Konzepte der Tanzkultur: Wissen und Wege der Tanzforschung [1. Aufl.] 9783839414408

Die Tanzkultur zeigt sich heute vielfältig - vertieftes Wissen, Verstehen und Handeln sind gefragt wie nie zuvor. Die Su

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Konzepte der Tanzkultur: Wissen und Wege der Tanzforschung [1. Aufl.]
 9783839414408

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Konzepte der Tanzkultur
Anthropologische Zugänge zum Tanz
Anthropologische Dimensionen des Tanzes
Tanzen Zeigen. Lecture-Performance im Tanz seit den 1990er Jahren
Performativität und Repräsentation im Tanz: Tanz als Aufführung und Darstellung
Bildungstheoretische Zugänge zum Tanz
Bildungskonzepte im Tanz
‚Bevor Form entsteht‘ – informelle Bühnen von Tanz(enden)!
Tanz und Bildende Kunst. Ein interdisziplinärer Ansatz der Tanzpädagogik
Kultursoziologische und politische Zugänge zum Tanz
Tanz als Aufführung des Sozialen. Zum Verhältnis von Gesellschaftsordnung und tänzerischer Praxis
Sichtbarkeit: Infrastrukturen für Tanz schaffen
We had no problem until we had to do something together…. Ein Entwurf zum Verhältnis von Tanz und Institution
Ästhetische Zugänge zum Tanz
Archive der Erfahrung, Archive des Fremden. Zum Körpergedächtnis des Tanzes
Körpertechniken als Wissenskultur. Choreografische Konzepte im Umgang mit Tradition – Beispiele von Foofwa d’Imobilité
Raumkonzepte im mediatisierten Tanz: Inszenierte Urbanität und virtueller Bildraum
Methodische Zugänge zur Tanzwissenschaft
Tanzforschung. Geschichte – Methoden
Zu den Autorinnen und Autoren

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Margrit Bischof, Claudia Rosiny (Hg.) Konzepte der Tanzkultur

T a n z S c r i p t e | hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 20

Margrit Bischof, Claudia Rosiny (Hg.)

Konzepte der Tanzkultur Wissen und Wege der Tanzforschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Andreas Greber, Bern Lektorat: Margrit Bischof, Claudia Rosiny, Andrea Fraefel Satz: Rahel Spring Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1440-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

7

Margrit Bischof Konzepte der Tanzkultur

9

Anthropologische Zugänge zum Tanz Christoph Wulf Anthropologische Dimensionen des Tanzes

31

Gabriele Brandstetter Tanzen Zeigen. Lecture-Performance im Tanz seit den 1990er Jahren

45

Jens Roselt Performativität und Repräsentation im Tanz: Tanz als Aufführung und Darstellung

63

Bildungstheoretische Zugänge zum Tanz Antje Klinge Bildungskonzepte im Tanz

79

Wiebke Dröge ‚Bevor Form entsteht‘ – informelle Bühnen von Tanz(enden)!

95

Barbara Haselbach Tanz und Bildende Kunst. Ein interdisziplinärer Ansatz der Tanzpädagogik

109

Kultursoziologische und politische Zugänge zum Tanz Gabriele Klein Tanz als Aufführung des Sozialen. Zum Verhältnis von Gesellschaftsordnung und tänzerischer Praxis

125

Kerstin Evert Sichtbarkeit: Infrastrukturen für Tanz schaffen

145

Sandra Noeth We had no problem until we had to do something together… Ein Entwurf zum Verhältnis von Tanz und Institution

159

Ästhetische Zugänge zum Tanz Gerald Siegmund Archive der Erfahrung, Archive des Fremden. Zum Körpergedächtnis des Tanzes

171

Julia Wehren Körpertechniken als Wissenskultur. Choreografische Konzepte im Umgang mit Tradition – Beispiele von Foofwa d’Imobilité

181

Claudia Rosiny Raumkonzepte im mediatisierten Tanz: Inszenierte Urbanität und virtueller Bildraum

193

Methodische Zugänge zur Tanzwissenschaft Claudia Jeschke, Gabi Vettermann Tanzforschung. Geschichte – Methoden

207

Zu den Autorinnen und Autoren

227

Vorwort

Der zeitgenössische Tanz erlebt seit den 1980er Jahren einen starken Aufschwung. Damit verbunden war in der Folge eine längst fällige Etablierung der Tanzwissenschaft als eigene Disziplin. Seit einigen Jahren bestehen nun an deutschsprachigen Universitäten und Hochschulen wie in Berlin, Hamburg, Giessen, Köln, München, Salzburg oder Bern Studienschwerpunkte und Professuren in der Tanz- und Bewegungswissenschaft. Dadurch sind auch unterschiedliche Plattformen für eine fundierte Diskussion über den Tanz entstanden. Diese Vielfalt von Zugängen zum Tanz zeigt sich ebenfalls in den Betrachtungskonzepten und in dieser Publikation wird nun versucht, hinter die Kulissen verschiedener disziplinärer Zugänge und Konzepte zu Tanz und Tanzforschung zu schauen. Die Annäherung erfolgt aus fünf Richtungen: Anthropologische Zugänge zum Tanz, bildungstheoretische Zugänge zum Tanz, kultursoziologische und politische Zugänge zum Tanz, ästhetische Zugänge zum Tanz sowie ein Beitrag zu methodischen Zugängen zur Tanzwissenschaft. Der Konzeptgedanke steht dabei als Leitmotiv, denn wer nach den Konzepten, nach den grundlegenden Überlegungen eines Vorgehens sucht, die für die Entstehung, Entwicklung und Realisierung von Tanz und Tanzkultur bestimmend sind, und diese versteht, kann Prinzipien und Variationen auf eigene Bereiche anwenden und damit den Fortschritt des Tanzes und der Tanzkultur mit bestimmen. Solch ein Buch, das als Studienbuch gedacht ist, kann zwar von vorne nach hinten gelesen werden, darf und soll aber auch quer und nach Bedarf konsultiert werden. Wir freuen uns sehr, dass so viele namhafte Vertreterinnen und Vertreter der jungen Tanzwissenschaft und angrenzender Disziplinen einen Bei-

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trag für dieses Buch verfasst haben und bedanken uns an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Autorinnen und Autoren. Unser Dank geht außerdem an alle, die rund um das Buch zur Konzeption, Organisation, Gestaltung und Korrektur beigetragen haben: Wolfgang Weiss (Konzeptberatung), Rahel Spring (Layout), Andrea Fraefel (Lektorat), Andreas Greber (Foto Titelbild) und den weiteren Fotografen und Fotografinnen. Der integrative Geist dieser Publikation konnte nur entstehen, weil die Universität Bern in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für universitäre Weiterbildung, der Philosophisch-humanwissenschaftlichen Fakultät und vor allem dem Institut für Sportwissenschaft mit der Etablierung des Weiterbildungsstudiengangs DAS und MAS TanzKultur eine Plattform geschaffen haben, die diesen Dialog von Wissen über den Tanz unterstützt und anregt. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein solches Tanzangebot, das im Austausch mit dem Institut für Theaterwissenschaft und der dortigen Assistenzprofessur für Tanzwissenschaft steht, an einem Sportinstitut einen festen Platz hat. Auch dafür sind wir sehr dankbar. Wir hoffen, dass dieser Band viele Studierende und Interessierte am Tanz erreicht und dass wir dadurch einen kleinen Beitrag zum Wissen und zu Wegen der Tanzforschung leisten können, damit der Tanz und die Tanzwissenschaft zu einer festen Größe im Kanon der Künste und Wissenschaften werden. Bern, im Juni 2010

Margrit Bischof, Claudia Rosiny

Konzepte der Tanzkultur Margrit Bischof Ä7DQ]LVW.|USHUVSUDFKHNRPSOH[HQ(UOHEHQV 7DQ]LVW.|USHUVSUDFKHNXOWXUHOOHQ/HEHQV 0|JHHVZLVVHQVFKDIWOLFKHQ=XJlQJHQJHOLQJHQ GLHVH6SUDFKH]XYHUVWHKHQ XQGXQVHU9HUVWHKHQUHLFKHU]XPDFKHQ³ :ROIJDQJ:HLVV Die vorliegende Publikation entstand im Zusammenhang mit dem Studienangebot MAS TanzKultur, einer Weiterentwicklung des bereits mehrfach an der Universität Bern durchgeführten Nachdiplomstudiengangs DAS TanzKultur. Wie im Masterstudiengang stehen auch bei den verschiedenen Beiträgen in diesem Buch folgende Fragen im Vordergrund: Welches sind die konstituierenden Elemente des Tanzes? Und welche Konzepte sind bestimmend für die Entstehung, Entwicklung und Realisierung von Tanz und TanzKultur?

Konzeptuelles Denken Tanz und Tanzkultur sind von Konzepten geprägt. Hinter jeder Bühnenpräsentation und jeder Tanzvermittlung steht ein Konzept. Diese Konzepte sind handlungsbestimmend – auch wenn sie nur mehr oder weniger bewusst sind. Auch beim Betrachten eines Tanzstücks schwingt ein Konzept mit: die Entscheidung, eine Vorführung betrachten und als sinnliches Erlebnis in sich aufnehmen zu wollen oder gezielt mit Parametern das Stück differenziert betrachten und somit analysieren zu wollen usw. Im Wort Konzept verbirgt sich lat. conceptus, was übersetzt werden kann

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mit Entwurf, Plan, Programm für ein Vorhaben. Und das Verb concipere umfasst Bedeutungen wie etwas empfangen, eine Grundvorstellung von etwas entwickeln, entwerfen, erkennen, sich vorstellen. Konzept kann für einen stichwortartigen, skizzenhaften Entwurf stehen oder eine gedankliche Zusammenfassung von Sachverhalten sein. Konzept kann auch als Denkmodell betrachtet werden, das einen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen will. Im Kontext dieses Buches bedeutet Konzept ein vernetztes Ganzes von Wahrnehmen, Denken, Planen, Entscheiden, Handeln zu einem bestimmten Thema, ein Zusammenspiel von einzelnen Parametern. Wie entsteht nun ein solches vernetztes Ganzes? Konzepte dienen der Realisierung eines Vorhabens und bestehen aus einem Netzwerk von Entscheidungen. Dabei vermischen sich bewusste Entscheide mit halbbewussten oder unbewussten Entscheidungen, intuitive Entscheidungen mit rational abgewogenen. Es geht um das Vernetzen aller wichtigen Komponenten, um das Abwägen verschiedener Einflüsse, um das Aufdecken, Einbringen oder Ausscheiden persönlicher und gesellschaftlicher Prägungen. Es geht auch um die Übernahme von hergebrachten Regeln oder um Regelbrechungen und Schaffen neuer Verhältnisse. Aus den Neurowissenschaften ist bekannt, dass das Gehirn ein selbstorganisierender Erfahrungsspeicher ist (vgl. Storch/Krause 2007: 31) und dass neuronale Netze multikodiert sind, das heißt, dass sie sensorische, kognitive und emotionale Informationen beinhalten und vernetzt abrufen können (vgl. ebd.: 39). Wie kommen Entscheidungen überhaupt zustande? Jedes Konzept hat auch seine Entstehungsgeschichte. Diese wiederum ist geprägt vom Menschen, der Entscheide fällt, von seinen Wurzeln, seinen Visionen und vor allem von seinem Umgang mit Entscheiden. Roth (zit. in Storch/Krause 2007) weist darauf hin, dass die kortikale und die subkortikale Ebene bei Entscheidungen zusammenspielen. Auf der kortikalen Ebene finden bewusste und bewusstseinsfähige Lern- und Bedeutungsvorgänge statt und auf der subkortikalen Ebene laufen die Vorgänge unbewusst ab, doch „diese Ebene ist nur sehr schwer bewusst zu steuern, und die in ihr ablaufenden Prozesse stellen zu einem guten Teil das dar, was wir Persönlichkeit nennen“ (ebd.: 55). Jeder Entscheid enthält Anteile von wenig reflektierten Gegebenheiten, intuitiven Einfällen und rational durchdachten Elementen. Der Entscheidungsprozess erweist sich aus wissenschaftlicher Analyse meist als mehrstufig; Entscheide können in Sekundenbruchteilen oder in Minuten, sofort oder in Form eines längeren Prozesses erfolgen. Abwägungsprozesse können als

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Vorgänge in den neuronalen Netzen des Gehirns aufgefasst werden, doch das Gehirn kann nur Informationen verwerten, die in den Speichern abgelegt sind. Damasio (1994) hat auf der psychologischen Ebene herausgearbeitet, dass der Mensch den Begriffen oder Erinnerungen „somatische Marker“ zuordnet, die ihm bei Entscheidungsprozessen eine subjektive Gewichtung geben. Diese somatischen Marker sind stark an Emotionen gebunden und melden sich sowohl bei positiven wie bei negativen Erinnerungen. Deshalb vertritt Maya Storch, Psychoanalytikerin und Vertreterin des Zürcher Ressourcenmodells, die Meinung, dass das Geheimnis kluger Entscheidungen in einer guten Übereinstimmung von Vernunft und Bauch liegt (vgl. 2007). Storch meint dazu, dass es in solchen Momenten weniger darum geht, welche Entscheidung die richtige ist, als welche Entscheidung „mich zufrieden mache“ (ebd.: 85). Ob richtig oder falsch entschieden worden ist, kann erst die Zukunft zeigen. Und wie steht es mit der Intuition? In künstlerischen Konzepten erhält die Intuition einen großen Stellenwert und bei der Überprüfung intuitiver Einfälle ist nicht alles rational erklärbar, schon gar nicht vom Künstler, von der Künstlerin selbst. Und doch ist es nicht empfehlenswert, der Intuition eine Art mystische Unfehlbarkeit zuzuschreiben. Intuition beruht ja eben auf der Vernetzung individueller subjektiver Erfahrung. Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass der Mensch in komplexen Situationen manchmal mit der Intuition zu besseren Entscheiden kommen kann als mit dem bloßen Verstand, weil das Unbewusste in der Lage ist, weitaus mehr Informationen zu berücksichtigen als das Bewusstsein, das seinerseits zwar sehr präzise ist, aber nur mit wenigen Informationen klar kommt. Ob ein Konzept sich bewährt, zeigt sich erst im Erfolg der Umsetzung der Absicht. Erfahrungen zeigen, dass bei der Entstehung eines Konzepts so bewusst wie möglich mit der Mischung von Intuition und Rationalität umzugehen ist.

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Vergleichende Betrachtung von drei Konzepten Drei unterschiedliche Tanzaufführungen bilden den Ausgangspunkt einer Betrachtung, die nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in deren Konzepten forscht. Anschließend wird eines dieser drei Stücke unter dem Konzeptgedanken genauer angeschaut und anhand eines qualitativen Interviews wird beispielhaft aufgezeigt, welche bewussten, teilbewussten und unbewussten Entscheidungen in ein Choreografiekonzept einfließen.

Auf führung 1: in-tact

Die multikulturelle Gruppe Rumbalante ist zusammengesetzt aus Tänzerinnen und Tänzern, Musikern, Sängerinnen und Sängern aus Kuba, Italien, dem Kongo und der Schweiz. Alle Musiker und Tanzenden haben sich intensiv mit der afrokubanischen Kultur auseinandergesetzt und wechseln auch manchmal die Rollen vom Musiker zum Tänzer oder von der Sängerin zur Tänzerin. Die Musiker bringen ihre Percusión Cubana mit, die eine Vielzahl an einheimischen Perkussionsinstrumenten umfasst, und spielen in höchster Präzision die durch die Polyrhythmik geprägte afrokubanische Musik. Die Lieder sind wie bei anderen Gruppen afrikanischer Herkunft ein Wechselgesang von Solist und Chor und erzählen Geschichten. Zwischen der Perkussion, dem Gesang und dem Tanz entsteht ein Wechselspiel, auf das die Aufführenden improvisatorisch eingehen. Die Gruppe zeigt in ihrer Performance einerseits typische Figuren aus der Yoruba-Religion, die mit ihren charakteristischen Bewegungen, ihren starken Farben und den ihnen zugeschriebenen Insignien dem Menschen die Verbindung zu den Gottheiten aufzeigen. Andererseits tanzt sie die eher weltlich orientierten Zeremonien einer Rumba Cubana, deren zentrale Elemente die Selbstdarstellung wie auch das gegenseitige Verführungspiel sind. Die beiden Leitenden der Gruppe, Santino Carvelli und Anna Blöchlinger, haben sich in intensiven Prozessen mit choreografischen Aspekten auseinandergesetzt, um aus diesen eher folkloristischen Elementen eine Bühnenchoreografie zu gestalten.

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Verführungsspiel in der Rumba Cubana mit Kirenia Cruzdiaz und Issa Buanga Puathy © Andreas Greber Auf führung 2: white fog lifting

Zu Musik von Philipp Glass (Chorus for 2 violons & strings) und zum Teil unterlegt mit gesprochenen Texten von Allen Ginsberg bewegen sich eine Tänzerin und ein Tänzer über die Bühne, sie tauchen aus dem Nichts auf und es scheint, als ob sie bald wieder verschwinden möchten. Beide, die Portugiesin Salome Martins und der Brite Ihsan Rusten, tanzen vollkommen aufeinander eingestimmt einen zeitgenössischen, sehr poetischen ‚Pas de deux‘ so wie es der Titel erahnen lässt: white fog lifting, ein weisser schwebender Nebel. Das Licht und die hauchdünnen, fast durchsichtigen Kostüme unterstützen die Stimmung von Luft, Nebel, Blau. Der französische Choreograf Patrick Delcroix hat dieses Stück eigens für diese beiden Tanzenden im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung von Tanz Luzerner Theater kreiert.

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white fog lifting mit Salome Martins und Ihsan Rusten © Andreas Greber Auf führung 3: in between

In der multimedialen Tanzperformance in between – im Spannungsfeld zwischen traditionellen Werten und individueller Freiheit – tritt Maya Farner als zeitgenössische Derwischtänzerin auf, begleitet von den beiden Musikern Kamal und Toufiq Essahbi. Wie eine Königin erscheint die Tänzerin, in leuchtendes Orange gekleidet, und schreitet langsam einen Kreis ab: hoch konzentriert, in sich geschlossen, nur da für die Musik und den Tanz. Dieser Kreis wird enger und nun beginnen die Drehungen auf der Stelle. Der lange Rock dreht sich, es entsteht ein Wirbel auf der Bühne. Die Tänzerin hebt ihre Arme an, das Drehen wird leichter und nach einer endlos scheinenden Zeit lüftet sie ihren Turban, lässt die langen Haare mitschwingen und dreht – endlos! Plötzlich steht sie still, schaut geradeaus – da bin ich wieder! Die Tänzerin Maya Farner hat sich während Jahren im orientalischen Tanz ausbilden lassen, bei Sufis in Istanbul und in Kairo den Drehtanz gelernt und auch das Einverständnis erhalten, als Frau diesen Tanz auf der europäischen Bühne zeigen zu dürfen. Sie versucht heute, dieses uralte Ritual mit dem zeitgenössischen Geist in unserer Kultur zu verbinden und in künstlerischer Form auf die Bühne zu bringen. Sie ist Tänzerin, Choreografin, Produzentin und Vermittlerin in einem.

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Drehtanz mit Maya Farner begleitet von Kamal Essahbi © Andreas Greber

Unterschiede und Gemeinsamkeiten Worin zeigen sich nun bei diesen drei ganz unterschiedlichen Tanzdarbietungen Gemeinsames und Unterschiedliches? Was haben sie mit Konzepten der Tanzkultur zu tun? Gemeinsam ist allen, dass • hinter jeder Tanzdarbietung ein Konzept einer künstlerischen Choreografie für die Bühne steht; • die Tanzenden ihr sinnlich-emotionales Körperwissen für die Zuschauenden sichtbar machen; • die Gruppen bestimmte Tanzkulturen übermitteln und auf einen unterschiedlichen tanzkulturellen Hintergrund verweisen.

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Die künstlerische Choreografie für die Bühne Bei allen Choreografien lässt sich ein Konzept für eine künstlerische Bühneninszenierung erkennen: die Entscheidung, auf einer Bühne vor Publikum aufzutreten, ist ein erstes Indiz dafür. Alle Gruppen treten aus ihrer Experimentierwelt hinaus an die Öffentlichkeit und versuchen, die Zuschauenden durch ihre künstlerische Performance und ihre Präsenz in einen Prozess mitzunehmen. Im Sinne von Herrmann, zitiert in Fischer-Lichte, werden „die Aufführungen selbst sowie ihre spezifische Materialität [...] im Prozess des Aufführens von den Handlungen aller Beteiligten überhaupt erst hervorgebracht“ (Fischer-Lichte 2004: 56). Alle entscheiden sich für eine Aufführung mit „leiblicher Kopräsenz von Akteuren und Zuschauenden“ (ebd.: 53), aus der heraus etwas geschieht, und zwar nur in diesem Moment, da eine Gruppe von Tanzenden auf eine Gruppe von Zuschauenden in unterschiedlichen Gestimmtheiten trifft. Durch ihr Zeigen schaffen sie einen Raum der Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit wiederum ist ein konstituierendes Element bei allen Aufführungen. Die Choreografen und Choreografinnen haben bestimmte Rahmenentscheidungen getroffen wie Ort, Zeit, Dauer, um ein bestimmtes Publikum ansprechen zu können. Auch wenden sie bewusst Bühneninszenierungsformen an, welche die Tanzenden befähigen, öfters eine Choreografie wiederholen zu können, die jedoch bei jeder Aufführung als einmaliges Ereignis zwischen Tanzenden und Zuschauenden in Erscheinung tritt. Sie sind als künstlerisch zu betrachten, weil alle drei Choreografien den Zuschauenden vielschichtige Möglichkeiten des Erfahrens offen lassen – das ist mehr als nur eine Information von Tanzenden zu Zuschauenden – und weil sie Einblick geben in kreative, in soziopolitische und kulturelle Kontexte eingebettete Schaffensprozesse. Unterschiedlich ist der Umgang mit den Inszenierungselementen, da das Setting verschieden ist: der Ort der Aufführung, die Zeit, das Publikum, dessen Stimmungen und Erwartungen und dessen Anspruch an Professionalität, die Wahl der Musik sowie der kulturelle Kontext.

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Das sinnlich-emotionale Körperwissen sichtbar machen Im Tanz kommt es vor, dass sich Körper weniger als Träger von Bedeutungen bestimmter Figuren zeigen, sondern sich vielmehr den Zuschauenden in ihrer offenbar deutlich spürbaren Sinnlichkeit aufdrängen (vgl. Fischer-Lichte 2004: 52). Unerwartete oder überraschende Sinneseindrücke, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können zum Ausgangspunkt einer ästhetischen Erfahrung werden (vgl. Duncker 1999: 11). Entscheidend ist dabei die Bereitschaft, sich auf solche Momente einzulassen. Sinnesempfindungen dieser Art können eine symbolische Verarbeitung provozieren und Assoziationsräume eröffnen. „Weil ästhetische Erfahrungen im Zwischenfeld zwischen Innen und Aussen liegen und nach beiden Seiten hin vermitteln, bekommt der Symbolbegriff ein besonderes Gewicht“ (Duncker 1999: 13). Ein Innehalten, ein Staunen bei sinnlichen Eindrücken weist auf einen Moment des Zeitvergessens hin. Es entsteht eine eigentümliche Zeitlichkeit: die Gegenwart wird genossen, die Fantasie führt in eine andere Welt. So kann das Drehen der Derwischtänzerin, die mit ihrem leuchtenden Kleid spiralig den Raum füllt, zu einem Wahrnehmungswechselspiel führen: hier phänomenaler Leib, dort semiotischer Körper, also ein Hin und Her zwischen Wahrnehmen ihres Körpers und Wahrnehmen des Symbolgehalts dieses drehenden Körpers. Aus einem Entweder-oder wird ein Sowohl-alsauch, daraus entsteht eine Wirklichkeit der Instabilität, der Unschärfe, der Vieldeutigkeiten. Fischer-Lichte spricht in diesem Falle von Schwellenerfahrungen der Zuschauenden. „Eine solche Wirklichkeit ästhetisch zu erfahren heißt, sich auf die Schwelle zu begeben – und auf ihr auszuhalten, heißt eine Schwellenerfahrung zu machen“ (Fischer-Lichte 2007: 245). Körperwissen zeigt sich sinnlich-emotional und eine Schwellenerfahrung kann durch den sinnlich-emotionalen Austausch zwischen den Tanzenden und Zuschauenden ausgelöst werden. Das Gemeinsame dieser drei Tanzdarbietungen liegt im Sichtbarmachen von sinnlich-emotionalem Körperwissen, doch ob sich die Zuschauenden darauf einlassen, muss offen bleiben.

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Der Verweis auf den tanzkulturellen Hintergrund Tänze zählen zu den elementaren Darstellungs- und Ausdrucksformen der Menschheit, denn „in ihnen wird kulturelle Identität ausgedrückt und das Selbst- und Weltverhältnis der Menschen dargestellt“ (vgl. Wulf 2007: 121). Tanzperformances oder Tanzchoreografien aus bestimmten Kulturen können entsprechend ‚gelesen‘ werden, vorausgesetzt, deren kultureller Kontext ist bekannt. Das nötige Wissen über die jeweilige Kultur ist dabei von großer Bedeutung. Allen drei vorher beschriebenen Tanzdarbietungen ist gemeinsam, dass sie auf eine bestimmte Tanzkultur verweisen und damit versucht wird, in Ansätzen die kulturelle Identität auszudrücken. Allerdings zeigt sich der Kontext dieser Kulturen auf der Bühne sehr unterschiedlich. Die Gruppe Rumbalante verweist auf die afrokubanische Kultur, die stark geprägt ist von den Göttern der Yoruba-Religion und den Santeria-Szenarien. Grundlage ist die Verehrung der Götter und die Übertragung der afrikanischen Gottheiten auf die Heiligen der katholischen Kirche, so dass eine Verehrung der alten Gottheiten unter neuem Namen möglich ist. Barnet meint dazu: „Auf der gesamten kubanischen Insel werden also Religionen praktiziert, deren mythologische Wurzeln in Afrika liegen, sich aber

Gruppe Rumbalante, Ana Adelaida tanzt Oshun © Andreas Greber

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inzwischen zu einer eigenen Mythenform akklimatisiert haben“ (2000: 9). Dies zeigt sich auch in den Tänzen. Den Göttern mit ihren sehr menschlichen Eigenheiten wird eine Bewegungscharakteristik zugeschrieben, ein Attribut beigefügt und eine typische Farbe zugeordnet, mit denen sie immer auftreten. Zum Beispiel zeigt die Göttin Oshun, die Herrin der Flüsse, der Liebe, der Mutterschaft, der Schönheit und des Reichtums wellenartige, dynamische Schulter- und Armbewegungen und verweist im Spiel mit ihrem leuchtend gelben langen Rock auf die Schönheit und den Fluss des Wassers (vgl. Garcia 2001). Rumbalante versucht vor diesem kulturellen Hintergrund zeitgenössische Bühnenperformance zu inszenieren. Das bedeutet für die beiden Choreografierenden, Zeremonielles zu kürzen, Rituelles zum Teil aufzubrechen und vom allzu Mythischen zu befreien und in einen Bühnenkontext zu stellen, also zu abstrahieren, zu stilisieren, um ihre Inhalte dem westeuropäischen Publikum zugänglich zu machen, ohne deren Essenz zu verlieren. Der Pas de deux weist auf eine lange Bühnentanzkunsttradition hin. Im ursprünglichen Sinne ‚Schritte zu zweit‘ erlebte der Pas de deux im romantischen Ballett seine Höhepunkte und war an gewisse formale Regeln gebunden.

white fog lifting mit Salome Martins und Ihsan Rusten © Andreas Greber

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Diese Duettform wird im zeitgenössischen Tanz oft als eine Herausforderung wahrgenommen, mit Partner oder Partnerin unterschiedliche Bewegungs- und Ausdrucksformen zu einem Thema oder einer Musik zu erproben und dem Publikum zu zeigen. Die persönliche tanzkulturelle Prägung spielt dabei eine bedeutende Rolle: die unterschiedlichen, im Körper eingeschriebenen Tanztechniken werden situativ hervorgebracht und die persönlichen Erfahrungen in den Handlungsformen improvisieren und experimentieren mit Körper und Bewegung kommen im Entstehungsprozess zum Tragen. Je nach Aufgabe des Choreografen können die Tanzenden ihr Körperwissen adäquat einsetzen und dazu beitragen, seine Visionen künstlerisch anspruchsvoll umzusetzen. Patrick Delcroix, der Choreograf des Pas de deux white fog lifting, wählte auf Grund der Musik von Philip Glass einen poetischen Ansatz und versuchte mit den beiden Tanzenden die Grenzen auszuloten – und doch „innerhalb gewisser Grenzen natürlich [zu bleiben], denn ich wollte, dass es eine Schönheit behält“ (Delcroix 2009: 21). Das Bühnenprojekt in between verweist auf den orientalischen Tanz und der Teil des zeitgenössischen Derwischtanzes auf die Drehtänze der Sufi. Ein Sufi versteht sein Leben als Weg, um über Gebet, Meditation und asketische Übungen in mystischer Selbstentäußerung die unmittelbare Nähe des Göttlichen zu erleben. Die Derwische sind die augenfälligsten Vertreter des Sufismus, der sich im 8. Jahrhundert entwickelte. Bis heute bekannt ist vor allem der im 13. Jahrhundert gegründete Mevlevi-Orden der Türkei. In der genau reglementierten Sema-Zeremonie drehen die Derwische stundenlang, um in religiöser Ekstase die Verbindung mit dem Göttlichen zu suchen. „Die unsichtbare Achse in der Drehung symbolisiert das in sich ruhende Göttliche – das Unveränderliche inmitten der Bewegung“ (Interview Farner 2009)1. Vor diesem kulturellen Hintergrund und mit einer erweiterten orientalischen Tanzsprache arbeitet Maya Farner und sucht nach verschiedensten Ausdrucksformen in einem zeitgenössischen Tanzverständnis. „Elemente aus dem klassisch orientalischen Tanz, Abläufe von Trancebewegungen aus Frauenritualen in Nordafrika bis hin zum Drehtanz der Derwische bilden das Vokabular einer neuartigen Inszenierung.“ (Interview Farner 2009). Der Untertitel ihrer Performance weist auch auf die Schwierigkeit des kulturübergreifenden Ansatzes hin, auf das Spannungsfeld zwischen der Tradition des orientalischen Tanzes und der persönlichen Freiheit der Europäerin, das es auszuloten gilt. 1 | Mit der Choreografin Maya Farner ist am 6.11.2009 ein Interview durchgeführt worden. Die Transkription liegt der Autorin vor.

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in between – eine multimediale Tanzperformance Für Künstlerinnen sind intuitive Einfälle nur schwer rational erklärbar (s. oben). Um Beweggründe und Gedanken einer Choreografin zu erforschen, wird hier die Methode des Experteninterviews mit der Künstlerin angewendet. Dieses qualitative Interview erlaubt einen verstehenden Zugang und bietet unmittelbare Einsicht in die Choreografiepraxis, denn es berücksichtigt die individuelle Lebenslage und die Lebenswelten der Person (vgl. Flick 2009). Wissen und Handeln werden aus subjektiver Sicht untersucht und die verschiedenen Perspektiven der Choreografin können in ihrer Vielschichtigkeit aufgedeckt werden. Das Interview selber ist unterteilt in verschiedene Teilkonzepte: Fragen zur Person, Bezug zum Geschehen, Mittel der Umsetzung, Verhältnis zu den Mitbeteiligten, Verhältnis zum Publikum. Am folgenden Beispiel werden einige Ergebnisse in Form eines Choreografiekonzepts dargestellt.

Konzept zum Stück Im Programmheft dieser Choreografie ist zu lesen: „in between ist ein Tanzstück, welches sich im Spannungsfeld zwischen Tradition und persönlicher Freiheit bewegt. Es erzählt die Geschichte einer schwarz verschleierten Frau, die sich in vorgegebenen Mustern bewegt, ausbricht und ihre energetische, rote Seite entdeckt. Zwischen Rot und Schwarz zerrissen sucht sie verzweifelt nach dem eigenen Standpunkt und findet ihre Mitte schließlich in der ruhenden Achse der Drehung.“ (Farner 2008).

Das Projekt in between ist ein Versuch der Künstlerin, verschiedene Welten zusammenzubringen: die orientalische und die westeuropäische, die Welt der Musik und die des Videos, die Welt des orientalischen Tanzes mit der Welt des zeitgenössischen Tanzgeschehens. Maya Farner arbeitet dabei mit marokkanischen Musikern und Schweizer Künstlerinnen zusammen.

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Das Personen-Konzept Bereits die Biografie der Choreografin zeigt ein stetes Dazwischensein: als Kind auf der Suche nach persönlichen Freiräumen in einem nach streng christlichen Prinzipien praktizierten religiösen Erziehungskonzept der Eltern; als junge Erwachsene in der Auseinandersetzung mit dem orientalischen Tanz im Orient selber, der einerseits eine Faszination für das Andere auslöste und andererseits sie mit sehr traditionellen Frauenbildern konfrontierte; beim Eintauchen in die Männerdomäne des Derwischtanzes, der ihr sehr viel innere Kraft und Anerkennung gab, bei dem sie jedoch kämpfen musste, nicht zum Islam übertreten zu müssen. Durch das Studium der Religionswissenschaften erhielt sie viel Verständnis für kulturelle Verschiedenheiten und durch das Ausüben des Derwischtanzes wurde ihr Inneres gestärkt, um das Dazwischen leben zu können. In der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Tanzenden und Tanzschaffenden im Nachdiplomstudium tauchte für sie die entscheidende Erkenntnis auf, dass sie als Künstlerin in diesem Dazwischen stehen darf. Sie erlaubt sich nun in ihrem Schaffensdrang eine Kreativität zu entfalten, die das Tänzerische der Tradition des orientalischen Tanzes mit ihren persönlichen Freiheiten verbindet und gelangt dadurch zu neuen Erkenntnissen. Ihre Haltung wird gestärkt durch die Aussage Wulfs, der betont, dass das immaterielle kulturelle Erbe, das an den Körper gebunden ist, sich stets weiterentwickelt und nicht stehen bleiben kann (vgl. Wulf 2010)2. Die Choreografin konstruiert somit über das Phänomen des Tanzstücks in between einen Ausschnitt ihrer Wirklichkeit (vgl. Flick 2009).

Das Bezugs-Konzept Dieses persönliche Zwischen-den-Welten-Leben bildet den Ausgangspunkt für dieses Stück und von Beginn an war für die Choreografin klar, dass der Titel in between heißen wird. Im Laufe der Recherche tauchten immer neue Themen auf verschiedensten Ebenen auf, so dass das Stück selber in Teilen choreografiert worden ist. „Das Stück ist natürlich vielschichtiger als nur die tänzerische Form. Es hat zwei Teile und im Grunde genommen gibt es zwischen diesen zwei Teilen ein in bet2 | Die Aussage von Christoph Wulf entstammt einem mündlichen Beitrag im Rahmen des MAS Studiengangs TanzKultur am 19.2.2010 in Bern.

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ween, ein Dazwischenstehen. Der erste Teil endet mit einer Verzweiflung, weil man zwischen zwei Welten keine Mitte findet und sich nicht positionieren kann und durch gesellschaftlichen Druck immer hin und her switcht. Er endet für mich in einer gewissen Resignation. Und im zweiten Teil wollte ich die gleiche Situation noch einmal aufnehmen, jedoch mit dem Unterschied, dass jetzt eine innere Achse bewahrt wird. Ich bin in einer Mitte irgendwo gehalten und lasse mich als Tänzerin nicht aus dem Lot bringen, was mir eine unglaubliche Stärke gibt.“ (Interview Farner 2009).

Im Drehen die Mitte finden - Maya Farner © Andreas Greber

Dieser angesprochene zweite Teil besteht aus einem 45minütigen Drehtanzen, das den persönlichen Bezug der Künstlerin zum Tanz der Derwische und somit zu ihren Meistern herstellt. Im Laufe des Drehens wird ein Ringen mit sich, ein Ringen um Verständnis und Anerkennung sichtbar sowie der stete Wunsch, sich in der Mitte einfinden zu können – in der getanzten Mitte wie in der persönlichen Mitte oder in der Verbindung mit dem Göttlichen.

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Das Umsetzungs-Konzept „Im orientalischen Tanz finden sehr viele Bewegungen im Körperstamm

statt, vieles kommt aus der Mitte und im Stück in between lasse ich mich vor allem auf die Drehungen ein.“ (Interview Farner 2009). Im Bewusstsein, dass der orientalische Tanz in diesem Fall auf der Bühne inszeniert wird, versucht die Choreografin, Bewegungen so zu reduzieren, dass sie gelesen werden können, sie lässt viele Verzierungen weg. Sie arbeitet an klaren Formen, die für sie stimmig sein müssen. „Wenn ich mit einem großen Hüftkreis über die Bühne kreise und das Gefühl habe, dass die Zuschauenden mitgehen, gibt das für mich in meinem Stück ein bestimmtes Gefühl, was wiederum mit einer bestimmten Aussage verbunden ist.“ (Ebd.). Dabei löst sie sich zum Teil von traditionellen, vorgeschriebenen Bewegungen, um ihre eigene künstlerische Form zu finden, immer im Spannungsfeld von traditionellen, orientalischen Vorstellungen und dem Bedürfnis der Integration in ein zeitgenössisches Tanzverständnis.

Das Mitbeteiligungs-Konzept Die Tänzerin und Choreografin entwickelt ihr Konzept alleine und bringt es in eine möglichst klare schriftliche Form. Sie ist Urheberin, Autorin und Verantwortliche für das Ganze. Sie braucht diese formulierten Vorstellungen, damit sie bei der Suche nach Personen, mit denen sie zusammenarbeiten will, aushandeln kann, welchen Teil diese einbringen können und möchten. Dabei achtet sie sehr darauf, eine gemeinsame Basis zu finden, um die Ressourcen der anderen Künstler einfließen zu lassen, was nicht immer einfach ist, zumal die Mitbeteiligten oft aus verschiedenen Kulturkreisen stammen. Sie arbeitet beispielsweise mit arabischen Musikern zusammen, deren Arbeitsweise meist eine eher spontane, aus dem Moment heraus agierende ist. „Es muss von Anfang an klar sein, was ich möchte […]. Das hilft mir mehr als eine Fülle von kreativen Ideen, die ich dann reduzieren muss. Ich arbeite besser, wenn der Rahmen abgesteckt ist und sich darin etwas entwickeln kann.“ (Interview Farner 2009). Wenn sie mit dem Musiker Kamal Essahbi auf der Bühne stehe, dann passiere immer etwas zwischen den beiden. „Er hat eine sehr feinfühlige Art, meine Bewegung rhythmisch umzusetzen und trotzdem bleibt er in seiner Geschichte … und wenn es zu einem improvisierten Teil kommt, dann ist da ein Schweben zwischen Geführtwerden, Führen oder in losem Bezug Nebeneinanderhergehen.“ (Ebd.).

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Das Publikums-Konzept in between steht für ein interkulturelles Tanzstück, das von der Bewegungsästhetik her dem orientalischen Tanz zugeordnet werden kann, jedoch in einer Schweizer Umgebung aufgeführt wird. Die Choreografin möchte den Zuschauenden den Zugang ermöglichen: was überlegt sie sich dabei? Sie ist überzeugt, dass alle Bewegungen, die von ihr „ganz ausgefüllt und innerlich mitgetragen werden“ ins Schweizer Publikum transportiert werden können und dass „alles Aufgesetzte, somit viele orientalische Bewegungen, die man einfach nachahmt, sicherlich kaum gelesen werden können“ (ebd.). Sie versucht, viele Bewegungen so zu reduzieren, dass dabei eine Klarheit und Schnörkellosigkeit entsteht und ist der Ansicht, dass die Energie, die sie hineinsteckt, auch beim Publikum ankommt. Sie möchte das Publikum einladen, einen Moment mit ihr in die Welt einzutauchen, die sie tänzerisch erforscht und in der sie viel Zeit ihres Lebens verbringt, um künstlerische Aussagen herausarbeiten zu können. Denn das Stück thematisiere dieses Dazwischen, zwischen den Traditionen und den Freiheiten und diese Auseinandersetzung gehe die meisten Menschen etwas an. „Ich versuche, sehr präsent zu sein und dadurch dem Zuschauenden die Möglichkeit zu geben, auch in diese Präsenz hineinzukommen.“ (Ebd.).

Das Choreografie-Konzept zu in between Jedes Konzept hat auch seine Entstehungsgeschichte (s. oben). Diese wiederum ist geprägt vom Menschen, der Entscheide fällt, von seinen Wurzeln, seinen Visionen. Das Choreografie-Konzept in between ist geprägt von der Biografie von Maya Farner, die selber zwischen verschiedenen Welten lebt und auf der Suche nach einem Weg zwischen Tradition und persönlicher Freiheit steht. Sie greift in ihrer tänzerischen Umsetzung auf viel Bewegungs- und Ausdrucksgut des orientalischen Tanzes zurück, berücksichtigt deren Ästhetik, Atmosphäre und Musik, und verbindet die Inszenierung auf der Bühne mit ihren Vorstellungen eines zeitgenössischen Tanzschaffens in schweizerischer Umgebung. Als Künstlerin tritt sie auf die Bühne mit dem großen Wunsch, die Zuschauenden an ihrer Welt Anteil nehmen zu lassen, die sie am Erkunden ist, und ihnen ihr eigenes Dazwischen eventuell auch bewusst zu machen. Sie sucht auf der Bühne speziell im Drehtanz die Verbindung mit dem Höheren oder auch zu sich selbst, und möchte die Zuschauenden einladen, in diese Präsenz mit einzusteigen.

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Das Publikationskonzept Die Idee, sich aus verschiedenen Richtungen dem Konzept einer Aufführung anzunähern, liegt auch dieser Publikation zugrunde. Die einzelnen Beiträge spiegeln dies deutlich wider: Der tanzende Mensch und sein Körper kann als ein zentrales konstituierendes Element des Tanzes betrachtet werden. In einem ersten Schritt geht es somit um Konzepte aus anthropologischen Zugängen zum Tanz. Christoph Wulf befasst sich mit den anthropologischen Dimensionen des Tanzes. Gabriele Brandstetter forscht nach den Bedingungen, die eine ‚Lecture Performance‘ hervorbringen und zeigt deren Anwendung anhand von Beispielen auf. Jens Roselt bearbeitet aus der Sicht des Theaterwissenschaftlers den Diskurs zum Thema des Performativen und versucht dessen Abgrenzungen aufzuzeigen. Als ein weiteres konstituierendes Element kann die Manifestation des Tanzes und deren kulturelle und politische Bedeutung betrachtet werden; dies führt zu den kultursoziologischen und politischen Zugängen zum Tanz. Gabriele Klein wirft in ihrem Beitrag einen Blick auf das Verhältnis von Gesellschaftsordnung und tänzerischer Praxis. Der Frage nach Bedingungen von Tanz in kulturellen Institutionen oder dem dort initiierten und generierten künstlerischen/theoretischen Diskurs gehen zwei Vertreterinnen von kulturellen Institutionen nach: Kerstin Evert von K3, dem choreografischen Zentrum auf Kampnagel in Hamburg, und Sandra Noeth vom Tanzquartier Wien. Konstituierend für Tanz ist die Beobachtung, dass Tanz ästhetisches Handeln ist und ästhetische Erfahrung intendiert, was ästhetische Zugänge zum Tanz hervorbringt. Gerald Siegmund geht der Frage nach, wie Tanz als kulturelles Gedächtnis diskutiert werden kann und Julia Wehren zeigt am Beispiel des Choreografen Foofwa d’Immobilité auf, welche Ästhetik sich mit seiner künstlerischen Arbeit verbindet. Ein weiterer Beitrag geht darauf ein, wie Film unsere Wahrnehmung, speziell die Raumwahrnehmung verändert: Claudia Rosiny diskutiert Raumkonzepte im mediatisierten Tanz und zeigt anhand von zwei Beispielen eine inszenierte Urbanität und einen virtuellen Bildraum. Die Einsicht, dass Tanz Bildung erfordert und Bildung generiert, führt zu bildungstheoretischen Zugängen zum Tanz. Antje Klinge fragt nach Bildungskonzepten und vor allem nach Orientierungshilfen für eine bildungstheoretische Reflexion des Tanzes. Wiebke Dröge stellt einen Arbeitsansatz

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vor, der die Teilnehmenden zu künstlerischen Produktionen heranführen möchte. Um den Tanz erforschen zu können, braucht es eine eigene Wissenskultur, somit methodische Zugänge zur Tanzwissenschaft. Claudia Jeschke und Gabriele Vettermann führen uns durch die Geschichte des Tanzes und zeigen anhand verschiedener Entwicklungsphasen die jeweils veränderten Perspektiven an methodischen Zugängen in der Tanzforschung auf. Die Tanzwissenschaft ist am Entstehen. Es gilt, eine Wissenskultur zu entwickeln, Wahrnehmungs-Methoden und eine Sprache zu finden, die der Erlebensrealität des Tanzes gerecht werden. Darauf aufbauend öffnet das Erkennen von verdeckten und offenen Konzepten, die das Tanzgeschehen prägen, Wege zu wissendem, verstehendem und bewusstem Handeln in der Realität der Tanzkultur. Dazu möchte diese Publikation beitragen.

Literatur Barnet, Miguel (2000): Afrokubanische Kulte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.) (2007): Tanz als Anthropologie, München: Fink. Damasio, Antonio R. (20099): Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: List. Delcroix, Patrick (2009): „Musik ist mein Rückgrat, Patrick Delcroix im Gespräch“, in Tanz 1, Programmheft des Luzerner Theater, Luzern: Engelberger Druck, S. 20-21. Duncker, Ludwig (1999): „Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. Zum Verständnis unterschiedlicher Formen ästhetischer Praxis“, in Norbert Neuss (Hg.), Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Frankfurt a.M.: GEP, S. 9-19. Farner, Maya (2008): in between, Konzeption zur multimedialen Tanzperformance. Zürich. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fischer-Lichte, Erika (2007): „Auf der Schwelle, Ästhetische Erfahrungen in Aufführungen“, in: Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung, Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld: transcript, S. 240-246. Flick, Uwe (20097): Qualitative Sozialforschung, ein Bandbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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Garcia, Madeline (Marisuri) (2001): Raices de danzas cubanas. Gstaad. Unv. Script. Storch, Maya/Krause, Frank (20074): Selbstmanagement - ressourcenorientiert. Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM). Bern: Huber. Wulf, Christoph (2007): „Anthropologische Dimensionen des Tanzes“, in: Gabriele Brandstetter/Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München: Fink, S. 121-131.

Anthropologische Zugänge zum Tanz

Anthropologische Dimensionen des Tanzes1 Christoph Wulf

Tänze gehören zu den wichtigsten Darstellungs- und Ausdrucksformen der Menschen. In ihnen wird kulturelle Identität ausgedrückt und das Selbstund Weltverhältnis der Menschen dargestellt. Tänze lassen sich als ‚Fenster‘ in eine Kultur begreifen, die es möglich machen, deren Identität und Dynamiken zu begreifen. Tänze sind produktiv; sie schaffen einen eigenen Bereich kultureller Praxis, in dem sich viele Merkmale verdichten (vgl. Junk 1977; Sorell 1983; Baxmann 1991; Brandstetter 1995; McFee 1999). Sie sind Teil jenes Kulturerbes der Menschheit, das praktisch überliefert wird und insofern nur schwer greifbar und erschließbar ist. Tänze sind zwar keine immateriellen Praktiken, sie werden durch die UNESCO jedoch als ‚immaterielles‘ (intangible) kulturelles Erbe bezeichnet und sollen hier unter diesem Gesichtspunkt untersucht werden (vgl. hierzu UNESCO 2001, 2003, 2004). Im Zentrum des Tanzes steht der Körper. Tänze zeigen sich bewegende Körper und führen Körperlichkeit, ihre historischen und kulturellen Bestimmungen, auf. Aus den Körperbewegungen und -rhythmen entstehen die Formen und Figuren der Tänze. Damit unterliegen sie den Gesetzen von Raum und Zeit, in denen die Bewegungen des Körpers verschränkt werden.

1 | Erstveröffentlichung in: Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.) (2007): Tanz als Anthropologie, München: Fink. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Fink-Verlags.

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Aus den Tanzbewegungen, die sich im Raum vollziehen und sich im Verlauf der Zeit konstituieren, erwachsen spezifische Tanzfigurationen. Viele Tänze vollziehen sich nicht nur im Medium des Körpers und der Bewegung in Raum und Zeit, sondern auch im Medium von Klängen, die sehr unterschiedlich sein können. Tänze verändern das Verhältnis zur Welt; sie lassen sich nicht vollständig in Sprache übersetzen, wenngleich diese dazu beiträgt, deren Bedeutung besser zu begreifen. Tänze entstehen aus den Bewegungen des Körpers, den Rhythmen und Klängen, nicht aus der Sprache. Dennoch ist die Frage, wie sich Tänze beschreiben und interpretieren lassen, für ihr Verständnis und ihre Erforschung von zentraler Bedeutung. Tänze haben synästhetische, von den verschiedenen Sinnen hervorgebrachte Wirkungen. Besonders wichtig sind dafür der Bewegungs-, Hör-, Tast- und Sehsinn; doch auch der Geruchs- und der Geschmackssinn haben für die Wirkungen des Tanzes Bedeutung. Tänze spielen für die Bildung von Gemeinschaften eine zentrale Rolle. Durch Synästhesie und Performativität des Tanzes entsteht zwischen Menschen, die miteinander tanzen, eine emotionale und soziale Gemeinsamkeit, aus der auch ein Beitrag zur Bildung von Gemeinschaft entstehen kann. Tänze haben einen synästhetischen und einen performativen Überschuss, aus denen sich ihre soziale Dynamik und Bedeutung entwickelt. Tänze haben einen historisch-kulturellen Charakter, der sich einer historisch-anthropologischen Betrachtungsweise erschließt; in ihr werden Historizität und Kulturalität der Tänze auf die historisch-kulturelle Situation ihrer Betrachter bezogen.2 Die Berücksichtigung dieser doppelten Historizität und Kulturalität ist für eine anthropologisch orientierte Erforschung von Tänzen konstitutiv. Tänze sind körperlich, performativ, expressiv, symbolisch, regelhaft, nicht-instrumentell; sie sind repetitiv, homogen, ludisch und öffentlich; Tänze sind Muster, in denen kollektiv geteiltes Wissen und kollektiv geteilte Tanzpraxen inszeniert und aufgeführt werden und in denen eine Selbstdarstellung und Selbstinterpretation einer gemeinschaftlichen Ordnung stattfindet. Tänze haben einen Anfang und ein Ende und damit eine zeitliche Kommunikations- und Interaktionsstruktur. Sie finden in sozialen Räumen statt, die sie gestalten. Tänze haben einen herausgehobenen Charakter, sind ostentativ und werden durch ihre jeweilige Rahmung bestimmt.

2 | Zur Perspektive der doppelten Historizität in der historischen Anthropologie vgl. Wulf/Kamper 2002.

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Tänze können unter vielen Gesichtspunkten analysiert werden. In unserem Zusammenhang werden sie als Teil des ‚immateriellen‘ kulturellen Erbes begriffen. Dieses ist ein zentrales Element des Weltkulturerbes, das Werke und Praktiken aus vielen Kulturen umfasst, die nicht in Form von Dokumenten und Monumenten überliefert sind, deren Bedeutung für die gesamte Menschheit jedoch unstrittig ist. Wer einen Blick auf die Masterpieces und die Second Proclamation of the Oral and Intangible Heritage wirft, wird von dem hohen kulturellen Wert dieser Praktiken erfasst und beeindruckt (vgl. hierzu UNESCO 2001, 2003, 2004). Unter diesen spielen Tänze, Rituale, orale Traditionen und Ausdrucksformen sowie die Praktiken des Umgangs mit der Natur und das traditionelle Handwerkswissen eine besonders wichtige Rolle. Versucht man die Besonderheit dieser vor allem praktischen Überlieferungen und Traditionen zu bestimmen, so bieten sich für die Erschließung des tänzerischen kulturellen Erbes vor allem folgende anthropologische Dimensionen an: Körper und Performativität; Mimesis und mimetisches Lernen; Andersheit und Alterität; Anthropologische Strukturmerkmale; Interkulturalität und anthropologische Forschung.

Körper und Performativität Wenn der menschliche Körper das Medium des Tanzes ist, dann ergeben sich daraus Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Verständnis von Tänzen. Sie resultieren aus der Zeitlichkeit des menschlichen Körpers und werden durch die Dynamik von Raum und Zeit bestimmt. Die Praktiken des Tanzes sind nicht fixiert, sondern unterliegen wichtigen Transformationsprozessen, die an den gesellschaftlichen Wandel und Austausch gebunden sind. Da Tänze mit dem Körper vollzogen werden, gilt es, der körperlichen Seite ihrer Inszenierungen und Aufführungen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dabei kommt der Frage, auf welchen historischen und kulturellen Körperbildern Tänze beruhen, besondere Bedeutung zu. Damit Tänze erfolgreich inszeniert und aufgeführt werden können, bedarf es eines individuellen Körperwissens und eines Wissens darüber, wie man sich zu den anderen Tänzern verhält. Die Momente eines Tanzes, die eine Gemeinschaft schaffen, sind eng mit seiner Körperlichkeit und Materialität verbunden. In seiner Inszenierung und Aufführung entsteht aus der Körperlichkeit und Materialität der einzelnen Körper ein kollektiver Kör-

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per, der vielfältig in sich gebrochen sein kann und von dem ästhetische Wirkungen auf die Zuschauer ausgehen. Für die Performativität des Tanzes sind zwei Aspekte besonders wichtig. Der eine besteht darin, dass Tänze kulturelle Aufführungen sind, in denen sich Gesellschaften darstellen und ausdrücken und mit deren Hilfe sie dazu beitragen, Gemeinschaften zu erzeugen. Der zweite Aspekt der Performativität charakterisiert die ästhetische Seite der körperbasierten Performance von Tänzen, ohne deren Verständnis Tänze nicht angemessen begriffen werden können (vgl. Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Fischer-Lichte/Wulf 2001, 2004). Aufgrund ihres performativen Charakters bringen Tänze Gemeinschaften hervor und erzeugen kulturelle Identität; ebenso bearbeiten sie Differenz und Alterität. Sie sind wichtige Praktiken des kulturellen Erbes, die traditionelle Werte vermitteln und dazu beitragen, diese an die aktuellen Bedürfnisse der Menschen anzupassen. Wenn dies nur unzulänglich möglich ist, werden neue Tänze ‚importiert‘, die dann häufig dem aktuellen Lebensgefühl einer Gesellschaft besser gerecht werden. Dadurch kommt es zu neuen kulturellen Produkten, in denen sich unterschiedliche kulturelle Traditionen mischen; es entstehen hybride Tänze mit neuen Formen des Ausdrucks und der körperlichen Darstellung.

Mimesis und mimetisches Lernen Die Praktiken des Tanzens werden in mimetischen Prozessen gelernt, in denen das für den Tanz erforderliche Körperwissen erworben wird. Dies geschieht durch die wahrnehmende und vor allem durch die praktische Teilnahme an Tänzen. Durch den mimetischen Bezug auf tänzerische Vorbilder wird das für die Performanz des Tanzens erforderliche Körperwissen erworben. Solche Prozesse der Nachahmung zielen nicht darauf, die tänzerischen Vorbilder einfach zu kopieren; Ziel ist es vielmehr, in einem Prozess kreativer Nachahmung, der Raum für die individuelle Gestaltung des Tanzes lässt, wie die tänzerischen Vorbilder zu werden. Der Prozess der Anähnlichung ist von Mensch zu Mensch verschieden und hängt von vielen individuellen Faktoren ab. Wird eine Tanzhandlung auf eine frühere bezogen und in Ähnlichkeit zu dieser durchgeführt, dann besteht der Wunsch, etwas wie die anderen Tanzenden zu machen, auf die sich die Beziehung richtet, und sich ihnen anzuähneln. Diesem Wunsch liegt das Begehren zugrunde, wie die Anderen zu werden, sich jedoch gleichzeitig auch von ihnen zu unterscheiden. Trotz des Begehrens, ähnlich zu werden,

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besteht ein Verlangen nach Unterscheidung und Eigenständigkeit (vgl. Gebauer/Wulf 1992, 1998, 2003; Wulf 2005). Die Dynamik von Tänzen drängt gleichzeitig auf Wiederholung und Differenz und erzeugt damit Energien, die die Inszenierungen und Aufführungen von Tänzen vorantreiben. Bei der Wiederholung geht es darum, in einem mimetischen Prozess gleichsam einen ‚Abdruck‘ früherer Tänze zu nehmen und ihn auf neue Situationen zu beziehen. Die Wiederholung des Tanzes führt nie zur genauen Reproduktion des früheren Tanzes, sondern stets zur Erzeugung einer neuen Inszenierung und Aufführung, in der die Differenz zur früheren ein konstruktives Element ist. In dieser Dynamik liegt der Grund für die Produktivität mimetischer Handlungen. Unter Wahrung der Kontinuität bietet sie Raum für Diskontinuität. Inszenierungen und Aufführungen von Tänzen machen es möglich, das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität auszuhandeln. Dabei spielen die jeweiligen Bedingungen der Individuen und Gruppen für die unterschiedlichen Handhabungen impliziter Muster und Schemata eine wichtige Rolle. Für die Weitergabe eines praktischen Wissens vom Tanz ist die Sinnlichkeit der mimetischen Prozesse konstitutiv, die an den menschlichen Körper gebunden sind, sich auf das menschliche Verhalten beziehen und häufig unbewusst sind. Durch mimetische Prozesse inkorporieren Menschen Bilder und Schemata von Tänzen und machen sie zum Teil ihrer inneren Bilder- und Vorstellungswelt. Mimetische Prozesse überführen die Welt des tänzerischen Ausdrucks in die innere Welt der Menschen. Sie tragen dazu bei, diese innere Welt durch Bilder vom Tanz kulturell anzureichern und zu erweitern. Die so entstandenen mentalen Bilder und die mit ihnen zusammenhängenden synästhetischen Erfahrungen sind von Kultur zu Kultur, Generation zu Generation, Milieu zu Milieu unterschiedlich. Da praktisches Wissen, Mimesis und Performativität wechselseitig miteinander verschränkt sind, spielt die Wiederholung bei der Weitergabe des Wissens vom Tanz eine wichtige Rolle. Tänzerische Kompetenz entsteht nur in Fällen, in denen ein geformtes Verhalten wiederholt und in der Wiederholung verändert wird. Ohne Wiederholung, ohne den mimetischen Bezug zu etwas Gegenwärtigem oder Vergangenem entsteht keine kulturelle Kompetenz. Deswegen ist Wiederholung ein zentraler Aspekt der Vermittlung eines praktischen Tanz-Wissens.

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Andersheit und Alterität Wenn Tänze kulturelle Identität darstellen, dann gewähren sie Menschen auch Erfahrungen von Alterität (vgl. Todorov 1985; Gruzinski 1988; Waldenfels 1990; Greenblatt 1994). Sie sind Ausdruck kultureller Vielfalt und können für kulturelle Heterogenität, d. h. für Andersheit und Alterität sensibilisieren. Nur dadurch, dass ein Sinn für Alterität entwickelt wird, kann eine Vereinheitlichung von Kultur als Folge uniformierender Globalisierungsprozesse vermieden werden. Mit Hilfe von Tänzen aus anderen Kulturen können Menschen für die Bedeutung der Vielfalt des kulturellen Erbes sensibilisiert werden. Nur mit Hilfe dieser Erfahrung sind sie in der Lage, mit Fremdheit und Differenz umzugehen und ein Interesse am Nicht-Identischen zu entwickeln. Neben Tänzen aus fremden Kulturen tragen dazu auch viele zeitgenössische Tänze hoher ästhetischer Qualität bei. Individuen sind keine in sich geschlossene Entitäten. Sie bestehen aus vielen widersprüchlichen und fragmentarischen Elementen. Rimbaud fand für diese Erfahrung den nach wie vor gültigen Ausdruck „Ich ist ein Anderer“. Auch Freuds Erfahrung, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, weist in diese Richtung. Die Integration der aus dem Selbstbild ausgeschlossenen Teile der Subjekte ist eine Bedingung dafür, dass Andersartigkeit und Alterität im Außen wahrgenommen und respektiert werden können. Nur wenn Menschen ihre eigene Alterität wahrzunehmen vermögen, sind sie in der Lage, die Alterität von Tänzen und die Andersartigkeit anderer Menschen wahrzunehmen und mit beidem produktiv umzugehen. Gelingt es, das Andere in der eigenen Kultur wahrzunehmen, entsteht Interesse am Fremden in anderen Kulturen und die Möglichkeit, dieses wertzuschätzen. Dazu ist es notwendig, die Fähigkeit zu entwickeln, vom Anderen her, also heterologisch zu empfinden und zu versuchen, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen. Der Entwicklung dieser Fähigkeit stehen einige Faktoren entgegen. Zu den wichtigsten gehören die in den europäischen Kulturen besonders geschätzten Faktoren der Rationalität und Individualität, die bestimmte Muster der Welterfahrung und Weltdeutung enthalten. Häufig sind diese so bestimmend, dass sie Erfahrungen der Alterität nicht zulassen. Bei Tänzen spielen diese beiden Formen verbreiteter Reduktion von Fremdheit eine eher geringe Rolle. Denn bei ihnen sind es die Körperlichkeit, die Bewegungen und Rhythmen, die Alterität vermitteln und die kaum durch Rationalität und Individualität eingeschränkt werden. In Tänzen wird Alterität durch Performativität vermittelt. In mimetischen Prozessen machen Tänzer und

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Zuschauer fremde Figurationen nach, lassen sich durch diese erfassen und inkorporieren sie. Insofern dabei Bewegungen, Rhythmen und Figurationen aus fremden Kulturen assimiliert werden, entstehen neue Form-, Rhythmus- und Bewegungsverbindungen. Im Zeitalter der Globalisierung sind diese Hybridbildungen besonders verbreitet, bei denen sich die Herkunft einzelner Strukturelemente nicht mehr oder nicht mehr eindeutig angeben lässt. Angesichts der Tatsache, dass heute immer mehr Menschen in mehreren Kulturen gleichzeitig leben, nehmen hybride Darstellungs- und Ausdrucksformen besonders an Bedeutung zu (vgl. hierzu Wulf 2006). Die transnationale Jugendkultur und die Avantgarde des zeitgenössischen Tanztheaters enthalten dafür viele Beispiele (vgl. u. a. Dinkla/Leeker 2002; Klein/Zipprich 2002; Leeker 2003).

Anthropologische Strukturmerkmale Betrachtet man Tänze als zentrale Elemente des immateriellen kulturellen Erbes und damit unter einer anthropologischen Perspektive, so lassen sich einige Strukturmerkmale von Tänzen skizzieren, die wichtige Dimensionen kennzeichnen, aber notwendigerweise unvollständig sind. Raum und Zeit im Tanz. Tänze sind an die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Körpers gebunden und entfalten ihre Figurationen im Raum und in der Zeit. Sie werden verbunden durch Bewegungen, in denen sich der menschliche Körper allein oder mit anderen Körpern in zeitlichen Sequenzierungen im Raum bewegt. In diesem Prozess spielen der Kontext und die Rahmung des Raums und der Zeit eine wichtige Rolle. In diese gehen historische und kulturelle, kollektive und individuelle Elemente ein, die die Darstellung, den Ausdruck und die Atmosphäre des Tanzes bestimmen. Die Bildszenarien, die virtuellen Räume und die mehrdimensionalen Zeitordnungen des zeitgenössischen Avantgarde-Tanzes schaffen Bedingungen von Raum und Zeit, welche die Potentiale des Tanzes erweitern. Tanz und Bewegung. In den Bewegungen des Tanzes macht der Körper Erfahrungen mit sich, mit der Musik und den Bewegungen der Mittänzer. In seinen Bewegungen entwickelt er die Fähigkeit des Entwurfs, er formt sich und wird zu einem Instrument, das eingesetzt wird, ohne im funktionalen Gebrauch aufzugehen. Die Bewegungen des Tanzes enthalten einen ‚Überschuss‘ in Darstellung und Ausdruck. In ihnen werden Figurationen imaginiert und handelnd eingeholt. Die Bewegungen des Tanzes formen den Körper, der sie hervorbringt; sie erzeugen Imaginationen und realisieren diese in wiederholten Inszenierungen und Aufführungen. Sie sind regelmä-

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ßig und Ausdruck von Ordnung. In den Bewegungen des Tanzes zeigt sich die Gelehrigkeit des Körpers; sie stellt sich in Übungen und Wiederholungen dar. In den Bewegungen des Tanzes entsteht ein implizites Wissen, dessen Spektrum sehr umfangreich ist. Je nach Tanz sind seine Bewegungen mehr oder weniger in soziale Machtstrukturen eingebettet oder wie bei der zeitgenössischen Avantgarde von diesen weitgehend freigesetzt. Tanz und Gemeinschaft. Gemeinschaften ohne Tänze sind undenkbar. Über den symbolischen Gehalt der Interaktionsformen und vor allem über die performativen Prozesse der Interaktion und Bedeutungsgenerierung tragen Tänze zur Herausbildung von Gemeinschaft bei. Die das Tanzen ermöglichenden Techniken dienen der Wiederholbarkeit der notwendigen Vollzüge, ihrer Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit. Informelle, um Tänze herum gebildete Gemeinschaften zeichnen sich nicht nur durch den Raum eines kollektiv geteilten symbolischen Wissens aus, sondern vor allem durch die entsprechenden Interaktionsformen der Tänze, in denen und mit denen sie dieses Wissen aufführen. Diese Inszenierungen können als Versuch verstanden werden, eine Selbstdarstellung und Reproduktion der Gemeinschaft und ihrer Integrität zu gewährleisten. Tänze erzeugen Gemeinschaften emotional, symbolisch und performativ; sie sind inszenatorisch und expressiv, ohne dass sich eine vollständige Übereinkunft über die Mehrdeutigkeit der Tanz-Symbolik erzielen ließe. Tanz und Ordnung. Als interaktive Handlungsmuster bilden Tänze eine spezifische Ordnung und Regelhaftigkeit heraus. Zwischen den Tänzen und den Strukturen ihrer Entstehungskultur lassen sich Entsprechungen und Ähnlichkeiten identifizieren und analysieren, was beispielsweise der Vergleich der Tänze am französischen Hof und der bürgerlichen Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts verdeutlicht. Tänze können daher zu Quellen für die Analyse gesellschaftlicher Ordnungs- und Machtverhältnisse werden; und eine Analyse der gesellschaftlichen Ordnung wiederum kann Hinweise zum Verständnis der Strukturen von Tänzen geben (vgl. zur Lippe 1974; Braun/Gugerli 1993). Im Tanz vollzieht sich eine rhythmische Dynamisierung von Bewegungen und ein ludischer Umgang mit der Hervorbringung, Veränderung und Auflösung von Ordnungen. Tanz und Identifikation. Mimetische Prozesse führen zur Identifikation mit den Tanzenden und den Tänzen und damit auch zur Identifikation mit den in den Tänzen impliziten Körperbewegungen und Körperbildern, den von ihnen ausgelösten Gefühlen und mit den ihnen inhärenten Werten und Normen. Nicht selten sind damit auch Prozesse der Inklusion und Exklusion verbunden. Über die Identifikation mit bestimmten Tänzen wird auch ei-

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ne Identifikation mit Lebensstilen, Milieus und Gruppen erzeugt und beim Tanzen verkörpert. Tanz und Erinnerung. Tanzen schafft Erinnerungen. Zu diesen gehören Bewegungen, Rhythmen, Klänge. An diesen machen sich fest: Atmosphären, erotische Erlebnisse, Gefühle des ‚Fließens‘, des Rauschs und manchmal sogar der Ekstase, Erinnerungen an Intensitäten, an Rhythmen, in denen man sich und die anderen spürt. Es sind synästhetische Erinnerungen, die mehrere Sinne einschließen. Manche sind kollektiv geteilte Erinnerungen, andere sind höchst individuell. Einige Erinnerungen sind primär an mentale Bilder, andere an Klänge, wieder andere an Bewegungen gebunden. Tanz als Differenzbearbeitung. In vielen Tänzen werden Differenzen bearbeitet, die unter anderem aus Geschlechts-, Alters- und ethnischen Unterschieden resultieren. Indem verschiedene Menschen gemeinsam tanzen, stellen sie die ansonsten zwischen ihnen bestehenden Unterschiede in den Hintergrund. Ihre Tanzbewegungen gelingen nur, wenn sie sich aufeinander beziehen und kooperieren. Sie bearbeiten die sie trennenden Differenzen, indem sie sich im Tanz mimetisch zueinander verhalten und sich einander anähneln. Unter der momentanen Zurückstellung von Differenzen erzeugen sie in rhythmischen Bewegungen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Im Tanz, in dem gemeinschaftliche Gefühle erzeugt, bestätigt und verändert werden, rücken ritualisierte Inszenierungsformen, körperliche Handlungs- und Spielpraktiken sowie mimetische Zirkulationsformen in den Mittelpunkt. Unter einer performativen Gemeinschaft der Tanzenden wird deshalb ein Handlungs- und Erfahrungsraum verstanden, der sich durch inszenatorische, mimetische und ludische Elemente auszeichnet (vgl. Wulf u. a. 2001, 2004, 2007). Tanz und Transzendenz. In vielen Kulturen haben Tänze einen Bezug zur kosmischen Ordnung, zu Göttern, Geistern, Toten und Ungeborenen. Mit Hilfe von Tänzen wird versucht, Einfluss auf die Mächte des Jenseits zu gewinnen. In vielen Fällen sind diese Tänze Teil von Opferritualen, mit denen Götter und Geister wohlgesonnen gestimmt werden sollen. Meistens geschieht dies mit magischen Tänzen, in denen sich die Menschen mit Hilfe von Masken und anderen ‚Requisiten‘ übernatürliche Kräfte zuschreiben, mit denen sie dann die bösen Götter und Geister vertreiben und -bannen können. Nicht selten mobilisieren diese Tänze durch Rausch und Ekstase ‚übermenschliche‘ Kräfte, mit denen die Bedrohung und Gefährdung der Welt abgewehrt werden soll. In diesen Tänzen etablieren die Menschen mit Hilfe von Exklusion und Inklusion Ordnung und Macht, durch die sie auch die kosmische Ordnung zu sichern trachten.

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Tanz und praktisches Wissen. Wer tanzt, lernt viel mehr als nur tanzen. Im Tanzen entwickelt sich eine weit über den Tanz hinaus reichende, auch für andere Lebenszusammenhänge wichtige körperliche Kompetenz. Mit ihr einher geht eine Sensibilität für Bewegungen und Rhythmen, für Raum und Zeit, für Klänge und Atmosphären. Im Tanz entsteht ein praktisches, körperbasiertes Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben wird.3 In dieses nehmen die Handelnden Bilder, Rhythmen, Schemata, Bewegungen in ihre Vorstellungswelt auf. Ihre mimetische Aneignung führt bei den Handelnden zu einem praktischen Wissen, das auf andere Situationen übertragbar ist. Das praktische Wissen wird in der Wiederholung geübt, entwickelt und verändert. Das so inkorporierte Wissen hat einen historischen und kulturellen Charakter und ist als solches für Veränderungen offen. Tanz und Ästhetik. Auf Grund ihres Darstellungs- und Ausdruckscharakters sowie ihrer Performativität haben alle Tänze eine ästhetische Dimension, die deutlich macht, dass Tänze menschliche Ausdrucksformen sind, die sie zu wertvollen Bestandteilen des kulturellen Erbes der Menschheit machen, die durch nichts anderes ersetzbar sind. Ästhetische Dimensionen haben sowohl die Tänze am Hof Ludwigs XIV. und der Avantgarde der zeitgenössischen Tanzkunst, als auch die magischen Tänze der Götterund Geisterbeschwörung, die Volks- und Gesellschaftstänze des 20. Jahrhunderts und die zeitgenössischen Tanzformen der Jugend. Der kulturellen Vielfalt der Tänze entsprechen unterschiedliche implizite Ästhetiken, die zwar durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten, vor allem aber durch gravierende Unterschiede gekennzeichnet sind.

Interkulturalität und anthropologische Forschung Wenn Tänze Darstellungsformen von Kulturen sind, dann spiegelt sich in ihnen auch die kulturelle Vielfalt wider, die trotz der vereinheitlichenden Tendenzen der Globalisierung das kulturelle Leben in der Welt bestimmt. Geht man davon aus, dass es für die Weiterentwicklung des menschlichen Zusammenlebens mehr denn je erforderlich ist, mit kultureller Diversität umgehen zu können, dann bieten die Praktiken des ‚immateriellen‘ – nicht in Monumenten festgehaltenen – kulturellen Erbes und insbesondere die Tänze Möglichkeiten, sich gegenüber dem Fremden zu öffnen und Erfah3 | Zum Zusammenhang von Inkorporierung und praktischem Wissen vgl. u.a. Bourdieu 1987.

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rungen im Umgang mit kultureller Vielfalt zu machen. Auch für den Bereich der Bildung liegt hier eine Herausforderung und Chance; Bildung muss heute mehr denn je als interkulturelle Aufgabe begriffen werden (vgl. Featherstone 1995; Wulf 1995, 2006). Tänze sind Darstellungs- und Ausdrucksformen der Menschen, die etwas erfahrbar machen, was ohne sie nicht erfahrbar wäre. In vielen Tänzen experimentieren die Menschen mit sich, mit ihrer Geschichte und ihrer Kultur und versuchen etwas auszudrücken, was sich anders nicht darstellen und aufführen lässt. Daher haben viele Tänze, vor allem aus dem Bereich der Tanzkunst, einen experimentellen Anspruch, der die Tänzer dazu anregt, etwas mit den Mitteln der Inszenierung und Aufführung des Körpers zu erfinden und zu erforschen, was zum Wissen vom Menschen beiträgt. Nähert man sich diesem Wissen heute von Seiten der Anthropologie, so bieten sich vor allem drei Paradigmen anthropologischer Forschung an, mit denen sich eine anthropologisch orientierte Tanzforschung konstituieren kann. Dabei handelt es sich um die philosophische Anthropologie, wie sie in Deutschland entwickelt wurde, die den prinzipiell offenen Charakter menschlicher Geschichte und die Möglichkeiten menschlicher Perfektibilität betont; die historische Anthropologie der ‚Schule der Annales‘, die den historischen Charakter menschlicher Kultur und Fragen der Erforschung von Mentalitäten ins Zentrum stellt; sowie die angelsächsische Kulturanthropologie oder Ethnologie mit ihrem Interesse an kultureller Vielfalt und Heterogenität (vgl. Wulf 1997; 2004). Auf der Basis dieser Paradigmen steht die Entwicklung einer historischanthropologischen Tanzforschung an, die nicht auf bestimmte Kulturen und Epochen begrenzt ist und die in der Reflexion der eigenen Geschichtlichkeit und Kulturalität in der Lage ist, den Eurozentrismus großer Teile der Humanwissenschaften und der Ästhetik zu überwinden. Dazu bedarf es einer transdisziplinären und transkulturellen Orientierung sowie einer reflexiven Selbstkritik.

Literatur Baxmann, Inge (1991): „Traumtanzen oder die Entdeckungsreise unter die Kultur“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 316-340. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Tanzen Zeigen Lecture-Performance im Tanz seit den 1990er Jahren Gabriele Brandstetter

Der Begriff der Performance begegnet uns in den unterschiedlichsten Bereichen von Kultur und Gesellschaft. Im Diskurs von Management und Börse ist eine gute ‚Performance‘ ebenso selbstverständlich wie im Feld von Medientechnik die ‚high performance‘ eines hochauflösenden Bildschirms. Längst ist der Begriff nicht allein an die Idee und Geschichte der ‚performativen Künste‘ gebunden. Seit den 1950er/1960er Jahren war Performance Art eng mit der bildenden Kunst verbunden.1 Die Grenzüberschreitungen zwischen den nicht mehr fest umrissenen Künsten, etwa zwischen Kunst und Tanz, zeigten sich in Aktionen, in Handlungen – etwa von Yves Klein, Jackson Pollock, Andy Warhol, Yoko Ono, Rebecca Horn, Valie Export – die den Begriff von Kunst und Werk radikal in Frage stellten; und die, insbesondere in Aktionen der Body Art, die körperpolitischen und feministischen Debatten der 70er Jahre sichtbar machten. Performance wurde seit den Anfängen geradezu programmatisch als eine antirepräsentative Form künstlerischen Handelns verstanden (stellvertretend für diese (umstrittene) Position: vgl. Phelan 1993): als eine Produktion von Ereignissen, deren Präsentation sich der Ökonomie von ‚Werk‘ und Objekthaftigkeit verweigert. Doch eben dieses Modell von 1 | Zur Geschichte der Performance Art vgl. den 1979 als ersten historischen Überblick erschienenen Band von Goldberg.

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Performance mit der Betonung von Flüchtigkeit und Präsenzkultur, die sie mit dem Tanz zu verbinden scheint, war zugleich und immer schon unterlaufen durch die Spuren, Relikte, Übertragungen in andere Medien und Archive: in Foto, Film, Video, Schrift, Kataloge und Museen. Die Kunst der Performance stellt die implizit vorausgesetzte Objektivität des Beobachtens in Frage, indem sie den Abstand zwischen Ereignis und Wahrnehmung zur Erscheinung bringt. Und in dem Maße, in dem sich das Ereignis der Performance als verfügbarer Gegenstand entzieht, geraten jene seltsamen Artefakte in den Blick, denen wir die Aufgabe zuschreiben, unsere Beobachtungen zu beglaubigen. Filme, Fotos, Texte, Relikte der Performance sind Marken/Masken der Erinnerung. Denn die Artefakte geben den Blick immer wieder zurück, indem sie nicht nur die Reflexion der dokumentierenden Beobachtenden voraussetzen, sondern ebenso diejenige der späteren Lesenden (der Texte) beziehungsweise der Betrachtenden der Dokumente (vgl. Schimmler 1998). Ist Performance somit immer noch als ein „contested concept“ (Carlson 1996) zu verstehen – im Widerstreit zu Kunst-Konventionen und in Transgressionsbewegungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst? Mehr noch, ist Performance, in der Unschärfe des Begriffs und in den ‚flachen‘ Verwendungsweisen in kulturwissenschaftlichen Diskursen ebenso wie in heterogenen Feldern gesellschaftlichen Handelns, ein Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts, der ein Paradigma der Kultur – nicht mehr des Textes und des Lesens, sondern der performance und der performativity – bezeichnet, wie der Medienwissenschaftler Jon McKenzie behauptet (McKenzie 2001)? Anders gefragt: Welchen Status hat Performance heute? In welcher Weise haben Diskurse und Perspektivwechsel des ‚performative turn‘ mit der Aufmerksamkeit auf das ‚Performative‘, auf den Aufführungscharakter von Handlungen“ (vgl. Fischer-Lichte 2004) Einfluss genommen auf künstlerische Konzepte in Performance und Tanz?

Lecture-Performance: Sagen und Zeigen Diskurse und Reflexionen zu Performance und Performativität, wie sie in der Sprechakttheorie (John Austin), in der Gendertheorie (Judith Butler), in der Kulturtheorie (Milton Singer), in der Ritualforschung (Victor Turner), in den performance studies (Peggy Phelan, Rebecca Schneider) seit den 1980er Jahren debattiert werden, haben in unterschiedlicher Weise eine Fortsetzung, Subversion, Über- und Unterbietung in Konzepten und Aktionen von Künstlern und Künstlerinnen erfahren: Ironisch, und oft in spie-

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lerischer und kritischer Zitatform setzen sich Performance-Künstler und -Künstlerinnen mit dieser Geschichte von Performance und Performativität in einen Dialog, etwa wenn Jérôme Bel in Pitchet Klunchun and myself Guy Debords Gesellschaft des Spektakels zitiert, oder wenn Martin Nachbar sich in seiner Aneignung von Dore Hoyers Affectos Humanos in Urheben/Aufheben sowohl auf Gendertheorien als auch auf poststrukturalistische Theorien zur Autorschaft bezieht. Eine Form, ja ein (neues) Format solcher Auseinandersetzung im Medium von Kunst ist die Lecture-Performance. In den 1990er Jahren wurde die Lecture-Performance – die vorher in der Performance und Aktionskunst in unterschiedlichsten Ausprägungen ein Element grenzüberschreitender Events, wie z.B. bei Joseph Beuys, war – geradezu zu einem neuen und provozierenden Genre. Eine Initialwirkung ging dabei von den Arbeiten der beiden französischen Choreografen Xavier Le Roy und Jérôme Bel aus.2 Zahlreiche Choreografen und Choreografinnen entwickelten im Feld von Aufführungsformen, die man unter ‚Lecture-Performance‘ oder ‚Lecture-Demonstration‘ fassen könnte, höchst diverse Konzepte. Die Frage, weshalb gerade im Tanz diese scheinbar so tanz- und bewegungsferne Form des ‚Vortrags‘ eine solche Karriere machte, beschäftigte Tanzende, Kritiker und Wissenschaftlerinnen gleichermaßen. Auch wenn die Kontroversen um einen Widerstreit zwischen ‚Konzept-Tanz‘ und ‚Tanz-Tanz‘ (Cramer/Wesemann 2003) abgeklungen zu sein scheinen, sind Szene und Szenarios der Lecture-Performance höchst lebendig. Bislang fehlt eine ausführliche und systematische wissenschaftliche Untersuchung zu diesem historisch, performance- und ästhetiktheoretisch höchst spannenden ‚Format‘.3 Die folgenden Überlegungen zur Lecture-Performance als einer spezifischen Form der Performativität und der Reflexion des Performativen in den Arbeiten von Choreografen und Choreografinnen seit den 1990er Jahren will einige grundlegende Strukturmerkmale dieser mit ‚Genre‘ oder ‚Format‘ nur unzureichend umschriebenen Darstellungsweise beleuchten. Eine von Jérôme Bel konzipierte und choreografierte Lecture-Performance soll dabei als erstes Beispiel vorgestellt werden: Die Performance trägt den Titel: Véronique Doisneau (Paris 2004), ein Solostück für eine Tänzerin dieses Namens. Anstatt eine Choreografie für das gesamte, hierarchisch gegliederte ‚Corps‘ des Pari2 | Zu Arbeitsweise und Ästhetik von Jérôme Bel und Xavier Le Roy vgl. u.a.: Ploebst 2002; Siegmund 2006; Foellmer 2009. 3 | Das Buch zum Vortrag als Performance von Sibylle Peters, die bislang einige Aufsätze publiziert hat, die das Verhältnis von Vortrag und Performance historisch, phänomenologisch und theoretisch höchst aufschlussreich in Beziehung zeigen, ist in Vorbereitung. Zum Thema vgl. Peters 2006.

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ser Opernballetts zu entwerfen, wählt Jérôme Bel eine einzige Tänzerin aus dem Corps de ballet aus, die nun den Gesamtkörper vertritt. Sie geht über die leere Bühne in Trainingskleidung, mit einem Trainings-Tutu über dem Arm, an die Rampe – und: erzählt. Sie erzählt ihre persönliche Geschichte als Tänzerin, sie spricht über die Arbeit im Corps und von dem Traum, als Solistin einmal Giselle zu tanzen. Schließlich lenkt sie die Aufmerksamkeit auf eine Seite des Tanzes, die so normalerweise nicht sichtbar wird. Am Beispiel von Schwanensee erläutert sie: Es gibt Stellen in Choreografien, in denen die Tänzerinnen des Corps de ballet über viele Takte hinweg unbeweglich in einer Pose verharren – ein tacet der Bewegung, wie man es im Orchester für längere Pausen von Instrumenten kennt; eine Still-Stellung, ein Schweigen der Bewegung. „Wir (die Tänzerinnen) sind in solchen Passagen“, so erläutert sie, „ein ‚lebendiges Dekor‘ für die Solisten.“4 Nach ihrer autobiografischen Erzählung an der Bühnenrampe geht Véronique Doisneau in die Mitte der Bühne. Hier demonstriert sie das Verhältnis von statischem Corps und virtuosen, bewegten Soli als Performance: Sie lässt zunächst die Orchestermusik des großen Pas de deux aus Schwanensee (2. Akt, Duo Odette/ Siegfried) einspielen. Während die Solovioline die Kantilene der Solistenbewegung hörbar macht, posiert die Tänzerin, indem sie pausiert: Sie verharrt an der Seite der Bühne, in ‚croisé‘-Position, die Arme in einer ‚préparation‘Stellung vor dem Körper (im Schritt) übereinander gelegt. Nach langer Pause gibt es einen Stellungs- und Ortswechsel, eine halbe Drehung mit einer Arm-Schulter-Kopf-Bewegung in dem für Schwanensee charakteristischen ‚épaulement‘. Als ‚Einzelne‘ aus dem Corps macht die Tänzerin nicht nur die Leerstelle der Primaballerina sichtbar. Ihr Solo-Auftritt markiert wie in einer Schwarz-Weiß-Fotografie das Negativ des vielgliedrigen Ensemblekörpers, dessen Ornament nur als Gesamtmuster in der Serie der Posen- und Haltungswechsel erkennbar ist. Die Markierung der Fehlstelle in der leeren Raumfigur ruft hier in doppelter Weise die Imagination der Betrachtenden auf den Plan. In der Erinnerung – z.B. des Schwanensee-Themas von Tschaikowskis Musik und/oder in der Projektion einer ‚performance imaginaire‘ – überträgt sich die Bewegung von der Bühne in das Gedächtnistheater der Zuschauenden – und zurück. Das Theater, das ‚Ballett‘ von Jérôme Bel, eröffnet mit dem Erscheinen der einzigen Tänzerin aus dem ‚Corps‘ einen ‚Espace d’ameublement‘, in dem die Nicht-Bewegung als Performance in den Vordergrund rückt – die Bewegungsfiguren des Balletts Schwanensee

4 | Zitat (dt. übers., G.B.) nach Mitschrift während der Performance. Für eine andere Perspektive auf das Stück siehe die Rezensionen von Hahn 2004.

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hingegen als Schattentheater im Fond des Tanzes verschwinden und ganz zurücktreten. Véronique Doisneau präsentiert sich als Lecture-Performance in mehreren grundlegenden Merkmalen dieses Darstellungsformats. Hervorzuheben ist dabei insbesondere die Beziehung von Vortrag und Performance in einer charakteristischen Verflechtung von Sagen und Zeigen. Zwei unterschiedliche Formen der Darstellungen werden somit in der Lecture-Performance verschränkt: Während der Vortrag sich im Feld des Diskursiven bewegt, zeigt sich die Performance im Medium des Aisthetischen: Dieter Mersch unterscheidet zwischen „divergenten medialen Strukturen, die nach Sagen (diskursiv) und Zeigen (aisthetisch) ausdifferenziert werden können. Ersteres verweist auf Differenz-Setzungen, letzteres auf Wahrnehmungen. Grundsätzlich weisen alle Medien beide Seiten auf, soweit sie immer sowohl differenziert als auch auf Wahrnehmung bezogen sind. Dem geht insbesondere die Duplizität von Sagen und Zeigen als Duplizität von Funktionalität bzw. Struktur und Materialität oder Performanz konform.“ (Mersch 2003: 16).

Véronique Doisneau © Icare

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Für eine Lecture-Performance im Tanz, wie z.B. Véronique Doisneau, eröffnen sich genau in den sich überkreuzenden Darstellungsformen der Rede (des diskursiven Vortrags/Erzählens) und der zeigenden Körperperformance in den Posen, Gängen, in den getanzten Elementen aus Balletten wie Giselle und Schwanensee spannungsreiche Szenarien der Wahrnehmung. Der ‚Vortrag‘ der Tänzerin gibt Einblick in Inhalte und Strukturen des Balletts: z.B. in die Hierarchien des Pariser ‚Ballet de l’opéra‘; und er vermittelt Persönliches aus dem Leben und der alltäglichen Arbeit einer BallettTänzerin. In der autobiografischen Erzählung gewinnt eine Individualität (Darstellungs-)Raum, die ohne dieses ‚Sagen‘ in der Privatheit jenseits der Bühne abgeschirmt wäre. Dieser ‚Vortrag‘ vermittelt jedoch nicht nur diskursiv Einsichten. Die Art und Weise dieses Sagens, seine Performanz, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Körperlichkeit der ‚Vortragenden‘: Sie ‚spricht‘, sie berührt durch die Art ihres ‚An-der-Rampe-Stehens‘, ihre Stimme, ihre Artikulation, die Atemlosigkeit des Sprechens während und nach dem Zeigen der Tanz-Passagen. Die sinnliche Wahrnehmung (aisthesis) bezieht sich auf den Akt, auf das Performative des Vortrags anders und doch auch als ein ‚Zeigen‘. Und umgekehrt wird das ‚Zeigen‘ in jenen Momenten der Aufführung, in denen sie ‚Pas‘ aus den von ihr genannten oder gewünschten Soli vorführt, zugleich auch zu einem ‚Sagen‘. In jenen langen Minuten, in denen Véronique Doisneau auf der großen, dunklen Bühne am Rand in der ‚Corps de ballet‘-Pose verharrt und in dieser schmerzhaften Stillstellung sehr verloren und anrührend wirkt, ‚sagt‘ sie in diesem Zeigen mehr, als es viele Worte könnten, über das Ballett und seine Struktur. Lecture und Performance erweisen sich beide, in ihrer Mit-Teilung, als Choreografien und Szenografien des Sagens und Zeigens: Es eröffnet sich ein Raum, indem sich etwas zeigt, das nur in dieser Überlagerung des zeigenden Sagens und des sprechenden Zeigens evident wird. – Es stellt sich dabei die Frage, ob diese spezifische performative Ästhetik der Lecture-Performance im Tanz nicht wesentlich daran gebunden ist, dass die Erzählung, der Kontext, d.h. Lecture und Performance zugleich autobiografische Performances sind. Für zahlreiche, ja die allermeisten Lecture-Performances im Tanz seit den 1990er Jahren trifft dies zu, um nur einige zu nennen: Xavier Le Roy: Product of Circumstances (1998), Jérôme Bel: Jérôme Bel (1995), Véronique Doisneau (2004), Pitchet Klunchun and myself (2006), Lutz Förster (2009), Jochen Roller: Perform performing (2003), Lindy Annis: Lady Hamiltons Attitüden (2004), Martin Nachbar: Urheben/Aufheben (2003), Zufit Simon: Meine Mischpuche (2008), Thomas Lehmen: Stationen (2003), Tino Sehgal: Untitled 1997-2003 (2003), Mårten Spångberg: Extra Clear Power (2003), deufert + plischke: Directory

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(2003), Geheimagentur (Sibylle Peters und Matthias Anton): The Art of Demonstration (2004). Das ‚Autobiografische‘ ist dabei in eine andere Figuration des Performativen gehoben: es ist ‚Selbstperformance‘ im Sinne von Selbstdarstellung/ Performance des Selbst (vgl. Brandstetter 2005, 2009; Matzke 2005). Die ‚Lecture‘ hebt diese Erzählung, das autobiografische Narrativ, aber zugleich auch in einen Rahmen, in dem es sujet im doppelten Wortsinn wird: Sie sei „sujet“, sagt Véronique Doisneau in ihrer autobiografischen Vorstellung. ‚sujet‘ bedeutet im hierarchischen System des Balletts an der Pariser Oper jene Position, in der eine Tänzerin sowohl im Corps de ballet als auch in kleineren Solopartien tanzt. Diese ‚Position‘ tauscht die Tänzerin nun mit jener, in der sie sujet der gesamten Performance ist: Gegenstand und Subjekt zugleich; inszenierte Posen-Darstellerin und zugleich Selbst-Darstellerin. sujet ist sie hier nicht allein in ihrem ‚Solo‘, in dem sie – als Vortrag und Performance – Szenen ihres Lebens als Tänzerin zeigt. Auch ihr Tanzen wird vom Tanz in der uniformen Reihe des Corps de ballet zu einem Zeigen und Sich-Zeigen, in einer Performance, in der sie ‚sujet‘ im zweifachen Sinn des Begriffs ist.

Lecture-Performance als Forschungs-Szene „Theory is Biography“ and „Giving a lecture is doing a performance“. Mit diesen Worten beendet Xavier Le Roy seine Lecture-Performance Product of Circumstances (1998). Auch er verflicht in diese Performance Vortrag und (Bewegungs-)Performance mit der Erzählung einer autobiografischen Geschichte. Aus der Thematisierung dieser Parallelisierung und Verschränkung von Diskurs und Körper-Performance präpariert er freilich noch eine Pointe des Zeigens heraus, die über die Einbeziehung und Ausstellung des Subjektiven im Vortrag hinausweist: Es geht zuletzt um die Kritik an einem (wissenschaftlichen oder öffentlichen) Vortrags-Diskurs und seinen Anspruch auf Repräsentation. Die autobiografische Narration (eine persönliche Geschichte der keineswegs stromlinienförmigen Karriere) und die Momente des ‚Zeigens‘ von Tanz-Trainingselementen (die ebenfalls keineswegs einer tänzerisch schulgerechten Performance entsprechen), unterlaufen den mit dem ‚Vortrag‘ anklingenden repräsentativen Diskurs von Theorie und Wissenschaft: Theorie, die ‚Biografie‘ ist, zeigt sich als Performance. Im Rahmen dieses Sich-Zeigens und ihrer ästhetischen Wahrnehmung vermag es eine Lecture-Performance wie Product of Circumstances, die in ihrer komplexen Komposition zu einem ersten und herausragenden Beispiel dieses Formats

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wurde, für Körperkonzepte (nicht nur) im Tanz und ihre Reflexion neue Einsichten zu öffnen. ‚Lecture-Performance‘: Dieser Titel annonciert recht präzise, was in diesen 60 Minuten geschieht; eine Lecture, das heißt in diesem Fall ein naturwissenschaftlicher Vortrag über Microbiological Concepts of the Body; und eine immer wieder in die Lecture eingeflochtene Andeutung einer Tanz-Performance. Beides freilich kreuzt sich – der Vortrag wird zur Performance, die Bewegungs-Demonstrationen werden zur Lecture. Im solchermaßen gegebenen Rahmen folgt nunmehr die Lecture. Le Roy spricht – als Wissenschaftler, Mikrobiologe – über seine Thesis, das heißt über seine Doktorarbeit, zugleich aber auch über die ‚These‘ dieser Lecture Performance – nämlich über seine langjährigen wissenschaftlichen Studien über Krebs; über Brustkrebs; über das Zellwachstum der Tumore; über Veränderungen in der DNA und Wucherungen des Gewebes. Und er demonstriert seine Forschungsergebnisse durch eine Reihe von Dias: Computertomogramme, Bilder von Präparaten blaugefärbten Gewebes. Darin markiert, als schwarze Punkte, werden Zellkerne sichtbar als Punkte und Wolken. An diese Bilder knüpfen sich theoretische Ausführungen über Teilungsvorgänge und die mutmaßliche Wirkung von Hemmstoffen, über ‚quantification steps‘ und ‚significant expression‘ dieser Körper-‘Tissues‘. Während dieser Ausführungen, die zugleich eine Erzählung über den wissenschaftlichen Werdegang Le Roys geben – über die akademischen Rituale, die Hierarchien, den Erfolgsdruck und die Abstraktheit des Gegenstands –, werden immer wieder kurze Informationen über seine gleichzeitig beginnende Tanzausbildung eingeflochten. Er berichtet über seine Erfahrungen mit verschiedenen Tanz-Schulen, -Stilen und -Techniken. Den Vortrag kurz unterbrechend führt Le Roy einzelne Techniken vor, mit den Worten: „Then I learned move like this ...“ Er zeigt einige Übungen, eher andeutend, am Platz oder im Raum, die er demonstriert aber nicht kommentiert. Im Wechsel zwischen Körper-Vortrag und Körper-Übung disloziert sich für die Betrachtenden nach und nach das anscheinend Zusammengehörige: Die Dias an der Wand wirken plötzlich wie abstrakte Gemälde. Die präzise dargelegten Zählverfahren zur Zell-Veränderung erscheinen auf einmal wie eine verrückte selbstreferentielle Taxonomie. Die Teilung der Lecture in TheorieBlöcke und Körper-Darstellungs-Abschnitte macht paradoxerweise gerade auf die Textualität der Performance aufmerksam: auf den Vortrags-Text, der den Körper als ‚Tissue‘, als Gegenstand wissenschaftlicher Theorie behandelt; und auf den Text des Körpers als Bewegungsanleitung in der TanzLecture. Die Versuchsanordnung verändert sich: Der wissenschaftliche Vortrag selbst wird plötzlich zu einer körperlichen Kritik: Welches Wissen können

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wir in spezialisierten, abstrakten Systemen vom Körper gewinnen? Welch anderen Zugang – als kritische Praxis – könnte Bewegung geben? Und welchen Status von Performance konstituiert eine Situation wie diese Lecture, die hier aus einer bestimmten Betrachter-Perspektive erzählt ist – auf der Schwelle zwischen Körper-Theorie und Körper-Bewegung? (vgl. zu Konzept und Vortragstext: Le Roy 1999). Die Lecture-Performance adaptiert hier nicht nur das Szenario des wissenschaftlichen Vortrags, sondern auch seine Struktur als Bericht aus einem Experimentierfeld und Versuchslabor des Wissens: Man blickt wie in eine Vitrine, in der Verhaltens-, Bewegungs- und Sprachexperimente vorgeführt werden. Solche Performances übertragen in den unterschiedlichsten Versuchsanordnungen den Diskurs und die Perspektiven der Wissenschaft in ihr Darstellungs-Szenario. Warum ausgerechnet der Wissenschaft? Und warum oft der Naturwissenschaft? Eine mögliche Antwort könnte lauten: weil die Wissenschaften – als Verwalter von Wissen und Wissensdiskurs – jeweils die Kohärenz ihres Gegenstandes behaupten, indem sie diese Kohärenz im Diskurs selbst erst herstellen; eine Kohärenz, die aber zugleich – in der Wissenschaftstheorie wie auch in der ästhetischen Theorie – verworfen wird (indem nämlich gleichzeitig die Vorentscheidungen der Versuchsanordnung und die Beeinflussung der Ergebnisse durch die Beobachterposition reflektiert werden). Die Mechanismen solcher Konstitution von (wissenschaftlich definierter) Wirklichkeit – eine ‚Wirklichkeitsmaschine‘ – scheinen für Performance ein interessantes Feld zu sein; kritisch, spielerisch, im Grenzbereich die scheinbar klaren Trennungen zwischen Wissenschaft und Kunst verwischend; und verwischend auch die Ränder zwischen ZuschauerBetrachter und Performance als Beobachtung. So begibt sich der Performer an den Platz des Wissenschaftlers, ans Vortragspult der ‚Lecture‘ – und (be)treibt in wissenschaftlichem Diskurs und Erzählung, Abschweifung und Demonstration einen Grenzgang zwischen beiden Wissensbereichen; spannend und irritierend besonders da, wo sich zuletzt eben keine Abgrenzungen zwischen Referat und Referendum mehr treffen lassen; wo der Zweifel der Hörenden/Zuschauenden (und der Performenden selbst) Eingang in die Aktion findet: auf der Schwelle, zwischen Theorie und Ereignis. Performance als Theorie (Event). In einer Lecture-Performance wie in Xavier Le Roys Product of Circumstances werden die Grenzen zwischen unterschiedlichen Bereichen des Wissens geöffnet, verschoben und neu ausgehandelt: die Grenzen zwischen ‚Science‘ und dem Körperwissen in unterschiedlichen Konzepten des Tanzes. Diese Aushandlung selbst ist Teil der Performance; sie geschieht im

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performativen Akt des Demonstrierens. Diese Form des ‚Zeigens‘ (in Schaubildern, Dias, Objekten – kommentiert und häufig mit entsprechenden ‚Zeige‘-Instrumenten demonstriert) ist ein Element des wissenschaftlichen Vortrags, das bis in das 19. Jahrhundert zurückrückt. Sibylle Peters hat diese performative Dimension des wissenschaftlichen Vortrags untersucht, und die Kunst des Demonstrierens zugleich mit einer Theorie der künstlerischen Performance konfrontiert. Für beide Darstellungsformen gilt es, die Art und Weise der Produktion von Evidenz zu betrachten: „Im Vortrag soll nicht nur etwas gesagt, sondern auch etwas gezeigt werden. Das kann, muss aber nicht unbedingt, heißen, dass der Vortragende etwas vorzeigt, also ein Dokument, ein Artefakt, ein Diagramm, ein Tafelbild oder ein Experiment. Auch schon im Sagen selbst kann der Vortrag etwas zeigen; doch während ‚Sagen‘ immer heißt, dass etwas gesagt wird, gibt es das Zeigen immer schon doppelt: Zum einen kann etwas gezeigt werden, zum anderen kann sich etwas zeigen, von selbst zeigen. Wenn im Vortrag also etwas passieren soll, dann dadurch, dass Sagen und Zeigen so kombiniert werden, dass sich dabei etwas von selbst zeigt, etwas Drittes. Diesen Moment nennt man Evidenz: das, was sich zeigt, tritt aus dem Verborgenen ans Licht. Und diesen Moment zu erzeugen, nennen wir die Kunst der Demonstration.“ (Peters 2006: 209).

Jérôme Bel und Pichet Klichnun © Association RB

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Die Evidenz der künstlerischen Lecture-Performance scheint sich freilich in einem winzigen, jedoch entscheidenden Moment von der Konzeption des Sagens und Zeigens in einem wissenschaftlichen Vortrag zu unterscheiden. Die Akte des Demonstrierens im wissenschaftlichen Vortrag dienen zumeist der Veranschaulichung eines schlüssigen Argumentationsgangs oder als ‚Beweis‘ eines Experiments. Sie sind somit auf ein ‚Gelingen‘ dieses ‚Zeigens‘ ausgerichtet. Eine (künstlerische) Lecture-Performance hingegen zieht ihre ästhetische Evidenz ebenso wie ihr irritierendes, subversives Potential daraus, dass sich im Verlauf der Performance – oft nur minimal – eine Störung dieses Gelingens einstellt: ein Spalt zwischen Sagen und Zeigen, in dem sich ein ‚Anderes‘ zeigt: Etwa die Unangepasstheit des individuellen Körpers an die Übungsformate eines Tänzertrainings in Xavier Le Roys Product of Circumstances; oder die Unübertragbarkeit von individuellen Bewegungs-Performanzen in andere historische und körperliche Kontexte, wie z.B. in Martin Nachbars Urheben/Aufheben oder in Jérôme Bels The Last Performance. Diese Seite der Evidenz, in der im performativen Gelingens-Anspruch sich das Imperfekte, die Widerständigkeit des Körperlichen zeigt, scheint mit der Darstellungsform der Lecture-Performance zusammenzuhängen. Ihre Performanz ist, anders als in John L. Austins prototypisch definierten performativen Sprechakt (vgl. Austin 1979)5, nicht durch eine Gelingens-Misslingens-Relation charakterisiert, sondern durch eine Reibung zwischen Sagen und Zeigen. Diese Friktion ist häufig dann produktiv, wenn Widersprüche, Irritationen oder Verwischungen zwischen diesen Modi, dem Deiktischen und dem Aisthetischen, eintreten. Roland Barthes hat den Konflikt zwischen Sagen und Zeigen, zwischen Demonstrieren und „faire voir“, wie Gerhard Neumann gezeigt hat, als Aufbrechen der Repräsentationskrise des Theaters beschrieben: Barthes’ „aporetische Szene des Deiktischen“ entbindet „im ‚Vorzeigen der Zeichen‘ die Zeige-Potenzen, die im Körper verankert sind“, „mobilisiert sie gegen den Repräsentationsgestus“ und „verhindert dadurch, dass das Zeigen im Sagen ‚aufgehoben‘ wird und verschwindet.“ (Neumann 2003: 55 f.).

5 | Vgl. zur Bedeutung der Austinschen Sprechakt-Theorie für eine Theorie des Performativen: Fischer-Lichte 2004: 31 ff.

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Lecture-Performance: Ästhetik der Differenz Die Mehrzahl der Lecture-Performances seit den 90er Jahren thematisiert und reflektiert Tanz. Sowohl in der Lecture, auf der Diskursebene, als auch im Zeigen der Performance werden häufig Fragen, die um Tanz, Choreografie, Performance und Repräsentation kreisen, verhandelt. Diese selbstreflexive Dimension ist geradezu ein Strukturmerkmal der Lecture-Performance in ihrer Ausprägung als Konzept-Kunst. So thematisiert Xavier Le Roy in Product of Circumstances die Körperkonzepte unterschiedlicher Schulen und Stile des Tanzes, zeigt ihre Disziplinierungseffekte in wenigen, nur angedeuteten Gesten und konfrontiert die Frage nach den Repräsentationsformen im Tanz mit den fragmentierten und abstrahierten Körper-‚Bildern‘ in der Mikrobiologie. Zugleich stellt er, wie auch Jérôme Bel, die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen, Settings und Traditionen der Produktion und Rezeption von Choreografie und Tanz als Aufführung. Jérôme Bel stellt wiederholt und in immer neuen Versuchsanordnungen die Frage nach den Repräsentationsformen, den Hierarchien und Strukturen des Tanzes, sei es in der Tradition des klassischen Balletts wie in Véronique Doisneau, sei es die Genese, Geschichte und Produktionsform des Tanztheaters von Pina Bausch in Lutz Förster, sei es die Differenz zwischen westlichen Ballett- und Performance-Konzepten zu einer östlichen Tanztradition wie dem thailändischen Khon-Tanz in Pitchet Klunchun and myself. Jochen Roller demonstriert, erläutert, kommentiert und tanzt in Perform Performing die Frage nach der künstlerischen und sozialen Position der Performanz, nach den Strukturen von Performance als ‚Aufführung‘ und Performance als Selbstmanagement auf dem Arbeitsmarkt. In Saal A (2008) von Christoph Winkler zeigen und kommentieren ein Performer und zwei Performerinnen ihre Ausbildung, die Körper- und Bewegungsschulung und die Zukunfts- und Berufsperspektiven, die sie damit verbinden. Die Reihe der Beispiele ließe sich noch ausführlich verlängern. Entscheidend ist dabei nicht nur, dass die Selbstthematisierung und die Reflexion der Darstellungsbedingungen und Strukturen von Tanz, Choreografie, Performance und Publikum stattfinden, sondern auch, wie dies geschieht. Das ‚Zeigen‘ ebenso wie der Diskurs der Lecture stellen diese Bezüge sehr häufig als Zitat her. Dabei geht es weniger um ein Dokumentieren als um ein Demonstrieren im und durch den Gestus des Zitats. Nicht die Berufung auf eine Autorität der Kunst, der Geschichte oder der Wissenschaft ist damit in erster Linie gemeint, sondern vielmehr auch hier die Deixis, das Hinweisen darauf, dass ein Zitieren von Bewegungen oder performativen Akten stets die zeitliche, körperliche, ästhetische Diffe-

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renz zum Zitierten mittransportiert. In einer besonders eindringlichen und sensiblen Form arbeitet Jérôme Bel in seiner Lecture-Performance The Last Performance mit diesem Verhältnis von Bewegungs-Zitat und Differenz: In jener Passage, in der ein Ausschnitt von Susanne Linkes Solo Wandlungen zitiert wird, stellt sich Differenz für den aufmerksamen Betrachter gleichsam mikroanalytisch in vielfältigen Stufen her. Die Differenz von Original und wiederholender Übertragung wird in der Zuschreibung „Ich bin Susanne Linke“ markiert – ein Satz, den jeder der vier Performer – eine Tänzerin und drei Tänzer –, die diesen Ausschnitt aus Susanne Linkes Solo-Choreografie nacheinander vorführen, ausspricht. Geschlechterdifferenz und die physische Differenz der Körper und Bewegungen werden in der Wiederholung des zitierten Ausschnitts der Choreografie evident – und damit sind die Brüche in der historischen Übertragung erfahrbar. Es gehört zu den bemerkenswerten und innovativen Dimensionen der Lecture-Performance im Tanz seit den 90er Jahren, dass sie in performativer Weise die ästhetische Stellung des Tanzes verhandelt, indem sie Fragen der Repräsentation, der Geschichtlichkeit und der Überlieferung integriert. Eine Reflexion einer Tanz-Performance durch Vortrag und Kommentar ist in der Tanzgeschichte nicht so neu. Als Vorläufer der ‚Lecture-Performance‘ könnte man die Aufführungen Isadora Duncans zu Beginn des 20. Jahrhunderts benennen, in denen sie – im Künstlerhaus in München, oder in Paris, auf Künstlerfesten – tanzte und zugleich ihr Manifest eines Tanzes der Zukunft (1903) verkündete. Weitere 100 Jahre zurück liegen die Attitüden und Tableaux vivants-Darstellungen von Lady Emma Hamilton; auch ihre Performances wurden dem entzückten Publikum durch einen Vortrag über Antikendarstellung und Mythen durch den Kunst-Sammler William Hamilton kommentierend gerahmt. In ihrer Lecture-Performance zu den Tableaux vivants Lady Hamiltons Attitüden (2004), geht die Performerin Lindy Annis den historischen Spuren dieser Vorläuferin der Lecture-Performance nach. Das ‚Zeigen‘ weist hier auf die Bruchlinien einer Geschichte; die Performance selbst zeigt sich zitierend als Nachstellung der Bilder – im Gegenüber von Körperdarstellung, Bild-Projektion und Vortrag (vgl. hierzu den Lexikonartikel von Bettina Brandl-Risi „Tableau vivant“ (2005) sowie das Kapitel V: „Die Stille des Textes und der ‚tableau vivant-Effekt‘„ (2007) ihrer Dissertation). Hier wird der konzeptuelle, der historische und der ästhetische Unterschied der Lecture-Performance zu ihren geschichtlichen Vorgängern deutlich sichtbar. Während die Kombination von Tanz und Vortrag, von Performance und Diskurs bei Lady Hamilton oder Isadora Duncan ein Manifest einer neuen Kunstform ist, während sie etwa bei Joseph Beuys einen

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Akt der Eliminierung der Grenzen zwischen Kunst und Leben markiert, zeigt sich die ‚postmoderne‘ Lecture-Performance der 1990er Jahre als eine Recherche der eigenen (Tanz-) Geschichte, als ironisch zeigendes Sampling von Körper- und Darstellungskonzepten und als theoriebewusstes Spiel mit den Grenzen von Wissen(schaft) und Performance. In dieser Weise verfährt Martin Nachbar in seiner Lecture-Performance Urheben/Aufheben. Die Performance zeigt abwechselnd als Vortrag am Pult und in getanzten Abschnitten Nachbars Recherchen, seine Arbeit der Rekonstruktion von Dore Hoyers (auf Video überlieferter) Solo-Choreografie Affectos Humanos (1962). Dabei kommentiert und zeigt er vor allem den Prozess dieses Erarbeitens eines Tanz-Stiles, der ihm historisch ‚fremd‘ war und ist. Im Zeigen der Differenz – einer historischen, einer körperlichen, einer geschlechterbezogenen, einer tanztechnischen und einer ästhetischen Differenz – besteht die ‚Bewegung‘ dieser Performance. Von großer Bedeutung ist dabei – wie Nachbar auch in Gesprächen immer wieder hervorhebt (vgl. Hardt 2007) – die Bewegungsrecherche, die Frage nach einem Original, das nicht ‚wiederholbar‘ ist, und das ‚Zeigen‘ der Brüche in der Übertragung. Dabei geht es bei aller Sorgfalt der Re-Konstruktions-Recherche nicht um eine tänzerisch perfekte, gar eine virtuose Aneignung und Aufführung der höchst komplexen, tänzerisch schwierigen Choreografie Dore Hoyers. Virtuosität ist in keiner der genannten Lecture-Performances ein Anliegen der Darstellung. Im Gegenteil: das ‚Zeigen‘ der Produktionsbedingungen von Virtuosität – meisterhafte Körpertechnik, Steigerung der Performance – wird zum Thema, gerade deshalb, weil Neugierde, Evidenz, Staunen des Publikums in der Interferenz von Vortragen-Performen erreicht werden. Nicht Illusion, sondern Evidenz ist die Darstellungsidee der Lecture-Performance. So hat Martin Nachbars ‚Lecture‘ nicht die ‚Rekonstruktion‘ als Illusion eines Originals zum Ziel. Das ist wohl der Grund, weshalb er den Begriff ReKonstruiert, den er zuerst als Titel gewählt hatte, in einer späteren Version mit Urheben/Aufheben ersetzte. Der aktuelle Trend von ‚Re-enactments‘ in popularkulturellen und künstlerischen Re-Inszenierungen von historischen Ereignissen (vgl. Arns 2007) und von Performances – wie etwas der Serie von Re-enactments von sieben berühmten Performances durch die Body-Performerin Marina Abramovic6 – bildet den Kontext der Lecture-Performances im Tanz. Doch ist das Verhältnis zur Geschichtlichkeit von Tanz-Performances nicht ein WiederHolen als Re-enactment. (Wieder-)Verkörperung einer Körper-Tanz-Bewegung aus der Tanzgeschichte transportiert immer auch historische Distanz. 6 | Vgl. Marina Abramovic (2005): Seven Easy Pieces, Performance im Solomon R. Guggenheim Museum, New York.

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Diese sichtbar werden zu lassen, die Brüche, die das historisch Fremde zeigen, in der Lecture-Performance auszustellen, war das Konzept von Martin Nachbars Urheben/Aufheben. Es geht dabei um eine Annäherung an ein Vergangenes, um seine Relevanz für die Gegenwart zu überprüfen. „Eine solche Art von Wiederholung ist, frei nach Elisabeth Grosz, nie die Herstellung des Gleichen, sondern Motor des Neuen. Die Tänze der ‚AH‘, Luleys Erinnerungen, meine Rekonstruktion und ihre Wahrnehmung gehen ineinander über und werden zu etwas, was vorher noch nicht da war.“ So kommentiert Martin Nachbar seine Lecture-Performance (vgl. Nachbar 2003). In der Darstellung und Reflexion von Bewegungen und Strukturen des Tanzes bezieht sich das Spiel mit dem Zeigen von Differenz in der (Tanz-) Lecture-Performance nicht nur – wie gezeigt – auf Geschlechterdifferenz, auf historische, ästhetische und soziale Differenz. Auch die Differenz zwischen unterschiedlichen Kulturen wird zum Thema von Lecture-Performances. So z.B. in Jérôme Bels Pitchet Klunchun and myself (2004). Diese Performance ist nicht, wie die meisten Lecture-Performances, ein Solo, sondern ein Dialog, in dem zwei Performer, Jérôme Bel und Pitchet Klunchun durch Rede und durch körperlich-tänzerisches Zeigen die Darstellungsformen des Tanzes in ihrer jeweiligen Kultur reflektieren. Kulturelle Differenz, die Ästhetik der Repräsentation, das unterschiedliche Verhältnis zur Tradition werden in diesem Sagen-Zeigen anschaulich. Und dennoch bleiben in dieser Performance auch Fragen offen, die Aspekte der Globalisierung und der Dominanz in der Dialog-Situation betreffen. Stellt nicht schon die Wahl des ‚Genres‘ Lecture-Performance, die das ästhetische Konzept der Arbeitsweise Jérôme Bels darstellt, nicht jedoch die Aufführungstradition des klassischen Khon-Tänzers Pitchet Klunchun impliziert, eine Asymmetrie innerhalb dieser Lecture-Performance her? (vgl. Brandstetter 2008). Zuletzt bliebe noch die Frage nach der Beziehung von Lecture-Performance und Publikum zu stellen. Die Konstellation des Theaters und des wissenschaftlichen Vortrags ex cathedra – das Verhältnis Zeigen-Schauen – positioniert den Zuschauer in die Situation des ‚Spectator‘. Als solcher hat er teil am diskursiven Vortrag, als solcher wird er zum Zeugen des Demonstrierens, im Experiment mit den Grenz-Verschiebungen zwischen Vortrag und (Tanz-/Bewegungs-)Performance. In dieser Position ist der Zuschauer ein waches, aufmerksames Gegenüber in der Wahrnehmung, und er ist aufgefordert, in diesem Raum des Zeigens seinen Anteil an der Produktion von Evidenz zu übernehmen; ganz gemäß der Maxime Jérôme Bels: „The more you kill the performer, the more the audience is alive.“ (Bel 2008).

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Le Roy, Xavier (1999): „Product of Circumstances. Vortrags-Performance eines Molekularbiologen, der Tänzer wurde“, in: ballettanz-international „Körper.kon.text“, Jahrbuch 1999, S. 58-67. Matzke, Annemarie (2005): Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Selbst-Inszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim: Olms. McKenzie, Jon (2001): Perform or else. From discipline to performance, London: Routledge Chapman & Hall. Mersch, Dieter (Hg.) (2003): Die Medien der Künste. Beiträge zu einer Theorie des Darstellens, München: Fink. Mersch, Dieter (2003): „Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl – Modalitäten medialen Darstellens“, in: Ders. (Hg.), Die Medien der Künste, Beiträge zu einer Theorie des Darstellens, München: Fink, S. 9-49. Nachbar, Martin (2003): „ReKonstrukt“, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.), Moving Thoughts. Tanzen ist Denken, Berlin: Vorwerk, S. 89-95. Neumann, Gerhard (2003): „Roland Barthes’ Theorie des Deiktischen“, in: Dieter Mersch, Die Medien der Künste, München: Fink, S. 53-75. Peters, Sibylle (2006): „Von der Kunst des Demonstrierens. Zur Figuration von Evidenz in der Performance des Vortrags“, in: Dies./Martin Jörg Schäfer (Hg.), Intellektuelle Anschauung. Figuration von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld: transcript, S. 201-225. Phelan, Peggy (1993): Unmarked. The Politics of the Performance, London: Routledge Chapman & Hall. Ploebst, Helmut (2002): No wind, no word. Neue Choreografie in der Gesellschaft des Spektakels. 9 Portraits, München: Kieser. Schimmler, Paul/Noever, Peter (Hg.) (1998): Out of Actions: zwischen Performance und Objekt 1949 – 1979, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Wien, Ostfildern: Cantz. Siegmund, Gerald (2006): Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript.

Performativität und Repräsentation im Tanz: Tanz als Aufführung und Darstellung Jens Roselt

Die bewegte Frau Eine Frau ist in Bewegung: Im eleganten grauen Hosenanzug mit leicht aufgeknöpfter roter Bluse und dunklen hochhackigen Schuhen stolziert sie mit wippendem Gang wirkungsbewusst durch den Raum. Ein Ziel scheint sie nicht zu haben; so geht man nicht, wenn man irgendwohin will, sondern so schreitet eine Frau, die schon da ist und ihren Auftritt genießt. Doch die bewegte Frau kann auch anders. Unvermittelt macht sie weit ausholende Bewegungen mit den Extremitäten, lässt die Arme um den Oberkörper kreisen und spreizt die Beine, um eine möglichst breitbeinige Pose einzunehmen, die sie ausreizt und sofort wieder auflöst. Bewegungsfiguren, die an das klassische Ballett erinnern, werden ebenso kurzzeitig sichtbar wie Tanzschritte aus dem Gesellschaftstanz. Immer wieder werden raumgreifende, sich wiederholende Drehfiguren gezeigt. Der Körper kreist um sich und durch den Raum. Das wirkt elegant und gekonnt, obwohl die Frau dabei auch immer wieder auf den Boden knallt, was ihren Bewegungsdrang aber nicht hemmt. Abrupte Richtungs- und Tempowechsel setzen permanent neue Bewegungsimpulse. Nicht die einzelne Bewegung, sondern deren scheinbar beliebige Anordnung und Wiederholung wird zur identifizierbaren Form des Tanzes. Der Übergang zwischen kontrollierter Pose und der fahrigen, aber zugleich

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kraftvollen Neuausrichtung der Körperhaltung ist fließend. Man beobachtet einen energiegeladenen Ausdrucksdrang, der nie zu einer endgültigen Form gerinnt und immer nur einen vorläufigen Status erreicht. Man sieht einen Körper auf der Schwelle, der den Raum ausmisst, indem er seinen Platz sucht und behauptet, sich aber doch nicht einzurichten vermag. Die Frau in Bewegung ist souverän, exzentrisch und fragil. Man könnte auch sagen: Sie ist temperamentvoll. Doch was treibt sie an? Was bringt sie in Bewegung? Mit anderen Worten: Was motiviert diese Frau? Diese Frage, die für Theaterzuschauerinnen und Theaterzuschauer alltäglich ist, mag angesichts einer Tanztheateraufführung reichlich altmodisch oder deplatziert klingen. Ist nicht der Tanz die eigentliche Motivation für die Tänzerin und nicht eine Geschichte, die einer bestimmten Handlung folgt oder den Charakter einer Person präfiguriert und den tänzerischen Auftritt so nachvollziehbar macht? Für die eingangs beschriebene Szene aus Brickland1, einer Produktion der argentinischen Choreografin Constanza Macras und ihrer Truppe Dorky Park, lässt sich die Frage nach der Motivation zunächst so beantworten: Die Musik motiviert die Bewegung. Ein Schlagzeuger und ein E-Gitarrist auf der Bühne begleiten den Auftritt. Stimmungs- und Tempowechsel werden durch ihr Spiel angezeigt oder gar ausgelöst. Doch ganz so eindeutig ist die Sache nicht. Es bleibt stets fraglich, wer hier eigentlich wen begleitet. Setzt die Musik Impulse, welche die Tänzerin aufgreift und körperlich transformiert oder gibt die Tänzerin den Einsatz, dem der Klang der Instrumente zu folgen hat? Auch hier tut sich jene eigentümliche Ambivalenz zwischen selbstbestimmter Kontrolle und unkontrollierter Fremdbestimmtheit auf, die auch für die Bewegungsfiguren kennzeichnend ist, und die Choreografien von Constanza Macras immer wieder unter Spannung setzt. Die nachträgliche Beschreibung des Auftritts der Tänzerin Ana Mondini war zugleich eine Interpretation ihrer Bewegungen. Nahezu jede meiner Formulierungen schien das Beobachtete mit Bedeutung aufzuladen. Selbst die Feststellung, dass der Körper um sich selbst kreist, ist nicht nur die nüchterne Beschreibung eines Bewegungsablaufs, sondern auch eine inhaltliche Festlegung der eigenen Beobachtung, die zu weiteren Interpretationsfragen verführen mag: Was bedeutet es, wenn jemand um sich selbst kreist und ständig in Bewegung ist, ohne einen ruhenden Mittelpunkt zu finden? Dieser Vorgang der interpretierenden Beschreibung scheint geradezu zwangsläufig zu sein, wenn man die Bewegung einer Tänzerin beschreibt und damit einen nonverbalen Vorgang in Worte fassen will. Formulierungen 1 | Uraufführung an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin (2007).

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geben immer mehr und anderes zu verstehen, als man eigentlich sagen will. Das kann zu Missverständnissen führen aber auch den positiven Effekt haben, dass man durch die eigenen Formulierungen erst beginnt, eine Choreografie zu verstehen. Wort für Wort bekommt man einen Fuß in die Tür möglicher Bedeutungen und kann testen, ob dieser oder jener Spalt einen neuen Raum der eigenen Wahrnehmung aufschließt. Jeder, der Tanz sieht und beschreibt, kennt allerdings auch den genau entgegengesetzten Zustand: Man ringt nach Worten, die eigene Sprache scheint nicht auszureichen, um die Eindrucksvielfalt auch nur annähernd zum Ausdruck zu bringen und selbst mit Bedacht gewählte und klug abgewogene Formulierungen wirken wie die Deprivation des eigenen Wahrnehmungserlebnisses. Ein versierteres Vokabular oder gar eine spezielle Fachsprache für Tanzeingeweihte werden hier allerdings kaum Abhilfe schaffen. Worte sind genauso wenig neutral oder eindeutig wie die Bewegungen einer Tänzerin es sind. Und diese Vieldeutigkeit ist zunächst kein Problem, sondern das Triebwerk ästhetischer Erfahrung. Schon die einzelne Bewegung des Arms schafft ein unerschöpfliches Spektrum möglicher Bedeutungen durch die permanente Spannung zwischen der Sinnlichkeit des wahrgenommenen Körpers und dem Sinn, den wir diesem in unserer Wahrnehmung geben mögen. Darin besteht die gemeinsame kulturelle Leistung von Tänzern und ihren Zuschauern in Aufführungen. Ihre Körper und unsere Sinne bringen gemeinsam Bedeutung hervor. Bedeutung kommt also nicht erst ins Spiel, wenn man nachträglich nach Worten sucht; hier wird nur bewusst, was immer schon mit von der Partie ist, wenn wir unsere Sinne auf etwas richten. Schon die Wahrnehmung selbst ist durch eine Spannung gekennzeichnet, denn wenn wir etwas wahrnehmen, nehmen wir es zugleich als etwas wahr, das bedeuten kann. Diesen Vorgang nennt man Repräsentation, d.h. etwas steht für etwas anderes. Ein Ding verweist auf etwas Abwesendes. Ein sinnliches Objekt steht für eine bestimmte Bedeutung und wird so zu einem Zeichen. Dieser Prozess der Repräsentation ist ein theatraler Vorgang sui generis. Ein Schauspieler auf der Bühne kann so eine bestimmte Figur innerhalb der Handlung bedeuten. Um eine Theateraufführung verstehen zu können, muss man sie lesen wie ein Buch. Doch im Theater liest man keine Buchstaben, sondern man hört Stimmen, sieht Körper, verfolgt Bewegungen, mit anderen Worten: man liest Zeichen und weist diesen eine bestimmte Bedeutung zu.

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Semiotik Den theoretischen Background hierzu liefert die Semiotik, also die Zeichenlehre, die eine der einflussreichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart ist. Hierfür hat der französische Linguist Ferdinand de Saussure die entscheidende Grundlage gelegt, indem er ein Zeichen nicht als stabiles Substrat begreift, sondern als zweistellige Relation von Bezeichnung (signifiant) und Bezeichnetem (signifié) definiert (vgl. de Saussure 2001). Für die Wortsprache bedeutet dies, dass ein bestimmter sprachlicher Ausdruck, also z.B. ein Wort, eine bestimmte Bedeutung haben kann. Da das Verhältnis beider Elemente arbiträr ist, sind Zeichen immer das Ergebnis eines kulturellen Kommunikationsprozesses und nie ein statischer und fixierter Komplex. Bedeutungen sind damit variabel und abhängig davon, wer, was und wann als Zeichen benutzt. Deshalb ist der zweistellige Zeichenbegriff im Anschluss an de Saussure durch Charles S. Peirce (vgl. Peirce 1993) und Charles William Morris (vgl. Morris 1972) um einen dritten Aspekt erweitert worden, nämlich den des Zeichenbenutzers bzw. der pragmatischen Dimension des Zeichens. Wer etwas als Zeichen liest und interpretiert, trägt demnach zum Prozess der Bedeutungsgenerierung (Semiose) bei. In diesem Sinne kann auch ein Theaterzuschauer oder eine Theaterzuschauerin beispielsweise das Kostüm der beschriebenen Tänzerin als ein Zeichen auffassen, das etwa auf eine individuelle Figur oder den sozialen und historischen Rahmen der Choreografie verweist2. Das Kostüm als Zeichen könnte demnach Gegenwart bedeuten. Es könnte die Kleidung einer Geschäftsfrau von heute meinen, die weibliche Attribute mit funktionalem Stil verbindet. Nicht jeder Zuschauer muss diese Interpretation teilen, wichtig ist aber, dass sie nachvollziehbar, begründbar und damit auch kommunizierbar ist. Denn zur kulturellen Leistung des Verstehens in Theateraufführungen gehört auch der Streit um die Bedeutung, der Dissens der Interpretationen, der die Auseinandersetzung provoziert. Dennoch haftet dieser Sichtweise ein merkwürdiger Beigeschmack an. Kann man eine Choreografie lesen und interpretieren wie ein Buch? Reduziert man die Arbeit damit nicht gerade um jene ästhetische Dimension, die sie auszeichnet, nämlich den Tanz? Kann man die Arbeit einer Choreografin darauf reduzieren, dass sie etwas sagen wollte, was man zu interpretieren hat? Und wenn dies in Worten sagbar ist, warum ist es dann getanzt worden? Wäre Tanz dann nur ein Sprechen mit anderen Mitteln oder Medien? Liegt die Leistung des Tanzes nicht gerade darin, et2 | Grundlegend für die theaterwissenschaftliche Übertragung der Semiotik ist Fischer-Lichte 1994 in 3 Bänden.

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was zum Ausdruck zu bringen, zu machen, zu zeigen oder zu vollziehen, was wortsprachlich nicht erreicht werden kann? Es stellen sich deshalb zwei Fragen: Kann man Tanz genauso lesen und interpretieren wie etwa ein Kostüm? Und sollte man das überhaupt tun bzw. was bringt das? Die erste Frage ist relativ einfach zu beantworten: Ja, man kann Tanz lesen, denn man kann alles lesen und interpretieren: Bücher, Hände, Stadtpläne, den Stand der Sterne, Lippenstiftflecken auf einem Revers und auch der Tanz gehört zur Welt der Zeichen. Die zweite Frage ist nicht so klar bzw. generell zu beantworten, da Tanz ein vielgestaltiges ästhetisches Phänomen ist. In Hinblick auf das Beispiel Brickland soll deshalb nun ein Angebot des Lesens und Verstehens gemacht werden. Aus der gegebenen Beschreibung der Anfangsszene von Brickland lässt sich durchaus die These plausibel machen, dass hier eine gestresste Businessfrau gezeigt oder dargestellt wird, die viel aber nichts richtig macht, nie fertig wird, die Ruhe verpönt und sowohl getrieben als auch treibend unzufrieden um sich selbst kreist. Theaterzuschauer und Theaterzuschauerinnen, die kulturell so sozialisiert oder trainiert sind, dass sie in erster Linie eine bestimmte Bedeutung – also die semantische Dimension ästhetischer Erfahrung – ermitteln wollen, können über derlei Feststellungen in Verzückung geraten, weil das flüchtige Erlebnis der Aufführung durch die Zuweisung einer Bedeutung halbwegs dingfest gemacht und so stabilisiert werden kann. Solche Zuschauer sitzen wie Jäger und Sammler in Aufführungen und veranstalten eine Treibjagd auf Zeichen, die sie aufspüren, einkreisen und zur Strecke bringen, um ihre Bedeutungen auszuweiden. Auch wenn man bezweifelt, ob dies ein adäquater Wahrnehmungsstil für Theater ist, kann man nicht von der Hand weisen, dass diese Zuschauhaltung bei Macras´ Brickland reichlich Beute machen kann. Bereits der Titel der Arbeit gibt einen bestimmten Deutungsrahmen vor, indem er sich auf jene eingezäunten und bewachten Wohngebiete bezieht, in denen Mittelstandsfamilien ihren Stein gewordenen Traum vom sozialen Aufstieg inszenieren. Nach dem ersten Auftritt der Tänzerin sehen die Zuschauenden einen pseudodokumentarischen Film, der diese Housing Areas als utopischen Ort melancholisch auflädt. In säuselnder Stimme verkündet dazu eine Frauenstimme: „Einst gab es einen Ort, an dem sich Nachbarn in der Stille der Abenddämmerung gegenseitig grüßten. […] Und die Schaukel auf der Veranda bot einen sicheren Schutz vor den Alltagssorgen. […] Es gibt einen Ort, der uns zurückbringt in diese Zeit der Unschuld. Dieser Ort ist wieder da in einer neuen Stadt namens Brickland.“

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Diesen utopischen Raum zeigt die Bühne mit den ästhetischen Mitteln des Baumarkts: Kunstrasen, Gartenmöbel aus Plastik, ein Zierspringbrunnen, ein Grill, Igluzelte usw. Die rechte Bühnenseite wird von einer mächtigen Wandkonstruktion beherrscht, deren Form an eine Halfpipe oder Steilkurven von Radrennbahnen erinnert. Einen einheitlichen Eindruck bringt dieser Mischmasch nicht hervor. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Kunstraum Brickland noch nicht ganz fertig oder schon wieder im Verfall begriffen ist. Die Lackierung eines terrassenartigen Plateaus auf der linken Bühnenseite scheint jedenfalls schon zu rosten und zu schimmeln. All diese scheinbar selbstverständlichen Beobachtungen sind semiotische Prozesse. Der Farbauftrag an einem hölzernen Bühnenelement wird als Zeichen für Rost und Schimmel an einem Stahlträger gelesen, dem weitere Bedeutungen zugesprochen werden können. So verweist das Zeichen Rost auch auf die temporäre Dimension des Raums: Der Lack ist ab. Brickland hat schon bessere Zeiten gesehen. Alles, was in diesem Raum zur Anschauung kommt oder passiert, kann so als ein Zeichen gelesen und interpretiert werden. So tritt ein Tänzer auf, der gleich zu Beginn sagt, was er bedeuten soll. Denn er stellt sich als deutscher Ethnologe und seine Frau Steffi als ehemalige Primaballerina von Oberhausen vor, worauf die beiden von einer jungen eleganten Frau mit den ethischen Prämissen des Soziotops vertraut gemacht werden. Die Szene basiert auf dem Dialog der drei Personen. Bei Macras haben die Tanzenden eine Stimme. Sie können sprechen. Sie stehen dabei nebeneinander und sprechen ihren Text. Obwohl dabei zumeist unpersönliche Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht werden, ist es nicht beliebig, wer welchen Text spricht. Die Tanzenden übernehmen hier ausdrücklich spezifische Rollen (z.B. die des jungen deutschen Ethnologen), die über die gesamte Inszenierung konsistent sind. Bezeichnend ist es beispielsweise auch, dass des Ethnologen Frau in der Vorstellungsszene so gut wie gar nicht spricht. Ihr Mann übernimmt das Sprechen für und über sie. Dieses Verhalten kann als Zeichen für das Verhältnis des Paares gelesen werden, in dem der Mann den intellektuellen Part übernimmt, während die Frau früher einmal Ballett getanzt hat und nun mit Ikebana und Meditationstechniken befasst ist. Die Komik der Choreografie ist nicht selten durch diese satirische Überspitzung von Genderklischees gekennzeichnet. In den Dialogszenen wird die darstellerische Dimension des Auftritts oft weiter ausgespielt, d.h. die einzelnen Tanzenden sprechen nicht nur Rollentext, sondern sie agieren oder (schau)spielen miteinander und zeigen dabei Gesten, die ihrer jeweiligen Rolle adäquat sind. Man sieht das Vorstellungsgespräch mit Kaufinteressenten, eine Grillparty der Bewohner, ein Fe-

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derballspiel, eine Diskussion über Müllentsorgung oder die Szene, in der ein Bedienter des Diebstahls bezichtigt wird. Nach und nach bekommen die Zuschauer und Zuschauerinnen so den Eindruck einer geschlossenen Gesellschaft, die sich aufteilt in gut situierte Bewohner und deren dienstbeflissenes Personal. Der Dialog mit dem Ethnologen geht schließlich in eine musicalartige Szene des Ensembles über, in der die Ideale der Brickland-Community besungen werden. Durch diese inhaltliche Aufladung der Choreografie werden individuelle Rollen konstituiert und Ansätze zu einer Handlung erkennbar. Dennoch wäre es fahrlässig, die Choreografie auf eine bedeutsame Geschichte mit bestimmten Figuren zu reduzieren. Allein die Tatsache, dass es gar nicht so leicht ist, sich daran zu erinnern, wie der Abend überhaupt ausging, ist ein Indiz für die Tatsache, dass die Szenenfolge keine handlungsoder entwicklungsorientierte Dramaturgie gestaltet. In Erinnerung bleiben vielmehr einzelne Zustände und Situationen, Stimmungen und Szenarien. Es sind merkwürdige Bewegungen, die Zuschauende jenseits klassischer Rollenpsychologie mit einzelnen Tanzenden vertraut machen, deren Bewegungen und affektive Zustände sie wahrnehmen und nachvollziehen, ohne sie eigentlich recht zu verstehen. Die Erfahrung des Tanzes erschöpft sich also nicht darin, darüber zu spekulieren, was er wohl bedeuten mag. Doch wie kann man diese andere ästhetische Dimension der Aufführung erfassen? In den letzten Jahren hat ein Begriff und ein mit ihm verbundenes theoretisches Konzept breite Aufmerksamkeit gefunden: Performativität.

Performativität Dieses hässliche Wort, das eigentlich aus der wissenschaftlichen Retorte stammt, wird immer häufiger und selbstverständlicher auch von Theatermachern, Kritikern und Zuschauern verwendet, wobei das Wortfeld des Performativen auch außerhalb der Kunst Konjunktur hat: Das englische Verb to perform bedeutet, etwas vollziehen, handeln oder tun, wobei auch eine Leistung oder Entwicklung als Performance bezeichnet wird. Von Performances ist angesichts von Konzerten, Aktienkursen, Skirennen oder Motortests die Rede, also immer dann, wenn es auszudrücken gilt, dass etwas läuft, geschieht oder vollzogen wird, dessen Besonderheit sich nicht nur durch Zahlen und Fakten ausdrücken lässt, sondern als dynamisch erfahren wird. Das gilt insbesondere dort, wo Menschen zusammenkommen, sich ausdrücken, mitteilen oder inszenieren und so nach einer gemeinsamen Erfahrung suchen. Im Englischen wird deshalb jede Art kultureller oder künstlerischer Aufführungen als Performance bezeichnet, also auch Thea-

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teraufführungen des Schauspiels oder der Oper, die – wie der Tanz – nur im Moment ihres aktuellen Vollzugs gegenwärtig sind und neben einer Spur persönlicher Erinnerungen kein eigentliches Artefakt hinterlassen. Der amerikanische Theaterwissenschaftler Marvin Carlson hat darauf hingewiesen, dass Performances sich in diesem allgemeinen Sinne immer durch eine Wahrnehmungsdimension auszeichnen. Eine Performance ist „always performance for someone, some audience that recognizes and validates it as performance“ (Carlson 1996: 6). Um solche Prozesse erfassbar zu machen, ist es hilfreich, sich auf eine Bestimmung des amerikanischen Ethnologen Milton Singer zu berufen. Dieser spricht von „cultural performances“, welche sich durch ihre besondere zeitliche und örtliche Verfasstheit, die Teilnehmenden sowie deren Ablauf und Anlass bestimmen lassen. Eine cultural performance hat „a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance“ (Singer 1959: xiii). Auf der Grundlage dieser Definition lassen sich verschiedene kulturelle Äußerungsformen von der Hochzeit bis zum Fußballspiel, vom Gottesdienst bis zum Schützenfest beschreiben. Mit dem Begriff der cultural performance wird das besondere Augenmerk also auf das Ereignis selbst gelenkt, d.h. auf das Herstellen und Erleben einer Gemeinsamkeit zwischen den Teilnehmenden. Dies gilt insbesondere für die Performanceart als einer Kunstform, die sich seit den 1960er-Jahren neben bzw. in dem produktiven Austausch zu Happenings und Aktionskunst etabliert hat (vgl. Umathum 2005: 232). Performances sind eine Ereignisform, welche die Prozesse von Produktion und Rezeption, von Handlung und Wahrnehmung, von Erfahrung und Vermittlung selbst zum Gegenstand macht und damit Elemente der bildenden Kunst mit theatralen Formen verbindet. Wie die Theateraufführung konventioneller Prägung weist die Performance als Ereignis einen zeitlichen und örtlichen Rahmen auf und verfügt über Zuschauende und Darstellende bzw. Performende. In der Performancekunst wird also mit jenen Merkmalen gearbeitet, die auch Theateraufführungen kennzeichnen. Dennoch hat sich die Bewegung an ihrem Anfang ausdrücklich vom Theater abgegrenzt. Die Inszenierung von Dramen auf einer Bühne stand für ein überholtes Verständnis von Repräsentation, bei dem unter dem Vorzeichen des Als-ob eine Scheinwelt vorgeführt oder abgebildet werden sollte, was die raum-zeitliche Aktualität des Ereignisses eher kaschierte, anstatt sie auszustellen (ebd.: 233). Demgegenüber lassen sich Performances als Verfahren begreifen, welche den Vollzugscharakter betonen und die Erfahrungsweisen radikalisieren. Die kritische Zurückweisung des Repräsentationsanspruchs und die Provokation von Präsenzerfahrungen führten so zu einer nachhaltigen Auseinanderset-

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zung mit der Körperlichkeit der Teilnehmenden, der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit des Ereignisses. Neben dieser vielgestaltigen Begriffsverwendung ist auch ein theoretisches Konzept des Performativen entstanden, das zurückgeht auf den amerikanischen Linguisten John L. Austin, der den Begriff Performativität recht eigentlich erfunden hat. In seinen Vorlesungen How to do things with Words (dt. Zur Theorie der Sprechakte) von 1955 beschäftigt sich Austin mit dem Phänomen, dass mit der Sprache nicht nur bestimmte Sachverhalte ausgedrückt werden können, sondern dass das Sprechen ein Handeln oder Tun ist, das selbst etwas bewirkt oder verändert. Austin unterscheidet deshalb zwei Arten von Äußerungen. Diejenigen Äußerungen, mit denen ein Sachverhalt festgestellt wird, nennt er konstative Äußerungen; sie konstatieren also, was der Fall ist und lassen sich danach überprüfen, ob das Behauptete wahr oder falsch ist. Äußerungen der zweiten Art vollziehen zugleich das, was sie sprachlich behaupten. Sie konstatieren also nicht einen Sachverhalt, sondern sie konstituieren ihn. Sie tun das, was sie sagen, und bringen so hervor, was sie behaupten. Ein Beispiel für diese Art Äußerung ist die alltägliche Formulierung ‚Ich begrüße Sie‘. Das Aussprechen dieses Satzes vollzieht, was er behauptet. Solche Äußerungen sind selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend. Sie lassen sich nicht danach überprüfen, ob sie richtig oder falsch sind, sondern ob sie glücken oder misslingen. Diese Art von Äußerungen nannte Austin performative Äußerungen: „Der Name stammt natürlich von to perform, vollziehen: man vollzieht Handlungen. Er soll andeuten, dass jemand, der eine solche Äußerung tut, damit eine Handlung vollzieht – man fasst die Äußerung gewöhnlich nicht einfach als bloßes Sagen auf“ (Austin 1979: 29f.). Austins Bestimmung der Performativität von sprachlichen Äußerungen ist zu einem theoretischen Fixpunkt für Philosophie und Kulturwissenschaften geworden.3 Dabei wird Performativität nicht mehr nur in Zusammenhang mit Sprache gebracht, sondern auch nonverbalen körperlichen Handlungen zugeschrieben (vgl. Fischer-Lichte 2004: 34). Bestimmend bleibt die Kennzeichnung von Performativität als wirklichkeitskonstituierend und selbstreferenziell. Auch die Bewegungen einer Tänzerin – und seien sie noch so abstrakt – bringen in diesem Sinn eine ganz konkrete Wirklichkeit hervor. Als Wahrnehmende sind Zuschauerinnen und Zuschauer Teil dieses 3 | Dies geschah ungeachtet der Tatsache, dass Austin selbst die Unterscheidung von konstativen und performativen Äußerungen in derselben Vorlesung revidierte und durch lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Sprechakte ersetzte.

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kreativen Prozesses, bei dem sie nicht nur als Interpreten gefragt sind, die einer Bewegung eine bestimmte Bedeutung zuzuweisen haben. Doch welche anderen Aspekte können so in den Blick geraten und wie kann man diese analysieren?

Bewegende Wahrnehmungen Vordergründig ist der Tanzstil von Brickland durch einen Mischmasch unterschiedlicher Tanzformen gekennzeichnet, die zitiert und transformiert werden, wobei Kunsttanz, Gesellschaftstanz und popkulturelle Bewegungsweisen miteinander kombiniert werden. Eine Pirouette folgt auf Rap-Style und geht mit diesem in Showtanz über, woraus eine Sequenz aus dem Modern Dance entstehen kann. Trotz dieser Heterogenität bedient sich Macras durchweg der drei aus dem klassischen Ballett bekannten Formationen: Solo, Pas de deux und Corps de ballet bzw. Ensemble. Der ästhetischen Qualität von Brickland kommt man aber nicht bei, wenn man sich auf die Ermittlung von Zitaten beschränkt und so kunsthistorisch halbwegs gesichert von Trash spricht. Unter performativen Gesichtspunkten ist vielmehr zu untersuchen, welche Bewegungen gemacht werden, wie dies geschieht und was für eine Form flüchtiger Wirklichkeit dabei hervorgebracht wird. Interessant sind in diesem Zusammenhang gerade die Momente des Übergangs von einer Bewegungsfolge in die nächste, also jene Phasen der Unterbrechung, des Abbruchs und der Diskontinuität, die sich den Zuschauerinnen und Zuschauern nicht selten als virtuoses Scheitern der Tänzerinnen und Tänzer vermitteln. Dabei wird neben den horizontalen Drehbewegungen auch die Vertikale des Raumes relevant. Die vertikalen Bewegungen des Fallens und Springens, die nicht – wie im klassischen Ballett – Leichtigkeit oder Schwerelosigkeit suggerieren, machen die Schwere des realen Tänzerkörpers spürbar, der ‚in Wirklichkeit‘ auf den Boden knallt. Diese Ausfällung der Körper aus der choreografierten Bewegung bremst diese jedoch nicht, vielmehr wird sie am Boden unter neuen Bedingungen fortgesetzt. Macras‘ Choreografien machen immer wieder deutlich, dass Tanz – wie keine andere Kunst – mit dem Boden arbeitet. Er ist nicht nur eine notwendige Spielfläche, sondern wird als bespielter Raum gleichsam zum Partner, an dem sich die Tanzenden abarbeiten. Was die Muskeln für den Tänzer, die Tänzerin sind, ist die Erdanziehung für den Boden (vgl. Gruber 2007). Dass ein Körper immer durch beide Kräfte bewegt wird, kann man sehen und hören. Selbst die Geräusche, die entstehen, wenn

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die Körperteile aneinander klatschen, auf den Boden schlagen oder durch den Raum gezogen werden, machen das Eigengewicht sinnlich fassbar, das mit jedem Schritt und jeder Drehung bewegt wird. Die Wucht der Bewegung wird dabei nicht vorgespielt, vielmehr kommt die reale Körperlichkeit der Tanzenden ins Spiel. So erfüllen auch die Knieschoner oder Bandagen einen Zweck und die Bedeutungsdimension des Kostüms (z.B. ‚Ellenbogengesellschaft‘) tritt so hinter den funktionalen Aspekt (Schutz der Gelenke) zurück. Immer wieder loten die Tänzerinnen und Tänzer die Gliederung ihres Körpers und seine Bewegungsmöglichkeiten aus, ohne ein definitives Gleichgewicht zu finden. Insbesondere die radiale Scharnierfunktion der Gelenke von Knie und Ellenbogen wird getestet. Aus der Zuschauperspektive kann durchaus fraglich werden, ob hier ein Tänzer mit seinem Körper oder ein Körper mit einer Tänzerin arbeitet. Das ist keineswegs so tautologisch gemeint, wie es klingt. Denn im Tanz setzt der Körper den Tanzenden auch etwas entgegen, begrenzt ihre Möglichkeiten und schränkt sie ein. Insbesondere in den Soloszenen entsteht dadurch ein kämpferischer Eindruck, als gelte es, sich selbst aus dem Gleichgewicht zu bringen und so eine Dynamik zu provozieren, der man zugleich standhalten muss. Nur die expressiven und wirkungsbewussten Posen können diesen Eindruck der Uneinigkeit mit sich selbst für wenige Sekunden kaschieren, bis ein neuer Bewegungsimpuls die nächste Runde im Spiel zwischen Tänzer und Körper einleitet. Im Pas de deux ist diese Selbstbezüglichkeit durch den Fremdbezug auf den tanzenden Partner umgeleitet, dessen Körper man hebt, von dem man bewegt wird oder auf den man reagiert. Die Bewegung ist dann ein Wechselspiel von Aktion und Passion, Krafteinwirkung und Kraftausübung. Nicht selten wird dabei die Rollenverteilung des klassischen Balletts übernommen und satirisch überhöht, d.h. der Mann hebt, trägt und stützt die Frau, die sich halten, bewegen und bergen lässt. Als ein übermütiger Angestellter von einem Mitarbeiter der Security zur Räson gebracht werden soll, vollzieht sich dies nach einem kurzen sprachlichen Disput in einem Pas de deux der beiden Männer mit ausdrücklich choreografierten Bewegungsfolgen. Obwohl dies ein kraftvoller und durchaus kämpferischer Tanz ist, mag man als Zuschauer auch die Entlastung des Einzelnen spüren, der nicht mehr mit sich selbst beschäftigt ist, sondern sich bzw. seine Bewegungen in Hinblick auf sein Gegenüber entwerfen kann, indem er dessen Bewegungen übernimmt, spiegelt oder gemeinsame Bewegungen kreiert. Häufig laufen szenische Aktionen gleichzeitig ab, so dass man als Zuschauer und Zuschauerin angesichts der Reizüberflutung permanent überfordert ist. Doch immer wieder finden die Tänzerinnen und Tänzer zu form-

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bewusst choreografierten Ensembleformationen zusammen, die synchron ablaufen und an den Showtanz erinnern. Zusammen mit den Musikern kreieren sie so einen eingängigen gemeinsamen Rhythmus, indem sie frontal zum Publikum ausgerichtet eine einfache Bewegungsfolge wiederholen. Die immanente Widerständigkeit der Körper scheint hier überwunden oder zumindest beherrscht. Der einzelne Tänzer geht dabei kurzzeitig in einer synchronisierten Bewegung auf, in der seine spezifische Rolle keine Relevanz mehr hat. Auch in der Perspektive der Zuschauerinnen und Zuschauer kann sich für einen Moment Ordnung auf der Bühne einstellen, in der sonst ein überbordendes szenisches Gewusel den Überblick schwer macht. Die gleichgeschalteten Bewegungen der Tänzer demonstrieren damit zugleich die körperliche Dimension der gated community des Brickland. Die Beschreibung der Bewegungsformen eröffnet so wiederum Interpretationsansätze, insofern der individualistische Ansatz der Selbstverwirklichung der Bewohner des Brickland sich letztendlich in einem faschistoiden Modell verwirklicht. Hier kommen nun auch die Jäger und Sammler von Bedeutung im Publikum auf ihre Kosten. Entscheidend ist dabei, dass der Körper als soziales Medium – also als etwas, durch das sich Gemeinschaft performativ (= selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend) herstellt und vermittelt – nicht nur gezeigt wird, sondern dass diese soziale und zugleich asoziale Dimension gemeinsam mit den Zuschauern aufgeführt und damit performativ vollzogen wird. Denn auch die Rhythmen können sich auf das Körpergefühl der Zuschauerinnen und Zuschauer übertragen, selbst wenn diese vielleicht nur innerlich mitwippen. Und da das Schunkeln als körperliche Form kollektiver Rezeption im Kunstkontext tabuisiert ist, muss jeder Mann und jede Frau im Publikum eine eigene Praxis kreieren, sich seine Bewegungsimpulse zwischen großem Zeh, Pobacke und Stirnmuskulatur zu verkneifen. Wenn Tänzer und Zuschauer für wenige Sekunden einen gemeinsamen Rhythmus hervorbringen, ist dies kein Akt intellektueller Übereinkunft, sondern die kurzfristige Evokation einer Erfahrung in der Aufführung. So können Zuschauer Teil einer Bewegung werden, auch wenn sie diese de facto nicht mitmachen. Der bewegte Zuschauer ist wahrscheinlich das Gegenteil des Jägers und Sammlers von Bedeutungen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das deutsche Wort ‚Verstand‘ bzw. ‚Verstehen‘ etymologisch von ‚Stehen‘ bzw. ‚vor einem Objekt stehen‘ kommt. Denn dies ist ein körperlicher Vorgang, der nur durch die Distanz und die Fixierung des Verstehenden Überblick und Verständnis ermöglicht. Während das Denken häufig mit dem Gehen assoziiert wird, ist der Verstand statisch und unbeweglich. Ein Verstehender wippt nicht mit,

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schon gar nicht überantwortet er sich einem Körperimpuls, der von anderen kommt. Als Zuschauer und Zuschauerin des Tanzes und damit als Teilnehmer und Teilnehmerin einer performativen Aufführung wird man provoziert, gleichsam permanent in Bewegung zu bleiben. Dabei sind Erfahrung und Interpretation im Moment der Aufführung nicht so klar auseinander zu filetieren, wie es die theoretische Distinktion von Performativität und Repräsentation nachträglich glauben machen kann. Es handelt sich vielmehr um die zwei Seiten der einen Medaille, die insbesondere im Tanz schillern und changieren.

Literatur Austin, John L. (1979): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), 2. Auflage, Stuttgart: Reclam. Carlson, Marvin (1996): Performance: a critical introduction, London, New York: Routledge. Fischer-Lichte, Erika (1994): Semiotik des Theaters, 3 Bände, 3. Auflage, Tübingen: Gunter Narr. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gruber, Rainer (2007): „Das Besondere des Fallens. Tanzmoderne, Gravitation und Allgemeine Relativitätstheorie“, in: Gabriele Brandstetter/Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München: Fink, S. 100-120. Morris, Charles William (1972): Grundlagen der Zeichentheorie, München: Hanser. Peirce, Charles S. (1993): Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. de Saussure, Ferdinand (2001): Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye, 3. Auflage Berlin: de Gruyter. Singer, Milton (1959): Traditional India: Structure and Change, Philadelphia: The American Folklore Society. Umathum, Sandra (2005): „Performance“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 231-234.

Bildungstheoretische Zugänge zum Tanz

Bildungskonzepte im Tanz Antje Klinge Ä2UGQXQJHQNRPPHQLQV:DQNHQ ZHQQXQVHUH%HZHJXQJHQDXVGHU5HLKH WDQ]HQ'HU7DQ]EHGHXWHWGDQQPHKUDOV HLQH%HZHJXQJVDUWXQWHUDQGHUHQ³ :DOGHQIHOV

Alles Bildung oder was? Bildung boomt - könnte man angesichts der zahlreichen Initiativen, Bildungsberichte und -debatten, die in Bund, Ländern und Gemeinden seit PISA zu Tage treten annehmen. Die neue Aufmerksamkeit für Bildung ist mit der Hoffnung verbunden, zentrale gesellschaftliche Probleme und soziale Missstände lösen zu können. Ein besonderes öffentliches Interesse wurde in den letzten Jahren den künstlerischen Fächern Musik, bildende Kunst, Theater und auch Tanz zuteil. Mit den sog. Education-Projekten haben Theater, Museen oder Orchester sich zum Ziel gesetzt, ihre Sparte einem breiten und vor allem jungen Publikum näher zu bringen. Auf spielerische Art sollen Kinder und Jugendliche einen Zugang zu vermeintlich schweren, eher unzugänglichen Genres der Kunst erhalten. Angebote an Schulen miteinander zu kooperieren fallen dabei auf fruchtbaren Boden, nicht zuletzt weil die künstlerischen Fächer unter einen besonderen Legitimations- und Leistungsdruck in der Schule geraten sind (vgl. Liebau/Zirfas 2008). Von Theater-, Musik- oder Tanz-Projekten wird erwartet, dass sie einen unverwechselbaren Beitrag zur Verbesserung der sozialen, personellen und künstlerischen Fähigkeiten junger Menschen leisten können. Erste empirische Belege für ihre besondere Bildungsleistung liefert Anne Bamford

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(2006) in ihrer im Auftrag der UNESCO in verschiedenen Ländern durchgeführten Untersuchung von Projekten zur kulturellen Bildung. Was den Tanz betrifft, scheint er aus seinem Schattendasein nicht nur hervorgetreten, sondern auch bereits über sich hinausgewachsen zu sein. Die Presse sieht in ihm ein neues Allheilmittel für soziale Probleme und schulische Defizite. Denn durch Tanz könne „fast jede soziale Auffälligkeit, fast jeder Motivationsverlust, fast jede PISA-verdächtige Lernschwierigkeit behoben werden. Und das Beste: es klappt!“ (Balletttanz 2006: 10). Angesichts solch begeisterter Stimmen und Stimmung scheint es überflüssig zu sein, nach den Bildungswirkungen von Tanz zu fragen. Interessant ist es allerdings, einmal dabei ausfindig zu machen, welche Vorstellungen von Bildung und damit welche pädagogischen Auslegungen den Ansätzen und Konzepten von Tanz zugrunde liegen.

Pädagogische Auslegungen von Tanz Dass Tanz ein Mittel von Bildung ist bzw. sein kann, geht auf eine lange Tradition zurück, die ihren Anfang in der Lebensreformbewegung um 1900 und im modernen deutschen Ausdruckstanz nimmt. Rudolf von Laban, Wegbereiter der Laientanzbewegung und des kreativen Tanzes, legt die Grundlagen für eine pädagogische Konzeptionierung von Tanz. Für ihn stehen nicht die historisch gewachsenen Erscheinungsformen von Tanz im Mittelpunkt, sondern die ihnen wie auch anderen Bewegungsphänomenen zugrunde liegenden Bewegungsthemen und -faktoren, die für jeden Menschen zugänglich sind (vgl. 1984, erstmals 1948). Ihm folgen viele Anhänger und Befürworter wie z.B. Mary Wigman, Gret Palucca, Rosalia Chladek oder Maja Lex, die ihre Leidenschaft und Überzeugung mit anderen, vor allem Kindern und Heranwachsenden teilen wollen (vgl. Fleischle-Braun 2000). So gibt es eine Vielzahl an pädagogisch ambitionierten Konzepten von Tanz, die alle für sich in Anspruch nehmen, erzieherisch bzw. bildend wirksam zu sein, ohne allerdings geklärt zu haben, was sie im einzelnen darunter verstehen. Vielmehr können ihre Konzepte als pädagogische Interpretationen von Tanz verstanden werden, die stark von den jeweiligen Personen geprägt sind. Es sind vorwissenschaftliche Entwürfe, die sowohl auf „das künstlerische Werk als auch das Bewegungssystem und die Lehrweise einzelner Tänzerpersönlichkeiten“ zurückgehen (ebd.: 11). Auch die aktuellen Ansätze von Tanz in Schulen sind oft von den Personen geprägt, die die Projekte ins Leben gerufen haben (z.B. Livia Patrizi

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von TanzZeit in Berlin, vgl. v. Zedlitz 2009 oder Leanore Ickstadt von Tanz und Schule in München, vgl. 2007). In Fortbildungen, öffentlichen Lecture demonstrations und auch Veröffentlichungen geben sie umfangreiche und wertvolle Anregungen sowie konkrete Hilfestellungen für die tanzpädagogische Praxis. Dabei folgen sie keiner wissenschaftlichen Theorie (vgl. v. Zedlitz 2009: 6), sondern wollen Anfänger wie Fortgeschrittene des TanzUnterrichtens, Schullehrer wie professionelle Tänzer mit dem dafür notwendigen pädagogischen Handwerkszeug versorgen (vgl. Ickstadt 2007: 11). Neben dem mittlerweile starken Öffentlichkeitsinteresse und natürlich auch der Werbung in eigener Sache wollen die neu erschienenen Publikationen und Dokumentationen über Tanz in Schulen vor allem „einen Eindruck von der künstlerischen und menschlichen Atmosphäre vermitteln, die Methoden beleuchten und die Glücksmomente auf dem Weg skizzieren, an denen alle Menschen teilhaben, die mit TanzZeit in Berührung kommen“ (v. Zedlitz 2009: 6).

Ein besonders populär gewordenes Beispiel für ein pädagogisch ambitioniertes Konzept von Tanz liefert der Dokumentationsfilm Rhythm is it!. Er zeichnet den Entwicklungsgang der choreografischen Inszenierung des Stravinsky-Stücks Le sacre du printemps mit über 250 Kindern und Jugendlichen Berliner Schulen nach. Dargestellt werden die ersten Zusammenkünfte von Choreografen und Berliner Jugendlichen aus sog. Brennpunktschulen, die bislang weder klassische Musik gehört noch modernen Tanz gesehen, geschweige denn getanzt hatten. Eng verbunden mit dem Projekt sind der Name Royston Maldoom und sein oft zitiertes Credo „You can change your life in a danceclass“. Maldoom ist prominenter Vertreter des englischen community-dance, einer Bewegung, die alle Menschen ansprechen und insbesondere solchen einen Zugang zur Kunstform Tanz ermöglichen will, die aufgrund ihrer sozialen, körperlichen oder kulturellen Voraussetzungen eher zu den gesellschaftlichen Randgruppen gezählt werden. Selbstaussagen zufolge ist sein Anliegen, dass die Kinder und Jugendlichen „ein Gefühl bekommen, etwas Wert und wertvoll zu sein und dass sie fühlen: Wir haben etwas geschafft, von dem niemand gedacht hätte, dass wir es schaffen können, auch wir selbst nicht“ (Maldoom 2005). Er teilt die Erfahrungen der Schüler und Schülerinnen und scheint ein besonderes Verständnis für ihre Lebenslagen aufzubringen, weil sie ihn an sich selbst erinnern (vgl. ebd.). Sein kahl geschorenes Haar, Leder- und Silberschmuck sowie ein einzelner Ohrring lassen ihn als einen von ihnen er-

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scheinen. Mit dieser Mischung aus ‚street credibility‘ und ‚Kinderflüsterer‘ zugleich bringe Maldoom den Jugendlichen das Leben bei – so Ilka Piepgras (2006). Als Kennzeichen seiner Arbeit werden allerdings immer wieder seine Strenge, sein ungewöhnlich harter Umgangston und sein autoritäres Auftreten genannt. Sätze im Befehlston wie „Seid still, sonst lernt ihr nichts“ lassen den kritischen Beobachter an seinem Anliegen, die Jugendlichen wert zu schätzen, zweifeln. Maldooms Projekte haben trotz oder auch aufgrund dieses harschen Umgangstons viele Nachahmer gefunden. Städtische Theater und Choreografen folgen dem Ansatz des community dance und können dem Anspruch, die Kunstform Tanz einem breiten, vor allem jungen Publikum näher zu bringen, offensichtlich gerecht werden (vgl. Jeitschko 2008). Die enormen Erfolge, die von solchen Laientanzprojekten ausgehen, sind auf die meist groß angelegten Inszenierungen zurück zu führen. Überaus publikumswirksam werden sich bewegende Schülerinnen und Schüler auf großer Bühne – und wenn möglich – mit Orchester-Begleitung in Szene gesetzt. Die erleichterten und begeisterten Gesichter der Jugendlichen nach erfolgreicher Aufführung gelten dann schnell als Indiz einer gelungener Bildungsarbeit. Angesichts der vielen und vielfältigen, ambitionierten Projekte kann man zusammenfassend sagen, dass es so viele Bildungskonzepte von Tanz gibt wie Personen, die Tanz unterrichten und vermitteln. Auf eine explizite pädagogische Theorie oder bildungstheoretische Grundlage lassen sich diese biografisch geprägten Ansätze und Vermittlungskonzepte nicht zurückführen. Maldoom z.B. verwehrt sich vehement gegen jeglichen Bildungsanspruch. Er sei kein Lehrer und baue seine Arbeit auch nicht auf pädagogischen Theorien auf. „…ich funktioniere einfach, und zwar als Künstler, der mit jungen Leuten arbeitet, nicht als Lehrer“ (Maldoom 2006). Nichtsdestotrotz sind Bildungswirkungen nicht auszuschließen. Sie werden – ob beabsichtigt oder nicht – in der körperlich-praktischen Vermittlung von Tanz immer gleich mitgeliefert. Maßgeblich ist das jeweilige Verständnis vom Gegenstand Tanz sowie die Arbeits- bzw. Vermittlungsweise im Umgang mit Jugendlichen, Schülern oder Laien. Die Frage, ob und welche Bildungskonzepte den diversen tanzpädagogischen Praxen zugrunde liegen, lässt sich demzufolge auf drei Ebenen beantworten: • auf der Ebene des Verständnisses von Tanz – ob als gesellschaftliche Tradition, spezifischer Bewegungsstil, als Technik oder individuelle Erfahrung, • auf der Ebene der Arbeits- und Vermittlungsweise von Tanz; sie verweist

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auf die zugrunde liegende Auffassung vom lernenden Subjekt und seinen Potenzialen, und schließlich auf dem – häufig nur diffusen – Verständnis von Bildung, das die verschiedenen Praxen durchzieht.

Mit dem zugrunde liegenden Verständnis von Tanz, der jeweiligen Auslegung von (Tanz-)Vermittlung und einem mehr oder weniger bewussten Begriff von Bildung zeichnen sich Anhaltspunkte ab, die als konstitutive Elemente von Bildungskonzepten im Tanz festgehalten werden können. Sie liefern sowohl eine Orientierung für die Analyse und Reflexion vorhandener Ansätze, Konzepte oder Education-Projekte wie auch eine Hilfestellung für ihre Planung und Durchführung.

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Orientierungshilfen für eine bildungstheoretische Reflexion auf den Tanz Um pädagogisch angelegte Projekte und Praxen von Tanz im Hinblick auf ihr Bildungspotential untersuchen zu können, ist zuallererst die Kernfrage zu klären, was unter Bildung eigentlich verstanden werden soll.

Bildung geht über Ausbildung hinaus Wenn von Bildung die Rede ist, wird damit in einer ersten Hinsicht ein erwerbbares und besitzbares Gut verbunden, das sich in Wissens- und Kulturbeständen äußert und überwiegend durch schulische bzw. institutionelle Anleitungen erworben wird. Bildung wird in diesem Sinne zum Synonym für Ausbildung und bezieht sich auf bestimmte Kompetenzen und Qualifikationen, die zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sollen. In einer zweiten Hinsicht bezieht sich Bildung sowohl auf den Prozess als auch das Ergebnis persönlicher Entwicklung und Entfaltung eines selbstbestimmt und verantwortungsvoll handelnden Individuums und geht damit über das Verständnis von Ausbildung hinaus. Bildung in diesem erweiterten Sinne umfasst die Fähigkeit der aktiven Teilhabe an sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Handlungsfeldern (Partizipationskompetenz) wie auch die Fähigkeit, persönliche und soziale Erfahrungen mit Hilfe erworbenen Wissens deuten und beurteilen zu können (Interpretations- und Urteilskompetenz). Beide Dimensionen gehören zur Grundbildung des Menschen (vgl. Benner 2007: 134).

Bildung schließt Selbstbestimmung, Teilhabe und Urteilsfähigkeit mit ein Dem aktuellen bildungstheoretischen Diskurs zufolge bezieht sich Bildung sowohl auf das Selbst- als auch auf das Sozial- und Weltverhältnis des Menschen und drückt sich in einem „durch Wissen, Nachdenklichkeit, Urteilsvermögen wie auch Geschmack ausgezeichneten, aufgeklärt-reflexiven Zustand des Bewusstseins“ (Ricken 2007: 19) aus. Bildung ist zugleich ein nie abschließbarer Prozess der Selbsterfahrung und Selbstgestaltung, der nicht nur zur eigenen Vervollkommnung, sondern auch zur Verbesserung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse beitragen soll (vgl. ebd.: 23). Von daher ist die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, eng

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mit dem Bildungsgedanken verbunden. Zu berücksichtigen sind die Erwartungen der Gesellschaft an den Einzelnen und an seinen Beitrag zur Entwicklung einer humanen Gesellschaft. Bildung lässt sich damit durch einen doppelten Anspruch kennzeichnen, den Theodor Litt als jene Verfassung des Menschen beschreibt, „die ihn in den Stand versetzt, sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt ‚in Ordnung zu bringen‘“ (Litt zit. in Beckers 2003: 115). Ein so verstandener Bildungsbegriff umfasst Wissen, Erfahrungsfähigkeit, Reflexivität, Aktivität und Soziabilität als Voraussetzung und Ziel zugleich. Pädagogische Vorhaben oder Konzepte, die den Bildungsgedanken zugrunde legen, müssten sich prinzipiell an diesen Merkmalen messen lassen können. In ihnen müssten Anzeichen sichtbar oder Voraussetzungen gegeben sein, die die Selbstbestimmung des Einzelnen an Kenntnisse und Erfahrungen knüpft, die ihn erkennen lassen, was seine Potenziale sind und welche Konsequenzen sein Tun im sozialen Feld nach sich ziehen kann. Damit einher geht die Frage nach der Qualität und Wirkung von Bildungsprozessen, eine Frage, die gerade in den letzten Jahren in den Mittelpunkt bildungspolitischer Debatten gerückt ist (vgl. BMBF 2007). Den ästhetischen Fächern Musik, Theater, Kunst oder Tanz ist dabei eine besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Von ihnen wird erwartet, dem Bildungsanspruch in besonderer Weise gerecht werden zu können, weil der „gesamte menschliche Selbst- und Weltbezug“ – so Liebau/Zirfas (2008: 7) – „wesentlich über die Sinne vermittelt [wird]“. Mit der Betonung der Sinne wird der Bewusstwerdungsprozess in den Blick genommen, das Aufmerken, Gewahrnehmen und Wahrnehmen des Ungewöhnlichen, Widersprüchlichen oder Unerwarteten. Solche Wahrnehmungs- und Bewusstwerdungsprozesse werden durch Differenzen bzw. Störungen hervorgerufen, die sich sowohl auf widersprüchliche gesellschaftliche Verhältnisse als auch auf prekäre individuelle Situationen zurückführen lassen. Sie zu bewältigen setzt ein differenziertes Wahrnehmen und Erkennen voraus sowie Erfahrungen im Umgang mit den eigenen Handlungs- und Gestaltungspotenzialen. Die Künste oder besser: ästhetischen Gegenstände, zu denen neben Musik, Theater, bildender Kunst und Tanz auch Bewegung, Spiel und Sport zu zählen sind (vgl. Beckers 2003; Funke-Wienke 2008), bieten hier einen besonderen Zugang. Praktische Erfahrungen ‚am eigenen Leibe‘ zu machen, sich auf Ungereimtheiten und Unfertiges einlassen zu können, individuelle Wege und Lösungen zu erproben und darin die Maßstäbe gelingender oder misslingender Praxis zu erkennen, sie zu genießen oder auch auszuhalten, lassen sich als charakteristische Ele-

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mente eines die Sinne akzentuierenden Erfahrungs- und Bildungsprozesses bestimmen. Mit diesem skizzierten Verständnis von (aisthetischer) Bildung richtet sich der Blick auf das spezifische Potenzial von Tanz als Bildungsgegenstand und seine Einbindung in Bildungskonzepte. Dabei wird ein Verständnis von Tanz als (Selbst-)Erfahrung und Kritik entfaltet, mit dem die Bildungsprinzipien der Selbstbestimmung, Teilhabe und Urteilsfähigkeit verbunden sind. Um dem Konzeptgedanken gerecht werden zu können, tritt neben das Verständnis von Bildung und Tanz ein Begriff von Vermittlung, der eine bestimmte Auffassung vom lernenden Subjekt impliziert.

Tanz als (Selbst-)Erfahrung und Kritik Im Unterschied zu anderen Bewegungsarten wie der Alltagsbewegung oder den für den organisierten Sport typischen Bewegungscodes ist für den Tanz die Überschreitung des Alltäglichen, der „Überschuss leiblichen Bewegens“ (Waldenfels 2007: 29) kennzeichnend. Obwohl die Überschreitung von Gewohnheiten und Alltäglichem prinzipiell jeder leiblichen Bewegung innewohnt, bietet der Tanz einen besonderen Spiel- und Erfahrungsraum. Als ein von gesellschaftlichen Zwecken weitestgehend freies und befreites Feld liefert er vielfältige Gelegenheiten für die Entgrenzung bestehender Ordnungen, die Erprobung neuer Möglichkeitsräume und die Entdeckung neuer Themen. Tanz enthält insofern auch eine kritische Dimension, als der performative Überschuss von Bewegungen auf Bestehendes verweist und/oder Zukünftiges hindeutet und neue Erfahrungsräume eröffnet, die praktisch erforscht und erprobt werden können. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Tanz lassen dabei je andere Spielräume zu. Der Volkstanz z.B. hebt die „Zwischenleiblichkeit“ (Merleau-Ponty zit. in Meyer-Drawe 1996: 97), das Gemeinsame und historisch wie kulturell Verbindende einer Ethnie oder Gruppe hervor, während popkulturelle Tänze unterschiedliche, vom Markt überformte und bestimmte Lebensstile jugendlicher Gruppen widerspiegeln. Das klassische Ballett repräsentiert in seiner hoch kodifizierten Präzision die Erhabenheit und eine vom Adel bestimmte gesellschaftliche Epoche und Kultur, während in zeitgenössischen Bühnentanzformen die Suche nach neuen, individuellen wie sozialen Bewegungs- und Erfahrungsräumen im Mittelpunkt steht. Sie alle kennzeichnet „ein bestimmtes Verhältnis zwischen Mensch und Welt“ (Brandstetter/Wulf 2007: 10), das individuelle Suchbewegungen zulässt, be-

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stehende Körper- und Bewegungsordnungen transparent macht sowie deren Transformationen und Umkehrungen ermöglicht. Im Tanz kommen kulturspezifische regionale und lokale Wahrnehmungs- und Umgangsweisen mit dem Körper in Raum und Zeit zum Tragen. Als „Spiel- und Reflexionsmaterial“ (ebd.: 11) bietet er die Möglichkeit kultureller Identifikation wie auch die Erfahrung von Differenz und Fremdheit. Zentrales Medium und Ansatzpunkt für das Erfahrungs- und Erkenntnispotenzial ist der Körper. Wie viel Spielraum ihm im Tanz, in den verschiedenen Erscheinungsformen und auch pädagogischen Settings eingeräumt wird, wie viel Raum für Überschreitungen des Alltäglichen und Hervorbringungen des Außergewöhnlichen und Außerordentlichen bereit gestellt wird, liefert ein Kriterium zur Entschlüsselung der jeweiligen Auslegung des Gegenstands Tanz. Im Hinblick auf mögliche Bildungspotenziale bieten die unterschiedlichen Spielarten von Tanz je eigene, unterschiedlich große Erfahrungsräume. Derzeit wird vor allem zeitgenössischen, hybriden Tanzformen eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da für sie die Suche nach neuen Erfahrungsräumen, nach Verfremdungen des Vertrauten und Entdeckungen des Ungewöhnlichen kennzeichnend sind und sie das reflexive, kritische Potenzial von Tanz hervorheben. Die Bevorzugung zeitgenössischer Tanzformen heißt aber nicht, dass anderen, traditionell festgeschriebenen und kulturell gebundenen Formen des Tanzes diese Bildungspotenziale abgesprochen werden müssen. Anstelle des Freiraums für die Entdeckung neuer Bewegungsräume und -formen tritt ihr performativer Charakter in den Vordergrund. An gebundenen, überlieferten Tänzen zeigen sich die kulturellen, geschichtlichen, sozialen und politischen Bedingungen, die sich in die jeweiligen Formen, Figuren und Haltungen eingeschrieben haben. Sie aufzuzeigen, d. h. über den praktischkörperlichen Nach- und Mitvollzug sinnlich nach zu spüren und sichtbar zu machen, hebt die Zeige- und Aufklärungsfunktion von Bildung hervor. Im mimetischen Vollzug zeigt sich, wie der Tanz und die kulturellen wie gesellschaftlichen Kontexte miteinander verschränkt sind – eine Dimension, die die Reflexivität und Erkenntnisfähigkeit des Körpers hervorhebt (vgl. Bockrath/Boschert/Franke 2008). Mit dieser Perspektive richtet sich der Blick auf das Verständnis von Vermittlung und die damit verbundene Grundlegung des Subjektbegriffs. Sollen Bildungsprozesse im hier dargestellten Sinne in Gang gesetzt werden, bedarf es der Herstellung von Erfahrungs- und Möglichkeitsräumen, die das Subjekt entdecken, erkennen und nutzen kann.

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Vermittlung als Herstellung subjektiver Erfahrungs- und Möglichkeitsräume Damit steht die Frage im Mittelpunkt, wie Bildungsprozesse im Tanz initiiert, gestaltet und reflektiert werden können, wie Erfahrungen gemacht, reflektiert und umgesetzt werden können. Die Erziehungswissenschaftlerin Käte Meyer-Drawe beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Bildung und Erfahrung und der Frage, wie Erfahrungen erzeugt werden, wie sie sich vollziehen und was sie hervorbringen. Dies tut sie allerdings nicht mit dem aus ihrer Sicht metaphorisch überladenen Bildungsbegriff, sondern mit dem Begriff des Lernens (vgl. 1982, 1996, 2008). „Lernen beginnt dort, wo das Vertraute brüchig und das Neue noch nicht zur Hand ist, mit einer Benommenheit im Zwischenreich, auf einer Schwelle, die zwar einen Übergang markiert, aber keine Synthese von vorher und nachher ermöglicht.“ (Meyer-Drawe 2008: 212).

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In phänomenologischer Tradition hängen Lernen und Erfahrung eng miteinander zusammen. Die Verunsicherung, die Negativität von Erfahrung wird dabei als Fundament und Voraussetzung zugleich für jegliches Lernen angenommen. Denn erst durch die Irritation vorhandener, lebensweltlicher Erfahrungs- und Wissensbestände eröffnet sich ein neuer Horizont (vgl. Meyer-Drawe 2008: 212). Bislang gültige Erfahrungsmuster werden aufgemischt, so dass Um- oder Neudeutungen notwendig werden. Meyer-Drawe (1982) bezeichnet in Anlehnung an Günter Buck diesen Wandlungsprozess als Umlernen und versteht Lernen grundsätzlich als Umlernen. Bestehende Erfahrungen werden in Frage gestellt, weil sie an Grenzen stoßen, die Widerstand auslösen und Differenzerfahrungen hervorrufen. Lernen vollzieht sich somit als eine Veränderung bisheriger Erfahrungsund Wissensbestände, wobei das Subjekt nicht nur mit neuen Erfahrungen der sozialen Welt konfrontiert wird, sondern auch mit sich selbst als Erfahrendem. Es sind gerade diese Momente des Brüchigen, die Lernen als einen Prozess der Selbst- und Welterfahrung kennzeichnen, der nie abgeschlossen ist. Lernen verstanden als Erfahrung impliziert die Entdeckung von Möglichkeiten, von denen man nicht wusste, dass man sie hat (vgl. Meyer-Drawe 2008: 190). Um so verstandene Lern- bzw. Bildungsprozesse in Gang setzen zu können, bedarf es Vermittlungsverfahren, die sich an der prinzipiellen Offenheit und Unabschließbarkeit von Bildung orientieren und die Vermittlung als Herstellung subjektiver Erfahrungs- und Möglichkeitsräume begreifen. Sie sollten die Voraussetzungen schaffen für Neues, „das sich dem Gewohnten widersetzt und sich nicht in das Gängige fügen lässt“ (ebd.: 202). Solche Vermittlungsverfahren orientieren sich am Verfremdungsprinzip der Kunst (bei Brecht oder Sklovskij), mit dem die Verzögerung von Wahrnehmungen provoziert und ein Innehalten und Nach-Denken ausgelöst werden soll. Sie folgen dem Prinzip, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen, Gewohnheiten zu irritieren und allzu Gefügiges zu hinterfragen, um wach zu werden für Empfindungen, unterschwellige Ordnungen und Themen. Ursula Fritsch (1976, 1990) hat diesen Ansatz für tanzdidaktische Überlegungen fruchtbar gemacht, die im Zuge schul- und bildungspolitischer Reformen in den 1970er Jahren diskutiert wurden und – wenn auch nur in Ansätzen – Eingang in die Curricula der Fächer Sport, Musik oder Darstellen und Gestalten erhalten haben (vgl. Bäcker 2008: 165). Sie begründet den Bildungsbeitrag von Tanz mit den kunst- und kulturtheoretischen Grundlegungen des Pädagogen Klaus Mollenhauer. Ihm zufolge muss es angesichts der Ausdifferenzierung der verschiedenen Künste in unserer Gesellschaft

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eine Aufgabe von Schule sein, Schülerinnen und Schüler zu einem ästhetischen Verstehen zu befähigen, das auf sinnlichen Empfindungen aufbaut und in ein Gewahrwerden dieser Empfindungen übergeht, auf dem sich schließlich ästhetische Urteilsfähigkeit aufbauen kann (vgl. Mollenhauer 1988). Tanz als sinnlich-leiblicher Gegenstand von Bildung bietet die Möglichkeiten „ästhetischer Alphabetisierung“ (ebd.: 27). Im Mittelpunkt stehen die Förderung der ästhetischen Erfahrungsfähigkeit des Lernenden und die Unterstützung bei der gestalterischen Be- und Verarbeitung dessen, was ihn in der Welt bewegt (vgl. Fritsch 1990). Entscheidend für den Bildungsprozess ist es dabei, dass der Tänzer, das Kind, der Schüler bzw. Laie, Fragen, die ihn bewegen, entfalten und in der gestalterischen Auseinandersetzung erforschen, bearbeiten und zum Ausdruck bringen kann. Dies setzt ein Verständnis von Tanz voraus, das die Grenzen vorhandener Bewegungsgewohnheiten und Tanzformen überschreitet und den Körper als empfindungsdurchlässiges Medium begreift, durch den Erfahrungen in und mit der Welt bearbeitet und symbolisiert werden können. Nicht das Einüben von Figuren, Tanzschritten oder Techniken steht im Vordergrund tanzpädagogischer Praxis, sondern das Bestreben, „zu Fragen vorzudringen, die allererst ein Suchen, Entdecken, Entstehen-Lassen von Gestalten auslösen“ (ebd.: 112). Im Mittelpunkt dieser Überlegungen stehen die Erfahrungs- und Erkenntnispotenziale von Körper und Bewegung – sie kommen im Tanz besonders sinnfällig zum Tragen. Damit tritt die Bedeutung des Körpers als konstitutives Element von Tanz und Bildung in den Vordergrund (vgl. Klinge 2001). Der Körper ist der Ort, an dem sich lebensweltliche Erfahrungen niederschlagen; er liefert die sinnliche Basis, von der Widerstands-, Differenz- und Lernerfahrungen ausgehen und ist schließlich das Handlungszentrum, das Erfahrungen, Ideen, Pläne oder auch Einsichten umsetzt. Der Tanz bietet dem Körper als Speicher von Erfahrungen und als Handlungszentrum zugleich ein besonders geeignetes Übungs- und Erfahrungsfeld.

Nicht alles ist Bildung Die hier dargestellten Projekte und tanzpädagogischen Ansätze gehen zum einen auf verschiedene Vermittlungspraxen von Tanz zurück und zum anderen auf theoretische Grundlegungen ästhetischer Bildung im und durch Tanz. Von den praktisch generierten Konzepten ist eine Vielzahl – womöglich die Mehrheit – durch das persönlich bestimmte Engagement gekenn-

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zeichnet, das die eigene Leidenschaft für die Kunstform Tanz mit dem Glauben an die Potenziale junger Menschen verknüpft. Persönliche Erfahrungen als Bühnentänzer oder Lernender bestimmter Tanzformen bilden das Fundament für die jeweilige Arbeitsweise mit Kindern und Jugendlichen. Eine leitende Orientierung für das vertretene Tanzkonzept stellen die vielfältigen praktischen Erfahrungen ‚am eigenen Leibe‘ dar. Sie liegen häufig als nicht-bewusste, implizite oder auch ‚heimliche‘ Theorien von Bildung den verschiedenen Konzepten zugrunde, ein Umstand, der in körper- und bewegungszentrierten Lern- und Vermittlungsfeldern besonders zum Tragen kommt (vgl. Klinge 2004). Dem gegenüber stehen Konzepte, die von einer expliziten Erziehungs- oder Bildungstheorie ausgehen und den spezifischen Beitrag von Tanz als ästhetisches Medium entfalten. Dies trifft v. a. auf die tanzdidaktischen Ansätze der 1970er Jahre zu, die bis heute in bildungs- und schulpolitischen Debatten Geltung haben. Sie folgen elaborierten Theorien und liefern eine für den fachlichen wie wissenschaftlichen Diskurs notwendige Anschlussfähigkeit. Während Royston Maldoom mit seiner direkten, durchaus autoritären Vermittlungsweise die Schüler für eine bestimmte Art von Tanz (hier in der Tradition des community dance) zu begeistern vermag, setzen die theoretisch fundierten Konzepte auf ein Vorgehen, das mit einem weiten Tanzbegriff die ästhetische Erfahrung, das Gewahrwerden mitgebrachter Wahrnehmungsgewohnheiten und Bewegungsweisen in den Vordergrund rückt. Steht für Maldoom weder der Erziehungs- noch Bildungsgedanke, sondern die bewegungs- und tanzpraktische Arbeit mit Jugendlichen im Zentrum, nehmen die tanzdidaktischen Konzepte eine ausdrücklich bildungstheoretische, pädagogisch ambitionierte Position ein. Zentral und richtungweisend für die Ermöglichung von Bildung ist ein Verständnis von Tanz als Erfahrungsfeld individueller, kultureller und gesellschaftlicher Reflexionen. Dem entspricht ein Begriff von Lernen und damit ein Verständnis von Vermittlung, das Erfahrungen von Brüchigkeit und Differenz in den Mittelpunkt des Lernprozesses stellt und das statt in soziale und kulturelle Gepflogenheiten einzuüben das Gewohnte zu irritieren vermag. Der Körper liefert die Voraussetzungen zur Wahrnehmung und Hervorbringung solcher ästhetischer Erfahrungen gleichsam mit und erweist sich damit als unverzichtbarer Bündnispartner von Bildungsprozessen – nicht nur im Tanz.

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Piepgras, I. (2006): „Der Vortänzer. Royston Maldoom bringt mit seinen Tanzprojekten Jugendlichen das Leben bei“. http://www.zeit.de/2006/16/ W_2fMaldoon_16 vom 4.12.2009. Ricken, Norbert (2007): „Das Ende der Bildung als Anfang - Anmerkungen zum Streit um Bildung“, in: Marius Harring/Carsten Rohls/Christian Palentien (Hg.): Perspektiven der Bildung. Kinder und Jugendliche in formellen, nicht-formellen und informellen Bildungsprozessen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15-40. Waldenfels, Bernhard (2007): „Sichbewegen“, in: Gabriele Brandstetter/ Christoph Wulf (Hg.), Tanz als Anthropologie, München: Fink, S. 14 -30. Zedlitz von, Sanna (2009): ‚Auf der Bühne seid ihr Tänzer!‘ Hinter den Kulissen von TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen. Eine Dokumentation von Sanna v. Zedlitz mit Fotografien von Marion Borriss, München: Kopaed.

‚Bevor Form entsteht‘ – informelle Bühnen von Tanz(enden)! Wiebke Dröge Ä1XU%HJHLVWHUXQJKLOIWEHUGLH .OLSSHQKLQZHJGLHDOOH:HLVKHLWGHU (UGHQLFKW]XXPVFKLIIHQYHUPDJ³ .DUO*XW]NRZ Ausgehend von der Idee des Hybriden, stelle ich einen tänzerischen Arbeitsansatz dar unter Einbezug meines Arbeitsverständnisses, seiner Zielführung und den Beweggründen, die zur Herausbildung des Ansatzes führten. In dieser Arbeit geht es vor allem um den Umgang mit implizitem Wissen und Wahrnehmungsprozessen, die in (spontane) Kompositionen münden. Über eine Begriffswolke zum Titel dieses Aufsatzes lade ich zum gedanklichen Einstieg ein. Eine ganze Reihe an Bedeutungen und Andeutungen beinhaltet das Wort ‚informell‘‚ das eine besondere Form des Lernens in konkreten Lebenszusammenhängen (informelles Lernen) andeutet. In der Wortbedeutung steckt zum einen ‚informierend‘, zum anderen ‚unbefangen und offen‘, es erinnert auch an die Kunstform der art informel, die den Einfluss des Unbewussten aufgreift und deren Künstler sich als ungebunden charakterisieren, zum Beispiel im Sinne der Wahl von Materialien und Regeln zum Arbeitsprozess. Ähnlich ist es mit dem Wort ‚Bühne‘, das hier sowohl die menschliche innere Bühne andeutet, als auch die Theaterbühne als Begriff für einen Ort, an dem Tanz präsentiert und rezipiert wird. Zusammen genommen ergibt sich ein gemeinsamer Raum aus Wissensspuren. Das Feld von Beginn an weit aufzumachen, entspricht dem hier darzustellenden Ansatz und der darin liegenden Intention, den Raum möglicher Wirk- und Wissenszusammenhänge im Tanz zu vergrößern, um „uns nicht auf die

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mentalen Projektionen unseres gewöhnlichen Dirigierens zu verlassen, ihren Mühen und Positionen und Grenzen. Es ist eine sowohl spezifische als auch unmittelbare Erfahrung: eine Lockerung, im Körper, im Kopf, im Geist“ (Tulku 1993: 203).

Das Konzept Mein Ansatz geht von der Gesamtheit eines Bühnengeschehens aus. In der Performance-Situation wird das Gesehen-werden, das Sichtbar-machen und das Sich-zeigen im Prozess von Bewegungsentwicklung, Denken und Raumgestaltung ganz zentral. Dieser Ansatz provoziert in öffnender Weise, innerhalb der Praxis von Tanz, dem künstlerischen Tanz zugehörige Wahrnehmungs- und Reflexionsperspektiven auf den Ebenen von Formentwicklung, Präsentation und Rezeption. Diese bestehen aus vier ineinander greifenden, interdependenten Bereichen, die ich als informelle Bühnen begreife: • Multidimensionale Perspektiven von Tanzarbeit • Körperwissen aktivieren, dynamisieren, verweben • Das noch Unbekannte/Unerdachte zulassen • Das Lehren von und in Unsicherheit Die informellen Bühnen sind weder hierarchisch organisiert noch programmatisch didaktisiert. Alle Aspekte zielen auf das Verdichten von Wissen im spezifischen Verständnis von Tanz als Kunstform ab. Die jeweiligen tänzerischen Inhalte werden mit dem Ziel durch diese Felder gezogen, diese so nah wie möglich an die Schüler und Schülerinnen heranzubringen und sie schließlich in Teilen an sie abzugeben. Das Taking-over der Schüler und der Tänzerinnen ist ein zentrales Anliegen. ‚Bevor Form entsteht‘ öffnet ein Forschungsfeld, das nach übergreifenden Prinzipien von künstlerischen (Arbeits-)Prozessen im Tanz fragt, mit denen Tanzende in schöpferischer Weise selbst zum Handeln kommen. Es beansprucht an dieser Stelle ein Um- oder Neudefinieren der Aufgabenfelder, Rolle und Haltung (attitude) einer Choreografin. Der Beitrag berührt in diesem Kontext auch die Fragen: Welche Aufgabe hat Tanzkunst im Feld von Bildung? Welches spezifische Wissen kann sie beisteuern? Wie bestimmt und beeinflusst der Prozess des gemeinsamen Lernens das Ergebnis, die ästhetischen Ausdrucksformen eines Tanzprojekts? Und: Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Begegnung zwischen Choreografierenden und Schülern oder Tänzerinnen? Im konkreten Zusammenhang mit

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meiner Konzeptentwicklung und Koordinierung von ‚Tanz in Schulen‘ für das Tanzlabor_21 – seit Ende 2006 – stehen für mich diese Fragen sowohl im praktischen Feld von Tanzprojekten als auch in meiner theoretischen Reflexion erneut im Vordergrund. In diesem Bericht stelle ich mein Arbeitsverständnis in Verbindung mit Ausschnitten aus drei sehr unterschiedlichen Projektbeispielen vor.

Multidimensionale Perspektiven von Tanzarbeit Der eingangs skizzierten Idee der informellen Bühnen folgend, unterteile ich grob in vier zentrale Wirkungsfelder, in denen der Körper und die geistige Ausrichtung je unterschiedliche Funktionen und Qualitäten annehmen:1 • Bewegungsforscher • Beobachter • Performer • Impulsgeber Über den bewussten Umgang mit diesen Perspektiven wird ein weites gemeinsames Verständnis für die Innen- wie Außenperspektive tänzerischer Arbeit entwickelt. Ich erachte es als eine sehr zentrale Kompetenz im Feld von tanzkünstlerischer Arbeit. Der Zusammenhang zwischen dem eigenen inneren Nachvollzug und dem äußeren Wirkraum erweckt ein Gespür für Komposition. In der Gruppenarbeit dienen diese Felder der gemeinsamen Fokussierung. Es werden Situationen geschaffen, die das Wahrnehmen und Handeln auf gezielte Weise ausrichten und zugleich eine ästhetische Weise der Informationsaufnahme und -verarbeitung zulassen. Einflüsse von implizitem Wissen, von der Versprachlichung von Eindrücken im Austausch von Tanzenden und der Rolle der Vermittlerin sowie ihrer Überzeugungen werden am Ende angesprochen.

1 | Die Bezeichnungen sind in der männlichen Form geschrieben, implizieren aber immer beide Geschlechter.

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Bewegungsforscher Zu jedem kreativen Prozess gehören Phasen des Forschens, der Neugierde, des Nicht-Wissens, des Verirrens. Das Forschen im Tanz verstehe ich hier vor allem als eine geistige Einstellung/Aktivität mit einer die Wahrnehmung betreffenden Ausrichtung auf das Hier und Jetzt. Dies führt im besten Falle zu einer Öffnung und Empfangsbereitschaft des Körpers jenseits bekannter oder erwarteter Muster. Forschen ist die Königsdisziplin in kreativen Tanzprozessen – es verweist auf die Lücke zwischen Reiz und Reaktion, Impuls und Wirkung. Forschungsphasen sind wie ein Abstieg in eine unbekannte Unterwelt, meist in Form von unterschiedlich offenen und geschlossenen Improvisationen. Schülerinnen und Tänzer lassen sich oft nicht gern beobachten, sofern sie ihren aktuellen Bewegungsausdruck als noch nicht vorzeigbar empfinden. Sie fordern unterschwellig von sich selbst, dass alles, was sie hervorbringen schon bühnenreif sein soll. Die eigene Scham vor dem noch nach Ausdruck suchenden Körper schwindet, sofern es eine Akzeptanz in der klaren Unterscheidung in Phasen des Bewegungsforschens, des Beobachtens, Zeigens und Einwirkens, Impulsgebens gibt. Mit der wachsenden Erfahrung erleben Schülerinnen und Tanzende das Bewegungsforschen als Abenteuerspielplatz, als einen Freiraum, in dem es zu ungeahnten Entdeckungen kommt. Die Angst, nichts Brauchbares zu finden, schwindet gemeinsam mit der Befürchtung sich unadäquat zu bewegen – beides darf sein!

Beobachter Das bewusste Beobachten von Tanzenden untereinander fördert das Verständnis für das Tanzgeschehen an sich. Es liefert zusätzliche Informationen, die im eigenen Bewegungserleben allein nicht zugänglich werden wie zum Beispiel Wirkungen von Timing, Dauer, Dynamik, Raumgebrauch, Ausdruck, Spannungsverhältnissen. Über das Beobachten entwickeln sich Ideen und wird auch das eigene Tun neu reflektiert und beeinflusst. Dem Beobachten kann eine Ausrichtung, ein Fokus gegeben werden, um die Sicht auf das Geschehen zu erweitern. Das Austauschen des Gesehenen untereinander zeigt den Schülerinnen und Tanzenden auch wie individuell unterschiedlich Sichtweisen, Bewertungen und Aufmerksamkeiten verlaufen. Darüber hinaus entwickeln sie als Beobachtende ein Vokabular für ihre Eindrücke und lernen in ihren Anschauungen zu unterscheiden. Für die zu Beobachtenden ist dies zudem eine gute Vorbereitung auf die Performance-Situation. Sie üben sich darin, sich zu zeigen und gesehen zu werden. Diese Erfahrung

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fließt in das Performen mit ein. Es entwickelt sich für die Bühnensituation eine parallel zugängliche Raumperspektive als ein Gespür für die Außenperspektive, während man selbst auf der Bühne ist.

Performer Die körperliche und mentale Bewusstheit und Ausrichtung ist beim Bewegungsforscher und Performer unterschiedlich. Während sich das Forschen auf das Erkunden von Material ausrichtet und den Zuschauenden nicht bewusst mit einbezieht, kommen in der Performance-Situation Aspekte des Präsentierens, von Souveränität und des Zeigens ausformulierter Formen oder Spielregeln hinzu. Im Präsentieren verändern sich die körperliche Energie und das Eigenerleben – die Schüler und Tanzenden müssen sich noch intensiver mit sich und dem Material auseinandersetzen und verbinden, was meist zu einer Entwicklung desselben führt. Schüler und Tanzende können von Beginn an auf diese Situation mit umfassenden Übungen vorbereitet werden, sich gegenseitig Ergebnisse und Versuchsformen präsentieren und Feedback üben. Es ermöglicht ihnen, in die innere und äußere Haltung eines Performers hineinzuwachsen, diese aus dem Tun heraus zu reflektieren und eine kraftvolle Ausstrahlung zu entwickeln. Mit Publikum lässt sich gefundenes Material unter Beweis stellen. Beides kann passieren – als schwach erlebtes Material bekommt plötzlich Kraft und umgekehrt. Über die Zuschauenden baut sich ein Spannungsfeld auf, das dem Tanz, den Tanzenden, den Szenen von innen eine andere Lesbarkeit verleiht. Meist spüren die Tanzenden selbst, an welchen Stellen Stimmigkeit besteht oder noch nicht.

Impulsgeber Das Impulsgeben hat Anteile von Regie-Aufgaben sowie der Mitsprache, was üblicherweise nur der Choreografin vorbehalten ist. Es fördert die Wahrnehmung und Verantwortung für das unmittelbare Tanzgeschehen und für die Zusammenhänge von Einfluss (Impuls) und Wirkung. Als Regie-Aufgaben können sie zunächst in Übungsformen eingebettet werden, wo einzelne Schüler und Tanzende von außen das Geschehen konkret beeinflussen, z.B. indem sie über zuvor bestimmte Codeworte auf die Improvisierenden reagieren können. Impulse können auch von den Tanzenden kommen. Die Reaktion der anderen und der Umgang werden unter diesem Aspekt damit

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auch bearbeitet. Mitsprache bei der Entwicklung einer Performance macht Sinn, sobald Schüler und Tanzende genug Referenzpunkte zur gemeinsamen Arbeit in sich sammeln konnten, die es ihnen erlauben, ein Taking-over zu leisten. Die einzelnen Aspekte wirken fließend und haben situativ unterschiedliche Priorität und Relevanz. Das Trennen der Handlungsfelder hilft zum einen, in Perspektiven hineinzuwachsen und individuelle Stärken und Präferenzen zu entdecken. Zum anderen lässt sich an den unterschiedlichen mentalen Qualitäten arbeiten. Ein erfahrener Tänzer jongliert mit den Rollen, kann sich während des Forschens in einen Präsentationszustand bringen oder in der Bühnensituation Impulse geben und zum Beobachter werden. Diese Vorgehensweise ist ein Angebot, die Wahrnehmung im und auf den Tanz in sehr unterschiedlichen Haltungen zu erleben. Dies erfolgt in Kopplung mit einer gezielten geistigen Ausrichtung.

Beispiel aus der Praxis Freies Projekt Bewegte Stimmen am Schauspiel Frankfurt mit dem sog. Jungen Schauspiel. Teilnehmende: 13 Jugendliche im Alter von 12 bis 23 Jahren, davon zwei Jungen. Rahmen: Eine Theaterpädagogin, ein Tonregisseur, eine Choreografin. Projektstatus: Noch nicht abgeschlossen. Ziel: Premiere im Großen Ballettsaal der Oper. Die hoch motivierten jungen Menschen entwickeln mit den Projektleitenden gemeinsam das inhaltliche Konzept zum Stück. Die Bausteine beziehen sich auf den Aspekt ‚inszenierte und zufällige Verbundenheit‘. A) Die Teilnehmenden (TN) bringen eine Tonaufnahme eines für sie bedeutsamen Geräusches aus ihrer häuslichen Umgebung mit und erzählen ihre Geschichte dazu. Folgeaufgabe: Mit einem Aufnahmegerät ziehen sie durch das Bahnhofsviertel und suchen nach zwei Geräuschen, die ihrem ähnlich sind. Nachher erzählen sie die Geschichten zu ihren neuen Aufnahmen. Diese werden auf Band zur späteren Weiterverwertung festgehalten. B) Die TN forschen an den Bewegungen einer 8 mit unterschiedlichen Körperteilen. Die 8 steht für die Unendlichkeit der Möglichkeiten, im Leben Entscheidungen zu treffen und zu reagieren, wobei sich jeder Mensch mit seinem Körper auf die gleiche eine Welt bezieht. Jeder entwickelt ein Solo dazu. Die ersten Ergebnisse der Versatzstücke werden einzeln vor der Gruppe mit dem Ziel präsentiert, 13 individuelle Abläufe zu finden. Das Beobachten verdeutlicht die Wirkungsweisen, so dass sich die TN gegenseitig Vorschläge machen können. Bewegungsforscher: In einer Zwischenetappe

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wird die Bewegungsforschung mit der 8 vertieft, mit einem individuell verschiedenen Fokus auf: Dynamik- und Zeitwechsel, genaues Zeichnen der Raumlinien, Betonungen und Akzente, dem räumlichen Kippen, Drehen, Auseinanderziehen der 8, dem Beachten der nicht unmittelbar beteiligten Körperteile und dem Ausloten der Bewegungsamplituden. Teilweise wird in Paaren gearbeitet, wobei einer die Rolle des Regisseurs übernimmt und von außen Bewegungsschwerpunkte vorgibt. Performer und Beobachter: Rücklings aufgereiht an der großen Fensterfront stehend, mit Sicht auf die Dächer Frankfurts tanzt jeder sein Solo mit der Absprache, dass sich nur max. drei Personen gleichzeitig bewegen dürfen. Zwei TN sind Beobachter und geben Feedback über Wirkungsweisen. Dies wird mit wechselnden Beobachtenden mehrfach wiederholt. Impulsgeber: Am Ende dieser Einheit sammeln die TN selbst Kriterien zum dramaturgischen Spannungsaufbau, zur Präsenz und zur Präzision bei Details. Die Szene wird von der gesamten Gruppe als wertvoll bewertet, mit dem Wunsch, sie nach ihren Ideen weiter zu entwickeln. Deutlich wird, wie wichtig der persönliche Anteil jedes Einzelnen am Gesamtbild ist. Die Synergie gefällt ihnen besonders im Zusammenhang mit dem inhaltlichen Konzept und hebt ihr Energieniveau.

Körperwissen verweben, aktivieren, dynamisieren Ich begreife Tanz nicht als ein vom Leben separiertes Wissen, sondern als eine Option zur Erweiterung und Verwebung von Wissenswelten. Aus diesem Grund lade ich den Körper ein, sich an viele andere Bewegungskontexte vor allem kinästhetisch zu erinnern. Dies geschieht entweder durch Verschiebungen von Bewegungskontexten (Alltag, Sport, Emotion etc.) in den Tanz hinein oder durch das Reduzieren auf einen minimalen Konsens von Bewegungserfahrung, so dass kein Kontext mehr vorhanden scheint, der zur Einengung von Bedeutungen führt (z.B. werfen und fangen eines Gegenstandes; gehen und stehen; Arbeit mit Blicken). Sofern das möglich ist, gehe ich mit den Tanzenden zeitweise in andere Kontexte außerhalb des Tanzstudios, z.B. in die Natur, in urbane Räume.

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Beispiel aus der Praxis Interdisziplinärer Jugend Performance Wettbewerb „UnArt“ der BHF Bank Stiftung, 2008, mit dem Stück Mein Colorado Dein Colorado. Drei Jugendliche aus der Jahrgangsstufe 13 werden von mir als Coach für ihr eigenes Konzept betreut. Problem: Sie haben eine sehr theoretische Projektskizze, die kaum etwas mit ihnen persönlich zu tun hat. Es sind keine Bewegungsideen vorhanden. Ziel: Kurze Gruppenperformance inklusive drei Soli, Videoprojektion, Text, Sprache, Tanz. Premiere: Schauspiel Frankfurt. Projektstatus: Finalgewinner mit anschließender Städte-Tournee in Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main. Wissen aktivieren, dynamisieren: Die Jugendlichen haben in vielen Fächern das Thema Globalisierung durchgenommen. Es findet ihr gemeinsames Interesse und soll zum Inhalt der Performance werden. Aufgrund ihrer Abiturvorbereitungen sind sie derzeit ausschließlich kognitiv gefordert und weit weg von ihren Körpern. Um sie mit ihrer kreativ-verspielten Seite in Berührung zu bringen, bringe ich nach den ersten Proben mehrere Tüten gemischtes Weingummi und Lakritz ‚Colorado Mischung‘ mit. Die Aufgabe lautet: „Welche Assoziationen entstehen in dir zum Thema Globalisierung, wenn du die Mischung betrachtest? Erstelle Bilder mit dem Material und fotografiere sie mit dem Handy!“ Die Jugendlichen gehen mit großem Spaß und viel Albernheit an die Sache und entspannen sich. Ihre Konstellationen werden Platzhalter und Sinnbilder für Menschen, Ausgrenzung, Besitz-Nichtbesitz, Fremdheit, Solidarität. Die Fotoperspektive solidarisiert sich mit oder grenzt sich von einzelnen ab. Auch räumlich abstrakte Formationen entstehen in Form von Bauten, Grenzen, Sortierungen, Zerstörung, Neuzusammensetzungen. Von den Studierenden sind Kommentare zu hören wie „guck mal die hier, Türme von Besitz...“, „ja, versuch´s nur, dir wird eh keiner zuhören“, „hier ist die Elite, davon gibt’s immer nur höchstens drei“, „der hier ist schon ganz fertig, weil er es allen recht machen will – er gibt sich fast auf“. Beim letzten Beispiel wird ein mit vielen Zuckerperlen besetztes Gummibonbon sukzessive davon befreit und mehrere Bonbons in mehreren Stadien der Selbstaufgabe geformt bis das letzte ‚nackt‘ und deformiert daliegt. Während des Spielens kristallisierten sich eindeutig für jeden das passende Solo in Form von drei Typen heraus: ein emotionaler Charakter, der tanztheatralisch die Frage nach dem eigenen Zuhause und Angst vor Fremdheit umsetz; ein tänzerischer Charakter, der den Umgang mit Anforderungen und Anpassung auf abstrakte Weise in Bewegung umsetzt; ein sprechender Charakter, der humorvoll, auf Kosten anderer seine wenig konstruktiven Lebensvorstellungen preisgibt.

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Mein Colorado Dein Colorado UnArt © Marlis Henke In diesem Beispiel führte der Ausflug in eine kindlich-naive Welt weg von hinderlicher Intellektualisierung hin zum Körper(Wissen). Die Entspannung, das Nicht-so-ernst-nehmen brachte eine Lockerung im Denken und Empfinden, was wiederum zu individuell stimmigen Ansatzpunkten für den Choreografie-Prozess führte. Das Spielen und Assoziieren mit dem Material sprach ihre Körper an, vor allem, da sich das Material durch ihre Hände vermenschlichte und stellvertretend zu Körpern wurde. Im weiteren Probenverlauf wurde das Material nicht mehr gebraucht. Nur ganz am Ende der Proben wurden die Bilder zu einem kleinen Film erweitert und mit einer Toncollage verbunden. Die Aufnahmen der Fruchtgummis erfolgten dann an ausgesuchten Orten im öffentlichen Raum. Der Film hatte auf der Bühne die Funktion eines Prologs. Die abstrakten Fruchtgummi-Formationen wurden mit Stoff bezogenen Aikido-Matten übersetzt, die einerseits zur Projektionsfläche und andererseits zu Bühnenbildern und Bewegungsorten wurden, vor allem in der Unterstützung der Soli (s. dazu auch www.crespofoundation.de/142.html).

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Das noch Unbekannte/Unerdachte zulassen Das Einbeziehen der Dimension des Unbekannten beruht auf einer bewussten Form der Passivität, bis das als bedeutungsvoll Erachtete wie von selbst zum Vorschein kommt (vgl Dröge 2005: 157-161). Oft erschließt sich der Sinn und Zweck gemeinsam gegangener kreativer Wege erst in der Retrospektive (vgl. Barret 1998). Für eine kreative tänzerische Arbeit ist das bewusste Einbeziehen des Raums sehr zentral. Er deutet auf die Bühne als Ort, oder genauer als einen Ort mit Informationen. Das intensive Arbeiten mit den informellen Bühnen verfeinert die Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Tanzenden für den Raum und darin liegende Spannungsfelder. Zugleich wird in dieser Form der improvisatorischen Kompositionsarbeit für die Bühne etwas sehr Entlastendes zugelassen – die Eigensinnigkeit kreativer Prozesse und des Körpers als schöpferischer Weltbezug (vgl. Dröge 2005: 162f). Die Fülle an Gedanken und tänzerischen Ideen folgt zum Teil einer eigenen Ordnung und Lösung, die sinnbildlich hinter dem Rücken des Körpers in Erscheinung tritt. Die Philosophin Anette Barkhaus merkt in ihrem anthropologischen Ansatz zu „Phänomenen des körperlichen Eigensinns“ an, dass sie „wie das Sich-entscheiden […] gerade hinter dem Rücken des Subjekts zur Bewältigung komplexer Situationen beitragen, ihm Handlungsmöglichkeiten eröffnen statt Grenzen zu setzen“ (2003: 9). Außerhalb des konstruierenden Denkens hat der Eigensinn Facetten von körperlicher Eigenaktivität und der Widerfahrnis. „Die Anerkennung dieser Dimension führt zu einem […] lebendigeren Subjekt, lebendiger, weil offener, reicher und damit auch flexibler an Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten“ (ebd.). ‚Bevor Form entsteht‘ impliziert das Fragen und das Erforschen von Fragen, die wiederum Fragen hervorbringen usw. Die hier vorgestellte Arbeit ist auf eine Lücke ausgerichtet, auf einen sich bildenden Freiraum, der oben als die Information aus dem Raum bezeichnet wird. Dieser Freiraum lässt sich von außen nur indirekt vermitteln. Die Vermittlungsaufgabe liegt darin, eine konzentrierte Offenheit zu schaffen, die etwas hervorbringt, was sich physisch nicht als Bewegungsform üben lässt. Diese Lücke zeigt Tanz, ohne dass die Vermittlerin etwas Weiteres hinzufügt oder die Tänzer selbst sich aktiv bemühend etwas herstellen. In der Lücke entsteht ein Zulassen in Kombination mit dem Empfangen und Ausdrücken von etwas, was sich im Raum zeigen will. Das Ziel ist das Verbinden der Tanzenden mit der Information aus dem Raum.

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Auf dem Weg dorthin trifft die Vermittlerin viele Entscheidungen. Sie wählt die Organisationsformen und Inhalte aus. Die Inhalte sind formulierte Fragen, die sie mitbringt und die sich durch die Tanzenden über die gemeinsame Erfahrung und Reflexion erweitern und verdichten. Die Vermittlungsrolle ist die der Ermöglicherin (facilitator), der Moderatorin, der Initiatorin und der Prozesshalterin. Sie ist verantwortlich für das Initiieren von Konzentration und besonders für den Vorschuss an Vertrauen in den Prozess. Dieser Vorschuss gilt vor allem der Entstehung von Inspiration und Begeisterung seitens der Tanzenden und dem daran gebundenen Entwicklungspotenzial. Sie vermittelt aufeinander aufbauende Improvisationsformate mit Regelwerk unter Einbezug der hier vorgestellten vier Perspektiven. Es ist ein Angebot zu spielerischer Konzentration für beide – für die Teilnehmenden und für den Facilitator. Diese Person veranlasst, ermöglicht und moderiert das Austauschen und Verarbeiten von Eindrücken. Der auf etwas Größeres oder über sich selbst hinaus verweisende Wert dieser Arbeit liegt in dem noch Unbekannten (‚meeting the unknown‘). Das zu zu lassen ist ein Hinweis auf Veränderung, einer Grundeigenschaft von Entwicklung und Leben.

Das Lehren von und in Unsicherheit Die Begegnung zwischen Vermittler/Choreograf und Tanzenden basiert auf Selbstverantwortung und einer schöpferischen Dialektik des vertrauensvollen Zweifelns beiderseits. Vermittelt wird das Aufsuchen, das Zulassen von und der Umgang mit Unsicherheit. Eine Art Entsicherung erfolgt in Richtung Begeisterung für die Grenzenlosigkeit des eigenen Wissens und die Quellen individueller und kollektiver kreativer Kraft. Mit dem Ansatz ‚informelle Bühnen‘ wird auch das Lehren in Unsicherheit thematisiert. Die Unsicherheit des Vermittlers als etwas Positives oder gar Schöpferisches zu bewerten, kommt im Zusammenhang mit Vermittlungsinterventionen normalerweise nicht vor. Für den ‚Lehrenden‘ geht es hier nicht darum, zu zeigen wie etwas geht und sein Wissen mit möglichst hoher methodischer Variabilität zu vermitteln. Sondern diese Form der Begegnung braucht sehr viel Erfahrung im Handwerk Tanz, besonders aber im Umgang mit Prozessbegleitung. Das ‚Lesen- können‘ von Situationen und eine ‚Antenne‘ für Stimmungen zu haben, ist ein hohes Qualitätskriterium. Ein weiteres ist das Wahrnehmen und Reflektieren von offenen oder verdeckten Widerständen oder Schwierigkeiten. Erfolg zeigt sich in der Tiefe der persönlichen Entwicklung, individuell oder als ganze Gruppe in Bezug auf das Thema. Die

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Kriterien dafür durchdringen beide Seiten gemeinsam. Der Umgang mit Unsicherheit in kreativ künstlerischen Prozessen verlangt eine Haltung der (Selbst) Akzeptanz und eine starke (Selbst) Bewusstheit.

Beispiel aus der Praxis Projekt ‚Steuermannskunst‘ an der Alois-Eckert-Schule für Erziehungshilfe Frankfurt im Auftrag von der Crespo-Foundation und dem Tanzlabor_21/ Ein Projekt von Tanzplan Deutschland. Projektstatus: Erstes Folgeprojekt kurz vor dem Abschluss. Ziel: Fotoausstellung mit Skulpturen aus Knetmasse und Bühnenfotocollagen. Rahmen: Ein Lehrer und professioneller Fotograf, eine Klassenlehrerin, eine Choreografin, eine Assistentin. Die acht Schüler sind unberechenbar, teilweise aggressiv und gewalttätig, häufig ohne Konzentration, extrem unruhig, kaum zu motivieren und sehr ängstlich. Begeisterung und Konzentration findet ausschließlich momenthaft statt. Sie sind im Alter zwischen 11 und 14 Jahren. Meine Strategie ist nur darauf einzugehen, was gerade ‚funktioniert‘ und so die Ablenkungs- und Zerstörungsmechanismen der Schüler zu unterwandern. Ich ignoriere diese nicht, sondern spiegle ihnen ihre Zweifel, indem ich gar nicht erst versuche, ihnen diese abzunehmen. Das Lehren in und von Unsicherheit ist hier Dauerprogramm. Das gesamte Team hat sich für die Offenheit und Spontaneität verschworen. Es soll anregend und wenig anweisend gearbeitet werden. Die Arbeit mit dem Knetmaterial ist ein Zufallsprodukt aus dem ersten Projekt, in dem es nur um Tanz und Bewegung ging. Konzept: In der Bewegungsarbeit liegt der Fokus auf das Kippen und Drehen von einzelnen Bewegungsformen im 360-Grad-Raum und auf das Herstellen von hoher Dynamik in einem kurzen Bewegungsmoment. Inwiefern lässt sich ein körperlicher Eindruck, das eigene Bewegungsempfinden auf die Knetmasse übertragen und sichtbar machen? Die Aufgaben lauten: A) „Forme aus zwei Farben ein Knet-X (Chromosomenform). Bringe es in eine Bewegungsform, platziere es auf verschiedene Weise auf der Fotobühne und fotografiere es aus Perspektiven, die du interessant findest. Integriere danach einen Knetkopf und platziere ihn an Stellen, wie du es möchtest und fotografiere auch das.“ B) Die Jugendlichen werden einzeln in selbst gewählten Positionen fotografiert. Diese Bilder schneiden sie aus, tauschen untereinander aus und bringen sie auf einer weißen Fotobühne in individueller Weise frei im Raum an. Danach fotografieren sie ihre Bühnenbilder aus verschiedenen Perspektiven.

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Beide Vorgehensweisen entsprechen der nur kurzen Konzentrationsfähigkeit der Jugendlichen. Die Unsicherheit ist in jeder Stunde immens. Wir wissen nie, wie die Jugendlichen reagieren werden. Sie spüren, dass ich mich auf ihre Dynamik einlasse und nicht methodisch dagegen angehe. Das Ergebnis ist ein hoher kreativer Output und Anflüge von Begeisterung. Am Ende des Projekts zeigt sich in der Gruppe eine starke positive Identifikation mit den eigenen Arbeiten. Eigene Unsicherheit zuzulassen und die der Jugendlichen auszuhalten, hat sich bezogen auf das Schöpferische sehr gelohnt. In der Unsicherheit liegt ein großer Vertrauensvorschuss in ihre bereits vorhandene Kreativität. ‚Bevor Form entsteht‘ bedeutet eine künstlerische Haltung hinsichtlich der Begegnung mit Tanzkunst. Sobald sich jemand als hier sieht und den Tanz dort, erlebt er sich als etwas vom Tanz Getrenntes. In der beschriebenen Weise werden integrierende Aufmerksamkeiten hergestellt, individuell und kollektiv verarbeitet und wieder in den Raum hineingebracht. Tanz ist Raum. Alles, was im Raum geschieht, ist... !

Literatur Barkhaus, Anette (2003): Eigensinn des Körpers. 3. Internationale Graduiertenkonferenz. Universität Wien, http://www.univie.ac.at/graduiertenkonferenzen-culturalstudies/3_konferenz/barkhaus_vortrag.pdf vom 12.10.2009. Barrett, Frank J. (1998): Creativity and Improvisation in Organizations. Implications for Organizational Learning. Organizational Science 9/, S. 606–622. Dröge, Wiebke (2005): „‘Stille Post‘ - Wahrnehmung und Kommunikation in der Tanzimprovisation“, in: Johannes Birringer/Josephine Fenger (Hg.), Tanz im Kopf. Dance and cognition. Münster: Lit, S. 157-161. Tulku, Tarthan (1993): Raum, Zeit, Erkenntnis. Aufbruch zu neuen Erfahrungen zu Welt und Wirklichkeit. Hamburg: Rowohlt.

Tanz und Bildende Kunst Ein interdisziplinärer Ansatz der Tanzpädagogik Barbara Haselbach Ä0LWGHQ*UXQGNUlIWHQGHU.QVWH VLQGDOOHHOHPHQWDUEHJDEW GLHVH.UlIWHVLQG]XHQWZLFNHOQXQG DXILKQHQGLH(U]LHKXQJGHUJDQ]HQ 3HUVRQDXI]XEDXHQ³ %XEHU Tanzkultur beginnt mit der Freude am eigenen Tanzen, mit der Liebe zum Tanz; Tanzforschung erwächst aus der Neugier am Besonderen des Tanzes, aus der Faszination über seine vielfältigen Erscheinungsformen und dem Interesse, diese besser zu verstehen. Beides zu erwecken und zu fördern gehört mit zu den breit gefächerten Aufgaben einer zeitgemäßen Tanzpädagogik. Viele Wege führen zum Tanz, dies zeigt die überwältigende Fülle tanzpädagogischer Angebote, Prozesse, Ergebnisse und Veröffentlichungen. Der interdisziplinäre Ansatz ist einer unter vielen, dazu einer, der auf Grund seiner Offenheit für und Verbindung mit anderen Kunstformen von manchen Fachleuten mitunter als ‚zu wenig tanzspezifisch‘ angesehen wird. Der hier beschriebene Ansatz (vgl. Haselbach 19955 und 1990) ist erwachsen aus der ‚Elementaren Musik- und Tanzpädagogik‘, die – inspiriert durch das Konzept des ‚Orff-Schulwerks‘ von Carl Orff und Gunild Keetman – seit vielen Jahren am Orff-Institut der Universität Mozarteum in Salzburg gelehrt wird. Wie selbstverständlich hat sich der Kreis, der zunächst Musik, Tanz und Sprache (alles aus dem Prinzip des Rhythmus entstandene und in ihren Wurzeln verwandte Künste) umschloss, bald auch den anderen Künsten geöffnet. In Lehre und Forschung wurden Inhalte und Arbeitsweisen

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entwickelt und Ergebnisse unter Beweis gestellt. Doch selbstverständlich gibt es auch an anderen Orten, an Universitäten und privaten Ausbildungsinstitutionen, eigenständige Varianten eines interdisziplinären tanzpädagogischen Konzepts. In diesem Beitrag ‚Tanz und Bildende Kunst‘ stellen sich u.a. folgende Fragen: Was charakterisiert diesen spezifischen Weg der Tanzpädagogik? Wie lässt sich das pädagogische Konzept umschreiben? Welche Chancen und Schwierigkeiten zeigen sich in der Realisierung?

Zum Verständnis des Interdisziplinären Die menschliche Wahrnehmung erfolgt fast immer mehrkanalig und simultan. Dies bedeutet, dass am Entstehen nachhaltiger Erlebnisse, die sozusagen das ‚Rohmaterial‘ unserer Fantasie, unserer Träume, Handlungen und (künstlerischen) Gestaltungen bilden, meist mehrere Sinne zusammen wirken. Wenn nun der Input über visuelle, auditive, taktile, kinästhetische, olfaktorische und geschmackliche Wahrnehmungen in der Gleichzeitigkeit von Geräuschen, Tönen, Farben, Bewegungen, Gerüchen, Linien, Berührungen etc. beeindruckt, warum muss der Output, der spontane oder auch der beabsichtigte Ausdruck, sich puristisch und artifiziell nur in Tönen oder Farben oder Bewegungen oder Worten darstellen? Warum darf das Gestalten von inneren Eindrücken nicht alle Ausdrucksbereiche verwenden, die man in sich angesprochen fühlt? Spontanes Ausdrucksverhalten ist so vielseitig wie die vorausgegangene polyästhetische Wahrnehmung selbst. Es entsteht als eine Umkehr des mehrkanaligen, polyästhetischen Inputs. Spezialisierung auf ein einziges Ausdrucksmedium ist selten natürliche Veranlagung (vielleicht mit Ausnahme einiger Hochbegabten oder Genies), sondern vorwiegend das Produkt unserer Erziehung. Diese hat vorwiegend einseitige Hochleistungen im Auge und legt wenig Wert auf Tiefe und Vielfalt des Ausdrucksvermögens. Lange bevor die Schule Spezialisierung in einzelnen Disziplinen vermittelte, benützten Kinder völlig selbstverständlich eine ganzheitliche, unterschiedliche ‚Medien‘ umfassende Form des Ausdrucks. Doch wäre es meines Erachtens vorschnell, dieses Verhalten bereits als interdisziplinär zu bezeichnen; es ist vielmehr ein Vorstadium, in dem sich die expressive Energie aller zur Verfügung stehenden Mittel in einer ganzheitlichen Weise bedient. Denn der Mensch ist kein in Segmente und (Schul-)Fächer zergliedertes Objekt, das Montagmorgen um 10.30 nur visuell wahrnimmt und produziert,

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weil das Unterrichtsfach gerade ‚Bildnerische Erziehung‘ heißt, um 11.15 in der Leibeserziehung oder im Sport dann nur motorisch handeln darf, in seiner auditiven Wahrnehmung aber erst am Mittwoch in der Musikstunde dran ist. Für die Förderung der Kreativität ist diese Zergliederung sicherlich nicht zuträglich. Diese fachspezifische Abgrenzung der einzelnen Kunstfächer ist vor allem dort zutiefst unbefriedigend, wo es sich um Allgemeinbildung handelt. Gerade in Schulsystemen, in denen man sich in höheren Klassen meist nur noch für ein einziges künstlerisches Fach entscheiden kann, sind interdisziplinäre Projekte fast die einzige Möglichkeit, um die Vielfalt und das Zusammenwirken der Künste erleben und verstehen zu lernen.

Zum Verständnis von Ausdruck Expressive Handlungen wie Bewegen und Musizieren, Malen und Darstellen, Zeichnen und Spielen, Bilden und Tanzen, Bildhauen und Singen sind unterschiedliche Erscheinungsformen individuellen menschlichen Ausdrucks. Sie äußern Gefühle, Vorstellungen, Träume, Sehnsüchte, Erwartungen, Visionen, Erinnerungen und Ängste, d.h. sie bringen diese verborgene Innenwelt nach außen, in die Öffentlichkeit. Dieses ‚Äußern‘ hat zumindest zwei divergierende Erscheinungsformen (vgl. Haselbach 2001). Es kann spontan und als eine kaum bewusste oder sogar unbewusste Entladung von psycho-physischen Spannungen geschehen, es bricht förmlich aus dem Individuum hervor. Steht ihm ein künstlerisches Medium zur Verfügung, wird es sich dessen bedienen. Durch das kreative Tun scheinen zunächst Dämme einzubrechen, doch kann der manchmal chaotische, unkontrollierte Ausbruch oft zu einem Prozess der Befreiung und durch Betrachten aus der Distanz zu einem Verständnis der Hintergründe führen. Man könnte diese Form des Ausdrucks als einen autotherapeutischen Prozess bezeichnen, der kaum Mitspieler hat und meist auch kein Publikum braucht, der nur selten in einem pädagogischen Rahmen stattfindet und der von Pädagogen vor allem im Gruppenunterricht nicht leicht aufzufangen ist. Eine andere Form des ‚Ausdruck-Gebens‘ kann als ein bewusster, beabsichtigter Prozess gesehen werden, in dem ein richtiges Maß, eine richtige Form gesucht wird, um auf diese Weise jene Inhalte transportieren zu können, die mitgeteilt oder kommuniziert werden wollen. Für diesen Vorgang sind einerseits Co-Akteure und andererseits ein Publikum als von außen kommende Spiegelung der Wirkung durchaus sinnvoll und notwendig.

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Ausdrucksbedürfnis und Ausdrucksfähigkeit sind zunächst gemeinsame Voraussetzungen für jegliches Gestalten mit künstlerischen Medien. Als Begründung für die Verbindung von Tanz und Bildender Kunst muss nach Spezifischerem gesucht werden.

Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Tanz und Bildender Kunst Der sich bewegende, tanzende Mensch ist seit der Frühzeit menschlicher Kultur bis zur Gegenwart Modell und Thema bildhafter Darstellungen. Über Jahrtausende hin wurden Abbildungen von Menschen in unterschiedlichsten Materialien und Techniken gemalt, gezeichnet, in Felsen geritzt, in Holz gebrannt, aus Knochen geschnitzt, in Stein gehauen, aus Ton geformt, in Bronze gegossen, in Metallplatten geätzt, fotografiert und gefilmt. Es scheint für bildende Künstler gleichermaßen Faszination und Herausforderung gewesen zu sein, die der Zeit verhaftete, flüchtig erscheinende und ebenso rasch wieder verschwindende Bewegungsspur so zu gestalten, dass die räumliche Fixierung und der unveränderliche, objektiv gesehen statisch zu nennende Ausdruck einer Zeichnung, eines Bildes oder einer Skulptur dennoch das Wesentliche des Bewegungsflusses vermitteln kann, dass der dargestellte Moment quasi das Vorher und Nachher des Augenblicks mit einbezieht und ausschnitthaft die Dynamik der Veränderung in Raum und Zeit erahnen lässt.1 So wie die besten der bildenden Künstler im festen Material das Flüchtige gestalten und damit den Charakter ihres Materiales scheinbar überwinden, versuchen die Tänzerinnen und Tänzer im vergänglichen Material ihrer Bewegung klare, raum-körperliche Bilder zu erschaffen, Linien tanzend in den Raum zu setzen und dem Körper eine starke, erinnerbare Plastizität zu verleihen. So dass im Zuschauer nicht der Eindruck von sich verwischenden Spuren, sondern von deutlicher Bewegungsarchitektur entsteht und in Erinnerung bleibt. Auch hier wird mit den Möglichkeiten des Mediums über dessen Grenzen hinaus gearbeitet. Obwohl jede Kunstform ihr eigenes Medium und ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat, so weisen sie dennoch Gemeinsamkeiten in ihren Parametern auf. Raum und Bewegung bestimmen sowohl Tanz als auch bildende 1 | Der berühmte französische Bildhauer Auguste Rodin verlangte von einer guten Skulptur, dass man von ihr ablesen könne, was dem dargestellten Augenblick in der Bewegung vorausging und wohin er führen würde (vgl. Rodin 1983).

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Kunst. Beiden gemeinsam sind Phänomene und Vorgänge, die zu Begriffen führen wie Punkt, Linie, Fläche, Dichte, Ballung, Dreidimensionalität, Spannung, Lösung, Balance, Anordnung, Kontrast, Verteilung, Strebung, Streuung, Symmetrie, Asymmetrie, Zentrierung. Der tanzende Mensch zeichnet mit seinen Bewegungen und mit seinem Körper gerade und kurvige Linien, Schnörkel und Winkel in die Luft, seine Raumwege können als Spuren-Skizzen seines Tanzes gelten, in jedem Augenblick bildet sein Körper eine neue Skulptur, welche Raum umschließt, durchdringt oder gliedert. Noch deutlicher wird dies bei einer Gruppe von Tanzenden, die von einer Raumformation in die andere wechseln, offene oder geschlossene Gruppenskulpturen entstehen und wieder vergehen lassen und mit ihren Körpern und deren Bewegung wie mit architektonischen Elementen den Raum der Bühne gestalten. Der bildende Künstler tanzt mit seinem Stift auf dem Papier, mit dem Pinsel auf der Leinwand seine Linien und Bilder, in seinem plastischen Werk nützt er in konkreter oder abstrahierter Weise Körperliches. Der Entstehungsprozess eines bildnerischen Werkes ist zweifellos stark von der persönlichen Bewegungsdynamik seines Schöpfers geprägt, in manchen Vollendungen ist dies spürbar, manchmal sogar im Titel. Raum und Bewegung spielen in beiden Kunstformen eine fundamentale Rolle, doch treten sie durch die andersartige Einbeziehung des Phänomens der Zeit unterschiedlich in Erscheinung. Tanz für sich selbst ist, anders als die bildende Kunst, eine Kunst des Augenblicks und historisch gesehen erst seit relativ kurzer Zeit in der Form von elektronischen Aufzeichnungen authentisch zu dokumentieren und zu konservieren. Im bildnerischen Schaffensprozess prägt die Zeit zwar die Hervorbringungsphase und kann von großen Künstlern auch thematisch einbezogen werden, doch im Resultat scheint die Zeit nicht mehr zu existieren, das Werk steht vorgeblich unverändert wie außerhalb derselben. Ausnahmen bilden selbstverständlich die Werke der kinetischen Kunst. Die Betrachtenden können allerdings von sich aus einen neuen zeitlichen Prozess im Zusammenhang mit dem Werk kreieren, der im Vorgang des Schauens, in der Art, wie die Augen auf Einzelheiten verweilen oder rasch weiter gleitend das Ganze erfassen, im Nacheinander der Wahrnehmung des Ganzen und seiner Teile entsteht. So werden die Rezipienten zu Mitwirkenden.

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Pädagogisches Konzept dieses Ansatzes Dem Konzept liegen drei Einsichten zugrunde, welche prägend für diese Art der Herangehensweise sind. Die drei Bereiche beziehen sich aufeinander.

Die Einsichten Lernen aus der Leiberfahrung „Nur in der Bewegung aber erfahre ich mich als mein Leib, erfährt sich mein Leib, so erfahre ich mich. Mein Leib ist die Koinzidenz von Sein und Erkenntnis, von Subjekt und Objekt. Er ist der Ausgangspunkt und das Ende meiner Existenz.“ (Iljine 1965: 5)

Ausgestattet mit dem wunderbar vernetzten Organsystem unserer Sinne finden alle primären Welterfahrungen über unsere Sinneswahrnehmungen statt. Je sensibler die Wahrnehmung, umso tiefer und vielseitiger sind die Eindrücke, die uns lehren, unsere menschliche, natürliche und dingliche Umwelt zu verstehen. Der Leib ist auch das Archiv, in dem alle unsere psycho-physischen Erfahrungen gespeichert sind, abrufbereit, um daraus zu lernen und um sie in Handlung, Ausdruck, Gestaltung umzusetzen. Denn „nicht das Gehirn denkt, sondern der mit Haut und Gliedern erlebende Mensch als Ganzes ist es, was denkt“ (Kükelhaus 1971: 24). Malerei, Skulptur, Grafik, Bewegung und Tanz sind über unsere Sinne wahrnehmbar und bewirken körperliche, emotionale und geistige Erfahrungen. Raum, Zeit und Energie - Parameter, die auch unsere menschliche Existenz bestimmen - haben in den einzelnen Kunstgattungen unterschiedliche Erscheinungsformen. Daher kann die Stimulierung der Wahrnehmung sowohl über auditive und visuelle wie auch über taktile oder kinetische Reize erfolgen oder im Zusammenwirken von Organsystemen mehrkanalig wirken. Sensibilisierung und Differenzierung von Wahrnehmungen und das Zulassen von Reaktionen auf Wahrgenommenes ist Vorbereitung für emotionales, körperlich-technisches, soziales und geistiges Lernen und damit Basis und Ziel von ‚Lernen aus der Leiberfahrung‘.

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Lernen am Kunstwerk

Darunter wird hier vor allem die subjektive Auseinandersetzung mit exemplarischen Werken der Bildenden Kunst verstanden. Fast unnötig zu sagen, dass Lernen über ein Kunstwerk, seinen Schöpfer und dessen Zeit selbstverständlich mit einbezogen sind, aber dennoch steht nicht die Merkleistung von Fakten der Lebens- und Werkgeschichte, von analytischen Details und übergeordneten Stilmerkmalen im Vordergrund, sondern die Bereitschaft, sich auf ein Kunstwerk einzulassen, sich ihm ‚auszusetzen‘. Das bedeutet sowohl ein Zulassen von individuellen Eindrücken, Assoziationen und Emotionen, wie auch den Versuch, sich leiblich dem beinahe Konkreten (Linien, Flächen, Formen, Dynamik, Farben, Raumgestalt, Bewegung, Intensität, Balance, Ruhe, Gewicht etc.) anzunähern, eine Art ‚Identifikation‘ mit dem Werk zu suchen. Über den Weg der Empathie kann ein Kunstwerk anders erlebt werden, stärker auf die eigene Existenz des Betrachters bezogen als nur über kognitive Prozesse der Analyse und Deskription. Kandinsky scheint eine ähnliche Annäherung zu meinen, wenn er sagt „hier ist die Möglichkeit vorhanden, in das Werk zu treten, in ihm aktiv zu werden und seine Pulsierung mit allen Sinnen zu erleben“ (Kandinsky 19737: 13ff). Ist diese ‚Identifikation‘ gelungen, so kann das auch Betroffenheit auslösen. Oft berührt uns das Thema des Werks, manchmal sind es persönliche Assoziationen oder bestimmte Eigenheiten von Material oder Form, die einen Anreiz geben und eigene Versuche auslösen. Wesentlich scheint vor allem, dass es zu einer Umsetzung, zu einem Ausdruck persönlichen Erlebens kommt.

Lernen am Gestaltungsprozess

Nicht nur das Vermitteln von Eindruck, sondern auch das Ermöglichen von Ausdruck muss Ziel dieser Arbeit sein. „Ich kann mir keinen Zustand denken, der mir unerträglicher und schmerzhafter wäre, als bei lebendiger, schmerzerfüllter Seele der Fähigkeit beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen.“ (Michel de Montaigne, o.J.) „Kreative Interpretation“ (Haselbach 1991) geht vom ursprünglichen Kunstwerk aus, dabei können die davon angeregten Gestaltungen eine Nachempfindung des Originals, eine freie Ausformung des Themas, eine Fortspinnung oder Kontrastierung des Ausgangswerks sein. Auch können diese Umsetzungen der eigenen Emotionen, Reaktionen und Reflexionen das Ausdrucksmedium wechseln oder mehrere miteinander verbinden: ein

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Bild wird zur Bewegungsszene, eine Skulptur zum Tanz, Musik wird dazu kreiert oder ein Text darüber geschrieben. Die interdisziplinäre Arbeit bleibt nicht allein auf Tanz und Bildende Kunst bezogen, sie bezieht verschiedene künstlerische Ausdrucksmittel mit ein, wenn das Bedürfnis und die Notwendigkeit dazu bestehen. Die einzelnen Mitglieder oder Gruppen, die miteinander an einem speziellen Thema arbeiten, erhalten die größtmögliche künstlerische Freiheit für ihre Interpretation.

Die Ziele

Für den schulischen Bereich könnte die hier vorgestellte Arbeitsweise in Projektwochen, als Arbeitsgemeinschaft oder hin und wieder anstelle des Fachunterrichts Eingang finden. Für den außerschulischen Bereich ist sie als exemplarische Erfahrung der Begegnung von Tanz/Bewegung und Bildender Kunst über den Weg der eigenen Kreativität für alle Alters- und Zielgruppen gedacht. Auf dieser Grundlage können die folgenden Lernziele abgeleitet werden: • leibliche Erfahrung als Basis sinnlichen Wahrnehmens und kognitiven Verstehens erkennen; • sinnliche und sinnhafte Wurzeln begrifflicher Abstraktion erfassen; • Annäherung an ein Kunstwerk durch leibhafte Auseinandersetzung mit diesem erproben, dabei eigene und fremde Deutungen und Wünsche akzeptieren und respektieren sowie emotionale Reaktionen und freies Assoziieren zulassen; • Zusammenhänge zwischen Ausdrucksformen in verschiedenen Medien erkennen, vergleichen und diskutieren; • Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Bereich der bildenden Kunst und des Tanzes und daraus resultierend auch in bildhafter und tänzerisch-szenischer Gestaltung aufspüren; erkennen, dass Tanz und Bildende Kunst nicht ‚Lern-Gegenstände‘ sind, sondern dass sie vielmehr Wege und Stationen zwischen Innenwelt und Außenwelt darstellen, die Botschaften bringen und Mitteilungen ermöglichen; • für entsprechende Themen individuelle, normenunabhängige Gestaltungen finden und die dafür notwendigen Techniken erarbeiten; • die Wirkung von Kunst und eigener Kreativität auf sich selbst und auf andere Personen erfahren; • über die gegebenen Anregungen zu vertieftem Interesse und eigener künstlerischer Aktivität finden; sich unabhängig von Schule für künstlerische Ereignisse interessieren.

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Für manche anderen Ziele ist dieser Weg weniger oder gar nicht geeignet: ‚Auf Vorrat lernen‘ bestimmter tänzerischer oder bildnerischer Techniken (dieses Vorgehen ist in der Bildnerischen Erziehung, die fast immer an einem ‚Werkstück‘ arbeitet, ohnehin kaum üblich); Anhäufen von abrufbarem Detail- und Übersichtswissen aus der Tanzund Kunstgeschichte, die nicht im Zusammenhang mit dem Thema stehen; Reproduktion von vorgegebenen Beispielen.

Die Inhalte

Auch die Inhalte lassen sich in drei Kategorien gliedern:

Tänzerische und Bildnerische Grunderfahrungen

Diese Grunderfahrungen (nicht gleichzusetzen mit Grundtechniken) lassen sich unter anderem aus der experimentellen Auseinandersetzung mit Kontrasten anhand von Gegensatzpaaren, die sich auf räumliche, dynamische und qualitative Ausführungskriterien beziehen, gewinnen, z.B.: Ruhe–Bewegung, Fülle–Leere, Stabilität–Labilität, Spannung–Entspannung, Symmetrie–Asymmetrie, weit–eng, hoch–tief, kraftvoll–zart, flexibel–direkt, gleich–kontrastierend, wenig–viel, kontinuierlich–unterbrochen. Dabei handelt es sich nicht um die Vermittlung einer objektiven Technik, sondern um subjektive Umsetzungen. Sie können sowohl aus der Sensibilisierung und Bewegungsimprovisation und ihrer Übertragung ins Bildhafte, wie auch umgekehrt aus der Verkörperlichung verschiedener Charakteristika von Bildwerken und Skulpturen entwickelt werden.

„Kreative Interpretation“ (Haselbach 1991: 19)

Wie ich diesen von mir geprägten Terminus verstanden wissen möchte, beschreibt er keine verbale Deutung eines Kunstwerkes, sondern einen aktiven Handlungsprozess, bei dem durch das subjektive Erleben die persönliche Betroffenheit durch ein Kunstwerk ein Gestaltungsvorgang in Gang gesetzt wird, dessen Ergebnis durch individuelle Wahrnehmung, Assoziationen, Denken und deren Umsetzung entsteht und sich vom Original unter Um-

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ständen weit entfernt haben kann. Das originale Kunstwerk ist der Ausgangspunkt, jedoch nicht mehr das Ziel. Im Grunde verifiziert dieser pädagogische Ansatz ein Kunstverständnis, das davon ausgeht, dass die Rezipierenden aktive Teilnehmende an einem künstlerischen Wirkungsprozess sind. Nur bleibt es bei der kreativen Interpretation nicht allein bei der Wahrnehmung des Werks, sondern die durch Betrachtung des Kunstwerkes ausgelösten Gedanken, Gefühle und Assoziationen werden Inhalt einer persönlichen Gestaltung, die in einem anderen als dem ursprünglichen Medium erfolgen soll. So wird ein Bild getanzt, ein Text gemalt, eine Skulptur führt zu einem Gedicht oder eine Tanzsequenz wird vertont. Prozesse dieser Art finden sowohl in der künstlerischen Pädagogik wie auch in der realen Kunst statt, wie viele Bilder zu Geschichten, Gedichte zu Bildern, Kompositionen zu Werken der Malerei u.a.m. belegen. Es empfiehlt sich, ungegenständliche Werke auszuwählen – wobei Alter und Erfahrung der Zielgruppe bestimmend sind – da sie viel eher zu selbständigen Lösungen führen, während realistische oder gegenständliche Bilder oder Skulpturen allzu leicht zum ‚Nachstellen von lebenden Bildern‘ verleiten. Das Ziel, und das muss ausdrücklich betont werden, liegt in der kreativen Interpretation von Kunstwerken.

Freie Gestaltungen

Auslöser für solistische oder Gruppenarbeiten sind hier, im Gegensatz zu Punkt zwei, keine Außenbilder, sondern vielmehr Gedanken, Zustände, alltägliche Situationen, Texte, Objekte oder Materialien. Solche Inspirationen aus dem Alltag und der subjektiven Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden können sowohl mit bildnerischen als auch mit choreografischen Mitteln fantasiert, parodiert, reduziert, karikiert, assoziiert, dramatisiert, fortgesponnen, variiert, kontrastiert, abstrahiert oder in anderer Form dargestellt werden. Die Bewegung kann einem zufliegen oder man muss mühsam und langwierig nach Lösungen suchen, welche die eigene Vorstellung am besten nach außen bringen können. Der Prozess der Gestaltung kann so unterschiedlich sein wie die Stimuli oder die involvierten Personen.

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Realisationsaspekte des Konzepts Berührungspunkte dieses Konzepts ergeben sich zu verschiedenen schulischen Fächern wie Tanz, Gymnastik, Sport, Leibeserziehung, Kunsterziehung, Bildende Kunst, Werken, Bildnerische Erziehung, Darstellendes Spiel, Bewegungstheater oder wie immer ihre Bezeichnung im deutschsprachigen Raum auch sein mag. Trotzdem wird vermutlich deutlich, dass sich dieser interdisziplinäre Ansatz nicht ohne weiteres in den normalen Rahmen eines schulischen Unterrichts einfügen lässt. Es stellt sich die Frage, ob man hier überhaupt von Unterricht sprechen möchte, ob nicht die Bezeichnung ‚Werkstatt-Lernen‘ oder ‚Studio-Arbeit‘ Anliegen und Vorgehensweise weit besser beschreiben. Werkstatt bedeutet hier Tanzstudio oder Malatelier, Sporthalle und Bildhauerraum und bezieht sich zunächst auf die räumliche Eignung der Lokalität für die vorgesehenen Aktivitäten, dann auch auf die entsprechende Ausstattung. Wer kann/mag/soll Lernprozesse dieser Art eigentlich in Gang bringen und anleiten? Viele Kolleginnen und Kollegen werden vermutlich abwinken und sich nicht als kompetent erklären. Abgesehen von der seltenen Ideallösung, dass eine Lehrpersönlichkeit sowohl im Tanz wie auch in der Bildenden Kunst ausgebildet und praktizierend ist, bieten sich zwei Lösungen an. Eine ist solide, aufwändig und schwer zu organisieren, die andere engagiert, ein wenig abenteuerlustig und leichter umsetzbar. Doch sind in jedem Fall kreative, einfallsreiche und unkonventionelle Pädagoginnen und Pädagogen gefragt.

Teamteaching Zwei Fachkräfte, je eine aus der Bildnerischen Erziehung und eine aus der Tanzpädagogik, die sich gut verstehen und Lust haben, ein wenig mehr als normalerweise unbedingt üblich zu investieren, könnten ein ideales Team bilden. Das bedeutet: gemeinsame Vorbereitung in Ideensuche, Materialbeschaffung und Themenentwicklung; Einbringen von sich ergänzenden Erfahrungen und Know-how bei technischen Fragen aus den verschiedenen Bereichen; die Notwendigkeit, den Prozess in Reflexionsgesprächen aufzuarbeiten, die für beide Leiter sehr anregend und lehrreich sein können. Die Grenzen dieser Lehrform liegen oft beim Organisatorischen wie z.B. der Zeitplanung und/oder bei der Bezahlung.

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Allround Person Ideal wäre eine Person mit Ausbildung in beiden Bereichen. Ist dies nicht gegeben, so kann diese Aufgabe eine Herausforderung für jemanden sein, der ausgeprägtes Interesse an allgemeinen künstlerischen und kunstpädagogischen Fragen hat und über das eigene Fachgebiet hinaus auch über möglichst vielfältige Eigenerfahrungen in Techniken und Gestaltungsarbeit des jeweils anderen Bereiches verfügt. Gespräche mit Lehrerkolleginnen und/ oder Künstlern, die zur Beratung und zum Besuch der Werkstatt gebeten werden können, bringen neue Anregungen oder Unterstützung. Ein solcher Aufbruch zum herausfordernden Alleingang kann für routinemüde Pädagoginnen zum Jungbrunnen werden. Zwar kann man sich als Leiter eines solchen Projekts nicht auf Rezepte und Vorgegebenes verlassen und muss zahlreiche Eigenversuche und Erkundungen auf sich nehmen, bevor man vor die Gruppe tritt, doch sind die neuen Erfahrungen ausgesprochen anregend und bereichernd.

Lehrsituationen Schule ist keineswegs der einzige Rahmen, in dem ein solches Konzept realisiert werden kann. Je weniger organisatorische, curriculare und institutionelle Zwänge die Arbeit beeinflussen, umso produktiver wird sie sein. Im außerschulischen Bereich bieten sich Anwendungsmöglichkeiten in Musik-, Tanz- oder Jugendkunstschulen, in Heimen, Tagesstätten und Jugendzentren an, in der kirchlichen und therapeutischen Arbeit, als museumspädagogische Projekte in Galerien und Museen, bei Erwachsenen- und Seniorengruppen. Selbstverständlich auch im eigenen Kursangebot. Je nach Zielgruppe und ausgewähltem Thema bieten sich verschiedene zeitliche Organisationsstrukturen an:

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Exemplarische Animationsstunden

Einmalige Angebote können eine Gruppe für kreative Aktionen und für Begegnungen mit Kunstwerken auch außerhalb der Schule motivieren. Doch sollte dafür zumindest eine Doppelstunde, besser ein ganzer Nachmittag, zur Verfügung stehen, um Bereiche wie Sensibilisierung, Begegnung mit dem Kunstwerk, eigene kreative Tätigkeit und Reflexionsgespräche zumindest andeutungsweise durchführen zu können. Nachgespräche, bei welchen die eigenen Erfahrungen oder Zweifel ausgesprochen werden können, die aber auch über Kunst im Alltag und die Wirkung der Künste auf das eigene Leben nachdenken lassen, stellen einen wichtigen Teil solcher exemplarischer Modellveranstaltungen dar.

Unterrichtssequenzen

Diese Form erlaubt eine vielfältige Herangehensweise: vertiefte Einführung, ausgedehnte Exploration und vielseitige Ausarbeitungen in Gruppen oder durch Solisten finden hier ihren Platz. Auch kann in den einzelnen Stunden ein unterschiedlicher Schwerpunkt im Vordergrund stehen (z.B. einmal mehr Information und Werkbetrachtung, ein anderes Mal körperliche Sensibilisierung und Improvisation, ein drittes Mal choreografische Gruppenarbeit oder bildnerisches Gestalten). Hier sollte auch Zeit zur Präsentation der einzelnen Ergebnisse und zur Rückmeldung für die Ausführenden zur Verfügung gestellt werden.

Projekte

Diese dritte Möglichkeit eignet sich am besten für eine Gruppe, die durch Animationsstunden oder Unterrichtssequenzen schon Vorerfahrung hat. In einem Projekt können die Teilnehmenden ihre Interessen und Bedürfnisse selbst thematisieren und gegebenenfalls in Teilgruppen Schwerpunkte erproben. Am produktivsten ist ein mehrtägiges Projekt etwa in einem Schullandheim. Zwischenzeiten könnten für Gespräche, Literatursuche und neue Gestaltungsexperimente genützt werden. Es gibt in verschiedenen Ländern Lehrerteams, die den Schulen solche Projekte anbieten und jeweils für einige Tage mit mehreren Klassen gemeinsam arbeiten. Ziel ist eine künstlerische Arbeit mit jungen Menschen, bei der

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sich jeder und jede nach seinen individuellen Fähigkeiten an einem gemeinsamen Prozess und dem daraus erwachsenden Produkt beteiligen kann. Erlebnisse dieser Art können zu Höhepunkten eines Schuljahrs werden.

Literatur Buber, Martin (200611): Reden über Erziehung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Green Gilbert, Anne (2006): Brain Compatible Dance Education, National Dance Association, Reston: NDA/AAHPERD Haselbach, Barbara (19955): Improvisation, Bewegung, Tanz, Stuttgart: Klett. Dies. (1991): Tanz und Bildende Kunst, Stuttgart: Klett. Dies. (2001): „The Phenomenon of Expression in Aesthetic Education“, in: S. Mattila/J. Siukonen, (Hg.): Expression in Music and Dance Education, International Orff-Schulwerk Symposion, Orivesi, Finland. Iljine, Vladimir (1965): „Prolegomena“, in: Hilarion Petzold (Hg.): Psychotherapie und Körperdynamik, Verfahren psycho-physischer Bewegungsund Körpertherapie (19772), Paderborn: Junfermann, S. 5. Kandinsky, Wassili (19737): Punkt und Linie zur Fläche, Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, Bern: Benteli. Kükelhaus, Hugo (1971): „Die Phantasie des Leibes“, in: Organismus und Technik, Olten/Freiburg i.B.: Walter. Laban, Rudolf v. (1988): Die Kunst der Bewegung, Wilhelmshaven: Noetzel. Petzold, Hilarion (19912): Die neuen Kreativitätstheorien, Paderborn: Junfermann. Rodin, Auguste (1983): Rodin on Art and Artists, Conversation with Paul Gsell, New York.

Kultursoziologische und politische Zugänge zum Tanz

Tanz als Aufführung des Sozialen Zum Verhältnis von Gesellschaftsordnung und tänzerischer Praxis Gabriele Klein

Ludwig XIV. tanzte in den Balletten am französischen Hofe die Sonne und setzte sich damit symbolisch in den Mittelpunkt der Welt. Die Aufklärung – und hier vor allem die deutschen Aufklärer – favorisierten den Walzer, der als symbolisches bürgerliches Gegenstück zum höfischen Tanz und als nationale Antwort auf das französische Ballett wahrgenommen wurde. Tänze wie Charleston, Shimmy, Rock’n’Roll oder HipHop, allesamt Tänze aus der Kultur der ‚African-Americans‘ galten dann im 20. Jahrhundert wiederum als Aufruhr gegen den mittlerweile konventionalisierten Gesellschaftstanz. Aber nicht nur in den sog. Gesellschaftstänzen, auch im Kunsttanz wird das Soziale und Politische des Tanzes anschaulich. Wenn in Giselle eine Geschichte einer Liebe erzählt wird, die aus standespolitischen Gründen scheitert, da der geliebte Mann eine standesgemäße Frau erwählt und Giselle sich deshalb auch das Leben nimmt, dann steht dieses Ballett sowohl für die Sozial- wie auch für die Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft, ähnlich wie in Schwanensee mit Odile und Odette die für patriarchale Gesellschaften charakteristische Spaltung zwischen ‚weißer‘ und ‚roter‘ Frau, zwischen Heiliger und Hure thematisiert wird. Wenn im 20. Jahrhundert beispielsweise in den ‚kommunistischen Tänzen‘ eines Jean Weidt oder im Tanztheater eines Johann Kresnik politische Missstände an den Pranger gestellt werden, wenn bei Constanza Macras Lebensstile von marginalisier-

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ten Jugendlichen, bei Alain Platel alltägliche Nachbarschaftsverhältnisse, bei Sasha Waltz’ Stück Allee der Kosmonauten Lebensstile in Plattenbausiedlungen, bei DV8s Enter Achilles Männlichkeitskult und –riten, bei Pina Bausch der Objektcharakter des Körpers zum Thema werden, dann wird die Bezugnahme auf soziale Strukturen und auf politische Ordnungen offensichtlich. Die Liste von choreografischen Beispielen einer Thematisierung von gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Situationen ließe sich beliebig erweitern. Aber es wäre verkürzt, nur in einer thematischen Umsetzung das Soziale und Politische in Tanz und Choreografie zu verorten. Vielmehr lassen sich aus den Tänzen selbst, ihren Körperkonzepten, Bewegungstechniken und aus den choreografischen Ordnungen und Figurationen soziale und politische Dimensionen herauslesen. So steht beispielsweise die ‚Weltsprache‘ Ballett für ein (auch politisches) Konzept eines zentral organisierten Staats, der ein Muster von Zentrum und Peripherie, klarer Geometrie und Raumordnung vorsieht (vgl. Klein 2010: 81-90; Foster 2009). Wie der Tanz – in seinen Bewegungsmustern, in Gestik und Mimik, in seinem Körperkonzept, in rhythmischen Strukturen – ‚Gesellschaftliches‘ spiegelt, reproduziert, repräsentiert, aber auch im Akt der Ausführung zugleich aktualisiert und spürbar macht,1 ist die Choreografie immer sozial, insofern als sie prinzipiell Interaktionen (mit Objekten und Personen) beschreibt sowie die räumlichen Dimensionen des Sozialen anschaulich macht. Die tänzerische Choreografie, so könnte man sagen, ist ein Sonderfall der Choreografie des Sozialen, insofern als sie das Soziale ästhetisch aufbereitet (vgl. Klein 1994). Dieser Text thematisiert das ‚Gesellschaftliche‘, definiert bei Karl Marx als die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen Menschen, in Tanz und Choreografie. Bei einem so weit gesteckten Thema sind im Rahmen eines verhältnismäßig kurzen Textes vielfältige Beschränkungen nötig: Der Text konzentriert sich auf die Geschichte des Tanzes in Europa. Um das Verhältnis von Gesellschaftsordnung und Tanz bzw. Choreografie zu beleuchten, schlägt er zudem eine sozialhistorische Perspektive ein mit dem Ziel, die historische Genese vom ‚Tanz der Gesellschaft‘ über den ‚Gesellschaftstanz‘ bis zu zeitgenössischen Formen populärer Tänze exemplarisch nachzuzeichnen und dabei – soweit es der Rahmen eines Textes erlaubt - sozialtheoretische Verortungen zu skizzieren. Anhand von drei verschiedenen Gesellschaftsformationen, der höfischen Gesellschaft, der bürgerlichen Gesellschaft und der modernen Gesellschaft soll aufgezeigt werden, wie sich gesellschaftliche Strukturkategorien (wie Klasse, Geschlecht) und gesellschaftliche Prozesse 1 | S. dazu den Beitrag von J. Roselt in diesem Band.

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(z.B. soziale Ausdifferenzierung, Rationalisierung und Standardisierung, Individualisierung und Dezentralisierung, Demokratisierung und Beschleunigung) im Tanz äußern und wie schließlich in und über Tanz und Choreografie in den jeweiligen Gesellschaften In- und Exklusion erfolgen.

Tanz als Repräsentationsmedium höfischer Macht Die ersten Ansätze dessen, was wir ‚Gesellschaftstanz‘ nennen, kristallisierten sich schon im 12. Jahrhundert heraus, in einer Zeit, als die gesellschaftlichen Stände Adel, Klerus und Bauern noch scharf voneinander getrennt waren und das Bürgertum sich in den aufblühenden Städten als neue gesellschaftliche Klasse zu etablieren begann (vgl. Klein 2009: 25-30). Seitdem fing der Adel an, sich eine weltliche Kultur zu schaffen, in der die Tänze ihre kultisch-rituellen Funktionen allmählich verloren. Die Sprache des Tanzes diente ihnen zur symbolischen Abgrenzung gegenüber dem wilden, ungezügelten Reigentanz der Bauern. Aus dem Minnesang geht beispielsweise hervor, dass vor allem der ungezügelte Umgang der Geschlechter im ‚Tanz des Volkes‘ als unehrenhaft und unschicklich gebrandmarkt wurde. Die standesspezifischen Körper(re)aktionen auf gesellschaftliche Ereignisse fanden im ausgehenden Mittelalter ihren deutlichsten Ausdruck. Während seit Mitte des 14. Jahrhunderts in den bäuerlichen Schichten eine Tanzwut entbrannte, deren Tanzformen als Veitstanz, Tarantella oder Danse macabre bekannt geworden sind, begannen die städtisch-bürgerlichen Schichten sich auch im Tanz zu disziplinieren. Um sich sozial nach ‚unten‘ abzugrenzen, verweigerten sie den bäuerlichen Schichten nicht nur der Zugang zu den ersten städtischen Tanzhäusern, sondern begannen zugleich, die Tanzkultur des Adels zu adaptieren. Zu dieser Zeit waren die adeligen Kreise schon längst dabei, den ‚gemessenen Schritt‘ (vgl. Zur Lippe 1974) einzuüben, indem sie ihre Tänze standardisierten und den Umgang der Geschlechter im Tanz stilisierten. Im Zuge dieser klassenspezifischen Differenzierung tänzerischer Sprachen vollzog sich die allmähliche Trennung des geselligen Tanzes in ‚Volkstanz‘ und ‚Gesellschaftstanz‘. Wenn der Zivilisationstheoretiker Norbert Elias (vgl. 1997) konstatiert, dass kulturelle Konventionen von den ‚oberen‘ zu den ‚unteren‘ Gesellschaftsschichten diffundieren, so lässt sich in der Tanzgeschichte doch auch ein gegenläufiger Prozess beobachten: Im weiteren Verlauf der Tanzgeschichte erneuerten sich die Gesellschaftstänze immer wieder durch die Tanzkultur der ‚unteren‘ Ge-

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sellschaftsschichten und, seit Ende des 19. Jahrhunderts, durch die Tänze anderer Kulturen, allerdings ohne dass dieser kulturellen Inanspruchnahme eine politische Integration der marginalisierten Gruppen und Klassen gefolgt wäre. Mit dem Beginn der Renaissance begann der Tanz sich für den Adel als eine Frage von guten Manieren zu gestalten (vgl. Braun/Gugerli 1993). Die Festzeremonielle am englischen Hofe von Elisabeth I. im 16. Jahrhundert können als historischer Ausgangspunkt des ‚Tanzes der Gesellschaft‘ angesehen werden. Viele ihrer Zeitgenossen, Gesandte und Adelige, beschrieben mit großer Bewunderung die tänzerischen Fähigkeiten der englischen Königin. Demnach liebte sie es, im Tanz zu brillieren und ihre Verehrer und Heiratskandidaten bis ins hohe Alter mit ihren virtuosen Tanzkünsten zu bezaubern. Tanz war für sie aber nicht nur ein Mittel der Selbstdarstellung, sondern auch ein Bestandteil des ‚polite learning‘. Als ‚ideal gentleman‘ oder ‚ideal gentlewoman‘ galten zu ihrer Zeit vor allem diejenigen Herrschaften, die zu tanzen verstanden. Tanzbücher, Tanzlehrer und Tanzschulen gehörten neben Kenntnissen in Dichtung, Philosophie, Kosmologie, Musik und ritterlichen Exerzitien zu den wesentlichen Erziehungsinstrumenten. Dies war gesellschaftlich notwendig, weil sich schon zu dieser Zeit der Adel zunehmend auf den königlichen Hof ausrichtete und dessen spezifische Lebensgewohnheiten, Sitten und Geselligkeitsformen kultivierte. All diese Formen repräsentativer Öffentlichkeit trennten neben politischen und ökonomischen Grenzen den Hof und das adelige Umfeld immer stärker von der Kultur des sich in den wachsenden Städten etablierenden Bürgertums und des Bauernstands ab. Die unterschiedlichen Tanzstile der ‚höheren‘ gesellschaftlichen Stände galten als geeignetes Mittel, um die gesellschaftlichen Macht- und Ordnungsprinzipien symbolisch zu markieren. Gesellschaftliche Differenz, die immer an Macht und Hierarchie gebunden und mit Strategien sozialer In- und Exklusion verbunden ist, ließ sich über den Tanz in die Körper ‚einschreiben‘. Diese Praktiken der Verkörperung und Habitualisierung (vgl. Bourdieu 2008) sozialer Ordnung durch Tanz funktionierten als Strategien einer ‚Mikrophysik der Macht‘ (vgl. Foucault 2008) umso wirksamer, als diese im Akt des Tanzens als Lust und Begehren (vgl. Deleuze 1996) wahrgenommen wurden. Die soziale Funktion der ‚Körperdisziplinierungsinstanz‘ Tanz diente aber in der höfischen Kultur nicht nur nach ‚Innen‘ der ‚Kultivierung der Höflinge‘, sondern zugleich auch der Außenrepräsentation eines stabilen Staatsgefüges und seiner Machtträger. Die Vermittlung des Bilds einer

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stabilen gesellschaftlichen Ordnung mit einem eindeutigen souveränen Machtzentrum war politisch umso wichtiger, seitdem der Machtanspruch Elisabeth I. durch eine beunruhigende gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik gefährdet war. Während die anglikanische Kirche vehement gegen ‚häretische‘ Bewegungen vom Katholizismus bis zum extremen Puritanismus zu kämpfen hatte, die Wirtschaft durch die sog. Preisrevolution immer instabiler wurde, breite Volksschichten immer mehr verarmten und Bauernaufstände Massenhinrichtungen zur Folge hatten, während das wirtschaftliche Potential des städtischen Bürgertums zunehmend stärker wurde, demonstrierte der englische Hof über die tanzenden Körper seine politische Potenz.

Herrschaftssymbolik als politische Strategie Während die Elisabethanische Ära die sozialpolitische Umbruchsituation des frühneuzeitlichen Staats im Sinne einer Gratwanderung zwischen traditioneller und rationaler Herrschaftslegitimierung markierte, beruhte das absolutistische Frankreich Ludwigs XIV. ein Jahrhundert später auf einer kaum vergleichbaren rationalen und charismatischen Regierungs- und Verwaltungstechnik. Die Monopolisierung militärischer und fiskalischer Macht, die politische Entmachtung des Adels und des Klerus und die Zentralisierung des kulturellen Diskurses durch die Einrichtung königlicher Akademien und Kulturinstitute veränderten die Strategien der Herrschaftslegitimierung. Norbert Elias (vgl. 1997) hat in seiner Theorie der Zivilisation heraus gearbeitet, dass die Höflinge durch ihre wirtschaftliche und politische Entmachtung gezwungen waren, das durch die königlichen Akademien reglementierte, kodifizierte, normierte und verwissenschaftlichte kulturelle Wissen zu erwerben und zu einem Bestandteil ihres soziokulturellen Habitus zu machen. Auf diesem Wege der Verinnerlichung der von außen gesetzten Normen kam dem Tanz eine wichtige Bedeutung zu. Wie sehr das Ballett ein Medium politischer Herrschaftssymbolik war, demonstrierte sich im ballet de cour, einem politisch motivierten Tanzspiel, das der Selbstdarstellung des absoluten Herrschers und der idealtypischen Wiedergabe des absolutistischen Herrschaftskonzepts diente. Die von professionellen Tanzmeistern entworfenen Choreografien waren so aufgebaut, dass die mittanzenden Höflinge den ihnen zugewiesenen sozialen Status am Hofe über ihre Rolle in den Balletten erfuhren und im Tanz einer höfischen Öffentlichkeit demonstrierten. 1653 trat der damals erst fünfzehn-

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jährige Ludwig im Ballet de la nuit auf. In ein fabulöses Kostüm gehüllt, mit vergoldeter Haartracht und einer Strahlenmaske, die die aufgehende Sonne symbolisierte, demonstrierte schon diese Rolle sehr deutlich den Anspruch des absolutistischen Herrschers, der sich im Bild der Sonne im Sinne einer göttlichen Autorität mythologisieren ließ. Er verstand sich weder als ‚Primus inter pares‘, noch als das souveräne Machtzentrum einer Gesellschaft, sondern als Mittelpunkt der Natur und des Kosmos. In diesem Sinne sollten die äußere Natur und das gesellschaftliche Gefüge zentral auf ihn ausgerichtet sein: die Choreografien waren ebenso nach den Prinzipien der Zentralität und Geometrie gestaltet wie die geordnete Natur der Gartenanlagen und die Architektur des Schlosses von Versailles. Die Ballette als repräsentative Medien der Herrschaftslegitimierung verloren nicht an Wirksamkeit, als sie von professionellen Tänzern getanzt wurden. Diese durch die Einrichtung der Academié de danse royale im Jahre 1661 verstärkte Entwicklung leitete langfristig die Abtrennung des professionalisierten Kunsttanzes vom ‚Tanz der Gesellschaft‘ ein. Die Prinzipien der absolutistischen Herrschaftssymbolik schlugen sich aber nicht nur im choreografischen Regelsystem nieder, sondern griffen auch in die Mikroökonomie der Körperbewegungen ein. Dies lässt sich an den bekanntesten Tänzen des französischen Absolutismus veranschaulichen, der Courante und dem Menuett, die im Wesentlichen das Geschehen auf den fast alle zwei Tage stattfindenden Hofbällen prägten. Die Courante, zur Zeit Elisabeths I. noch eine Art gesprungener Lauf, entwickelte sich unter Ludwig XIV. zu einem geometrisch abgezirkelten, in vollendeter höfischer Gemessenheit ausgeführten Repräsentationstanz. Eine ähnliche Stilisierung der Bewegungssprache erfuhr das Menuett, dessen komplizierte Bewegungssprache einem äußerst genauen Reglement unterworfen wurde, das durch die choreografischen Anweisungen und die vorgesehenen komplexen Variationsmöglichkeiten noch komplizierter wurde und von daher eine jahrelange konstante Übung erforderte. Mehr als dreißig Jahre blieb das Menuett am Hofe Ludwigs XIV. der vornehmste Tanz. Erst zur Wende zum 18. Jahrhundert formierte sich mit der zweiten höfischen Generation eine politische Opposition, die auch im Tanz ihren körperlichen Ausdruck fand. Gegen das stilisierte Menuett und das enge Korsett des höfischen Tanzzeremoniells setzten sie den Contre-Danse, der weitgehend egalitärer war. Der Contre-Danse brach mit der strengen choreografischen Hierarchie von Zentrum und Peripherie und achsensymmetrischen Ausrichtung früherer Bälle: mehrere Paare tanzten gleichzeitig in Kreisen und wechselnden Positionen umeinander. Obwohl dieser infor-

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mellere Tanz das Brüchigwerden der strengen absolutistischen Ordnung markierte, sollte das kulturelle Muster des französischen Absolutismus für alle europäischen Höfe im 18. Jahrhundert Vorbildcharakter haben. Noch Wilhelm II. versuchte Ende des 19. Jahrhunderts erfolglos, den Berliner Hoffesten eine Renaissance des Menuetts zu verordnen und den mittlerweile hoffähigen Tanz der bürgerlichen Revolution, den Walzer, bei offiziellen Angelegenheiten zu verbieten.

Vom höfischen ‚Tanz der Gesellschaft‘ zum bürgerlichen ,Gesellschaftstanz‘ Wenn auch das Eindringen volkstänzerischer Elemente in den ‚Tanz der Gesellschaft‘ das Brüchigwerden der traditionellen Standesschranken ankündigte, sollte es noch knapp ein Jahrhundert dauern, bis das Gedankengut der Aufklärung mit der Französischen Revolution und der in England einsetzenden Industrialisierung den europäischen Nationen neue wirtschaftliche, politische und kulturelle Ordnungen brachte. Sozialer Träger dieser Umbrüche war das Bürgertum, das aufgrund seiner starken wirtschaftlichen Machtstellung im 18. Jahrhundert auch politische Ansprüche anmeldete. Hatte sich das gehobene Bürgertum noch im 17. Jahrhundert darum bemüht, über die Adaption des höfischen Sitten- und Moralkodex Aufnahme in den Adel zu finden, begann die Aufklärung den höfischen Manierenvorschriften einen neuen Begriff von Bildung und Kultur entgegenzusetzen, der auf dem entscheidenden Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, der Vernunft, beruhte. Der Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung fand in der Tanzkultur seinen Niederschlag lange bevor diese sich politisch realisierte. Im Durchbruch des Walzers, der bis heute der Inbegriff bürgerlicher Tanzkultur in Europa geblieben ist, fanden die Parolen der Französischen Revolution ‚Liberté, Égalité, Fraternité‘ ihren körperlichen Ausdruck (vgl. Klein 1990: 197-215). Beim Walzen fehlten Vorgaben der Geometrie, Symmetrie, Hierarchie, Choreografie und Gebärdensprache. Die Paare, beliebig in der Anzahl, tanzten individualisiert-egalitär. Ihr Bewegungsverhalten orientierte sich dabei nicht mehr an komplizierten Körperhaltungen, Arm- und Fußpositionen, sondern bestand aus freien, schnellen Kreisbewegungen. Den Beschreibungen namhafter Zeitgenossen wie Goethe, Schiller und Rahel Varnhagen zufolge rief die Geschwindigkeit der wirbelnden Drehungen bei den auf sich selbst bezogenen Paaren einen faszinierenden,

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rauschhaften Taumel hervor. Wenn auch die Dynamik den sich verändernden gesellschaftlichen Umgang mit Raum und Zeit in Richtung einer Beschleunigung, Linearisierung und Ökonomisierung auf der Ebene des Körperlichen andeutete, befürchteten Tanzlehrer in diesem körperlichen Signal doch eher eine Gefahr für das neue bürgerliche Ideal des vernunftgeleiteten (männlichen) Individuums. Der Walzer bildete als ‚Deutschtanzen‘ zunächst einen nationalen Gegensatz zu den französischen höfischen Tänzen und den englischen Contre-Danses. Aber schon ein Jahrzehnt nach der französischen Revolution erfolgte sein internationaler und sozialer Durchbruch. Als körperliche Metapher bürgerlicher Selbstfindung und Selbstdarstellung ergriff die Lust des Walzens nun auch die traditionellen Machteliten, die dem berauschenden Sinnentaumel des Walzens trotz einer Vielzahl offizieller Verbote nicht zu widerstehen vermochten. Der Walzer wurde hoffähig. Seine Anerkennung markiert nicht nur den Machtverlust traditioneller Eliten, sondern auch die Verbreitung und Verankerung der neuen bürgerlichen Weltsicht und seiner im bürgerlichen Selbstverständnis als natürlich empfundenen Körpererfahrung weit über die soziale Gruppe des Bürgertums hinaus. Während der Walzer um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert noch als Chiffre für den Taumel aller europäischen Gesellschaften in die bürgerliche Lebenswelt und den entsprechenden soziokulturellen Habitus diente, begann das Bürgertum im 19. Jahrhundert mit Hilfe der raschen Verbreitung bürgerlicher Manierenbücher auch seine Körper-, Bewegungs- und Tanzkultur zu zivilisieren und zu standardisieren. Dem Walzer wurde mit der eindeutigen Verteilung von Führen und Folgen das bürgerlich-patriarchale Prinzip heteronormativer Geschlechterordnung zugrunde gelegt, seine Dynamik der biedermeierlichen Konvention angepasst. Als Ausdruck bürgerlicher Konvention hat er sich bis heute unbestritten auf den bürgerlichen Tanzanlässen gehalten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekommt er Konkurrenz von den neuen, zumeist afroamerikanischer Tradition entspringenden Modetänzen.

Die Tanzmoderne Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzogen sich mit Industrialisierung, Imperialismus und einer die ökonomischen Veränderungen begleitenden umfassenden Kulturkrise gesellschaftliche Transformationen in Europa, die ihren militärischen Ausdruck im Ersten Weltkrieg fanden.

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Populäre Tänze Mit Beginn des 20. Jahrhunderts stammen die populären Tänze aus urbanen Räumen. Ob Tango aus Buenos Aires, Samba aus Rio de Janeiro, Punk aus London, Techno aus Detroit, House aus Chicago, Love-Parade aus Berlin, HipHop aus New York – moderne populäre Tanzkulturen entstammen urbanen Metropolen, den Knotenpunkten im Netzwerk von Internationalisierung und Regionalisierung, von Globalisierung und Lokalisierung. Die europäische Tanzkultur der Moderne ist als ein verzweigtes, kulturell mehrfach kodiertes Rhizom (vgl. Deleuze/Guattari 1977) darstellbar, als ein verästelter, wuchernder Busch ohne eindeutige Genealogie. Die Tänze der Moderne selbst sind kulturelle Hybride, die über viele Jahrhunderte seit der Entdeckung der Kontinente weltweitem Warenaustausch und Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus, Globalisierung und Migration gewachsen sind. In ihnen mischen sich die Körper- und Bewegungstechniken verschiedener Kulturen zu einem Stilmix, der sich in spezifischer Weise – entsprechend den kulturellen Praktiken an dem jeweiligen Ort und den lebensweltlichen Mustern der Akteure – lokalisiert und hier eine ‚andere‘ körperliche Erfahrung in der Außeralltäglichkeit des Tanzraums erlaubt. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts beherrschten mit Quadrillen, Mazurkas, Polonaisen und vor allem dem Walzer die traditionellen europäischen Gesellschaftstänze die Tanzböden der bürgerlichen Gesellschaft. Aber bereits unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg schlugen sich die Folgen von Imperialismus und Kolonialismus und die transatlantische Verflechtung vor allem mit den USA und Lateinamerika in der Tanzkultur nieder. Boston, eine Art amerikanischer Walzer, One- und Twostep, im Zweivierteltakt halb chassierend, halb schleifend getanzt, und der Cakewalk, ein von schwarzen Sklaven erfundener Tanz, der die Kultur der Weissen ironisierte, bescherten der europäischen Tanzkultur noch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den ersten Schub einer Amerikanisierung (vgl. Eichstedt/Polster 1985). Seitdem verbreiteten sich die hybriden tanzkulturellen Praktiken rasant in den urbanen Metropolen Europas. Mit dem neuen Mittelstand entfaltete sich in den Städten die vom etablierten städtischen Bürgertum verachtete ‚Kultur der Massen‘ und sorgte mit ihren neuen Etablissements, den Revuetheatern, Varietés, Lichtspielhäusern und ‚Pläsierkasernen‘ dafür, dass das populäre Tanzvergnügen als ‚cultural performances‘ (vgl. Singer 1959) zum Bestandteil der modernen Stadtkultur und zugleich zum Symbol sozialer Differenz wurde. Wie die Tanzmusik und mit ihr die vielen, in großen Städten ansässigen Tanzorchester und Tanzkapellen, wurde Tanz zum

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Symbol von Modernität, von Interkulturalität, und das hieß vor allem, von Migration und kultureller Vielfalt. Tanzen war wie das Reisen in eine fremde Welt: Ob beispielsweise Tango, Rumba, Charleston oder Shimmy von den 1910er bis 1930er Jahren, Swing in den 1940ern, in den 1950ern Rock’n’Roll, in den 1970ern Disco und Pogo, seit den 1980ern Lambada, Mambo, Salsa oder Breakdance, in den 1990ern Techno - all diese Tänze waren und sind für den weißen Europäer ein Spiel mit dem ‚Anderen‘: mit einer fremden Körper- und Bewegungspraxis, mit unbekannten Geschlechtercodes, mit unvertrauten Gesten und andersartigen Bewegungsrhythmen. So beispielsweise der argentinische Tango (vgl. Savigliano 1995; Klein 2009), der dem Unterschichtsmilieu der Vorstädte von Buenos Aires entstammte und schon um 1910 in den exklusiven Vergnügungslokalen der europäischen Metropolen Fuß fasste. Trotz der Domestizierung, die der Tango durch die Standardisierung und Stilisierung seiner Bewegungssprache schon bei seiner Ankunft in Europa erfahren hatte, behielt er den Hauch des Exotischen, Verruchten und Erotischen. Die für die zivilisierten Europäer obszön wirkende Körpersprache und laszive Erotik der Paarfiguration des Tango waren dafür genauso verantwortlich, wie die Orte der Beau- und Demimonde, an denen das Tangofieber ausbrach und sich am Vorabend des ersten Weltkriegs noch rasant steigerte. Der erste Weltkrieg wälzte nicht nur die politischen und kulturellen Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent um, sondern sorgte für eine Verstärkung der wirtschaftspolitischen Orientierungen an den USA und den ökonomisch gefestigten Staaten Lateinamerikas. Der steigenden Bedeutung dieser Länder als wachstumsträchtiger Wirtschaftszone und attraktivem Auswanderungsziel, entsprach eine Inflation lateinamerikanischer Tänze auf dem durch die neu entstehende Freizeitkultur und die sich etablierende Kulturindustrie desorientierten europäischen Kulturmarkt. Auch die neuen transatlantischen Tänze brachen mit den Traditionen europäischer Körper- und Bewegungskultur. Wegweisend für diese Erneuerungen sind in den ‚Roaring Twenties‘ aber nicht mehr so sehr die Vorlieben der tanzenden Kosmopoliten, sondern die Vergnügungsbedürfnisse der neuen Mittelschicht der Angestellten. Schon kurz nach Kriegsende sorgte der Shimmy mit seinen ruckartigen Schüttelbewegungen für Furore. Angespornt von synkopierten, jazzartigen Ragtimerhythmen schienen die Europäer mit diesem Tanz die bohrenden Kriegserinnerungen aus ihren Körpern schütteln zu wollen. Ähnlich dynamisiert wurde der mit dem Shimmy verwandte Foxtrott, der mittlerweile zu einem gemütlichen Tanzstundenschleicher degeneriert war. Seine Amerika-

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nisierung erfolgte über die Verwandlung zu einem temporeicheren QuickStep. Zum bedeutsamsten Marktführer der ‚Roaring Twenties‘ avancierte aber der Charleston. Auch er entstammte der Tanzkultur der schwarzen amerikanischen Bevölkerung und war zunächst ein ganzkörperlicher, ruckartiger Schütteltanz, der, transformiert in das europäische Körperkonzept, das einen fixierten Torso vorsah, hier mit seinen wilden ‚Side-Kicks‘ bekannt wurde. Shimmy und Charleston waren die ersten ‚Pelvis-Tänze‘, die die europäische Tanzkörpertradition revolutionierten, die bislang nur die Bewegungen der Körperextremitäten bei gleichzeitiger Fixierung des Torsos kannte. Während das Körperkonzept der Ausdruckstanzbewegung ein Körperzentrum vorsah und dieses in den Solarplexus verlegte, favorisierten die neuen Gesellschaftstänze die Polyzentrik und Polymetrik des Jazz – und damit eine Demokratisierung und Enthierarchisierung des Körperkonzepts. Aber nicht nur der latein- und afroamerikanische Einfluss auf den europäischen Tanz und seine Verbindung zu der neuen Tanzmusik des Jazz revolutionierten den europäischen Gesellschaftstanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine weitere Neuerung war die medientechnisch-kommerzielle Instrumentalisierung des Tanzes. Durch die Erfindung von Radio und Grammophon wurde die Tanzmusik beliebig reproduzierbar und kommerzialisierbar und unabhängig von ‚Live-Musik‘. Die Tanzräume konnten sich so in die privaten Wohnräume verlagern; das Tanzen erfuhr einen qualitativ neuen Schub in Richtung einer Privatisierung. Mit dem Übergang zu Massenproduktion und Massenkonsum verringerte sich auch die Lebenszeit der tänzerischen Modewellen. Schon zu Beginn der 1930er Jahre entwickelte sich der aus afro-kubanischer Tradition stammende Rumba zum begehrtesten Modetanz. Dessen synkopenreiche Rhythmik markierte einen weiteren Schritt in Richtung einer Individualisierung der Tänzer. Wie beim Shimmy und Charleston stand hier nicht mehr das einzelne Paar, das gemeinsam den Raum im Tanz überwindet, im Mittelpunkt, sondern das einzelne Individuum, das mit ausgeprägten Hüft- und Beckenbewegungen in Distanz zum Partner am Platz tanzte. Hatte schon der erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt in das kulturelle Milieu Europas zur Folge, wurde der ‚american way of life‘ nach dem zweiten Weltkrieg zum konkurrenzlosen Orientierungsmodell. Während Faschismus und Krieg die europäische Kunst-Avantgarde Ende der 1930er Jahre zwangen, nach Übersee auszuwandern, erreichte der Swing eines Benny Goodman oder Glenn Miller noch vor den amerikanischen Truppen den

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europäischen Boden. Die ‚Swing-Tänze‘ Boogie-Woogie, Jitterbug und Jive erhitzten dann bis weit in die 1950er Jahre die Gemüter sowohl der Tanzlustigen als auch der Ordnungshüter. Den endgültigen Siegeszug der ‚Wilden Tänze‘ in den beiden Jahrzehnten der restaurativen Nachkriegsära trat dann Ende der 1950er Jahre der Rock’n’Roll an. Bill Haley’s Rock around the clock entsprach den körperlichen Bedürfnissen einer aufbegehrenden, jungen Nachkriegsgeneration. Artistisch, waghalsig und schwindelerregend, jegliche Konvention europäischer Tanztradition hinter sich lassend, avancierte der Rock’n’Roll zum körperlichen Ausdruck eines Protests gegen restaurative gesellschaftliche Tendenzen, die im Tanz schon längst ihren Ausdruck in einer Wiederbelebung der Tanzschulen als einem Ort des körperlichen Erlernens bürgerlicher Konventionen gefunden hatten. Vollzog sich mit der ersten Welle der Amerikanisierung in den 1920er Jahren eine Demokratisierung der Tanzkultur und eine Individualisierung der Tänzer, kündigte sich mit dem Rock’n’Roll die massive kollektive Protestbewegung der Jungen gegen ihre Elterngeneration in den 1960er Jahren an. Dennoch erlitt der Rock’n’Roll das gleiche Schicksal wie alle früheren Modetänze. Im Zuge der reaktiven Politik der Tanzlehrerverbände wurde auch er standardisiert. Als körperlich reglementierter Tanz fand er Eingang in das Grundschulprogramm gesellschaftstänzerischer Erziehung. Die Beattänze der 1960er Jahre waren gegenüber ihrem Vorläufer nur ein sanfter Abklatsch. Erst in den 1970er Jahren vollzog sich ein qualitativ neuer Schub in der Geschichte des Gesellschaftstanzes. Hatten es die Film- und Schallplattenkonzerne bei allen Modetänzen dieses Jahrhunderts geschafft, ihre geschäftlichen Interessen zu wahren, gelang es ihnen im Zuge einer konservativen Restabilisierung Mitte der 1970er Jahre, mit der Discowelle den mittlerweile individualisierten Konsumenten zu vermarkten. Die Discowelle war von Anfang an nicht nur apolitisch und restlos kommerzialisiert, sondern sie kultivierte auch die Idee des autonomen, einsamen, in sozialer Unverbindlichkeit existierenden Individuums. Der maschinelle Grundrhythmus der Discomusik ergriff zwar den Organismus, das Tanzen selbst blieb aber sozial und zeitlich unverbindlich. Punkmusik und Pogotanz der 1970er Jahre machten die soziale Situation marginalisierter Jugendlicher und die Isolation des Einzelnen in einer immer abstrakter werdenden Gesellschaft wiederum zum Gegenstand ihres Protests. Techno als ‚community-dance‘ einer posttraditionalen Gemeinschaft (vgl. Klein 2004) und HipHop als Ausdruck eruptiver Erfahrung postindustriellen Umbruchs (vgl. Klein/Fried-

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rich 2008) knüpften daran an und inszenierten neue, posttraditionale Formen von Vergemeinschaftung (vgl. Hitzler u.a. 2008).

Künstlerischer Tanz Wie gesellschaftliche Erfahrungen in populären Tänzen eruptiv zeigten, wurde es zum Thema der Tanzkunst der Moderne, die Fragilität des modernen Subjekts am Körper sichtbar zu machen und zu reflektieren. Tanz ist das Medium, das die gesellschaftliche Problematik der modernen Gesellschaft direkt am Körper stellt, und genau hierin demonstriert sich die spezifische Form der Gesellschaftskritik des künstlerischen Tanzes, spezifisch sowohl in Bezug auf andere Künste wie auch hinsichtlich des populären Tanzes. Die Thematisierung des Mediums Körper, seiner Sprache und Technik sowie der Interaktion der Körper miteinander in der Choreografie provozierte das Reflexivwerden des Tanzes, das, im Sinne einer Infragestellung von Körperund Bewegungstraditionen, von Körperkonzepten und choreografischen Ordnungen zu einem der zentralen Kennzeichen des Tanzes im 20. und frühen 21. Jahrhundert wurde. Der künstlerische Tanz reflektierte und ästhetisierte die Problematik der gesellschaftlichen Moderne sowohl epochal wie normativ: So liest sich der Beitrag des klassischen Tanzes zur Tanzmoderne weniger als ein epochaler Einschnitt, sondern eher als ein permanent fortschreitender Prozess der Modernisierung. Dieser Prozess begann mit Nijinsky und den Balletts Russes, führte über Vertreter des modernen Balletts wie Balanchine, Cranko, van Manen und Neumeier bis hin zu William Forsythe. Dieser Strang der Tanzmoderne definiert sich nicht in Abgrenzung zur Tradition, sondern als ein Erneuerungsprozess derselben. Modernisierung lässt sich hier als ein Vorgang beschreiben, der von der Symbolisierung des Körpers als stilisierte Natur und der Entsubjektivierung des Tänzers im klassischen Ballett zu einer Reflexion und Neudefinition eines abstrakten Tanzkörpers und des Tänzersubjekts als Kunstfigur führt. In Hinblick auf das Körperkonzept stellt sich Modernisierung dar als ein beständiger Prozess der Entstrukturierung, der von der Stabilisierung des Torsos und der Zentralisierung der Körperachsen im klassischen Tanz über deren Destabilisierung und Flexibilisierung im modernen Ballett bis zu einer Dezentralisierung der Zentralachsen und einer Pluralisierung der Körperzentren führt. Im Unterschied zu diesem beständigen an Tradition gebundenen und reflektierenden Modernisierungsprozess im klassischen Tanz verstand sich

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der moderne Tanz als eine neue mit der Tradition brechende und sie überwindende Kunst. Dieses epochale Verständnis von Moderne, das sich von der Idee einer beständigen Dialektik von Tradition und Moderne abwendet, wie sie für die Modernisierung des Balletts typisch war und ist, konkretisierte sich im modernen Tanz in einer radikalen Umdeutung des Tanzkörpers: Der moderne Tanz subjektivierte den Körper. Er galt nicht mehr nur als Objekt, sondern wurde zum Agens, indem er zum Medium individueller Freiheit, zum Ort der Utopie erklärt wurde: der Körper wurde als natürlichauthentisch vorgestellt und das Tänzer-Subjekt in Beziehung zu irrationalen Welten des kosmischen Ganzen gesetzt. Als Alternative zu dem stilisierten und in seiner Bewegungssprache fixierten Tanzkörper des Balletts übte der Ausdruckstanz Gesellschaftskritik, indem er das Konzept eines zivilisations- und technikfeindlichen Naturkörpers schuf und dieses an die moderne Idee eines autonomen, individualisierten und authentischen Subjekts band. Entsprechend gilt die Sprache des Körpers als offen, variabel, als subjektiv, authentisch und einzigartig, als mehrdeutig und auslegbar. Das Körperkonzept dieser normativ gedeuteten Tanzmoderne definierte das Tänzersubjekt außerhalb des gesellschaftlichen Kontexts und stellte es vor als ein von sozialer Erfahrung der technisierten Moderne abgekoppeltes, mit kosmischen Welten verbundenes Einzelwesen. Nicht zufällig lagen die Kultstätten des Ausdruckstanzes nicht in urbanen Ballungszentren, den Kristallisationsorten der Moderne, sondern, wie der Monte Verità, in zivilisationsfernen Naturräumen. Und nicht zufällig wurde auch der Solotanz die zentrale Darstellungsform des modernen Tanzes, ermöglicht doch das Solo die Thematisierung und Inszenierung der Einzigartigkeit des Tänzersubjekts. Dass es schließlich mit Isadora Duncan, Mary Wigman, Gret Palucca bis hin zu Dore Hoyer vor allem Frauen waren, die das Solo in die Tanzmoderne einführten, ist nicht verwunderlich, war es doch im Solo am einfachsten möglich, das ‚Selbst‘ zu tanzen und sich als geschlechtliches Subjekt, als „Tänzerin der Zukunft“ (vgl. Duncan 1903) in Szene zu setzen. Die Neu-Symbolisierung des Tanzkörpers als sichtbares Medium der Inszenierung von Subjektivität provozierte einen Wandel in der Tanzsprache. Tanztechniken wurden entwickelt, die grundsätzlich andere Zentren, Schwerpunkte und Achsen im Körper definierten. Isadora Duncan beispielsweise verlagerte den Körperschwerpunkt in den Solarplexus und Doris Humphrey entwickelte Techniken wie ‚Fall und Recovery‘, die ein Spiel mit der Schwerkraft des Körpers erlaubten. Zudem provozierte das moderne Tanzkonzept auch einen Bedeutungswandel der Repräsentationsfunkti-

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on von Tanz. Auf Kosten der referentiellen Funktion des Tanzes, die in der Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen und Situationen nach einem vorgegeben Libretto bestand, rückte mit dem modernen Tanz die performative Funktion des Tanzes zunehmend in den Vordergrund. Der Tanz wurde zum unwiederholbaren Ereignis und gebunden an die Autorschaft des Choreografen. Die Einzigartigkeit des Tanzes wurde nunmehr in der Singularität der Tanzdarbietung gesehen. Während in den populären Tänzen der Rock’n’Roll Furore machte, etablierte sich in den 1960er Jahren mit dem postmodern dance in New York City eine neue Tanzkunst, die einen Bruch mit dem organisch-ganzheitlichen Körperkonzept des modernen Tanzes vollzog und die Medien des Tanzes: Körper, Bewegung und Raum, selbst reflektierte. Ausgehend von der Judson Church-Bewegung versuchte die neue amerikanische Tanzavantgarde, den Tanzkörper der Moderne zu ‚entideologisieren‘ und formulierte in ihrer ästhetischen Praxis ein abstraktes Körperkonzept, das die Bewegung des Körpers von der Bewegtheit des Subjekts trennte und damit das einstige Credo des modernen Tanzes, den Körper als sichtbaren Ausdruck von Subjektivität vorzustellen, in Frage stellte. Zeitgleich als sich in der tänzerischen Praxis der populären Kultur in den 1970er Jahren die soziale Erfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs eruptiv und vorreflexiv im Punk und HipHop zeigte, reflektierte das Tanztheater der 1970er Jahre die subjektiven Folgewirkungen der sozialen und kulturellen Umbrüche der Moderne. Es lieferte damit wiederum einen besonderen, weil über den Körper formulierten Beitrag zum zeitgenössischen kultur- und sozialkritischen Diskurs, der die Folgewirkungen von Rationalisierung und Technisierung, von Spätkapitalismus und Vereinsamung auf die alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelten zum Thema machte. Anders als im amerikanischen modern dance wurde hier der Körper zum sichtbaren Ort der Subjektivität; Bewegung und Bewegtheit griffen wieder ineinander. Das vor allem im deutschsprachigen Raum sich etablierende Tanztheater veralltäglichte den Körper, aber auf eine ganz andere Weise als noch der Ausdruckstanz: Nicht mehr der Körper als Ort des vermeintlich utopischen Potentials stand nunmehr im Mittelpunkt, sondern der alltägliche Körper wurde als Angriffsfläche gesellschaftlicher Macht vorgeführt. Im Unterschied zum modernen Tanz ging es im Tanztheater nicht um eine Kommunikation zwischen innerer und äußerer Natur, zwischen ChaotischUnbewusstem und kosmischem Ganzen, sondern um das Verhältnis von Individuen und gesellschaftlicher Macht. Der Körper galt dementsprechend nicht mehr Medium der Darstellung innerer Erfahrung und Ort der Utopie,

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sondern wurde selbst als Ziel der Macht vorgeführt und als Angriffsfläche sozialer Gewalt in Szene gesetzt. Das Körperkonzept, das der spezifischen Ästhetik des Tanztheaters zu Grunde liegt, stellte den Körper somit durchweg als gesellschaftlich geformt vor. Entsprechend erschien das Tänzersubjekt nicht mehr als autonomes Individuum, sondern wurde gerade aufgrund seiner Sozialität als fragmentiertes und gebrochenes Subjekt vorgeführt. Mit dieser Zurschaustellung von alltäglichen Körpersensationen, von Sehnsüchten, Ängsten, Begierden und Träumen reflektierte das Tanztheater auf eine spezifische Weise die körperliche Verfasstheit des modernen Subjekts. Die Ästhetisierung von Alltagsbewegungen wurde zu einem wesentlichen Mittel, um die innere Bewegtheit und körperliche Verfasstheit des modernen Subjekts zu thematisieren. Wenn seit dem Ende der Industriegesellschaft und dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft seit den 1970er Jahren von einem ReflexivWerden der Moderne (vgl. Beck u.a. 2007) die Rede ist, dann kommt der zeitgenössische Tanz seit den 1990er Jahren dieser Forderung nach, indem er die Grundlagen des Tanzes und der Choreografie radikal in Frage stellt. Es war vor allem der sog. Konzepttanz, der die Selbstreflexivität des Mediums zum ästhetischen Konzept erklärte. Wie einst die Konzeptkunst der 1960er Jahre die Idee vor die Präsentation und das Konzept vor das Werk stellte, rückte im Konzepttanz an die Stelle des performativen Aktes des Tanzens, an die Stelle der Materialisierung, die Idee des Stücks, dessen Medium nicht mehr allein der Körper, sondern die Sprache wurde. Zwangsläufig wurde so die bislang unauflösliche Verbindung des Tanzes mit tänzerischer Bewegung und dem tanzenden Subjekt aufgehoben. Themen wie das Spiel mit den Konstruktionsmechanismen von Subjektivität und Identität und der Präsenz und Repräsentanz des Körpers rückten in den Vordergrund. Konzepttanz radikalisierte den Prozess des Reflexivwerdens des Tanzes und provozierte eine Transformation der Wahrnehmung: Die Wahrnehmung des Tanzes als ein Körperereignis trat in den Hintergrund zugunsten der Reflektion der konzeptionellen Thematik des Stückes, die nunmehr auf die eigene Erfahrung und das Wissen der Zuschauer verwies. Die Unabgeschlossenheit der Stücke provozierte wiederum einen Denkprozess beim Zuschauer, die Grenzen zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption lösten sich auf. Zugleich setzten sich Körper- und Tanztechniken durch, die vor allem den imaginären Körper betonen. Körpertechniken wie Pilates, AlexanderTechnik, Autogenes Training, Feldenkrais, Funktionale Entspannung, BodyMind-Centering, Gyrokinesis, Ideokinesis, Rolfing oder Bartenieff, Tanztechniken wie Release-Technik, New Dance, Contact Improvisation, Release Ballet, die Neun-Punkte-Technik oder die Budo-Flux-Technik – sie alle setzen

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auf die Imaginationskraft des Körpers, auf die Fähigkeit, mit mentalen Körperbildern eigene Körperbewegungen zu motivieren. Die Körperkonzepte des zeitgenössischen Tanzes beruhen nicht auf den an cartesianische Denktradition erinnernden Begriffspaaren wie Sein und Schein, Wirklichkeit und Fiktion, Authentizität und Künstlichkeit, wie sie noch der zeitgenössische Diskurs kennzeichnete, in dem der moderne Tanz stand. Auch sind sie nicht von dessen Natürlichkeits- und Ganzheitsdiskurs geprägt, der sich hinter der anthropologisch geleiteten Frage, was der menschliche Körper sei, auf die Suche nach dem Gattungskörper machte. Vielmehr korrespondiert die ästhetische Praxis des zeitgenössischen Tanzes mit einem kritischen Wissenschaftsdiskurs, der bisherige Gewissheiten über das Humane zu dekonstruieren versucht. Poststrukturalistische Thesen des fragmentierten Subjekts, der zerstückelten Körper, der flexiblen Identitäten, fragen nach der diskursiven Herstellung des Humanen im Kontext einer globalisierten und medialisierten Moderne und thematisieren dessen Übergang in der Informationsgesellschaft in den Zustand der Transhumanität. Analog reflektiert der zeitgenössische Tanz die Grundlagen der Tanzmoderne, indem er die Frage nach der Subjektivität und Individualität der Tänzer stellt und die Rolle des Körpers als Bedeutungsträger des Humanen radikal in Frage stellt. Zivilisationskritisch gewendet ließe sich die These vertreten, dass die Entsymbolisierung des Körpers und die Entsubjektivierung des Tänzers die Voraussetzung für den neuen Diskurs um den transhumanen Tanzkörper bildeten.

Zusammenfassung Die Sozialgeschichte des Tanzes erzählt die wechselhafte Geschichte zwischen Restauration und Revolution, Mainstream und Widerstand, sozialem Ein- und Ausschluss, Globalität und Lokalität. Tänze erzählen diese Geschichte als eine sinnliche Geschichte der Körperbeherrschung und -entfesselung, der traditionellen Geschlechterhierarchie und der Geschlechterneuordnung, der sozialen (klassenspezifischen oder ethnischen) Differenz und kulturellen Heterogenität, des Triebverzichts, der Affektkontrolle und der Raserei, der Sehnsucht nach Verschmelzung und der Einsamkeit. Tanz ist ein Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungen. Gesten (so z.B. die Kodifizierung der europäischen höfischen Kultur im mittlerweile globalisierten Ballett bis hin zu Battle-Techniken im HipHop), Körperkonzepte der einzelnen Tänze (so z.B. das Verhältnis von Zentrum und Peripherie im Ballett bis hin zum dekonstruktivistischen Körperkonzept im HipHop)

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und choreografische Ordnungen (so die geometrische, auf ein Zentrum ausgerichtete Ordnung des Balletts, über die Paarfiguration der bürgerlichen Tänze bis hin zu dezentralisierten, demokratischen choreografischen Ordnungen, die nunmehr dem Muster einer strukturierten Improvisation folgen, im Tanz seit den 1970er Jahren) repräsentieren die jeweils historisch aktuellen Machtordnungen und Herrschaftsformen. Aber sie stehen nicht nur für die jeweiligen Ordnungen des Sozialen, die immer Ordnungen der Macht sind. Sie bringen sie in körperlichen Praktiken auch hervor. ‚Körpertheoretiker‘ wie Marcel Mauss, Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Erving Goffman oder Michael Foucault haben prominent dargelegt, dass Körpertechniken, psychogenetische Strukturen, Habitusformen und Mikropolitiken der Macht auf subtile Weise gesellschaftliche Ordnungen, Regeln, Normen und Konventionen in die Körper ‚einschreiben‘. Diese theoretischen Ansätze sind bereits verschiedentlich für die Tanzforschung fruchtbar gemacht worden. Tanz erscheint hier als eine körperlichsinnliche Praxis, die, anders als der zweckrationale, instrumentelle Sport, in ästhetischen Praktiken Soziales performativ hervorbringt. Tanz ist insofern als eine Repräsentation des Sozialen und als eine symbolische Ordnung der Macht zu beschreiben. Die soziale Wirksamkeit des Tanzes liegt aber auch und vor allem in seiner Performanz. Denn im Akt des Tanzens wird nicht nur das ‚Soziale‘ und ‚Politische‘ in ein genuin körperliches Erleben übersetzt, in diesem Vorgang liegt auch das kritische Potential des Polititschen. Denn wie sich im Tanz in eine gesellschaftliche Ordnung lustvoll eintanzen lässt, liegt im Akt des Tanzens und in einer anderen Ordnung der Choreografie auch immer die Möglichkeit des Scheiterns an gesellschaftlichen Normen und Konventionen. Gerade hier in dem Verhältnis von Sagen und Zeigen2 im Akt des Tanzens liegt das widerständige Potential des Tanzes, nämlich, herkömmliche Ordnungen zu unterlaufen und andere Wahrnehmungen und Erfahrungen möglich zu machen. Es ist dieser Überschuss, der als die Poetik des Tanzens beschreibbar ist (vgl. Louppe 2009). Wenn aus sozialhistorischer Perspektive Tänze oft auch körperliche Vorläufer radikaler gesellschaftlicher Umwälzungen waren (wie z.B. der Rock’n’Roll als eruptiver Ausdruck kommender gesellschaftlicher Umwälzungen), liegt im performativen Akt des Tanzens selbst ein zentraler gesellschaftskritischer Aspekt: nämlich in der Praxis der körperlichen Bewegung und ihrer choreografischen Ordnung hegemoniale Muster gesellschaftlicher Mikropolitik zu unterlaufen, dies sinnlich wahrzunehmen und als körperliches Wissen abzuspeichern und zu archivieren. 2 | S. dazu den Beitrag von G. Brandstetter in diesem Band.

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Sichtbarkeit: Infrastrukturen für Tanz schaffen Kerstin Evert

Zur Frage nach dem Grund für den Boom der bildenden Kunst in den vergangenen Jahren antwortet Samuel Keller, Gründer der Art Basel Miami Beach und seit 2008 Direktor des Museums Fondation Beyeler in Basel: „Dahinter steht, dass die Kunst in der vergangenen Dekade ein viel breiteres Publikum erreicht hat und viel mehr Leute interessiert. Das hat damit zu tun, dass man sie an mehr Orten sehen kann – denken Sie an den großen Erfolg der Museen und Galerien. Und daran, wie oft die Kunst heute in den Medien vorkommt. Dank Internet haben wir nun von überall Zugang zu ihr. Es hat aber auch mit der Ausbildung zu tun: Viel mehr Schulen und Universitäten bauen Kunst in den Unterricht ein, in den Museen gibt es bessere Vermittlungsangebote“ (Albers/Keller 2009: 84).

Dieses Zitat bringt am Beispiel der bildenden Kunst auf den Punkt, wie Sichtbarkeit durch mediale Präsenz, durch auffindbare, auf einem Stadtplan und im Internet lokalisierbare Orte, durch ein dort angebotenes Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm, durch eigenständige Kommunikation und durch Integration in Ausbildungs- und Bildungssysteme entsteht. Kulturinstitutionen schaffen zudem bereits durch ihre Existenz Wahrnehmung, denn sie erzeugen Sichtbarkeit und Ansprechbarkeit. Daraus wiederum entstehen gesellschaftliche Anerkennung und Renommee, denn etablierte Institutionen werden gesellschaftlich zumeist als Repräsentation von Fachkompetenz betrachtet.

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Warum tanzt ihr nicht? – diese Frage wirft der Titel einer Produktion der Performance-Gruppe She She Pop aus dem Jahr 2004 auf. Der Ballsaal als Ort des Begehrens wird darin zur Metapher für das Feld des Beziehungslebens mit seinen Hoffnungen, Ängsten und Enttäuschungen: Es geht um das Leben als Tanz, um die gesellschaftliche und soziale Bedeutung von Bewegung. Tanz, Bewegung und Choreografie in ihren verschiedensten Erscheinungsformen begegnen uns in den unterschiedlichsten Kontexten – häufig allerdings, ohne dass dies sofort gewahr wird. Denn auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene ist die Kompetenz, über Tanz zu reden, seine Erscheinungsformen historisch, gesellschaftlich und kulturpolitisch einordnen und zusammenhängend betrachten zu können, noch immer eher unzureichend ausgebildet. Dies ist einer der wesentlichen Gründe, warum Tanz im Vergleich zu anderen Kunstformen und Theatersparten in der öffentlichen wie auch der kulturpolitischen Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum immer noch eine geringe Rolle spielt. Der fehlende Diskurs über Tanz, insbesondere über zeitgenössischen Tanz, ist dabei eng verknüpft mit seiner geringen Sichtbarkeit: Für nahezu alle anderen Kunstformen ist es selbstverständlich, dass es eigene Orte

Blick in das choreografische Zentrum K3 mit seinen drei Studios sowie einer Studiobühne © Thies Rätzke

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und Infrastrukturen gibt. Museen, Konzerthäuser, Opern und Schauspielhäuser existieren mehr oder weniger flächendeckend. Damit wird zugleich anerkannt, dass verschiedene Kunstformen trotz – oder gerade aufgrund – zeitgenössischer transdisziplinärer Arbeitsformen jeweils spezifische Notwendigkeiten haben, spezifische Diskurse führen und Fachkompetenz erfordern. Für Tanz, und speziell zeitgenössischen Tanz, gilt das nahezu nicht: Eigenständige Tanzhäuser, choreografische Zentren, Tanzarchive etc. sind im deutschsprachigen Raum eher spärlich vorhanden. Dort, wo es sie gibt, sind sie nicht selten die ersten, die auf der Liste möglicher finanzieller Kürzungen des Kulturhaushalts landen.1 So bleibt Tanz, dem immer wieder – und damit möglicherweise kulturpolitisch gerade kontraproduktiv – seine Flüchtigkeit und Nicht-Fixierbarkeit als wesentliche Charakteristika angetragen werden, auch auf der Ebene der Infrastruktur flüchtig: wenig lokalisierbar, nicht nur auf der Landkarte der Kultureinrichtungen, sondern auch im Bereich einer breiteren, nicht fachspezifischen Ebene gesellschaftlicher und kultureller Sichtbarkeit wie auch in der medialen Berichterstattung und im Bildungsbereich. Sichtbarkeit auf verschiedenen Ebenen ist jedoch wichtig, um ein für Politik und Gesellschaft notwendiges und entscheidungsrelevantes Wissen über eine Kunstform zu schaffen. Dies bezieht sich damit sehr konkret auf die Ebene von Budget- und Haushaltsentscheidungen öffentlicher wie auch privater kultureller Förderer und Zuwendungsgeber. Dort hat Tanz einen großen Nachholbedarf und ist weiterhin unterrepräsentiert. Dort allerdings, wo sich Tanz an einer Kulturinstitution in einer Stadt als feste Größe etabliert hat und internationales Renommee besitzt, sind 1 | Dies betrifft (z.B. zumindest in Deutschland) immer wieder auch die über 70 bestehenden Tanzensembles an Stadt- und Staatstheatern, die ein wichtiges und grundlegendes Tanzangebot bereitstellen – und damit einen wichtigen Beitrag zur Sichtbarkeit der Kunstform und ihrer Vermittlung leisten. Doch integriert in Stadt- und Staatstheater oder andere kulturelle Institutionen, besteht nicht selten das Problem, dass zuständige Intendanten oder Kulturpolitiker, deren künstlerische Schwerpunkte zumeist im Bereich Musiktheater oder Schauspiel liegen, die Sparte Tanz nicht zwingend als unverzichtbaren Bestandteil der jeweils eigenen Theaterlandschaft betrachten: „Anders als das Schauspiel mit seinen redegewandten und durchsetzungsfähigen Intendanten hat der Tanz keine Lobby. [...] Weil niemand da ist, der sich um die Gremienarbeit kümmern und an den finanziellen Verteilungskämpfen teilnehmen könnte. [...] Man bräuchte Tanzintendanten und Tanzgeschäftsführer, die das übernehmen.“ (Kohse/Völckers 2009: 13).

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zumeist zwei wesentliche Ausgangsbedingungen vorhanden: Kontinuität in der künstlerischen Arbeit sowie eigene künstlerische und kaufmännische Leitungen, eigene Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit sowie dramaturgische Konzepte. Das Hamburg Ballett mit seinem Ballettintendanten John Neumeier, oder das Ensemble der im 2009 verstorbenen Choreografin Pina Bausch, das anscheinend trotz der geplanten Schließung des Wuppertaler Theaters nicht von Kürzungen betroffen sein soll 2, sind zwei positive Beispiele für die hohe Resonanz, die sich unter diesen Bedingungen entfalten kann. Für die nicht institutionalisierte und zumeist nicht in kontinuierlichen Ensemblestrukturen arbeitende freie Tanzszene ist die Situation aufgrund der unzureichenden Infrastruktur in Form von choreografischen Zentren, Tanzhäusern oder eigenständig geführten Bereichen innerhalb anderer Kulturinstitutionen noch schwieriger. Zwar zumeist häufig international aktiv und gefragt, sind die kulturpolitische Lobby und die gesellschaftliche Akzeptanz der freien Tanzszene eher gering, gelten doch zeitgenössische choreografische Ansätze häufig immer noch als eher unzugänglich. Gerade in diesem Bereich ist eine fachkompetente Kommunikation und Vermittlungsarbeit wichtig, doch die zumeist geringen Produktionsbudgets freier Projekte reichen weder für eine kontinuierliche Arbeit noch für eine entsprechende personelle Ausstattung. In den vergangenen Jahren hat sich, u.a. bedingt durch Initiativen wie Tanzplan Deutschland, einiges zum Positiven verändert. Dennoch muss festgestellt werden, dass das Grundproblem der geringen Sichtbarkeit weiterhin besteht und gerade unter dem Zeichen der momentanen Wirtschaftskrise positive Entwicklungen der letzten Jahre zurzeit einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Deshalb ist das Schaffen von Sichtbarkeit für Tanz auf der Ebene von fachbezogenen Einrichtungen und Institutionen, die entsprechend auch kulturpolitische Dialoge und Lobbyfunktion auf professioneller Ebene übernehmen können, weiterhin ein wichtiges Feld für eine nachhaltige Stärkung und gesellschaftliche Verankerung der Kunstform.

2 | Vgl.: www.rundschauonline.de/html/artikel/1257858513764.shtml vom 18.11.2009. Allerdings schützt auch ein international renommiertes Profil nicht vor einer möglichen Schließung, wie sich 2004 zeigte, als die Städtischen Bühnen Frankfurt ihre Tanzsparte abwickelten und William Forsythe sein Ensemble als The Forsythe Company losgelöst vom Haus als GmbH neu aufbaute.

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Tanzplan Hamburg: Ein choreografisches Zentrum für die Hansestadt Im Jahr 2005 startete die Kulturstiftung des Bundes die Initiative ‚Tanzplan Deutschland‘3 mit der Idee, durch finanzielle Einbindung und Mitverantwortung der Länder und Städte in die auf fünf Jahre (2006 bis Ende 2010) angelegten Modellprojekte des Tanzplan-vor-Ort eine nachhaltige kulturpolitische, infrastrukturelle und gesellschaftliche Stärkung der Kunstform zu erreichen. Im Rahmen eines Wettbewerbs konnten sich Städte bzw. Bundesländer, die bereit waren, bei einer maximalen Antragshöhe von 1,2 Millionen Euro eine Gegenfinanzierung in gleicher Höhe der beantragten Summe zu leisten, mit modellhaften und zukunftweisenden Projekten zur Stärkung und Förderung des Tanzes bewerben. Diese Projekte sollten aus Diskussionen und Gesprächen zwischen Tanzschaffenden und kulturpolitisch Verantwortlichen vor Ort entstehen und damit auf Notwendigkeiten wie auch Potenziale vor Ort reagieren.

Das Konzept zu Tanzplan Hamburg Die Fragen nach Sichtbarkeit und einer unabhängigen Infrastruktur für den zeitgenössischen Tanz waren die wesentlichen Ausgangspunkte für die Entwicklung des Konzepts von Tanzplan Hamburg im Jahr 2005. Mit hohem Engagement setzte sich die Hamburger Kultursenatorin dafür ein, dass Hamburg am Wettbewerb teilnehmen und die notwendige Gegenfinanzierung von 1,2 Millionen stellen konnte. In mehreren, durchaus kontroversen Sitzungen mit Vertretern und Vertreterinnen der freien Tanzszene, tanzbezogenen Institutionen sowie der Kulturbehörde entwickelte sich die Idee der Etablierung eines choreografischen Zentrums in der Hansestadt. Die meisten Vertretungen der freien Tanzszene sprachen sich dafür aus, einen neuen, eigenständigen Ort für Tanz zu schaffen. Jedoch war dieses Vorhaben aufgrund der im Rahmen von Tanzplan Deutschland für fünf Jahre maximal zur Verfügung stehenden 2,4 Millionen Euro nicht realisierbar, da auf der Ebene der Betriebskosten zu bedenken war, wie eine Weiterfinanzierung des Projekts nach Abschluss von Tanzplan Deutschland durch die Stadt

3 | Informationen zu allen neun Tanzplan-vor-Ort-Projekten sowie weiteren Arbeitsbereichen von Tanzplan Deutschland unter: www.tanzplan-deutschland. de

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Hamburg gewährleistet werden konnte.4 Auf dieser Diskussionsgrundlage schlug die damalige Intendantin der internationalen Kulturfabrik Kampnagel, Gordana Vnuk, vor, eine der Hallen des Kampnagelgeländes, die Ausstellungshalle k3, für den Umbau zu einem choreografischen Zentrum zur Verfügung zu stellen, sowie – daran angeschlossen – die angrenzende Probebühne P1 zu einer Studiobühne auszubauen. Kampnagel, eine ehemalige Kranfabrik mit weitläufigem Gelände, wird seit Beginn der 1980er Jahre als Ort für innovative, internationale Tanz-, Performance- und Theaterentwicklungen bespielt. Somit haben Kampnagel als Produktionsstätte für performative Künste und das 1985 gegründete internationale Sommertheater-Festival seit ihrem Bestehen eine wichtige Rolle in der Entwicklung und der Präsentation zeitgenössischen Tanzes im regionalen, überregionalen und internationalen Kontext. Aber Kampnagel war und ist nicht ausschließlich Ort für Tanz, Choreografie und Performance, auch wenn er von außen – Publikum, Kulturpolitik, Medien, Fachkreise – immer stark als ein solcher gesehen wurde. Jeweilige Intendanten geben dem Gelände eine jeweils spezifische künstlerische Ausrichtung, die Tanz mal mehr, mal weniger stark am und im Haus im interdisziplinären Feld der performativen Künste positioniert. Entsprechend war es in der Entwicklung der Konzeption für die Bewerbung um Tanzplan Hamburg besonders wichtig, die Gründung eines choreografischen Zentrums im Rahmen der Organisationsstruktur der Kampnagel-GmbH auf künstlerisch eigenständige Füße zu stellen. Dies bedeutet vor allem, eine von der jeweiligen Kampnagel-Intendanz unabhängig berufene, unabhängige künstlerische Leitung des choreografischen Zentrums einzurichten, die mit einem eigenen Team arbeitet, über ein eigenes und unantastbares Budget verfügt und eine eigenständige Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Mit dem Ziel, eine höchstmögliche Sichtbarkeit und Ansprechbarkeit für zeitgenössischen Tanz sowie eine inhaltlichkünstlerische Positionierung unabhängig von künstlerischen Konzepten

4 | Der finanzielle Planungsrahmen für Tanzplan Hamburg ergab sich aus der Höchstgrenze der möglichen Antragssumme plus entsprechender Gegenfinanzierung durch das Land, also maximal 2,4 Millionen Euro für den Fünfjahreszeitraum. Das ist nicht wenig Geld - jedoch in Relation zu z.B. baulichen Investitionsmitteln, die für bestimmte kulturelle Felder in den letzten Jahren aus öffentlichen Mitteln aufgebracht wurden, spiegelt sich wiederum die geringe Budgetverankerung von Tanz: Im Bereich Museen oder Konzerthallen war z.B. ein regelrechter Bauboom zu beobachten - neu gebaute Tanzhäuser sind jedoch eher rar.

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und möglichen Einflussnahmen der jeweiligen Kampnagel-Intendanz zu etablieren. Ähnlich wie die in Frankreich bestehenden ‚Centres de Développement Chorégraphiques‘ ist das Konzept des choreografischen Zentrums K3 als Modellprojekt darauf ausgerichtet, eine Grundstruktur für künstlerisches Arbeiten und künstlerische Forschung, Residenzen, Trainings- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Tanzschaffende sowie Angebote im Bereich der Vermittlung, Publikumsentwicklung und kulturellen Bildung zu schaffen. In diesem Sinne besteht der Kern des Konzepts von Tanzplan Hamburg darin,5 zeitgenössischen Tanz in Hamburg nachhaltig zu stärken, sichtbarer zu machen, regional, überregional und international zu vernetzen sowie auf Vermittlung und Sensibilisierung von Publikum – jugendlichem wie erwachsenem – zu fokussieren. Um diese inhaltlichen Ansätze zu lokalisieren, wurde das zu gründende choreografische Zentrum – in klarer Abgrenzung zu Kampnagel als Ort der Präsentation von Tanz – mit drei wesentlichen und miteinander verschränkten inhaltlichen Schwerpunkten konzipiert, die sowohl im künstlerischen als auch im Bereich der Publikumsentwicklung und Vermittlung einen wesentlichen Fokus auf grundlagenorientierte Arbeit legen: • Ein neunmonatiges Förderprogramm für junge Choreografen in Kooperation mit dem Studiengang Performance Studies der Universität Hamburg sowie weitere Residenzformate und Arbeitsmöglichkeiten für künstlerische Forschungsprozesse, • Kursprogramme zur Qualifizierung und Weiterbildung sowie zur Vernetzung der Tanzszene in Verbindung von Theorie und Praxis • und ein breit aufgestellter Bereich der Vermittlung zeitgenössischen Tanzes, insbesondere im Kontext kultureller Bildung. Die zweite Säule des Konzeptes umfasst die Verdoppelung der durch die Stadt Hamburg vergebenen Projektförderung für die freie Tanzszene von vorher € 100.000 auf € 200.000. Dieses Budget wurde zudem als eigener Fördertopf mit einer eigenen Fachjury neu eingerichtet – ein wichtiger Schritt im Hinblick auf die Anerkennung und Sichtbarkeit von Tanz. Damit erkannte das Hamburger Tanzplan-Konzept an, dass insbesondere die Produktions-, Arbeits- und Förderbedingungen der freien Szene einer deutlichen Verbesserung bedürfen, um künstlerische Impulse entstehen zu lassen, künstlerische

5 | Das Konzept zu Tanzplan Hamburg wurde von der Tanzjournalistin Edith Boxberger und von Kerstin Evert entwickelt.

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Qualität zu halten bzw. zu erhöhen und kontinuierlicheres Produzieren zu ermöglichen. Das Hamburger Tanzplan-Konzept wurde vom Kuratorium von Tanzplan Deutschland ohne Einschränkungen bewilligt und erhielt mit 1,2 Millionen Euro die höchstmögliche Fördersumme, gegenfinanziert mit derselben Summe aus Hamburg. Entsprechend konnte die Etablierung des choreografischen Zentrums im Sommer 2006 begonnen werden. Der Umbau der Ausstellungshalle k3 zum choreografischen Zentrum K3 mit drei modernen Tanzstudios sowie der angrenzenden Probebühne P1 zur Studiobühne P1 erfolgten 2007, der Programmbetrieb startete im April 2007. Im Schwerpunkt als grundlagenorientierter Arbeits- und Produktionsort angelegt, sind die 40 Vorstellungstage auf der Studiobühne P1 ein wichtiger Bestandteil der Arbeit des Zentrums. Dort erhalten Residenzproduktionen, künstlerische Arbeitsprozesse sowie Projekte im Bereich kultureller Bildung ihre öffentliche Sichtbarkeit. Damit wurde eine modellhafte Infrastruktur im Bereich der performativen Künste gegründet, die als künstlerische Forschungsstätte Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten für künstlerische Prozesse, junge Choreografen und künstlerische Vermittlungsprojekte schafft.

Blick aus dem Studio K31 in die Halle © Thies Rätzke

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Umsetzung und Entwicklungen Das spezifische neunmonatige Residenzprogramm für junge Choreografierende zeigt, wie sehr das Konzept von K3 eine Notwendigkeit getroffen und eine Lücke geschlossen hat, die insbesondere im Übergang von einem tanzbezogenen Studium zur Etablierung als freischaffender Choreograf besteht: Jedes Jahr werden drei Langzeitresidenzen vergeben, die u.a. ein Stipendium, ein Produktionsbudget für die Aufführungen zum Abschluss des Residenzzeitraums, künstlerisches Mentoring, Weiterbildungsangebote insbesondere im Bereich produktionspraktischen Wissens sowie die Möglichkeit umfassen, am Programm des Studiengangs Performance Studies an der Universität Hamburg teilzunehmen. Die jährlich steigenden Bewerberzahlen – für 2010 über 105 Bewerbungen aus 35 Ländern – spiegeln wider, wie wichtig diese Kombination aus künstlerischer Forschung, Qualifizierung und Produktion im Kontext der internationalen Tanzszene ist. Gleichzeitig motiviert das Programmangebot junge Künstler auch, nach Abschluss der Residenz in Hamburg zu bleiben: Bislang haben sich zwei Drittel der bisherigen Residenzchoreografen dafür entschieden, in der Hansestadt zu bleiben. Damit wächst die Hamburger Tanzszene quantitativ wie qualitativ. Hier zeigt sich, dass das Zwei-Säulen-Konzept des Hamburger Tanzplans sehr gut aufgeht: Die verdoppelte Projektförderung für Tanz ist ein wichtiger Anreiz dafür, dass sich Residenzchoreografen für Hamburg als Lebens- und Arbeitsort entscheiden, da ihnen in der Stadt damit weitere Arbeitsmöglichkeiten eröffnet werden. Gleichzeitig können durch die verdoppelte Projektförderung mehr Tanzproduktionen entstehen, die neben Kampnagel und K3 auch an anderen Spielstätten in Hamburg zu sehen sind und damit ein neues Publikum für Tanz erschließen können. Um der wachsenden Nachfrage auch nach kürzeren Residenzformaten gerecht zu werden, wurden zudem u.a. Probenraumnutzungen für die freie Szene vor Ort sowie mit Kurs- und Vermittlungsprojekten verbundene Kurzzeitresidenzen bereits zu Beginn des zweiten Programmjahres von K3 zusätzlich eingeführt. Als zweiter programmatischer Schwerpunkt des choreografischen Zentrums nimmt das Kursprogramm, das tägliche offene Klassen im Bereich Profitraining genauso einschließt wie künstlerische Workshops und auf notwendiges produktionsorientiertes Wissen ausgerichtete Kurse, eine wichtige Funktion in der tanzszenen-internen Vermittlung und Kommunikation ein. Ein auf Qualifikation und Dialog ausgerichtetes Programm gab es zuvor in

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Hamburg ebenfalls nicht und hat von Beginn an eine sehr hohe Resonanz erreicht, die weit über Hamburg hinausgeht. Tanz ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Partner im Bereich der kulturellen Bildung geworden und hat auch dort zahlreiche Innovationen angestoßen. Eine weiter wachsende Einbindung in das Schul- und Bildungssystem erfordert deshalb ebenfalls fachkompetente Ansprechpartner für außerschulische wie schulische Bildungsträger. Zeitgenössischen Tanz in bestehenden Strukturen und Projekten der Kunstvermittlung und der kulturellen Bildung sichtbar zu machen, dort als Kunstform einzubringen und damit Ansprechbarkeit zu schaffen, ist deshalb ebenfalls ein wichtiges Arbeitsfeld von K3. So bestehen z.B. Kooperationen mit der Hamburger Volkshochschule und zahlreiche Projekte und Kooperationen im Bereich kultureller Bildung und in Schulen. Direkt zum Programmstart wurde zudem ein Jugendklub Tanz eingerichtet. Darüber hinaus werden künstlerische Projekte mit Erwachsenen aller Altersgruppen angeboten. Die durchweg hohe Resonanz auf alle angebotenen Projekte und Kurse zeigt, dass offensichtlich ein großes Interesse am Tanz vorhanden ist. Um dieses Interesse jedoch zu motivieren, braucht es ebenso offensichtlich einen Ort, der entsprechende Angebote fachkompetent entwickeln, kommunizieren, finanzieren und durchführen kann. Die dabei ermöglichte Teilhabe an Tanz in verschiedenen Formaten schafft zudem eine sichtbare Bindung von Kursteilnehmenden und Publikum an das Zentrum. Ziel der nächsten Jahre ist deshalb, diese Angebote noch weiter auszubauen. Nach Auslaufen der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes Ende 2010 wird es für die Zukunft des Zentrums bei der Überführung in die Förderung des Landes notwendig sein, eine langfristig tragfähige Vertragsund Rechtsform für das Zentrum zu entwickeln. Hierbei geht es insbesondere darum, eine Struktur zu finden, die die künstlerische und finanzielle Unabhängigkeit des choreografischen Zentrums gegenüber wechselnden künstlerischen Leitungen Kampnagels und ihren jeweiligen inhaltlichen Konzepten langfristig sicherstellt. Dies ist die wesentliche Voraussetzung für die nachhaltige Etablierung und Weiterentwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Hamburg. Die Konzeption von K3 als Ort künstlerischer Forschung und Arbeit, Qualifizierung und kultureller Bildung besitzt dabei zugleich eine wichtige Funktion für die Entwicklungsdynamik der Tanzszene vor Ort. Damit weist der Arbeitsbereich des Zentrums über die programmatischen Eigeninteressen eines Theaterbetriebs hinaus. Obwohl räumlich auf Kampnagel angesiedelt, wirkt das Zentrum deutlich über das Gelände hinaus, indem es auch für Künstler und Künstlerinnen, die nicht mit Kampnagel zusammenarbeiten,

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Unterstützung, Infrastruktur, Probenmöglichkeiten und Qualifizierungsangebote bieten kann. Über die vergangenen vier Jahre der Tanzplan-Pilotphase lässt sich deshalb auch eine permanente quantitativ wie qualitativ wachsende Antragsmenge auf die im Zuge von Tanzplan Hamburg erhöhten Projektfördergelder beobachten. Damit ist aus einer positiven und im Konzept bewusst angestrebten Weiterentwicklung der Hamburger Tanzszene zugleich ein neues Handlungsfeld entstanden: Um der wachsenden Szene gerecht zu werden und ihr nachhaltige Arbeitsmöglichkeiten in Hamburg zu eröffnen, sollte nicht nur über eine Erhöhung der Projektförderung nachgedacht werden. Es steht zudem an, das Hamburger Fördersystem für freie Tanz- und Theaterproduktionen insgesamt zu analysieren, um es auf dieser Grundlage weiterzuentwickeln und gegebenenfalls nach Instrumenten (wie 2-JahresFörderungen, Anfänger- oder Gastspielförderungen etc.) zu differenzieren.

Perspektiven nach 2010 Die Kulturpolitik der Freien und Hansestadt Hamburg hat sich zusammen mit der Kulturstiftung des Bundes sehr stark für die Einrichtung von K3 – Zentrum für Choreografie und Tanzplan Hamburg engagiert, und damit zum Ausdruck gebracht, dass eine Stadt wie Hamburg, die einen starken Fokus auf den Bereich Kreativ- und Kulturwirtschaft legt, auch im Bereich der performativen Künste einen Ort des künstlerischen Experiments, der Förderung des künstlerischen Nachwuchses und der kulturellen Bildung braucht. Hamburg hat nun als eine von wenigen Städten im deutschsprachigen und als einzige im norddeutschen Raum ein international vernetztes choreografisches Zentrum, das künstlerische Innovation anstößt, neue Kooperationen begründet, Tanz in die Öffentlichkeit vermittelt, in die kulturelle Bildung einbindet und sich im Bereich der choreografischen Nachwuchsförderung international profiliert. Als Kompetenzzentrum ist es damit auch ein internationaler kultureller Vermittler der Stadt. So wurde z.B. das K3-Residenzprogramm zum Vorbild eines Residenzformats am neu gegründeten Zentrum für performative Künste, dem Gati Forum in Delhi. Im Rahmen eines Förderprogramms der EU entsteht auf Initiative des CDC Le Pacifique in Grenoble ein Netzwerk choreografischer Zentren (Tour d’Europe des Chorégraphes), das sich mit der Frage der professionellen beruflichen Weiterbildung von Choreografen im europäischen Kontext beschäftigt. Dies sind zwei Beispiele dafür, dass die Perspektiven für die weitere Eta-

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blierung und Entwicklung von K3 als choreografischem Zentrum nach Ablauf der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes auf Wachstum und weitere Formatentwicklung ausgerichtet sind. Zahlreiche Projektanfragen von internationalen Künstlern genauso wie Anfragen von Bildungsträgern, Kooperationsanfragen von in- und ausländischen Hochschulen und choreografischen Zentren zeigen die Notwendigkeit des Orts – für Hamburg genauso wie für die überregionale und internationale Tanzszene. Die Existenz des choreografischen Zentrums hat eine starke Katalysatorfunktion für die Entwicklung der Tanzszene in der Stadt insgesamt, die ohne die Gründung von K3 als künstlerisch und finanziell eigenständigem Ort in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Durch die Initiative ‚Tanzplan Deutschland‘ der Kulturstiftung des Bundes ist es insgesamt gelungen, Tanz verstärkt in das kulturpolitische Bewusstsein von Bund sowie den an den neun Tanzplan-vor-Ort-Projekten beteiligten Ländern und Städten zu bringen. Es hat sich gezeigt, welche Dynamiken und Entwicklungen entstehen können, wenn gezielt und modellhaft gefördert wird. Nun sind ab 2011 die Städte und Länder in der Verantwortung, für die Nachhaltigkeit der entstandenen Kompetenzzentren und -projekte Sorge zu tragen. Aber auch der Bund ist unbedingt weiterhin in der Verantwortung für Tanz zu sehen. Ohne eine auch in der Zukunft auf allen Förderebenen vorhandene besondere kulturpolitische Aufmerksamkeit für Tanz wird es in den nächsten Jahren nicht möglich sein, diese Entwicklung weiter fortzusetzen. Deshalb geht es nicht nur darum, die mit Tanzplan in neun Städten entstandenen Kompetenzzentren finanziell zumindest auf dem bisherigen Niveau weiterzufördern, um die positive Dynamik nicht in ihr Gegenteil umzukehren. Vielmehr wäre jetzt genau der richtige Moment, an dieser äußerst erfolgreichen Pilotphase anzusetzen und verstärkt in Tanz und Strukturen für Tanz zu investieren, z.B. indem die Kompetenzzentren erweitert, Modellprojekte in andere Städte übertragen, Förderungen für die freie Tanzszene aufgestockt und tanzbezogene Infrastruktur erhalten bzw. neu gegründet werden. Denn die in den vergangenen Jahren in den Bereichen Tanz, Choreografie, Performance und Tanzwissenschaft entstandenen neuen Studiengänge entlassen bereits erste junge Tanzschaffende auf einen Arbeitsmarkt, der ihnen ansonsten nur sehr wenige Optionen und Arbeitsmöglichkeiten eröffnen wird. Schon unter diesem Gesichtspunkt besteht eine kulturpolitische Verantwortung, Tanz weiter zu stärken, statt nur den Status Quo zu halten oder diesen gar zu verringern. Auch in Hamburg ist zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Texts im Februar 2010 noch nicht endgültig gesichert, dass das choreografische Zentrum K3 und Tanzplan Hamburg ab 2011 weiter durch das Land finanziert

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werden wird. Die kulturpolitische Unterstützung ist jedoch in hohem Maß vorhanden, so dass wir – unter Vorbehalt der Förderzusage – die Zeit ab 2011 planen. Dennoch muss auch in Hamburg weiterhin Überzeugungsarbeit dafür geleistet werden, dass zeitgenössischer Tanz auch in Zeiten wirtschaftlicher Krisen eigene Strukturen und einen eigenen Haushaltstitel braucht, um mit einer langfristigen Arbeitsperspektive seine volle kulturelle und gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten zu können. Mit dem Hamburg Ballett sowie dessen Ballettzentrum und Ballettschule liegt in Hamburg eines der besten Beispiele für die Wirksamkeit der künstlerischen Eigenständigkeit des Tanzes direkt vor Ort vor Augen. So wird, so ist zu hoffen, auch für den zeitgenössischen Tanz eine langfristige Entwicklungsperspektive in Hamburg entstehen, mit einem eigenständigen choreografischen Zentrum und einer wachsenden und dynamischen Tanzszene vor Ort. Denn im Sinne des Eingangzitats von Samuel Keller ist die beste Möglichkeit, nachhaltiges Interesse an einer Kunstform zu etablieren, Sichtbarkeit – und damit auch entsprechende Infrastrukturen und tanzbezogene Einrichtungen – zu schaffen. Diese sind gerade für den (zeitgenössischen) Tanz dringend notwendig, um seine Stimme in Gremien, Politik, Gesellschaft, Bildung und Medien nachhaltig zu stärken – und damit auch ein weiter wachsendes Publikumsinteresse zu erzielen.

Literatur Kohse, Petra/Völckers, Hortensia (2009): „Wir ändern nur etwas durch Erfahrung. Ein Gespräch mit Hortensia Völckers über die Notwendigkeit einer Alphabetisierung für den Tanz“ in: Das Magazin der Kulturstiftung des Bundes, Nr. 14, S. 13-14. Albers, Markus (2009): „Erst nach dem Scheitern entsteht das Interessante“, in: brand eins 11. Jahrgang, S. 83-87. www.rundschauonline.de/html/artikel/1257858513764.shtml vom 18.11.2009. www.tanzplan-deutschland.de www.k3-hamburg.de

We had no problem until we had to do something  together… Ein Entwurf zum Verhältnis von Tanz und Institution Sandra Noeth

Nicht erst mit den Aktionen und Diskussionen im musealen Kontext seit den 1970er Jahren, die unter dem Schlagwort der Institutionskritik in die kunstwissenschaftliche Debatte eingeschrieben sind, ist die Befragung der Rolle und der Relevanz von Institutionen für die Entwicklung, Förderung und Vermittlung von Kunst zunehmend Bestandteil künstlerischen wie strukturpolitischen Alltags (vgl. Alberro/Stimson 2009 sowie Texte zur Kunst 2005). Auch der zeitgenössische Tanz hat seither markante Positionen hervorgebracht, die Aktion, Reaktion, Resonanz und Konsequenz dieses Spannungsfelds sind. Das Ausstellen von Produktionsbedingungen und Marktmechanismen, die Diskussion um die vor allem kulturpolitisch etablierte Differenzierung von freier Szene und institutionalisiertem Tanz, das Sichtbarmachen der inneren Logik und Logistik von Arbeitsprozessen ebenso wie konzeptionelle Umstrukturierungen im Bereich der Tanz-Akademien selbst sind nur einige Markierungen dieses Prozesses. So kennzeichnen beispielsweise temporäre Kollektive und Komplizenschaften1 die aktuelle Landschaft 1 | Wie u.a. sweet and tender collaborations, everybody’s toolbox oder mychoreography.org.

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außerhalb bestehender Kompanie-Strukturen und ein oft weit gefasster Begriff der künstlerischen Forschung findet zunehmend Eingang in die Terminologie und die Arbeit von Ausbildungsinstitutionen und Tanzhäusern,2 wo er Theorie und Praxis nicht mehr als Illustration oder Metapher, sondern als parallele Werkzeuge behauptet. Wenn sich Künstler und Künstlerinnen in diesen Prozessen neue Arbeitsräume jenseits ästhetischer und struktureller Verbindungen und Verbindlichkeiten eröffnen, zeugt dies vor allem auch von veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Tänzerinnen und Choreografen. Die Anforderungen an die Künstlerinnen und Künstler gehen dabei oft klar über das Kunstmachen hinaus, was exemplarisch an Räumen und Projekten wie dem selbstorganisierten Recherche- und Kreationsort Performing Arts Forum, dem Publikationszusammenschluss INPEX/The Swedish Dance History oder auch Formaten wie Teaching the Teachers im Rahmen des EU-Projekts Jardin d`Europe deutlich wird:3 International zwischen Probenstudios, Koproduktionen und Residenzen, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Selbstverantwortung und Self-Education und sich an den Rändern ihrer Disziplin bewegend, lassen sich kaum noch Trennlinien zwischen Konzept, Bewegungsfindung, Komposition und Vermittlung ziehen. Rollenwechsel inklusive. Entgegen einer zu kurz greifenden Zeitdiagnostik, die die Künstler in der Folge zu Prototypen eines „flexiblen Menschen“ (vgl. u.a. Sennett 2007) stilisieren und die nach wie vor häufig prekären sozialen und persönlichen Bedingungen ihres Tuns ad absurdum führen würde, verweisen diese Verschiebungen vor allem auf veränderte Anforderungen der Gegenwart. Nach dem Ende der ‚großen Konzepte‘ und in Reaktion auf die einschneidenden Veränderungen in der Ordnung der Welt – „[…] wie das Ende des Kolonialismus, die Dezentralisierung der Welt, die Frage nach Zugehörigkeit oder die Rolle der Zukunft für die Konstitution von Gegenwart“ (tanzheft zwei 2009: 4-5) – gewinnt ein offenerer Begriff des Zeitgenössischen an Gültigkeit: er bespielt den Zwischenraum von in Veränderung befindlichen Zugehörigkeiten und einem allgemeinen ‚In-der-Zeit-Sein‘ und fordert Künstler,

2 | Beispielhaft stehen Ausbildungsangebote wie Advanced Performance Training/Antwerpen, DasArts/Amsterdam, DAS/MAS TanzKultur/Universität Bern, HZT/Berlin oder Performance Studies/Universität Hamburg sowie Tanzzentren wie das Tanzquartier Wien oder PACT Zollverein, die kontinuierlich an den Schnittstellen künstlerisch-theoretischer Forschung arbeiten. 3 | Vgl. www.paf.net, www.inpex.se, www.jardindeurope.eu

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Publikum und Institutionen gleichermaßen zu einer gemeinsamen Arbeit an der Textur von Gesellschaft, Kunst und Leben auf. Auch die Rolle und die Aufgaben der Tanzinstitutionen und ihrer Mitarbeitenden verschieben sich im Zuge dieser Umwälzungen. Inkubator und Diskursverwalter, Diagnostiker und Patient, offener Entwicklungsraum und Advokat einer Kunstform: dem Gedächtnis und dem Archiv des Tanzes verpflichtet und zugleich der Gefahr ausgesetzt, ebendiesen als ein epistemologisch immer anderes Wissen abzugrenzen, sind die Institutionen auf der Suche.

Wem gehört der Tanz? Politiken der Zusammenarbeit „There was no problem until we had to do something together…“, so das rumänische Künstlerkollektiv Cooperativa Performativa im Dezember 2009 im Rahmen einer öffentlichen Diskussion über die Erfahrung, ihre Arbeitsweise und deren künstlerischen wie politischen Zusammenhänge in einem von einer Institution entworfenen Kontext zu teilen.4 Eine wichtige Prämisse für die Gruppe war es, die Zusammenarbeit nicht nach dem Ziel der größtmöglichen Übereinstimmung auszurichten, sondern vielmehr die Vielstimmigkeit als zentrales Moment zu betonen. Kontext des temporären Zusammenschlusses der Cooperativa Performativa war eine sich 2009 wieder zuspitzende (kultur-)politische Situation in Rumänien, die nicht nur das Nationale Tanzzentrum in Bukarest ungesichert ließ, sondern auch die zur Verfügung stehenden Fördermittel auf ein Minimum reduzierte. Die Tänzerinnen und Tänzer sowie die Choreografinnen und Choreografen reagierten darauf mit einer Reihe künstlerisch-aktivistischer Strategien, indem sie u.a. gemeinsame Förderanträge stellten, sich für die parallele Arbeit im selben Probenraum entschieden und die Autorschaft an ihrem Bewegungs- und Gedankenmaterial in verschiedener Weise zur Disposition stellten. Ausgehend von der Grundidee des Open Source hinterfragten sie das (Macht-) Verhältnis von Kunstinstitutionen und Künstlern, Besitzansprüche und Co4 | Die Einladung erfolgte im Rahmen des Projekts Die Haut der Bewegung, einem künstlerisch-theoretischen Projekt zum Choreografischen vom 02.-06.12.2009 am Tanzquartier Wien. Die Diskussion stand am Ende eines ergebnisoffenen Arbeitsprozesses der Cooperativa Performativa mit den Künstlern Magdalena Chowaniec, Adriana Cubides, Fanni Futterknecht, Claire Granier, Radek Hewelt und Thomas Kasebacher.

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py-Right-Interessen in der eigenen Arbeit, die Notwendigkeit von Steuerung und Hierarchien in einer Gruppe ebenso wie produktorientierte Arten von Kollaboration, die auf Übereinstimmung, Verhandlung und Kompromissen beruhen. Auf Einladung des Tanzquartiers Wien konfrontierten Maria Baroncea, Eduard Gabia, Florin Flueras, Alexandra Pirici und Iuliana Stoianescu diese von ihnen entwickelten künstlerischen wie diskursiven Strategien dann in einem zehntägigen ergebnisoffenen Prozess mit einer Gruppe in Wien lebender und arbeitender Künstler – Herausforderung und Überprüfung zugleich: Lassen sich die eigenen Ansprüche und künstlerischen wie gesellschaftspolitischen Motivationen auf andere übertragen? Wie gestaltet sich das Verhältnis von strukturellen Bedingungen und künstlerischem Material, von (Tanz-)Geschichtsschreibung und Autorschaft, von Ausbildung und Kunstmarkt, von Aktivismus und Institution? (vgl. cooperativa-performativa.blogspot.com). Markant an dieser Begegnung von Künstler-Initiative und Kunstmarkt scheint mir das hervortretende Geflecht wechselseitiger Einflussnahme, Ansteckung und Manipulation. Konkret wird dies in Bezug auf die räumlichen und institutionellen Dispositive, aber auch im Hinblick auf die kuratorische Geste, die die Arbeit der Cooperativa Performativa in einen bestimmten inhaltlichen und diskursiven Zusammenhang stellte: Welche Spuren hinterlassen diese Begegnungen? Wo wird Institution spürbar? Wo, umgekehrt, gestalten die künstlerischen Entwicklungen und Notwendigkeiten die Räume der Kunst? Wie wichtig sind lokale, konkrete Kontexte für die Arbeit einer Institution im internationalen Feld des zeitgenössischen Tanzes? Oder, größer gefasst: Wem gehört der Tanz? Das Beispiel und die Praxis der Cooperativa Performativa, welche deren künstlerische Arbeit an dieser Stelle nur sehr unzureichend wiedergeben können, positionieren die Diskussion um Institutionen und Tanz einmal mehr in der Triade von Kunst, Publikum und Zivilgesellschaft. Zur Diskussion steht dabei auch die ökonomische Dimension des Verhältnisses und darin formulierte Erwartungen und Wertschätzungen konkreter wie unkonkreter Art: Was ist ein Stück (Prozess oder Produkt)? Welche Erwartungen sind damit verbunden? Bedarf es einer gewissen Länge, woran misst man seinen Geldwert (Auslastungszahlen oder Entwicklungsimpulse, Unterhaltungswert oder Wissensvermittlung)? Wann ist es erfolgreich und wer ist verantwortlich für das Gelingen oder Scheitern von Tanz in und mit Institutionen? Wer definiert das Verhältnis – zwischen Einladung und Selektion? Oder – in Anlehnung an das Konzept der Gastfreundschaft, wie Jacques Derrida es entwirft: müssen wir die Sprache des Anderen bereits sprechen

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um uns zu begegnen, und sind wir – Publikum, Künstler, Tanzschaffende – in den Räumen der anderen eingeladen um zu bleiben (vgl. Derrida 2007)?

Situation ohne Rahmen – à la recherche du public Institutionen schaffen Rahmen, indem sie Kunst ermöglichen oder verhindern, Themen aufgreifen oder fallenlassen, mehr oder weniger aufmerksam, wach, begeistert, kritisch, initiativ, transparent, waghalsig… gegenüber ihrem eigenen Tun und den Prozessen der Kunst sind. Diese Rahmen sind gesetzt als Fokussierungen, als Markierungen von sich immer im Prozess befindlichen Entwicklungen, als Aufforderungen, Angebote oder Einschränkungen. Ebenso aber treten sie mitunter in Konkurrenz zu ihren Inhalten, wenn sie anheben, um Territorien zu bestimmen und Wahrnehmung zu leiten; wenn sie sich durch ihre Setzungen der Kunst und dem Wissen über sie als etwas Statisches und allgemein Anerkanntes annähern oder sich darauf beschränken, gegebene Bedingungen zu reproduzieren und an gesetzten und bekannten Erwartungen festzuhalten. Zugleich lässt sich ein ‚Mehr‘ an experimentellen Arbeiten im Bereich des zeitgenössischen Tanzes und der Performance ausmachen ebenso wie eine Ausdifferenzierung von künstlerischtheoretischen Positionen, was auch für die Aufgabe der Vermittlung eine neue Herausforderung bedeutet. A la recherche du public, auf der Suche nach den Zuschauern, genügt es nicht, das Publikum als ein solches artifiziell und im Sinne des Allgemeinverständlichen, Konsensfähigen oder Bekannten zu adressieren. Vielmehr gilt es, es als öffentliche, politische Gemeinschaft und aktiven Partner in die performativen Prozesse der Kunst zu integrieren. So heterogen die Motivationen, Themen, Realitäten und Interessen derjenigen sind, die sich mit zeitgenössischem Tanz auseinandersetzen, besteht die Herausforderung und auch – aus der Sicht der Institution – die Chance und die Möglichkeit von Begegnungen und Dialogen darin, diese Verschiedenartigkeiten aufzugreifen und Öffnungen zu schaffen und zuzulassen, die durchlässig sind für Zu- und Eingriffe von außen. Im Vordergrund steht dabei nicht ein Nachzeichnen eines vermeintlich Anderen in Form von diskursiven oder tatsächlich inszenierten Spaltungen des Publikums (z.B. in der Betonung von Disziplinen und Genre-Grenzen wie ‚Tanz‘ und ‚Performance‘ für eine längst schon interdisziplinär agierende Praxis), sondern vielmehr das Sichtbarmachen und die Reflexion von Unterschiedlichkeit. Ein Vermitteln im Dazwischen also, das Kontexte herstellt, Blickrichtungen vorschlägt und Topografien entwirft

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im Bewusstsein und in der Befragung der eigenen Position und Perspektive: der eigenen Sprache und Kriterien, der eigenen politischen Bedingungen, ideellen wie ideologischen Ansprüche, subjektiven Vorlieben und Abneigungen, lokalen Gegebenheiten und internationalen Realitäten. 5 Es geht also darum, Räume zu schaffen, die nicht am utopischen Anspruch der Gleichheit aller Akteure scheitern, sondern die im Moment des Sich-öffnens, im Dialog mit den temporären Gemeinschaften des Publikums und der Kunst gleichermaßen (und in Resonanz auf Konzepte des Kuratierens, die sich ebenfalls im Wandel befinden) um die Verhandlung von Rechten und Pflichten, von Territorium und Machtverhältnissen wissen. Das Interesse einer so motivierten Idee von Vermittlung wäre nicht, dem Publikum bereits vorhandene oder mitgebrachte Meinungen vorzuführen oder diese mit dem Abschluss eines Vertrags über die theatrale Situation vorübergehend abzugeben, sondern die Art und Weise der Begegnung immer wieder neu zu definieren: einem „emanzipierten Zuschauer“ (vgl. Rancière 2008) eine „emanzipierte Institution“ zur Seite zu stellen.

Being hand in glove – Sich auf die Vorgänge der Kunst einlassen „[…] In der Zukunft werden Kunst produzierende Institutionen spontan in einen kurzen, tiefen und erholsamen Schlummer fallen wie Bären, die einen Winterschlaf halten. Währenddessen wird sich die Kultur wandeln – von allen unbemerkt und ohne jede Kontrolle. Das Neue wird sich einschleichen. Heimlich. So, wie es sich gehört. Das Neue ist snobistisch und lässt sich nicht kaufen. In der Zukunft wird der Tänzer Autor Sänger Tänzer Denker kein Genie Vater oder Beschützer mehr sein müssen. Frei von diesen Zwängen wird er die Momente des Scheiterns ohne jede Krise genießen.

5 | Wie kann der beste Raum für Arbeiten geschaffen werden? Wie kann ein offenes Haus in und mit den institutionellen Erwartungen gedacht werden? Was sind Erwartungen, was sind Projektionen? Wollen wir damit umgehen? Diese und ähnliche Fragen sind mögliche Ausgangspunkte für ein gemeinsames Nachdenken von Künstlern und Kunstinstitutionen, das auch soziale Implikationen von Präsentations- und Vermittlungsformaten zur Diskussion stellt und dies jenseits struktureller Positionierungen und Abgrenzungen.

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In der Zukunft wird das Publikum einer Live-Performance Entzücken und Destabilisierung, nicht Bestätigung und Trost suchen. […] In der Zukunft wird die darstellende Kunst expandieren, das Publikum wird einbezogen. Partizipation und Passivität werden als bittersüße Ingredienzien betrachtet. Ein live erlebtes Event wird beides erlauben: Geschmacksvielfalt. […] In Zukunft werden wir immer noch auf Veränderungen unvorbereitet sein.“ (Lacey 2009: 187-192).

Es ist verführerisch und vermutlich vorübergehend einfacher, Utopien und Visionen von Institutionen zu entwickeln, die allen Wünschen und Interessen entsprechen würden. Herausfordernder scheint mir, in der Suche nach Offenheit und einem Versprechen des ‚anything goes‘, Möglichkeiten zu artikulieren und weiter zu entwickeln, die realisierbar sind im Hier und Jetzt, auf der Basis der Mittel und Strukturen, die zur Verfügung stehen. Das hieße, nicht allem Vorhandenen abzusagen oder ihm jeden Sinn abzusprechen, sondern sich die Performativität des Tanzes und des Körpers für die institutionelle Arbeit zu eigen zu machen. Die Diskussion weg zu bewegen von dem unbeweglichen Paar Künstler und Institution und ihrem anonymen, durch das Dogma der Vermittlung verbundenen Publikum, hin zu einem geteilten Bewusstsein darüber, auf welchen Ebenen wir uns bewegen und bewegen wollen. Die Perspektive zu verschieben hin zu einem performativen Rahmen meint auch, Wissenskonzepte zu akzeptieren, die prozessual, singulär, mehrstimmig und politisch sind. Dieser Prozess greift die Instabilität des Tanzes als ein Potential auf, das nicht vorrangig über Konsens oder Abstimmung nachdenkt, sondern mit dem Ungesicherten umgeht und dafür vorübergehende, sich in Veränderung befindliche Formate sucht (ohne diese dann wiederum institutionalisieren zu müssen). Nicht vorgegebene Themen, die erfüllt werden wollen, stehen damit auf der Agenda, sondern verschiedene Register von Wissen, die ein Problem rekonstruieren, in die Textur eingreifen und Fragen generieren. Auch Rollen werden aufgeweicht, so dass weder Künstler noch Institutionen zu Antwortgebern für ein längst nicht mehr existentes passives Publikum reduziert oder stilisiert werden. Vielmehr treten Momente der Teilhabe an etwas unsichtbarem ‚Gemeinsamen‘ – an Gesellschaft, Kultur, Politik, Zeugenschaft und Erinnerung – in den Vordergrund: ein Wiedererkennen von Schnittmengen, Reaktionen darauf, Markierungen dessen, wo Kunst ansetzt, was sie auslöst, was ihre Themen sind.

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In der Folge ginge es im Nachdenken über Tanz und Institution nicht unbedingt um mehr Freiheit, finanzieller, künstlerischer, räumlicher und anderer Art, sondern darum, sich die unterschiedlichen Anliegen klar und in einem Prozess nachvollziehbarer Setzungen gegenseitig spürbar zu machen. Damit wird der Moment des Umschlags zentral: ein Moment gegenseitiger Berührung, eine Arbeit an der Membran der Begegnung, angesiedelt zwischen der Autopoiesis der Struktur und dem Metabolismus des Körpers. Dieser Entwurf betont eine Praxis von Zusammenarbeit, die neben dem ökonomisch-politischen Problem der Verteilung Fragen nach Verantwortung und Anerkennung, nach Vertrauen und Begleitung (z.B. auch im Verhältnis von Künstlern, Künstlerinnen und Kuratoren, Kuratorinnen) und eine ethische Dimension in Tanz und Performance relevant werden lässt. Der Möglichkeitsraum, den die Tanzenden und Choreografierenden, die Kunstinstitutionen und das Publikum damit gemeinsam betreten, ist dabei kein loses Versprechen. Er ist nicht Legitimation noch Illustration. Er ist nicht repräsentativ, nicht hierarchisch nach Funktionen getrennt, nicht dem Paradigma des Neuen verpflichtet. Er öffnet sich im Modus des Unabgeschlossenen jenseits gängiger Kategorisierungen und setzt vielmehr an, die Erfahrung des Übersetzens, des Nicht-Wissens, das Nicht-Bestätigte und das Nicht-Wiederholbare zu integrieren, um sich die Unmittelbarkeit von Kunst und Leben zu eigen zu machen. Die Begegnung von Kunst und Institution als Stopp im Möglichkeitsraum: als Formulierung von Anforderungen an einen Verstehensprozess, als gemeinsame Arbeit an der Textur des Choreografischen – zwischen Entschleunigung und Akzeleration, Schleudern und Überschwang.

Literatur Alberro, Alexander/Stimson, Blake (Hg.) (2009): Institutional Critique. An anthology of artists’ writings, Cambridge, Massachusetts: MIT-Press. Lacey, Jennifer (2009): „In der Zukunft“, in: Sigrid Gareis/Krassimira Kruschkova (Hg.), Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft, Berlin: Theater der Zeit, S. 187-192. Derrida, Jacques (2007): Von der Gastfreundschaft, Wien: Passagen. Ritsema, Jan (2009): „Illusionslos. Zur Zukunft der Kunst und der Künste“, in: Sigrid Gareis/Krassimira Kruschkova (Hg.), Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft, Berlin: Theater der Zeit, S. 91-100. Rancière, Jacques (2009): Der unwissende Lehrmeister, Wien: Passagen. Ders.(2008): Le spectateur émancipé, Paris: La fabrique.

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Sennett, Richard (2007): Der flexible Mensch: die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berliner Taschenbuch. Tanzplan Bremen/Performance Studies Universität Hamburg (2009): tanzheft zwei - Zeitgenossenschaft. Texte zur Kunst: Institutionskritik (September 2005), 15. Jg., Heft 59. www.paf.net, www.inpex.se, www.jardindeurope.eu vom 27. März 2010. http://cooperativaperformativa.blogspot.com/vom 27. Februar 2010.

Ästhetische Zugänge zum Tanz

Archive der Erfahrung, Archive des Fremden Zum Körpergedächtnis des Tanzes Gerald Siegmund

Wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts rückt heute, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, der Tanz erneut als Paradigma kulturellen Wissens ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. Die neuerliche Beachtung, die der Tanz von Seiten der Wissenschaft, der Kunst und der Politik erfährt, ist selbst eine Gedächtnisleistung. Wie keine andere kulturelle Praxis und wie kaum ein anderer Diskurs trägt er zur Dynamisierung überkommener Wissensordnungen und disziplinärer Grenzen bei, was sich in zahlreichen neugegründeten universitären Studiengängen wie in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Gießen, die den Tanz zum Gegenstand der Erkenntnis erheben, niederschlägt. Wie Inge Baxmann gezeigt hat, steht „[d]er Körper als Gedächtnisort der Moderne“ (Baxmann 2005: 15-35) in der Wahrnehmung der Zeit vor allem unter dem Vorzeichen des Verlusts, eines Verlusts an Geschichtlichkeit und Traditionen, dem man durch Hinwendung zu Körpertechniken und Gründung von Archiven und Forschungseinrichtungen entgegen wirken wollte. Ist die historische Debatte von einer ‚Verlustrhetorik‘ geprägt, so scheint das Wissen, das der Tanz als Praxis und Diskurs heute bereit hält, eher der heiß laufende Motor für das vernetzte komplexe Denken, das alle Teile unserer globalisierten westlichen Gesellschaften einschließt. Die Aufwertung des Tanzes als Ausdruck und Symbol gesellschaftlicher „Verflüssigungen“ (Göhler 2006) ist ebenso erfreulich wie

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sie eine bedenkliche Kehrseite hat. Droht dem Tanz und dem Tanzen doch sein Gedächtnis in dem Maße abhanden zu kommen, wie ständig an ihn als dem Vergessenen der Kultur(politik) appelliert wird. Gerade weil der Tanz als flüchtige Kunstform und Praxis scheinbar kein Gedächtnis hat, muss er zur Apologie postfordistischer Gesellschaften herhalten.

Körpertechniken Spricht man vom kulturellen Gedächtnis des Tanzes als ‚lebendiges Archiv‘, so ist damit in erster Linie der Körper der Tänzer gemeint. Als lebendiges Archiv basiert das Gedächtnis des Tanzes auf Körpertechniken, die nicht schriftlich fixierbar sind, einer traditionellen Archivierbarkeit in Form von Notaten oder Bildern also entgegenstehen und im Tanzen ausgespielt und verändert werden. Diese Techniken sind zu verstehen als Praktiken, die den Körper prinzipiell als offenen, in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt begriffenen kulturellen Körper ausweisen. Doch wie ist dieses Wissen genauer zu fassen? Welche Konsequenzen hat ein solches Wissen für die Geschichtlichkeit von Gesellschaften? Der französische Soziologe Marcel Mauss hat 1934/35 in seinem viel zitierten Essay Die Techniken des Körpers darauf hingewiesen, dass die Art und Weise wie Menschen sitzen, gebären, schwimmen oder essen radikal davon abhängt, wie eine bestimmte Kultur diese Fertigkeiten weitergibt (Mauss 1989: 199-220). Jede Kultur lehrt sozusagen Techniken des Körpers, die Verwendung unseres Körpers und damit sind unsere Körper selbst kulturspezifisch geprägt, geformt und hergestellt. Der Körper fungiert letztlich als allumfassendes Symbol für eine Kultur und deren vielfältigen Prozesse der Interaktion. Für den Tanz rückt vor dem Hintergrund dieser Einsicht die Frage nach der Tanztechnik ins Blickfeld. Egal ob Tänzer klassisches Ballett trainieren, ob sie sich der Kontaktimprovisation verschrieben haben oder die Improvisationsmethoden eines William Forsythe studieren – in jedem Fall legen sie in ihrem Körper bestimmte Erinnerungsspuren an, die ihren Körper prägen und seine auch äußerlich sichtbaren Haltungen gestalten. Diese Erinnerungsspuren können sie als implizites Bewegungsgedächtnis in einer Situation abrufen, um damit neue Situationen zu bewerkstelligen. Jede Tanztechnik ist daher sowohl ein Körpergedächtnis, eine Art Speicher, als auch der Zugang zu ihm, eine Aktivität. Das heißt aber auch, dass sie ein bestimmtes Wissen des tanzenden Körpers ist, wie er sich in Raum und Zeit sowie zu anderen Tänzern im Raum verhalten muss. Der tanzende Körper wird zum Archiv von Erfahrungen, die in Bewegungen und Schrit-

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ten kodiert sind. Dieses Wissen wird im Unterricht zwischen Lehrer und Schüler sowohl mündlich in Form von Anweisungen weitergegeben als auch körperlich durch Nachahmung erfahren, es ist schriftlich in Handbüchern oder bildlich in Form von Fotografien, Videos oder Diagrammen festgehalten. Es ist mithin eine Praxis, die sich unterschiedlicher Medien bedient und die nie als solche abbildbar oder schriftlich fixierbar ist. Dieses Wissen ist darüber hinaus auch ein Wissen von der kulturellen Situation und ihren Diskursen, in der es sich herausgebildet hat. Der Körper ist eine aktualisierte historische Formation, in die man sich tanzend hinein begibt, um sich auf die Spuren seiner Geschichte, seiner Geschichten und der damit verbundenen Emotionen zu begeben.

Zwischenleiblichkeit Maurice Merleau-Ponty fasst diese kulturelle Interaktion, ohne die es keinen spezifischen Körper gäbe, grundsätzlicher. Er sieht im Sehen und Berühren, mithin also in den Sinnesorganen des Auges und der Hand, zwei grundsätzliche Weisen des Menschen, sich mit seiner Umwelt in Verbindung zu setzen. Sie sind auch die zwei ursprünglichen Weisen, mit denen sich das Kleinkind die Welt im Sehen und Besitzen, im Gesehen- und Gehaltenwerdenwollen aneignet. Für Merleau-Ponty sind diese beiden Sinnestätigkeiten in einer Art synästhetischer Erfahrung miteinander verschränkt. Die Erfahrungen des Sehens und des Tastens sind miteinander verbunden, und zwar auf eine Weise, dass das eine für das jeweils andere einstehen kann. Sehen heißt immer auch den Gegenstand berühren, ihn abtasten. Umgekehrt bedeutet berühren, sich den Gegenstand vor Augen führen. Doch im gleichen Augenblick, in dem ich das Objekt berühre, hört es auf, Objekt zu sein. Denn es berührt mich im gleichen Moment, in dem ich es berühre. Es sieht mich, im gleichen Moment, in dem ich es sehe. Das Objekt wird zum handelnden Subjekt, das mich herausfordert. Die „Zwischenleiblichkeit“ (Merleau-Ponty 1986: 189) ist also der grundsätzliche Modus unseres In-der-Welt-Seins. Wir sind als körperliche Wesen offene Wesen. Die Grenzen unseres Körpers – und damit sind immer auch Handlungsräume gemeint, die umfassender sind als die physischen Grenzen unseres Körpers – überkreuzen sich mit jenen der anderen Körper. Unsere körperlichen Erfahrungen mediatisieren sich also mit jenen anderer körperlicher Erfahrungen. Der französische Philosoph und Tanzforscher Michel Bernard betont in Anlehnung an empirische Forschungen über den Zusammenhang von Muskelanspannung bei Kleinkindern die Ähnlichkeit von Merleau-Pontys

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Konzept der Zwischenleiblichkeit mit der des „muskulären Dialogs“. So ist die Muskelspannung nicht nur notwendig, um eine bestimmte Bewegung auszuführen, sondern sie ist immer auch Ausdruck von Emotionen. Um lachen oder weinen zu können, ist eine bestimmte Anspannung der Muskulatur notwendig, die als angenehm oder unangenehm empfunden wird, womit emotionale Bahnungen im Körper gelegt werden. So kann das Halten einer bestimmten Muskelspannung Auslöser für eine emotionale Erinnerung sein. Der Körper ist also besetzt mit Emotionen. Unser Körperbild variiert ja nach libidinösen Besetzungen des Körpers, die sich über den Körper verteilen. Doch damit nicht genug. Der Muskeltonus ist immer auch Eindruck des anderen, der mich lachen oder weinen macht. Die Erfahrungen des anderen werden durch meine Reaktion darauf zu Teilen von mir. „Der Muskeltonus bereitet die Bewegung nicht vor und führt sie aus, sondern drückt gleichzeitig durch die Haltungen, die er dem Körper abverlangt, auch die affektiven Ströme aus, die wiederum die Möglichkeiten darstellen, die das Kind hat, sich die Erfahrungen des anderen einzuverleiben und zu assimilieren“ (Bernard 1996: 54-55). Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang vom impliziten Gedächtnis, „das seine [die des Kindes, d. Verf.] Fertigkeiten des motorischen, sensorischen und emotionalen Umgangs mit anderen und damit seine künftigen Beziehungsmuster“ prägt (Fuchs 2005: 4). Der unverwechselbare individuelle Ausdruck eines Tänzers oder einer Tänzerin besteht demnach darin, wie er oder sie eine Verbindung herstellt zwischen allgemeinen Kultur- und spezifischen Tanztechniken auf der einen Seite und dem impliziten Gedächtnis auf der anderen Seite. Der symbolische Körper der Soziologie, der gelebte Körper der Phänomenologie und der imaginäre Körper der Psychoanalyse gehen eine enge Verbindung ein, die das Wissen über den Körper generieren.

Körpergeschichte Was bedeutet dieser Befund nun für die Frage nach der Geschichtlichkeit und damit nach der Veränderbarkeit von Gesellschaften? Auf der einen Seite verspricht das In-der-Welt-Sein des Menschen, dass er sich auf eine Zukunft hin handelnd gestalterisch entwerfen kann. Gedächtnis ist somit immer etwas, das sich in actu herstellt. Eine Aktivierung des Körpergedächtnisses bedeutet mithin immer auch die Möglichkeit von neuen Erfahrungen. Auf der anderen Seite setzt das implizite Gedächtnis eines jeden dieser Veränderbarkeit aber auch Grenzen. Besteht das Gedächtnis des Körpers immer in er-

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ster Linie aus den Erinnerungen an andere Körper und deren Erfahrungen, sind Krieg, Verluste oder andere traumatische Erlebnisse auch in den Körpern jener Menschen vorhanden, die diese Erfahrungen selbst nicht gemacht haben. Veränderungen sind daher nur in begrenztem Maße möglich. Nicht alles geht zu jeder Zeit und überall. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen sprechen, denn das emotionale körperliche Gedächtnis steht immer auch quer zum Fortschrittsdenken (vgl. Thurner 2008: 13-18). Es bildet eine Schicht der Verlangsamung, die nicht ohne eine wie auch immer geartete Erinnerungsarbeit zu integrieren ist. Diese Ungleichzeitigkeit ereignet sich nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen, zwischen erster und dritter Welt, zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und den Kolonisierten. Vielmehr besteht die eigene Kultur aufgrund ihrer körperlichen Basis aus heterogenen Schichten, in die der Körper durch sein Gedächtnis andere Räume einführt und so Zwischenräume entstehen lässt, deren Auslotung der Kunst obliegen. Vergessen, Entlernen, wäre ein radikaler Weg, den Prozess der gedanken- und körperlosen Veränderung zu beschleunigen. Die globalisierte Mediengesellschaft des Spektakels, die alles als elektronisches Bild abrufbar und damit gleichzeitig bedeutungslos macht, weil die verabsolutierten Bilder keinen Kontakt mehr zur körperlichen Erfahrung des Einzelnen herzustellen vermögen, arbeitet mit Hochdruck daran. Keine zwischenmenschliche Erinnerung: das heißt hier vor allem keine motorisch-muskuläre Erinnerung. Vor diesem Hintergrund besitzen das Körpergedächtnis des Tanzes und der Körper als Gedächtnisort nicht wie in der Moderne in erster Linie die Qualität, im Archivieren eine Verlustbilanz zu erstellen, um damit einen ideologisch besetzten idyllischen Ort der folkloristischen Ganzheit herbeizufantasieren. Vielmehr kommt ihnen das Potential des Widerstands, der Reibung an der Gedächtnis- und damit Körperlosigkeit einer Kultur zu, um medizinisch-therapeutisch, pädagogisch-didaktisch oder künstlerisch-ästhetisch auf eine den heterogenen Wissensfeldern und Disziplinen je eigene Art und Weise an der Herstellung eines Gedächtnisses und damit an der Herstellung von Gesellschaft zu arbeiten. Nicht um archivarische Identitätsstiftung geht es dem Gedächtnis des Tanzes in ästhetischer Hinsicht, es geht eher von einer Spaltung des Subjekts aus, in dessen Zwischenräume es sich auf Spurensuche nach Heterogenem begibt. Dieses Gedächtnis vermag die Verbindungen zwischen Hören und Sehen, Fühlen und Denken im Körper eines jeden Einzelnen und zwischen den Körpern neu zu ziehen, indem es an die Erinnerungsspuren appelliert, diese aufruft, ins Spiel bringt, ausspielt und umschreibt.

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Sich selbst re-konstruieren Um ein Umschreiben im doppelten Wortsinn von Verändern und Einkreisen geht es auch in zahlreichen Rekonstruktionen wichtiger und prägender Stücke der Tanz- und Performancegeschichte, deren verstärktes Auftauchen in der Tanzlandschaft seit zehn Jahren zu beobachten ist. Der Trend hält an und nimmt sogar noch zu. Neue Formate sind entstanden wie die Lecture Performance, eine Mischform zwischen Kunst und Theorie, die bis dato unterschiedene Formen des Wissens kombiniert. Sind die Tänzer und Tänzerinnen dem Historismus verfallen, Wissenschaftler zu künstlerischen Dilettanten geworden, weil sich die Verlusterfahrung, die Inge Baxmann für das beginnende 20. Jahrhundert konstatiert hat, unter veränderten medialen Bedingungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts wiederholt? Urheben Aufheben nennt der aus Düsseldorf stammende und in Berlin lebende und arbeitende Choreograf Martin Nachbar seine Auseinandersetzung mit Affectos Humanos einem fünfteiligen Tanzzyklus der deutschen Tänzerin Dore Hoyer aus dem Jahr 1962. Der Untertitel seiner Rekonstruktion lautet Ein Selbstversuch und bezieht damit die Position desjenigen, der die Arbeit der Rekonstruktion von einem heutigen Standpunkt aus vornimmt, explizit in die Arbeit ein. In dem Stück thematisiert Martin Nachbar also auch seine eigene Biografie mit dem Stück von Dore Hoyer. Eine erste Begegnung mit ihrer Arbeit fand während seiner Studienzeit in Brüssel Ende der 1990er Jahre statt, wo er in einem Archiv auf den 1967 vom Hessischen Rundfunk kurz vor dem Tod der Tänzerin aufgezeichneten Film der Affectos stieß. Die Begegnung setzte sich fort über seine Arbeit an Hoyers Zyklus für die Produktionen Affects und Affects/Rework des Kollektivs B.D.C. 1999/2000, eine Lecture Performance über diese Arbeit aus den Jahren 2000 bis 2003 (Nachbar 2003: 88-87) bis hin zu Urheben Aufheben im Jahr 2008. Zehn Jahre also hat Nachbar mit dem abwesenden Körper Dore Hoyers zugebracht, sodass die zeitliche Distanz, die Urheben Aufheben thematisiert, nicht nur die zwischen Nachbar und Hoyer ist, sondern auch die zwischen dem Martin Nachbar von 1999 und jenem von heute. Nachbar versucht sich selbst sowie seiner Arbeit und Herangehensweise auf die Spur zu kommen. Er versucht sich in seinem Selbstversuch seiner selbst habhaft zu werden. Doch im Selbstversuch mit dem Fremdkörper wird sich Nachbar selbst fremd. Stets befindet er sich in einem uneigentlichen und in diesem Sinne ironischen Verhältnis zu sich ‚selbst‘. Alles, was er auf der Bühne tut, stellt die Nicht-Identität mit sich regelrecht aus. Er zeichnet seinen Körperumriss mit Kreide auf die fahrbare Schultafel, die ein wichtiges Requisit des Stücks darstellt, und schreibt sich so als Schimäre, als Spur über und in die anderen Spuren zu Dore Hoyer ein, die vorher

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bereits auf der Tafel vermerkt wurden. Das Stück ist in zehn Teile gegliedert, wobei fünf die alten Tänze von Dore Hoyer ausmachen und fünf weitere von Nachbar hinzugefügt wurden. So beschreibt er seinen Gang ins Archiv, legt seine Gedankengänge offen, unter welchen Prämissen und mit welchen Parametern er rekonstruiert hat und übergibt sich selbst im Teil Vergessen der körperlichen Abwesenheit, indem auf der leeren Bühne nur sein aufgezeichneter Atem aus dem vorangegangenen Tanz zu hören ist.

Martin Nachbar in Urheben Aufheben © Gerhard Ludwig Warum aber dann rekonstruieren? Ein Impuls ist sicherlich der Versuch, auf die Abwesenheit und radikale Unverfügbarkeit eines Originals hinzuweisen, das sich in verschiedenen Medien vom Film über Bilder bis hin zu anderen Körpern, die mit dem Körper Hoyers in Berührung und mit ihr als Person in Kontakt standen, transponiert und damit umgestaltet hat. Positiver formuliert kann man aber auch das Thema des Stücks, die menschlichen Affekte, beim Wort nehmen und das von Nachbar immer wieder selbst ins Spiel gebrachte „sich affizieren lassen“ vom Fremden ernst nehmen (Siegmund 2010). Seit der Antike werden Affekte dadurch ausgelöst und definiert, dass dem Menschen von außen etwas zustößt. Der Mensch erleidet etwas, das ihn affiziert und in ihm bestimmte Regungen auslöst. Im Gegensatz zum aktiven Handeln ist er im Zusammenhang mit den Affekten als passives Wesen bestimmt, seine passio wird zur Passion. Ein dem Anderen, der und das mir zustößt, ausgeliefertes Subjekt ist ein prinzipiell offenes Subjekt, das

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gerade in dem Maße zum Subjekt wird und so z.B. bestimmte Charaktereigenschaften gewinnt, in dem es zunächst einmal nicht Herr seiner selbst ist. Sich von Dore Hoyers Choreografie und der in ihr formulierten Körperbildern affizieren zu lassen heißt demnach, sich passiv von ihr affizieren zu lassen, um genau dadurch aber Entscheidungen möglich zu machen (der Filmaufnahme etwa nur unter bestimmten Aspekten zu folgen etc.), die mir einen eigenen Platz eröffnen und zuweisen. Martin Nachbar überlässt sich dem Fremden, um darin die Spur seiner Selbst aufzunehmen. Die Choreografie Dore Hoyers fungiert in diesem Sinn als abstrakte Struktur, in der der Körper Nachbars sich verhakt, um ‚sein‘ Körper werden zu können. Gerade weil Dore Hoyer nicht mehr lebt, ist sie zu einem auf ikonischen oder anderen Zeichen basierendem Text geworden. Sie ist ein unmenschliches Substrat von möglicher Erfahrung. Darin ist sie jeder Art der Tanztechnik vergleichbar. Dabei versucht Nachbar nicht, diese fremde mögliche Erfahrung nachzuahmen, sich ihr nicht mimetisch anzugleichen, um sie auf diese Art unschädlich zu machen und zu besitzen, sondern sich mit ihr zu konfrontieren, um im Fremden Entscheidungsfreiheit zu gewinnen. ‚Überlassen‘ heißt hier vor allem, sich in den Zwischenraum zwischen Ich und Ich einerseits und Dore Hoyer andererseits hineinzubegeben, um sich dort mit seinem eigenen Nicht-Wissen zu konfrontieren und dieses szenisch zu erproben. Die Vielzahl der Rekonstruktionsversuche der vergangenen zehn Jahre sind demnach eine mögliche Antwort auf die Frage, wie im Zeitalter entkörperlichter und damit wie etwa im Internet ortlos gewordener Bilder eine eigene (körperliche) Position zu entwickeln ist. Sie suchen den Widerstand, die den Choreografen überhaupt erst Entscheidungen abfordern, die zu einer Position führen können, von der aus gesprochen und gehandelt werden kann. Das Gedächtnis des Körpers ist so immer auch die Konstruktion von anderen Körpern.

Literatur Baxmann, Inge (2005): „Der Körper als Gedächtnisort. Bewegungswissen und die Dynamisierung der Wissenskulturen im frühen 20. Jahrhundert“, in: Inge Baxmann/Franz Anton Cramer (Hg.), Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne, München: K. Kieser, S. 15-35. Bernard, Michel (1996): Le Corps, Paris: Seuil. Fuchs, Thomas (2005): „Ökologie des Gehirns. Eine systematische Sichtweise für Psychiatrie und Psychotherapie“, in: Der Nervenarzt 76:1, S. 1-10.

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Göhler, Adrienne (2006): Verflüssigungen. Wege und Umwege von Sozialstaat und Kulturgesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus. Mauss, Marcel (1989): „Die Techniken des Körpers“, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 199-220. Merleau-Ponty, Maurice (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink. Nachbar, Martin (2003): „ReKonstrukt“, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.), Moving Thoughts. Tanzen ist Denken, Berlin: Vorwerk, S. 88-97. Siegmund, Gerald (2010): „Affekt, Technik, Diskurs“, in: Christina Thurner/Julia Wehren (Hg.), Original und Revival Geschichtsschreibung im Tanz, Zürich: Chronos. Thurner, Christina (2008): „Zeitschichten, -sprünge und -klüfte. Methodologisches zur Tanz-Geschichts-Schreibung“, in: Forum Modernes Theater 23:1, S. 13-18.

Körpertechniken als Wissenskultur Choreografische Konzepte im Umgang mit Tradition – Beispiele von Foofwa d’Imobilité Julia Wehren

Ein ‚Travail d’art‘ sei seine jüngste Produktion, ein Kunst-Werk im buchstäblichen Sinne. Diese Prämisse schickt der Genfer Choreograf und Tänzer Foofwa d’Imobilité dem Solo Musings voraus, das im Dezember 2009 in Genf uraufgeführt wurde (Foofwa d’Imobilité 2009: 1). Er will damit einerseits betonen, dass es sich nicht nur um eine choreografische Arbeit handelt, sondern um ein Gesamtkonzept von Tanz, Choreografie, Musik und visueller Gestaltung. Schließlich ist Musings eine Hommage an Merce Cunningham, der die Eigenständig- und Gleichwertigkeit aller Künste auf der Bühne zum Prinzip erhob. Zum anderen geht es Foofwa d’Imobilité auch darum, das Handwerk, mitunter die Mühsale, die zur Tanzkunst gehören, hervorzuheben. Tanz ist Arbeit, könnte die Botschaft lauten. Am Körper, an der Kunstform und an deren Vergangenheit. Tanz kann nicht losgelöst von seiner (Fach-)Geschichte betrachtet werden. Sei es in der affirmativen Traditionspflege oder in der demonstrativen Abkehr, stets manifestiert sich im Tanz ein bestimmtes Verhältnis zu seiner Vergangenheit. Derzeit scheint sich dieses in einer durchaus kritischen Hinwendung zur Tradition zu zeigen, die sich in choreografischen Reflexionen von Tanzgeschichte äußert. Choreografinnen und Choreografen nehmen Bezug auf vergangene Tanzereignisse, um das eigene Schaffen und dessen Bedingungen zu befragen. Diese Auseinandersetzung mit der eigenen Fach-

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tradition soll im Folgenden anhand von Foofwa d’Imobilités Arbeit exemplarisch untersucht werden.

Foofwa d’Imobilité und die tänzerische DNA Für Foofwa d’Imobilité ist das Wissen über Tanz und seine Geschichte Voraussetzung für künstlerisches Schaffen schlechthin. Es dient ihm als Schule, als Lern- und Inspirationsquelle gleichermaßen sowie als Vorlage für lustvolles Kopieren, Parodieren und Karikieren. „Ich verwende das, was ich kenne, ein klassisches Erbe, in erster Linie dasjenige von Cunningham, aber auch was ich während meiner Zeit in New York und in Europa gesehen habe. Ich finde es wunderbar, das eigene Kulturgut nicht von sich zu weisen. Schließlich bildet es die DNA von uns Choreografierenden“, (dt. Übersetzung d. Verf.) beschreibt er selbst sein künstlerisches Vorgehen (Foofwa d’Imobilité 2005: 11).1 Foofwa d’Imobilité lässt sein Erbe nicht nur offenkundig in seine Arbeiten einfließen, sondern reflektiert es auch in der choreografischen Auseinandersetzung und stellt dabei Fragen wie: Was bleibt von der tänzerischen Biografie im Körper eingeschrieben? Wie tritt sie hervor und schleust sich ein in jede neue Geschichte? Dabei geht er aus von einem körperlichen Gedächtnis, das sich fortschreibt und als implizites und explizites Wissen schließlich in der künstlerischen Arbeit offenbart. Zwei Arbeiten des Choreografen stellen diese künstlerische Haltung besonders heraus: Musings von 2009 wurde im Rahmen der Reihe Cunningham Constellations im Salle des Eaux-Vives in Genf uraufgeführt, als Teil einer Serie von Arbeiten rund um den im Juli 2009 verstorbenen Merce Cunningham. Der Tod des legendären New Yorker Choreografen machte Foofwa d’Imobilité zum gefragten Spezialisten in Sachen Triplets, Curves und Tilts – als praktischer Cunningham-Experte und als lebendiges Archiv, war er doch während sieben Jahren Tänzer in der Merce Cunningham Dance Company.2 1 | “J’utilise ce que je connais, qui est un héritage classique, ›cunninghamien‹ avant tout, mais aussi ce que j’ai vu à New York et en Europe. Ce qui est génial, c’est de ne pas refuser son patrimoine. C’est ça qui fait notre ›ADN‹ en tant que chorégraphes.“ 2 | Foofwa d’Imobilité ist im Zusammenhang mit Cunningham-Hommagen auch als Tänzer in Boris Charmatz’ 50 ans de danse (2009) zu sehen, einer choreografischen Auseinandersetzung mit Fotografien von Cunningham, sowie in Un américain à Paris (2009) von Mathilde Monnier.

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Mimésix aus dem Jahr 2005 entstand in Zusammenarbeit mit dem französischen Tänzer und Choreografen Thomas Lebrun sowie vier weiteren Tänzerinnen und Tänzern, die unterschiedliche choreografische und tänzerische Hintergründe haben und sich auch von Typus und Körperbau her unterscheiden. Mit schlaksigen Gliedern und einem geradezu mageren Körper bewegt sich Anja Schmidt anders als Thomas Lebrun, dessen stattliche Statur mit einer runden und weichen Bewegungssprache korrespondiert. Muskulös zeigt sich wiederum Foofwa, während bei Tamara Bacci der lange, kompakte Rumpf auffällt. Gemeinsam fächern sie während 90 Minuten ihr individuelles und kollektives biografisches Tanzwissen auf, um damit der Frage nachzugehen, welche bewussten und unbewussten Einflüsse auf sie als Choreografinnen und Tänzer, die sie heute sind, über die Jahre einwirkten. Konkret: welche Sprachen, Stile, Schulen und Techniken sich in ihre Körper eingeschrieben haben.

Spiel mit Parodien und Persiflagen: Mimésix aus dem Jahr 2005 von Foofwa d’Imobilité und Thomas Lebrun © Steve Iuncker

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Der Körper als Archiv Die Suchrichtung von der (Tanz-)Vergangenheit in unsere (Tanz-)Gegenwart drängt sich bei Foofwa d’Imobilité geradezu auf, vereint er doch selbst verschiedene Tanzgeschichten in sich: noch unter seinem bürgerlichen Namen Frédéric Gafner gewann er 1987 den Prix de Lausanne, tanzte danach beim Stuttgarter Ballett, bevor er 1991 schließlich zu Merce Cunningham kam. 1998 verließ er New York wieder und kehrte zurück in seine Geburtsstadt Genf, um dort seine eigene choreografische Arbeit zu entwickeln. In Mimésix greift er einzelne dieser biografischen Geschichten heraus, fügt sie zusammen mit denjenigen seiner Mittänzer Lebrun, Schmidt, Bacci, Stéphane Imbert und Sylvie Giron und baut daraus eine Nummernrevue. Titelblätter auf einem Notenständer künden das Thema der einzelnen Szenen an, begleitet von einer synthetischen Stimme, welche die zugrunde liegende These formuliert. Machina reproduire heißt die zweite Szene, in der Unterzeile datiert von 1905 bis 1985. Sie führt Tänzer als Maschinen vor, die verarbeiten, womit man sie füttert, und imitieren, was ihnen vorgesetzt wird. Stéphane Imbert mimt den Verwerter, er kurbelt seine Tänzerkollegen regelrecht durch das Fließband. Tamara Bacci zirkelt mit weit ausgreifenden Triplets den Raum ab. Ausgehend vom Rumpf, die Beine im Becken ausgedreht, den Muskeltonus gespannt, nehmen die Körperteile präzis definierte räumliche Positionen ein. Allerdings: was unverkennbar eine Kurzdemonstration von Cunningham-Schritten ist, will zum Körper von Bacci nicht so richtig passen. Die Posen ruhen nicht, die Formen zerfleddern. Tamara Bacci ist keine Cunningham-Tänzerin, sie ahmt die Cunningham-Triplets lediglich nach. Indem sie die Technik aber bildhaft vorführt, verweist sie auf Codes, die wir, sofern wir über einen tanzhistorischen Fundus verfügen, problemlos entziffern können. Ganz anders wiederum sind Bewegungsansatz, Qualität und Energie bei Anja Schmidt: Der Körper ist nicht kompakte Muskelmasse, auch nicht strenge Form und die Choreografie keine Abfolge von Posen und Schritten. Die Bewegung ist vielmehr vom Skelett aus gedacht. Schwerkraft und Drehmomente werden für neue Figurationen genutzt, wobei der Schwung wieder abrupt umgelenkt werden kann. Wir können darin die Bewegungssprache von Trisha Brown sehen, oder wenigstens Bewegungsexperimente aus den 1960er Jahren, deren Fortsetzung wir später in Release-Techniken wieder finden werden. Jede Tanztechnik hat ihre speziellen Methoden entwickelt, um den Körper im Hinblick auf bestimmte Ziele zu nutzen, also Methoden, die den Anforderungen an den Körper entsprechen. Der Begriff der Körpertechnik

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soll hier mit Marcel Mauss verstanden werden als die Art und Weise, in der sich Menschen ihrer Körper bedienen. Der französische Anthropologe unterscheidet einen instrumentell geprägten Technikbegriff, der sich auf vom Menschen geschaffene Artefakte beschränkt, von dem technischen Objekt Körper, das diesen Instrumenten vorgängig ist. „Der Körper ist das erste und natürlichste Instrument des Menschen. Oder genauer gesagt, ohne von Instrument zu sprechen, das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen ist sein Körper“ (Mauss 1989: 206). Wobei auch der so genannte natürliche Körper geformt ist: „In allen Elementen, sich der Kunst des Körpers zu bedienen, dominieren die Einflüsse der Erziehung“ (ebd: 203, Hervorhebung im Original). Erziehung, so führt Mauss weiter aus, erfolgt über eine dynamische Nachahmung. Bewegungsabläufe beinhalten und vermitteln also ein spezifisches Wissen und Methoden, um den Körper im Hinblick auf bestimmte Ziele einzusetzen. Insofern sind diese Körpertechniken als Techniken kultureller Überlieferung zu verstehen und können entsprechend als spezifische Formen des Wissens bezeichnet werden (vgl. Baxmann 2005: 15-35 und Mauss 1989: 197-220). Kerstin Evert bezeichnet den Tanzkörper als einen „besonders exemplarischen Fall der Bearbeitung“, da bei ihm ganz spezifisch und bewusst auf den Muskelapparat eingewirkt wird und der Körper nach einem bestimmten (tanz-)ästhetischen Ideal geformt ist (Evert 2003: 8f). Aus diesem Ideal wiederum lässt sich die Einstellung einer gewissen Zeitspanne zum Körper herauslesen. Gibt es nach Mauss keinen natürlichen Körper bzw. ist der natürliche Körper immer schon ein geformter, so gibt es im Tanz erst recht keine unbearbeiteten Körper. Im Anschluss an Mauss können Tanztechniken innerhalb der Kulturtechniken als spezifische Methoden und Verfahren verstanden werden, um Bewegungsformen zu erzeugen. Sie schreiben sich über das jahrelange Training in den Körper des Ausübenden ein, gestalten und markieren ihn, indem sie die Gestalt des Körpers im Prozess ihrer Aneignung verändern. Diese Körperbilder werden im Bühnentanz zusätzlich auf der Ebene der choreografischen Inszenierung hervorgebracht, wie sich anhand von Mimésix exemplarisch aufzeigen lässt. Das Stück ist in insgesamt acht Kapitel gegliedert. Das letzte heißt Mimoir postmodernist. Die weißen Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer haben nun Namen aufgedruckt wie Labels; Stempel als Spuren, die sich im Laufe einer tänzerischen Laufbahn angesammelt haben. Ohne diese Spuren gäbe es keine Geschichte, kommentiert die synthetische Stimme aus dem Off: Maurice, Pina, Trisha, Dominique, Odile,

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Merce usw. Das nüchterne Ausstellen von Bewegungstechniken und -stilen weicht Versatzstücken aus Choreografien mit Kostümen und Requisiten. Die Tanzenden stülpen sich schwarze Perücken über und tanzen Rosas danst Rosas von Anne Teresa De Keersmaeker in Travestie. Das Frauenquartett aus dem Jahr 1984 wird durch äußerliche Attribute, aufgereihte Stühle und den vorantreibenden Rhythmus der monotonen Musik (die nicht dem Original entspricht) sowie einer energiegeladenen Bewegungssprache ins Gedächtnis gerufen. Szenenwechsel. Stéphane Imbert malt mit schwarzer Kreide einen Kringel um seinen Bauchnabel und schreibt dazu: „MOI“. Eine Referenz an Jérôme Bel und seine gleichnamige Performance Jérôme Bel aus dem Jahr 1995. Seine Performer beschrieben darin ihre nackte Haut wie Palimpseste als Körper-Texte und stellten den Körper so als diskursives Konstrukt heraus. In Mimésix wiederum endet die kurze Szene in einer Siegerpose: The show must go on von The Queen ertönt und der Tänzer steckt die Kreide in den Mund und die Faust in die Höhe. Der Liedtitel ist der Name von Jérôme Bels wohl berühmtester Arbeit, in der Popsongs buchstäblich in Bewegung und Mimik umgesetzt werden. In dieser rasant geschnittenen Pastiche von Foofwa d’Imobilité und Lebrun schrammen die Reminiszenzen oft nur haarscharf an oberflächlichen Kopien vorbei. Es handelt sich um keine Rekonstruktionen, auch nicht um reine Zitate, sondern lediglich um Anleihen, die anklingen, Zeichen, die angedeutet werden, oder, wie das Beispiel von Jérôme Bel zeigt, auch mal um unzimperliche Parodien oder Persiflagen historischer und zeitgenössischer Klassiker. In ihren zahlreichen Verweisen ist die choreografische Auseinandersetzung mit der tänzerischen DNA allerdings kaum gänzlich erschließbar. Sie verweist damit auf eine weitere Ebene: unsere Wahrnehmung ist genauso nachhaltig geprägt, wie der Körper der Tanzenden. Wir sehen nur, was wir kennen. Die so genannten Originale werden trotz Slapstick nie der Lächerlichkeit preisgegeben. Vielmehr schafft der Humor eine Distanz, die das Gezeigte kenntlich macht als Zeitdokumente, die sich in unser kulturelles (Tanz-) Gedächtnis eingebrannt haben und heute noch prominent nachwirken. So revolutionierten Rosas in den 1980er Jahren mit Koketterie und schwerem Schuhwerk das geläufige Tänzerinnenbild. Und seit den 1990er Jahren kennzeichnet weniger tänzerisches als diskursives Nachdenken über SubjektKonstruktionen und die Rolle des Tanzes innerhalb von Kunst und Gesellschaft zeitgenössische Choreografien, wie die Reminiszenz an Jérôme Bel deutlich macht.

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„Combine-Painting“ nach Rauschenberg: Foofwa d‘Imobilité in Musings © Gregory Batardon

Auf den Spuren von Cunningham, Cage, Rauschenberg Dem Kunstverständnis eines einzelnen Künstlers ist das Solo Musings gewidmet. Foofwa d’Imobilité versucht darin, Merce Cunninghams Kunstverständnis in einer Hommage nach zu zeichnen, um gleichzeitig daraus eigene Interpretationen abzuleiten. Musing heißt Träumerei oder, in Bezug auf das Stück, auch Meditation, Gedanke. Fünf solcher „Musings“ hat Foofwa in Anlehnung an den Zen-Garten des Tempels Ryoanji in Kyoto konzipiert. Der Garten war insbesondere für die Arbeit von Merce Cunninghams Partner John Cage3 von Bedeutung, der in die Hommage ebenso einbezogen wird wie der bildende Künstler Robert Rauschenberg. Der Garten besteht aus 15 Steinen, angeordnet in einer Gruppe zu fünf und je zwei Gruppen zu 3 | John Cage zeichnete 1983 die Serie Where R=Ryoanji, im selben Jahr begann er die fortlaufende Musikkomposition Ryoanji. Beide Werke sind inspiriert durch den Zen-Garten in Kyoto. Vgl. z.B. Nicholls (2002).

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drei und zwei Steinen. Foofwas Stückdramaturgie lehnt sich nun sowohl in der Unterteilung wie in der Dauer an den Steingarten an, indem er jeweils die Zahlen verdoppelt: die Teile sind durch längere Blacks gegliedert in vier Minuten für die ersten beiden Teile, je sechs für die beiden letzten und zehn für den dritten Teil.4 Das Solo soll in einer Art Meditation Foofwas Bewunderung für Cunningham Ausdruck verleihen, indem es einige der Werke und radikalen Ideen des Künstlertrios Cunningham/Cage/Rauschenberg in Erinnerung ruft, reflektiert und um eigene Variationen und Weiterentwicklungen ergänzt. Für alle weiteren Entscheidungen, die detaillierten Inhalte und den Aufbau der einzelnen Teile, ließ Foofwa aber die Würfel sprechen, ganz im Sinne der aleatorischen Verfahren Cunninghams und Cages (vgl. Foofwa d’Imobilité 2009: 2). Bemalt mit roter, gelber, blauer und grüner Farbe und beklebt mit Zeitschriftenseiten (über der Brust ein Bild von Cunningham), beginnt Foofwa d’Imobilité das Stück mit einer tänzerisch virtuosen Collage aus Vaudeville, klassischem Ballettvokabular und Graham-Figuren – allesamt Stationen und Einflüsse in Cunninghams Werdegang. Das Kostüm orientiert sich am Bühnenbild für Cunninghams Stück Minutiae von 1954, einem so genannten ‚Combine-Painting‘ von Robert Rauschenberg aus drei Paneelen mit Malerei und Gegenständen (vgl. Kirkpatrick 1996: 39–45). Nur dass die Haut das Tuch ersetzt und so an die Ganzkörpertrikots gemahnt, die ‚Unitards‘, die Cunningham für seine Tänzerinnen und Tänzer bevorzugte. Das Kostüm wird im Verlauf des Stückes Abdrücke am Boden hinterlassen, Farbtupfer und Linien, die – ähnlich der Stempel auf den Kostümen in Mimésix – als Spuren aus der Vergangenheit fortbestehen. Während dieser über zwei Teile dauernden Reise durch Cunninghams Tanzbiografie summt Foofwa d’Imobilité Melodien von Cage. Nach einem längeren Black, währenddessen nur der Atem des Tänzers zu hören ist, beginnt Teil drei mit Etüden von Cunningham. Foofwa erzählt singend: „There was a boy named Mercer [sic!]...“. Im vierten Teil erforscht Foofwa ausgehend von einem Solo, das Cunningham 1992 in Enter für ihn choreografiert hatte, was geschieht, wenn er nicht nur die Bewegungs-, Raum- und Zeitkomposition dem Zufall überlässt, sondern die Bewegung an sich; wenn er das Gleichgewicht verliert und damit die Kontrolle über Form, Ort und Timing der Bewegung. Das Licht flackert dazu wie ein lebendiger Mitspieler über die Bühne. Es wandert durch den Raum, bildet Schattenflecken und Lichträume, ohne 4 | In der Praxis wird die Vorgabe nicht ganz eingehalten, dauert der letzte Teil doch doppelt so lange.

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die Raummuster des Tänzers zu beachten. Hier wird deutlich, was Foofwa meint, wenn er sein Solo im Untertitel als ein Duo solitaire bezeichnet: Das Licht ist ein eigenständiger Kompagnon, ebenso wie die abwesenden Figuren Cunningham, Cage und Rauschenberg. In der meist in sich gekehrten, ruhigen Stimmung, getragen durch das Summen und Singen des Tänzers, gelingt es Foofwa d’Imobilité zuweilen, deren Präsenz zu suggerieren, ihre unsichtbaren und abwesenden Körper auf die Bühne zu rufen. Der letzte Teil führt in den Steingarten und zu John Cage. Nacheinander holt Foofwa kleine Gegenstände auf die Bühne, die er in Anordnung der Steine aus Ryoanji um sich ausbreitet. Das Chronometer gibt die Zeit an. Erste Station sind ein Würfel, eine Münze und das I Ging. Weitere ein Schachspiel, das Cage mit Marcel Duchamps zu spielen pflegte, Kassetten, CDs und Schallplatten, die er aneinander reibt, um Klang zu erzeugen. Jede Auslegeordnung der genannten Gegenstände wird begleitet von einem Gedanken von John Cage. Foofwa imitiert dabei Cages Stimme und verzieht jeweils zum Abschluss das Gesicht zu einem breiten Grinsen – eine der wenigen Slapstick-Einlagen, mit denen der Choreograf die konzentriert-ruhige Stimmung von Musings bricht. Bevor er zur nächsten Station schreitet, bläst er einen silbernen Ballon auf. 5 Diese Abfolge wiederholt sich auch bei Station vier, wo er sich eine Krawatte mit der Schere abschneidet (Nam June Paik schnitt John Cage 1960 die Krawatte ab). Den Abschluss des Parcours bilden schließlich Holzelemente, die zur Präparation eines Pianos eingesetzt werden. Die dinglichen, gesprochenen und bildlichen Verweise sowie insbesondere deren Kommentierung und die Karikatur des Komponisten öffnen zwischen den historischen Vorbildern und dem zeitgenössischen Tänzer-Choreografen einen Reflexionsraum. Die Historizität der ersteren wird ebenso deutlich, wie die Nachwirkung ihrer radikalen Ideen und schließlich das Potential, das sie in ihrem ehemaligen Schüler hinterlassen haben. Nach 40 Minuten beendet Foofwa Musings mit dem legendären Startsignal von Cunningham, bevor er den Chronometer einzuschalten pflegte: „Position, ready and curtain“. Das Erbe steht nicht still.

5 | Hier verweist Foofwa d’Imobilité auf die aufgeblasenen silbernen Kissen von Andy Warhol in Merce Cunninghams Stück Rain Forest aus dem Jahr 1968.

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Hommage und Parodie: Musings und Mimésix im Vergleich Musings hat mit Mimésix nicht nur die Beschäftigung mit Tanzgeschichte und dem eigenen Körperarchiv gemein. Beide Stücke folgen einer strengen Grundstruktur mit scharf voneinander abgegrenzten Szenen. Diese behandeln verschiedene mehr oder weniger klar umrissene Themen, die durch Texte – gesprochen, gesungen oder ab Band – kommentiert werden. Auch sind anekdotische Erzählungen eingebaut. Foofwa d’Imobilité vermittelt das Körperwissen, das er in den beiden Beispielen ausstellt und reflektiert, also sowohl diskursiv wie körperlich, wobei die Körperbewegung in Zeit und Raum stets zentrales Ausdrucksmittel bleibt. In Mimésix sind es die eingeschriebenen Techniken und Stile, die im Körper der Tanzenden eingelagert sind und abgerufen werden können, und die choreografischen Verfahren; in Musings steht zudem ein bestimmtes Kunstverständnis, zitiert in Posen, Bildern und Anekdoten, Pate für eigene Interpretationen. Während Mimésix zu einem großen Teil mit inhaltlichen und stilistischen Transformationen wie der Parodie oder Travestie arbeitet sowie einzelne Themen verzerrt als Persiflagen darbietet, ist Musings von einem wesentlich ernsthafteren Duktus geprägt. Wohl blitzt Foofwas Wort- und Bewegungswitz auf, doch bleibt das Solo in seinen Verweisen einer Ehrerbietung verpflichtet. Nicht so sehr eine distanzierte Betrachtungsweise des Materials steht im Vordergrund oder gar der Unterhaltungswert der Darstellung, sondern die reflektierte Auseinandersetzung mit einem Stück Tanzgeschichte, das eng mit der eigenen Biografie verknüpft ist. Der Körper ist dabei nicht mehr nur verfügbares Instrument, sondern ein Körper, über dessen Grenzen hinaus gedacht wird. Foofwa gehört zu einer Generation von Tänzern, die in den 1980er und frühen 1990er Jahren Engagements in großen Companies hatten, ihre Erfahrungen also in einer Generation sammelten, die eine „Rhetorik des Fortschritts“ pflegte, wie der Tanzwissenschaftler Ramsay Burt schreibt (Burt 2008: 51). Auf der Suche nach dem immer Neuen erklärten sie schon das letztjährige Repertoire für hinfällig. Mit Mimésix und Musings stellt sich Foofwa d’Imobilité entschieden gegen ein derartiges Postulat. Er betrachtet Körper und Choreografie nicht als statische Kategorien, die sich nur in sukzessiver Abfolge entwickeln können. Vielmehr treten seine Körperbilder als Hybride hervor, als mehrfach geprägte und vielfach durchkreuzte. Er reiht sich damit ein in eine Generation von Choreografinnen und Choreografen, die seit Beginn der 1990er Jahre Fragen nach Aneignung, Übertragung, Vermittlung und Reflexion von Tanz aufgreifen und auf der Bühne verhandeln. Gemäß

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André Lepecki verstehen sie Geschichte als eine „offene Oberfläche von Ereignissen, Haltungen, Ästhetiken, Topologien, historischen Bewegungen und zeitgenössischen Trends“ (Lepecki 2004: 173); als eine Geschichte, die verfügbar ist und deren kritische Reflexion dazu beiträgt, die Identität des Tänzers und Choreografen zu schärfen und ihn im gesellschaftspolitischen Kontext zu positionieren. In diesem Sinne kann Foofwa d’Imobilités Auseinandersetzung mit Tanzgeschichte gleichzeitig als Standortbestimmung wie auch als Methode für das Neu- und Weiterdenken seiner eigenen Arbeit betrachtet werden.

Literatur Baxmann, Inge (2005): „Der Körper als Gedächtnisort. Bewegungswissen und die Dynamisierung der Wissenskulturen im frühen 20. Jahrhundert“, in: Inge Baxmann/Franz Anton Cramer (Hg.), Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne, München: Kieser, S. 15-35. Burt, Ramsay (2008): „Revisiting ›No to Spectacle‹: Self Unfinished and Véronique Doisneau“, in: Forum Modernes Theater, Bd. 23/1, S. 49-59. Foofwa d’Imobilité (2005): „Mimésix: retour vers le futur“, Interview mit Gaëlle Lador, in: Journal de l’Association pour la Danse Contemporaine de Genève, Nr. 35, S. 11. Foofwa d’Imobilité (2009): Livret conceptuel de Musings, Programmheft, Genf. Evert, Kerstin (2003): DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien, Würzburg: Königshausen & Neumann. Kirkpatrick, Gail B. (1996): Tanztheater und Bildende Kunst nach 1945. Eine Untersuchung der Gattungsvermischung am Beispiel der Kunst Robert Rauschenbergs, Jasper Johns‘, Frank Stellas, Andy Warhols und Robert Morris‘ unter besonderer Berücksichtigung ihrer Arbeiten für das Tanztheater Merce Cunninghams. Würzburg: Königshausen & Neumann. Lepecki, André (2004): „Concept and Presence. The contemporary European Dance Scene“, in: Alexandra Carter (Hg.), Rethinking Dance History. A reader, London/New York: Routledge, S. 170-181. Mauss, Marcel (1989): „Die Techniken des Körpers“, in: ders: Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 197-220. Nicholls, David (Hg.) (2002): The Cambridge Companion to John Cage, Cambridge: Cambridge University Press.

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Choreografien 50 ans de danse (2009) (Konzept und Ch: Boris Charmatz; mit Thomas Caley, Boris Charmatz, Foofwa d’Imobilité, Banu Ogan, Valda Setterfield, Gus Solomons, Cheryl Therrien) Enter (1992) (Ch: Merce Cunningham; Musik: David Tudor; Design: John Cage, Marsha Skinner, Elliot Caplan; Tanz: MCDC) Jérôme Bel (1995) (Konzept und Ch: Jérôme Bel; mit Claire Haenni, Gisele Pelozuelo, Eric Affergan, Yseult Roch and Frederic Seguette) Mimésix (2005) (Konzept und Ch: Foofwa d’Imobilité, Thomas Lebrun; Tanz: Tamara Bacci, Sylvie Giron, Stéphane Imbert, Foofwa d’Imobilité, Thomas Lebrun, Anja Schmidt) Minutiae (1954) (Ch: Merce Cunningham; Musik: John Cage; Design: Robert Rauschenberg; Tanz: MCDC) Musings (2009) (Konzept und Ch: Foofwa d’Imobilité; Licht: Jonathan O’Hear) Rain Forest (1968) (Ch: Merce Cunningham; Musik: David Tudor; Design: Andy Warhol; Tanz: MCDC) Rosas danst Rosas (1984) (Ch: Anne Teresa De Keersmaeker; mit Adriana Borriello, Anne Teresa De Keersmaeker, Michèle Anne De Mey, Fumiyo Ikeda) The show must go on (2001) (Konzept und Ch: Jérôme Bel; mit Sonja Augart, Nicole Beutler, Eric Affergan, Dina Ed Dik, Juan Dominguez, MarieLouise Gilcher, Claire Haenni, Cuqui Jerez, Henrique Neves, Frederic Seguette, Amaia Urra, Olga de Soto, Peter Vandenbempt, Hester Van Hasselt, Olivier Casamayou, Ion Munduate, Aldo Lee, Benoit Izard, Esther Snelder, Tino Sehgal, Yseult Roch, Eva Meyer-Keller, Simone Verde, Petra Sabish, Gisele Pelozuelo, Germana Civera) Un américain à Paris (2009) (Konzept und Ch: Mathilde Monnier; mit Foofwa d’Imobilité)

Raumkonzepte im mediatisierten Tanz: Inszenierte Urbanität und virtueller Bildraum Claudia Rosiny „Menschen im Film erleben wir immer innerhalb eines Raumes, den wir in einer Beziehung zu den Figuren sehen. […] Selbst dort wo Räume ohne Menschen gezeigt werden, erscheinen sie als potentielle Aktionsräume und Betätigungsfelder, als Projektionen von Vorstellungen und Träumen, …“ (Hickethier 1993: 73)

Filmische Räume, beispielsweise in Form von Projektionen bei einer Tanzproduktion, bieten mögliche Erweiterungen und Ergänzungen oder ein dialogisches Potential zu den Körperbewegungen auf der Bühne (vgl. Rosiny 2007). Filmbilder erfassen in einem dokumentarischen Sinn die Wirklichkeit, öffnen ein ‚Fenster zur Welt‘ und erschließen neue Räume. Diese wirklichkeitsnahe Auffassung folgt der technischen Innovation der Fotografie im 19. Jahrhundert – Fotografie als Vorläufer des Films ermöglichte eine ‚Verbildlichung‘ von Welt und einen Glauben an eine ‚unverstellte‘ Darstellung von Realität durch die Technik (vgl. Hickethier 1993: 44f). Kamera, Schnitt und Montage sind diejenigen Mittel, die den Film als Raumzeitkunst definieren und sinnliche Wahrnehmungsprozesse verändern können. Die Kadrierung des Bildausschnitts, die Addition und Wahl der Übergänge von Raumausschnitten, das Spiel mit im Bildausschnitt nicht sichtbaren Off-Räumen sind weitere filmspezifische, auf den Raum bezogene Möglichkeiten. Im Dia-

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log der Künste, in intermedialen Verschränkungen von Tanz und Film, können sich durch den bewussten Einsatz solcher Mittel räumliche Irritationen und Imaginationen in der Wahrnehmung ergeben. Obwohl dem kinematografischen Bild von Filmtheoretikern wie Siegfried Kracauer primär eine „realistische Tendenz“ zugesprochen wurde (Kracauer 1973: 71), benötigen Filmbilder gerade in ihrer kausalen Verknüpfung eine Entschlüsselung, werden Ausschnitte und Handlungsabfolgen erst im Kopf der Zuschauenden neu und individuell zusammen gesetzt. Spätestens seit Roland Barthes und anderen poststrukturalistischen Autoren (Barthes 1967; Foucault 1969; Eco 1973) liegen Interpretation und Sinnstiftung nicht mehr beim Autor, sondern verlagern sich in die Diskursivität der Rezeption. Neben dem äußeren, objektiv quantifizierbaren Raum wie dem urbanen Umraum oder einem definierten Innenraum bestimmen subjektive Sichtweisen, der innere mentale Raum der Betrachtenden die Wahrnehmungsprozesse des Raums (Agotai 2007: 25ff). Da der Tanz trotz gestalteten Abläufen oft keinen narrativen, beispielsweise durch Sprache vermittelten Erzähllinien folgt, ist im Tanz, respektive im durch Film vermittelten oder im Film inszenierten Tanz, das Deutungsspektrum noch offener als in literarischen Erzählformen. Das Feld der Typen von mediatisiertem Tanz ist breit: Neben dem Einsatz auf der Tanzbühne entwickelten sich im Verlauf der Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts bis heute eigene Filmgenres wie das Filmmusical, Videotanz oder Musicclips, in denen die Kamerabewegung die Bewegungschoreografie ergänzt, erweitert oder konterkariert. Doch welche Konzepte stehen hinter solchen Kamerachoreografien? Mit welchen filmischen Mitteln der Kadrierung, von Kamera, Schnitt und Montage wird gespielt, um spezifische ästhetische Wirkungen zu erzielen? Inwieweit ergibt sich ein Deutungsfreiraum und welche Rolle spielt in solchen Konzepten die Inszenierung des Raums? Exemplarisch für Raumkonzepte im mediatisierten Tanz möchte ich im folgenden zwei Kurzfilme analysieren, die auf unterschiedliche Weise mit Raumwirkungen spielen. Der Schweizer Choreograf Philippe Saire wählt in Cartographies 2 - Les Arches einen urbanen Außenraum in seiner Heimatstadt Lausanne, die schwedische Designerin Erika Janunger für ihre Abschlussarbeit in Innenarchitektur Weightless einen begrenzten Innenraum, der als virtueller Bildraum ausgereizt wird.

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Choreografie an urbanem Schauplatz Cartographies 2 - Les Arches (2002) ist der zweite Kurzfilm einer in vier Dreierserien angelegten Interventions chorégraphiques en paysage urbain der Compagnie von Philippe Saire aus Lausanne.1 Angelegt als Interventionen im öffentlichen Raum, die als Teil des in relativ kurzer Zeit realisierten Projekts auch als öffentliche ‚Aufführung‘ angekündigt wurden, sollen die Filmversionen diese ephemeren Spuren sichern und auf Film- und Videofestivals eine zweite Aufführung erleben.2 Mit dem Medium Film beschäftigt sich Saire seit vielen Jahren – sowohl in Aufzeichnungen und Adaptionen seiner Werke wie L‘Ombre Du Doute (1989), La Nébuleuse Du Crabe(1994) oder [Ob] Seen (2003) als auch in eigenständigen Filmwerken wie beispielsweise dem vom Schweizer Fernsehen produzierten und mehrfach prämierten Spielfilm Blind Date (2006). Die Reihe Cartographies sucht in einer Auseinandersetzung mit anderen Kunstsparten neben dem Medium Video einen weiteren Kontext in der Architektur. In der Film- wie der Tanzfilmgeschichte gibt es viele Beispiele, in denen Architektur nicht nur künstliche Filmausstattung bedeutet, sondern Architektur ist – wie beispielsweise in Metropolis (1927) von Fritz Lang – Thema und Inhalt, in der die Stadt zur bedrohlichen Vision wird. Im Genre des Videotanzes bieten Landschaften, Ruinen oder leer stehende Gebäude beliebte Kulissen, um den Tanz in andere Räume zu verlagern (Rosiny 1999: 138ff). Vorgabe für die von verschiedenen Choreografen, Fotografen und Filmemachern (es waren bisher ausschließlich Männer) realisierten Kurzfilme war, Körper und Bewegung in einem konkreten urbanen Raum in Lausanne zu inszenieren und so eine neue Lesart des jeweiligen Ortes anzubieten. Andererseits sollte Tanz in alltägliche Situationen auch einem unfreiwilligen Passantenpublikum angeboten werden. In Les Arches führte Philippe Saire selbst Regie und zeichnet auch für Kameraführung und Schnitt verantwortlich. Die Choreografie entstand zusammen mit den beiden Tänzerinnen und dem Tänzer. Für den achtminütigen Film wählte er die prägnanten hohen Bögen unter der Grand-Pont, die zentral mitten in der Stadt das Flon-Tal überspannen. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaute Brücke 1 | Diese erste Serie choreografischer Interventionen in urbaner Landschaft entstand 2002, eine zweite 2004 und 2007 wurden Cartographies 7, 8 und 9 produziert. Saire, der seine Gruppe 1986 gründete, zählt zu den bekanntesten frei schaffenden Choreografen der Schweiz. 2 | Vgl. Pressedokumentation zu Cartographies. Les Arches wurde am 3. August 2002 öffentlich präsentiert, die Filme touren weiterhin auf Festivals.

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hat eine markante geometrische Struktur – verschiedene Bildeinstellungen im Film zeugen von einer starken Linearität in der Bildperspektive. Philippe Saire reizte der Kontrast von monumentaler Starre und flüchtiger Bewegung der Körper.3

Cartographies 2 – Les Arches, Karine Grasset, Michaël Henrotay-Delaunay, Céline Perroud © Mario Del Curto Die erste Einstellung zeigt einen zentralperspektivischen Blick durch die Brückenbögen und definiert damit den realen urbanen Raum. Passanten queren das Bild von rechts nach links, eine Frau schaut in Richtung der Kamera, die vermutlich auf einem Stativ fixiert war. Ein Tourist mit Fotokamera bleibt stehen und fotografiert in Richtung Kamera. Seine asiatischen Begleiterinnen bleiben ebenfalls stehen, schauen und lächeln – und gehen weiter. Mit dieser Situation wird die mediale Situation offen gelegt, die Anwesenheit der Videokamera im Off verraten. Autos und Fahrräder passieren die belebte Strasse von rechts und links, dazwischen montiert, in näheren 3 | “Dans ce travail, j’ai mis l’accent sur ces distinctions de matières, celle fluide, vivante et adaptable des corps, et celle dure et inamovible de l’architecture.“ (Kommentar von Saire zu seiner Arbeit http://www.philippesaire.ch/pdf/PhilippeSaireficheartistique.pdf vom 11.1.2010 und Pressedokumentation)

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Einstellungen gehen und laufen die Tänzerinnen und der Tänzer durchs Bild; sie sind zuerst kaum als inszenierte Figuren erkennbar. Deutlich wird die Momentaufnahme: ein Ausschnitt einer Stadtszene mit passierendem Verkehr, Bewegungen von Autos und Menschen finden auch im Off-Raum, vor und nach Eintritt in den Bildausschnitt statt. Das Bildarrangement gleicht dennoch einer Guckkastenperspektive, die Brückenbögen wirken wie reale urbane Kulissen. Erst nach einer Großaufnahme des Gesichts des Tänzers und einer folgenden fixen Einstellung durch die Bögen, die aus einer totaleren Perspektive weitere Bögen freigibt, liegt eine Tänzerin mit dem Rücken zur Kamera auf einer Steinbank und mit einer Kamerafahrt zurück erscheint auch die zweite Tänzerin in derselben Position auf einem Steinsims liegend. Beide stemmen die Füße gegen die Mauern, die Körper wirken in der Körperspannung wie ein Teil des starren urbanen Schauplatzes und gerade dadurch mutiert der Alltagsraum zum inszenierten Raum. Im weiteren Verlauf verfolgt die Kamera teilweise auch als Handkamera die Bewegungen der drei Tanzenden. Durch diese Verdoppelung von Bewegung wird als Kontrast zur Starre die Flüchtigkeit von Bewegung verstärkt – in manchen Einstellungen erscheint Bewegung sogar im Bild durch die Trägheit der Kamerabewegung oder ungenügende Lichtverhältnisse verwischt und erhöht damit den Flüchtigkeits- und Geschwindigkeitseffekt. Straßengeräusche und zufällige Passanten begleiten den Film weiter, neben den einzelnen Alltagsbewegungen der drei Performer entwickeln sich verschiedene Duette zwischen ihnen, verbindende Umarmungen oder wie Streitsituationen wirkendes Partnering im Stile der Kontaktimprovisation. Sprachliche Äußerungen einer Tänzerin gehen im Lärm eines Presslufthammers unter. In der Mitte des Films verfolgt die Kamera mit Reissschwenks die drei, die sich vom Brückenschauplatz wegbewegen, wie bei einer Verfolgungsjagd. Nach sechs Minuten setzt zu den Straßengeräuschen eine untermalende klassische Streichermusik ein, welche die an den Mauern der Bögen ausgeführten langsamen und anlehnenden Bewegungen begleiten. Das Bewegungsvokabular zeigt für den zeitgenössischen Tanz typische, aus Alltagsbewegungen entwickelte Sequenzen, ergänzt durch aus dem Kontakt mit Boden und Mauern inspiriertem Rollen, Lehnen, Stützen oder Abstoßen. Der Film endet wie zu Beginn mit der linearen Perspektive durch die Brückenbögen, Tauben fliegen hoch, Autos passieren, ein Fahrrad kreuzt das Bild, eine Tänzerin geht hoch schauend in die Knie und verschwindet hinter der Steinbank. Les Arches nährt sich aus Kontrasten. Neben den Gegensätzen von Starre der städtischen Umgebung und der Flüchtigkeit der Körper und ihrer Bewegung ergänzen sich Inszenierung und Zufall, Anonymität und Begeg-

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nung. Dieses einfache Prinzip der Addition von Gegensätzen eröffnet die zu Beginn beschriebene offene Diskursivität. Der Film wirkt explorativ, spielt bewusst mit einer nicht logischen Montage, wenn beispielsweise zur Temposteigerung das Rennen der Akteure und Reissschwenks der Kamera verdichtet werden. Montage und Dramaturgie des Films entstehen aus den Elementen Raum und Bewegung, denn das klare Raumkonzept des Films wirkt in Ergänzung zum Bewegungskonzept. Typisch für das Genre einer Kamera-Choreografie wird das Potential von Bewegung vor der Kamera, der Kamera selbst und von Bewegung mittels Montage eingesetzt (vgl. Rosiny 1998). Les Arches ist ein Beispiel, in dem das Raumkonzept durch den urbanen Schauplatz bestimmt wird. Die Kadrierungen der Bildeinstellungen sind, wie Deleuze schreibt, ein „geschlossenes System“ (Deleuze 1997: 17), das in Les Arches in den die Tiefenwirkung betonenden Einstellungen zu einer Schichtung von Szenen führt: Während im Vordergrund choreografierter Tanz zu sehen ist, laufen im Hintergrund als Nebenszene zufällige Situationen des urbanen Umraums wie beispielsweise die Touristengruppe ab. Das Bildfeld ist zudem geometrisch, wirkt als „Auffangvorrichtung“, in der „Bewegungen einen festen Halt finden“ (ebd.: 28). Das Konzept in Les Arches besteht aus Begrenzungen und Bewegungen, mal aus geometrisch

Cartographies 2 – Les Arches, Karine Grasset © Mario Del Curto

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kadrierten Einstellungen, in die sich Bewegung einfügt, mal aus Filmbildern, die auf allen Ebenen auf Bewegungselementen basieren. Architektur in Form eines urbanen Settings fungiert in Les Arches als rahmendes Raumkonzept. Die Kamera erfasst diese starre Rahmung in festen Bildeinstellungen; sie wird im Kontrast der Bewegung der Körper aber auch zur bewegenden Kraft, wenn die Handkamera den Duetten folgt und die Körper fast berührt oder mitläuft, um den Darstellenden zu folgen. Plötzlich wird die Stadt selbst unfassbar und vergänglich, zu einem Rhythmus, zu einem „System in Bewegung“ (Klein 2005: 21). Und auch die Zuschauer haben an einem (Bewegungs-)Ausschnitt der Stadt teilgenommen, waren kurz bewusst oder unbewusst Beobachtende einer typischen urbanen Situation, in der die Anonymität für Momente irritiert und unterbrochen wird.

Inszenierung eines virtuellen Bildraums In Weightless (2007) kombiniert die schwedische Möbeldesignerin und Innenarchitektin Erika Jungener die Elemente Architektur, Bewegung und Musik.4 Der knapp 7minütige Film beginnt mit Nahaufnahmen von blinkenden Glühbirnen an Kabeln. Erst auf einen zweiten Blick fällt auf, dass diese an der rechten Wand ‚liegen‘. In der zweiten Nahaufnahme baumeln sie quer durchs Bild – etwas stimmt nicht in der Raumwahrnehmung. Die dritte Einstellung zeigt eine Frau im Bett, nur der Kopf und ein Arm sind zwischen Laken zu sehen. Auf der Tonebene beginnt ein Sologesang mit „I get no sleep when you’re around, can’t put my thoughts back on the ground…“. Die nächste Einstellung zeigt den gesamten Raum, ein stilisiertes Schlafzimmer mit Fenster und Jalousie, Stuhl in einer Ecke, Bett an der rechten Raumwand und einer Stehlampe. Die Tänzerin Malin Stattin rollt sich aus dem Bett auf den Boden, stützt ihre Füße auf den Bettrand. Der Körper wirkt seltsam leicht, wenn sie in Rückenlage mit den Beinen wieder aufs Bett rutscht. Als sie mit den Zehen gegen die dunkle Wand tippt und diese sich als Wasserfläche entpuppt, wird deutlich, dass dieser Raum nicht unserer realen Raumwahrnehmung entspricht. Effekt ist die im Titel des Films angekündigte Schwerelosigkeit. Nach zwei Minuten ändert sich die Grundfarbe des Raums von Blau- zu Brauntönen und eine zweite Tänzerin, Tuva Lundkvist, scheint auf einem Sessel zu liegen, bis die folgende Totale 4 | Das vollständige Video präsentiert Jungener auf ihrer Website www. erikajungener.se und ist auf Youtube zu finden. http://www.youtube.com/ watch?v=iiJhRjBEm6o (Zugriff 21.1.2010)

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den gleichen Effekt verdeutlicht – die rechte Wand ist eigentlich der Boden des Raums, die gesamte Szenografie um 90 Grad gedreht. Auch in diesem zum Wohnzimmer stilisierten Raum ist ein spärliches Mobiliar installiert: das gleiche Fenster, ein Leuchter an der Decke, ein Regal mit Büchern und eine Kommode, auf der zwei Kerzen stehen.

Weightless, Tuva Lundkvist © David Grehn Dieser Trick der Drehung des Raums ist zwar aus anderen Filmbeispielen bekannt, doch können aus dem Spiel mit Bewegung verschiedene Illusionen resultieren. In Royal Wedding (1951) von Stanley Donen tanzt Fred Astaire in einer einzigen Einstellung zuerst realitätsgetreu auf dem Boden, dann fließend an der linken Wand hoch, an der Decke und schließlich an der rechten Wand hinunter. Das gesamte Mobiliar war wie die Kamera in einer Art Trommel befestigt, so dass das Rollen der Kamera ausgeführt werden konnte und die Illusion des schwerelosen Tanzes bewirkte (vgl. Monaco 1980: 192). Da eine Rollbewegung der Kamera im Gegensatz zu einem Schwenken oder Neigen nicht unserer Realitätswahrnehmung entspricht und das konventionelle Kino sich an einer realistischen Raumwahrnehmung orientiert, fallen solche dem Filmmedium immanenten Möglichkeiten auf. Auch im Videotanz Waiting (1995) von Lea Anderson wird mit einer Verrückung des Raums gespielt: zu Beginn des Films ist noch nicht erkennbar, dass die drei Tänzerinnen nicht auf ihren Stühlen sitzen, sondern die Stühle im weißen Raum eigentlich an der Wand montiert sind. Die Irritation der Schwerelo-

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sigkeit wird erst in einer Aufnahme der Frauen mit Perücken und roten langen Haaren angezeigt – sie ‚hängen‘ nach rechts statt nach unten. Auffallend ist an allen Beispielen, dass diese an Bühnenräumen orientierte Bildarrangements aufweisen. „Typisch sind Inszenierungen von Zimmern, die durch ihren Blickwinkel an Guckkasten-Bühnen erinnern“, schreibt Rayd Khouloki, der in einer Typologie von filmischen Raumtypen nicht nur formale Aspekte der Bildkomposition, sondern auch Emotion und Kognition als Subkategorien berücksichtigt (Khouloki 2007: 118ff). Raumkonstruktionen unter dem Begriff der Emotion können beispielsweise klaustrophobische Räume sein, die den Eindruck von Beengtheit vermitteln, unter einem kognitionstheoretischen Ansatz solche, bei denen das Raumverständnis im Vergleich zur Alltagserfahrung analysiert wird. Im Sinne einer realistischen Filmdarstellung wird „ein Raum in seiner Geografie, also in seiner Ausdehnung und der Anordnung der Objekte, identifizierbar dargestellt“ (ebd.: 121). Meistens treten solche Identifizierungsprozesse nicht ins Bewusstsein der Zuschauenden, da sie der gewohnten Wahrnehmung entsprechen. Erst wenn die vertraute räumliche Orientierung oben-unten, rechts-links und vorne-hinten entsprechend den x-, y- und z-Achsen des Koordinatensystems eines Raumes außer Kraft gesetzt werden, fällt dies auf. Khouloki spricht hier von „nichteuklidischen Räumen“ (ebd.: 122) und nennt als Beispiel aus der Filmgeschichte 2001: A Space Odyssey. Inhaltlich ist dieser filmästhetische Kunstgriff hier nachvollziehbar, denn mit diesem soll die Schwerelosigkeit im Weltall filmisch erfahrbar gemacht werden. Interessant, aber auch naheliegend ist, dass im Tanzfilm mit einem solchen Konzept der Raumwahrnehmung gespielt wird. Weightless reizt die Verkehrung der Raumdimension oben-unten in beiden Szenerien auf die gleiche Weise aus. Die eingefügten Nahaufnahmen der Protagonistinnen sorgen vorübergehend für eine ‚räumliche Erholung‘, vereinzelte Kameraeinstellungen aus einer leicht erhöhten Perspektive brechen die sonst dominante zentralperspektivische Aufnahme, bevor in der nächsten Szene unser Gehirn gezwungen wird, die Raumwirkung erneut mit der realen Alltagserfahrung zu vergleichen. Die Tanzbewegungen der beiden sind langsam, den Raum erkundend; gleichzeitig verlangte die Choreografie eine präzise auf den Raum eingehende Ausführung, um die Raumillusion zu unterstützen. Im letzten Drittel des Films werden Schlaf- und Wohnzimmer in der Montage immer häufiger miteinander verschränkt, die Bewegungen der beiden Frauen werden dynamischer, die Kamera verfolgt einzelne Bewegungen mit einer parallelen Kamerafahrt und auch die Bücher werden im Hinunterwerfen vom Regal der Schwerelosigkeit preisgegeben. Es erstaunt nicht, dass in Blogs und Kommentaren zu Weightless immer wieder diese Irritation und

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gleichzeitige Verführung bewundernd erwähnt wird – einige geben zu, den Film mehrere Male angeschaut zu haben, denn es braucht eine starke kognitive Anstrengung, um alle Details der Effekte zu übersetzen und im Vergleich zu unserem realen Realitätssinn zu ‚verstehen‘.

Weightless, Malin Stattin © David Grehn Weightless wurde am zweiten ‚International Scenographers’ Festival IN3‘ im November 2008 in Basel sogar in einer Live-Version gezeigt. Die auf Youtube von einer starren Kamera wiedergegebene Aufzeichnung zeigt einen ähnlichen Wohnzimmerraum in Gelbtönen und mit einer Treppe.5 Auch hier verblüfft der Raum dadurch, dass die rechte Wand eigentlich der Boden und Schwerpunkt für die Tänzerin ist. Das Publikum, das hier zu hören ist, konnte freilich das filmische Erlebnis der Schwerelosigkeit nicht erlebt haben, sondern sah die Schwerkraft der Tänzerin in einem um 90 Grad verkehrten Raumrahmen oder wohnte einer filmischen Live-Projektion mit einer starren Kamera, wie in der Aufzeichnung auf Youtube beispielsweise, in einem Nebenraum bei. Hier ging es primär um die Präsentation der Szenografie, die in einem Workshop mit Erika Janunger im Vorfeld des Festivals gebaut worden war. In den letzten Einstellungen symbolisiert nochmals die Glühbirne am langen Kabel in beiden Räumen das Thema Schwerkraft: die Lampe hängt 5 | http://www.youtube.com/watch?v=gQwNJZ0oq (Zugriff 21.1.2010)

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nicht im Lot, sondern ist Spielzeug für die beiden Tänzerinnen, bevor die letzten Bilder die gleichen Aufnahmen der ‚liegenden‘ bzw. horizontal baumelnden Glühbirnen zeigen. Der Film funktioniert auf einer Ebene der Verführung zum Erlebnis Schwerelosigkeit. Der an die Stimme von Björk erinnernde Sologesang – Erika Janunger komponierte und interpretierte die Musik selbst und fügte sie nach der Fertigstellung des Films als drittes Element hinzu – beinhaltet ein zusätzliches narratives Angebot, eine Art diegetische Erzähler-Stimme, die in Fragmenten Stimmungen von Schlaflosigkeit, Einsamkeit und die traumartige Illusion der Schwerelosigkeit in übertragenem Sinn des verlorenen Bodens in einer Beziehung andeutet: „we lost ground and that broke both our hearts.“6

Konzepte des Raumes – Potential und Wirkung Wie die beiden Beispiele zeigen, liegt in einem bewusst angelegten Raumkonzept im mediatisierten Tanz ein Potential, um damit eine bestimmte ästhetische Wirkung hervorzurufen. Inwieweit eine im Raumkonzept intendierte Wirkung allerdings ‚ankommt‘, kann nur begrenzt geplant werden. Den Zuschauenden bleibt die individuelle Freiheit der Wahrnehmung, diesen Konzepten eigene Interpretationen zuzufügen. Subjektive kausale Verknüpfungen und innere mentale Räume entstehen ausgeprägt im Tanz, wenn nur wenige narrative Vorgaben gemacht werden. So kann Les Arches zum Sinnbild der Stadt werden oder schlicht zu einem Genuss von Bewegungswahrnehmung im Raum, von visuell starker Bildkomposition oder Flüchtigkeit und Unbedeutung von Bewegung. Und Weightless kann nebst der Irritation der Raumwahrnehmung als sinnliche Erfahrung eines klaustrophobischen Raumes, als eine Verrückung der Welt mit illusionistischem Potential oder als traumartiger Zustand in der Reflexion des Menschseins alleine oder in Beziehungen erlebt werden. Sicher ist allerdings, dass ein konzeptioneller Zugang über den Raum im mediatisierten Tanz ein starkes Potential vom Realismus in Richtung Illusionismus erwirken und Sehgewohnheiten brechen kann.

6 | http://www.lyricsmania.com/weightless_lyrics_erika_janunger.html (Zugriff 21.1.2010)

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Film A Space Odyssey (1968) (GB, 141 Min., R: Stanley Kubrick) Cartographie 2 – Les arches (2002) (CH, 8 Min., R: Philippe Saire) Royal Wedding (1951) (USA, 93 Min., R: Stanley Donen) Waiting (1995) (GB, 4 Min., R: Lea Anderson) Weightless (2007) (S, 7 Min., R: Erika Janunger)

Methodische Zugänge zur Tanzwissenschaft

Tanzforschung. Geschichte – Methoden Claudia Jeschke, Gabi Vettermann

Tanzforschung zwischen Aktion, Dokumentation und Institution Im 21. Jahrhundert ist die Tanzforschung auf allen Kontinenten zu Hause. Die inter-, ja transnationale Kommunikation, die kulturenübergreifende Verständigung darüber, was Tanz, Tanzen, Bewegung und Körper ist, erscheint somit als ein zentrales Bedürfnis von Tanzforschern jeglicher Provenienz. Verständigungsbereitschaft und Zukunftsausrichtung orientieren sich an der durchaus vielfältigen und unterschiedlichen Geschichte dessen, was jeweils kultur- und epochenspezifisch als Tanz betrachtet und – charakteristisch für den bislang vorherrschenden eurozentristischen Blick der Tanzforschung – in bestimmte Genres eingeordnet wird. Weitere Gesichtspunkte ihrer nachstehend konstruierten Geschichte befassen sich mit der Überlieferung von Tanzwissen sowie den Institutionen, in denen dieses Wissen verwaltet wird. Die hier gewählte Perspektive auf eine transnationale Tanzforschung verweist auf die generelle Problematik der – im weitesten Sinn – traditionellliteralen Überlieferung im Tanz. Eine Überlieferung außerhalb von Systemen, die auf Dauer konzipiert sind, ist in der Tanzforschung – ebenso wie in anderen Wissenschaftsdisziplinen – schwer vorstellbar. Auch wenn inzwischen – vor allem durch den Blick auf außereuropäische und -amerikanische Formen – akzeptiert wird, dass sich Tanz teilweise über körperliche und bewegungsorientierte Kompetenzen vermittelt und somit anderen Traditionen verpflichtet ist und andere Tradierungen schafft als die herkömmliche Wis-

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senschaft, werden die für die Tanzforschung relevanten Kommunikationsverfahren in konventioneller Rekapitulation und Interpretation verschriftlicht, verbildlicht oder aktuell auch mit Hilfe der neuen Medien verarbeitet.

Annäherungen an eine Definition Materialien Tanzforschung definiert sich über den Tanz ebenso wie über Materialien von Tanz. Die Körperbewegung selbst wird also zum Material; gleichermaßen gilt ihre Umsetzung in andere Medien als Material der Auseinandersetzung mit Tanz, etwa Ikonografie, Literatur, Notation, Film, Video, sowie alle digitalen Aufzeichnungs- und Verarbeitungsformen. Die Forschung kennt demnach immer zwei Aspekte: den Aspekt der Bewegung/des Tanzes und den Aspekt des Materials, in das sie/er übersetzt wird. Finden Körperbewegungen nicht mehr statt, so sind sie lesbar in den Materialien, in die sie transferiert und in denen sie dokumentiert wurden. Dokumentation heißt also auch Re-Konstruktion von Tanz. Die beiden Aspekte können wiederum (nur) mittels verschiedener, diachron und/oder synchron angewandter Verfahrensweisen gelesen werden, wobei die Lesarten die je spezifischen Konfigurationen zwischen der Art und Weise der Übersetzung von Bewegung in andere Materialien, den daraus entstehenden Text- oder Werkkorpus und der Institutionalisierung bzw. Verbreitung von Tanz(-forschung) interpretieren. Die Suche nach geeigneten Übersetzungen von Bewegung in andere Materialien ist so lange offen, wie sich Bewegung und ihre Dokumentationsmittel weiter ausformen. Dokumentation und Rekonstruktion stellen in der heutigen Tanzforschung sowohl Produkt von Wissen dar wie sie auch Wissen produzieren; sie sind Verfahrensweisen, die kinetische und kinästhetische Modi verständlich machen, in denen Tanz synchron und diachron ‚Sinn‘ ergibt; gleichzeitig fordern sie den Kanon traditioneller Genres, Sujets und Topoi heraus und hinterfragen klassenspezifische, nationale Grenzziehungen (vgl. auch Jeschke 1999: 7-8; Zile 1999: 85-99; vgl. weiter Cohen 1998, Eintrag „Reconstruction“). Korpora der Tanzforschung bestehen genuin aus einer Vernetzung von Tanz, Bild, Musik und Schrift bzw. aus der Vernetzung der drei letztgenannten, wenn der Tanz nicht länger durch Augenzeugen beobachtbar ist. Schrift und Sprache werden z.B. zur Beschreibung von Bewegung und Körper, zum Erzählen der Handlung, in der Kritik und im Dialog, als Verständigung in

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Feldstudien, eingesetzt; Musik1 hingegen wird genuin als Begleitung von Tanz verwendet; während das Bild, das Visuelle, Bewegungen und Körper bezeichnen kann und als Bühnen- und Kostümbild erscheint. Je nach ‚Einsatzort‘, Zeitzeugenschaft bzw. Bezugspunkt des jeweiligen Materials kommen verschiedene Aspekte zur Anwendung; das Verhältnis der Materialien, in die Bewegung übersetzt wird, ist also multiperspektivisch.

Zur Terminologie Vor dem Hintergrund des internationalen Festivalbetriebs sieht es so aus, als ob Transformationen historisch und/oder lokal verortbarer, ursprünglich oral überlieferter Tanzformen in Bühnentanzformen ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts sind. Betrachtet man jedoch den Korpus des Tanzes vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, so ist zumindest fraglich, ob Transformationen nicht während der gesamten Neuzeit (oder auch früher?) stattgefunden haben, ob sie nicht ein fester Bestandteil der Tanzgeschichte sind. Die Vielzahl von Benennungen, die für solche Art Tanz existiert, verweist auf die Vielzahl der Annäherungsformen an ihn und gleichermaßen auf die auch hierdurch bewirkten Unterscheidungen zwischen eben diesen Tanzformen und dem Theater- oder Bühnentanz. Die Begriffe traditioneller Tanz, Folklore(-tanz), Volkstanz/Folk Dancing, Gesellschaftstanz, Nationaltanz, ethnischer Tanz (auch: Tribal Dance), indigener Tanz wurden (und werden) landläufig im Unterschied zum Tanz als ‚High Art‘, zum ‚Kunsttanz‘, zum höfischen Tanz, zum Ballett bestimmt. Ursprünglich kannten diese Formen weder ‚Autoren‘ noch ‚Werke‘, sondern profilierten sich durch die ‚Traditionalität‘ ihrer regionalen Herkunft. Genuin bezeichnet Ballett auch den Tanz auf der Bühne, also einer Institution, und traditionalistischer Tanz den Tanz im Freien. Und es wird zu sehen sein, dass Korpora, die sich auf die Bühne als Institution richten, die Unterscheidung zwischen ‚High‘ und ‚Low Art‘ klar überliefern, während Korpora, die sich primär auf den Aspekt der Bewegung richten, diese Grenzen häufig verwischen. Im Einzelnen: ‚Volkstanz‘ bezieht sich unter soziologischem, soziokulturellem oder -politischem Blickwinkel auf den Tanz der (Volks-)Massen, ursprünglich der ländlichen Bevölkerung, im Unterschied zum Tanz der sozialen Elite, ursprünglich der Bürger in den Städten; unter den nämlichen Aspekten bezeichnet ‚Gesellschaftstanz‘ den Tanz der Bürger im Unterschied 1 | Tanzmusik ist eine sowohl von der Musik- wie von der Tanzwissenschaft vernachlässigte Quelle. Vgl. vor allem Dahms 2001: 13-14.

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zum Tanz des Adels; Volks- und Gesellschaftstanz, traditioneller, ethnischer oder indigener Tanz sind meist nicht klar voneinander zu trennen.(vgl. u.a. Dahms 2001: 188-219; vgl. Salmen 1997). Auf die Verschiedenheit zweier Forschungsperspektiven verweist der Begriff der Folklore. Im europäischen Raum bezeichnet Folklore das Volkslied wie die Volksmusik und den -tanz als Gegenstand der Musikwissenschaft. Der Begriff ‚Ballett‘ stammt wahrscheinlich aus dem Italienischen ‚balletto‘, Diminuendo von ‚Ballo‘ – Tanz, und meint genuin den Schautanz, der sich Ende des 16. Jahrhunderts als Bestandteil bzw. Einlage dramatischer und besonders musiktheatralischer Darstellungen zu entwickeln begann. Mit der Gründung der Académie Royale de la Danse 1661 wurde das Bewegungsvokabular kodifiziert und lehrbar gemacht. Ballett kann auch eine Tanzkompanie bezeichnen, ebenso wie die Musik eines Tanzwerks. Sowohl der Begriff Ballett wie die Begriffe für traditionellen Tanz verweisen, nun unter methodologischer Perspektive, auf die unterschiedlichen Annäherungsweisen der nordamerikanischen bzw. angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Tanzforschung. Während Ballett bzw. Folkloretanz, und auch höfischer Tanz, Gesellschaftstanz, Nationaltanz, sich etymologisch auf Worte beziehen, die mit Tanz bzw. Tanz- resp. Musikforschung in Verbindung stehen, sind die Begriffe ethnischer Tanz, indigener Tanz Begriffe, die sich aus Modellen von Tanz ableiten. Die (vielleicht oft unkritische) Verwendung überkommener Begriffe charakterisiert die europäische Forschung bis heute, während die Modellhaftigkeit eher die Methoden, die in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden, kennzeichnet. Die Frage: Was ist Tanz? steht im Vordergrund der angelsächsischen Tanzforschung; man geht demnach nicht von der Kenntnis von Tanz und Körperbewegung aus, es sei denn, man definierte beide via verschiedene Modelle. Im Unterschied dazu liegt der europäischen Tanzforschung die Prämisse zugrunde, dass Tanz als Phänomen existiert, was seine Erforschung unter verschiedenen Aspekten ermöglicht.

Entwicklungen Die herkömmlichen Forschungs-Konfigurationen sind durch die Unterscheidung in zwei Traditionslinien geprägt, die auch die (nach wie vor existente) Trennung in Bühnen- oder Theatertanz, der ‚High Art‘, und in Gesellschafts-, Volks-, Folkloretanz oder ethnischen Tanz, der ‚Low Art‘ erklärt – eine Trennung, die in letzter Zeit von der Tanzforschung beklagt wird. Die eine Tradition ist philosophisch (logisch) ausgerichtet und impliziert die Identi-

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fikation des Tanzes mit dem menschlichen Denken; sie geht (im Abendland) auf die Philosophen der griechischen Antike zurück. Die andere Tradition formiert sich historisch-diachron und folgt der romantischen Bewegung, in der die Entwicklung von Tanz unter dem Aspekt seiner Ursprünge und deren Modifikationen betrachtet wird; sie entstand in einem Klima, in dem verwandtschaftliche und ursprüngliche Bezüge gesucht und nicht-westliche Tanzformen mit westlichen verglichen wurden – häufig unter historistischen und nationalistischen Prämissen. Da diese Tradition, unmittelbarer als die erste, eine Konzentration auf die Bewegung als Phänomen sui generis impliziert und sich deshalb auch auf die Zerlegung des Körpers, des Raums und eines ‚logischen‘ Zusammenhangs zwischen Körper und Raum ausrichtet, lässt sie sich als Beginn komparativer und historiographischer Sichtweisen begreifen, die auch als Anfang einer autonomen Tanzforschung interpretiert werden können. Sie erlaubt nicht nur die Gleichbehandlung von Ballett (als ‚High Art‘) und Gesellschafts-, Volks-, Folkloretanz und ethnischem Tanz (als ‚Low Art‘), sondern ermöglicht es auch, alle Dokumente von/über/zu Tanz und Bewegung als forscherische Aktivitäten zu werten. Eine so definierte Tanzforschung ist tatsächlich so alt wie die ersten Dokumente, die von der Existenz der Bewegungsbeschreibung und -reflexion zeugen. Diese Sichtweise impliziert eine beträchtliche Expansion der Tanzwissenschaft im Vergleich zu ihren traditionellen geo- und chronografischen Grenzen. Der folgende Rück- und Überblick über Tendenzen der Tanzforschung wird sich beispielhaft auf den nordamerikanischen und europäischen Raum und den Tanz der Neuzeit beschränken. Allgemein lassen sich an der Literatur, den ikonografischen Quellen und dem Gebrauch neuer Medien drei genreabhängige und geografische Konfigurationen beobachten, die für die Tradierung von Tanz, Bewegung und Körper typisch sind.

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Konfiguration I: Re-Präsentation von Kunst und Gesellschaftsphilosophie Symbolische Ereignisse – Balli, Ballette, Bälle Tanz oder Tanzen, d.h. sowohl höfischer Tanz wie Gesellschaftstanz und Ballett, werden bis ins 19. Jahrhundert vor allem mit der Strategie der RePräsentation bestehender kultureller Ordnungen oder Praktika beschrieben – meistens in den nationalen Sprachen der Länder, aus denen die Tänze stammen. Die Beschreibungen zielen dabei primär auf den Bereich des Unterrichts von Tanz sowie auf den Bereich von Tanz als Ereignis, d.h. in Ritual, Fest, Feier, Ball. Beide Bereiche liefern repräsentative Argumentationen für Tanz, die im Laufe der Zeit physischer werden. Und im 18. Jahrhundert schließlich fließen die Bereiche zusammen, indem der Ball nicht nur Ort der Begegnung, sondern auch Ort der (Körper-)Bildung wird. Die Feiern, Bälle, Feste, die in Reiseberichten oder ikonografischen Quellen erscheinen, beziehen sich selten spezifisch auf Bewegung; zentral ist das Ereignis selbst; vergleichbar steht in den philosophischen Erörterungen der beginnenden Neuzeit der Sinn oder Unsinn des Tanzes im Unterricht im Vordergrund. Bezeichnend für die Periode vor der Etablierung des Balletts im späten 17. Jahrhundert ist auch, dass ein großer Teil der Quellen aus Anti-Tanz-Traktaten oder Erlassen gegen das Tanzen des gemeinen Volkes besteht – eine Folge der christlichen Lehrmeinung, die Tanz eher als Kunst(-unterweisung), nicht jedoch (oder weniger) als Vergnügen zulassen kann? Auf Ikonografien2 erscheinen seit dem 15. Jahrhundert höfische Tanzformen, zunehmend zusammen mit bzw. in Kontrast zu Volkstanzformen. In den geschriebenen Materialien ist in vielen europäischen Ländern, in denen später das Ballett floriert, also Frankreich, Italien und England, Tanz eng verbunden mit der höfischen Erziehung. Tanzen spiegelt die Gesellschaftsordnung; es gilt als Statussymbol des Adels, oder des zu ihm in Opposition stehenden Volkes, wobei allerdings verbale Quellen über Volkstanz rar sind. Tanztraktate richten sich im 14., 15. und 16. Jahrhundert fast ausschließlich an die (des Lesens mächtige) Oberschicht und erscheinen gleichzeitig in Italien und Frankreich. Sie beinhalten ausführliche wie systematisch verkürzte Abhandlungen, Beschreibungen; z.B. symbolisieren Wortkürzel Schritte,

2 | Der früheste Textkorpus stammt aus prähistorischer Zeit und besteht aus ikonografischen Materialien. Ihre Bedeutung ist bislang kaum untersucht.

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die sich auf das Versmaß eines Gedichtes beziehen.3 Fixiert werden auf diese verbale bzw. verbal-symbolische Weise im 15. und 16. Jahrhundert Basses Danses wie auch Balli, genauer: einfache Tänze, komplexere Tänze, inhaltslose Tänze, mimische Tänze. Weitere tanztechnische Erklärungen, die sich oft in der Einleitung zu den Traktaten befinden, nennen die Grundregeln für den Tänzer: nämlich die Bewusstheit von Rhythmus, Raum, weiter Memoria, Eleganz. Zeit als Rhythmus, Erinnerung, ein gutes Gedächtnis und räumliche Orientierung werden also in der Praxis vorausgesetzt und sind den Verbal-Symbolen implizit.

Schematische Ereignisräume – Tanz, Wahrnehmung, Vermittlung Ende des 16. Jahrhunderts geraten die Ordnungen in ‚Bewegung‘. In den Tanztraktaten, -lehrbüchern, -notationen wird deutlich, dass (und auf welche Weise) die Tänzer und Tänzerinnen schematisch im Raum und mit dem Raum zu experimentieren beginnen. Schematisch heißt hier, dass – wie besonders nachvollziehbar in den zeitgenössischen Tanznotationen – ein Betrachterstandpunkt eingenommen wird, von dem aus gesehen die Tanzenden immer in Beziehung zu dem sie umgebenden Raum, in der Draufsicht erscheinen. Erforschen lassen sich auf diese Weise Bodenwege und Positionen der Tanzenden zueinander. Die räumlichen Figurationen werden in Beziehung gesetzt zu Musik und Verbalbeschreibungen. Diese Art der Darstellung ist der Beginn eines freilich noch rudimentären Diskurses zwischen der visuellen und verbalen Umsetzung von Körperbewegung, der auf einen veränderten, nämlich mehr ‚gefühlten‘, sinnlichen – und weniger schematisch nur durch Wortkürzel erfassten – Aspekt des Bewegungsmaterials hinweist. Die Darstellung richtet sich nun nicht mehr ausschließlich an den Adel, sondern an jeden, der sich für Tanz interessiert. Visualisierung und Verbalisierung erscheinen als gleichermaßen wichtig, um das Bewegungsgefühl zu dokumentieren. Diese Gewichtung ist wegweisend für die Tanzforschung bis heute. Weiter entstehen im 16. und 17. Jahrhundert Schriften, die sich mit dem ‚Machen‘ von gesamten Balletten befassen – und nicht länger von Balli oder Tänzen; ebenso wird das Anfertigen von Balletten in philosophischen Schriften reflektiert. In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts intensivierten und 3 | Zu den Tanztraktaten hier und im Folgenden vgl. auch Dahms 2001: 222224; zu den Tanzschriften auch Jeschke 1999.

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vertieften sich die Argumentationen für den Tanz und halfen, ihn zu einer eigenständigen Kunstform zu machen – als Folge der Gründung der Académie Royale de la Danse. Die Tanztheoretiker der Zeit versuchten theatralischen Tanz im Rahmen des zeitgenössischen Musiktheaters historisch und poetologisch zu verankern, indem sie, vor dem Hintergrund antiker Vorbilder, tänzerische, dramaturgische und musikalische Mittel analog setzten. Auf entsprechende Weise vermittelt sich in Europa die vom Ballett divergierende Tanzform, der traditionelle Tanz, somit der Gesellschafts- und Volkstanz. Der wohl nachhaltigste Beitrag kam aus England in Form der Country Dances, die seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar sind. Die Country Dances mit ihrem Figurenreichtum, in Frankreich adaptiert als Contredanses, waren bis ins späte 19. Jahrhundert hinein eine der wichtigsten Gesellschaftstanzformen. Einen entscheidenden Beitrag für die Verbreitung der Gesellschaftstänze und der theatralischen Tänze leistete die von Feuillet entwickelte Aufzeichnungsmethode, die ins Englische und Deutsche übersetzt wurde; italienische und spanische Einführungen in die Chorégraphie folgten. Informationen über neue Tanzformen, -stile und tanztechnische Entwicklungen konnten sich so über einen geografisch weiten Raum verbreiten. Die Dominanz der französischen Tanzkunst seit dem 18. Jahrhundert ist eine Folge dieser notations- und drucktechnischen, literalen Entwicklung. Die repräsentativen Aspekte von Bewegung und Material werden zudem auf einer weiteren Ebene exploriert, nämlich im Zusammenspiel von (erstens) tanztheoretischen Schriften, die primär Diskurse von und über Bewegung aufbauen; (zweitens) tanztheoretischen Schriften, die Körperbewegungen, Genres und Dramaturgie behandeln; (drittens) Libretti und (viertens) durch theaterpraktische und philosophischen Schriften, die sich auf Tanz beziehen. Während sich die Tanztraktate, die theater-praktischen und philosophischen Schriften an Tanzinteressierte aus allen Schichten wenden, waren Libretti bis ins 19. Jahrhundert nur dem Adel bzw. der Oberschicht zugänglich, also dem Publikum, das sich eben auch den Besuch der Aufführungen leisten konnte.

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Konfiguration II: Kulturpsychologische Suche nach Identität Mit der kontinuierlichen technischen und stilistischen Ausformung und Verbreitung des Tanzes begann Mitte des 18. Jahrhunderts auch eine Suche nach einer (neuen) Identität. Deutlich wird die veränderte Strategie einmal an der Art des Austauschs, der zwischen den Aspekten der Bewegung und des Materials stattfindet; zum anderen entsteht ein neuer Text-Typus, die Tanzkritik. Neben der Institutionalisierung von Tanz(-forschung) auf den Bühnen und durch das Printmedium des Tanztraktats entsteht nun die Institutionalisierung der Presse, auch der illustrierten Presse. Und zu Ende des 19. Jahrhunderts treten Foto und Film als neue visuelle Medien mit Tanz und Bewegung in Dialog. Allgemein lässt sich formulieren, dass sich die Suche verstärkt auf die visuelle, und damit weiterhin primär räumliche Logik richtet, dass sich die Textkorpora verselbständigen und gleichzeitig auf Tanz als machbares Geschehen, als Produkt, Werk ausrichten, wobei das Ereignis, also der Ball, das Fest, der Unterricht, weiterhin reflektiert wird. (Zur Ballettreform des 18. Jahrhunderts und dem Konzept des Ballet en Action vgl. Dahms 2001: 113.)

Dokumentation der Körperhandlungen Im 19. Jahrhundert kamen die Impulse zur Erforschung des Tanzes vor allem aus der Praxis, oder der mit der Praxis befassten Kritik. Die Suche nach dem bewegten Körper zeigt sich – wie bereits in den Jahrhunderten zuvor – einmal mehr in den Tanztheorien, die sich primär mit den tänzerischen Aktionen befassen, also den Tanznotationen. In den für das 19. Jahrhundert typischen Strichfiguren- und Musiknotenschriften wird die Körperbewegung zerlegt und in ein Notenliniensystem eingeschrieben. Raum und Tänzerbewegung sind zwar immer noch miteinander verbunden, die Verbindung aber ist teilhaft, abstrakt, und muss vom Betrachter geleistet werden. Die Beziehung zwischen dem Lesenden und dem Tanz wird visuell komplexer, anspruchsvoller, psychologisch begründet. Beide Schriftarten isolierten die Dimension Raum als das für die Umsetzung von Bewegung in andere Materialien, Texte unabdingbare Schriftelement: Entwickelt hat sich ein raum-logischer Blick von außen auf eine (innere) visuelle Identität von Tanz. Bewegung, Pose und Raum lösten sich jedoch nur soweit voneinander, wie sich Betrachter-Standpunkt und Tänzer-

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Standpunkt ‚bildlich‘ ineinander spiegelten. Dennoch hat sich die Vorstellung von Bewegung dynamisiert. Nicht länger Raumbilder generieren die Fantasie, sondern räumliche Bilder. Diese Art der Zuordnung verändert auch den Dialog zwischen Zuschauenden/Lesenden und Tanzenden; die Wahrnehmung der Zuschauenden/Lesenden wird gefordert, empathisch mit den Bewegungen des Tanzenden um- und mitzugehen.4 Tanztheorien, die sich primär auf den Aspekt von Bewegung als Material beziehen, erörtern zum einen die ästhetischen und praktischen Bedingungen bei der Herstellung von Ballett als Genre, 5 zum andern verzeichnen sie die Konstruktion und Ausführung von Tanz als kulturelle Praxis.

Narration und tänzerische Handlung Die Entwicklung des Tanzes vollzog sich auf einer anderen Ebene – durch die Veränderung im Aufbau der Tanzlibretti: Indem diese sich im Gegenentwurf zu den aristotelischen Einheiten zunehmend an visuellen Ereignissen orientierten, und somit auch das Zusammenspiel von individuellen RollenFiguren/Solo und Gruppe/Masse/corps de ballet modifizierten, bieten sie oft phantastische Denkmodelle mimisch-theatralen wie tänzerischen Geschehens.6 Das Ballett findet zwar nach wie vor zwischen oder nach Opern oder Schauspielen bzw. deren Akten statt, nun aber haben sich Präsenz wie Performativität der Körperbewegungen erhöht. Dargeboten werden einzelne Schau-Tänze, brillante Soli, Pas de deux, trois, quatre, mit oder ohne Beteiligung des Corps de ballet, oder eben Charaktertänze. Die Libretti verwenden nicht länger Vorlagen aus der Mythologie oder Historie, sondern greifen vielmehr Szenen aus der zeitgenössischen Literatur auf, die sie zu Stimmungsbildern verdichten. Deren Dramaturgie äußert sich u.a. in der Darstellung von Bällen, Festen, Feiern – als Situationen der Begegnung verschiedener Stände und Nationen. Das Bewegungsmaterial ‚fremder‘ Tänze wird hier als ‚authentisch‘ und/oder ästhetisch präsentiert, gleichermaßen verfremdet es die europäischen Gesellschaftstänze des 18. und 19. Jahrhunderts. 4 | Strichfigurenschriften werden noch heute verwendet. Vgl auch Dahms 2001: 219-220. 5 | Wie z.B. in Carlo Blasis’ The Code of Terpsichore (1828). 6 | Prototypische Charakter-Schaustücke sind z.B. die Cachucha Fanny Elßlers in Le Diable boiteux (1836) oder der pas de l’abeille in Jean Corallis/Théophile Gautiers La Péri (1843).

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Im Grand Ballet Marius Petipas in Russland schließlich verfestigten sich die Versatzstücke in formelhaften Figurenkonstellationen, in Stimmungsbildern von Gruppenchoreografien, die sich zu ganzen Balletten in den Balletten ‚auswachsen‘ konnten, in lebenden Bildern und im Kanon des fünfteiligen Pas de deux und des Grand Pas. In den Charaktertänzen ahmten Oberkörper und Arme den ‚nationalen‘, ‚authentischen‘ Charakter nach, während die Beinarbeit weitgehend der Danse d’École folgte.7

Ethnische Kartographien Die Suche nach tänzerischer Identität galt vor allem dem Tanzen als menschlichem Ausdruck. Im Zuge des Interesses an Geschichte, oft im Verbund mit der Suche nach der ‚Geburt‘ von Nationen, erfuhren auch die traditionellen Tänze neue Aufmerksamkeit. Bei der Erforschung europäischer Tänze stand die Definition regionaler oder nationaler Grenzen im Vordergrund. Und das Festhalten an diesen Grenzen verhinderte auch bis ins 20. Jahrhundert die Entwicklung eines komparativen Vokabulars.

Popularisierung und Tanzkritik Die Herausbildung von Schaustücken, allgemein von Festen und von Bällen, und spezifisch tänzerischen Highlights, ausgeführt von namhaften Ballerinen (ihnen voran Marie Taglioni und Fanny Elßler) ließen das Ballett – nicht anders als den Gesellschaftstanz – zum Vergnügen der Massen werden. Ein zweiter wesentlicher Faktor, der zur Popularisierung des Tanzes beitrug, war die Kritik; sie entwickelte sich ungefähr zeitgleich in Frankreich,8 England, Italien, aber auch in Polen und Schweden und in Amerika – also in den Ländern, in denen sich das Ballett etablieren konnte, oder in die es durch reisende Ballerinen oder Choreografen importiert wurde. Die Popularisierung des Balletts durch die Kritik ist zugleich ein Schritt zur Erforschung des Tanzes sui generis, wie auch zur Erforschung seiner kulturellen wie historischen Einordnung. Emanzipierten sich die Tanztheorien durch die Erzeugung räumlicher Bilder und die Libretti durch die Gestaltung von Stimmungsbildern, so leistete die Kritik durch die Herstellung 7 | Z.B. Coppélia (1870), Bajaderka (1877), Schwanensee (1877, St. Petersburger Fassung 1895), Dornröschen (1890), Nußknacker (1892). 8 | Vgl. die Einträge zu Kritik bei den jeweiligen Ländern in: Cohen 1998.

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von Körperbildern, manchmal auch Bildern von Bewegung, ihren Beitrag zur Tanzforschung.

Bild im Bild und Kinematographie Zwei neue Materialsorten hielten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Einzug in die Erforschung und Geschichte des Tanzes: die Fotografie und der Film. Sie sind ein weiteres Beispiel für die Multiperspektivität von Tanz (-forschung): Beide Medien wollen vor allem das Gefühl, die Energie von Bewegung oder von einer Aufführung, oder die Persönlichkeit eines Tänzers oder einer Tänzerin, oder Details von Produktionen aufzeichnen – auch ohne Tanz oder Bewegung selbst zu zeigen; in dieser Hinsicht ähneln sie dem Libretto. Und für den traditionellen Tanz ist der Film primär Hilfsmittel zur Dokumentation. Die repräsentative Tendenz des Tanzes, der Tanzforschung wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Emanzipation einer räumlichen, bildlichen, dreidimensionalen und damit ‚beweglichen‘ Sicht wenn nicht beendet, so doch ergänzt und modifiziert.

Konfiguration III: Theoretisierungen – Rollen, Modelle und Metaphern Tanzforschung etabliert sich nicht ohne Institutionen; die Initiative zu deren Bildung ging überall und zu allen Zeiten von Individuen aus, die die entsprechenden Freiräume beanspruchten. Hier sind deutliche regionale, nationale, ja kontinentale Unterschiede festzustellen. Indem sich in den USA und in England Tanzforschung relativ früh, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, an den Universitäten situierte, waren im angelsächsischen Raum die Voraussetzungen zur Gründung eigener tanzorientierter Wissenschaftsdisziplinen mit relevanter Methodendiskussion gegeben. Eine derartige Identifikation der Tanzforschung mit Disziplinen und Methoden konnte im kontinentaleuropäischen Raum aufgrund länderspezifischer Tanz- und WissenschaftsTraditionen nicht entstehen.

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Äußere und innere Räume, Theatralik und Performativität Beispielhaft für die Erneuerung des Balletts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie für die Quellensituation der Forschung waren die Aktivitäten der Ballets Russes von Serge Diaghilew, die zwischen 1909 und 1929 die westeuropäischen Bühnen eroberten. In den narrativen, expressiven Werken fanden sich Choreografie, Musik, Bühnenbild und Kostüm zu einem ‚Gesamtkunstwerk‘ zusammen, wobei die Narration allein durch mimetische Expressivität auf der Basis des klassischen Bewegungsvokabulars gestaltet wurde. Der zunehmende Fokus auf Raum, Körper und Bewegung und die abnehmende Verwendung von Literatur stehen nicht nur im Vordergrund der Entwicklung des Balletts, sondern auch der Entstehung des freien Tanzes. Zum Beispiel schuf Isadora Duncan (zu weiteren Vertretern vgl. Dahms 2001: 153-155) einen inneren Erlebnis–Raum, der seine konkrete Entsprechung im leeren Bühnenraum fand. Und mystisch verschmolz sie den äußeren Raum, die Bühne – oder auch den Raum ihrer Mittänzerinnen sowie den Zuschauerraum – mit dem inneren Erlebnisraum im ‚Ursprung‘ der Bewegung, die sie im Solarplexus und im Herz lokalisierte; damit leistete sie einen wesentlichen Beitrag zur körperspezifischen Methodenfindung der Tanzforschung.

Schriften aus Theorie und Praxis Als Beispiel: Deutschland und der Ausdruckstanz

Deutschland mit seiner spezifischen Form des Ausdruckstanzes ist ein frühes und typisches Beispiel für diese theoretisch-praktischen Annäherungsweisen des beginnenden 20. Jahrhunderts an Ballett und Moderne. Die Tänzerinnen und Tänzer sowie die Choreografinnen und Choreografen des Balletts ebenso wie des modernen Tanzes des 20. und 21. Jahrhunderts beabsichtig(t)en nicht (mehr) wie noch ihre Vorgänger und Vorgängerinnen in Worten und Bildern zu belehren, sondern vor allem ihr subjektives (biografisches, psychologisches, philosophisches...) Empfinden von Bewegung zu vermitteln, wie auch die Bedeutung von Tanz als kulturelle Praxis verständlich zu machen.

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Praktiker, Theoretiker und Journalisten sahen jetzt ihre Aufgabe darin, den Wert von Tanzen als neu entdeckte körperliche Kraft zu betonen, wobei sie das Ballett und die dekadente Kultur des 19. Jahrhunderts als Gegenbilder heraufbeschworen. Gleichzeitig wurde Tanz auch als komplexes Objekt von Theoretisierung und Komparativität etabliert, das systematischer Kategorisierung in Genres, Stile, Formen und Techniken bedurfte. Eine andere deutsche Erfindung ist die Raum-Schrift. Die Übertragung der dreidimensionalen Bewegung auf zweidimensionales Papier veränderte das Verhältnis zwischen Bewegung und Material: Die Beziehung zwischen Denken und Sehen wurde zum bewussten Prozess. In der Kinetografie Laban/ Labanotation sowie in der auch unter der Mitwirkung von Rudolf von Laban entwickelten Effort/Shape-Lehre (einschließlich ihrer Anwendung in Laban Movement Analysis) wird die Bewegung als eigendynamisch, also ‚befreit‘ von Rhythmus oder Musik, angesehen und in ihre Faktoren zerlegt. Die Notierung stellt die Synchronisation aller Einzelbewegungen dar; in ihrer Konzeption und der Wahl der Notationszeichen zeigt die Schrift ein plastisches Verständnis von Körper-Bewegung, Raum und Zeit. Labans Choreografien wie auch die Mary Wigmans arbeiteten nach diesem plastischen Prinzip. Die Kinetografie Laban/Labanotation wird heute international, auch in digitaler Verarbeitung, zur Verschriftung und Strukturanalyse, Dokumentation und Reproduktion von Bewegung eingesetzt.9

Modelle und Metaphern. Zum Vergleich: USA Populäre Unterhaltungsgenres dominierten die nordamerikanischen Bühnen seit der Jahrhundertwende. Gleichzeitig wurden aber auch das Interesse am ‚gesunden‘ Körper durch den Staat propagiert und pädagogische Theorien entwickelt, die für eine Rationalisierung von Tanz, oder genauer von Physiognomik, als notwendigem Mittel für eine gesunde persönliche Entwicklung einsteht. Charakteristisch für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg waren Reaktionen gegen überkommene Definitionen von Kunst und Gesellschaftsleben, die den Gegensatz zwischen ‚High‘ und ‚Low Culture‘, zwischen Traditionalität und Modernismus, verstärkten. Einen neuen Weg wiesen auch hier die ersten freien Tänzerinnen Amerikas, Isadora Duncan 9 | Zu weiteren Schriften, Weiterentwicklungen der Kinetografie Laban/Labanotation und ihrer kritischen Einordnung vgl. Dahms 2001: 18-24 und Jeschke 1999.

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und Ruth St. Denis, und die Gastspiele russischer Tänzerinnen und Tänzer. Ende der 1920er Jahre schufen intellektuelle Gemeinschaften und moderne ästhetische Theorien, wie u.a. von John Martin und Lincoln Kirstein, das Klima für die Entstehung neuer Schulen, die z.T. auch Tanz unterstützten, sowie für die Wahrnehmung von ‚amerikanischem‘ Tanz in Festivals und Filmen und für die Experimente unabhängiger und nonkonformistischer junger Tänzerinnen und Tänzer, u.a. Martha Graham (mit dem Komponisten Louis Horst), Doris Humphrey, Katherine Dunham (vgl. weiter den Eintrag zu „United States of America“ in Cohen 1998).

Gesellschaf tstanz und Volkstanz

Die Gesellschaftstänze sind in Kontinental-Europa und in den USA bis in die 1960er Jahre vom zunehmenden Einfluss südamerikanischer Tanzformen und Rhythmen geprägt, die auch bald mit den ‚schwarzen‘ und europäischen Gesellschaftstänzen fusionieren. Die Herkunft der Tanzformen ist kaum noch zu bestimmen. Die Vielzahl der zeitgenössischen Publikationen in Büchern und Zeitschriften belegt die Popularität der Tänze. In der Mehrzahl sind es praxisorientierte Lehrbücher, die die Körperaktionen als Konstituenten und Ausdruck des betreffenden Tanzes begreifen. Die Bewegungen werden meist in Figuren zerlegt, die namentlich kodifiziert und ebenso nochmals verbal beschrieben werden; die Aufzeichnungen verwenden also ein verbal-piktoral-symbolisches Verfahren (vgl. Jeschke 1999).

Strukturelle Prozesse Europäische Modelle

In Auseinandersetzung mit der eigenen Tanzgeschichte wie mit den Tanzkulturen fremder Länder entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Verständnis von Tanz als struktureller Körperbewegung; Beschreibung und Analyse werden zu Alternativen. Gleichzeitig beginnt sich die Tanzforschung in vielen Ländern als akademische Disziplin zu institutionalisieren. Die Entwicklung vollzieht sich auf drei sich immer wieder kreuzenden bzw. parallel verlaufenden Wegen: auf dem Weg der Publikation, der Gründung von tanzspezifischen Einrichtungen wie Tanzzeitschriften, Sammlungen oder Gesellschaften und – in enger Verknüpfung – auf dem Weg der tanzpraktischen Lehre.

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Die Akademisierung der europäischen Tanzforschung vollzieht sich in den 1960er/1970er Jahren durch die Etablierung einmal an Universitäten und zum zweiten innerhalb internationaler Gesellschaften. Die strukturelle Sicht von Tanz(en) ermöglicht nicht nur die Emanzipation von Tanz als Konzept, Strategie und Mittel, sondern eröffnet dem Tanz ein Spektrum von Disziplinen, in das er sich einordnen lässt und das seine Materialien prägt. War bereits ein Textkorpus vorhanden, in Form von Sammlungen oder Publikationsreihen, so förderte er diese Entwicklung, wie z.B. besonders in England, Italien, Deutschland, oder initiierte sie sogar. Daneben funktioniert Tanzforschung häufig weiter im privaten Sektor. Im Fokus der Universitäten steht fast immer der Bühnen- oder Theatertanz, während die internationalen Gesellschaften, deren Mitglieder ebenfalls meist Universitäten angehören, vor allem den ‚anderen‘ Tanz erforschen. Tanz als akademisches Fach wurde innerhalb verwandter Disziplinen heimisch, die physiologisch, pädagogisch, psychologisch, ästhetisch, historisch bzw. sozio-kulturell ausgerichtet sind. Unterschiede zwischen den akademischen Institutionen zeigen sich vor allem im Forschungsinteresse und den daraus resultierenden Methodologien, die sich aus der Tanzgeschichte des jeweiligen Landes ergeben. Eine wichtige Rolle spielen z.B. in England die Anthropologie und die Kultursoziologie, die – wie in den USA –der Forschung neue Impulse zum Verstehen von Tanz(en) als kultureller Erscheinungsform gaben. Methodisch manifestierte sich dieses Verständnis in der Entwicklung von strukturanalytischen Modellen. Im deutschsprachigen Raum führte die Entwicklung der eigenen Tanzgeschichte zur Diskussion tanzästhetischer Fragen wie zur Suche nach Tanz(en) als Körperbewegung. Generell ist festzustellen, dass sich der jeweilige Fokus der Theoriebildung an nationalen kulturpolitischen Profilen und Forderungen orientiert, diese aufgreift und im Sinn einer aktuellen pluralistischen Tanzforschung modifiziert.

Modelle der USA – am Beispiel von Tanzanthropologie und Tanzethnologie

Während Tanzanthropologen nach der Kultur fragen und nach der Antwort im Bereich der menschlichen Bewegung suchen, fragen Tanzethnologen nach der tänzerischen Bewegung und suchen die Antwort in den Resultaten interdisziplinärer Erforschung menschlichen Verhaltens. Im Fokus beider Disziplinen steht nicht der Tanz einer spezifischen Aufführung, sondern

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Tanz als kulturelles und soziales Mittel. Das Verfahren von Feldstudien wird heute in der Anthro-/Ethno-Forschung auch im ‚eigenen‘ zeitgenössischen Tanz, im Ballett wie im modernen Tanz, in der Hoch- wie Subkultur, verwendet.10

Modelle der USA – am Beispiel von Cultural Studies, Performance Studies, Gender Studies

In den letzten zwei Jahrzehnten erschienen neue methodologische Trends in der Tanzforschung (vgl. auch Daly 2000: 39-53; Fraleigh/Hanstein 1999; Morris 1996; Franko/Richards 2000; Case/Brett/Foster 2000). Gemeinsam ist den europäischen Kulturwissenschaften, den angelsächsischen Cultural Studies, Performance Studies und den feministischen Konzepten der Fokus auf das Verhältnis von Tanz und Kultur und auf die Analyse von Tanz als Art der Repräsentation. Tanz wird hierbei oft als ‚Text‘ und weniger als Praktik begriffen. Diese Veränderung in der Erforschung von Tanz war ein Echo der sogenannten Krise der Repräsentation, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den 1980ern stattfand. Als Konsensus des ‚Performative Turn‘ gilt, dass die Postmoderne die wohl entscheidendsten Veränderungen in der Wahrnehmung, den Praktiken und Diskursen seit dem Zweiten Weltkrieg brachte. Die Grenzen zwischen ‚High Art‘ und Populärkultur, zwischen Leben und Kunst verwischten, gefragt war der Ekklektizismus im Mixen von Stilen und Genres und das dislozierte, fragmentierte Subjekt. Der choreografische Kanon, ebenso wie das akademische Selbstverständnis von sprachlich/schriftlicher Dokumentation, Rekonstruktion wurden herausgefordert, indem die Bewegungs- und/oder Dokumentationsverfahren selbst (und nicht deren Produkt: der Tanz, das Werk) als Material für neue Arbeiten Verwendung fanden. De- und Rekonstruktion greifen also praktisch und theoretisch auf vielerlei Ebenen ineinander.11 10 | Vgl. auch für weitere Konzepte: Dahms 2001: 28-36; die Einträge „Methodologies in the Study of Dance“ in Cohen 1998; Fraleigh 2000: 54-62; Sklar 2001: 90-95. 11 | Z.B. zu Theorie und Praxis des post- und postpostmodernen Tanzes, des deutschen Tanztheaters und des zeitgenössischen Tanzes: Choreografien, Performances, Filme, Schriften von Judson Church, Yvonne Rainer, Pina Bausch, William Forsythe, Jan Fabre, Anne Teresa de Keersmaeker, Susan Foster, Mark Franko, Saburo Teshigawara, Xavier LeRoy u.a.m.

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Ziel der mit den Methoden aus Cultural bzw. Performance Studies handelnden Untersuchungen ist die Entdeckung der komplexen Verwobenheit repräsentationaler mit sozialen Systemen, die eben auf diese Macht ausüben; dadurch wird ein besseres Verständnis des sozialen Subjekts (d.h. von Individuen, die Kollektive bilden) ermöglicht, genauer: ein besseres Verstehen, wie die Repräsentativität die Subjekte beeinflusst und wie diese ihre Bedeutungszuschreibungen manipulieren. Am erfolgreichsten operieren Cultural/ Performance Studies, wenn feministische Theorien oder Rassentheorien den Rahmen der Untersuchungen bilden. Der Feminismus fand in Folge der Wahrnehmung von Tanz als historisch-konstruierter, sozialer und politischer Art der Repräsentation Eingang in die Tanzforschung. Umgekehrt eröffnete Tanz als symbolisches Bedeutungssystem von Körperinszenierung feministischen Annäherungsweisen ein reiches Untersuchungsfeld. Und es gibt zahlreiche Überschneidungen von feministischen Theorien mit Theorien über andere soziale Kategorisierungen wie Sexualität, Race Theory, Queer Theory, Postcolonial/Transnational Theory. Kritisch wird die Beziehung zwischen Cultural/Performance Studies und Tanz immer dann, wenn der Körper – die Bewegung befindet sich weniger im Blickwinkel der Disziplinen – etwas ‚Realeres‘, Sinnlicheres, Körperlicheres als Sprache und Denken darstellt.

Sichtweisen der Tanzforschung heute

Mit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts steht in den USA wie in Europa Tanz unter jedem Aspekt zur Diskussion. Postpositivistische Grundfragen sind z.B.: Was ist Tanz? Wie kann man sich dem, was Tanz ist, methodisch annähern? Wo soll der Fokus der Tanzforschung liegen? Liegt er auf einer interdisziplinären Erweiterung dessen, was Tanz(en) ist oder auf einer Konzentration auf die Spezifikation von Tanz? Wie gehen die anderen Disziplinen mit einem erweiterten Tanzverständnis um? Führt der Trend weg von der Analyse der Bewegungsstrukturen und hin zu einer interdisziplinären Ausrichtung von Tanzforschung? Schließen sich die beiden Annäherungsformen überhaupt aus? Welche Stellung hat Theorie im Tanz? Ist Tanzforschung ohne Tanzpraxis sinnvoll? Betrachtet man Tanz als Teil von Kultur, so folgt daraus eine Reihe von Fragen, die noch in der eher formalistisch ausgerichteten Ära kaum von Interesse gewesen sind: Fragen nach ethnischer Zugehörigkeit, nach Geschlecht, nach Klasse, nach Körper. Postmoderne, Poststrukturalismus und Genderforschung artikulierten ihre zentralen Probleme von Sprache, Bedeutung

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und Subjektivität in Diskursen über Körper – und das machte sie so attraktiv für die Tanzforschung, die seitdem immer wieder neue Annäherungsweisen an diese Problematik findet. Tanzforschung kennt keine klare Definition (mehr?), methodisch scheint vor allem die Annahme der Flüchtigkeit von Bewegung eine zunehmend geringere Rolle zu spielen, womit sich gleichzeitig das Verständnis von Dokumentation, Re- und Dekonstruktion ändert. Die Fragilität und Transparenz von Tanzforschung ist nicht nur das Ergebnis moderner bzw. postmoderner Spannungen, sondern auch das Ergebnis der Kreativität von Tanz – und des jeweiligen Konzepts von Tanzforschung.

Literatur Case, Sue-Ellen/Brett, Philip/Foster, Susan Leigh (Hg.) (2000): Decomposition. Post-Disciplinary Performance, Bloomington: Indiana University Press. Cohen, Selma Jeanne (founding ed.) (1998): International Encyclopedia of Dance, New York: Oxford University. Dahms, Sibylle (Hg.) (2001): MGGPrisma. Tanz, Kassel u.a.: Bärenreiter/ Metzler. Daly, Ann (2000): „Trends in Dance Scholarship. Feminist Theory across the Millenial Divide“, in: Dance Research Journal 1, S. 39-53. Fraleigh, Sondra Horton (2000): „Conscious Matters“, in: Dance Research Journal 1, S. 54-62. Franko, Mark/Richards, Annette (Hg.) (2000): Acting on the Past. Historical Performance across the Disciplines, Hanover [u.a.]: Wesleyan University Press. Jeschke, Claudia (1999): Tanz als Bewegungstext. Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz, Tübingen: Niemeyer. Salmen, Walter (1997): Der Tanzmeister. Geschichte und Profile eines Berufes vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, Hildesheim u.a.: Olms. Sklar, Deirdre. (ed. and introd.) (2001): „Dialogues. Dance Ethnography: Where Do We Go From Here?“, in: Dance Research Journal 1, S. 90-95. Zile, Judy Van (1999): „Capturing the Dancing: Why and How?“, in: Theresa J. Buckland (Hg.), Dance in the Field. Theory, Methods and Issues in Dance Ethnography, Basingstoke: MacMillan, S. 85-99.

Zu den Autorinnen und Autoren

Bischof, Margrit, ist Dozentin für Tanz und Sport am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern und Initiantin von nationalen und internationalen Tagungen zu Themen des Tanzes. Sie ist verantwortlich für den Aufbau und die Entwicklung des universitären Nachdiplomstudiengangs TanzKultur und seit 2002 dessen Studienleiterin. Veröffentlichungen im Bereich Tanzpädagogik, Tanzdidaktik. Ihre letzte Publikation: e_motion (2006), (Hg. mit Claudia Rosiny und Claudia Feest), Jahrbuch Tanzforschung Band 16. Brandstetter, Gabriele, Dr., ist Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen zu Literatur, Theater, Tanz und Performance vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Ihre besonderen Schwerpunkte: Theorie der Darstellung, Körper- und Bewegungskonzepte in Schrift, Bild und Performance; Forschungen zu Theatralität und Geschlechterdifferenz. Letzte Publikationen: Mundart der Wiener Moderne Der Tanz der Grete Wiesenthal (2009), (Hg.); Tanz als Anthropologie (2007), (mit Christoph Wulf, Hg.); Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien (2005). Dröge, Wiebke, arbeitet als Choreografin, Tänzerin, Dozentin und in der künstlerischen Projektentwicklung. Ausgebildet in Sportwissenschaften, Zeitgenössischem Tanz, Technologien von Improvisation und Theaterpädagogik war sie von 2001–2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der J.-W. Goethe Universität Frankfurt a.M. 2005 gründete sie das Label ohnepunkt, unter dem sie Tanzkunst und kulturell-ästhetische Bildung zusammenfasst.

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DER

TANZKULTUR

Sie inszeniert und kooperiert mit Künstlern verschiedener Genres in freien Projekten und an Theatern, coacht Tanzschulprojekte für das Tanzlabor_21 und realisiert seit 2008 Kunstprojekte für die Crespo-Foundation. Evert, Kerstin, Dr., ist seit August 2006 Leiterin von K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, war von 1997 bis 2000 Stipendiatin im Graduiertenkolleg Körperinszenierungen der FU Berlin und promovierte zum Thema DanceLab – Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien (erschienen Würzburg 2003; ausgezeichnet mit dem Tanzwissenschaftspreis NRW 2001). Als Dozentin u.a. tätig in Berlin, Gießen, Hamburg und Salzburg. Von 2002 bis 2006 als Dramaturgin auf Kampnagel entwickelte sie zusammen mit Edith Boxberger das Konzept zum Tanzplan Hamburg. Haselbach, Barbara, ist em. Professorin für Tanzdidaktik am Orff-Institut der Universität Mozarteum Salzburg mit Lehraufträgen an den Universitäten Hamburg und Bern. Sie ist u.a. Dozentin am Instituto Musica Arte y Proceso, Vitoria, Spanien und der Internationalen Hochschule für Kunsttherapie und Kreativpädagogik in Calw. Veröffentlichungen zu den Themen Tanzerziehung, Improvisation, Tanz und Bildende Kunst, Orff-Schulwerk, Ästhetische Erziehung u.a. Jeschke, Claudia, Dr. phil., ist Professorin für Tanzwissenschaft im Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft an der Universität Salzburg. Veröffentlichungen und Performances zu Theorie und Praxis des Tanztheaters vom 18. - 20. Jahrhundert. Letzte Publikationen (gemeinsam mit Gabi Vettermann, Nicole Haitzinger): Les Choses Espagnoles (2009) und Interaktion und Rhythmus (2010); Herausgeberin des Magazins Tanz&Archiv. ForschungsReisen (seit 2008). Klinge, Antje, Dr. sportwiss., ist Professorin für Sportpädagogik und Sportdidaktik an der Ruhr-Universität Bochum. Sie habilitierte sich zum Thema Körperwissen – eine vernachlässigte Dimension. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Erforschung von Lern- und Bildungsprozessen im Medium von Körper, Bewegung, Sport und Tanz. Sie ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Bundesverbands Tanz in Schulen e.V. sowie Kuratoriumsmitglied beim Tanzplan Deutschland. Letzte Publikationen: Die Scham ist nie vorbei! Beschämung im Schulsport – eine sportpädagogische Herausforderung (2009); Empirische Annäherungen an Tanz in Schulen. Befunde aus Evaluation und

ZU

DEN

A UTORINNEN

UND

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Forschung (2009, gemeinsam mit Marianne Bäcker, Claudia Fleischle-Braun, Stefanie Howahl). Klein, Gabriele, Dr. rer.soc., ist Professorin für Soziologie von Bewegung, Sport und Tanz an der Universität Hamburg und Direktorin des Zentrums für Performance Studies. Ihre Arbeits- und Forschungsfelder sind: Kulturund Sozialtheorie von Körper und Bewegung, Tanz- und Performance-Theorie, Städtische Bewegungskultur und populäre Tanzkulturen, Jugend- und Poptheorien. Letzte Publikationen: Methoden der Tanzwissenschaft (2007) (Hg. mit Gabriele Brandstetter); Tango in Translation (2009), (Hg.). Noeth, Sandra, ist Dramaturgin am Tanzquartier Wien. Sie studierte Kultur- und Tanzwissenschaft und Romanistik. Sie war 2006 – 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am FB Bewegungswissenschaft/Performance Studies/Universität Hamburg. Ihre letzten Publikationen sind: MONSTRUM. A book on reportable portraits (2009, mit deufert + plischke), Hospitality is not equal. Über Choreographie als gastfreundschaftlichen Raum (2010) (in Stefan Tigges u.a.: Dramatische Transformationen: Zwischenspiele). Roselt, Jens, Theaterwissenschaftler, Dr., ist seit 2008 Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst, Geschichte und Theorie der Schauspielkunst, Aufführungsanalyse. Publikationen: Phänomenologie des Theaters. (2008); Schauspielen heute (2010) (Hg. mit Christel Weiler). Rosiny, Claudia, Dr., ist Tanz- und Medienwissenschaftlerin. Promotion zum Thema Videotanz 1999; Vorträge, Publikationen, Lehraufträge u.a. an den Universitäten Bern, Basel, Leipzig und Wien. 1991 bis 2007 Mitorganisatorin der Berner Tanztage. Seit 2002 Mitglied der Programmleitung und Dozentin beim Nachdiplomstudium TanzKultur an der Universität Bern. Weitere Publikationen: e_motion (2006). (Hg. mit Margrit Bischof und Claudia Feest) Jahrbuch Tanzforschung Band 16; Zeitgenössischer Tanz. Körper, Konzepte, Kulturen (2007) zus. mit Reto Clavadetscher. Siegmund, Gerald, Dr., ist Professor für Tanzwissenschaft mit dem Schwerpunkt Choreografie und Performance an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz und im postdramatischen Theater im Übergang zur Performance und zur bildenden Kunst. Zu seinen Buchpublikationen gehö-

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DER

TANZKULTUR

ren: William Forsythe – Denken in Bewegung (2004), sowie Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes –William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart (2006). Vettermann, Gabi, ist freie Tanzhistorikerin und Lektorin. Ihre letzten Publikationen (gemeinsam mit Claudia Jeschke und Nicole Haitzinger): Les Choses Espagnoles (2009); Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im 19. Jahrhundert (2010). Wehren, Julia, ist seit 2007 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Sie studierte Theaterwissenschaft in Bern und zeitgenössischen Tanz an der Rotterdamse Dansacademie in Holland. Bis 2007 arbeitete sie als Choreografin, Tänzerin und Tanzpädagogin und war tätig als Tanzjournalistin für Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Derzeit forscht sie zur Vergegenwärtigung des Vergangenen im zeitgenössischen Tanz. Jüngste Publikation: (Hg. mit Christina Thurner): Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz (2010). Wulf, Christoph, Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft und Anthropologie und Mitglied des interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Er ist geschäftsführender Herausgeber von Paragrana, der internationalen Zeitschrift für Historische Anthropologie (seit 1993). Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zum Thema der Mimesis, des Mimetischen Lernens, des Performativen. Mitarbeit beim Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen und im Exzellenzcluster Languages of Emotion. Publikationen: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie (2009); Gesten (2010) (mit Erika FischerLichte, Hg.).

TanzScripte Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps« 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., inkl. Begleit-DVD, 28,80 €, ISBN 978-3-89942-558-1

Susanne Foellmer Am Rand der Körper Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1089-5

Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz 2007, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-808-7

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TanzScripte Sabine Huschka (Hg.) Wissenskultur Tanz Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen 2009, 246 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1053-6

Annamira Jochim Meg Stuart Bild in Bewegung und Choreographie 2008, 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1014-7

Laurence Louppe Poetik des zeitgenössischen Tanzes (übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand) 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1068-0

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TanzScripte Christiane Berger Körper denken in Bewegung Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara 2006, 180 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-554-3

Friederike Lampert Tanzimprovisation Geschichte – Theorie – Verfahren – Vermittlung 2007, 222 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-743-1

Reto Clavadetscher, Claudia Rosiny (Hg.) Zeitgenössischer Tanz Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme

Gerald Siegmund Abwesenheit Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart

2007, 140 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-765-3

2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-478-2

Susanne Foellmer Valeska Gert Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre

Natalia Stüdemann Dionysos in Sparta Isadora Duncan in Russland. Eine Geschichte von Tanz und Körper

2006, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., inkl. Begleit-DVD, 28,80 €, ISBN 978-3-89942-362-4

2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-844-5

Pirkko Husemann Choreographie als kritische Praxis Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen

Christina Thurner Beredte Körper – bewegte Seelen Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten

2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-973-2

2009, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1066-6

Gabriele Klein (Hg.) Tango in Translation Tanz zwischen Medien, Kulturen, Kunst und Politik

Susanne Vincenz (Hg.) Letters from Tentland Zelte im Blick: Helena Waldmanns Performance in Iran/ Looking at Tents: Helena Waldmanns Performance in Iran

2009, 306 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1204-2

Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hg.) Performance Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst

2005, 122 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-405-8

2005, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-379-2

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