen mit unterschiedlichen Zielen eingesetzt (Kapitel I.3.1). Dieser Empowerment-Landschaft widme ich mich in Kapitel I.3.1.1 und diskutiere die inneren Auseinandersetzungen kritisch. In 59

Hier sind Räume gemeint, die nur für People of Color zugänglich sind. Auf das Verständnis von ‚safer space‘ komme ich an anderer Stelle genauer zu sprechen.

102

Block I: Theoretische Grundlagen Kapitel I.3.1.2 beschreibe ich Empowerment-Workshops aus PoC-Perspektive und setze sie in ihren Entstehungskontext. Empowerment aus PoC-Perspektive steht in einer langen Tradition von weltweiten Befreiungskämpfen gegen rassistische und koloniale Zustände und wird in Deutschland vor allem in der Tradition von Schwarzen feministischen Kämpfen gesehen (Kapitel I.3.2.1). In der Bildungsarbeit wurde der Begriff von der US-amerikanischen Wissenschaftlerin Barbara Solomon geprägt, die die Idee des Empowerments für die Soziale Arbeit mit einem klaren Bezug zu den antirassistischen Schwarzen Bürgerrechtsbewegungen übertragen hat (Kapitel I.3.2.2).60 Zwar geht es in Kapitel I.3.2.3 nicht um direkte Traditionslinien, doch um eine Schärfung des Begriffs und eine weitere theoretische Verortung von Empowerment. In diesem Kapitel wird der Zusammenhang von kritischer politischer Bildung und Empowerment hergestellt, indem die theoretischen Bezüge beider Ansätze deutlich gemacht werden. Im letzten Kapitel I.3.3 werden die in anderen Kapiteln schon angeklungenen Herausforderungen, Gefahren und Chancen von Empowerment aufgegriffen und weitergedacht. Insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob es sich bei Empowerment um ästhetische Korrekturmaßnahmen, individuelle Selbstermächtigung oder um einen Beitrag zur gesellschaftspolitischen Veränderung handelt.

3.1

DIE

UNTERSCHIEDLICHEN ZEPTE IN DEUTSCHLAND

EMPOWERMENT-KON-

Wörtlich aus dem Englischen übersetzt heißt ‚Empowerment’ Befähigung/Ermächtigung bzw. Selbstbefähigung/Selbstermächtigung. Das darin enthaltene Wort ‚power’, wird u. a. mit Macht, Kraft bzw. Fähigkeit übersetzt. Das Suffix ‚-ment’ macht aus dem Verb ‚to empower’ wieder ein Substantiv. Das Präfix ‚-em’ weist darauf hin, dass es sich um einen Prozess handelt. Doch kann ‚to be empowered’ auch „als 60

In Deutschland knüpft Empowerment-Arbeit an das wissenschaftliche Feld der Rassismuskritik in Erweiterung an die Interkulturelle Pädagogik an.

103

Block I: Theoretische Grundlagen Seinszustand verstanden werden, quasi als Produkt eines Prozesses“ (Pankofer 2000b: 8). Die Empowerment-Trainerin Eleonore Wiedenroth-Coulibaly plädiert dafür, ein deutschsprachiges Synonym für Empowerment zu finden. Da „wir hier in diesem Land Macht in der deutschen Sprache verhandeln, wäre es nur angemessen, wenn [...] die Frage der Umverteilung, Teilhabe oder Aufhebung von Machtverhältnissen eben auch in dieser Sprache“ (Wiedenroth-Coulibaly 2006: 12) diskutiert würde. Es besteht die Gefahr, dass die Begriffe verpulvert werden, wenn sie nicht aus der eigenen Sprache kommen, oft nicht tiefgreifend „Wurzeln schlagen“ (ebd.) können. Eine passende Übersetzung ins Deutsche ist jedoch nicht einfach, da power im Englischen mehr als nur Macht, nämlich auch produktive Kraft bedeutet, die im Begriff Macht nicht zur Geltung kommt. Gleichzeitig gibt es ein Problem mit dem Begriff ‚Ermächtigung‘, wie die meisten Wörterbücher Empowerment übersetzen (vgl. Can 2011b: 587). Er erweckt in seiner Übersetzung Assoziationen zum Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten von 1933. WiedenrothCoulibaly zustimmend, fehlt mir eine überzeugende Übersetzung, deshalb nutze ich den englischen Begriff – aber wie im vorherigen Kapitel ausgeführt, erachte ich die Auseinandersetzung nach diskriminierungsfreien Begriffen als eine Suchbewegung, die prozesshaft ist. Genauso verhält es sich mit dem Empowerment-Konzept. Empowerment ist kein Zustand, sondern ein Prozess ohne klare Grenzen. „We decided early in our discussions that empowerment was a complex, multidimensional concept, and that it described a process rather than an event“ (Chamberlin 1999). Der Begriff Empowerment ist in Deutschland seit den 1990er Jahren in verschiedenen Bereichen vorzufinden, die ein sehr unterschiedliches Verständnis des Begriffs aufweisen. Nicht nur emanzipatorische Organisationen und politische Initiativen berufen sich darauf (Kapitel I.3.2), sondern ebenso der betriebswirtschaftliche Managementbereich. Er ist genauso in verschiedenen Praxisfeldern der Sozialen Arbeit (vgl. Stark

104

Block I: Theoretische Grundlagen 1996; Herriger 2006) vorzufinden, wie er seinen festen Platz in der Gesundheitsförderung (vgl. Pflaumer 2000; Sambale 2005) und der Gemeindepsychologie (vgl. Kunf et al. 2006) hat. Empowerment wird wahlweise als eine weitere Methode, als ein Handlungsansatz, eine Haltung, eine Perspektive, eine Ideologie, ein Prozess, eine Denkfolie sowie als ein Konzept beschrieben. Es kann vieles bedeuten und damit sehr unterschiedlich interpretiert werden. Deshalb gibt es im folgenden Kapitel einen Überblick über die Bereiche, in denen mit dem Konzept Empowerment gearbeitet wird (Kapitel I.3.1.1), um in einem nächsten Schritt auf Empowerment-Workshops aus der People-of-Color-Perspektive einzugehen (Kapitel I.3.2.1).

3.1.1

DIE EMPOWERMENT -LANDSCHAFT WER NUTZT DAS KONZEPT WIE?

IN

DEUTSCHLAND:

Nach Deutschland kam der Begriff des Empowerments erst Anfang der 1990er Jahre mit den Arbeiten von Norbert Herriger (1997), Wolfgang Stark (1996) und Heiner Keupp (1997), die aus dem psychosozialen Bereich, dem Gesundheitswesen sowie aus der Sozialen Arbeit und dem Heilpädagogischen Fach stammen. Vor allem das Empowerment-Konzept aus der Sozialen Arbeit von Herriger ist bekannt und vielzitiert.61 Herriger definiert Empowerment als das „Anstiften zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebens“ (Herriger 2006: 8). Dabei gehe es um ein „Mehr an Selbstbefähigung und Selbstbestimmung“ (ebd.: 12). Herriger unterscheidet Empowerment analytisch auf mehreren Ebenen, die für eine klare Differenzierung und Standortbestimmung sinnvoll erscheinen. Die erste Dimension der Unterscheidung basiert auf unterschiedlichen Zielvorstellungen, die entweder politisch oder lebensweltorientiert sind. Auf der einen Seite wird der politische Anspruch von Empowerment betont. Demnach ist Empowerment auf die Veränderung 61

Für die vorliegende Arbeit im Bereich der rassismuskritischen Bildungsarbeit ist dieses Empowerment-Verständnis außerdem von Interesse, da es der Bildungsarbeit nahesteht.

105

Block I: Theoretische Grundlagen gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtet. Ziel ist es dabei, Machtasymmetrien zwischen gesellschaftlichen Gruppen abzubauen. Auf der anderen Seite steht ein lebensweltorientiertes Verständnis von Empowerment. Hier wird das Individuum fokussiert, das dazu befähigt werden soll, den Alltag aus eigener Kraft zu bewältigen (vgl. ebd.: 14-15). Die zweite Dimension ist die Unterscheidung zwischen einem reflexiven und einem transitiven Verständnis. Ein reflexives Verständnis bedeutet, dass der Prozess des Empowerments von den Betroffenen selbst initiiert und bestimmt wird. Ein solches Verständnis findet sich zum Beispiel in sozialen Bewegungen oder Selbsthilfegruppen. Ein transitives Verständnis hingegen sieht im Empowerment eine Anregung und Unterstützung durch Außenstehende. Dieses Verständnis ist vor allem im Kontext von Sozialer Arbeit von Bedeutung (vgl. ebd.: 16-18). Je nachdem, wo die jeweiligen Empowerment-Verständnisse innerhalb dieser Dimensionen zu verorten sind, ergeben sich sehr unterschiedliche Konsequenzen. Herriger selbst erwähnt zwar in seinem Werk, dass Empowerment nicht auf der individuellen Ebene verharren darf, sondern zugleich einen politischen Anspruch nach gesellschaftlicher Veränderung haben sollte, der den Abbau von Machtasymmetrien beinhaltet (vgl. ebd.: 64). Sein Augenmerk richtet er jedoch vor allem auf das Individuum und dessen Selbstkonzeption.62 Denn die theoretischen Folien, die Herriger heranzieht – die Theorie der erlernten Hilflosigkeit Seligmans (1979) oder die Individualisierungstheorie von Ulrich Beck (Beck 1986) –, beziehen kaum Macht- und Herrschaftsanalysen in ihren Arbeiten mit ein.63 Ausgangspunkt des Depressionsforscher Martin Seligmann ist die Analyse der „Weltsicht eines Hilflosen“ (Seligman 2000: 23). Ein hilfloser Im Gegensatz zu Herriger knupft Barbara Solomon, die den Begriff des Empowerments zum ersten Mal in Bezug auf die Soziale Arbeit genutzt hat, an die Macht- und Herrschaftskritiken von antirassistischen sozialen Bewegungen an. Siehe mehr dazu in Kapitel I.3.2.1. 63 Aus Platzgrunden gehe ich exemplarisch nur auf Seligmans Theorie ein, jedoch lasst sich ebenso wie bei ihm auch bei Becks Theorie der Risikogesellschaft das Fehlen von machtkritischen Analysen aufweisen. 62

106

Block I: Theoretische Grundlagen Mensch hat üblicherweise ein negatives und statisches Bild von sich selbst und der Welt. Die Welt erscheint dem Individuum als schlecht, und es selbst scheint nicht in der Lage zu sein, etwas daran zu ändern. Man spricht hier von einer niedrigen Kontrollerwartung. Sie kann nach Seligman entstehen, wenn ein Mensch die misslungene Bewältigung einer Krise generalisiert. Unter Generalisierung versteht man in diesem Kontext, dass das Individuum eine Erfahrung auf zukünftige Situationen überträgt. Seligmann geht also davon aus, dass sich das Scheitern in Zukunft wiederholen wird. Diese Generalisierung kann entstehen, weil sich das Scheitern bereits öfters wiederholt hat oder sehr bedeutsam war. Eine generalisierte niedrige Kontrollerwartung führt wiederum zu einem negativen Selbstkonzept des Menschen, das dann eine passive Haltung bewirkt. Diese wirkt unter Umständen als eine sich selbsterfüllende Prophezeiung, sodass negative Erwartungen und negative Erfahrungen einander gegenseitig verstärken (vgl. ebd.: 54). Die Konsequenz erlernter Hilflosigkeit ist nach Herriger eine Hilflosigkeitsdepression. Diese ist durch Defizite im Bereich von Motivation, Kognition und Emotion charakterisiert. Die Betroffenen seien sehr unmotiviert, weil aus ihrer Sicht keine Aussicht auf Besserung besteht. In kognitiver Hinsicht macht sich bemerkbar, dass Gedanken hinsichtlich eines möglichen Erfolgs überhaupt nicht mehr gedacht werden. Und bezüglich der Emotionen lässt sich feststellen, dass die Betroffenen emotional abstumpfen (vgl. ebd.: 63). Eine politische Kontextualisierung, also die Frage, wie diese erlernte Hilflosigkeit mit strukturellen Bedingungen und Positionen zusammenhängt, wird kaum in diesem Theorieansatz bearbeitet. Die Konsequenz daraus ist eine Praxis, die an der Veränderung des Individuums ansetzt, ohne dabei politische Forderungen nach einer Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen zu stellen und für diese zu kämpfen. Die helfenden Sozialarbeiter*innen sollen das Individuum darin unterstützen, diese erlernte Hilflosigkeit zu überwinden. Nur auf individueller Ebene anzusetzen, wird jedoch keine grundsätzlichen tiefgreifenden Verände-

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Block I: Theoretische Grundlagen rungen bewirken können. Empowerment wird somit eher zu einem psychologischen als zu einem gesellschaftspolitischen Projekt. Joachim Weber spitzt diese Kritik folgendermaßen zu: „Erfolgversprechender, als die Wurzeln der Ohnmacht zu erforschen, ist es, so die Logik des Empowerments, die verbliebenen Machtquellen freizulegen“ (Weber 2009: 4). Aus einem verkürzten Machtbegriff ergeben sich weitere Problematiken. Verschiedenste Problemlagen sind in der Analyse des Empowerments als Mangel an Macht definiert, wobei Macht einfach die Fähigkeit der Problembewältigung meint, ohne dabei die strukturell bedingten Möglichkeitsräume zu beachten. Erst dieser verkürzte Machtbegriff macht es möglich, Empowerment als umfassende Antwort auf verschiedenste Problemlagen zu propagieren (vgl. Bröckling 2008: 3). Es ist jedoch davon auszugehen, dass eine unzureichende Analyse der Problemlage deren Lösung verunmöglicht. Eine zusätzliche Problematik, die sich ebenso aus einem verkürzten Machtbegriff ergibt und genauso eine grundsätzliche Frage ist, betrifft die erste Dimension des Empowerments, die sich zwischen einem reflexiven bzw. transitiven Verständnis bewegt. Empowerment meint ein Mehr an Selbstbestimmung, jedoch soll dieses Mehr von diesem außen, in dem Fall durch Sozialarbeiter*innen vermittelt werden, die selbst strukturell wahrscheinlich anders in der Gesellschaft positioniert sind und damit nicht über das entsprechende Verständnis bzw. Wissen verfügen. Zudem bewegen sich Sozialarbeiter*innen selbst innerhalb einer Institution des Staats, die als Organisation ganz andere Ziele, wie z. B. die Minimierung von Kosten, als Zielsetzung verfolgt (vgl. Quindel/Pankofer 2000). Hier lässt sich kritisch fragen, ob sich die Idee von Empowerment und die Zielsetzung Sozialer Arbeit grundsätzlich vereinbaren lassen. Auch im Sprachgebrauch der Arbeits- und Organisationspsychologie des Managementbereichs hält der Begriff Empowerment seit den 1990er Jahren Einzug. Anders als in den Konzepten Sozialer Arbeit stehen hier ökonomisch rationale und unternehmerische Akteur*innen und 108

Block I: Theoretische Grundlagen ihre Eigenverantwortung im Zentrum. Im Zuge neoliberaler Paradigmen wird das Empowerment-Konzept auf die Bedeutung eines Handlungskonzepts verkürzt, das Menschen mittels leistungsorientierter Qualifizierung und erforderlicher Flexibilität leistungs- und wettbewerbsfähig für den Arbeitsmarkt machen soll. Der Titel eines der meistverkauften Bücher in diesem Bereich heißt: „Management durch Empowerment: Das neue Führungskonzept“ (Blanchard et al. 1998). Hier geht es um ein Führungsverständnis, das den Mitarbeiter*innen mehr Verantwortung, mehr Mitsprache und mehr Möglichkeiten einräumt, sich aktiv am Unternehmenserfolg zu beteiligen. Der Untertitel bringt das Ziel hinter diesem Konzept auf den Punkt: „Mitarbeiter bringen mehr, wenn sie mehr dürfen“. Mehr Verantwortung sorgt für mehr Leistung, denn durch eine stärkere Eingebundenheit in das Unternehmen setzen sich die Mitarbeiter*innen mit erhöhtem Engagement für die Ziele des Unternehmens ein. Als neoliberale Rhetorik dient der Begriff Empowerment als Führungskonzept für Manager*innen mit dem Zweck, den Profit des Unternehmens zu maximieren. Empowerment ist also kein „unschuldiges Konzept, dieser Tatsache können wir uns nicht verschließen“ (Gonzalez Romero 2013: 78). Wie deutlich geworden ist, wird der Begriff Empowerment als Handlungskonzept, als analytische Kategorie oder als normative Richtlinie sehr vieldeutig genutzt. Nur wenige Konzepte des Empowerments führen sozialwissenschaftlich notwendige Diskussionen über Macht- und Herrschaftsverhältnisse (vgl. Pankofer 2000b: 8). Das EmpowermentKonzept kann in einer verkürzten Form dazu führen, den Status quo aufrechtzuerhalten und Machtungleichheiten zu stabilisieren. Auf Unternehmensebene werden Menschen zu Expert*innen und Selbstverantwortlichen, um eigenes Humankapital effektiv zu maximieren. Das Konzept Empowerment ist intrinsisch in die neuen Dominanzstrukturen und in die neue Unterordnung der Individuen eingebunden (vgl. Gonzalez Romero 2013: 81). In der Auseinandersetzung von Empowerment aus PoC-Perspektive ist es daher notwendig, auch diese Verständnisse im Blick zu behalten. Auch mit einem emanzipatorischen Anspruch 109

Block I: Theoretische Grundlagen sollten die Gefahren der kapitalistischen Einverleibung dieses Konzepts nicht aus dem Blick geraten. Bezogen auf den Bereich der Sozialen Arbeit kann festgehalten werden, dass dort die Gefahr vorhanden ist, mit einem verkürzten Machtbegriff und einer unzureichenden politisch-gesellschaftlichen Analyse auch nur den Status Quo aufrechtzuerhalten. Der Sozialpädagoge Weber bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Die deutsche Rezeption von Empowerment lässt sich mehr oder weniger ausdrücklich auf Ressourcenorientierung reduzieren und ist dadurch politisch unterbestimmt“ (Weber 2009: 7). Die Aussage des Soziologen Ulrich Bröcklings kann als eine kritische Zusammenfassung zu Empowerment-Konzepten in Deutschland gelesen werden. Er arbeitet den Widerspruch deutlich heraus: „Die Linke benutzte Empowerment, um politischen Widerstand zu mobilisieren, die Rechte, um ökonomisch rationale und unternehmerische Akteure zu erzeugen“ (Bröckling 2008: 2).

3.1.2

EMPOWERMENT AUS PEOPLE -OF-COLOR-P ERSPEKTIVE IN DER BILDUNGSARBEIT

In Deutschland haben sich seit den 1990er Jahren im Rahmen von aktivistisch-politischen Netzwerken von People of Color verschiedene Orte für die Entwicklung neuer Impulse in der Empowerment-Arbeit herausgebildet. Mittlerweile gibt es zahlreiche Projekte, Initiativen, Netzwerke und Zusammenschlüsse, die selbstbestimmt in EmpowermentRäumen arbeiten (vgl. Can 2013: 7). „Selbstbestimmung kehrt herrschende Verhältnisse radikal um. Die als Marginalität bezeichnete gesellschaftliche Randständigkeit wird durch Wieder(er)finden unserer eigenen kritischen Stimmen zu einem Ort der Selbstermächtigung. Dieser ermöglicht es uns, über machtvolle Zurichtungen und Ausschlüsse nachzudenken, die Vielzahl geschichtlicher Leerstellen und gegenwärtiger Neuverortungen einzukreisen sowie individuelle und kollektive Strategien des Widerstands sichtbar zu machen.“ (Ha et al. 2007b: 12)

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Block I: Theoretische Grundlagen Empowerment kann sich in vielen verschiedenen Facetten manifestieren. Empowerment-Räume können sowohl symbolische als auch materielle sein. Sie dienen dem Erkennen der eigenen Ressourcen, dem Austausch von Informationen und Erfahrungen sowie der Selbstartikulation. Daraus lassen sich neue Strategien, Interessen, Bedürfnisse und Visionen formulieren, und weitere Ressourcen können aufgebaut werden. Es kann sich dabei um Einzelzusammenkünfte, Netzwerke und Gruppen handeln. Auch das ‚nach außen Tragen‘ der eigenen Stimme und des eigenen Selbstverständnisses kann zu Empowerment beitragen. Veröffentlichungen, öffentliche Veranstaltungen oder soziale Räume wie z. B. Feste stärken sowohl die Veranstaltenden sowie Menschen, die sich zugehörig fühlen. Sie können aber auch diskursive Veränderungsprozesse in Gang setzen.64 Bei vielen allgemeinen EmpowermentRäumen steht meist ein konkreter politischer Anlass und somit ein gemeinsames Ziel im Vordergrund – wie z. B. die Errichtung eines Mahnmals zur Erinnerung an den Kolonialismus in Hamburg65. Ebenso gibt es viele Empowerment-Räume, die regelmäßig stattfinden, wie bspw. die Bundestreffen der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD)66 und die monatlichen Treffen von ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland67. Empowerment-Räume können PoC-Lesekreise68 oder Hochschulgruppen sein, die explizit den Rassismus an der

64

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Öffnung eigener Räume auch mit der Gefahr einer Vereinnahmung und/oder Exotisierung seitens der Mehrheit einhergehen kann. 65 Siehe: http://www.afrika-hamburg.de/denkmal5.html. 66 Siehe: http://isdonline.de/bundestreffen/. 67 Siehe: https://www.facebook.com/groups/GenerationAdefra2.0/?fref=ts. 68 Der Ausländerlesekreis an der Universität Köln beschreibt sich selbst: „Im Lesekreis kommen Schwarze, Schwarzköpfe, Roma, Muslime usw. – kurz: Ausländer* – zusammen. Wir lesen unsere Unterdrückungs- und Widerstandsgeschichten und solidarisieren uns miteinander – fernab von Kant, Hegel und Rousseau“ (https://www.facebook.com/events/843814462318750/).

111

Block I: Theoretische Grundlagen Universität thematisieren69, regelmäßige Poetry-Abende mit unterschiedlichen Künster*innen in Berlin70, wie z. B. das Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen, dessen Ziel es ist, „Strategien zur Überwindung von Diskriminierung in der Kunst- und Kulturszene zu entwickeln“71 und politisch auf die Bühne zu treten, wie die Mind-the-Trap-Aktion72 zeigt. Es gibt politische Gruppen mit einem konkreten Vorhaben, wie zum Beispiel die antikapitalistische nicht-weiße Gruppe in Berlin.73 Genauso gibt es Empowerment-Räume, die erstmal nur einen Raum eröffnen, der nicht klar strukturiert ist, sondern darüber bestimmt wird, wie die Menschen ihn füllen.74 Auch innerhalb der außerschulischen Bildungspraxis entwickeln sich seit den 2000er Jahren Initiativen des People-of-Color-Empowerment, welche in der Tradition der Postcolonial und Cultural Studies stehen. Kleinere Initiativen und Gruppen begannen im Zuge dessen, angeregt durch ihre eigenen Empowerment-Prozesse, sich als EmpowermentTrainer*innen zu engagieren und auf die deutsche Lebensrealität übertragbare Workshop-Konzepte für Erwachsene zu entwickeln (vgl. Can 2013: 8).

69

Die PoC-Hochschulgruppe Mainz beschreibt sich als „[e]ine Hochschulgruppe von und für People of Color, zum solidarischen Austausch und Veranstaltungen rund um Anti-Rassismus, postkoloniale Studien etc.“(https://www.facebook.com/PoCMainz/). 70 One World Poetry Night schreibt auf der Internetseite: „Poetry to and from the world - Poetry is a way to express yourself. It’s a chance to use words and languages to change the world – that is our mission“ (https://www.facebook.com/oneworldpoetrynight/info/?tab=page*info). 71 Siehe https://www.facebook.com/B%C3%BCndnis-kritischer-Kulturpraktiker*innen-1467391770154908/?fref=ts. 72 Mit einer Intervention zur Eröffnung der Fachtagung MIND THE GAP! im Deutschen Theater haben die kritischen Kulturpraktiker*innen auf die Lücken und ‘Traps’ der dort herrschenden Perspektive und den ausschließenden Charakter der Tagung aufmerksam gemacht (vgl. https://mindthetrapberlin.wordpress.com/uber-mind-thetrap/). 73 siehe: http://aufstand.blogsport.eu/. 74 Das Women-of-Color-Café ist ein Beispiel eines solchen Netzwerkes, siehe: http://frauenreferatkoeln.blogsport.de/2015/04/06/einladung-zum-frauen-of-colorcafe-invitation-to-the-next-woc-cafe/.

112

Block I: Theoretische Grundlagen Bei ‚Empowerment aus People-of-Color-Perspektive‘ handelt es sich um Workshops von und für People of Color, die den Anspruch verfolgen, Menschen mit Rassismuserfahrungen zu Subjekten der Bildungsarbeit zu machen und dabei ressourcenorientiert zu arbeiten (vgl. Yiğit/Can 2006: 162). Ausgangspunkt war hier Unmut über die „Monoperspektive in der Antirassismusarbeit“ (ebd.), in der die Rahmengebung und Grundkonzeption vornehmlich von weißen Angehörigen konzipiert wird, während People of Color in einem „toten Winkel“ (ebd.: 167) gefangen sind. Bei dem Prozess, eine Sprache für die eigenen Erlebnisse zu finden, besteht ein wichtiger Faktor darin, mit wem wir unsere Erlebnisse teilen. Empowerment-Räume im Sinne von Workshops bieten dafür eine wesentlich geschütztere Möglichkeit als gemischte75 Räume der Mehrheitsgesellschaft, da alle Teilnehmer*innen an die Rassismuserfahrungen anknüpfen können (vgl. ebd.: 168). Deshalb handelt es sich hier um Workshops, die exklusiv nur für People of Color geöffnet sind, in denen Lernräume geschaffen werden, die dem oftmals aus weißen Normalitätsvorstellungen heraus defizitären oder kulturalisierenden Blick auf People of Color etwas entgegensetzen (vgl. Nguyen 2013: 56). Der normale rassistische Alltag von PoC und ihre Subjektivierungsprozesse bilden den Ausgangspunkt von Empowerment-Workshops.76 Dabei geht es um die Überwindung von Ohnmacht und Unterdrückung und um das (Wieder-)Entdecken von Kraftquellen, die Entwicklung 75

Die Problematik des Begriffs soll hier nicht ignoriert werden. Selbstverständlich sind Gruppen in vielerlei Hinsicht gemischt. Andere Kategorien, die zu einer Unterscheidung führen, werden hier in den Hintergrund gerückt. Die Begründung für diese Unterscheidung ist in vorherigen Kapiteln ausführlich besprochen worden. 76 Hier soll angemerkt werden, dass ich mich auf explizite Empowerment-Workshops konzentriere, jedoch verstehe ich Empowerment-Workshops nicht als einzigen Raum in der Bildungsarbeit, in denen People of Color sich empowern oder Empowerment erfahren. Viele rassismussensible Multiplikator*innen of Color leisten schulisch und außerschulisch implizit Empowerment-Arbeit und werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt, sollen jedoch an dieser Stelle eine kurze Erwähnung finden. Es wäre eine eigene Forschungsarbeit, mehr über die Erfahrungen von Multiplikator *innen of Color zu recherchieren, die implizit Empowerment-Arbeit für People of Color machen.

113

Block I: Theoretische Grundlagen von Empowerment- und Widerstandsstrategien über das Erinnern, Erzählen und Dokumentieren der ausgeblendeten, verdrängten und verschwiegenen PoC-Empowerment- und Widerstandsgeschichten in Deutschland (vgl. Can 2013). Zwar ist die Bezeichnung Empowerment-Trainer*in in Deutschland einstweilen keine geschützte Berufsbezeichnung, und es gibt dafür auch keine allgemein anerkannten zertifizierten Qualifikationsstandards. Es gibt jedoch unter Empowerment-Trainer*innen of Color mittlerweile Kontakte und Zusammenkünfte in Form von Initiativen, Projekten und Vereinen, auf deren Basis Konzepte weiterentwickelt werden und in Zukunft ein breites Netzwerk initiiert und aufgebaut werden könnte. Ausgehend vom Berliner Umfeld gibt es bereits ein loses Netzwerk von People-of-Color-Initiativen und -Vereinen, die selbst mit dem Empowerment-Konzept aus der People-of-Color-Perspektive arbeiten und über welche Empowerment-Trainer*innen of Color angefragt werden können. Wie zum Beispiel das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin (ADNB) des TBB e. V., den Migrationsrat Berlin-Brandenburg e. V., das Bildungswerk Migration & Gesellschaft e. V., GLADT e. V., LesMigraS e. V. oder der Verein Phoenix. All diese Organisationen und Vereine sind im Bereich der Empowerment-Arbeit im Bildungsbereich aktiv. Mittlerweile ist das Angebot für Workshops viel breiter geworden: Es gibt viele verschiedene Angebote für unterschiedliche Bedürfnisse und Belange zum Thema Rassismus und Empowerment. Es gibt Empowerment Workshops für Women of Color, es gibt Workshops zu Körperarbeit als Empowerment-Strategien, es gibt Empowerment-Workshops für Queer und Trans of Color, dann gibt es Empowerment-Seminare in verschiedenen Sprachen, z. B. auf Türkisch. Auch wenn es immer noch sehr selten vorkommt, gibt es immerhin teilweise öffentliche Finanzierungen für solche Projekte, während dies vor 15 Jahren nicht denkbar gewesen wäre (vgl. Mamutovič 2015).

114

Block I: Theoretische Grundlagen Dabei leisten die im Bundesgebiet zahlenmäßig überschaubaren Empowerment-Trainer*innen of Color Pionierarbeit in diesem Feld und legen die ersten Fundamente für konzeptionelle Entwicklung, praktische Umsetzung, Anerkennung und Etablierung von Empowerment aus der People-of-Color-Perspektive im Allgemeinen. Im Speziellen sind sie Vorreiter*innen in der pädagogischen und politischen EmpowermentBildungsarbeit gegen Rassismus und Diskriminierung aus People-ofColor-Perspektive (vgl. Can 2013). Insgesamt ist bisher wenig zum Thema Empowerment von People of Color innerhalb der Bildungsarbeit in Deutschland auf wissenschaftlichem Feld veröffentlicht worden. Im Bildungsbereich beschränkt sich dies auf ein paar Beiträge in Sammelbänden (vgl. Yiğit/Can 2006; Can 2013; Torres/Can 2013; Fleary 2011). Mittlerweile haben die HeinrichBöll-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung jeweils einen Reader zum Thema Empowerment herausgebracht, in denen es unter anderem auch um Empowerment-Workshops geht (vgl. Rosa-Luxemburg-Stiftung 2015; Heinrich-Böll-Stiftung 2013). Der erste Reader zu Empowerment wurde von HARKA initiiert und veröffentlicht.

3.2

KONTEXTUALISIERUNG VON EMPOWERMENT AUS PEOPLE-OF-COLOR-PERSPEKTIVE

Wie eingangs schon erwähnt, ist der Empowerment-Begriff sehr offen und kann daher sehr unterschiedlich gefüllt werden. Um den Begriff Empowerment für diese Dissertationsarbeit weiter zu konkretisieren und mit Inhalt zu füllen, werde ich im folgenden Kapitel auf die Traditionslinien eingehen. Die Einordnung in historische Kontexte, das Herausstellen der theoretischen Bezüge Barbara Solomons sowie die Verortung innerhalb der kritischen politischen Bildung werden dazu verhelfen, dem Empowerment-Konzept mehr Kontur zu geben. Im Kapitel I.3.2.1 stelle ich die historischen Bezüge zum Begriff Empowerment dar, indem ich auf die Schwarzen Befreiungskämpfe in den USA eingehe sowie die Schwarzen feministischen Kämpfe in Deutschland. Im 115

Block I: Theoretische Grundlagen Kapitel I.3.2.2 komme ich auf vergessene Spuren von Empowerment in der Bildungsarbeit zu sprechen – nämlich auf die Sozialarbeiterin Barbara Solomon, die als erste den Begriff Empowerment geprägt hat. Solomon entwickelt zum ersten Mal ein Empowerment-Konzept für die Soziale Arbeit, indem sie antirassistische Theorien aus der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung mit einfließen lässt. Eine weitere Verbindungslinie, die hier aufgenommen wird, ist die der kritischen politischen Bildungsarbeit nach Bettina Lösch. In Kapitel I.3.2.3 komme ich auf die Zusammenhänge von Empowerment und kritischer politischer Bildung zu sprechen.

3.2.1

HISTORISCHE TRADITIONSLINIEN VON EMPOWERMENT

„Eine Umarmung der Zukunft aus dem Jetzt mit dem Blick zurück.“ (Torres/Can 2013)

Geschichte und Gegenwart sind miteinander verbunden, die heutige Geschichte von Empowerment steht in einem spezifischen historischen Kontext. Dies ist wichtig zu thematisieren, um vergangene und aktuelle Entwicklungen nicht voneinander zu isolieren und an historische und politische Kontinuitäten sowie die darin enthaltenen Kämpfe zu erinnern. Außerdem verrät der historische Bezug viel über die Ausrichtung des Empowerment-Ansatzes, der in diesem Kapitel diskutiert werden soll. Vor zehn Jahren war der Begriff ‚Empowerment‘ kaum bekannt. Im Moment scheint er sich zu Modewort zu entwickeln, das in unterschiedlichen Bereichen mit entleerten Bedeutungen genutzt wird und nichts mit dem ursprünglichen Empowerment-Gedanken zu tun hat. Die Empowerment-Ansätze, mit der sich dieses Dissertationsprojekt beschäftigt, verstehen sich in der Tradition von vor allem Schwarzen Widerstandskämpfen. Die Idee, sein Selbst kollektiv zu stärken, ist nichts Neues. Kämpfe um die eigene Unabhängigkeit waren immer Teil der Geschichte und Gegenwart. Der Begriff Empowerment selbst und damit die Geschichte, auf die hier Bezug genommen wird, ist auf die revolutionären sozialen Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1970er Jahren zurückzuführen. Zwar reicht der Gebrauch des 116

Block I: Theoretische Grundlagen Empowerment-Begriffs in den USA bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, wo er zunächst seine Verwendung in der psychosozialen Arbeit fand. Als politisch-praktisches sowie theoretisches Konzept etablierte er sich jedoch erst durch die Schwarze Bürgerrechts- und die feministische Frauenbewegung der 1960er und dann durch die Selbsthilfebewegung der 1970er Jahre (vgl. Tank 2013: 12). Die Forderung der antirassistischen Bewegungen lautete ‚empowerment of black communities‘ gegenüber der herrschenden rassistischen und segregierenden Politik in den USA. Malcolm X und Martin Luther King waren prägende Figuren im Schwarzen Freiheitskampf. Sie forderten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Ende des Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung und griffen besonders den institutionellen Rassismus an (vgl. ebd.: 12). Der Empowerment-Begriff ist daher nicht nur bloße Theorie aus der Bildungsarbeit, sondern „vor allem alltäglich gelebte Praxis“ (Nassir-Shahnian 2013: 20), die auf eine reiche Geschichte von sozialen Kämpfen zurückgreift. Aus heutigem Blick auf Empowerment ist interessant an diesen Kämpfen, dass sie auf zwei Ebenen stattfanden. Sowohl auf der politischen Ebene – z. B. gegen rassistische Gesetzgebungen – ging es um Empowerment als auch auf individueller Ebene, wo es um ‚Consciousness-Raising‘ und Bewusstseinsbildung ging – die bekannteste Kampagne beispielsweise ist ‚black is beautiful‘ (vgl. ebd.: 20). In Deutschland ist als Vorreiterin von Empowerment-Workshops die Schwarze feministische Bewegung zu sehen. Schwarze Emanzipationsbewegungen in Deutschland sind eng verknüpft mit der Entstehungsgeschichte von Antirassismus- und Empowerment-Trainings im Bildungsbereich (vgl. Aden 2004: 257). Ende der 1980er Jahre entstanden innerhalb der Schwarzen Bewegung Gruppen, die begleitet durch RaceAwareness-Trainer*innen aus den USA, England, den Niederlanden und der Schweiz Antirassismus-Workshops konzipierten und durchführten. Maria-Theres Aden beschreibt in ihrer Arbeit, wie bei Schwarzen Antirassismus-Trainer*innen, die weiter ausgebildet werden soll-

117

Block I: Theoretische Grundlagen ten, eine Skepsis entstand, Seminare für weiße Deutsche durchzuführen. Hier wurde die Kritik geäußert, dass Weißen viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden würde, anstatt Schwarze in ihrem Kampf zu stärken und zu fördern. Schwarze Frauen wollten sich selbst Strukturen aufbauen, um sich gegen rassistische Strukturen zu wehren, anstatt darauf zu warten und zu hoffen, dass Weiße bereit sind, strukturverändernd zu agieren (vgl. ebd.: 257).77 Innerhalb dieser Auseinandersetzung kam es zu einer Bewegung in Richtung Selbstorganisierung Schwarzer Frauen, die sich in geschützten Räumen der eigenen Stärkung und der politischen Organisierung widmeten. Zeugnisse dieser Kämpfe sind zum Beispiel das von Olumide Popoola und Beldan Sezen herausgebrachte Sammelwerk ‚Talking home – Heimat aus unserer eigenen Feder. Frauen of Color in Deutschland‘ (Popoola/Sezen 1999) oder ‚Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte‘ (Oguntoye et al. 1992). Auch ADEFRA und die Initiative Schwarze in Deutschland sind Projekte und Zusammenhänge, die aus dieser Zeit hervorgegangen und heute noch politisch aktiv sind. Die Traditionslinien, aus denen Empowerment-Workshops aus POC-Perspektive stammen, sind vor allem in feministischen Schwarzen Widerstandbewegungen verortet.

3.2.2

VERGESSENE GRUNDLAGEN: SOLOMONS ARBEIT EMPOWERMENT IM BILDUNGSWESEN (USA)

ZU

Im Bildungskontext wurde der Begriff Empowerment das erste Mal in der Sozialen Arbeit von Barbara B. Solomon in den USA mit dem Titel ‚Black Empowerment: social work in oppressed communities‘ (1976) etabliert. Hier schildert die Schwarze Wissenschaftlerin Beispiele für Empowerment-Arbeit in Schwarzen Communities und stellt die Soziale Arbeit in Bezug zum rassistischen System in den USA. Mit ihrer syste-

77

Gleichzeitig entstanden auch Gruppen, die sich zu Antirassismus-Trainer*innen ausbilden ließen.

118

Block I: Theoretische Grundlagen matischen Arbeit kommt es zum ersten Mal zu einer Schnittstelle zwischen Sozialer Arbeit im Sinne der radikalen Gemeinwesenarbeit und den sozialen Bewegungen. Black Empowerment kreiert also eine Verbindungslinie zwischen den Traditionen der sozialen Bewegung einerseits und denen der Sozialen Arbeit andererseits (vgl. Bröckling 2003: 325). Dennoch wird das Werk in Deutschland kaum rezipiert, wenn es um die Entstehungsgeschichte von Empowerment im Bildungswesen geht. Da das Werk zudem nicht ins Deutsche übersetzt wurde, jedoch zentrale Gedanken für die Bildungsarbeit liefert und vor allem auf die ursprüngliche Idee von Empowerment verweist, werde ich an dieser Stelle auf die Grundpfeiler ihrer Arbeit eingehen. Solomon stellt am Anfang ihres Werks heraus, dass viele Programme und Konzepte in der Sozialen Arbeit entwickelt wurden, die dazu verhelfen wollen, die Machtlosigkeit der Klienten zu überwinden. Doch gibt es kaum Arbeiten zu den spezifischen Ausgangssituationen und Bedürfnissen von Schwarzen Communities innerhalb dieses Arbeitszweigs. „Yet, for the black client – or client who is a member of a minority racial or ethnic group – there are some special characteristics of their response to negative valuation which require consideration in the problem-solving process.“ (Solomon 1976: 29)

Indem sie ausführlich die Entwicklungslinien der Sozialen Arbeit in den USA und ihre Hilfsprogramme aufzeigt, macht sie auf die Defizite innerhalb dieser Arbeit aufmerksam und zeigt auf, wie Soziale Arbeit selbst strukturell rassistisch organisiert war und ist (vgl. ebd.: 70-102). In ihrem Konzept von Empowerment setzt sie die psychischen Auswirkungen von Rassismus in Verbindung mit struktureller Diskriminierung. Die Hauptthese des Buches ist, dass Individuen und Gruppen in Schwarzen Communities aufgrund der gesellschaftlich verankerten Diskriminierung einen geringen Selbstwert entwickeln, woraus ein sehr

119

Block I: Theoretische Grundlagen hohes Maß an powerlessness78 hervorgeht. Um ihre These zu verdeutlichen, führt Solomon die Bedeutung von power und powerlessness aus: „Power is a concept which is present in almost any discussion of human relationships – whether from a psychological, sociological, economic, political, or philosophical point of view.“ (ebd.: 16)

Power als Phänomen schafft Zwänge und Beschränkungen, die dafür sorgen, Beziehungen im sozialen System zu determinieren. Power kann aber in ihrer Produktivität auch als notwendige Kraft genutzt werden, um eine Basis für Problemlösungen für soziale und psychologische Probleme zu bilden. Solomon nimmt an, dass jedes Individuum einen Entwicklungsprozess durchläuft, in dem sich individuelle Ressourcen herausbilden: „First, the individual experiences a complex series of events monitored by the family or surrogate family which involve the self, significant others, and the environment. These experiences result in the acquisition of personal resources such as positive self-concept, cognitive skills, health, and physical competence. These personal resources lead to the development of certain interpersonal and technical skills such as sensitivity to the feelings and needs of others, organisational skills, and leadership ability. The personal resources as well as the interpersonal and technical skills can then be used to perform effectively in valued social roles such as parent, employee, or community leader.“ (ebd.)

Die Erfahrung von Geringschätzung und Diskriminierung wirken sich negativ auf das Individuum und die komplexen Stufen seines Entwicklungsprozesses aus. Die von Solomon eingebrachte powerlessness ist eine, die eine Konsequenz von Nicht-Anerkennung und Geringschätzung von Minderheiten – kollektiv und individuell – darstellt (vgl. ebd.: 17). „Powerlessness therefore, has been defined as the inability to obtain and utilize resources to achieve individual or collective goals“ (ebd.: 28). Solomon führt weiter aus, dass powerlessness auf die Unfähigkeit verweist, Gefühle, Wissen, Skills oder materielle Ressourcen

78

Hier verzichte ich auf eine deutsche Übersetzung, da mir kein passendes Pendant bekannt ist, das sowohl Macht als auch Fähigkeit in einem meint.

120

Block I: Theoretische Grundlagen in einer Weise zu entwickeln, „that makes possible effective performance of valued social roles so as to receive personal gratification“ (ebd.). Diese Erfahrungen der Ohnmacht können sich direkt oder indirekt auf die Fähigkeit auswirken, mit Problemen in unterschiedlichsten Lebenslagen umzugehen. Solomon spricht von direkten „power blocks“, wenn Gruppen systematisch von der Erlangung spezifischer Ressourcen abgehalten werden. Dies kann politische Teilhabe sein, aber auch „community ressources“, wie Schulen, Parks und andere öffentliche soziale Einrichtungen, welche People of Color strukturell verweigert werden (vgl. ebd.: 19-20). „The better the resources that have been developed, the more successful the community will be in developing effective responses to problems it encounters“ (ebd.: 20). Indirekte „power blocks“ beziehen sich auf unterentwickelte persönliche Fähigkeiten, die auf Diskriminierungserfahrungen und das Verwehren von Ressourcen zurückzuführen sind. Diese Ausführungen zu power und powerlessness bleiben jedoch nicht einfach auf der individuellen Ebene stehen, wie dies bei Herrigers Überlegungen zur erlernten Hilflosigkeit der Fall ist. Solomons Theorien zu power and powerlessness sind eng verknüpft mit ihrer ausführlichen Darlegung der strukturellen Diskriminierung von Schwarzen (vgl. ebd.: 137-295). Hierbei greift sie auf die Analysen aus der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung zurück. Solomons Theorien weisen dabei Parallelen zu den Analysekategorien der vorliegenden Arbeit aus der Rassismuskritik79 auf. Herabwürdigendes über Schwarze wird in der Wissenschaft immer noch durch vermeintlich unterschiedliche Gene produziert und begründet: „[G]enetic has been a favorite vehicle for negative valuation of blacks“ (ebd.: 164). Mit vermeintlich physischen Unterschieden wie z. B. Gehirngrößen werden Hierarchien zwischen den Rassen hergestellt und eine Verknüpfung zwischen Rasse und Intelligenz konstruiert, 79

Siehe hierzu ausführlicher Kapitel II.2.

121

Block I: Theoretische Grundlagen wodurch die Schwarze Rasse heute noch als die primitivste produziert wird. Rassismus greift folglich auf vermeintlich physiognomische Merkmale zurück und weist diesen negative Eigenschaften zu.80 Auch auf Bedingungen der Repräsentation geht Solomon ein und zeigt die negative Imagination von Schwarzen Familien in den Medien auf. Die Frage, wer wie dargestellt wird und vertreten ist, wird auch hier im Zusammenhang mit Repräsentationsverhältnissen im Kapitel II.3 aufgegriffen. Solomon verdeutlicht zudem am Beispiel der Medien, dass es kein Verständnis dafür gibt, den Zusammenhang von Klasse und Rasse zusammenzudenken, ebenso wenig wird der Zusammenhang mit anderen Einflussfaktoren wie z. B. der Haushalt einer Alleinerziehenden mitbedacht (vgl. ebd.: 190-191). Genauso wie sie die interpersonelle Ebene analysiert, geht sie sehr eindrücklich auf Rassismus in Institutionen wie Schule und anderen staatlichen Organisationen ein und arbeitet hier die institutionelle Diskriminierung heraus (vgl. ebd.: 127-295). Der institutionelle Rassismus wird in Bezug auf den deutschen Kontext in dieser Arbeit auch aufgegriffen und diskutiert.81 Freud referierend, legt sie dar, wie Selbsterkenntnis und Wissen über das eigene Ich hilfreich sein können, um die Wirkkraft von Zwängen zu reduzieren. Einsichten über Schwarze Erfahrungen und Schwarze Selbst(er-)kenntnis werden aber dadurch gehemmt, dass die meiste Kraft dafür aufgebracht werden muss, sich von den negativen rassistischen Bildern abzugrenzen und diese abzuwehren (vgl. ebd.: 137). In den Ausführungen zu den rassistischen Strukturen in den USA nimmt sie stets Bezug auf Schwarzes Wissen aus Widerstandsbewegungen. Aus der Sicht auf unterdrückende Verhältnisse ergibt sich ihr Empowerment-Verständnis. Empowerment „refers to a process whereby persons who belong to a stigmatized social category throughout their lives can be assisted to develop and increase skills in the exercise of interpersonal influence and the performance of valued social roles.“ (ebd.: 6) 80 81

Mehr zum biologischen bzw. kolonialen Rassismus siehe Kapitel II.2.7. Siehe hierzu ausführlicher Kapitel II.2.

122

Block I: Theoretische Grundlagen Empowerment verweist auf einen Prozess, der marginalisierte Personen dabei unterstützt, ihre Fähigkeiten, die aufgrund struktureller Bedingungen weniger ausgebaut werden konnten, zu stärken. Ausgehend von der zentralen These der Geringschätzung von Schwarzen Menschen und Menschen of Color, sieht Solomon Empowerment als einen wichtigen Prozess in der Sozialen Arbeit mit Schwarzen Individuen oder Communities: „Empowerment is defined as a process whereby the social worker or other helping professional engages in a set of activities with the client aimed at reducing the powerlessness stemming from the experience of discrimination because the client belongs to a stigmatized collective.“ (ebd.: 29)

Empowerment ist in diesem Sinne ein Konzept, das davon ausgeht, dass es spezifische Erfahrungen von Menschen gibt, die zu einer sozial stigmatisierten Gruppe gehören (vgl. ebd.: 23). Im Empowerment-Prozess geht es um die Entwicklung eines effektiven Unterstützungssystems für Menschen, denen der Weg zu individuellen und kollektiven Zielen verwehrt wurde, da sie unter komplexen Diskriminierungsverhältnissen zu leiden haben (vgl. ebd.: 22). Unter Empowerment versteht Solomon sowohl einen Prozess als auch ein Ziel in der Sozialen Arbeit (vgl. ebd.: 28). Kritisch sei hier zum Zusammenhang von Diskriminierungserfahrung und geringem Selbstwertgefühl angemerkt, dass nicht jede Person mit Rassismuserfahrung einen geringen Selbstwert besitzt. Der kausale Zusammenhang von Erfahrungen der Wertschätzung und der Entwicklung eines Selbstwerts liegt meines Erachtens auf der Hand. Jedoch ist die selbstverständliche Annahme, dass Menschen mit Rassismuserfahrungen einen geringen Selbstwert haben, kritisch zu betrachten. Denn Menschen mit Diskriminierungserfahrungen können durch ihre Erfahrungen unterschiedliche widerständige Strategien des Umgangs mit diesen herausbilden. Subjektivierungsprozesse laufen widersprüchlicher und komplexer ab, als dass man allen Menschen, die Rassismuserfahrungen

123

Block I: Theoretische Grundlagen machen und strukturell benachteiligt sind, ein geringes Selbstwertgefühl einfach zuschreiben kann. Auch beachtet diese Perspektive die Intersektionalität verschiedener bedeutungsvoller sozialer Kategorien nicht. Gerade in Form von Widerstandsstrategien können People of Color ein sehr starkes und kämpferisches Selbstwertgefühl entwickeln. Erst durch solch ein Verständnis von Subjekten, das ihre Vielschichtigkeit und Ambivalenz miteinbezieht, entsteht ein weniger geradliniges Bild eines Ursache-Wirkung-Verständnisses. Hierdurch ist es möglich, sowohl Momente der geringen Selbstachtung als auch Momente der hohen Selbstachtung zusammenzudenken und nebeneinanderzustellen. Auch wenn heute – 40 Jahre nach Erscheinen des Werks – einiges kritisch hinterfragt werden kann, ist es meines Erachtens bedeutsam, dieses Werk im Diskurs über Empowerment sichtbar zu machen. Barbara Solomon ist die erste Sozialarbeiterin, die durch das Thema Empowerment im Bildungswesen direkt an politische Diskurse um rassistische Strukturen angeknüpft und damit weitreichende Forderungen für die Soziale Arbeit formuliert hat. Denn während Herriger auf Theorien der erlernten Hilflosigkeit (Seligman 2000) zurückgreift, die die Schwächung des Subjekts durch Individualisierungstheorien erklären (vgl. Herriger 2006: 36-72), schafft es Solomon in ihrem Werk, die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen und ihren Folgen für das Subjekt zusammenzudenken. So überwindet sie die problematische Grenzziehung zwischen dem Politischen, Gesellschaftlichen und Privatem und zeigt das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf, indem sie den Zusammenhang von rassistischen Strukturen und ihren Konsequenzen für das Schwarze Subjekt nachzeichnet, anstatt auf individualistische Erklärungsansätze zurückzugreifen.

124

Block I: Theoretische Grundlagen

3.2.3

EMPOWERMENT ALS TEIL SCHEN BILDUNG

EINER KRITISCHEN

POLITI-

In Deutschland hat die politische Bildung trotz der aktuellen Herausforderungen von Budgetkürzungen und anderen neoliberalen Entwicklungen einen besonderen Stellenwert. Sie ist im Unterschied zu den meisten anderen Ländern der Europäischen Union sowohl als Schulfach als auch als Unterrichtsprinzip verankert. Zum anderen existiert ein vielfältiges Spektrum an Angeboten und Trägern der außerschulischen politischen Bildung für Jugendliche und Erwachsene (vgl. Lösch 2013a: 174). Empowerment-Arbeit kann als Bestandteil einer politischen Bildungsarbeit betrachtet werden. Dabei beziehe ich mich im Folgenden auf die Arbeiten der Politikwissenschaftlerin Bettina Lösch, auch wenn das Spektrum der kritischen politischen Bildung breiter ist und unterschiedliche Referenz-Autor*innen umfasst. Diese Theorien einer kritischen politischen Bildung lassen sich mit der Idee von Empowerment nicht zuletzt deshalb verknüpfen, weil Antidiskriminierungsarbeit hier als Teil der politischen Bildung betrachtet wird. Da sie sich mit Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen auseinandersetzt und zum Ziel hat, diese zu verändern, bringt die Antidiskriminierungsarbeit eine „wichtige Perspektiverweiterung für die politische Bildung“ (Lösch/Rodrian-Pfennig 2014: 51) mit sich. Wie Lösch ausführt, stammt die außerschulische Arbeit aus der Tradition von selbst organisierten Bildungskontexten, die oftmals aus einer kritischen Auseinandersetzung mit den jeweiligen sozialen Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Geschlechterverhältnissen oder Klassenverhältnissen hervorgegangen sind (vgl. Lösch 2013b: 12). Ihnen liegt ein demokratischer Anspruch sowie eine Kritikfähigkeit gegenüber den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu Grunde. Die kritische politische Bildung basiert demnach erstens auf einer kritischen Gesellschaftsforschung von Herrschafts- und Machtverhältnissen. Sie geht zudem von einem Kritikbegriff aus, der die Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse im Blick hat (vgl. Lösch 125

Block I: Theoretische Grundlagen 2012: 19). Soziale Veränderbarkeit wird dabei nicht als eine Politik verstanden, die von oben erfolgt, vielmehr arbeitet kritische politische Bildung zweitens mit einem weit gefassten Politik- und Demokratieverständnis: „Politik meint in diesem Sinne die allgemeinen öffentlichen Angelegenheiten (die res publica). Diese schließen die Auseinandersetzung mit alltäglichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ein.“ (ebd.: 21)

Dabei problematisiert sie die Grenzziehung zwischen dem Politischen, Gesellschaftlichen und Privatem und thematisiert das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (vgl. Lösch/Rodrian-Pfennig 2014: 48). Eine kritische politische Bildungspraxis will drittens dazu ermutigen, dass Individuen die sozialen Verhältnisse, in die sie tagtäglich eingebunden sind, verstehen und die soziale Welt, die sie sich bildend erschließen, eingreifend verändern können. Hierfür ist es notwendig, Verhältnisse als gemacht statt als gegeben zu begreifen (vgl. Lösch 2012: 20). Kritische politische Bildung bezieht sich aber nicht nur auf Herrschaftsverhältnisse, sondern eröffnet viertens Alternativen und Perspektiven, wie eine zukünftige Gesellschaft gestaltet sein kann, indem sie bereits bestehende Praxen zeigt, die auf diese Alternativen verweisen (vgl. ebd.). In der Empowerment-Arbeit wird Rassismus als eine diskursive Praxis verstanden, die sowohl einschränkende als auch ermöglichende Elemente birgt. So wird Rassismus als eine Herrschaftsstruktur verstanden, die Subjekte hervorbringt, ebenso gibt es aber auch Möglichkeitsräume von Subjekten. Auch eine kritische politische Bildung hat ein „Verständnis von Bildung als Subjektbildung“ (Lösch/Rodrian-Pfennig 2014: 49) und verabschiedet sich vom Bild eines unabhängigen mündigen Subjekts. Hierbei geht es um eine soziale Subjektivität, die gesellschaftlichen Zwängen und Einflüssen unterlegen ist und ihre Subjektivität nur in sozialen Beziehungen entfalten kann.

126

Block I: Theoretische Grundlagen In der konkreten Empowerment-Arbeit bringt dieses Verständnis es mit sich, sich mit rassistischen Herrschaftsverhältnissen und ihren Auswirkungen auf das Subjekt im Alltäglichen zu beschäftigen. Auch in einer kritischen politischen Bildung geht es darum, „bestimmte angelernte (inkorporierte und ritualisierte) Praxen und Denkweisen zu reflektieren, wieder zu verlernen und neue Handlungsoptionen und -freiheiten zu gewinnen“ (ebd.: 52). Das Begreifen der eigenen Position als in Herrschaftsverhältnisse eingebundene steht also auf der einen Seite. Auf der anderen Seite geht es um die Veränderungspotentiale dieser Verhältnisse. Dabei ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Ohnmacht in Bezug auf rassistische Herrschaft bedeutend: „Einer der wichtigsten und ausschlaggebenden Auswege von der diskriminierten und ohnmächtigen ‚Fremden‘ hin zur teilhabenden und gleichberechtigten Bürgerin einer pluralen Migrationsgesellschaft wird der Weg des Einstiegs in die Mehrheitsstrukturen über den Umweg des Ausstiegs aus der ‚Ohnmacht‘ durch Making-Empowerment-Spaces sein.“ (Can 2011a: 253)

In Zusammenhang mit der Überwindung von Ohnmacht steht die Suche nach Handlungsmöglichkeiten und Veränderungspotentialen innerhalb des eigenen Kontexts. Alternative Möglichkeiten des individuellen, aber auch kollektiven Widerstands werden hier erprobt. Dabei kann die politische Selbstorganisation und Vernetzung von PoC in selbstbestimmten Empowerment-Räumen gegen Rassismus individuell wie auch auf gesellschaftlicher Ebene als eine bedeutende Veränderung hin zu mehr Gleichberechtigung und Chancengleichheit in den deutschen Dominanzstrukturen gelesen werden (vgl. ebd.: 257). Kritische Gesellschaftstheorie verfolgt zudem den Anspruch, zur Autorisierung marginalisierter Positionen beizutragen und diejenigen zu stärken, die im dominanten Diskurs nicht oder kaum vertreten sind (vgl. Lösch 2012: 20). An diese Idee der Betonung von marginalisierten Stimmen knüpft Halil Can an:

127

Block I: Theoretische Grundlagen „Die Erhebung und Hörbarmachung der eigenen Stimme in dafür eigens geschaffenen PoC-Räumen ist ein legitimer Akt der kreativen Raumeinnahme zur Umsetzung von vorenthaltenen Partizipations-, Demokratie- und Menschenrechten und dient der Kompensation von sozialen und politischen Ausschlusspraxen. Insofern ist die Schaffung von Empowerment-Räumen von und für PoC als selbstbestimmter demokratischer Ansatz auch als radikal-politisch zu verstehen.“ (Can 2011a: 252)

Die Hörbarmachung der eigenen Stimmen of Color ist innerhalb von Demokratisierungsprozessen als ein politischer Kampf um mehr Rechte und Selbstbestimmung zu sehen. Zwar ist das Anprangern und Öffentlichmachen rassistischer Diskriminierung weiterhin notwendig. Dennoch sind die Kämpfe von Menschen, die direkt von Rassismus betroffen sind, unabdingbar. Can argumentiert, dass die Geschichte uns gelehrt hat, „dass tiefgreifende politische und gesellschaftliche Veränderungen durch das Wohlwollen und den Gerechtigkeitssinn der Mehrheitsgesellschaft allein nicht zu erwarten sind. Diese Veränderungen müssen vielmehr von rassistisch Diskriminierten beziehungsweise PoC selbst erkämpft werden. […] In diesem Sinne ist es erforderlich aus der Opferrolle bzw. Bittsteller*inposition herauszutreten und eine Position einer handelnden, selbstbewussten und fordernden Akteurin einzunehmen.“ (ebd.: 245)

Transformative Dynamiken bei People of Color werden unausweichlich sichtbare gesellschaftliche Veränderungen „im Sinne einer rassismuskritischen Demokratisierung“ (ebd.: 246) bewirken. Dazu bedarf es alltagspraktischer und politischer Handlungsstrategien von PoC. Empowerment-Arbeit kann im Sinne der kritischen politischen Bildungsarbeit betrachtet werden, in der es letztendlich darum geht, einen Beitrag dazu zu leisten, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse zu verändern und abzubauen.

128

Block I: Theoretische Grundlagen

3.3

KONTROVERSEN: EMPOWERMENT ALS INDIVIDUELLE SELBSTERMÄCHTIGUNG ODER ALS GESELLSCHAFTLICHE VERÄNDERUNG? „[…] from silence to language to action.“ (Collins 1991: 112)

In Deutschland ist Empowerment ein recht diffuser Begriff und wird in unterschiedlichen Kontexten verschieden genutzt. Wie oben bereits ausgeführt, ist der Kern des Begriffs ‚power‘. Hier lassen sich zwei Übersetzungen anführen, die unterschiedliche Bedeutungen möglich machen und dabei einen Streitpunkt innerhalb der Diskurse um Empowerment deutlich offenlegen. Wird der englische Begriff ‚power‘ als ‚politische Macht‘ – womit weniger Dominanz, sondern eher Kraft, Stärke sowie Macht als gesellschaftliche Macht gemeint ist – übersetzt, ist ‚Bemächtigung‘ eine angemessene Übersetzung von Empowerment. Wird ‚power‘ hingegen als ‚Kraft‘ oder ‚Fähigkeit‘ übersetzt, würde Empowerment eher ‚Befähigung‘ bedeuten (vgl. Tank 2013: 12). Schematisch gesprochen geht es bei dem ersten Verständnis um die Veränderung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, das letztere Verständnis konzentriert sich mehr auf eine auf das Individuum fokussierte Zielsetzung, das dazu befähigen soll, den Alltag aus eigener Kraft heraus zu gestalten. Im psychosozialen Bereich wird unter Empowerment eher eine professionelle Haltung verstanden, die zum Ziel hat, die Selbstorganisation und das gemeinschaftliche Handeln der Klienten zu fördern (vgl. Stark 1996: 159). In der Pädagogik beschreibt Empowerment „mutmachende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen.“ (Herriger 2006: 20)

129

Block I: Theoretische Grundlagen Die Haltung Herrigers stellt eine begrüßenswerte Abgrenzung zu immer noch verbreiteten bevormundenden und defizitorientierten Ansätzen dar. Das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und Empowerment ist jedoch kritisch zu betrachten. Vielfach wird die Soziale Arbeit als Vertreterin eines Systems angesehen, das von emanzipatorischen sozialen Bewegungen kritisiert wird, da sie mit ihrem Empowerment-Verständnis auf einer individuellen Ebene verharrt und strukturelle Ungleichheitsverhältnisse außen vor lässt (vgl. Quindel/Pankofer 2000). „The historical and current conception of empowerment practice focuses primarily on individual enlightenment and emancipation in a way that is not directly relevant to collective action and social transformation.“ (Herrick 1995: 1)

Herrick argumentiert, es sei wenig überzeugend, dass jemand empowert ist, wenn diese personelle und interpersonelle Veränderung keinen Einfluss auf die sozialen Ungleichheitssituationen des eigenen Lebens hat. Denn das Ziel derjenigen, die den Anspruch haben, Menschen zu empowern, kann es nur sein – wenn sie es wirklich ernst meinen –, sich selbst überflüssig zu machen. Wenn Empowerment als eine Methode institutionalisiert wird, gleichzeitig aber die Strukturen, die Empowerment überhaupt notwendig machen, unangetastet bleiben, wird Empowerment zur bloßen „ästhetischen Korrektur“ (Al-Radwany/Shah 2015) und täuscht eine Gleichberechtigung vor, die real nicht existiert. Marwa Al-Radwany und Ahmed Shah des JugendTheaterBüro Berlins fragen in einer Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Empowerment provokant: „Was nützt es jungen Menschen, dass sie ein positives Selbstbewusstsein entwickeln, sich nunmehr auf Podien zu Wort melden und nicht mehr jede rassistische und chauvinistische Bemerkung gefallen lassen, wenn sie weiterhin wegen ihres arabischen Nachnamens keine Wohnung erhalten oder ihre Bewerbungen von vornherein ausgesiebt werden?“ (ebd.)

Wenn diejenigen, denen ,geholfen' wird, in ihrem marginalisierten sozialen und gesellschaftlichen Status verbleiben – und hierfür womöglich noch dankbar sein sollen –, stärken solche Ansätze, ob beabsichtigt 130

Block I: Theoretische Grundlagen oder nicht, in erster Linie die Helfenden, indem diese beispielsweise finanzielle Mittel für diese Hilfe erhalten. Es darf nicht aus dem Blick geraten, dass die Soziale Arbeit mindestens ein doppeltes Mandat hat. Zum einen soll sie Hilfe leisten, zum anderen ist sie aber auch eine Institution sozialer Kontrolle. „Problematisch an den meisten Ansätzen ist, dass dieser Diskurs im Wesentlichen einer Perspektive verhaftet bleibt, die die minorisierten ,Anderen' entsprechend den Problemdefinitionen und Lösungsvorstellungen der Mehrheit unterstützt, ohne institutionelle Machtstrukturen mit einzubeziehen.“ (Rosenstreich 2006: 198)

Auch wenn Empowerment mit der Beteiligung von Hilfesuchenden verknüpft wird, bleiben hierarchische Verhältnisse zwischen Professionellen und den sich zu empowernden Anderen in der Regel bestehen. Paradoxerweise geht der Feststellung, dass eine bestimmte Gruppe Empowerment benötigt, dass also ihr Selbstwertgefühl auf Basis der Bewusstmachung ihrer Stärken gefestigt werden muss, stets eine Defizitdiagnose seitens der mit den Problemen dieser Gruppe befassten Experten voraus. Die Adressat*innen der pädagogischen oder psychosozialen Angebote werden meist als defizitär angenommen, nicht aber die sie umgebenden Verhältnisse (vgl. Al-Radwany/Shah 2015). Die grundsätzliche Asymmetrie der Beziehung zwischen Expert*innen und Klient*innen wird durch dieses Empowerment-Konzept meist nicht in Frage gestellt. Eine solche Perspektive läuft Gefahr, paternalistisch zu agieren. Es kommt zu einer Reproduktion der binären Gruppen von Helfenden – meist weiße bürgerliche Pädagog*innen – und denen, die Hilfe brauchen. Al-Radwany und Shah fassen folgendermaßen zusammen: „Vieles, was derzeit in der Organisationsentwicklung, im Feld der Pädagogik oder in Kulturinstitutionen unter Empowerment verhandelt wird, hat den Charakter oberflächlicher Korrekturen oder gar Imagekampagnen. Oftmals wird unter dem Label Empowerment weiterhin klassische Sozialarbeit oder soziokulturelle Arbeit betrieben, die im Kern zutiefst bevormundend ist, weil sie nicht auf Augenhöhe mit ihren Klient*innen agiert.“ (ebd.)

131

Block I: Theoretische Grundlagen Dieser verkürzte Machtbegriff beschränkt sich auf den Zugewinn an power für ein Individuum. Nach diesem Verständnis geht dies nicht mit dem Verlust von Macht für ein anderes Individuum einher. Der Widerspruch zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen wird damit verdeckt (vgl. Bröckling 2008: 3). Es geht nicht um harmonisch ablaufende Winwin-Situationen, sondern um einen „konfliktbehafteten Prozess der Umverteilung von politischer Macht“ (Fleary 2011: 12), in dessen Verlauf die Menschen aus der Machtunterlegenheit austreten und sich ein Mehr an Macht, Verfügungskraft und Entscheidungsvermögen aneignen. Mit Empowerment ist also auch die Möglichkeit gemeint, an Entscheidungsprozessen teilzuhaben sowie über den Zugang zu materiellen und sozialen Ressourcen (z. B. Wohnraum, Einkommen, Bildung, öffentliche Anerkennung) verfügen zu können (vgl. Pinderhughes 1998: 132). Empowerment ist also immer mit der Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse im Sinne sozialer Gerechtigkeit verquickt und bezeichnet deshalb auch einen konflikthaften Prozess der Umverteilung von politischer Macht (vgl. Can 2013: 7). Eine Kritik an verkürzten und unkritischen Empowerment-Konzepten ist unabdingbar. Empowerment muss jedoch nicht als binäres Entweder-oder, das entweder an individueller oder an gesamtgesellschaftlicher Veränderung orientiert ist, konzeptionalisiert werden. Subjekt und Gesellschaft bedingen sich wechselseitig, so dass Empowerment auch als ein Konzept betrachtet werden muss, das beide Dimensionen und ihre Wechselwirkungen im Blick hat.82 Die individuelle und gesellschaftliche Ebene von Empowerment-Bestrebungen schließen sich keineswegs gegenseitig aus. Empowerment verstehe ich als einen Ansatz, der darauf zielt, Machtzugänge und damit auch Handlungsräume unterdrückter Gruppen zu erweitern – und zwar auf der Grundlage von Selbstdefinition und Selbstbestimmung. Wie bell hooks ausführt, bezieht sich Unterdrückung nicht auf Individuen, sondern auf kollektive Zugehörigkeiten bzw. Zuschreibungen. Unterdrückung wird nicht als 82

Zum Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft siehe ausführlicher Kapitel I.1.

132

Block I: Theoretische Grundlagen individueller, sondern als systematischer, strukturierter und institutionalisierter Prozess begriffen, der die Entfaltungsmöglichkeiten bestimmter sozialer Gruppen systematisch einschränkt. Unterdrückung bezieht sich auf kollektive Zugehörigkeiten bzw. Zuschreibungen, sie wird jedoch individuell erlebt (vgl. hooks 1993). Empowerment-Prozesse müssen demzufolge sowohl auf der Ebene von Individuen als auch auf der Ebene von Kollektiven sowie auf der Ebene der gesellschaftlichen Strukturen stattfinden (vgl. Pinderhughes 1998: 139). Empowerment im Spannungsverhältnis zwischen individueller Selbstermächtigung und politischer Vision gesellschaftlicher Veränderung wird uns in dieser Dissertationsarbeit weiter begleiten.

133

BLOCK II: BILDUNG UND MIGRATION: FORSCHUNGSSTAND UND WEITERFÜHRUNGEN Empowerment-Konzepte sind zwar in unterschiedlichen Bereichen vorzufinden.83 Für die folgende Arbeit wird der Fokus jedoch auf den Forschungsstand innerhalb der Interkulturellen Pädagogik gelegt. Ziel ist es, Empowerment-Konzepte in diesem Forschungsbereich weiter zu implementieren. In diesem Block geht es mir um eine Darstellung des aktuellen Forschungsstandes im Bereich Bildung und Migration sowie einige Weiterführungen dieses Bereiches um Perspektiven auf Subjektivierungsprozesse von People of Color durch Rassismuserfahrungen. Im Kapitel 1 stelle ich die Diskursverläufe innerhalb der Interkulturellen Pädagogik vor – mit einem besonderen Fokus auf die Fragestellung: Wer spricht über wen mit welchen Effekten? Dabei werden die Entwicklungslinien seit den 1970er Jahren bis heute dargestellt und die theoretischen Konzeptionen diskutiert und kontextualisiert. Die Anfänge der Beschäftigung mit Migration im Bildungsberiech liegen in der Ausländerpädagogik, die als Folge der Welle der Arbeitsmigration für den Wiederaufbau Deutschlands entstand (Kapitel II.1.2). Die Interkulturelle Pädagogik entsteht in den 1980er Jahren in Abgrenzung zur defizitorientierten Ausländerpädagogik. Hier kommt es zu einer Bejahung von Vielfalt und einer (Über-)Betonung von kulturellen Differenzen (Kapitel II.1.3). Die Rassismuskritik ist ein Strang innerhalb der Interkulturellen Pädagogik, welcher eine Kulturalisierung kritisiert und eine Anerkennung von Rassismus als strukturelles Problem fordert (Kapitel II.1.4). Insgesamt kommt es in diesem strukturell weiß dominierten Forschungsbereich zum einen meist zu einer Essentialisierung der binären Logik von Wir und Nicht-Wir. Zum anderen wird ein wesentlicher Moment des Rassismus reproduziert, indem weiße Subjekte die Anderen als Objekte mitproduzieren (Kapitel II.1.5). Im letzten Unterkapitel be-

83

Siehe ausführlicher hierzu in Kapitel III.1.

Block II: Bildung und Migration trachte ich neuere Ansätze aus der pädagogischen Praxis der Anti-Diskriminierungsarbeit, die an die theoretischen Konzeptionen der Rassismuskritik anknüpfen und sich in Kritik an den Schieflagen der Interkulturellen Pädagogik entwickeln (Kapitel II.1.6). In diesem Abschnitt werden machtkritische Diversity-Ansätze vorgestellt und in einem letzten Schritt ins Verhältnis zu Empowerment-Arbeit gesetzt. Im zweiten Kapitel vertiefe ich die Theorien der Rassismuskritik, auf deren analytisches Verständnis von Rassismus ich mich im Weiteren beziehe. Obwohl längst bewiesen ist, dass es Rassen an sich nicht gibt (Kapitel II.2.1.), ist Rassismus ein machtvolles Unterscheidungsprinzip unserer Gesellschaft, wodurch Ausschluss und Einschluss reguliert und legitimiert werden. In Kapitel II.2.2. gehe ich deshalb auf die Funktionsweise von Rassismus ein, indem ich beschreibe, wie Rassismus als ein wirkungsvolles Ordnungsprinzip durch den Prozess des Otherings, in dem die Anderen in Abgrenzung zum Wir produziert werden, das Zusammenleben regelt und knappe Ressourcen verteilt (Kapitel II.2.2.1 und Kapitel II.2.2.2). Obwohl Rassismus etwas Alltägliches ist (Kapitel II.2.3), gibt es eine Abwehr in Deutschland darüber zu sprechen. Die Gründe hierfür werden in Kapitel II.2.4 thematisiert. Wenn aber über Rassismus gesprochen wird, wird selten thematisiert, dass Rassismus nicht nur Menschen als deprivilegiert positioniert, sondern ebenso Menschen, die von System profitierten: Dem Weißsein und der weißen Normalität widme ich mich in Kapitel II.2.5. Auch diejenigen, die von Rassismus betroffen sind, erfahren ihn ganz unterschiedlich. Deshalb wird in Kapitel II.2.6. auf den vergeschlechtlichten Rassismus eingegangen und in Kapitel II.2.7 auf die unterschiedlichen Formen von Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland (kolonialer Rassismus, antimuslimischer Rassismus, Antisemitismus, Antiromaismus). Zum Abschluss expliziere ich in Kapitel II.2.8 die Funktion von Rassismus. Im dritten Kapitel geht es mir darum, die Rassismuskritik um weitere Aspekte zu erweitern, indem ich den Fokus auf die Subjektivierungsprozesse von Menschen mit Rassismuserfahrung lenke. Nachdem ich auf den deutschen Kontext und das hiesige Integrationsgebot eingehe 135

Block II: Bildung und Migration (Kapitel II.3.1), arbeite ich anhand von einigen Beispielen die Funktionsweisen von Rassismuserfahrungen heraus (Kapitel II.3.2). Hier geht es um Fragen der Zugehörigkeit und der Stellvertretung einer Kultur sowie die ambivalente Wirkungsweise von Rassismus. Da es kein Außerhalb von Rassismus geben kann, kommt es bei Subjekten of Color zu Verinnerlichungen von Rassismus (Kapitel II.3.3), die hier in Anlehnung an Frantz Fanon vorgestellt werden. Permanente Rassismuserfahrungen können wiederum zu traumatischen Erfahrungen führen. Deshalb widme ich mich in Kapitel II.3.4 dem Thema Rassismus und Trauma. Im letzten Abschnitt geht es mir darum, abschließend unterschiedliche Umgangsstrategien mit Rassismus und das (Über-)Leben darin darzustellen.

136

1

DISKURSVERLÄUFE UM BILDUNG UND MIGRATION

Migration war schon immer ein bedeutender Motor gesellschaftlicher Veränderung (vgl. Mecheril 2010b: 7). Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Annahme ist sie kein neueres Phänomen, mit dem sich nun auch Pädagog*innen auseinandersetzen müssen. Nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch in der Migrationsforschung gibt es die Tendenz, verschiedene Phasen der Migration nach Deutschland völlig getrennt voneinander zu betrachten und damit das Phänomen der Wanderbewegungen zu enthistorisieren (vgl. Ha 2012: 80).84 Dies führt zu der verbreiteten Auffassung, dass Migration erst in den 1950er-Jahren mit der Anwerbung der sogenannten Gastarbeiter*innen begann. Dass es bereits 100 Jahre vor 1945 eine lange Tradition ausländischer Arbeitskräfte gab, wird verdrängt. Stattdessen wird weiterhin der Mythos des Neuanfangs mit der Nachkriegsgeneration und das Konstrukt der ‚Stunde null‘ der bundesrepublikanischen Arbeitsmigrationspolitik produziert (vgl. ebd.: 56). Auch in der Darstellung der jungen Geschichte der BRD kommt es zu einer verkürzten Darstellung, in der meist nur über Einwanderung gesprochen wird. Die BRD ist stark verbunden mit Wanderbewegungen, doch spielen im hiesigen Kontext neben der Einwanderung – entgegen der allgemeinen Annahme – drei

84

Trotz der Tatsache, dass in den Debatten um Migration eine ganze Reihe von Argumenten wiederkehren, die ihren Ursprung zum Teil in einem Jahrhundert zurückliegender Wanderbewegungen haben, ist die Frage nach dem Verhältnis Wander-, Fremdund Gastarbeiter*innen nie Gegenstand einer gesellschaftlichen Debatte geworden (vgl. Ha 2012: 59). Dass hier eine ganze Reihe von Parallelitäten geleugnet wird und die historisch wirksamen Bezüge deutscher Arbeitsmigrationspolitik so stark verdrängt werden, hat nicht zuletzt mit der Verleugnung der deutschen Kolonialgeschichte zu tun. Hier entsteht der Eindruck einer „kolonialen Entinnerungsabwehr“ (Ha 2012: 59). Mehr zu den Kontinuitäten der deutschen Arbeitsmigrationspolitik siehe Ha 2012: 59-107. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mohseni, Empowerment-Workshops für Menschen mit Rassismuserfahrungen,, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31005-9_4

Block II: Bildung und Migration weitere Wandertypen eine Rolle: Die Aussiedlung85, die Arbeitsmigration und die Flucht. Außerdem ist das Modell der Transmigration86 hinzugekommen, das meist in Diskursen ausgelassen wird (vgl. Castro Varela/Mecheril 2011: 158-166). Aufgrund der verschiedenen Formen von Migration schlagen Rassimuskritiker*innen vor, von einer Migrationsgesellschaft statt von einer Einwanderungsgesellschaft zu sprechen. So fassen Paul Mecheril und María do Mar Castro Varela zusammen, dass sich die Art und das Ausmaß von Migration, aber auch die Ordnung und die Grenzen in der jüngeren Gegenwart grundlegend verschoben haben (vgl. ebd.: 154). Spezifisch an der heutigen Zeit ist es, dass noch nie so viele Menschen dazu bereit waren – aufgrund von (Bürger-)Kriegen, Umweltkatastrophen und anderen Bedrohungen gezwungen und aufgrund der technologisch bedingten Veränderung von Raum und Zeit in der Lage – ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt, sei es vorübergehend oder auf Dauer, zu verändern. Stephen Castles spricht vom ‚Zeitalter der Migration‘, in der in einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt nicht nur die internationale Bewegung von Kapital, Ressourcen und Waren stattfindet, sondern auch von Menschen und Arbeitskräften (vgl. Castles/Miller 2009: 130). Migration kommt damit eine Schlüsselfunktion im Wandel der postmodernen westlichen Welt zu. Was oft beim Glorifizieren von Globalisierung und Migration jedoch nicht thematisiert wird, ist die Tatsache, dass Wanderbewegungen

85

Deutschland war bis zum Ende des 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland – vor allem in Richtung Nord- und Südamerika, aber auch Arbeitswanderungen von Westfalen nach Holland, Frankreich und in die Schweiz. Außerdem gab es Massenwanderungen in deutsche Kolonien. Der Grund hierfür war die einsetzende Industrialisierung, die für Massenverelendung sorgte. Im 20. Jahrhundert kam es zu einem Wandel. Deutschland wurde unter anderem wegen der weitreichenden Armut im Osten zum Einwanderungsland. In den 1920er Jahren kam es zu einer Arbeitszuwanderung von mehreren Hunderttausend (vgl. Castro Varela/Mecheril 2011: 156). 86 Damit ist nicht vorwiegend ein einmalig zeitlich begrenzter Übergang zwischen örtlich eindeutig fixierten Lebenszusammenhängen gemeint, sondern Wanderung selbst als Daseinsform. Hierfür ist die gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Kontexten konstitutiv.

138

Block II: Bildung und Migration – vor allem die aus der südlichen Peripherie in die westlichen Metropolengesellschaften – Folgen der postkolonialen Konstellationen sind (vgl. Ha 2007b: 49). Die Pädagogik in Deutschland hat erst in den 1970er-Jahren angefangen, sich mit den Folgen des Phänomens Migration auseinanderzusetzen. Die bundesdeutschen Bildungsinstitutionen haben noch viel später auf die Veränderung im Bildungssystem reagiert. Hier gab es kaum Reaktionen auf die Anwesenheit von Migrant*innen in Schulen – weder auf organisatorischer Ebene, noch bei curricularen Konzeptionen. Erst zur Jahrtausendwende hat die Politik in Deutschland – im Vergleich zu anderen Ländern verspätet87 – anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist (vgl. Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2012b: 8). Heute, nach PISA, sind diese Themen in öffentlichen Diskursen vorhanden und stehen nun auf der bildungspolitischen Agenda. Mittlerweile gibt es einen regelrechten Boom um das Thema ‚Differenz’ und ‚interkulturelle Pädagogik’, es entstehen Forschungsstellen und Studiengänge zum Thema Bildung und Migration. In Folge der aktuellen Fluchtbewegung sind Themen der Interkulturellen Pädagogik erneut virulent. Jedoch verlaufen die Debatten oftmals problematisch. Diese Problematiken möchte ich herausarbeiten, indem ich den Diskursverlauf um Bildung und Migration unter der Fragestellung ‚Wer spricht wie über wen?‘ darstelle. In diesem Kapitel werden, nach einer kurzen Problematisierung der eigenen Darstellungsweise (Kapitel II.1.1), die Entwicklungslinien der Interkulturellen Pädagogik skizziert. Hierbei werden die theoretischen Konzepte der Ausländerpädagogik (Kapitel II.1.2.) – die ersten expliziten Arbeiten in Bezug auf Bildung und Migration – dargestellt, kontextualisiert und diskutiert. In Kritik an ihr entsteht die Interkulturelle Pädagogik, in der Theorien der Anerkennung 87

Diese Forderung, Migration als konstitutiv für Deutschland anzuerkennen, wurde Jahrzehnte lang verweigert. Obwohl viele Stimmen schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts Deutschland als Einwanderungsland anerkannten, weigerten sich die politischen Entscheidungsträger diese Tatsache hinzunehmen (vgl. Mecheril 2004a: 7; 4950).

139

Block II: Bildung und Migration und Forderungen nach Respektierung von Differenz und Vielfalt Konjunktur haben (Kapitel II.1.3). Die Rassismuskritik – der theoretische Referenzrahmen dieser Dissertationsarbeit – kann als ein Forschungsstrang innerhalb der Interkulturellen Pädagogik betrachtet werden, welches in theoretischer Abgrenzung zur Interkulturellen Pädagogik steht (Kapitel II.1.4). Außerdem arbeite ich neuere Ansätze aus der Praxis der Antidiskriminierung- und Diversity-Arbeit heraus, um auch die Empowerment-Arbeit darin zu verorten (Kapitel II.1.5). Im Anschluss diskutiere ich die Frage der Repräsentation innerhalb des Diskurses um Interkulturalität und ziehe eine Zwischenbilanz. Denn die Auseinandersetzung darüber, wer wie zu einem Thema spricht und wer nicht, spiegelt gesellschaftliche Verhältnisse wider und lässt Schlüsse darüber ziehen, an welchem Punkt die Debatte über Rassismus steht: „Was ein Diskurs verschweigt, was er nur undeutlich zum Sprechen bringt, ist oft genau das, was unter einem machtanalytischen Interesse von herausragender Bedeutung ist.“ (Castro Varela/Mecheril 2005: 406)

Weitere Fragen im Zusammenhang mit Repräsentationsverhältnissen sind: Wer repräsentiert wen in der Debatte um Bildung und Migration? Welche Folgen ergeben sich daraus? Wie verändert sich die Debatte durch Wissen von People of Color innerhalb der Interkulturellen Pädagogik? Im Bereich der pädagogischen Praxis entstehen in den vergangen Jahren Ansätze der Anti-Diskriminierung, welche sich in Kritik an den Schieflagen der Interkulturellen Pädagogik entwickeln. In diesem Abschnitt werden disziplinübergreifende radikale Diversity-Ansätze (vgl. Czollek et al. 2011) bzw. machtkritische Diversity-Ansätze (vgl. Scherr 2008) vorgestellt und zur Empowerment-Arbeit ins Verhältnis gesetzt. Dabei werden die jeweiligen Vorzüge und Gefahren analysiert.

140

Block II: Bildung und Migration

1.1

WISSENSCHAFTLICHE DISKURSVERLÄUFE IN DER INTERKULTURELLEN PÄDAGOGIK

Es ist zu bedenken, dass bildungspolitische, wissenschaftliche und pädagogische Praxen jeweils andere Entwicklungen vollziehen, die auseinandergehalten werden müssen. Teilweise gibt es eine große Kluft zwischen pädagogischer Praxis und wissenschaftlichen Diskursen. Im ersten Teil dieser Darstellung geht es vor allem um den wissenschaftlichen Diskurs und im Anschluss davon um neuere Ansätze aus der Bildungspraxis. Wolfgang Nieke war der erste deutschsprachige pädagogische Wissenschaftler, der die historischen Entwicklungslinien der Interkulturellen Pädagogik herausgearbeitet hat. Seine Phaseneinteilung bestand ursprünglich aus drei Etappen: 1. ‚Ausländerpädagogik’ als Nothilfe, 2. Kritik der ‚Ausländerpädagogik’, 3. Konsequenzen aus der Kritik: Differenzierung von Förderpädagogik und Interkultureller Erziehung (vgl. Nieke 2000: 14). Diese Etappen wurden von Nieke um zwei weitere Phasen ergänzt: 4. Erweiterung des Blicks auf die ethnischen Minderheiten, 5. Interkulturelle Erziehung und Bildung als Bestandteil von Allgemeinbildung (vgl. ebd.). An seine Systematisierung knüpfen heute noch viele Autor*innen an (vgl. Auernheimer 2007; Flam 2007; Krüger-Potratz 2005; Gogolin/Krüger-Potratz 2006; Mecheril 2010a; Nohl 2006; Roth 2002). Niekes idealtypische Phaseneinteilung eröffnet die Möglichkeit, Leitorientierungen und Diskussionsstränge herausarbeiten zu können, argumentiert Joachim Roth (Roth 2002: 39). Paul Mecheril spricht sich dafür aus, die Bezeichnungen dafür zu nutzen, um Prinzipien des pädagogischen Umgangs mit dem „Problem des Anderen, der Anderen“ (Mecheril 2004b: 90) in einer idealtypischen Einstellung zu rekonstruieren. Georg Auernheimer begründet die Etappeneinteilung folgendermaßen: „Da die Einwanderungsbewegung ebenso wie die Ausländer- bzw. Einwanderungspolitik, mit denen man Migration immer wieder zu steuern versucht,

141

Block II: Bildung und Migration Einfluss auf die Problemdefinition und Debatten gehabt haben, ist es zunächst naheliegend, den Diskussionsverlauf entlang der Migrationsgeschichte zu gliedern.“ (Auernheimer 2007: 35)

Jedoch sind sich alle Autor*innen einig, dass eine historische Phaseneinteilung problematisch ist. Die ausführlichste und konsequenteste Kritik an einer Phaseneinteilung der Interkulturelle Pädagogik hat Marianne Krüger-Potratz ausformuliert (vgl. Krüger-Potratz 2005: 43-59). Phaseneinteilungen stellen Diskurse vereinfacht da, Kontroversen innerhalb einer Phase werden nicht thematisiert und das gleichzeitige Nebeneinanderbestehen unterschiedlicher Ansätze wird verschwiegen. „Solcheart historiographische Zugriffe sind stets problematisch. Sie verdecken zwangsläufig Kontroversen, Überlagerungen und Brüche. Sie suggerieren eine historische Logik – meist im Gewande simpler Linearität – die auch durch Binnendifferenzierung nicht aufzuheben ist.“ (Roth 2002: 35)

Zudem entsteht der Eindruck einer etappenförmingen Entwicklung – von der Ausländerpädagogik über die Interkulturelle Pädagogik zur Rassismuskritik – die sich als Fortschrittsgeschichte lesen lässt, worin alte Phasen als überholt und veraltet erscheinen und wodurch man in implizite Wertungen verfällt (vgl. Krüger-Potratz 2005: 46). Die Phasen sind weniger als abgrenzbare Etappen zu sehen, die nacheinander überwunden wurden (vgl. Auernheimer 2007: 17; Krüger-Potratz 2005: 43; Mecheril 2004b: 89; Roth 2002: 35). So entsteht leicht der Eindruck, die Ausländerpädagogik z.B. sei längst überholt und eine moralisch unvertretbare Position. Da die Ausländerpädagogik massive Kritik in den 1970er-Jahre erhalten hat, bezieht sich heute niemand positiv auf das Konzept. Defizitäre Ansätze aus der Ausländerpädagogik sind jedoch oftmals noch Teil der Interkulturellen Pädagogik. Hinter vielen Bezeichnungen von Interkultureller Pädagogik verbirgt sich eine Ausländerpädagogik, wie sie Nieke gezeichnet hat. Zudem gibt es Handlungsansätze und Selbstverständnisse, die sich nicht so strikt kategorisieren lassen und sowohl auf Momente der Ausländerpädagogik als auch der Interkulturellen Pädagogik gleichzeitig zurückgreifen.

142

Block II: Bildung und Migration Ein weiterer problematischer Punkt der Darstellung der ‚Entwicklungsgeschichte‘ ist ihr Beginn in den 1970er Jahren. Hier wird die allgemeine Annahme unterstützt, dass die deutsche Migrationsgeschichte mit den sogenannten Gastarbeiter*innen beginne. So werden auch in diesen Darstellungen die kolonialen Kontinuitäten, wie Kien Nghi Ha sie ausführt (vgl. Ha 2012: 59-107) verschwiegen. Marianne KrügerPotratz thematisiert in ihrer Einführung zumindest auch die ältere Geschichte Deutschlands vor 1970, worin sie ausführt, dass Migration vorher in Deutschland ignoriert wurde. Die Schulpflicht galt lange Zeit für Kinder, die migrationsbedingt in Deutschland waren, nicht. Somit wurde ihre Existenz und die daraus entstehenden Konsequenzen (wie z.B. Zweisprachigkeit) aus den deutschen Schulen herausgehalten. Die allgemeine Schulpflicht auch für sogenannte ausländische Schüler*innen wurde erst in den 1960er Jahren eingeführt, für Kinder von Asylbewerber*innen in NRW z.B. erst 2005 (vgl. Krüger-Potratz et al. 2010). Vor der Zeit der Ausländerpädagogik gibt es folglich eine lange Phase des kompletten Ignorierens von Migration im Wissenschaftsbereich, im Bildungswesen und in der pädagogischen Praxis. Um rassismuskritische Bildungsarbeit in ihrem Wissenschaftsfeld und Empowerment-Arbeit in der Praxis zu kontextualisieren, ist es trotz der berechtigten Kritik der Phaseneinteilung wichtig einzuordnen, wo die Anfänge der rassismuskritischen Bildung liegen, wie sie sich entwickelt haben und innerhalb welcher Diskurse sie sich heute bewegen. So werde ich hier eine idealtypische Darstellung der Ausländerpädagogik, der Interkulturellen Pädagogik und der Rassismuskritik vornehmen, indem ich eine Kontextualisierung vornehme und die theoretischen Konzeptionen skizziere.

1.1.1

VON DER AUSLÄNDERPÄDAGOGIK …

Anfang der 1970er-Jahre schenken Pädagog*innen erstmals der Gruppen von Kindern, deren Familien durch die Arbeitsmigration nach Deutschland gezogen sind, ihre Aufmerksamkeit (vgl. Flam 2007: 43). 143

Block II: Bildung und Migration Die Familienzusammenführungen ab den 1960er-Jahren führen zu einem zunehmenden ‚Problembewusstsein’ – meist thematisiert durch überforderte Lehrer*innen sowie weiß-deutsche Eltern, die den Schulerfolg ihrer Kinder als gefährdet sehen: „In den ersten Beiträgen der ‚Ausländerproblematik‘ thematisierten die Autorinnen und Autoren vor allem Probleme aus der täglichen Praxis in den Klassenzimmern und sozialpädagogischen Hilfen (Hausaufgabenhilfe, Spielnachmittag, Beratungsangebote). Sie versuchten sich Klarheit über die Ursachen der Probleme zu verschaffen, boten Lösungen an und formulierten ihre Forderungen nach Hilfen und Fortbildungen.“ (Gogolin/KrügerPotratz 2006: 103)

Die ersten bildungspolitischen und pädagogischen Konzeptionen sind vordergründig programmatisch orientiert und kurzfristig angelegt, da die Bundesregierung Deutschland zu dem Zeitpunkt nicht als Einwanderungsland begreift (vgl. Auernheimer 2007: 17).88 Stattdessen arbeitet die Politik mit einem Rotationsprinzip, worin vorgesehen ist, die Arbeitskräfte nach spätestens fünf Jahren in ihre Heimat zurückzuschicken, so dass weitere Arbeitssuchende nachrücken können. Damit soll Sorge getragen werden, dass die Arbeitskräfte Deutschland wieder verlassen. Das Ausländergesetz hält sogar eine grundsätzliche Rückführung der Arbeiter*innen offen, wenn „die Belange der Bundesrepublik beeinträchtigt“ sind (Nieke 2000: 22). Orientiert an diesem Rotationsprinzip, basieren ausländerpädagogische Konzepte ursprünglich auf einer Doppelstrategie, die die Integration sowie die Bewahrung der Rückkehrfähigkeit beabsichtigt.89 Hauptaugenmerk richtet sich in der Regel auf das Deutschlernen. Die schulische

Die migrationspolitische Setzung besagt zu der Zeit, die BRD sei kein Einwanderungsland und der Grund fur den Aufenthalt der Wanderarbeitnehmer sei allein der Bedarf des Wirtschaftssystems an Arbeitskraften (vgl. Nieke 2000: 16). 89 Diese Doppelstrategie ist maßgebend auf die Orientierung an der Kultusministerkonferenz und ihren Empfehlungen zurückzuführen. Ziel ist es, die Kinder ausländischer Herkunft umgehend schulisch zu integrieren, das heißt ihre Sprachdefizite abzubauen und gleichzeitig ihre Rückkehr offen zu halten (vgl. Auernheimer 2007: 40). 88

144

Block II: Bildung und Migration Neuorganisation sieht so aus, dass ausländische Schüler*innen „in besonderen Lerngruppen so lange außerhalb des regulären Unterrichts“ (ebd.: 15) zusammengefasst werden, bis sie ausreichend deutsch sprechen können, um dem Unterricht folgen zu können. Hierfür werden spezielle Vorbereitungsklassen eingerichtet (vgl. Roth 2002: 34). Ergänzend zu den Deutschkursen, die sich zunächst an dem Prinzip ‚Deutsch als Fremdsprache’ orientieren, wird teilweise muttersprachlicher Ergänzungsunterricht angeboten, teilweise wird dies aber auch als Aufgabe der Familie betrachtet. Das Interesse daran, dass Kinder ihre Muttersprache lernen, hat weniger mit der Wertschätzung der Muttersprachen der Migrant*innen zu tun, sondern vielmehr mit dem Erhalt der Rückkehrfähigkeit (vgl. Nieke 2000: 15).90 Als erste unmittelbare Reaktion auf die Arbeitsmigration basiert die Ausländerpädagogik in ihren Anfängen weniger auf fachwissenschaftlicher Bildungsarbeit, sondern vielmehr auf pragmatischen Interventionsmaßnahmen in Form von Veränderungen in der Schulorganisation und in methodischen Überlegungen. Diehm und Radtke weisen darauf hin, dass die Kategorie Ausländerpädagogik erst in der Kritik an ihr