Empirie, Theologie, Ausbildung ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-666-62431-5

Die Krankenhausseelsorge ist in jüngerer Zeit zunehmend intensiv mit Themen der Ethik befasst. ImKontext der Implementie

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German Pages 404 Year 2016

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Empirie, Theologie, Ausbildung
 ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-666-62431-5

Table of contents :
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1. Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung . . 11
I. Ethik als Aufgabe der Klinikseelsorge . . . . . . . . . . . . 11
II. Fragestellung und Methoden der Studie . . . . . . . . . . 16
III. Begriffliche Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
IV. Zum Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
V. Anmerkungen zur Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . . 33
2. Ethische Situationen in der Klinik und die Rolle der Seelsorgenden . . 34
2.1 Was ist Ethik in der Klinik? Die Perspektive von Seelsorgenden . . 34
I. Ethikberatung in der Klinik: Entwicklung und Status quo . 36
II. Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden . . . . . . 40
III. Erwartungen von Seelsorgenden an die
Institutionalisierung von Ethik . . . . . . . . . . . . . . . 48
IV. Das Ethikverständnis von Seelsorgenden: Ein Modell zur
Klassifikation ethischer Situationen . . . . . . . . . . . . . 52
V. Fazit: Ein weiter Ethikbegriff markiert Diskrepanzen im
Klinikalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.2 Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik . . . . 58
I. Veränderte Rahmenbedingungen von Seelsorge im
Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
II. Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden . . . . 63
III. Fazit: Ethik erweitert das Rollenspektrum von
Seelsorgenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3. Der Umgang von Seelsorgenden mit ethischen Problemen . . . . . . . 72
3.1 Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen . . . . 72
I. Die Genese ethischer Situationen . . . . . . . . . . . . . . 72
II. Die Veränderung ethischer Situationen . . . . . . . . . . . 80
III. Die Nachbegleitung ethischer Entscheidungen . . . . . . . 85
IV. Der Einfluss ethischer Situationen auf Seelsorgende . . . . 87
V. Fazit: Seelsorgende gestalten ethische Situationen in
vielfacher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
3.2 Ethik im Kontext der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
I. Organisationsregeln und -kultur als Themen der Ethik . . 92
II. Der Wandel von Strukturen ethischer Kommunikation . . 97
III. Die kommunikative Einbindung der Seelsorgenden . . . . 99
IV. Die Einheit der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
V. Fazit: Umgang mit Ethik umfasst auch
„Seelsorge an der Institution“ . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3.3 Sorge in Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
I. Ansätze einer Care-Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
II. Care als Orientierung von Seelsorgenden in ethischen
Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
III. Fazit: Care gehört zum Ethos von Seelsorgenden . . . . . 127
3.4 Gewissensfragen in der Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
I. Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden . . . . . . . 131
II. Seelsorglicher Umgang mit Gewissensfragen . . . . . . . . 143
III. Die religiöse Dimension des Gewissens . . . . . . . . . . . 149
IV. Fazit: Der Gewissensbegriff markiert einen Raum für
moralisches Subjektsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
3.5 Verhandlungen über Personsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
I. „Personsein“ als Hintergrundkonzept ethischer
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
II. Momente des Personseins am Lebensende . . . . . . . . . 160
III. Das Personsein von Föten und Säuglingen . . . . . . . . . 172
IV. Fazit: Personsein an den Grenzen des Lebens ist eine
prekäre Zuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
3.6 Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus . . . . . . . . 184
I. Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer
Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
II. Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden . . . 199
III. Moralische und entmoralisierende Rede . . . . . . . . . . 216
IV. Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen:
Der seelsorgliche Umgang mit nonverbaler
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
V. Fazit: Seelsorgende haben ein Gespür für Sprache als
Form des Ethischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
3.7 Die ethische Funktion von Ritualen . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
I. Rituale als symbolische Handlungskomplexe . . . . . . . . 240
II. Die Neuordnung ethischer Situationen im Ritual . . . . . 244
III. Rituale in Entscheidungssituationen . . . . . . . . . . . . 250
IV. Die Ordnung sozialer Beziehungen und die Verhandlung
sozialer Rollen im Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
V. Exkurs: Räume als Ressource für das Ritual . . . . . . . . 258
VI. Fazit: Rituale sind Orte symbolischer Kommunikation
über Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
4. Perspektiven einer Ethik der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
4.1 Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen . . . . . . . . . . 261
I. Zur Frage der Zuordnung von Seelsorge und Ethik . . . . 264
II. Materiale Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
III. Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik . . . 281
IV. Fazit: In der Seelsorge begegnen sich moralische Subjekte
auf transmoralischem Grund . . . . . . . . . . . . . . . . 289
4.2 Ethische Kompetenz in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
I. Ein neues Modell ethischer Kompetenz in der Seelsorge . 294
II. Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge . . . . 301
III. Fazit: Ethische Kompetenz sollte bereits in der
grundständigen Seelsorgeausbildung entwickelt werden . 311
4.3 Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul . . . . 313
I. Seelsorgedidaktische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . 314
II. Die einzelnen Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
III. Erfahrungen und Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
5. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
I. Zusammenfassung der Studienergebnisse . . . . . . . . . 334
II. Themen weiterer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Anhang: Material für die Seelsorgeausbildung . . . . . . . . . . . . . . . 343
M I: Arbeitsblatt „Modelle der Einbindung von Seelsorge in
die Klinik“ (Block 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
M II: Impuls „Klassifikation ethischer Situationen“ (Block 2) . . 347
M III: Fallbeispiel (Blöcke 2 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
M IV: Rollenanweisungen (Block 2) . . . . . . . . . . . . . . . . 350
M V: Rollenanweisungen (Block 3) . . . . . . . . . . . . . . . . 362
M VI: Ablaufplan „Nimwegener Modell der ethischen
Fallbesprechung“ (Block 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
M VII: Fragenkatalog „Auswertung des Planspiels“ (Block 3) . . . 375
M VIII: Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“:
Impuls für Erfahrungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . 376
M IX: Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“:
Arbeitsmaterial für Kleingruppenarbeit . . . . . . . . . . . 377
M X: Material zur Themeneinheit „Barmherziger Samariter und
Seelsorge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

Citation preview

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 84

Thorsten Moos / Simone Ehm / Fabian Kliesch / Julia Thiesbonenkamp-Maag

Empirie, Theologie, Ausbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Den Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorgern

Mit 5 Grafiken und 7 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-666-62431-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

Vorwort

Die Krankenhausseelsorge ist in jüngerer Zeit zunehmend intensiv mit Themen der Ethik befasst. Im Kontext der Implementierung Klinischer Ethikberatung, aber auch weit darüber hinaus, reflektieren Seelsorgerinnen und Seelsorger Fragen der Ethik medizinischer Behandlungen, der Gestaltung von Organisationsprozessen und der individuellen Lebensführung. Sie agieren in einem hoch ausdifferenzierten Gesundheitswesen, am Schnittpunkt von Medizin, Recht, Ökonomie und Religion. Konfrontiert mit unterschiedlichsten Erwartungen und Rollenzuschreibungen erproben sie gangbare Wege theologischer Professionalität im Umgang mit Ethik in der Klinik. Die vorliegende Studie dient dazu, diese eingehend wahrzunehmen, theologisch zu rekonstruieren und von hier aus Vorschläge für die Förderung ethischer Kompetenz in der Seelsorgeausbildung zu machen. Die Studie ist entstanden im Kontext eines größeren Forschungsstranges zum Thema des Gewissens, der an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Heidelberg, seit dem Jahr 2005 verfolgt wird. Die Arbeiten zielen darauf, den theologischen Zentralbegriff des Gewissens im Gespräch zwischen natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Zugängen zu entfalten. Neben der interdisziplinären Arbeit am Begriff (deren Ergebnisse unter anderem in Stephan Schaede/ Thorsten Moos (Hg.): Das Gewissen, Tübingen 2015, veröffentlicht sind) steht dabei die empirische Wahrnehmung gelebter Religion, theologischer Profession und kirchlicher Praxis. Hierzu soll der vorliegende Band einen Beitrag leisten. Die Grundfinanzierung der Studie wurde von der Evangelischen Kirche in Deutschland erbracht; weitere Beiträge haben die Evangelische Akademie zu Berlin, der Kirchenkreis München und Oberbayern, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern sowie die Evangelische Landeskirche in Baden geleistet. Ihnen sei bereits an dieser Stelle herzlich gedankt. Heidelberg und Berlin, im Mai 2015

Thorsten Moos Simone Ehm Fabian Kliesch Julia Thiesbonenkamp-Maag

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

. . . . . .

11 11 16 30 32 33

2. Ethische Situationen in der Klinik und die Rolle der Seelsorgenden . . 2.1 Was ist Ethik in der Klinik? Die Perspektive von Seelsorgenden . . I. Ethikberatung in der Klinik: Entwicklung und Status quo . II. Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden . . . . . . III. Erwartungen von Seelsorgenden an die Institutionalisierung von Ethik . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Ethikverständnis von Seelsorgenden: Ein Modell zur Klassifikation ethischer Situationen . . . . . . . . . . . . . V. Fazit: Ein weiter Ethikbegriff markiert Diskrepanzen im Klinikalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik . . . . I. Veränderte Rahmenbedingungen von Seelsorge im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden . . . . III. Fazit: Ethik erweitert das Rollenspektrum von Seelsorgenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 34 36 40

70

3. Der Umgang von Seelsorgenden mit ethischen Problemen . . . . 3.1 Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen . I. Die Genese ethischer Situationen . . . . . . . . . . . II. Die Veränderung ethischer Situationen . . . . . . . .

72 72 72 80

1. Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung I. Ethik als Aufgabe der Klinikseelsorge . . . . . . . . . . II. Fragestellung und Methoden der Studie . . . . . . . . III. Begriffliche Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zum Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Anmerkungen zur Autorschaft . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . . . .

. . . .

. . . .

48 52 57 58 59 63

8

Inhalt

III. IV. V.

Die Nachbegleitung ethischer Entscheidungen . . . . . . . Der Einfluss ethischer Situationen auf Seelsorgende . . . . Fazit: Seelsorgende gestalten ethische Situationen in vielfacher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ethik im Kontext der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Organisationsregeln und -kultur als Themen der Ethik . . II. Der Wandel von Strukturen ethischer Kommunikation . . III. Die kommunikative Einbindung der Seelsorgenden . . . . IV. Die Einheit der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit: Umgang mit Ethik umfasst auch „Seelsorge an der Institution“ . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Sorge in Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ansätze einer Care-Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Care als Orientierung von Seelsorgenden in ethischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit: Care gehört zum Ethos von Seelsorgenden . . . . . 3.4 Gewissensfragen in der Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden . . . . . . . II. Seelsorglicher Umgang mit Gewissensfragen . . . . . . . . III. Die religiöse Dimension des Gewissens . . . . . . . . . . . IV. Fazit: Der Gewissensbegriff markiert einen Raum für moralisches Subjektsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Verhandlungen über Personsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Personsein“ als Hintergrundkonzept ethischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Momente des Personseins am Lebensende . . . . . . . . . III. Das Personsein von Föten und Säuglingen . . . . . . . . . IV. Fazit: Personsein an den Grenzen des Lebens ist eine prekäre Zuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus . . . . . . . . I. Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden . . . III. Moralische und entmoralisierende Rede . . . . . . . . . . IV. Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen: Der seelsorgliche Umgang mit nonverbaler Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit: Seelsorgende haben ein Gespür für Sprache als Form des Ethischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 87 89 90 92 97 99 102 106 109 111 115 127 129 131 143 149 152 154 154 160 172 181 184 185 199 216

228 236

9

Inhalt

. . . .

239 240 244 250

. .

255 258

.

259

4. Perspektiven einer Ethik der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen . . . . . . . . . . I. Zur Frage der Zuordnung von Seelsorge und Ethik . . . . II. Materiale Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik . . . IV. Fazit: In der Seelsorge begegnen sich moralische Subjekte auf transmoralischem Grund . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ethische Kompetenz in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ein neues Modell ethischer Kompetenz in der Seelsorge . II. Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge . . . . III. Fazit: Ethische Kompetenz sollte bereits in der grundständigen Seelsorgeausbildung entwickelt werden . 4.3 Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul . . . . I. Seelsorgedidaktische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . II. Die einzelnen Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erfahrungen und Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 261 264 267 281

311 313 314 318 331

5. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung der Studienergebnisse . . . . . . . . . II. Themen weiterer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . .

334 334 340

Anhang: Material für die Seelsorgeausbildung . . . . . . . . . . . . . M I: Arbeitsblatt „Modelle der Einbindung von Seelsorge in die Klinik“ (Block 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M II: Impuls „Klassifikation ethischer Situationen“ (Block 2) M III: Fallbeispiel (Blöcke 2 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . M IV: Rollenanweisungen (Block 2) . . . . . . . . . . . . . . M V: Rollenanweisungen (Block 3) . . . . . . . . . . . . . . M VI: Ablaufplan „Nimwegener Modell der ethischen Fallbesprechung“ (Block 3) . . . . . . . . . . . . . . .

. .

343

. . . . .

. . . . .

344 347 349 350 362

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373

3.7 Die ethische Funktion von Ritualen . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rituale als symbolische Handlungskomplexe . . . . . . . II. Die Neuordnung ethischer Situationen im Ritual . . . . III. Rituale in Entscheidungssituationen . . . . . . . . . . . IV. Die Ordnung sozialer Beziehungen und die Verhandlung sozialer Rollen im Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Exkurs: Räume als Ressource für das Ritual . . . . . . . VI. Fazit: Rituale sind Orte symbolischer Kommunikation über Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289 293 294 301

10

Inhalt

M VII: Fragenkatalog „Auswertung des Planspiels“ (Block 3) . . . M VIII: Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“: Impuls für Erfahrungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . M IX: Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“: Arbeitsmaterial für Kleingruppenarbeit . . . . . . . . . . . M X: Material zur Themeneinheit „Barmherziger Samariter und Seelsorge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

382

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

384

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

386

376 377 379

1.

Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

I. Ethik als Aufgabe der Klinikseelsorge II. Fragestellung und Methoden der Studie a) Vorentscheidungen b) Leitfadengestützte Interviews c) Ethnologische Feldforschung d) Theologie im Feld e) Wiedergabe des Quellenmaterials f) Auswertung der Daten III. Begriffliche Vorklärungen a) „Ethik“ b) „Religion“ IV. Zum Aufbau des Buches V. Anmerkungen zur Autorschaft

I.

Ethik als Aufgabe der Klinikseelsorge

Seelsorgerinnen und Seelsorger werden immer wieder mit ethischen Fragen konfrontiert. Lebensentscheidungen, die in der Seelsorge zur Sprache kommen, haben moralische Aspekte; vergangene Entscheidungen können quälend präsent sein im Bewusstsein, am Guten und Richtigen gescheitert und schuldig geworden zu sein. Im Bereich der Seelsorge in Kliniken kommt es zudem immer stärker zur Auseinandersetzung mit medizinethischen Fragestellungen. So belasten Therapieentscheidungen das Gewissen von Patientinnen und Patienten, Angehörigen, Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen. Aufgrund stetig erweiterter Diagnose- und Therapiemöglichkeiten muss in medizinischen Behandlungsverläufen zunehmend häufiger explizit entschieden werden, welche Therapie für diesen Patienten noch sinnvoll ist und welche nicht. Soll also bei einem Menschen in der letzten Phase seines Lebens eine künstliche Ernährung durch eine Magensonde aufge-

12

Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

nommen werden oder nicht? Soll ein Säugling, der viel zu früh und mit schwersten Schädigungen auf die Welt kommt, mit allen intensivmedizinischen Mitteln am Leben gehalten werden, oder soll man ihn sterben lassen? Vieles von dem, was früher „Schicksal“ war, gerät angesichts des medizinischen Fortschritts in den Bereich der Entscheidung: Es wird zum „Machsal“ (Odo Marquard). In dieser Situation ist es in den vergangenen Jahrzehnten im Gesundheitswesen zu einer zunehmenden Institutionalisierung ethischer Reflektion gekommen. Einrichtungen Klinischer Ethikberatung wie Ethik-Komitees, ethische Fallbesprechungen und andere Formen wurden in Krankenhäusern eingerichtet. Ethik ist fester Bestandteil der ärztlichen und zumeist auch der pflegerischen Ausbildung geworden. Seelsorgende begegnen in solchen Situationen oftmals einer doppelten Erwartung. Zum einen stehen sie für die mitfühlende und solidarische Begleitung von Menschen in Grenzsituationen. Zum anderen werden sie in jüngerer Zeit verstärkt als Expertinnen und Experten fürs Normative in Anspruch genommen. Insbesondere im Umgang mit ethischen Konflikten ist Seelsorge gefordert – im Einzelgespräch, in der ethischen Fallbesprechung oder auch im Klinischen Ethikkomitee. Entsprechend wird „ethische Kompetenz“ von Seelsorgerinnen und Seelsorgern erwartet. Nun gibt es eine historische Kluft zwischen Ethik und Seelsorge. Die Seelsorgebewegung des 20. Jahrhunderts scheute das Moralisieren wie der Teufel das Weihwasser. Seelsorge stand unter dem Paradigma des Verstehens, der Empathie, auch der Konfrontation, immer aber der partnerschaftlichen Begegnung. Ein vereindeutigendes Urteil über das Handeln des Anderen mit Rekurs auf vermeintlich allgemeingültige moralische Prinzipien und Argumente lag hingegen zumeist außerhalb der angestrebten Seelsorgebeziehung. Um Moral ging es gerade einer pastoralpsychologisch geprägten Seelsorge lange vor allem im Bestreben nach Entmoralisierung. Die Geschichte der Emanzipation der Seelsorge von einer moralisch konnotierten Beichte1 dürfte ein Grund dafür sein, dass in der Seelsorgeausbildung ethische Fragen zumeist nicht eigens thematisiert werden. Die vorliegende Studie hat den Umgang der Seelsorgenden mit den durch „Ethik“ bezeichneten Herausforderungen zu ihrem Gegenstand. Sie fragt danach, wie Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Klinik mit Ethik befasst sind, wie sie mit ethischen Problemen umgehen, welche Spannungen dabei auftreten, welche „ethische Kompetenz“ sie dabei brauchen und wie diese auszubilden ist. Grundlegend ist also zum einen das empirische Ziel, die Situation der Klinikseelsorge in der Konfrontation mit Ethik genauer wahrzunehmen und präziser zu beschreiben, als dies bisher geschehen ist. Dieser deskriptiven Aufgabe ist der 1 Vgl. Scharfenberg, Gespräch, 20–25. Siehe dazu eingehender Kapitel 4.1, I.

Ethik als Aufgabe der Klinikseelsorge

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größte Teil des vorliegenden Buches gewidmet. Insofern ist es dem bislang wenig entwickelten Strang der empirischen Seelsorgeforschung zuzuordnen. Hinzu kommt das zweite, anwendungsorientierte Interesse daran, die Seelsorgeausbildung den neuen Herausforderungen anzupassen. Neben die empirische Frage nach der Beschreibung der Situation tritt also die normative Frage, wie ein seelsorglicher Umgang mit Ethik denn richtig bzw. gut zu gestalten ist. Dieser doppelten Ausrichtung entspricht der methodische Zugriff der Studie, der Verfahren der qualitativen Sozialforschung und Ethnologie mit Überlegungen zur theologischen Ethik und Seelsorgedidaktik verbindet. Dieses Buch richtet sich also zunächst an alle, die sich Gedanken über Seelsorge machen. Als ein Stück Grundlagenarbeit der empirischen Seelsorgeforschung richtet es sich an Praktische Theologinnen und Theologen in der Forschung. In seinen Vorschlägen für die Seelsorgeausbildung richtet es sich an diejenigen, die für die Klinische Seelsorgeausbildung oder für auf anderen Modellen fußende Einrichtungen der Seelsorgeaus-, -fort- und -weiterbildung zuständig sind. Das Buch richtet sich aber auch an Seelsorgerinnen und Seelsorger selbst, die über ihre eigene Praxis reflektieren und dazu die Erfahrungen anderer einbeziehen wollen. Der vorliegende Band entwickelt dabei kein einliniges Modell eines „richtigen“ Umgangs mit Ethik in der Klinik. In ihm werden vielmehr Erfahrungen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern methodisch erhoben, verdichtet dargestellt und theologisch reflektiert. Beispiele guter Praxis werden dabei ebenso sichtbar wie Spannungen und Schwierigkeiten, die sich im Umgang mit Ethik für die Seelsorge ergeben. Ethische Kompetenz erscheint dann im Kern als Fähigkeit, diese Spannungen zu reflektieren und darauf aufbauend eine aufgaben-, professions- und personadäquate „ethische Rolle“ im Krankenhaus zu finden. Doch geht die vorliegende Studie in mehrfacher Hinsicht über das konkrete Tätigkeitsfeld der Seelsorge im Krankenhaus hinaus. In der Klinikseelsorge zeigen sich paradigmatisch Anforderungen, die sich professionellen Theologinnen und Theologen2 in modernen, hoch ausdifferenzierten Gesellschaften auch anderswo stellen: im Umgang mit komplexen Organisationen, in denen verschiedenste Berufsgruppen zusammenarbeiten und unterschiedliche Rationalitäten – sachbezogene, rechtliche, ökonomische und eben auch religiöse – aufeinandertreffen. Die Frage, wie sich Einzelne zu den teilweise divergierenden Anforderungen in solchen komplexen Lagen verhalten sollen, wird in der Klinik als ein eminent theologisches Thema sichtbar, das jedoch weit über die Klinik hinaus Bedeutung hat und in vergleichbarer Form im Kontext des Wirtschafts2 Unter „Theologen“ bzw. „Theologinnen“ werden in der Folge alle theologisch Ausgebildeten verstanden, die im Bereich der Seelsorge arbeiten. Neben Pfarrerinnen und Pfarrern gehören dazu im evangelischen Bereich insbesondere Diakoninnen und Diakone.

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und Arbeitslebens, in Gefängnis und Militär oder auch in kirchlichen Organisationen auftritt. Hierin ist ein gemeinsames Thema Theologischer Ethik wie Praktischer Theologie gegeben, das sich nicht an die historisch formierte Grenzmarkierung zwischen beiden theologischen Teildisziplinen hält. Es geht im Kern um die Bedeutung von Religion im Kontext ausdifferenzierter sozialer Funktionsbereiche. Schließlich enthält das Buch auch Einsichten für eine empirisch orientierte Medizinethik, die sich nicht damit begnügt, klinische Ethik als professionelle Entscheidungstechnik für die ethische Fallberatung zu etablieren, sondern die sich auch etwa dafür interessiert, wie etwas überhaupt zu einem ethischen „Fall“ wird, oder wie sich verschiedene Berufsgruppen zum Thema Ethik positionieren. Auch hierfür bildet der seelsorgliche Umgang mit Ethik in der Klinik ein aufschlussreiches Paradigma. Ein kurzer Blick auf den Forschungsstand zeigt, dass der Zusammenhang von Seelsorge und Ethik – nach der großen Zurückhaltung im Gefolge der pastoralpsychologischen Wende – in der jüngeren akademischen Theologie wieder Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Ein frühes Zeugnis dieser Aufmerksamkeit ist ein Themenheft der Zeitschrift Pastoraltheologie von 1991.3 Die Anregung ist von praktisch-theologischer und – in sehr geringem Umfang auch von theologisch-ethischer – Seite aus aufgenommen4 und inzwischen auch in Form von Seelsorgeleitlinien und spezifischen Ausbildungseinheiten für Klinikseelsorgerinnen und -seelsorger umgesetzt worden.5 Während etwa in Jürgen Ziemers Grundsatzbeitrag zur Ethik in der Seelsorge noch ein individualseelsorgliches Paradigma vorherrscht,6 wird inzwischen auch die Rolle der Seelsorgenden in institutionellen Kontexten wie dem Klinischen Ethikkomitee reflektiert.7 In neueren Lehrbüchern der Seelsorge wird dem Thema „Ethik“ in der Regel einige Aufmerksamkeit gewidmet, wobei es auch bemerkenswerte Ausnahmen gibt.8 Auch einige spezialisierte Beiträge sind dazu erschienen.9 Sogar eine Buchreihe

3 Vgl. Pastoraltheologie 80 (1991), Heft 1. 4 Vgl. Schneider-Harpprecht, Kompetenz, und Schneider-Harpprecht, Ethik; Fischer, Dimensionen; Körtner, Moral; Körtner, Sündenvergebung; Körtner, Ethik; Kunz/Neugebauer Seelsorge; Roser, Spiritual Care; Brisgen, Authentizität; Aldebert, Ethik; Haker, Perspektiven; Atzeni/Voigt Religion; Will, hospital. Für eine ausführliche Sichtung der Diskussion siehe Kapitel 4.1. 5 Vgl. etwa die entsprechende Initiative des Zentrums für Gesundheitsethik, Hannover, oder der Task Force Medizinische Ethik in der Klinikseelsorge, Goethe-Universität Frankfurt am Main (Zertifizierungskurs für Klinikseelsorger). 6 Vgl. Ziemer, Orientierung. 7 Vgl. EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen, Muttersprache; Haker, Perspektiven. 8 Vgl. Morgenthaler, Seelsorge. 9 Vgl. Haker, Perspektiven; Körtner, Moral, 225–245; Körtner, Ethik im Krankenhaus; Schneider-Harpprecht, Kompetenz, 175–201.

Ethik als Aufgabe der Klinikseelsorge

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ist zum Thema angelegt worden.10 Dabei unternehmen die Beiträge jedoch – dem üblichen Vorgehen der Seelsorgelehre entsprechend – in der Regel nicht den Versuch, die Wirklichkeit seelsorgerlichen Handelns auf dem Feld der Ethik empirisch zu erheben.11 Ausnahmen bilden hier die Studien von Anselm et al. zu Seelsorgenden in Ethikkomitees sowie jüngst die Interviewstudie von Wilfried Sturm mit Seelsorgenden in der Neonatologie.12 Insbesondere hinsichtlich derjenigen Praxis von Seelsorgenden auf dem Feld der Ethik in der Klinik, die sich nicht im Kontext von Institutionen wie dem Klinischen Ethikkomitee abspielt, besteht erheblicher Forschungsbedarf. Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg betreibt seit dem Jahr 2005 Studien zum Thema des Gewissens, in deren Kontext auch die vorliegende Studie entstanden ist. Dabei galt es zunächst, den theologischen Zentralbegriff des Gewissens im Gespräch zwischen natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Zugängen zu entfalten und diese darauf zu prüfen, wie erschließungskräftig sie für die Rekonstruktion gelebter Religion, theologischer Profession und kirchlicher Praxis sind. Im Anschluss an Martin Luther kann das Gewissen verstanden werden als Kreuzungspunkt von Religion und Moral, als Ort, wo der Mensch sich vor Gott für sein Handeln verantwortlich weiß. Für die theologische Reflektion des Umgangs mit Ethik ist der Begriff des Gewissens folglich eine unverzichtbare Kategorie.13 Nichtsdestotrotz wurde der Begriff des Gewissens nicht in den Titel dieser Studie übernommen und auch in den Interviews, die in dem Rahmen der Studie durchgeführt wurden, erst an später Stelle eingebracht. Der Grund hierfür liegt in einer semantischen Verschiebung im Alltagsgebrauch: Hier wird unter „Gewissen“, anders als etwa bei Immanuel Kant, keine allgemeine Struktur des praktischen Selbstverhältnisses verstanden; dieser Terminus ist vielmehr reserviert für zugespitzte, heroische Grenzsituationen des Moralischen.14 Aufgrund dieser semantischen Verengung wurde dieser Studie der weitere und zudem in der Klinik etablierte Begriff der Ethik zugrunde gelegt.

10 Vgl. Hille Haker/Katrin Bentele (Hg.), Medizinethik in der Klinikseelsorge, Berlin 2009ff. 11 Für das Programm einer empirischen Seelsorgeforschung vgl. Hauschild, Alltagsseelsorge. Das von Hauschild konstatierte Defizit in der Wahrnehmung der Seelsorgepraxis hat sich in den fast 20 Jahren seit dem Erscheinen seiner Studie nicht wesentlich verkleinert. 12 Vgl. Anselm/Schleissing, Ethik; Sturm, Gottes Namen. 13 Vgl. Schaede/Moos, Gewissen. 14 Siehe dazu Kapitel 3.4.

16 II.

Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

Fragestellung und Methoden der Studie

Die Studie zielt darauf, den Umgang gegenwärtiger Seelsorge mit Fragen der Ethik in der Klinik interdisziplinär zu analysieren und theologisch auf den Begriff zu bringen. Als praktisches Resultat bietet sie in der Seelsorgeausbildung nutzbare Materialien bzw. Ausbildungsmodule. Die Leitfragen wurden bereits genannt: 1. Wie sind Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Klinik mit Ethik befasst? 2. Wie gehen sie mit ethischen Problemen um, und welche Spannungen treten dabei auf ? 3. Welche „ethische Kompetenz“ brauchen sie, und wie ist diese auszubilden? Zur Beantwortung dieser Fragen galt es zunächst, die seelsorgerliche Praxis im Umgang mit Ethik sorgfältig wahrzunehmen und zu analysieren, bevor eine theologische Bearbeitung und eine didaktische Umsetzung geleistet werden konnte. Im Folgenden werden zunächst allgemeine Voraussetzungen und Grundentscheidungen in der Anlage der Studie dargestellt (a). Anschließend werden die sozialwissenschaftlichen, kulturanthropologischen und theologischen Herangehensweisen der Studie vorgestellt (b–f). a)

Vorentscheidungen

Die Studie zielt darauf, das Feld des seelsorglichen Umgangs mit Ethik in der Klinik in seiner Breite und in einiger Tiefe zuallererst zu erschließen. Sie hat daher durchgängig einen explorativen Charakter. Die Wahrnehmung des Feldes erfolgte dabei in zwei Schritten: Zunächst wurden Interviews mit Seelsorgenden durchgeführt, um zu erheben, wo und in welcher Weise diese sich durch das Thema Ethik in der Klinik herausgefordert fühlen (b). Um die seelsorgliche Praxis des Umgangs mit Ethik noch eingehender wahrzunehmen, wurde das kulturanthropologische Instrument der teilnehmenden Beobachtung eingesetzt: Seelsorgende wurden in ihrem Klinikalltag begleitet und die dabei entstandenen Eindrücke und Erfahrungen in Feldtagebüchern notiert (c–d). Insgesamt wurden in beiden Zugängen, den qualitativen Interviews und der teilnehmenden Beobachtung, 32 Seelsorgende einbezogen. Schon vom Umfang dieser Stichprobe her, aber auch aufgrund des explorativen Zugangs, sind die Ergebnisse dieser Studie in keiner Weise für „die Seelsorge“ repräsentativ. Sie zeigen allein – aus der Perspektive der Seelsorgenden bzw. der teilnehmenden Beobachter – ein Spektrum an Orten, Anlässen und Optionen des Umgangs mit Ethik in der Klinik auf. Dies wird im Sinne des Ethnologen Clifford Geertz moderat verallgemeinert,15 15 Geertz, Beschreibung, 30–34.

Fragestellung und Methoden der Studie

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indem die gemachten Beobachtungen auf den Begriff gebracht werden. Auch wenn sich dabei ein – in sich durchaus spannungsvolles – Gesamtbild abzeichnet, so ist doch davon auszugehen, dass es noch weitere Anlässe und andere Optionen seelsorglichen Umgangs mit Ethik in der Klinik bei Seelsorgenden gibt, die in dieser Studie nicht sichtbar geworden sind. Eine weitere Kautele bezieht sich auf die Interdisziplinarität dieser Studie. Die herangezogenen sozialwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und theologischen Methoden, Instrumente und Begriffe verdanken sich keinem einheitlichen Theoriekontext. Sie legen keine gemeinsame soziale Ontologie zugrunde und lassen sich nicht bruchlos aneinander anschließen oder ineinander überführen. Alle Zugänge stimmen darin überein, in hermeneutischen Zirkeln zu arbeiten, indem sie bestimmte Voraussetzungen des Verstehens mitführen und diese im Verlauf der Untersuchung zu präzisieren und zu korrigieren suchen. Immer gilt es also, diese Verstehensvoraussetzungen soweit als möglich explizit zu machen, um die gewonnenen Ergebnisse für andere kontrollierbar, das heißt, verstehend nachvollziehbar zu machen. Die Scharnierstellen zwischen den unterschiedlichen disziplinären Zugängen bilden in der vorliegenden Studie zum einen das Textmaterial der Interviews und Feldtagebücher, das im Folgenden in unterschiedlichen Hinsichten ausgelegt wird, und zum anderen eine Reihe vom metatheoretischen Begriffen, mit deren Hilfe sozialwissenschaftliche und theologische Reflektionsgänge aufeinander bezogen werden. Zu solchen metatheoretischen Begriffen gehören die der Person, des Gewissens, der Ethik und andere. Sie alle haben keine allgemein anerkannte Bedeutung, sondern sind in hochdifferenzierten disziplinären Diskursen jeweils unterschiedlich definiert. Wenn im Folgenden solche Begriffe verwendet werden, werden diese nur soweit geschärft, dass sie ihre Scharnierfunktion erfüllen können. So entstehen Vorbegriffe, die keiner einzelnen disziplinären Kritik standhalten können (siehe etwa zum Begriff der Person das Kapitel 3.5), sondern die allein einer moderaten Verallgemeinerung des Beobachteten in der Zusammenführung verschiedener disziplinärer Perspektiven dienen. Anders als ein Gutteil der Seelsorge-Literatur versucht die folgende Studie, zwischen der deskriptiven Wahrnehmung des Feldes einerseits und der spätestens der Konzeption von Ausbildungseinheiten zugrunde liegenden Normativität andererseits so weit als möglich zu unterscheiden. Nun ist jede empirische Beobachtung theoriegeleitet und insofern auch normativ imprägniert. Die Unterscheidung kann also nur eine relative bzw. regulative sein. Die Teile 2 und 3 des Bandes sind in diesem Sinne der Deskription gewidmet, bevor der Teil 4 mit der Entwicklung des Begriffs der ethischen Kompetenz in der Seelsorge die normativen Prämissen des abschließend vorgestellten Ausbildungsmodells offenlegt.

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Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

Eine Vorentscheidung der Studie betrifft das Verhältnis von seelsorglicher Befassung mit Ethik im Umfeld institutionalisierter Klinischer Ethikberatung (Ethikkomitees, -konsile etc.) einerseits und der Fülle an nicht-institutionalisierten Kontexten des Umgangs mit Ethik andererseits. Die Rolle von Seelsorgenden in Ethik-Komitees ist bereits an anderer Stelle untersucht worden.16 Daher wurden in der vorliegenden Studie nicht ausschließlich, aber vor allem die bisher unbeachteten nicht-institutionalisierten Formen von „Ethik“ in der Klinik in den Blick genommen. Es zeigt sich, dass der seelsorgliche Umgang mit Ethik in der Klinik gerade hier sowie im Übergang von nicht-institutionalisierten zu institutionalisierten Formen eine wesentliche Pointe hat. Eine weitere Einschränkung der Studie ist durchaus folgenschwer: Befragt bzw. teilnehmend begleitet wurden nur Seelsorgerinnen und Seelsorger im Krankenhaus, die eine theologische Ausbildung haben. Andere Berufsgruppen sind explizit nicht Gegenstand dieser Studie. Zwar kommen, etwa in ethischen Fallbesprechungen, auch Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte sowie Vertreterinnen und Vertreter aus der Logopädie, der Psychologie oder den Sozialdiensten des Krankenhauses zu Wort. Ihr Umgang mit Ethik in der Klinik wird jedoch nicht eigenständig erhoben. Das heißt, dass auch die Frage, ob Seelsorgende einen spezifischen, von anderen Berufsgruppen unterscheidbaren Umgang mit Ethik in der Klinik haben, jenseits der Aussagekraft dieser Studie liegt. So häufig – etwa im Kontext der aktuellen Verteilungsdebatten im Gesundheitswesen – die Frage nach dem theologischen „Spezifikum“ oder „Proprium“ aufgeworfen wird, so wenig können wir ausgehend von den Ergebnissen der vorliegenden Studie dazu sagen. Für den Bereich der Seelsorgeausbildung ist dies auch unnötig: Hierfür ist alleine interessant, inwieweit das Thema „Ethik“ im Kontext der seelsorglichen Professionalität zu stehen kommt, wie Seelsorgende dieses also in ihr eigenes Berufsbild integrieren können. Die Frage ist im Folgenden also die nach dem der Seelsorge „Eigenen“, nicht aber nach dem „Spezifischen“.17 Darüber hinaus ist auch kein interkonfessioneller Vergleich angezielt. Aus pragmatischen Gründen wurden in die Studie mit einer Ausnahme18 nur evangelische Seelsorgerinnen und Seelsorger aufgenommen. Eine gezielte Erweiterung auf katholische Seelsorgende wäre insbesondere dort interessant, wo es um konfessionell profilierte theologische Begriffe wie den des Gewissens oder auch um die ihnen möglicherweise stärker als ihren protestantischen Kolleginnen und Kollegen entgegengebrachte Erwartung, ein Teil von „Kirche“ im Sinne eines objektiven moralischen Geltungsraums zu sein, geht. Dies konnte in der vorlie-

16 Vgl. Anselm/Schleissing, Ethik. 17 Zur Frage des Spezifikums in der Diakonie vgl. Moos, Kirche. 18 Hierbei handelt es sich um eine katholische Seelsorgerin, die im Team mit evangelischen Seelsorgenden arbeitet und als solche begleitet wurde.

Fragestellung und Methoden der Studie

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genden Studie jedoch nicht geleistet werden. Eine Konzentration auf evangelische Seelsorgende erscheint dadurch gerechtfertigt, dass der Status der theologischen Ethik im Kontext der akademischen evangelischen Theologie deutlich prekärer ist als der der Moraltheologie in der katholischen Theologie. Insofern dürfte auch hier der Aufholbedarf größer sein.19 Ebenso interessant, aber mit den Ergebnissen dieser Studie nicht erschöpfend abzudecken, ist die Frage eines Vergleichs der Seelsorge an konfessionellen und an nichtkonfessionellen Kliniken. Die Interviewstudie (b) wurde auf evangelische Krankenhäuser begrenzt, wobei eine breite regionale und an der Größe und Struktur der Träger ausgerichtete Streuung angezielt war. In der anschließenden teilnehmenden Beobachtung (c, d) wurden dann auch nichtkonfessionelle Träger einbezogen. Es gehört zu den Ergebnissen der Studie, dass der Umgang der Seelsorgenden mit Ethik stark von der jeweiligen Stellung der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers im Kontext der Klinik beeinflusst wird. Inwieweit sich hier eine konfessionelle Trägerschaft auswirkt, dazu können wir einige Beobachtungen beisteuern,20 aber keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen machen.

b)

Leitfadengestützte Interviews

Zum Auftakt des Projektes wurden Interviews mit neun Seelsorgenden in evangelischen Krankenhäusern durchgeführt. Im Mittelpunkt dieser Studienphase stand die Frage, wie Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Individualseelsorge und in der institutionalisierten Ethikberatung mit ethischen Fragen im Krankenhaus umgehen. Die Interviews wurden im Oktober und November 2011 bundesweit in acht evangelischen Krankenhäusern durchgeführt (Simone Ehm). Dazu wurde ein zweckdienliches Sample mit Vertreterinnen und Vertretern der Seelsorge aus evangelischen Krankenhäusern zusammengestellt. Die Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert. Für die Auswertung der Interviews wurde das Konzept der qualitativen Inhaltsanalyse herangezogen. Im Folgenden werden die wesentlichen methodischen Aspekte der Interviewstudie dargestellt. Da zum Umgang von Seelsorgenden mit ethischen Fragen bislang kaum empirische Informationen vorliegen, bot sich für die Studie eine qualitativ-explorative Herangehensweise an. Ziel der qualitativen Sozialforschung ist es, „Lebenswelten“ aus Sicht der handelnden Personen heraus zu beschreiben, um so bestimmte Deutungsmuster und Abläufe herauszuarbeiten und zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit beizutragen. Bei qualitativen Studien 19 Auch die interreligiöse Erweiterung auf nichtchristliche Klinikseelsorgende wäre hochinteressant, konnte hier aber nicht geleistet werden. Vgl. dazu Haker/Wanderer/Bentele, Pluralismus. 20 Siehe dazu Kapitel 3.2.

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Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

ist die Repräsentativität keine entscheidende Größe. Es sollen theoretische Grundannahmen und Handlungsmuster beschrieben werden, nicht jedoch deren quantitative Ausprägung.21 Um den Umgang der Seelsorgenden mit ethischen Themen näher zu erschließen, wurde für die Datenerhebung die Methode des Experteninterviews ausgewählt. Bei einem Experteninterview handelt es sich um eine Befragung, die häufig als Leitfadeninterview durchgeführt wird und sich mit einem bestimmten Handlungsfeld auseinandersetzt, in dem der Befragte als Experte gilt. Mit Meuser und Nagel ist davon auszugehen, dass das Expertentum ein relationaler Status ist. Forschende schreiben Expertenstatus einer Person zu, die in „irgendeiner Weise Verantwortung trägt für den Entwurf, die Kontrolle oder die Implementierung einer Problemlösung“,22 oder einer Person, die „über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse verfügt“.23 Das Ziel des Einsatzes eines Experteninterviews in der vorliegenden Studie war es, Deutungs- und Handlungsmuster der Seelsorgenden im Umgang mit ethischen Fragen aufzudecken und ihre zugrundeliegenden Orientierungen in den Feldern Seelsorge und Ethik zu erschließen. Leitfadeninterviews sind dadurch charakterisiert, dass die ihnen zugrundeliegenden Fragen in jedem Interview beantwortet werden, ohne jedoch ihre Reihenfolge verbindlich festzulegen.24 Vorteile eines leitfadengestützten Interviews liegen darin, dass eine Fokussierung auf das zu untersuchende Handlungsfeld (den Umgang mit ethischen Fragen) möglich ist, „gleichzeitig aber auch Freiräume für die spezifische Sichtweise der Experten und unerwartete Themendimensionierungen bestehen“.25 Basierend auf Erkenntnissen aus einer vorgeschalteten Literaturrecherche zu den Rahmenbedingungen von Seelsorge in der Institution Krankenhaus und zur Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik wurde die Grundstruktur der Interviews festgelegt. Auf der Basis des Forschungsinteresses, den Umgang mit ethischen Themen zu rekonstruieren, beinhaltete der Interviewleitfaden folgende Themenkomplexe: • Qualifikation und Motivation der Seelsorgenden; • Rahmenbedingungen für die Tätigkeit der Seelsorgenden im Krankenhaus (Profil des Krankenhauses, Seelsorgekonzeption); • Bedeutung ethischer Themen in der Tätigkeit der Seelsorgenden; • Charakterisierung von ethischen Fragen; • Umgang der Seelsorgenden mit ethischen Themen; 21 22 23 24 25

Vgl. Flick, Sozialforschung, 22ff. Meuser/Nagel, ExpertInneninterviews, 73. Ebd. Vgl. Gläser/Laudel, Experteninterviews, 42. Vgl. Lamnek, Sozialforschung, 658.

Fragestellung und Methoden der Studie

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• Auftreten von und Umgang mit Gewissensfragen; • Themen und Anregungen der Interviewpartner. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine qualitative Studie, bei der keine Repräsentativität im statistischen Sinne angestrebt wurde. Bei der Auswahl der Stichprobe (Sampling) ging es darum, für die Fragestellung typische Fälle heranzuziehen.26 In der geplanten Studie wurde die Auswahlstrategie des Theoretical Sampling von Glaser und Strauss angewendet. Bei dieser Strategie wird die Suche und Befragung von Interviewpartner solange fortgesetzt, bis eine theoretische Sättigung erreicht ist, d. h. bis keine für einen explorativen Erstzugang neuen Erkenntnisse durch das Hinzuziehen weiterer Interviewpartner mehr erwartet werden.27 Aufgrund der Fragestellung der Studie ergaben sich für die Auswahl der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer folgende relevanten Merkmale: • Tätigkeit als Seelsorger bzw. Seelsorgerin in einem Evangelischen Krankenhaus; • mehrjährige Berufserfahrung in der Klinikseelsorge und im Umgang mit medizinethischen Fragestellungen; • unterschiedlicher Grad der Einbindung in institutionalisierte ethische Beratungs- und Reflexionsprozesse. Durch Kontaktaufnahmen per Telefon oder E-Mail wurden die Teilnehmenden über Ziel und Umfang der Interviews aufgeklärt. Die Pseudonymisierung der Daten wurde zugesichert. Mit den Teilnehmenden wurden Interviewtermine vereinbart. Die 60- bis 120-minütigen Interviews wurden vor Ort in den Kliniken durchgeführt und aufgezeichnet. Um der Lesbarkeit willen wurden die in diesem Band wiedergegebenen Transkripte leicht geglättet (siehe dazu Abschnitt e). Das Interview stellt als Forschungsmethode eine artifizielle Situation her, in der die Selbstreflexion der Interviewten stimuliert und vor der ,kleinen‘ Öffentlichkeit der Interviewerin artikuliert wird. Hinsichtlich der Leitfrage nach dem Umgang der Seelsorgenden mit ethischen Problemen in der Klinik hatte dieses Verfahren eine Reihe von Stärken: Es gab den Akteuren die Möglichkeit, ihre eigenen Problemwahrnehmungen zu benennen und zu diskutieren. Dabei konnten wesentliche Aspekte herauspräpariert werden, indem unterschiedlichste Erfahrungen und Reflektionen zusammengenommen werden. Das Interview konnte auf längere Zeiträume, gegebenenfalls auch auf verschiedene berufliche Stationen der Interviewten ausgreifen. Das Interview brachte dabei kondensierte Erfahrungen zutage, oder es bezog sich intensiv auf einzelne ge26 A.a.O., 350. 27 Vgl. Glaser/Strauss, theory, 53; Flick, Sozialforschung, 158ff.

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Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

schilderte Situationen („Fälle“). Mit diesen Stärken sind jedoch auch einige Schwächen des Interviews verbunden. Situationen werden grundsätzlich im Nachhinein und allein in der Deutung der Akteure behandelt, die im Interview zwar hie und da angefragt, aber nicht grundsätzlich überschritten werden kann. Des Weiteren beeinflussen zahlreiche normative Aspekte das Gesagte: Das Interview bringt eine hohe Kohärenzanforderung mit sich, das heißt, es fordert zusammenhängende und einleuchtende Narrative und Argumentationen ab; das positive Selbstbild des Interviewten will aufrechterhalten werden; und gerade im Bereich ethischer Fragen spielen Annahmen sozialer Erwünschtheit, insbesondere in moralischer Hinsicht, eine Rolle. Insofern lag es nahe, die empirische Basis der Studie durch andere methodische Zugänge zu erweitern.

c)

Ethnologische Feldforschung

Selbstverständlich erbringt auch eine ethnologische Feldforschung keinen unverstellten Blick auf eine vermeintlich beobachterunabhängige Realität. Aber sie stellt einen anderen Zugang zur Wirklichkeit seelsorgerlichen Handelns in der Klinik dar. Sie leistet eine räumliche wie zeitliche Nahaufnahme, nimmt nicht nur das sprachlich Reflektierte in den Blick und begegnet nicht nur den Seelsorgenden selbst, sondern auch den Akteuren, Topografien und Artefakten, mit denen sie es zu tun haben.28 Zudem eröffnet sie durch Begriffe der ethnologischen Theoriebildung neue Beschreibungsperspektiven.29 Zwischen Januar und September 2012 unternahm die Medizinethnologin Julia Thiesbonenkamp-Maag eine solche Feldforschung, deren methodische Grundlagen im Folgenden dargestellt werden. Die Feldforschung ist die wichtigste Methode zur Erfassung von Daten in der Ethnologie. Sie besteht „wiederum aus vielen Einzelmethoden, Verfahren oder Techniken“.30 Das Feld ist ein nach räumlichen und zeitlichen Kriterien definierter Ausschnitt der Alltagspraxis, der […] nicht als geschlossene Einheit, sondern als Vielzahl von sozialen Beziehungen und Prozessen innerhalb eines offenen analytischen Feldes verstanden wird.31

Feldforschung ist zielgerichtet und theoriegeleitet und ist von daher nicht mit einer bloßen Anwesenheit im Feld zu verwechseln. Da die Klinikseelsorgenden in verschiedenen Krankenhäusern unter unterschiedlicher Trägerschaft in Deutschland arbeiten, kann an dieser Stelle von einer multilokalen Ethnographie 28 29 30 31

Etwa zu Topographien siehe Kapitel 3.6 und 3.7. Etwa zum Person- und Ritualbegriff siehe Kapitel 3.5 und 3.7. Beer, Feldforschung, 11. Ebd.

Fragestellung und Methoden der Studie

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und zugleich von einer „anthropology at home“ gesprochen werden.32 Beide gewinnen in der Ethnologie in letzter Zeit an Bedeutung. Insgesamt wurde mit Klinikseelsorgenden in Krankenhäusern unterschiedlicher Trägerschaft in Deutschland, vornehmlich im süddeutschen Raum, gearbeitet. Der Zugang zum Feld erfolgte über verschiedene Wege. Zum einen konnte die Ethnologin am Berufsalltag einer Seelsorgerin teilnehmen, die bereits interviewt worden war. Andere Kontakte kamen durch die Vermittlung von Seelsorgeausbildenden sowie über bereits bestehende private Beziehungen zu Klinikseelsorgern zustande. Diese führten wiederum zu neuen Ansprechpartnern. Insgesamt waren in die Feldforschung (in unterschiedlicher Intensität) 14 Seelsorgende an vier konfessionellen und sechs nichtkonfessionellen Krankenhäusern einbezogen. Als Forschungsmethoden dienten die teilnehmende Beobachtung und semistrukturierte Interviews. Die teilnehmende Beobachtung ist in ein Spannungsfeld zwischen Teilnahme und Beobachtung, Nähe und Distanz eingebettet. Teilnahme heißt, sich auf die Situation einzulassen. Beobachtung bedeutet, die wissenschaftliche Distanz nicht zu verlieren, sondern die erhobenen Daten in einen theoretischen Kontext einzubetten.33 Der Zugang zum Feld und die teilnehmende Beobachtung im Feld sind vom jeweiligen Kontext abhängig. Bei dieser Feldforschung hatte die teilnehmende Beobachtung die Form einer „negotiated interactive observation“, da die Ethnologin weder die Rolle der Patientin noch die Rolle der Seelsorgerin oder eine Rolle des medizinischen Personals, des Besuchers oder Angehörigen einnahm. Die einzig gangbare Rolle war die der Forscherin, die den Aufgaben von Klinikseelsorgern in einem bestimmten Ausmaß ähnelt.34 Präsent zu sein ist das verbindende Element zwischen der qualitativ orientierten ethnographischen Forschung und den Tätigkeiten der Klinikseelsorger. Ein guter Ethnograph bringt ähnliche Fähigkeiten mit wie ein guter Seelsorger: Dazu zählen die Fähigkeit zuzuhören, die Fähigkeit, die Tagesordnung und die Perspektive des Gegenübers über die eigenen Vorhaben zu stellen, aber auch die Fähigkeit und erklärte Bereitschaft, die Vertraulichkeit der Daten und Anonymität des Gegenübers zu bewahren.35 So war es möglich, die Klinikseelsorgenden bei ethischen Fallbesprechungen, Teambesprechungen auf un-

32 A.a.O., 12; Coleman/Collins, Introduction, 9. Die Definition der multilokalen Ethnographie (auf Englisch: multi-sited ethnography) lautet: „Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjuctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, physical presence, with an explicited, posited logic of assocation or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography“ (ebd.). 33 Hauser-Schäublin, Beobachtung, 38. 34 Grube, Reflections, 6f. 35 Gilliat-Ray, Body-works, 426f.

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Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

terschiedlichen Stationen, Patientenbesuchen, Schulungen für ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter, Gottesdiensten sowie einer innerklinischen Arbeitsgemeinschaft zu begleiten. Die Beobachtungen wurden im Feldtagebuch notiert. Eingebettet in diese Begleitungen waren informelle Gespräche und semistrukturierte Interviews. Letztere wurden auch mit Seelsorgern, bei denen eine Begleitung vor Ort nicht möglich war, telefonisch oder über die Voice-over-IPSoftware Skype geführt. Die Fragen der semistrukturierten Interviews bauten zum Teil auf den in der Interviewstudie (b) gestellten Fragen auf; andere Fragen ergaben sich jeweils aus der vorangegangenen teilnehmenden Beobachtung. Insgesamt wurde der Leitfaden flexibel gehandhabt, da sich „je nach Gesprächsverlauf nicht nur die Reihenfolge, sondern auch die Themen ändern“.36 Vor dem Interview wurden die Klinikseelsorgenden gefragt, ob die Gespräche aufgezeichnet werden dürfen. Sie erhielten die Möglichkeit, das Transkript einzusehen. Einige baten darum, vor einem Interview bereits die Fragen des semistrukturierten Interviews zu erhalten, um vorbereitet zu sein. Diesem Wunsch wurde entsprochen.

d)

Theologie im Feld

Der Wert der Theologie für die vorliegende Studie liegt nicht allein darin, den normativen Diskurs über eine gute oder richtige Seelsorge voranzutreiben. Vielmehr wurden die Reflexionspotenziale der Theologie auch dafür genutzt, die Wirklichkeit der Klinikseelsorge in ihrer Konfrontation mit ethischen Fragestellungen besser zu verstehen. So führte der Theologe und Arzt Fabian Kliesch, zum Teil gemeinsam mit der Ethnologin Julia Thiesbonenkamp-Maag, zwischen März und November 2012 eine eigene Feldforschung an Universitätskliniken, städtischen Kliniken und einem konfessionellen Haus durch. Diese umfasste ebenso Interviews wie teilnehmende Beobachtung und wurde ergänzt durch die autoethnografische Beschreibung eigener Seelsorge-Erfahrungen. Einbezogen waren insgesamt elf Seelsorgende an zwei konfessionellen und zwei nicht konfessionellen Häusern.37 Eine solche ethnologisch informierte, aber mit dem Blick des Theologen durchgeführte Feldforschung erschien als weiterer empirischer Zugang aus zwei Gründen sinnvoll: Zum einen bekamen die Seelsorgenden dadurch die Gelegenheit, ihre Situation explizit unter Zuhilfenahme theologischer Fachsprache reflektieren zu können. Auf diese Weise trat die Funktion theologischer Begriffe und Argumente „im Feld“ stärker zutage, als dies gegenüber 36 Schlehe, Formen, 79. 37 Mit einer weiteren Seelsorgerin hat der Theologe Thorsten Moos ein Telefoninterview geführt sowie von zwei weiteren Materialien (Liturgien) erhalten.

Fragestellung und Methoden der Studie

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einer Ethnologin der Fall sein konnte. Hierdurch eröffnet sich gleichsam ein neuer Kommunikationskanal mit eigenen Möglichkeiten der Verständigung wie auch der Missverständnisse. Das seelsorgerliche Nachdenken über Ethik im beruflichen Kontext wird so als eine Form kontextueller Theologie begreifbar. Sie kann in ihrer Differenziertheit und Pluriformität wahrgenommen werden, ohne sie von vornherein den Kohärenzanforderungen theologischer Gesamtentwürfe zu unterwerfen. Zum anderen wurde es so möglich, die explizit religiösen Zeichenwelten in der Klinik, wie auch – bei aller Vorsicht – die impliziten religiösen Valenzen des Feldes zu beobachten (dazu siehe unten, III. b, sowie Kapitel 3.6).

e)

Wiedergabe des Quellenmaterials

Da es sich bei den in den Interviews wie in der teilnehmenden Beobachtung erhobenen Daten zum Teil um sehr sensible Informationen handelt, wurden die Daten so pseudonymisiert, dass keine Rückschlüsse auf die Seelsorgenden, das Krankenhaus und die anderen Mitarbeitenden, Patientinnen und Patienten sowie Angehörige möglich sind.38 Entsprechende Angaben wurden weggelassen oder, in seltenen Fällen, verfremdet. In Zweifelsfällen wurde Rücksprache mit den Seelsorgenden gehalten. Insbesondere sind alle verwendeten Namen Pseudonyme. Für die Seelsorgenden der Interviewstudie (b) wurden zur besseren Übersicht Pseudonyme mit den Anfangsbuchstaben A-I vergeben; die in die Feldforschung einbezogenen Seelsorgenden erhielten Pseudonyme mit alphabetisch später rangierenden Anfangsbuchstaben.39 Alle Seelsorgenden erklärten schriftlich oder mündlich ihre grundsätzliche Einwilligung in die Veröffentlichung von Interviewauszügen. Dabei wurden je nach Wunsch der Seelsorgenden unterschiedliche Verfahren vereinbart. Die Freigabe zur Veröffentlichung wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten erteilt: entweder sofort nach Lektüre des Interviewtranskripts, nach der Vornahme einzelner Streichungen aus dem Interviewtranskript oder umgekehrt in Kenntnis der für die Veröffentlichung vorgesehenen Abschnitte aus den Interviews. Dieses aufwändige, individuell abgesprochene Verfahren diente dazu, trotz des mitlaufenden Aufnahmegerätes eine vertrauensvolle Interviewsituation zu schaffen. In den Interviews der ersten Studienphase geschah dies über eine schriftliche Einwilligungserklärung; im Rahmen der Feldforschung der zweiten und dritten Studienphase war ebenfalls eine solche Einwilligungserklärung vorbereitet worden, aber die Seelsorgenden verzichteten, wohl aufgrund des über längere 38 Pope, ethnography, 1182. 39 Eine Ausnahme stellt die Seelsorgerin mit dem Pseudonym Susanne Christlieb dar, die sowohl interviewt als auch in der Feldforschung begleitet wurde.

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Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

Zeit gewachsenen Vertrauensverhältnisses, auf eine schriftliche Vereinbarung und signalisierten mündlich, welche Informationen oder Situationsbeschreibungen nicht in die Auswertung einfließen durften. Dabei waren grundsätzlich verschiedene Stufen bzw. Formen von Vertraulichkeit zu bewahren. Da das Beichtgeheimnis unverbrüchlich ist, waren Beichtsituationen – mit Ausnahme der Information, dass solche grundsätzlich vorkommen – niemals Gegenstand eines Interviews oder einer teilnehmenden Beobachtung. Das Seelsorgegeheimnis wurde gewahrt, indem bei der teilnehmenden Beobachtung grundsätzlich nach dem Einverständnis der Patientinnen und Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden gefragt wurde. Aus zurückliegenden seelsorglichen Begleitungen berichteten die Seelsorgenden nur in typisierter, von den konkreten Personen abstrahierter Art und Weise. Im Falle der teilnehmenden Beobachtung in Kliniken wurde zudem die Erlaubnis der jeweils zuständigen Stelle eingeholt. Sofern die Forschenden in Kenntnis von Dienstgeheimnissen kamen, wurden diese durch Abstraktion, Anonymisierung und/ oder Verfremdung gewahrt. Das gilt ebenso für alle Informationen über Patienten und Patientinnen, über Diagnosen und Behandlungsverläufe. Aus diesem Grund wurde im vorliegenden Buch und in anderen Publikationen, auch in Tagungsvorträgen, auf die Nennung medizinischer Details so gut wie vollständig verzichtet. Damit unterscheiden sich die hier wiedergegebenen Beschreibungen von den sonst in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlichten Falldarstellungen, die um eine möglichst vollständige medizinische Information bemüht sind, um den Leserinnen und Lesern eine eigene ethische Stellungnahme zu ermöglichen. Das war im vorliegenden Kontext zumeist nicht notwendig, da nicht die „richtige“ Lösung eines Falles, sondern der Umgang der Seelsorgenden mit der Situation im Zentrum des Interesses steht. Um der besseren Lesbarkeit willen wurden die im Folgenden wiedergegeben Zitate moderat geglättet. Einfügungen um der Verständlichkeit willen stehen in eckigen Klammern; Auslassungen sind mit „[…]“ markiert. Die meisten Textstellen wurden jedoch wörtlich übernommen, um den spezifischen Charakter der jeweiligen Situation wiederzugeben. Im Hinblick auf die Verwendung von Interviewmaterial, das auf gesprochener Sprache beruht, besteht dabei ein Spannungsfeld. Einerseits ist es wichtig, der Stimme des Gegenübers und seiner Persönlichkeit Raum zu geben, andererseits gilt es, die Interviewpartner vor Fehleinschätzungen zu schützen.40 Um die wiedergegebenen Zitate besser einschätzen zu können, ist es daher hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass mündliche Sprache anders als schriftliche funktioniert. Insbesondere bedarf sie keiner grammatisch korrekten oder vollständig zu Ende geführten Sätze, da die 40 Vgl. Baumgärtner, Lokalität, 140–141; Lauser, Mann, 109–110; Thiesbonenkamp-Maag, Fürsorge.

Fragestellung und Methoden der Studie

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nonverbalen Signale des Verstehens seitens der Gesprächspartner und die eigenen mimischen und gestischen Ergänzungen als gleichsam nichtgrammatische Mittel der Kommunikation zur Verfügung stehen.41 Zum anderen ist mit Blick auf die vorliegende Studie auf die spezifischen Situationen und Orte der Interviews hinzuweisen. Meistens waren es Orte, die die Interviewpartner vorschlugen. Zu ihnen zählten die Büros der Seelsorgenden, Gemeinschaftsräume in Krankenhäusern, aber auch Cafés innerhalb und außerhalb des Klinikgeländes. Die jeweilige Atmosphäre und Umgebung der Interviewsituation schlug sich auf die Gespräche nieder, die beispielsweise durch vorbeikommende Kollegen oder Nebengeräusche unterbrochen wurden. Zudem waren manche Interviews aufgrund starker Nebengeräusche wie Fluglärm schwierig zu transkribieren. Die Zitationsweise des verwendeten Quellenmaterials ist einfach gehalten. Jeder Quellenverweis enthält nach einem Kürzel für den Quellentyp (I Interview, F Feldtagebuch, V zur Verfügung gestelltes Verbatim, M weiteres schriftliches Material, etwa per E-Mail zur Verfügung gestellt) das Pseudonym des Seelsorgers oder der Seelsorgerin, das Datum der Erhebung sowie das einbuchstabige Kürzel des- oder derjenigen, der oder die das Material erhoben hat (E Simone Ehm, K Fabian Kliesch, M Thorsten Moos, T Julia Thiesbonenkamp-Maag).

f)

Auswertung der Daten

Die Auswertung der Daten aus den Interviews und der teilnehmenden Beobachtung geschah zunächst jeweils einzeln und dann in einem alle Mitglieder der Arbeitsgruppe einschließenden gemeinsamen Verfahren. Das transkribierte Textmaterial der Interviews (b) wurde in Anlehnung an die qualitative Inhaltanalyse nach Mayring ausgewertet.42 Bei der qualitativen Inhaltsanalyse handelt es sich um ein Verfahren, das einer systematischen, theorieund regelgeleiteten Interpretation von Kommunikationsmaterial dient. Das zu analysierende Material wird abstrahiert und reduziert. Ziel ist die Erstellung eines Kategoriensystems (induktiv und deduktiv), das die Daten komprimiert abbildet und eine Vergleichbarkeit der Interviews ermöglicht.43 In Anlehnung an Jochen Gläser und Brit Laudel wurde von einem offenen Kategoriensystem ausgegangen, das während der Extraktion verändert werden kann, sofern relevant erscheinende Textpassagen nicht zu den ursprünglich definierten Kategorien passen.44 41 Dazu dienen auch Pausen im Redefluss, die dort, wo sie für das Verständnis des Gesagten wichtig schienen, mit zwei Punkten (kürzere Pause) oder mit „[Pause]“ (längere Pause) markiert wurden. 42 Vgl. Mayring, Inhaltsanalyse. 43 A.a.O., 11ff. 44 Vgl. Gläser/Laudel, Experteninterviews.

28

Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

Ähnlich wurde mit den in der Feldforschung erhobenen Daten verfahren. Erhebung und Auswertung der Daten erfolgten in Anlehnung an die Grounded Theory, die auf Anselm Strauss und Barney Glaser zurückgeht. Die Phasen der Forschung von der Planung über die Datenerhebung und Datenanalyse hin zur Theoriebildung sind nicht voneinander getrennt, sondern wechseln sich ab.45 Das Ergebnis ist eine gegenstandsbegründete Theorie.46 Die Datenerhebung, die Datenanalyse und die Theoriebildung fanden gleichzeitig statt. Der erste Schritt der Datenanalyse war die Kodierung. Beim Durchlesen der Interviews und Feldtagebücher wurden wiederkehrenden und interessanten Themen Kodes wie beispielsweise „Rolle des Seelsorgers“ zugewiesen, die häufig direkt den Worten der Seelsorger entnommen waren (In–Vivo-Kodes).47 Manche Kode-Bezeichnungen wie „Ritual“ entstammen hingegen der kulturwissenschaftlichen Theorie. Diese Kodes wurden teilweise einzelnen Worten oder Satzteilen zugewiesen, teilweise wurden ganze Absätze damit markiert.48 Später wurden die kodierten Textstellen noch genauer auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. So ließen sich beispielsweise für die Rolle des Seelsorgers unterschiedliche Rollenverständnisse wie das des „Anwalts“ oder des „Aliens“ festmachen. Zusätzlich ließ sich durch den Vergleich auch herausarbeiten, an welchen Stellen Lücken waren, für die weitere Daten erhoben werden mussten.49 Zur weiteren Analyse wurden theoretische Konzepte aus der Ethnologie miteinbezogen, um „das Datenmaterial zu strukturieren, Beziehungen zwischen den Konzepten herzustellen und zu einer […] Theorie zu kommen“.50 Beendet wurde die Analyse der Daten, als trotz weiterer Vergleiche keine wesentlichen neuen Erkenntnisse gewonnen wurden. Wichtig ist hierbei anzumerken, dass nicht „die Zahl der Fälle, sondern die Systematik ihres Einbezugs und der Vergleiche“ die Qualität ausmachen.51 In einem weiteren Schritt wurden die Kategorien bzw. Kodes aus den Interviews und der Feldforschung aufeinander bezogen. Durch wechselseitige Schärfung, Ergänzung, Korrektur und sachliche Zuordnung entstand so ein System aus Sachproblemen und zugeordneten Teilproblemen, aus dem schließlich die Gliederung der Teile 2 und 3 der vorliegenden Darstellung ent45 „Analyse und Theoriebildung beginnen bereits mit dem ersten erhobenen Datenmaterial, sie dienen in all ihrer Vorläufigkeit als Startpunkt für eine fortlaufende Präzisierung der Forschungsfrage und für kontinuierliche Hypothesen- und Theoriengenerierung.“ (Mey/Mruck, Theory, 23.) 46 A.a.O., 12ff. 47 Bernard, Methods, 430. 48 Mey/Mruck, Theory, 25. 49 A.a.O., 27. 50 https://www.ph-freiburg.de/projekte/quasus/einstiegstexte-in–methoden-der-qualitativensozial-unterrichts-und-schulforschung/datenauswertung/grounded-theory.html, 11. Dezember 2013. 51 Mey/Mruck, Theory, 29.

Fragestellung und Methoden der Studie

29

stand. Die Ausarbeitungen zu den einzelnen Sachproblemen wurden immer wieder, zum einen unter den Autorinnen und Autoren der Studie, zum anderen auf Workshops und Tagungen mit Seelsorgenden und Verantwortlichen der Seelsorgeausbildung, diskutiert. Mit Hilfe dieses Vorgehens ließ sich aus der Vielzahl an Daten eine „dichte“ Beschreibung52 des seelsorglichen Umgangs mit Ethik in der Klinik erstellen. Um die Darstellung lesbar zu machen, werden im Folgenden aus der Fülle des Materials jeweils nur ausgewählte Belege geboten. Einzelne Zitate wurden in verschiedenen Kapiteln dabei bewusst mehrfach verwendet, um zu zeigen, wie sich diese in verschiedenen Hinsichten der Auswertung jeweils unterschiedlich lesen lassen. Nun sollte der Umgang der Seelsorgenden mit Ethik nicht nur beschrieben werden. Hinzu trat als zweite Aufgabe die Zusammenführung der empirischen Einsichten mit dem theologischen Fachdiskurs zum Thema Seelsorge und Ethik.53 Dieses war nötig, um einen theologisch verantworteten Begriff ethischer Kompetenz in der Seelsorge zu entwickeln, auf dessen Grundlage dann Materialien für die Seelsorgeausbildung entwickelt werden konnten. In diesem Zusammenhang war insbesondere zu klären, was genau unter der „ethischen Kompetenz“ von Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu verstehen ist, wie sich diese in das Spektrum der übrigen seelsorglichen Kompetenzen einordnet und wie sie in der Seelsorge zu erreichen ist. Ziel war ein Ausbildungsmodul zum Thema Ethik in der Seelsorge, das in die Seelsorgeausbildung implementiert werden kann. Verschiedene Materialien wurden in Kursen der Klinischen Seelsorgeausbildung sowie in Fortbildungen für Seelsorgende sowie für Supervisorinnen und Supervisoren am Seelsorgeseminar in Halle (Saale) und am Zentrum Seelsorge in Friedberg (Hessen) erprobt und auf Workshops und Tagungen mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern sowie Seelsorgeverantwortlichen diskutiert. Die Ausarbeitung eines exemplarischen Ausbildungsmoduls, das die deskriptiven Ergebnisse sowie die ethischen, seelsorgetheoretischen und didaktischen Reflexionen dieser Studie aufnimmt, ist diesem Buch beigegeben.

52 Geertz, Beschreibung. 53 Die Art und Weise der Zusammenführung von Empirie und Theologie ist in Kapitel 4.1 dargestellt.

30 III.

Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

Begriffliche Vorklärungen

Aufgrund des zunächst stark beschreibenden Charakters der vorliegenden Studie kann auf umfangreiche begriffliche Vorklärungen verzichtet werden. Viele die folgende Rekonstruktion tragende Begriffe werden aus den Begriffsverwendungen im Feld entwickelt bzw. schließen an diese an (In–Vivo-Kodes). Ein Beispiel ist der bereits genannte Begriff des Gewissens. Andere Begriffe werden im Zuge der Rekonstruktion eingeführt und dort bestimmt, wo sie gebraucht werden. Dies sind Begriffe, die sich aus der Zusammenfassung verschiedener Kodes ergeben, wie etwa der der Person.54 Bei wiederum anderen Begriffen handelt es sich um fachwissenschaftliche Konzepte, die die Analyse leiten; so etwa der Begriff des Rituals.55 Über zwei Begriffe ist jedoch gleich zu Anfang Rechenschaft abzulegen, um allfällige Missverständnisse zu vermeiden. Es handelt sich um die Begriffe der Ethik und der Religion.

a)

„Ethik“

Für den Umgang mit Ethik ist es unabdingbar, die Unterscheidung von Ethik, Moral und Ethos zu klären. Unter Moral wird im Folgenden das Gesamt an normativen bzw. wertenden Überzeugungen verstanden, die ein Individuum vertritt und die es auf Rückfrage artikulieren kann. Bei Ethik handelt es sich um Reflexion auf moralische Überzeugungen – im Modus der beschreibenden Kartierung des Vorhandenen (deskriptive Ethik), der Begründung (normative Ethik) oder der Frage nach den Voraussetzungen von Moral und Moralbegründung (Metaethik). Von Moral noch einmal zu unterscheiden ist das Ethos.56 Es bezeichnet nicht den propositionalen Gehalt normativer Überzeugungen, sondern die in Praxis und Lebensformen eingegossenen impliziten Wertungen, das Gewohnte, selbstverständlich in Geltung Stehende, die normative Grundausrichtung. Hier ist mit Johannes Fischer sinnvollerweise zwischen dem Ethos einer Person und dem Ethos eines Berufs, etwa des Seelsorgeberufs, zu unterscheiden.57 So wichtig die Verfasstheit des Ethos ist, so wenig darf doch die theologische Ethik auf diese Dimension des Normativen reduziert werden. Denn gerade im Kontext der Klinik geht es zumeist um Situationen, in denen die selbstverständliche Praxis oder auch die moralischen Überzeugungen problematisch werden, in denen kommuniziert und also reflektiert werden muss. In diesem

54 55 56 57

Siehe Kapitel 3.5. Siehe Kapitel 3.7. Fischer, Dimensionen, 210, spricht hier von Sittlichkeit. A.a.O., 211.

Begriffliche Vorklärungen

31

Sinne steht im Folgenden die Ethik im Mittelpunkt.58 Dabei wird terminologisch nicht unterschieden zwischen Ethik als dem Handlungsfeld von Seelsorgenden (also der seelsorgerlichen Reflexion über Moral) und Ethik als philosophischer oder theologischer Fachdisziplin. An welchem sozialen Ort Moralreflexion betrieben wird, ist aus dem Kontext jeweils ersichtlich. Über diesen sehr allgemeinen Begriff von Ethik als Moralreflektion hinaus soll an dieser Stelle keine weitere Festlegung erfolgen. Denn es gilt gerade herauszufinden, welches Verständnis von Ethik die Seelsorgenden selbst haben. Es zeigt sich, dass dieses weit über ein enges Verständnis klinischer Ethik als einer professionalisierten Technik der Entscheidungsfindung angesichts verschiedener Behandlungsoptionen hinausgeht, jedoch auch wieder nicht so weit ist, dass es völlig unbestimmbar wäre.59

b)

„Religion“

Der Begriff der Religion markiert über lange Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg eine klassische Bruchlinie zwischen „liberalen“ und „offenbarungstheologischen“ Grundoptionen der Theologieproduktion. Wenn diese Schulgegensätze sich auch im gegenwärtigen akademischen Diskurs weitgehend verschlissen haben, sind doch die mit dem Religionsbegriff verbundenen Empfindlichkeiten geblieben. Insofern ist es wichtig zu betonen, dass dieser Studie keine normative Religionstheorie zugrunde liegt. Unter Religion wird im Folgenden dasjenige Gesamt menschlicher Deutungsvollzüge, Glaubensvorstellungen und Praktiken verstanden, mit dem sich der theologische Diskurs beschäftigt. Näherhin sind dabei, wie bereits dargelegt, nur die christliche Theologie und in diesem Sinne das Christentum als Religion im Blick. Darüber hinaus muss an dieser Stelle aber nicht entschieden werden zwischen funktionalen Religionsbegriffen, die Religion über diejenigen Leistungen bestimmen, die sie für die Gesellschaft oder für das Individuum erbringt, und materialen oder substanzialen Religionstheorien, die die Rede von Religion an das Vorliegen bestimmter charakteristischer Wesensmerkmale, etwa einen Transzendenzbezug, das Konzept eines göttlichen Wesens oder die Erfahrung des Heiligen binden.60 Beide Theoriestränge lassen sich in den Reflexionen der Seelsorgenden wiederfinden. Ähnlich 58 Im medizinischen Kontext hat es sich eingebürgert, den Begriff „ethisch“ als universalen moralischen Prädikator zu gebrauchen, also zu sagen, eine Handlung sei „ethisch“ oder „unethisch“ im Sinne von: Sie ist richtig oder falsch, gut oder schlecht. Dieser Sprachgebrauch ist vom Standpunkt einer philosophischen oder theologischen Ethik aus betrachtet irregulär, spiegelt aber den Anspruch, die zum Ausdruck gebrachte moralische Überzeugung nötigenfalls vor dem Hintergrund einer medizinischen Ethik kunstgemäß begründen zu können. 59 Siehe dazu Kapitel 2.1. 60 Vgl. etwa Sundermeier, Religion; Barth, Religion.

32

Ethik in der Klinik als Gegenstand empirischer Seelsorgeforschung

wie beim Begriff der Ethik ist auch hier nicht die (uneinheitliche) religionstheoretische Positionierung der Autorinnen und Autoren dieser Studie von Interesse, sondern die möglichst offene Rekonstruktion dessen, was die Seelsorgenden selbst als Gegenstand ihrer Theologie verstehen. Nur hierfür werden im beschreibenden Teil dieser Studie die Begriffe „Religion“ und „religiös“ verwendet. Dabei muss nicht trennscharf zwischen „religiösen“ und „nichtreligiösen“ Phänomenen bzw. Konzepten unterschieden werden. Dies könnte nachgerade verstellend wirken. Ein Beispiel dafür ist der Terminus des Gewissens, der einerseits über den Rekurs auf das ärztliche Gewissen fest im Feld verankert ist und in diesem Sinne keinen religiösen Ton hat, der andererseits aber insbesondere für die protestantische Theologie ein fundamentales Konzept darstellt und von den Seelsorgenden unter Einbeziehung seiner religiösen Valenzen benutzt wird.61

IV.

Zum Aufbau des Buches

Die Darstellung der Ergebnisse der Studie ist dreigeteilt. Zunächst kommt das Verhältnis der Seelsorgenden zu den Themen, Strukturen und Institutionen von Ethik in der Klinik in den Blick (Teil 2 im Buch), bevor im Einzelnen dargestellt wird, wie Seelsorgende in ethischen Situationen agieren (Teil 3). Schließlich werden die Beobachtungen und Analysen im Kontext Theologischer Ethik und Seelsorgelehre beleuchtet und für die Ausarbeitung einer Ausbildungseinheit nutzbar gemacht (Teil 4). Teil 2: In Kapitel 2.1. wird beschrieben, mit welchen ethischen Themen Seelsorgende aus welchen Anlässen konfrontiert sind, und welches Verständnis von Ethik sie haben. Dieses Ethikverständnis wird systematisiert in einem Modell ethischer Situationen in der Klinik, das für die weitere Darstellung grundlegend ist. Kapitel 2.2 beschreibt die Formen der Institutionalisierung von „Ethik“ in der Klinik und die Rollen, die Seelsorgende im Umgang mit ethischen Fragen einnehmen. Teil 3: Der Umgang von Seelsorgenden mit ethischen Problemen in der Klinik wird in sieben verschiedenen Zugängen beschrieben und analysiert. Kapitel 3.1 widmet sich der klinischen Ethik im engeren Sinne, also solchen ethischen Situationen, in denen es um Entscheidungen hinsichtlich der Behandlung einzelner Patientinnen und Patienten geht. Beschrieben wird, welchen Einfluss Seelsorgende in solchen Situationen haben. Komplementär dazu wird in Kapitel 3.2 analysiert, wie Seelsorgende mit organisationsethischen und organisationskulturellen Fragen befasst sind. Beide Grundtypen ethischer Situationen zusammennehmend fragen Kapitel 3.3 und 3.4, wie die Ethik der Seelsorgenden selbst verfasst ist. Hier zeigt sich einerseits, so die These des Kapitels 3.3, eine starke 61 Siehe dazu Kapitel 3.4.

Anmerkungen zur Autorschaft

33

Aufmerksamkeit für das Beziehungsgefüge einer ethischen Situation, die Parallelen zur Care-Ethik aufweist, und andererseits eine große Sensibilität für das moralische Subjektsein Einzelner, die in Kapitel 3.4 unter dem Begriff des Gewissens analysiert wird. Beides kommt zum Tragen in denjenigen Verhandlungen über Personsein, die in ethischen Situationen vor allem am Lebensanfang und Lebensende stattfinden (Kapitel 3.5). Nicht auf die Inhalte, sondern auf die Formen des „Ethischen“ in der Klinik blicken hingegen die Kapitel 3.6 und 3.7. In Kapitel 3.6 wird dargestellt, wie Seelsorgende mit denjenigen Sprachen und Sprechweisen umgehen, in denen ethische Fragen formuliert und diskutiert werden: der medizinischen, religiösen, rechtlichen und moralischen Sprache. Kapitel 3.7 ist schließlich der ethischen Bedeutung von Ritualen gewidmet, die Seelsorgende in der Klinik durchführen. Teil 4: Kapitel 4.1 vollzieht den Übergang von der empirischen Wahrnehmung zur Gestaltung eines Ausbildungsmoduls. In der theologischen Rekonstruktion der Beschreibungen und Analysen legt es die Grundlage für einen Begriff ethischer Kompetenz in der Seelsorge, der in Kapitel 4.2 entfaltet wird. Das Ausbildungsmodul selbst wird in Kapitel 4.3 dargestellt. Der abschließende Teil des Buches fasst die Ergebnisse der Studie noch einmal knapp zusammen und formuliert Desiderate der empirischen Seelsorgeforschung und der Theologischen Ethik. Im Anhang sind Materialien für die Seelsorgeausbildung beigegeben.

V.

Anmerkungen zur Autorschaft

Das vorliegende Buch verdankt sich einer gemeinsamen Bemühung von vier unterschiedlich geprägten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Kompetenzen in Medizinethik, Medizinethnologie, Systematischer Theologie und Medizin zusammenbringen. Die Kapitel wurden gemeinsam durchgesprochen und jeweils mehrfach überarbeitet. Doch auch in einem solchen gemeinsamen Prozess verschwinden individuelle Eigentümlichkeiten im Zugang zum empirischen Material, zu verschiedenen Theoriebeständen wie auch zur Produktion von Texten nicht. Auch wenn das Buch also in seiner Gesamtanlage in gemeinsamer Verantwortung steht, seien im Folgenden die federführenden Hauptautorinnen bzw. -autoren der einzelnen Kapitel genannt: So wurden die Kapitel 2.1, 2.2. und 3.3 von Simone Ehm verfasst; das Kapitel 3.6 von Fabian Kliesch. Die Kapitel 3.1 und 3.7 gehen auf Julia Thiesbonenkamp-Maag zurück; auf Thorsten Moos die Grundzüge der Kapitel 1 und 3.2, die Kapitel 3.4, 4.1 (mit Fabian Kliesch) und 4.2. In geteilter Autorenschaft sind entstanden 3.5 (Thorsten Moos und Julia Thiesbonenkamp-Maag) und 4.3 (Thorsten Moos und Fabian Kliesch). Die Projektleitung für das Gesamtprojekt lag bei Thorsten Moos.

2.

Ethische Situationen in der Klinik und die Rolle der Seelsorgenden

2.1

Was ist Ethik in der Klinik? Die Perspektive von Seelsorgenden

I. Ethikberatung in der Klinik: Entwicklung und Status quo II. Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden a) Mit welchen ethischen Themen Seelsorgende aus welchen Anlässen konfrontiert sind b) Was das seelsorgliche Verständnis von Ethik kennzeichnet III. Erwartungen von Seelsorgenden an die Institutionalisierung von Ethik IV. Das Ethikverständnis von Seelsorgenden: Ein Modell zur Klassifikation ethischer Situationen V. Fazit: Ein weiter Ethikbegriff markiert Diskrepanzen im Klinikalltag

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Krankenhaus sind in ethischen Fragen seit jeher Ansprechpartner für Patienten. Verschiedene Entwicklungen im Gesundheitswesen und der modernen Medizin haben jedoch zu einer steigenden Bedeutung ethischer Themen im Krankenhaus geführt und stellen das Klinikpersonal vor − teils neue − Herausforderungen. Zu nennen sind der medizinische Fortschritt, die Zunahme unterschiedlicher Werthaltungen bei Patienten, Angehörigen und dem Personal, die steigende Bedeutung des Patientenwillens und schließlich der an Bedeutung gewinnende Einfluss ökonomischer Faktoren auf die Behandlung von Patientinnen/Patienten. Vor diesem Hintergrund erfolgte in den letzten Jahren eine zunehmende Institutionalisierung von Ethikberatung in Krankenhäusern. Beispiele sind die Gründung von Klinischen Ethikkomitees oder Ethikkonsilen, aber auch andere Formen von Klinischer Ethikberatung. Seelsorgerinnen und Seelsorger erleben als eine der klinischen Berufsgruppen in der Praxis die Erwartung, kompetente Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner für ethische Fragen zu sein – sowohl in Einzelgesprächen mit Patienten, Angehörigen und dem Personal als auch in Gremien der Ethikberatung. Eine der interviewten Seelsorgerinnen äußert:

Was ist Ethik in der Klinik?

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Ich meine, dass Beratungsbedarf zunimmt. Also, dass Menschen immer mehr in Entscheidungssituationen kommen […], dass Autonomie und Selbstbestimmung ja in unserer Gesellschaft ein hohes Gut sind, und dass Patienten sich aber auch manchmal überfordert fühlen. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

Für ethische Themen im Krankenhaus scheinen Seelsorgende aufgrund ihrer Stellung in der Institution und aufgrund ihres Kompetenzprofils besonders geeignet: Sie gelten bei Mitarbeitenden in der Klinik wie bei Patienten und Angehörigen als Experten in ethischen und moralischen Fragen, werden als kommunikativ wahrgenommen und stehen in Kontakt zu mehr oder weniger allen Personengruppen im Krankenhaus. Am Aufbau und der Durchführung Klinischer Ethikberatung sind Seelsorgerinnen und Seelsorger maßgeblich beteiligt. Dies gilt in noch einmal besonderer Weise für konfessionelle Krankenhäuser. Bereits 1997 haben der evangelische und katholische Krankenhausverband gemeinsam eine Broschüre herausgegeben, in der sie sich selbst verpflichten, in den konfessionellen Häusern eine Ethikberatung nach dem Vorbild der US-amerikanischen Health Care Ethics Committees einzurichten. Die konfessionellen Häuser gelten damit als ein wesentlicher Impulsgeber für den Aufbau Klinischer Ethikberatung.1 Seelsorgerinnen und Seelsorger nehmen in der institutionalisierten Ethikberatung nicht nur in konfessionellen Häusern unterschiedliche Rollen ein, die von der Moderatorin ethischer Fallbesprechungen über den Fachmann für religiöse Fragen bis zur Patientenanwältin reichen. Über die Verhandlung ethischer Themen in Gremien der Beratung hinaus ist es vielen Seelsorgenden ein wichtiges Anliegen, im Krankenhaus eine bestimmte Kultur im Umgang mit ethischen Fragen zu befördern. Sie versuchen dazu beizutragen, für ethische Themen zu sensibilisieren, ihnen gebührend Raum zu geben und einen reflektierten Umgang mit ethischen Konflikten zu unterstützen. Nicht zuletzt sind Seelsorgende auch in der Individualseelsorge, in Gesprächen mit Patienten, Angehörigen und dem Personal, zunehmend mit ethischen Fragen konfrontiert. Was nehmen Seelsorgende als ethisches Problem war, wodurch ist ihr Verständnis von Ethik gekennzeichnet? Wie beschreiben sie den Prozess der Institutionalisierung von Ethik, wie bewerten sie ihn? Alles in allem: Was eigentlich macht aus Perspektive der Seelsorgenden Ethik im Krankenhaus aus? Mit diesen Fragen steht im vorliegenden Kapitel in den Abschnitten II.–V. der Blick von Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Mittelpunkt. Anhand von Beobachtungen aus der Studie wird in Abschnitt II. dargestellt, was Seelsorgende als ethisches Problem verstehen. Heterogene Erwartungen von Seelsorgenden an den Prozess 1 Vgl. Deutscher Evangelischer Krankenhausverband/Katholischer Krankenhausverband Deutschlands, Ethik-Komitee; Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer, Stellungnahme.

36

Was ist Ethik in der Klinik?

der Institutionalisierung von Ethik werden in Abschnitt III. beschrieben. Ausgehend von den Beobachtungen in II. und III. wird in Abschnitt IV. ein in der Studie entwickeltes Modell zur Klassifikation ethischer Situationen vorgestellt. Es veranschaulicht, dass das seelsorgliche Verständnis von Konflikten weit ist und über ‚klassische‘ klinisch-ethische Entscheidungssituationen hinausgeht. Dieses breite Verständnis von Ethik wurde in der Studie aufgenommen; in verschiedenen Kapitel werden unterschiedliche Aspekte dieses Ethikverständnisses näher dargestellt. Das Kapitel schließt mit Thesen dazu, welche Funktion Ethik für Seelsorgende hat (V.). Den Beschreibungen zur Perspektive von Seelsorgenden auf Ethik in der Klinik geht in Abschnitt I. ein kurzer Abriss zur Entwicklung und zum aktuellen Stand der Klinischen Ethikberatung in Deutschland voran.

I.

Ethikberatung in der Klinik: Entwicklung und Status quo

Unter Klinischer Ethikberatung wird in der fachlichen und öffentlichen Diskussion in der Regel ein systematischer Umgang mit ethischen Konflikten in der Institution Krankenhaus verstanden.2 Gemeint sind verschiedene Modelle der Beratung: Neben der ursprünglichsten Form, dem Klinischen Ethikkomitee, gibt es in Krankenhäusern unter anderem Ethik-Foren oder einen Runden Tisch Ethik sowie Liaisondienste und Ethikvisiten.3 Die in Deutschland am weitesten verbreitete Form der Klinischen Ethikberatung sind Klinische Ethikkomitees. Da es lange Zeit keine Standards für die Arbeit dieser Gremien gab, unterscheiden sich diese zum Teil erheblich in Struktur und Arbeitsweise. Ein idealtypisches Ethikkomitee in einem mittelgroßen bis universitären Krankenhaus zeichnet sich nach Angaben der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer unter anderem dadurch aus, dass die Mitglieder des Ethikkomitees aus möglichst vielen verschiedenen Berufsgruppen kommen, die unterschiedliche Arbeitsfelder im Haus widerspiegeln. Neben unter anderem Ärzten, Pflegenden, Seelsorgern und Psychologen kann das Hinzuziehen von externen Mitgliedern wie zum Beispiel Juristen sinnvoll sein. Innerhalb der Berufsgruppen sind die unterschiedlichen Hierarchiestufen zu berücksichtigen, also zum Beispiel die Chef-, Ober-, und Assistenzarztebene. Als sinnvolle Gesamtgröße eines Ethikkomitees wird ein Umfang von 7–20 Personen

2 Vgl. Dörries, Ethikberatung, 8. 3 Zu aktuellen Strukturen und Modellen Klinischer Ethikberatung vgl. u. a.: Neitzke, Formen, 37–56.

Ethikberatung in der Klinik – Entwicklung und Status quo

37

genannt. Üblich sind regelmäßige Sitzungen, in der Regel ein oder zweimal im Monat, darüber hinaus erfolgt die Einzelfallberatung auf Anfrage.4 Klinische Ethikberatung hat unabhängig vom konkreten Modell stets ein doppeltes Ziel: zum einen die Entscheidungshilfe im Einzelfall, zum anderen die Sensibilisierung für medizinethische Fragen und die Schulung moralischer Urteilskraft. Aus den Zielen lassen sich die Aufgaben der Ethikberatung ableiten, wobei typischerweise drei größere Aufgabenbereiche unterschieden werden: erstens die Durchführung der ethischen Fallbesprechungen, die im Einzelfall eine Hilfe beim Umgang mit ethischen Konflikten bieten, zweitens die Erarbeitung ethischer Leitlinien, das heißt Handlungsempfehlungen für den Umgang mit wiederholt auftauchenden ethischen Problemen, und drittens die ethischen Fortbildungen.5 Aufgabenschwerpunkte Klinischer Ethikberatung werden in der folgenden Abbildung verdeutlicht. Beratung in akuten ethischen Konfliktfällen ● Therapie(aus)wahl/ Therapiebegrenzung ● Auslegung von Patientenverfügungen ● Nichteinwilligungsfähigkeit von Patienten ● Suizidale Tendenzen bei Patienten ● Umgang mit pränataldiagnostischen Befunden ● Religiösweltanschauliche Differenzen

Entwicklung ethischer Richtlinien für Klinikabläufe ● Sterbebegleitung ● Umgang mit Sterbenden ● Wahrung der Patientenautonomie ● Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen ● Umgang mit Patienten nichtchristlichen Glaubens

Fort- und Weiterbildung in klinischer Ethik ● Fortbildung für alle Krankenhausmitarbeiter ● Informationsveranstaltungen für Patienten und Angehörige ● Ethiksymposien ● Ethik-Cafés ● retrospektive ethische Fallbesprechung

Abbildung 1: Aufgabenschwerpunkte Klinischer Ethikkomitees. Leicht verändert nach: Ley, Rationalisierung, 11.

Einen maßgeblichen Anstoß für die Klinische Ethikberatung in Deutschland haben wie oben erwähnt 1997 die christlichen Krankenhausverbände gegeben, indem sie ihren Krankenhäusern die Gründung von Ethikkomitees empfohlen haben. Die Ziele der Einführung dieser Komitees werden von den Krankenhausverbänden wie folgt beschrieben: Im wohlverstandenen Sinne geführte Klinische Ethik-Komitees können einen Beitrag zur Kultur eines Krankenhauses leisten, indem sie ein Forum für schwierige und 4 Vgl. Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer, Stellungnahme. 5 Diese Einteilung wird so unter anderem von der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer vorgenommen. Vgl. Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer, Stellungnahme.

38

Was ist Ethik in der Klinik?

kontroverse ethische Entscheidungen bereitstellen. Sie bieten die Chance, in herrschaftsfreier und systematischer Weise anstehende oder bereits getroffene Entscheidungen in den Bereichen Medizin, Pflege und Ökonomie ethisch zu reflektieren und aufzuarbeiten. Den Mitarbeitenden des Hauses und den Patienten sowie ihren Angehörigen geben sie die Zusage, dass Gewissensnöte oder das Leiden an nicht annehmbar erscheinenden Strukturen und Situationen im gemeinsamen Gespräch gehört und einer Änderung zugeführt werden können.6

Dem Vorstoß der konfessionellen Krankenhausverbände lagen internationale Vorläufer zugrunde: In den USA gibt es seit den 1980er Jahren Strukturen der Ethikberatung, meist sogenannte Health Care Ethics Committees. Zeitlich recht parallel zum Aufruf der Krankenhausverbände besteht seit 2001 ein externer Anreiz zur Einrichtung von Klinischer Ethikberatung. Ein qualifizierter Umgang mit ethischen Themen wird in Zertifizierungsverfahren positiv bewertet. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Gesamtentwicklungen im Gesundheitssystem trugen Zertifizierungen und der Aufruf der christlichen Krankenhausverbände entscheidend mit dazu bei, dass in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre vermehrt Klinische Ethikkomitees und anderen Formen ethischer Beratung eingerichtet wurden. Im Jahr 2000 gab es eine erste Umfrage zur Klinischen Ethikberatung unter den knapp 800 konfessionellen der damals insgesamt 2400 Krankenhäuser in Deutschland. Das Ergebnis: 30 Krankenhäuser hatten ein Klinisches Ethikkomitee oder eine vergleichbare Einrichtung gegründet, in 17 Krankenhäusern befanden sich Formen der Ethikberatung im Aufbau.7 Die Anzahl von Ethikberatungsstrukturen ist seitdem in allen deutschen Kliniken kontinuierlich gestiegen. 2005 kam die erste bundesweite Krankenhaus-Umfrage zu folgendem Ergebnis: Es waren 149 Klinische Ethikkomitees vorhanden, davon 95 in konfessionellen, 38 in öffentlichen, 16 in privaten Häusern. Zusätzlich gab es eine Reihe von anderen Beratungsformen. Vergleichsweise viele Häuser planten den Aufbau einer Ethikberatung. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es 2005 formal in etwa 10 % aller Krankenhäuser in Deutschland Ethikberatungsstrukturen gab.8 Ein kontinuierlicher Anstieg ist seitdem zu beobachten, neuere Zahlen zur Gesamtentwicklung gibt es jedoch nicht. Die Bedeutung Klinischer Ethikberatung wurde in Deutschland noch einmal gestärkt durch die 2006 veröffentlichte Stellungnahme „Ethikberatung in der klinischen Medizin“ der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Die Kommission sieht die Zunahme von Ethikberatung als „praxisrelevanten Beitrag zur besseren Versorgung von Patienten“, fordert zum Ausbau 6 Deutscher Evangelischer Krankenhausverband/Katholischer Krankenhausverband Deutschlands, Ethik-Komitee, 20. 7 Vgl. Simon, committees, 225–331. 8 Vgl. Dörries/Hespe-Jungesblut, Implementierung, 148–156.

Ethikberatung in der Klinik – Entwicklung und Status quo

39

Klinischer Ethikberatung auf und weist auf fehlende Standards hin.9 Diese Standards schließlich hat 2010 die Akademie für Ethik in der Medizin entwickelt. Es werden Qualitätskriterien und Basisanforderungen beschrieben, die bei jeglicher Form der Ethikberatung eingehalten werden sollten.10 Die in Umfragen festgestellte Anzahl der Beratungsstrukturen sagt freilich noch wenig über das tatsächliche Stattfinden und die Qualität von Ethikberatung vor Ort aus. Eine interessante neuere Untersuchung hierzu hat Florian Bruns durchgeführt, der die Online-Datenbank der Deutschen Krankenhausgesellschaft zum Struktur- und Leistungsverzeichnis von Krankenhäusern durchsucht hat und erfuhr, dass 35 % der in diesem Krankenhausverzeichnis aufgeführten Häuser institutionalisierte Ethikberatung anbieten. Er hat 29 zufällig ausgewählte Kliniken, die von der Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen (KTQ) zertifiziert sind, angerufen und festgestellt, dass 45 % von ihnen keine Strukturen der Ethikberatung aufweisen.11 Bruns schlussfolgert: Diese Stichprobe deutet daraufhin, dass die im Rahmen der KTQ-Zertifizierung erhobenen bzw. übermittelten Leistungsdaten zumindest in Bezug auf das Angebot Klinischer Ethikberatung nicht der Realität entsprechen.12

Empirische Studien zur Evaluation Klinischer Ethikberatung in Deutschland gibt es bislang kaum.13 Berichte aus der Praxis, wie nicht zuletzt die vorliegenden Interviews mit Seelsorgenden, zeigen, dass die Akzeptanz und die Qualität von Ethikberatung stark variieren. Sie sind abhängig unter anderem von der Unternehmenskultur in den einzelnen Krankenhäusern, der Rolle der Mitarbeitenden, die als Multiplikatoren der Ethikberatung dienen, der Akzeptanz der Klinischen Ethikberatung durch leitende Mitarbeitende in den Kliniken und der Art und Weise der Implementierung von Beratungsstrukturen.14 Die interdisziplinäre Begleitforschung zur Klinischen Ethikberatung bleibt eine Herausforderung. Hierzu gehört wesentlich, die Perspektiven einzelner Berufsgruppen auf ethische Themen zu rekonstruieren und zu analysieren, inwiefern diese auf die Praxis Klinischer Ethikberatung einwirken.

9 10 11 12 13 14

Vgl. Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer, Stellungnahme. Vgl. Vorstand der Akademie für Ethik in der Medizin, Standards, 149–153. Vgl. Bruns, Ethikberatung, 24ff. A.a.O., 26. Zur Evaluation Klinischer Ethikberatung vgl. Schildmann/Vollmann, Evaluation, 71–86. Zu den Problemfeldern Klinischer Ethikberatung vgl. Vollmann, Ethikkomitees, 33–39.

40 II.

Was ist Ethik in der Klinik?

Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden

Im Folgenden wird die Perspektive von Seelsorgenden auf Ethik in der Institution Krankenhaus dargestellt. Basis ist das vorliegende empirische Material der ersten Studienphase.15 Zunächst wird in diesem Abschnitt beschrieben, mit welchen ethischen Themen Seelsorgende in der Praxis zu tun haben, und was die Anlässe für ihre Beteiligung an diesen Themen sind. Differenziert wird, welche ethischen Fragen im Krankenhaus von ‚außen‘ an Seelsorgende herangetragen werden bzw. welche sie selbst aufwerfen oder in ihrer Bedeutung verstärken (a). Diese Unterscheidung ist hilfreich, um das seelsorgliche Verständnis von ethischen Fragen zu charakterisieren (b). a)

Mit welchen ethischen Themen Seelsorgende aus welchen Anlässen konfrontiert sind

Aus den Schilderungen der Seelsorgenden geht hervor, dass diese im Krankenhaus mit einem sehr breiten Spektrum ethischer Themen in Berührung kommen. Unter diesen nehmen solche einen besonders großen Raum ein, in denen es um die Grenzen menschlichen Lebens geht: Auf die Frage nach der Bedeutung ethischer Themen in ihrem beruflichen Alltag kommen alle Seelsorgenden auf größtenteils mehrere Situationen rund um das Thema Therapieverzicht am Beginn und vor allem am Ende des Lebens zu sprechen. Entscheidungen über eine künstliche Ernährung spielen dabei eine nochmals herausgehobene Rolle: In acht von neun Interviews werden teils sehr ausführlich Konflikte zur künstlichen Ernährung geschildert, die große Herausforderungen bergen. Eine Seelsorgerin äußert: Die komplexeste ethische Anfrage hängt mit dem Beenden von Ernährung zusammen. Weil damit automatisch einhergeht, dass jetzt der Sterbeprozess sehr, sehr nahe ist. Oder eigentlich damit beginnt. Auch wenn er noch Wochen dauern kann. Also das hat ja nichts damit zu tun, dass jemand sofort verstirbt. Aber das ist eigentlich so die landläufige Meinung und das ist das, was [Fragen zur Ernährung] zur ethischen Fragestellung hochpusht, dass man ja niemanden verhungern lassen kann. Und hier erst einmal klares Wissen zu vermitteln, auch die rechtlichen Perspektiven gut hinzustellen, noch einmal den Patientenwillen zu eruieren, denn meistens können die Patienten darüber nicht mehr sprechen, weil sie einfach nicht mehr des Sprechens fähig sind. Und dann die Angehörigen nicht zu überfahren, sondern sie mit hineinzunehmen, in den Entscheidungsprozess […]. Bis dahin, dass natürlich dann auch im Team hin und wieder jemand eine andere Perspektive hat. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

15 Siehe dazu Kapitel 1, II. b.

Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden

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Neben ethischen Fragen zum Therapieverzicht am Ende oder Anfang des Lebens benennen Seelsorgende zahlreiche andere ethische Probleme. Hierzu gehören unter anderem ethische Konflikte in der Psychiatrie, der Umgang mit behinderten Patienten und Personen aus anderen Kulturkreisen, Fragen der Organtransplantation und des Übergangsmanagements. Geschildert werden zudem verschiedene ethische Fragen, die die Organisationskultur von Kliniken betreffen. Hier geht es neben Fragen des grundsätzlichen Miteinanders zwischen den Berufsgruppen oft um die Diskrepanz zwischen Organisationsprozessen und Ansprüchen an den Umgang mit Patienten. Was sind die Anlässe dafür, dass Seelsorgende in diese ethischen Fragen involviert sind? Alle Seelsorgenden berichten von einer oder zumeist mehreren Situationen, in denen es um die Begleitung oder Beratung eines Patienten oder dessen Angehörigen bei einer anstehenden Entscheidung geht. So erzählt eine Seelsorgerin von einer Frau, deren Mann an einem Hirntumor leidet und selbst nicht mehr ansprechbar ist. Nun ist es an der Ehefrau, über eine mögliche weitere Therapie zu entscheiden: Und dann hatte sie eben diesen Konflikt, dass sie jetzt entscheiden sollte […], ob sie – also am nächsten Tag sollte diese Chemotherapie anfangen – ob sie dem jetzt zustimmt oder nicht. Und der Arzt […] hatte keinen Rat gegeben […], hatte das ganz offen gelassen, hatte gesagt, nee, das entscheiden Sie. Und alle, mit denen sie gesprochen hatte, hatten sich auch ein bisschen rausgehalten, ihre Kinder, so dass sie das Gefühl hatte, das jetzt ganz alleine entscheiden zu müssen, und als Betreuerin ja auch musste. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

Situationen wie die geschilderte gewinnen im Krankenhausalltag an Bedeutung. Seelsorgerin Renate Frohmut spricht einen zunehmenden Beratungsbedarf direkt an (vergleiche Zitat zu Beginn des Kapitels), und auch andere Seelsorgende weisen hierauf hin. Neben der Begleitung bei einer Entscheidungsfindung ist die Begleitung bei einer Entscheidungsbewältigung der zweite Hauptanlass dafür, dass Seelsorgende in ethische Themen involviert sind.16 Mehr als die Hälfte der Seelsorgenden berichten von solchen Situationen. Oft geht es hierbei um Zweifel an der Sinnhaftigkeit von weiteren – beschlossenen – therapeutischen Maßnahmen. Vor allem Pflegekräfte, aber auch andere Personengruppen im Krankenhaus wie Medizinerinnen und Ehrenamtliche äußern solche Zweifel. Die Seelsorgerin Annette Ingelmann schildert: Und da sind es eher so die Gespräche am Rande, mit Schwestern oft auch. Also mit dem Pflegepersonal. So was von „Muss das noch sein?“. Spannend finde ich auch, dass gerade in diesen lungenonkologischen Fällen meine grünen Damen oft mit den ethi16 Die genannten Häufigkeiten haben keine statistische Aussagekraft, sondern können allenfalls als Hinweise für die Bedeutung der Themen dienen.

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Was ist Ethik in der Klinik?

schen Fragen kommen. Ich habe [Anzahl] ehrenamtliche Seelsorgerinnen, die […] zum Teil eben da sehr empfindlich sind. Und es auch sehr klar benennen. Und, wie gesagt, es ist nicht institutionalisiert, aber es sind immer [betont] mal wieder Gespräche, die dann nötig sind. Also: „Hätte dies sein müssen?“ (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Umgekehrt geht es bei Angehörigen, aber auch Pflegekräften und Patienten, um große und anhaltende Schwierigkeiten, die Begrenztheit des Lebens zu akzeptieren. Ein Seelsorger berichtet ausführlich von der Begleitung Angehöriger, die sich für ihren Vater eine Maximaltherapie wünschen, die offensichtlich klinisch nicht geboten ist: Die Unsicherheit gibt es in der Regel bei den Angehörigen. Das ist das große Problem. Also, Patienten, die unheilbar sind, die, wenn man Maximaltherapie macht, vielleicht noch sechs Wochen zu leben haben, und wenn man die Maximaltherapie zurückfährt, kann der Sterbeprozess, wie soll ich sagen, auf natürliche Weise zu Ende gebracht werden, und ganz viele Angehörige können einfach nicht loslassen, das ist eigentlich der Hauptkonflikt. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Eine Seelsorgerin, die auf einer Palliativstation tätig ist, schildert in diesem Zusammenhang im Interview: Gerade bei Schlaganfallpatienten, wo häufig auch sichtbar wird medizinisch, dass die Hoffnung auf Gesundung sehr gering ist, braucht es Zeit für die Angehörigen, dass sie mit auf den Weg kommen, dass der Zeitpunkt X passieren kann, dass man von dem kurativen Ansatz auf den palliativen wechseln muss, um für den Patienten Gutes zu tun. Und dieser Prozess braucht Begleitung, […] damit dieser Blickwechsel ganz langsam und den Angehörigen gemäß vollzogen werden kann. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Festzuhalten ist, dass sich zwei Hauptanlässe erkennen lassen, die im Klinikalltag zu einer Beteiligung von Seelsorgenden an ethischen Themen führen: die Begleitung bei einer Entscheidungsfindung und die Begleitung bei einer Entscheidungsbewältigung. Vor allem bei einer Entscheidungsfindung hat das Umfeld des Betroffenen in der seelsorglichen Begleitung einen hohen Stellenwert. Seelsorgende schenken der Situation von Angehörigen, aber auch von Freunden oder Mitarbeitenden aus dem Betreuungsteam, die in enger Beziehung zum Betroffenen stehen, große Beachtung. Ethische Problemsituationen zeichnen sich aus Perspektive der Seelsorgenden oftmals durch ein Nebeneinander von Interessen und Bedürfnislagen verschiedener Beteiligter aus, die von ihnen in weitem Umfang wahrgenommen und berücksichtigt werden. Bei näherem Blick auf die ethischen Themen, mit denen Seelsorgende in der Klinik befasst sind, zeigt sich, dass bestimmte Themen typischerweise an Seelsorgende von Seiten unterschiedlicher Personengruppen herangetragen werden, während Seelsorgende andere Themen selbst aufwerfen oder in ihrer Bedeutung stärken. Von ‚außen‘ werden Seelsorgende sehr häufig mit ethischen Fragen an

Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden

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den Grenzen des Lebens und hier vor allem am Ende des Lebens konfrontiert. Von Seiten des Personals bestehen Unsicherheiten, was die weitere Behandlung des Patienten betrifft. Auch Patienten und Angehörige selbst suchen Unterstützung in Grenzsituationen, die Entscheidungen von ihnen abverlangen. Eine Seelsorgerin bringt auf den Punkt, was andere Gesprächspartner in ihren Schilderungen umschreiben. Sie antwortet auf die Frage, ob ethische Themen, die an sie herangetragen werden, besondere Merkmale haben: Ich würde sagen, alle Fälle hängen irgendwie mit der Grenze unseres Lebens zusammen, also letztlich mit dem Sterben und dem Tod. Also machen wir die Behandlung oder machen wir die Behandlung nicht, mache ich eine Chemotherapie oder mache ich sie nicht […], also letztlich dann, wenn es um das Ganze geht. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Seelsorge wird im Krankenhaus häufig hinzugezogen, wenn die primäre Funktion des Systems Krankenhaus – die Wiederherstellung von Gesundheit – nicht erfüllt werden kann. Die Interviews mit den Seelsorgenden verdeutlichen, dass dies auch für den Bereich ethischer Themen gilt. Das oben genannte Zitat ist beispielhaft für die Beschreibungen auch anderer Seelsorgerinnen und Seelsorger, die schildern, dass sie in der Klinik als Experten für den Umgang mit Situationen wahrgenommen werden, in denen die Endlichkeit des Lebens offenbar ist. Zu den Situationen, mit denen Seelsorgende von außen konfrontiert werden, gehören neben ethischen Fragen an den Grenzen des Lebens in aller Regel auch ethische Problemwahrnehmungen der Mitarbeitenden, vor allem der Pflegekräfte, seltener der Ärztinnen, Ärzte und Ehrenamtlichen. Anlässe sind unter anderem die Nichtbeachtung des Patientenwillens, Zweifel am Nutzen einer kurativen Behandlung, Konfliktsituationen im Team und (nicht näher spezifizierte) organisationsethische Fragen. Genannt werden auch die fehlende Transparenz im Behandlungspfad, Probleme mit den Hierarchien im Krankenhaus sowie die Angst von Mitarbeitenden, eine Fallbesprechung einzuberufen. Einem Großteil der dargestellten ethischen Situationen liegt, wie in der folgenden Schilderung, ein Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstverständnis des Personals und den Abläufen in der Klinik zugrunde: Also, die Pflegedienstleitung einer Station bat mich um ein Gespräch. Sie berichtete von einer sterbenden Patientin, die aus ihrem Zimmer verlegt wurde, um für zwei weitere Patienten Platz zu machen, die über die Notaufnahme ins Haus gekommen sind. Zum Verständnis: Es gibt bei uns im Haus eine Dienstanweisung im Umgang mit Sterbenden. Sie lautet: Sterbende sollen nicht aus ihrem Patientenzimmer verlegt werden! Doch die diensthabende Nachtschwester wurde vom Arzt genötigt, die finale Patientin auf eine andere Station zu verlegen. Vier Stunden später verstarb diese Patientin. Die Nachtschwester berichtete ihrer Vorgesetzen: „Wir haben hier doch ein Leitbild. Wie kann man so was machen?“ Die Pflegedienstleitung dieser Station wollte sich nicht direkt an

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Was ist Ethik in der Klinik?

den Vorstand wenden, sondern hat versucht, mich als Begleiter, Unterstützer, zu nutzen. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Wie im obigen Beispiel schildern auch andere Seelsorgende, dass sie sich in ethischen Fragen als Vertrauenspersonen adressiert fühlen, die nicht vollständig in die Logik des Krankenhauses eingebunden sind, sondern kritische Distanz und Nähe zur Klinik vereinen. Gerade diese besondere Position der Seelsorgenden führt ihrer Meinung nach dazu, dass Pflegende und Ärzte offen ihre eigenen Wahrnehmungen und inneren Konflikte zum Ausdruck bringen. Eine Seelsorgerin bringt dies auf den Punkt: Es wird schon gesehen, dass ich zwar zum System gehöre, aber trotzdem von außen komme. Es wird schon gesehen, dass ich eine Schweigepflicht habe, dass ich nicht in der Hierarchie drin bin […], also ich darf frei denken, und das wird gesehen und das wird wertgeschätzt. (I Christine Stein-Böttler 25. 10. 2011 E)

Demgegenüber gibt es ethische Themen, die Seelsorgerinnen und Seelsorger den Interviews zufolge selbst einbringen bzw. stärken. Drei Arten ethischer Problemfelder lassen sich unterscheiden: Zum einen handelt es sich um Situationen, in denen Interessen von Patienten in Entscheidungsprozessen unzureichend berücksichtigt werden. So schildert eine Seelsorgerin die Entscheidung über die Hospizunterbringung eines Patienten als Konflikt, in dem sie von sich aus eine sehr aktive Rolle einnimmt: Der Patient wünscht, dass er in eine heimatnahe Einrichtung verlegt wird. Als sich herausstellt, dass es in diesem Hospiz Wartezeiten gibt, soll er in einem anderen, ebenfalls recht heimatnahen, Hospiz untergebracht werden, was er jedoch klar ablehnt. Für die Seelsorgerin stellt die Spannung zwischen dem Wunsch des Patienten einerseits, ökonomischen Interessen, Zwängen der Klinik und Gerechtigkeitsfragen andererseits (der Patient belegt ein Bett auf der Palliativstation, auf das ein anderer Patient wartet), einen ethischen Konflikt dar, in dem sie selbst zum „Sprachrohr“ des Patienten wird und sich für die heimatnahe Verlegung einsetzt (I Christine Stein-Böttler 25. 10. 2011 E). Ein zweiter Komplex ethischer Themen, den Seelsorgende erkennbar von sich aus thematisieren, umfasst Situationen, die im weitesten Sinne dadurch charakterisiert sind, dass Patienten oder Angehörige in bestimmten Prozessen unzureichend begleitend werden. Etwa die Hälfte der Seelsorger beschreibt solche Situationen, zum Teil als erste Reaktion auf die Frage nach der Bedeutung ethischer Themen in ihrem Alltag. So kommt Seelsorgerin Kerstin Heine zunächst darauf zu sprechen, dass Fragen des Übergangsmanagements für sie von ethischer Relevanz sind, obgleich diese möglicherweise nicht zu den ‚klassischen‘ klinisch-ethischen Entscheidungskonflikten gehören:

Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden

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Eine ethische Fragestellung, ich weiß aber nicht, ob das in Ihren Bereich noch zählt, ist die Frage ganz häufig im Bereich der Geriatrie und der Palliativstation, wie sollen Menschen im Anschluss an die Behandlung im Krankenhaus weiter untergebracht werden? Da nehme ich häufig auch so eine Übergriffigkeit war: „Das geht doch nicht, dass die Frau weiter alleine zu Hause lebt. Da müssen wir doch […].“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin beschreibt in der Folge eine konkrete Situation, in der es um die Entlassung einer alten Patientin geht. Ihrer Wahrnehmung nach wird von Seiten der Klinik und der Angehörigen entschieden, dass die Patientin in ein Heim verlegt werden soll, ohne dass der Patientin ausreichend Zeit gegeben wird, diese Entscheidung mitzutragen. Sie resümiert: Aber ich erlebe das manchmal auch, dass da sehr unbarmherzig so ein Fall abgehakt wird. Wo ich mich dann auch frage, wo ist dann das evangelische Profil? Die Alternative heißt ja dann nicht unbedingt „ab nach Hause“ oder „ab ins Heim“, sondern die Frage ist, wie begleiten wir die Frau auf dem Prozess? Und, welchen Raum geben wir ihr dafür, dass sie jetzt eben diesen Weg auch innerlich gehen kann? (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Auf die Frage nach der Bedeutung ethischer Themen kommt ein anderer Seelsorger auf Begebenheiten zu sprechen, in denen es um die Begleitung von Krebspatienten nach Aufklärungsgesprächen geht. Er fasst zusammen: Wo es um lebensgeschichtliche Fragen geht, wo es um emotionale Dinge geht, Angstzustände, einfach Begleitung, dass jemand da ist; manchmal sind das auch Probleme mit den Ehepartnern, die durch eine Erkrankung, eine schwere Erkrankung, noch einmal besonders an die Oberfläche kommen. Da haben wir so ein bisschen, ich hab da so die begleitende Funktion, insbesondere was die emotionale Seite betrifft. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Einer mangelnden Begleitung von Patienten liegen grundliegende organisationskulturelle bzw. -ethische Fragen zugrunde. Dass Kulturfragen für sie ein Bestandteil ethischer Themen im Krankenhaus sind, formuliert Seelsorgerin Carla Drews explizit und benennt damit einen dritten Themenbereich, den Seelsorgende aktiv einbringen: Insgesamt sind wir in der Ethikarbeit auch oft an der Fragestellung […], welche ethischen Fragen gucken wir an. Die ganze Fragestellung diakonische Kultur hat ja auch mit ethischen Fragestellungen zu tun. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Als Beispiel für eine Frage diakonischer Organisationskultur führt sie an: Also wir hatten gerade die Fragestellung [lacht], was drückt sich aus, wenn eine Mitarbeiterin gestorben ist, und wie geht das Haus damit um. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Zwei andere Seelsorgerinnen verstehen unter Kulturfragen das konkrete Miteinander zwischen Ärzten und Pflegekräften. Beispiele sind die mangelnde

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Was ist Ethik in der Klinik?

Einbeziehung von Pflegenden in eine Entscheidungsfindung zum weiteren Behandlungsprozess in (zumindest von Seiten der Pflege) konflikthaft empfundenen Situationen oder aber die Geringschätzung von Pflegenden durch Medizinerinnen und Mediziner, die sich beispielsweise dadurch ausdrückt, dass von Pflegenden ‚Dienstmädchentätigkeiten‘ erwartet werden, die nicht im Bereich des pflegerischen Berufsprofils liegen. Festzuhalten ist, dass sich insgesamt drei größere ethische Themenbereiche identifizieren lassen, die von Seelsorgenden selbst eingebracht werden: eine mangelnde Berücksichtigung von Patienteninteressen in Entscheidungsprozessen, eine unzureichende Begleitung von Patienten oder Angehörigen sowie grundsätzliche Fragen der Organisationskultur, die nicht nur Patienten, sondern auch die Berufsgruppen in der Klinik betreffen. Fast alle Seelsorgende bringen zum Ausdruck, dass es in ihrer Klinik wenig Raum gibt, diese Fragen zu diskutieren. Deutlich formuliert dies Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach: Solche grundlegenden [Fragestellungen], wo also Medizin und Ethik grundlegend aufeinander krachen, […] diese Fragen, dafür […] sehe ich in diesem Haus im Moment keinen Ort. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Inwiefern Seelsorgende selbst organisationskulturelle Themen in der Institution präsent halten und zwischen Anliegen von Einzelnen und den Rahmenbedingungen in der Klinik vermitteln, wird in Kapitel 3.2 ausführlich dargestellt.

b)

Was das seelsorgliche Verständnis von Ethik kennzeichnet

Die differenzierte Betrachtung der von Seelsorgenden beschriebenen ethischen Situationen deutet auf eine eigene Charakteristik im seelsorglichen Verständnis von Ethik hin. Diese zeigt sich darin, dass für Seelsorgende die relationale Dimension von ethischen Situationen eine herausgehobene Bedeutung hat. Wie oben veranschaulicht, haben Theologinnen und Theologen in der Klinik oft eine systemische Perspektive auf ethische Fragen und damit in hohem Maß auch das Umfeld des Betroffenen im Blick. Dies können Angehörige, aber auch Freunde oder Mitarbeitende aus dem Betreuungsteam sein. Deutlich wird der charakteristische Blick der Seelsorgenden auf Ethik zudem dadurch, dass ihnen auch Probleme der Organisationskultur als ethische Fragen gelten. Seelsorgerin Carla Drews formuliert: Was ich wichtig finde, ist, dass […] dieser Teil „medizinethische Fragestellungen“ der eine Teil ist, aber es eben noch einen großen Raum von ethischen Fragestellungen in Richtung diakonische Kulturfragestellungen und so weiter gibt, wo ich die Abgrenzung schwierig finde. Oder Fragestellungen in der Klinik, wenn, was ich ja auch manchmal habe, so diese Situation von Patienten, wenn die in einer Entscheidungsphase sind oder Entscheidungsphase in Anführungsstrichen, gehe ich in ein Heim oder nicht, meistens

Ethische Probleme aus Sicht von Seelsorgenden

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ist es keine reale Entscheidung, wo ich immer denke, dass das, was „ethische Frage“ bedeutet, eben, sehr sehr viel weiter ist […]. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Wie dem Zitat zu entnehmen ist, qualifizieren Seelsorgende neben „medizinethische[n] Fragestellungen“ beispielsweise auch eine unzureichende Begleitung von Patienten als ethisches Problem. Darüber hinaus werten Seelsorgende auch bestimmte Fragen der Lebensführung als ethisches Thema (siehe Abschnitt IV.). Dies gilt sowohl innerhalb eines Entscheidungsprozesses als auch im Anschluss. Seelsorgende – eine dritte Charakteristik im Verständnis von Ethik – betrachten eine Problemsituation offensichtlich nicht dort als beendet, wo es zu einer Entscheidung in der ethischen Frage gekommen ist. Eine Seelsorgerin schildert beispielhaft für ähnliche Situationen eine Besprechung, in der ein Patient sich gegen eine weitere Therapie entschieden hat. In diesem Fall wurde anders entschieden, als es sich einzelne Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter gewünscht haben, und die Seelsorgerin ist nach dem interdisziplinären Gespräch noch einmal als Seelsorgerin gefragt: Das hab ich auch schon erlebt, dass dann hinterher nochmal jemand auf mich zukommt und so sagt: „Das ist mir ganz schön schwer gefallen. Der hat ja jetzt entschieden.“ Und also, wo ich da nochmal ein Gespräch geführt habe, und [Pause], ja, das auch als meine seelsorgerliche Aufgabe verstehe. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Andere Beschreibungen der Seelsorgenden machen wiederum deutlich, dass eine ethische Situation für sie nicht mit der anstehenden Entscheidung beginnt, sondern einen zeitlichen Vorlauf hat, in den sie unter Umständen involviert sind.17 Festzuhalten ist, dass das seelsorgliche Verständnis von ethischen Fragen weit ist und deutlich über ‚klassische‘ klinisch-ethische Entscheidungssituationen hinausgeht. Diese zeichnen sich unter anderem durch eine Gegenüberstellung verschiedener Handlungsoptionen in Behandlungsfragen aus. Kennzeichen einer ‚klassischen‘ klinisch-ethischen Entscheidungssituation und eines demgegenüber weiteren seelsorglichen Verständnisses von Ethik werden in Abschnitt IV. weitergehend veranschaulicht. Wie nicht zuletzt aus den Interviews hervorgeht, sind die Begleitung und das Mitaushalten der Not verschiedener Personen, die an ethischen Problemen in der Klinik beteiligt sind, für das professionelle Selbstverständnis der Seelsorgenden grundlegend. Theologen in der Klinik agieren vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Berufsverständnisses, das auch in der Wahrnehmung ethischer Themen und im Umgang mit diesen deutlich zur Geltung kommt.18 Einige der Seelsorgenden schildern, mit welchen besonderen Erwartungen sich ihr Gegenüber im 17 Siehe dazu Kapitel 3.1, I. 18 Siehe dazu Kapitel 3.1–3.3.

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Was ist Ethik in der Klinik?

Falle eines ethischen Problems an sie wendet, andere machen deutlich, welchen Aspekten sie in ethischen Fragen von sich aus besondere Aufmerksamkeit schenken. Sofern Seelsorgende solche Beschreibungen liefern, stehen oftmals Themen wie Angst, Sünde und Schuld im Vordergrund. So berichten mehrere Seelsorgende von ethischen Problemsituationen, als deren Kern sie Schuldgefühle von Angehörigen identifizieren. Unter anderem dieser Aspekt wird in Kapitel 3.1. ausführlicher beschrieben.

III.

Erwartungen von Seelsorgenden an die Institutionalisierung von Ethik

Alle Seelsorgerinnen und Seelsorger, mit denen im Rahmen der Studie Gespräche geführt wurden, berichten mehr oder weniger ausführlich von bisherigen und geplanten Aktivitäten institutionalisierter Ethikarbeit in ihrem Krankenhaus. Sie beschreiben verschiedenen Aufgaben dieser Ethikarbeit, die ethische Fallbesprechungen, Richt- und Leitlinienentwicklung, Weiterbildung und verschiedenste Bemühungen zur Entwicklung einer besseren Unternehmenskultur umfassen. Dabei wird deutlich, dass die Theologinnen und Theologen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, zur Erfüllung welcher Funktionen klinische Ethikarbeit (hauptsächlich) dienen soll. Im Folgenden wird dargestellt, welche Erwartungen Seelsorgende mit dem Prozess der Institutionalisierung von Ethik in ihrer Klinik verbinden. Seelsorger Florian Ahrens, von dem im letzten Abschnitt bereits die Rede war, ist seit kurzem Vorsitzender des Ethikkomitees seines Krankenhauses, wobei er seine leitende Funktion als bislang wenig ausgeprägt beschreibt. In der Rolle des „Übersetzers, Begleiters“ nimmt er an Teambesprechungen auf Station teil, die seiner Beschreibung nach ein gutes Instrument sind, verschiedene Perspektiven auf einen ‚Fall‘ zusammenzubringen. Er schildert ein Beispiel: Ich erinnere mich an Situationen, wo wir also im großen Kreis – Angehörige, Psychologen, Ärzte, ich – sitzen, und es dreht sich im Kreise. Und dann kommt plötzlich.. ich erinnere mich an eine Situation, die war auch ganz typisch, wo zwischen den Zeilen, die Angehörigen, wo ich dann so raushörte, das eigentliche Problem lag darin, dass die Schuldgefühle hatten: „Wenn wir unsere Mutter vier Wochen früher hier hergebracht hätten, da waren ja auch schon Anzeichen, hätte man sie da noch retten können.“ Das war die eigentliche Frage. Und dann habe ich das irgendwie zwischen den Zeilen rausgehört und habe das dann in dieser Runde mal so angesprochen […]. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Florian Ahrens bringt hier die Annahme zum Ausdruck, dass ein Gremium in strukturierter Weise besser mit ethischen Fragen umgehen kann als einzelne Mitarbeitende auf Station. Infolge der Institutionalisierung von Ethik ist der Seelsorger in vereinbarter Weise an Fallbesprechungen beteiligt. Im oben ge-

Erwartungen von Seelsorgenden an die Institutionalisierung von Ethik

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schilderten Beispiel kann er im Zuge dessen zu einer Lösung einer Konfliktsituation beitragen, indem er Schuldgefühle der Konfliktbeteiligten, die der ethischen Situation zugrunde liegen, explizit zum Thema macht. Neben einer Beteiligung an Falldiskussionen auf Station und der damit verbundenen Möglichkeit, Konfliktsituationen in ihrer Dynamik zu verändern, scheint für Florian Ahrens mit der Institutionalisierung von Ethik die Erwartung verbunden zu sein, Defizite in der Kommunikation zwischen den Berufsgruppen Medizin und Pflege und zwischen Ärzten und Patienten zu verbessern.19 Diese Erwartung ist folgender Passage zu entnehmen, in der die Arbeit des Ethikkomitees näher beschrieben wird: Kommunikationsfragen spielen bei uns eine ganz große Rolle. […] Das Problem ist die Kommunikation zwischen Pflegedienst und ärztlichem Dienst. Das ist wahrscheinlich in jedem Krankenhaus ein Problem […], und das haben wir [die Mitglieder des Komitees] jetzt so thematisiert, um zu überlegen, wie können wir das verbessern. Das fängt damit an, dass wir jetzt zum Beispiel hier im Haus eine Weiterbildung gemacht haben für Ärzte, also ein richtiges Training, Arzt-Patienten-Gespräche. Das ist bei uns im Haus eine superwichtige Angelegenheit. Also, wenn die Arzt-Patienten-Gespräche gut laufen, dann erspart man sich später schwierige Situationen, zum Beispiel auf der Intensivstation. Es gibt manchmal den flapsigen Ausdruck, also viele Patienten, die auf der Intensivstation liegen, sind eigentlich fehlgeschlagene Kommunikation. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Eine Erwartung des Seelsorgers an die Institutionalisierung von Ethik liegt dem Zitat zufolge auch auf Ebene der Kultur des Hauses, die in bestimmter Hinsicht verbessert werden soll. Dass Kultur- und Ethikarbeit ineinander übergehen und die Abgrenzung zwischen beiden Feldern nicht immer deutlich ist, bringt eine andere Seelsorgerin offen zum Ausdruck: Im Ethikkomitee habe ich dadurch, dass ich so ein Stück diese Leitungsaufgabe mache, eine stark moderierende Rolle. Ich habe auch oft die Rolle zu versuchen, Konflikte innerhalb von Menschen irgendwie zu begleiten, sage ich mal, und ich habe manchmal inhaltlich da die Rolle, den Blick von medizinethischen Fragestellungen noch einmal zu weiten. Auf andere Fragestellungen, wobei ich da selber nicht so klar bin. Weil ich merke, dass gerade in unserem Haus hier in diesem Prozess Ethikarbeit und in dem Prozess diakonische Kultur sich auch etwas begegnet, wo […] manchmal dann auch stärker das Thema diakonische Kultur angesprochen ist. […] Gerade die Frage des Umgangs miteinander hat ja auch eine ethische Komponente und ist aber weitergehend eine kulturelle Frage eines Hauses. Aber das sind schon auch Themen, die uns auch im Ethikkomitee zumindest in Gesprächen vorher und nachher oft beschäftigen. Also so die Frage, Ärzte und Pflege, wie gehen die miteinander um. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

19 Siehe auch Kapitel 3.2.

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Was ist Ethik in der Klinik?

Auch Seelsorgerin Annette Ingelmann, in deren Haus ein Ethikkomitee im Aufbau ist, verspricht sich von der (in diesem Fall künftigen) Ethikarbeit eine Veränderung der Kultur des Miteinanders zwischen Ärzten und Pflegekräften. Im Unterschied zu Florian Ahrens und Annette Drews formuliert sie explizit, dass sie sich von einer anderen Kommunikation zwischen den beiden Berufsgruppen konkret eine Verbesserung des Status der Pflege erwartet: Das erhoffe ich mir vom Aufbau eines Ethikkomitees, dass damit dieser Austausch zwischen Schwestern und Ärztinnen und Ärzten noch mal eine andere institutionalisierte Form bekommt. Und eben auch den Schwestern ein Stückchen mehr Kompetenz an der Stelle zugetraut wird. (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Festhalten lässt sich, dass die zitierten drei Seelsorgenden der Klinischen Ethikberatung ein weites Verständnis von Ethik zugrunde legen, das – wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben – auch Fragen der Organisationskultur beinhaltet. Mit der Institutionalisierung von Ethik erhoffen sich die Theologen in der Klinik eine Veränderung in bestimmten organisationskulturellen Bereichen. Kulturfragen sind den Beschreibungen der Seelsorgenden zufolge dabei entweder direkter Gegenstand klinischer Ethikarbeit, oder aber mit der Ethikarbeit ist wie bei Seelsorgerin Annette Ingelmann zumindest die Erwartung verbunden, dass eine bestimmte Verbesserung der Organisationskultur einer ihrer zentralen Nebeneffekte ist. Aus den Äußerungen von Seelsorgerin Kerstin Heine zur bisherigen und geplanten Ethikarbeit in ihrem Haus geht hervor, dass ihre hauptsächlichen Erwartungen an die Institutionalisierung von Ethik noch einen anderen Fokus haben. Wie im folgenden Zitat deutlich wird, verweist die Seelsorgerin im Zusammenhang mit ethischen Fragestellungen auf das evangelische Profil des Hauses. Ihre Äußerung lässt vermuten, dass das, was das Profil der Klinik in der Praxis ausmacht, von einer Teilgruppe der Mitarbeitenden getragen wird. Von einer stärkeren Institutionalisierung von Ethik erhofft sich die Seelsorgerin offensichtlich eine höhere Verankerung und Verbindlichkeit dieses Selbstverständnisses, dieser Richtschnur für ethisches Handeln, im Gesamtunternehmen: Also, wir haben eine Palliativstation, wir haben eine Geriatrie und wir haben eine Chirurgie, wo ich schon als Krankenhausseelsorgerin meine, da ergeben sich immer wieder so ähnliche Fragestellungen, bei denen es sich lohnen würde, ja, so etwas wie Leitlinien für das evangelische Krankenhaus zu formulieren. Abgesehen davon, dass natürlich im Einzelfall Ansprechpartnerinnen und -partner für Angehörige, für Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen sollten. Und die gibt es auch nicht, jedenfalls nicht definierter Weise. Das hängt dann davon ab, wie die Beteiligten, ja wie sensibel die sind, und an wen man da gerade gerät. Das finde ich schwierig. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Erwartungen von Seelsorgenden an die Institutionalisierung von Ethik

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Die Seelsorgerin verbindet mit der Ethikarbeit über die Formulierung von „Leitlinien für das evangelische Krankenhaus“ die Erwartung, dass verbindliche Maßstäbe für ethische Fragen gesetzt (und möglicherweise durchgesetzt) werden. Auch wünscht sie sich, dass es im Umgang mit ethischen Fragen feste Ansprechpartner für Patienten und Angehörige gibt, die sich in ihrem Umgang mit ethischen Fragen – so kann vermutet werden – am Selbstverständnis der evangelischen Klinik orientieren. Wiederum anders gelagert und grundsätzlicherer Art sind die Vorstellungen, die Seelsorgerin Carla Drews mit der Einführung strukturierter Ethikberatung verbindet. Die Seelsorgerin, die oben bereits im Zusammenhang der Verzahnung von Ethik- und Kulturarbeit zitiert wurde, erwartet sich von der Institutionalisierung von Ethik eine Art Legitimation für das Einbringen ihrer ethischen Perspektiven. Wie der folgenden Schilderung zu entnehmen ist, befürchtet sie, ansonsten als Theologin im Alltag des Krankenhauses in einer moralisierenden Rolle wahrgenommen zu werden. Wenn eine Patientin sich über irgendetwas beklagt und ich noch einmal eine Rückfrage stelle, dann erlebe ich eine große Sensibilität oder zumindest eine Empfindlichkeit, dass es so [als Einmischung der Seelsorge] wahrgenommen werden kann. […] Da erlebe ich Seelsorge ziemlich am Rande oder denke, [Pause] möchte auf jeden Fall nicht, […] dass Mitarbeitende den Eindruck gewinnen, dass Seelsorge was beurteilt. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Mit der Institutionalisierung von Ethik scheint für sie einherzugehen, dass das Hinterfragen bestimmter Abläufe oder Prozesse einen geregelten Ort bekommt und ihr Agieren damit in ein anderes Licht rückt. Meine Hoffnung mit der Ethikarbeit und der ethischen Fallbesprechung ist […] die, dass das [das Hinterfragen durch die Seelsorge] auf einer strukturierten Ebene gelingen kann […]. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Insgesamt verbinden Seelsorgende mit der Einführung strukturierter Ethikarbeit in ihrer Klinik unterschiedliche Erwartungen. Dies sind zum Beispiel eine stärkere systematische Einbindung seelsorglicher Perspektiven in Entscheidungsfindungsprozesse, eine institutionelle Verortung der Diskussion organisationskultureller Probleme oder aber die grundsätzliche Legitimation, vorhandene ethische Fragen von Seiten der Seelsorge zum Thema zu machen. Unterschiedlich gelagerte Erwartungen der Seelsorgenden sind dabei ebenso wie die Rolle von Seelsorgenden im Umgang mit ethischen Fragen von verschiedensten Faktoren abhängig. Zu diesen gehören die Einbindung von Theologen in das System Krankenhaus, wozu beispielsweise die seelsorgerliche Nähe oder Verbundenheit zu bestimmten Berufsgruppen zu rechnen ist. Erwartungen von Seelsorgenden werden auch von der grundsätzlichen Akzeptanz der seel-

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Was ist Ethik in der Klinik?

sorgerlichen Profession in der Klinik beeinflusst, die wiederum mit der Kultur eines Krankenhauses zusammenhängt.

IV.

Das Ethikverständnis von Seelsorgenden: Ein Modell zur Klassifikation ethischer Situationen

Die vorangegangenen Abschnitte haben verdeutlicht, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger ein breites Verständnis von Ethik zeigen, das über die auf Behandlungsentscheidungen ausgerichtete Reflexion ethischer ‚Fälle‘ deutlich hinausgeht. Dieses Ethikverständnis, das mit unterschiedlichen Erwartungen an die Institutionalisierung von Ethik einhergeht, lässt sich für die Zwecke der vorliegenden Studie moderat verallgemeinern und systematisieren. Dies geschieht in Form einer Klassifikation ethischer Situationen. Veranschaulicht werden verschiedene Typen ethischer Situationen, die sich durch bestimmte Merkmale unterscheiden (siehe Abbildung 2). In der Abbildung hervorgehoben ist eine ‚klassische‘ klinisch-ethische Entscheidungssituation, auf die sich die professionalisierte Medizinethik – zum Beispiel in der Fortbildung an ethischen Fällen – bezieht. Es zeigt sich, dass die diesen Situationstyp charakterisierenden Merkmale jeweils für bestimmte Thematisierungshinsichten des Ethischen stehen. In klinisch-ethischen Entscheidungssituationen geht es um Behandlungsentscheidungen, zu denen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine explizite Abwägung getroffen wird. Beteiligt sind das medizinische Team, Angehörige und ggf. weitere Personen im institutionalisierten Setting einer ethischen Fallbesprechung. Neben diesen für die klinischethische Entscheidungssituation im engeren Sinne charakteristischen Thematisierungshinsichten gibt es andere, die zu weiteren ethischen Situationen führen: So muss das Thema keine Behandlungsentscheidung, sondern kann eine Frage der Organisationskultur sein, die Gesprächssituation und das Zeitschema können andere sein etc. Wenn die in der Abbildung dargestellten ‚Merkmalsbalken‘ in der Horizontalen verschoben werden, ergeben sich jeweils andere Situationstypen. Die ‚klassische‘ klinisch-ethische Entscheidungssituation ist also eingebettet in ein mehrdimensionales Feld ethischer Situationen, zwischen denen es im Klinikalltag mannigfache Beziehungen und Übergänge gibt. Allen ethischen Situationen ist lediglich gemeinsam, dass ein „ethisches“ Problem im Raum steht, das der Thematisierung bedarf.20

20 Ist die Definition „ethischer Situationen“ also zirkulär, insofern sie ein Vorverständnis des „Ethischen“ voraussetzt? Dieses Bedenken lässt sich nur teilweise ausräumen, insofern im Folgenden bestimmte ethische Themen („Merkmal 1: Thema“) benannt werden, die dieses Vorverständnis des „Ethischen“ material unterlegen. Darüber hinaus ist der Umfang des

Das Ethikverständnis von Seelsorgenden

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Abbildung 2: Klassifikation ethischer Situationen in der Klinik nach (weithin) voneinander unabhängigen Merkmalen. Hervorgehoben ist die institutionalisierte klinisch-ethische Entscheidungssituation, wie sie die professionalisierte Medizinethik (etwa in der Ausbildung an ethischen Fällen) im Blick hat. Bei jeder horizontalen Verschiebung eines ‚Merkmalsbalkens‘ ergibt sich eine andere ethische Situation.

Bevor Beispiele für ethische Situationen beschrieben werden, soll zunächst näher auf potenzielle Merkmale ethischer Situationen eingegangen werden, denen die einzelnen ‚Merkmalsbalken‘ zugeordnet sind. Der Merkmalsbalken „Thema“ umfasst neben dem Thema Behandlungsentscheidung die Themen Organisationsethik bzw. -kultur und Ethik der Lebensführung. Themen der Organisationskultur nehmen bei Seelsorgenden großen unter „Ethik“ Thematisierbaren in der Tat variabel; er hängt von der Gesprächskultur einer Klinik ebenso ab wie von der fortschreitenden Professionalisierung der Ethik in der Klinik. Die Zirkularität der Definition weist also auf die kontingente Extension des Ethikbegriffs im Kontext der klinischen Medizin.

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Was ist Ethik in der Klinik?

Raum ein und umfassen ein – oben bereits beschriebenes – weites Spektrum an Fragestellungen, die beispielsweise die Kommunikation unter den Berufsgruppen, das Wertschätzungserleben von Mitarbeitenden oder die Bedeutung von Leitbildern im Berufsalltag betreffen. In der Regel liegt diesen Fragestellungen eine Spannung zwischen grundlegenden Orientierungen, die das Verhalten von Mitarbeitenden im System Krankenhaus steuern, und Erwartungen der Organisationsmitglieder an den Umgang mit der eigenen Person oder anderen Beteiligten in der Klinik zugrunde.21 Fragen, die die Ethik der Lebensführung betreffen, sind demgegenüber auf die Art und Weise gerichtet, wie einzelne Personen im Klinikkontext ihr alltägliches Leben gestalten. Hier kann es etwa darum gehen, ob Sterbende einem Angehörigen den Zutritt ins Krankenzimmer verweigern dürfen, oder ob Angehörigen die Möglichkeit eingeräumt werden soll, einen Sterbenden noch einmal zu sehen und sich zu verabschieden (siehe dazu I Kerstin Schlegel 8. 5. 2012 T). Der Merkmalsbalken „Kommunikation“ unterscheidet ethische Situationen nach dem Explizitheitsgrad von Ethik. Nicht immer sind ethische Fragen explizit, also im Modus der ausdrücklichen Abwägung des Für und Wider von Entscheidungsoptionen thematisch. Vielmehr stehen explizite Abwägungen neben einer Fülle von impliziten Formen der Kommunikation – etwa dann, wenn durch eine bloße Geste eine normative Übereinkunft affirmiert (siehe dazu F Susanne Christlieb 9. 2. 2012 T, F Susanne Christlieb 21. 2. 2012 T, M Susanne Christlieb 3. 7. 2014 T) oder moralische Zustimmung signalisiert wird (siehe dazu I Ruth Lange 8. 5. 2012 T). Hinsichtlich des Zeitschemas (Merkmalsbalken „Zeit“) reichen die in der Studie beobachteten Situationstypen von der Konzentration auf eine punktuelle Entscheidung über den viele Stationen umfassenden Entscheidungsprozess bis hin zu einer Vor- oder Nachbegleitung einer Entscheidung, in die die Seelsorgenden besonders intensiv einbezogen sind. Ein besonderer Situationstyp zeichnet sich dadurch aus, dass ein Problem zwar in für die Beteiligten wahrnehmbarer Weise im Raum steht, aber keine Schritte zu seiner Bewältigung unternommen werden („alles läuft weiter“). Eine solche latente ethische Situation kann, muss aber nicht in einen Entscheidungsprozess übergehen. Unterscheiden können sich ethischen Situationen auch hinsichtlich der Personen, die an ihnen beteiligt sind (Merkmalsbalken „Involvierte“). Möglich sind Situationstypen, an denen nur Arzt bzw. Ärztin und Patient teilhaben, aber auch Situationen, in denen Team und Angehörige oder auch ein erweiterter Kreis von Angehörigen und Freunden involviert sind. Hier sind zahlreiche Kombinationen denkbar, die nicht alle in der Abbildung 2 benannt sind.

21 Siehe dazu auch Kapitel 3.3 und 3.4.

Das Ethikverständnis von Seelsorgenden

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Der Merkmalsbalken „Raum“ schließlich differenziert die Gesprächssettings nach ihrem Institutionalisierungsgrad. In der Klinik gibt es zahlreiche Gesprächssituationen, in denen bestimmte institutionelle Erwartungen an das Verhalten der Beteiligten bestehen. Das gilt insbesondere für organisierte Formen ethischer Kommunikation wie die ethische Fallbesprechung, aber auch für Dienstbesprechungen und Gespräche am Krankenbett (etwa die Visite oder das Seelsorgegespräch). Die Erwartungen an Seelsorgende sind hier jeweils andere; so wird – je nach Klinik – erwartet, dass die Seelsorgerin am Krankenbett als Vertrauens- bzw. Amtsperson spricht, in Dienstbesprechungen als Teil des Teams auftritt und in der Leitung eines Ethikkomitees als neutrale Moderatorin agiert. Solchen stärker oder schwächer institutionalisierten ethischen Situationen steht die besondere Kategorie der weniger erwartungsgeprägten Gespräche zwischen Tür und Angel gegenüber, die mehrere Seelsorgende als eine eigene Kategorie von Begegnungen herausstellen. Ethische Situationen zeichnen sich also durch eine Vielzahl unterschiedlicher Merkmalen aus. Die ‚klassische‘ klinisch-ethische Entscheidungssituation stellt lediglich einen Situationstyp in einem umfangreichen Feld der Situationen dar. Ein Beispiel für einen anderen Situationstyp, eine typische Thematisierungsweise von Kulturfragen, ist in Abbildung 3 dargestellt. Themen der Organisationskultur werden oftmals implizit oder wenigstens indirekt, über einen längeren Zeitraum hinweg (also prozesshaft), unter Mitarbeitenden zwischen Tür und Angel verhandelt. Die Beobachtungen der Studie zeigen, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger an den in den Abbildungen veranschaulichten und an verschiedenen anderen ethischen Situationstypen beteiligt sind. Weitere Beispiele sind ethische Situationen, in denen Fragen der Lebensführung verhandelt werden, oder aber Situationen, in denen Rituale zum Einsatz kommen. Auf Situationstypen, an denen Seelsorgende ihrer Beschreibung nach mitwirken, wird in Teil 3 differenziert eingegangen. Deutlich wird anhand des Materials der Studie nicht nur, dass Seelsorgende in verschiedene Situationstypen involviert sind, sondern dass sie darüber hinaus entscheidend mitverantwortlich sind für die Übergänge zwischen einzelnen Situationen. Seelsorgende verändern durch verschiedene Strategien den Zuschnitt oder den Ablauf von Entscheidungsstrukturen und -prozessen und tragen so unter anderem zur Weitung, Öffnung und Verlagerung von institutionalisierten Entscheidungssituationen bei. Ein Beispiel ist die Öffnung einer klinisch-ethischen Entscheidungssituation für einen größeren Kreis von An- oder Zugehörigen. Mehrfach gibt das Studienmaterial Anhalt dafür, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger Entscheidungssituationen in einen größeren Beziehungskontext stellen und darauf hinwirken, dass zusätzliche Personen oder Personengruppen an der Entscheidung partizipieren. Auch machen Seelsorgende in der Klinischen

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Was ist Ethik in der Klinik?

Abbildung 3: Alternative ethische Situationen in der Klinik. Hervorgehoben ist eine typische Thematisierung von Kulturfragen.

Ethikberatung auf Ungewissheiten oder Unklarheiten aufmerksam, was unter Umständen dazu führt, dass Entscheidungen verschoben werden. In anderen Situationen wiederum führen Seelsorgende explizite Entscheidungssituationen herbei, indem sie beispielsweise in einer unklaren Behandlungssituation die Einberufung einer Fallbesprechung initiieren oder forcieren.22 Das Agieren der Seelsorgenden wird dabei von deren in Abschnitt III beschriebenen heterogenen Erwartungen an die Institutionalisierung von Ethik beeinflusst. Auch in nichtinstitutionalisierten Settings wirken Seelsorgende entscheidend an der Gestaltung von Entscheidungsprozessen und -strukturen mit. So geben Seelsorgende zum Beispiel in der Begleitung von Angehörigen bei einer Entscheidungsfindung der eigentlichen Entscheidungsphase einen zeitlichen Rah22 Siehe dazu Kapitel 3.1.

Fazit: Ein weiter Ethikbegriff markiert Diskrepanzen

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men nach hinten und nach vorne, indem sie die Begleitung nach der Entscheidung fortführen und bereits vor der eigentlichen Entscheidungssituation als Ansprechpartner für Angehörige präsent sind. In Kapitel 3.1 wird neben der ausführlicheren Darstellung verschiedener ethischer Situationstypen auch differenziert beschrieben, inwiefern Seelsorgende Übergänge zwischen verschiedenen ethischen Situationen gestalten.

V.

Fazit: Ein weiter Ethikbegriff markiert Diskrepanzen im Klinikalltag

In den Abschnitten II. bis IV. wurde analysiert, welches Verständnis Seelsorgende von Ethik haben und welche Erwartungen sie mit der Institutionalisierung von Ethik verknüpfen. Die diesbezüglichen Beschreibungen der Seelsorgenden lassen Schlussfolgerungen dahingehend zu, welche Funktion Ethik für die Theologinnen und Theologen im Krankenhaus hat. Deutlich wurde, dass Seelsorgende den Begriff Ethik recht selbstverständlich für Phänomene nutzen, die sie im Krankenhaus als problematisch wahrnehmen. Das Feld möglicher Themen ist dabei weit. Kommunikationsprobleme, die mangelnde Begleitung einer Patientin in einem Entscheidungsprozess, ein Konflikt zur künstlichen Ernährung – vielfältig sind die Situationen, die Seelsorgende mit Ethik in Verbindung bringen. Ethik scheint zunächst einmal die Funktion zu haben, auf ein Defizit im Umgang mit beteiligten Personen in der Klinik bzw. eine mangelnde Klarheit in Behandlungsprozessen hinzuweisen und die Routine im System Krankenhaus zu unterbrechen. Insbesondere dort, wo Seelsorgende von sich aus auf ethische Fragen hinweisen, wird deutlich, was ihnen hinsichtlich der Funktion von Ethik besonders wichtig ist. Wie im Kapitel an Beispielen veranschaulicht wurde, machen Seelsorgende mit dem Begriff in vielen Fällen auf die Diskrepanz zwischen individuellen Bedürfnissen von vor allem Patienten, aber auch Angehörigen oder dem Personal, und den Abläufen in der stationären Behandlung aufmerksam. Dies insbesondere dann, wenn es sich um Patientinnen oder Patienten handelt, die im Krankenhaus in irgendeiner Weise benachteiligt erscheinen. Ein Beispiel ist der fehlende Raum dafür, dass die alte Patientin innerlich den Weg mitgehen kann, nicht mehr nach Hause zurück zu können. Ein anderes Beispiel ist die mangelnde Berücksichtigung des Wunsches des unheilbar kranken Patienten, seine letzte Lebenszeit in einem heimatnahen Hospiz zu verbringen. Auch die unzureichende emotionale Begleitung eines Kranken, der sich, wie Seelsorger Florian Ahrens schildert, angesichts der Diagnose Krebs für oder gegen bestimmte Therapien entscheiden muss, gehört den Interviews zufolge zu einer solchen Diskrepanz.

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Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

Wie Seelsorgerin Kerstin Heine und Carla Drews sowie Seelsorger Florian Ahrens bringen auch andere Seelsorgende über den Begriff Ethik ihre kritische Einstellung gegenüber bestimmten Abläufen in der Institution Krankenhaus bzw. der Logik der modernen Medizin ins Spiel. Hier ließe sich anschließen an die Überlegungen von Michael Klessmann zur prophetischen Dimension von Seelsorge im Krankenhaus. Nach Klessmann meint prophetische Dimension „eine kritische widerständige Haltung bezogen auf einen konkreten Kontext“.23 Seelsorge muss Klessmann zufolge unter diesen Vorzeichen ihren Blick nicht nur auf den einzelnen Kranken, Angehörigen oder Mitarbeiter im Krankenhaus richten, sondern ihren Blick weiten auf die Institution, auf Politik und Gesellschaft als Gestalter des Gesundheitssystems.24 Dass Seelsorgende im Zusammenhang mit ethischen Fragen sowohl auf individueller Ebene agieren als auch den Organisationskontext im Blick haben, wird in den Kapiteln 3.1 und 3.2 dargestellt.

2.2

Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

I. Veränderte Rahmenbedingungen von Seelsorge im Krankenhaus II. Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden a) Rollen von Seelsorgenden in interdisziplinären Besprechungen b) Rollen von Seelsorgenden in Klinischen Ethikkomitees c) Wechselnde Rollen innerhalb einer ethischen Situation III. Fazit: Ethik erweitert das Rollenspektrum von Seelsorgenden Also ich bin Inhaberin einer Pfarrstelle. Und damit auch Teil des Pfarrkollegiums hier im Kirchenkreis. Ich habe Konventspflicht und bin auch Teil des Seelsorgekonventes, was ich persönlich unendlich wichtig finde, weil die Arbeit als Seelsorgerin im Krankenhaus auch eine sehr einsame Arbeit ist. Also grad mit dieser Zwischenstellung zwischen ja… Teil des Krankenhauses sein und doch nicht. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E) Was die Mitarbeitenden betrifft, ich glaube, da war am Anfang bei etlichen erst einmal so eine gewisse Distanz, da war ich ein unbeschriebener Alien, der hier plötzlich ins Krankenhaus eingeflogen ist. Ich denke mal, ich habe durch meine Art da durchaus Brücken bauen können, so dass ich für viele Mitarbeiter jetzt einfach so dazu gehöre. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E) 23 Klessmann, Dimension, 241. 24 Vgl. a. a. O., 241ff.

Veränderte Rahmenbedingungen von Seelsorge

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Und da bin ich als Seelsorgerin ja immer wieder mal auch in wechselnder Position innerhalb des gleichen Konflikts beteiligt… das ist was, was ich auch als anstrengend erlebe bei meinem Beruf. Eben zu wissen, da sind Menschen an ein und derselben Frage, und ich bin eine, die von außen dazukommt und für Verschiedene zeitweise eine Begleiterin ist. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

In den obigen Zitaten der Seelsorgenden werden zwei wichtige Aspekte angesprochen, die den Beschreibungen der Theologinnen und Theologen zufolge deren Umgang mit ethischen Situationen beeinflussen: Es geht zum einen um die Art und Weise ihres Eingebundenseins in die Klinik. Während der Seelsorger Florian Ahrens eine deutliche Tendenz beschreibt, dass er Teil des Systems Krankenhaus geworden ist, betont die Seelsorgerin Kerstin Heine ihre distanzierte Position als Grenzgängerin zwischen den Systemen Kirche und Krankenhaus. Das dritte Zitat verweist zum anderen darauf, dass Seelsorgende in ethischen Problemsituationen unterschiedliche Bezugssysteme oder Hauptadressaten haben können. Damit kann sich ebenso wie mit der Art und Weise der Einbettung in die Klinik die Rolle von Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Umgang mit ethischen Fragen ändern. Im Folgenden werden anhand von ausgewählten Beispielen ethischer Themen in der Klinik unterschiedliche Formen der Einbindung von Seelsorgenden sowie verschiedene Bezugssysteme oder -personen, die in einer ethischen Situation im Vordergrund stehen, beschrieben. Der Begriff ‚Einbindung‘ wird dabei weit gefasst und reicht von der persönlichen oder berufsgruppenspezifischen Nähe der Seelsorgenden zu bestimmten Professionen oder Einzelpersonen in der Klinik bis zur strukturellen Positionierung von Seelsorge im jeweiligen Krankenhaus. Diese wiederum steht im engen Zusammenhang mit der Kultur der betreffenden Einrichtung. Vergegenwärtigt werden soll, inwiefern sich die Art und Weise, in der Seelsorgende in den klinischen Alltag, in Strukturen und Abläufe involviert sind, auf ihren Umgang mit ethischen Fragestellungen auswirkt, und wie wechselnde Anknüpfungspunkte und Bezugspersonen ihre Herangehensweise an ethische Themen beeinflussen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, in welche zunehmend neuen Situationen und Rollen die Konfrontation mit ethischen Fragen Seelsorgende bringt.

I.

Veränderte Rahmenbedingungen von Seelsorge im Krankenhaus

Kliniken als Orte seelsorglicher Tätigkeit befinden sich in einer weitreichenden Umbruchphase. Durch Privatisierungen und die Einführung von Fallpauschalen hat die Krankenhauslandschaft einen Paradigmenwechsel erfahren. Der Alltag in

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Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

den Kliniken ist von Knappheit der Ressourcen geprägt, gleichzeitig kommen durch den medizinischen Fortschritt und den demografischen Wandel neue Herausforderungen auf die Kliniken zu: Viele Erkrankungen werden in verkürzter Verweildauer behandelt. Auf der anderen Seite ist in Zukunft mit einer höheren Anzahl von Patientinnen und Patienten mit spezifischem Versorgungsbedarf (Multimorbidität, chronische Erkrankungen, Demenz) zu rechnen. Palliativmedizinische Anforderungen nehmen zu. Durch das hohe Engagement des Personals in den Kliniken wird das Spannungsfeld zwischen hohen Anforderungen und schwierigen Rahmenbedingungen vielerorts noch ausgeglichen. Pflegende, Ärztinnen und Ärzte wie andere Berufsgruppen im Krankenhaus leiden jedoch unter dem Spagat, knappe Ressourcen und gute Patientenversorgung zusammenzubringen, und sind oft nicht mehr bereit und in der Lage, sich systematisch zu überfordern. Der Mangel an Personal wird in vielen Krankenhäusern zum Problem. Insbesondere kirchliche Krankenhäuser stehen in einer langen Tradition der Fürsorge für Arme und Kranke. Seit jeher haben sich Christen um Hilfe- und Pflegebedürftige gekümmert. Konfessionelle Krankenhäuser sind damit besonders herausgefordert, ihre eigene Kultur im Umgang mit Patienten und den verschiedenen Berufsgruppen im Krankenhaus zu reflektieren. Auch der hohe Konkurrenzdruck in der Krankenhauslandschaft führt dazu, dass sich viele Kliniken intensiv mit dem Profil ihrer Einrichtung auseinandersetzen. Inmitten dieser komplexen Veränderungsprozesse steht die Krankenhausseelsorge, der nicht nur in kirchlichen Krankenhäusern steigendes Interesse entgegengebracht wird, und die sich auf die veränderten Rahmenbedingungen in den Kliniken einstellen muss. Dadurch, dass sich Liegezeiten verkürzen, ist eine längere Begleitung von Patienten meist nur noch in wenigen Fällen schwerer Krankheit möglich. Hinzu kommt, dass viele Patientinnen und Patienten heute ambulant behandelt werden, wodurch sich die Frage stellt, wie sie von Seelsorge überhaupt erreicht werden können. Auch gesellschaftliche Veränderungen machen sich im Krankenhaus bemerkbar: Seelsorgende haben zunehmend mit Menschen zu tun, die nicht kirchlich sozialisiert sind; auf der anderen Seite werden sie mit Bedürfnissen von Angehörigen anderer Weltanschauungen und Religionen konfrontiert. Erwartungen, die an die Krankenhausseelsorge herangetragen werden, sind vielfältig. Seelsorgerinnen und Seelsorger sollen die zwischenmenschliche Dimension im Krankenhaus stärken; zunehmend sind sie Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Mitarbeitende und deren Sorgen und Nöte. Wie in diesem Band ausführlich beschrieben ist, werden sie von Patienten, Angehörigen und dem Personal mit ethischen Fragestellungen konfrontiert. Vor allem in kirchlichen Krankenhäusern sind Seelsorgende an Kulturentwicklungsprozessen beteiligt. Doch auch in Krankenhäusern anderer Trägerschaften werden vermehrt Anforderungen, die sich auch auf die institu-

Veränderte Rahmenbedingungen von Seelsorge

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tionelle Ebene der Häuser beziehen, an Seelsorgende gestellt. So ist Seelsorge in vielen Kliniken in die Aus- und Fortbildung von Ärzten und Pflegekräften integriert.25 Aus der Krankenseelsorge wird Seelsorge in der Institution Krankenhaus.26 Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen und Erwartungen gewinnt die Debatte über Auftrag, Ziel und die spezifische Berufsrolle der Theologinnen und Theologen im Krankenhaus an Bedeutung. In noch einmal besonderer Weise ist Seelsorge zur Reflexion ihres eigenen Profils dadurch herausgefordert, dass sich das medizinische System zunehmend dem Thema Spiritualität öffnet. Verstanden als Sorge für die spirituellen Bedürfnisse Kranker und ihrer Angehörigen, gewinnt „Spiritual Care“ neben der somatisch, psychisch und sozial ausgerichteten Behandlung des Patienten im Gesundheitssystem an Bedeutung.27 Fragen der beruflichen Identität, der Neuverortung im Spannungsfeld der Systeme Kirche und Krankenhaus, werden für Seelsorgerinnen und Seelsorger vor diesem Hintergrund immer wichtiger. Je weniger Seelsorgenden ihr eigener Auftrag bewusst ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Logik der Institution Krankenhaus ggf. auch unhinterfragt übernehmen bzw. zum Lückenbüßer werden für das, was das Krankenhaus vor allem im zwischenmenschlichen Bereich nicht mehr leisten kann. Hinsichtlich der Identität der Krankenhausseelsorge soll im Folgenden kurz auf unterschiedliche Modelle institutioneller Verortung eingegangen werden, die mit Blick auf das Rollenverständnis von Seelsorge besondere Bedeutung haben. Als Orientierung dienen dabei die Ausführungen von Dorothee Haart, die sich ausführlich mit der Identitätsfindung von Seelsorge im Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus befasst hat.28 Haart unterschiedet drei grundsätzliche Modelle der Verortung von Seelsorge, die nebeneinanderher praktiziert werden: „Seelsorge außerhalb des Systems“, „Seelsorge im ‚Zwischen‘-Raum“ und „Seelsorge als Teil des Systems“.29 Bezüglich des Modells einer Seelsorge außerhalb des Systems unterscheidet Haart zwei Untertypen: „Seelsorge ignoriert das System“ und „Seelsorge bekämpft das System“. Im ersten Fall beschränkt sich die Aufgabe von Seelsorgenden darauf, Patienten zu besuchen, die diesbezüglich klare Wünsche haben. Im zweiten Fall wird Seelsorge dadurch charakterisiert, sich mit Patienten ge25 Vgl. Klessmann, Krankenhausseelsorge, 13ff; EKD-Konferenz der Krankenhausseelsorger, Kraft, 10ff; Ziemer, Seelsorgelehre, 269ff; Feuersträter/Hamdorf-Ruddies, System, 537–542. 26 Vgl. Klessmann, Krankenhausseelsorge, 14. 27 Vgl. Roser, Spiritual Care. 28 Vgl. Haart, Wirtschaftsunternehmen; zur Verortung von Seelsorge im Krankenhaus vgl. auch Klessmann, Krankenhausseelsorge; Borck, Krankenhausseelsorge-Stellen, 537–548. 29 Haart, Wirtschaftsunternehmen, 236ff.

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Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

meinsam gegen die Institution Krankenhaus und deren Defizite in ihrer medizinisch und ökonomisch geprägten Ausrichtung zu stellen.30 Die Bezeichnung „Seelsorge im ‚Zwischen‘-Raum“ geht auf Michael Klessmann zurück.31 Gemeint ist, dass sich Seelsorge zwischen den Systemen Kirche und Krankenhaus bewegt, wodurch sich für einzelne Theologinnen und Theologen eine große Flexibilität und eine große Herausforderung dahingehend ergibt, ihre Rolle in der Institution selbst zu bestimmen.32 Wie Haart ausführt, entwickelte sich das dritte Modell einer Verortung von „Seelsorge als Teil des Systems Krankenhaus“ in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der zunehmenden Ökonomisierung von Kliniken einschließlich der Einführung diverser Managementkonzepte und -tools. Im Zuge der damit verbundenen Diskussionen über Leitbilder und Qualität von Krankenhäusern änderte sich die Rolle von Krankenhausseelsorge in einigen Häusern dahingehend, dass sie stärker als bisher in Reflexionsprozesse und Aufgaben auf institutioneller Ebene einbezogen wurde. Innerhalb der Seelsorge gibt es unterschiedliche Vorstellungen davon, wie eine Einbindung von Seelsorge als Teil des Kliniksystems aussehen kann. Grundsätzlich zu unterscheiden sind wiederum zwei Modelle: Die Positionierung von Seelsorge als eigenständiger klinischer Funktionsbereich neben Pflege und Medizin („behandelnde Seelsorge“) und die Zuordnung von Seelsorge zum Bereich des Managements. Im ersten Modell, der Einbindung von Seelsorge in das Behandlungsteam, übernimmt Seelsorge einen eigenständigen Beitrag in der Behandlung und Begleitung von Patienten und hat damit einen festen Platz in der Organisation Krankenhaus. Im zweiten Modell sind Seelsorgende in unterschiedlicher Weise im Management einer Klinik verortet und gestalten die Organisationsentwicklung mit, wobei die Rollen und Aufgaben diesbezüglich vielfältig sein können.33 Die Beobachtungen aus der vorliegenden Studie zeigen, dass die strukturelle Verortung der Seelsorgenden ein wichtiger Faktor ist, der ihren Umgang mit ethischen Themen prägt. Jedoch ist die Art und Weise der Einbindung von Seelsorgenden in das Krankenhaus über die institutionelle Positionierung hinaus von weiteren Rahmenbedingungen abhängig.

30 31 32 33

Vgl. a. a. O., 234f. Klessmann, Krankenhaus, 432. Vgl. a. a. O., 424; Haart, Wirtschaftsunternehmen, 236f. Haart, Wirtschaftsunternehmen, 239f, 254ff.

Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden

II.

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Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden

Im Folgenden wird an drei Beispielen herausgearbeitet, von welchen Rahmenbedingungen der seelsorgliche Umgang mit ethischen Fragestellungen beeinflusst sein kann. Ziel ist es, mögliche Einflussfaktoren exemplarisch zu vergegenwärtigen. Eine detaillierte Analyse der Herangehensweise von Seelsorgenden an ethische Situationen erfolgt in weiteren Kapiteln.

a)

Rollen von Seelsorgenden in interdisziplinären Besprechungen

Etwa die Hälfte der Interviewpartnerinnen und -partner ist regelmäßig an institutionalisierten Formen eines interdisziplinären Austauschs beteiligt und beschreibt solche Besprechungen als wichtige Orte, mit ethischen Themen in Berührung zu kommen bzw. in der Wahrnehmung eines Problems Gehör zu finden. Regelmäßige interdisziplinäre Besprechungen scheinen neben medizinischen und pflegerischen Aspekten auch die Thematisierung von ethischen Fragen rund um die Patientenversorgung zu befördern. Anhand von Äußerungen der Seelsorgerinnen Susanne Christlieb und Kerstin Heine soll veranschaulicht werden, wie die beiden Theologinnen in Besprechungen und den weiteren Klinikkontext eingebunden sind, und wie dies ihren Umgang mit ethischen Fragen beeinflusst. Susanne Christlieb berichtet: Ich bin jeden Tag zu den Frühbesprechungen hier auf der Station, sowohl für den Palliativbereich als auch für den Schlaganfallbereich, und ich bin in beiden Teamsitzungen, die einmal in der Woche sind. Und das heißt, […] ganz früh höre ich, was gerade mit dem Patient oder der Patientin passiert, welche medizinischen oder therapeutischen Anfragen gestellt werden. Und ich kann meine Sicht der Dinge und meine Anfragen sofort formulieren. Wodurch es dann sehr früh dazu kommen kann, dass wir darüber nachdenken, ein ethisches Fallgespräch anzuberaumen, weil wir uns unsicher sind, bzw. weil keine klare Aussage durch die Patientin oder den Patienten zu erhalten ist, und wir dann nach dem mutmaßlichen Patientenwillen schauen müssen. Und da bin ich oft eine, die eher früher als später zumindest diese Frage in den Raum stellt, müssen wir nicht nachschauen. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Hinsichtlich ihrer Einbettung in die Klinik betont die Seelsorgerin schon zu Beginn des Interviews, dass sie Teil des Behandlungsteams auf der Palliativ- und Schlaganfallstation ist – Bereiche, in denen es disziplinbedingt ein vergleichsweise hohes Bewusstsein für ethische Fragestellungen gibt: „Das ist mein Hauptschwerpunkt, und da gehöre ich selbstverständlich zum Hauptteam dazu.“ (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E) Die Seelsorgerin scheint mit ihrem professionellen Auftrag, der ihrer Beschreibung nach Seelsorge und Ethik umfasst, gleichberechtigt an den Besprechungen ihres Teams teilzunehmen. Dazu trägt vermutlich bei, dass sie Mitglied

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Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

des Ethikkomitees auf Konzernebene ist und damit eine besondere Autorität im Umgang mit ethischen Themen genießt. Wahrscheinlich hängt die Akzeptanz, die ihr entgegengebracht wird, wesentlich auch mit ihrer durch Fortbildungen erworbenen palliativmedizinischen Fachkompetenz zusammen. Schließlich pflegt die Seelsorgerin eine gute Beziehung zur Ärzteschaft in der Klinik. „Ich hab wirklich ein gutes Verhältnis zu allen Ärzten und Oberärzten hier im Haus“, äußert sie im Interview. Dies, so lässt sich mutmaßen, beeinflusst ihre Stellung im gesamten Team positiv. Die Form der Einbindung von Susanne Christlieb in das Team trägt Züge einer „behandelnden Seelsorge“, die als ein Funktionsbereich der Klinik zuständig für einen Teil des Behandlungsauftrags ist. Im Sinne einer behandelnden Seelsorge ist Susanne Christlieb vor allem auf der Schlaganfall- und Palliativstation eingebunden, der sie mit einem Großteil ihrer Arbeitszeit zugeordnet ist. Die dargestellte Rolle der Seelsorgerin im Team schlägt sich in ihrer Herangehensweise an ethische Themen deutlich nieder. Die Seelsorgerin nimmt in der Besprechung eine auffallend aktive Rolle im Umgang mit ethischen Fragen ein: In der von ihr geschilderten Situation bringt sie ethische Anfragen von sich aus ein („Und ich kann meine Sicht der Dinge und meine Anfragen sofort formulieren“). Sie ist es, die das ethische Problem definiert, im Team benennt und die weitere Auseinandersetzung mit dem Konflikt in Form einer Fallbesprechung auf den Weg bringt. Auch Seelsorgerin Kerstin Heine wird in Besprechungen als Expertin für ethische Fragen anerkannt. Ihre Einbindung in die Klinik und in interdisziplinäre Settings ist jedoch eine andere. Dies zeigt sich, wie dem Beginn des folgenden Zitats zu entnehmen ist, bereits daran, dass sie von einer „Teilnahme“ an Besprechung spricht, wohingegen Susanne Christlieb formuliert, sie wäre „jeden Morgen zu Frühbesprechungen hier“. Ich hab in der geriatrischen Abteilung regelmäßig an Dienstbesprechungen teilgenommen und mach das ja die ganze Zeit hindurch auf der Palliativstation und da ist so der Punkt, wo das [ethische Probleme] am häufigsten angesprochen wird. Also, am häufigsten im Kontext von solchen interdisziplinären Besprechungen. […] Auf der Geriatrie waren das auch die Ärzte, die das formuliert haben, da gibt es eine Problemstellung, da würden wir auch gerne ihre Sicht dazu hören als Seelsorgerin oder als Theologin. Auf den andern Stationen ist das anders, also vor allen Dingen auf der Palliativstation wird die Konfliktstellung am ehesten von den Pflegenden wahrgenommen. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Kerstin Heine ist im Unterschied zu Susanne Christlieb ihren Schilderungen nach kein fester Bestandteil des Behandlungsteams. Hinzu kommt, wie sie an anderer Stelle betont, dass es in ihrer Einrichtung weder ein Klinisches Ethikkomitee noch das Instrument von ethischen Fallbesprechungen gibt. Dahingegen ist die Ethikarbeit im Haus von Susanne Christlieb fest verankert, und der Theologin

Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden

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kommt in dieser eine tragende Rolle zu. Die Bedeutung von Seelsorge in der Klinik von Kerstin Heine scheint insgesamt eher marginal zu sein. Die Theologin spricht im Interview von Veränderungs- und Zertifizierungsprozessen und äußert in diesem Zusammenhang: „Da ist die Krankenhausseelsorge dann doch eher so ein nachgeordneter Posten.“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E) Das Zitat der Seelsorgerin zu Beginn des Kapitels, in dem sie ihre Stellung zwischen Kirche und Krankenhaus betont, deutet ebenso wie weitere Schilderungen zu ihrer klinischen Einbettung auf eine institutionelle Positionierung der Seelsorgerin im ‚Zwischen‘-Raum hin. Dabei werden die Rahmenbedingungen in der Klinik von ihr so beschrieben, dass die Anknüpfung an das System Krankenhaus für sie nicht einfach ist. Vor dem Hintergrund dieser Einbindung in die Klinik ist die Rolle der Seelsorgerin in interdisziplinären Besprechungen vielschichtiger und weniger festgelegt als die von Susanne Christlieb. Ihr Status als Expertin für ethische Fragen in der Geriatrie kommt dadurch zum Ausdruck, dass (auch) sie im Falle eines von Medizinern benannten ethischen Problems um ihre Meinung als Theologin oder Seelsorgerin gebeten wird. Ihre Rolle ist hier vergleichsweise zurückgenommen; sie wird um eine christliche Perspektive in einem Problem gebeten, das von der Berufsgruppe der Mediziner definiert ist. Die Seelsorgerin berichtet im Interview jedoch von weiteren Besprechungssituationen, in denen ihre Rolle eine andere ist. So ist es in einem interdisziplinären Gespräch auf der Geriatrie ihr Part, ein ethisches Problem zu formulieren. Es geht hier um die Frage der angemessenen Begleitung einer alten Patientin, die nach einer Fraktur nicht zurück nach Hause kann, sondern in ein Pflegeheim verlegt wird. Die Seelsorgerin definiert eine Sorte von ethischer Fragestellung, die den Interviews zufolge von den anderen Berufsgruppen zunächst einmal nicht wahrgenommen oder benannt wird. Bezogen auf eine wiederum andere Situation auf der Palliativstation beschreibt die Seelsorgerin ihre Rolle als die einer Moderatorin: Also für mich ist in so einer Besprechung wichtig, im Blick zu haben: „Da sind die Mitarbeitenden miteinander im Gespräch.“ Und ich verstehe meine Rolle dann in dieser Besprechung auch darin, noch mal bewusst zu machen, das ist jetzt hier gerade für uns auch mit einer Konfliktsituation verbunden. Also, wir fühlen uns hin- und hergerissen, oder die Pflegenden empfinden so und so, also so eine Art Moderationsrolle. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Offensichtlich führt die Position der Seelsorgerin zwischen den Systemen Krankenhaus und Kirche dazu, dass ihre Rolle in ethischen Situationen abhängig von der jeweiligen Grundkonstellation einer Problemsituation wechselt. Dahingegen ist die Rolle der Seelsorgerin Susanne Christlieb, wie andere Schilderungen von ihr zeigen, zumindest in ihrem Haupttätigkeitsfeld auf der Schlaganfall- und

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Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

Palliativstation vergleichsweise konstant gekennzeichnet von einem proaktiven Vorgehen, in dem die Seelsorgerin ethische Fragestellungen im Team von sich aus benennt und den Prozess der Entscheidungsfindung moderiert.

b)

Rollen von Seelsorgenden in Klinischen Ethikkomitees

Auch die Rolle von Seelsorgenden in Gremien der Ethikberatung steht in enger Beziehung zu ihrer Einbindung in die Klinik und ist abhängig von der Kultur sowie von Strukturen und Abläufen in der jeweiligen Einrichtung. Veranschaulicht wird dies am Beispiel der Seelsorgerinnen Annette Ingelmann und Carla Drews. Im Haus von Annette Ingelmann gibt es bislang noch keine institutionalisierte Ethikberatung. Der Aufbau eines Klinischen Ethikkomitees ist allerdings in Planung. Die Wunschrolle der Seelsorgerin in diesem Komitee wäre die einer Moderatorin. Ich verstehe meine Rolle in dem Sinne, dass ich moderiere, die Position des Patienten oder der Patientin vermittle, wenn ich um die weiß, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich auch noch meins mit in die Waagschale werfen muss, sondern, dass es eher darum gehen müsste, dass jemand das moderiert und dafür sorgt, dass solche ethischen Konflikte [Pause] einen Rahmen haben. (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Für die Seelsorgerin steht bei der Institutionalisierung von Ethik zunächst einmal die Förderung des Austauschs zwischen den Berufsgruppen im Vordergrund. Sie erhofft sich insbesondere eine Stärkung der Rolle der Pflegenden in ethischen Fragen. Das erhoffe ich mir vom Aufbau eines Ethikkomitees, dass damit dieser Austausch zwischen Schwestern und Ärztinnen und Ärzten noch mal eine andere institutionalisierte Form bekommt […], und den Schwestern mehr Kompetenz an der Stelle zugetraut wird.

Die Seelsorgerin beschreibt ihre eigene Position im Krankenhaus als prädestiniert für die Übernahme der Moderationsrolle: Weil ich als Seelsorgerin natürlich […] auch ein Stückchen außenstehende Extraposition im Haus habe.

Außer ihr kommt eigentlich niemand anderes für diese Rolle in Frage: Ich sehe meine Rolle auch darum eher in der Moderation, weil ich nicht wüsste, wer es sonst übernehmen sollte.

Den Äußerungen der Seelsorgerin im Interview ist zu entnehmen, dass die Zertifizierung der Klinik der Ausgangspunkt für die Einrichtung des Ethikkomitees ist. Es besteht von Seiten der Einrichtungsleitung die Erwartung, dass die

Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden

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Seelsorgerin eine tragende Rolle in diesem Komitee spielt. Die Einrichtung des Komitees wird offensichtlich nicht durch konzeptionelle Überlegungen zum Beispiel auf Konzern- oder Einrichtungsleitungsebene begleitet. Auf die Frage, ob durch die Übernahme der Moderationsrolle möglicherweise seelsorgliche Perspektiven verloren gehen, die ihr wichtig sind, antwortet die Seelsorgerin zögerlich. Einzelne werden die schon einbringen. [Pause] Ja, vielleicht. Da hab ich so noch nicht drüber nachgedacht […], also mein Gefühl ist eher, dass solche Konflikte eine gute Moderation brauchen. (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Scheinbar hat die Seelsorgerin, die selbst der Pflegedienstleitung unterstellt ist, über eine mögliche andere Rolle als die der Moderation noch nicht ausgiebiger nachgedacht. Die Bestimmung ihrer Rolle im künftigen Ethikkomitee basiert stark auf Defiziterfahrungen in der Kommunikation zwischen Pflege und Medizin und ist in erster Linie davon geprägt, dass sie die nötige Förderung der Kommunikation in der Klinik zu ihrer primären Aufgabe macht. Auch Seelsorgerin Carla Drews hat sich entschieden, in dem erst kürzlich in ihrem Haus eingerichteten Ethikkomitee eine moderierende Tätigkeit zu übernehmen. Ihre Motive sind ähnliche wie die der Seelsorgerin Annette Ingelmann. Sie ist aufgrund ihrer außenstehenden Position im Krankenhaus und ihrer hohen Akzeptanz unter allen Mitarbeitenden besonders gut geeignet, notwendige Kommunikationsaufgaben zu übernehmen. Theoretisch allerdings, so betont sie, hielte sie es für besser, wenn Seelsorgende nicht als Moderatoren auftreten würden, sondern sich inhaltlich als Theologinnen und Theologen positionierten. Ich finde schon, dass die Fragestellung, sollte Seelsorge ihren Bereich alleine vertreten und nicht zu stark in eine Moderationsrolle gehen, dass das eine ganz wichtige Frage ist [zieht einen Vorhang zu] […]. Von der Theorie her würde ich Ihnen jetzt immer sagen, ich finde das viel besser, wenn Seelsorge ihren Bereich vertritt und nicht im Prozess da verloren geht. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

In der konkreten Situation des Krankenhauses sei eine solche positionierende Rolle jedoch kaum möglich: In der Praxis dieses Hauses, der Kleinheit der Anfangssituation vom Ethikkomitee, der Frage, kriegen wir das überhaupt hin, finde ich es im Moment wichtig, dass ich das mache. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Im Unterschied zu Annette Ingelmann hat sich Carla Drews offensichtlich mit verschiedenen Rollen, die sie in der institutionalisierten Ethikberatung einnehmen könnte, auseinandergesetzt. Aus ihren Ausführungen lässt sich schließen, dass dieser Reflexionsprozess auf verschiedene Weise befördert wurde. Zum einen wurde die Ethikarbeit in ihrer Einrichtung durch eine von der Konzernleitung eingesetzte interdisziplinäre Arbeitsgruppe in einem längeren und dis-

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Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

kussionsreichen Prozess aufgebaut. Zum anderen hat Carla Drews im Unterschied zu Annette Ingelmann einige Fortbildungen im Bereich Ethik im Krankenhaus absolviert. Es lässt sich schlussfolgern, dass die Aktivitäten auf Konzernebene, die Diskussionskultur unter den Mitarbeitenden wie eigene Fortbildungsaktivitäten dazu beigetragen haben, dass Annette Ingelmann ihre Rolle in der Ethikberatung gründlich reflektiert hat. c)

Wechselnde Rollen innerhalb einer ethischen Situation

Seelsorgende nehmen nicht nur beeinflusst von ihrer jeweiligen Einbindung in das Krankenhaus, von der Kultur und Ausrichtung der Klinik sowie abhängig vom jeweiligen Setting einer ethischen Situation unterschiedliche Rollen im Umgang mit ethischen Fragen ein. Auch innerhalb derselben ethischen Situation kann ihre Rolle variieren. Einen solchen Rollenwechsel beschreibt Seelsorgerin Kerstin Heine. Sie berichtet von einer Besprechung auf einer Palliativstation, in der es um die Frage der Fortsetzung oder des Abbruchs einer Therapie geht. Dieses Gespräch wird von der Seelsorgerin moderiert. Wie die folgende Äußerung der Theologin deutlich macht, wechselt sie nach der Besprechung ihre Rolle von der Moderatorin zur Seelsorgerin: Also das hab ich auch schon erlebt, dass dann hinterher noch mal auf mich zukommt und sagt: „Das ist mir ganz schön schwer gefallen. Der hat ja jetzt entschieden.“ Und also, wo ich da noch mal ein Gespräch geführt habe und, ja, das auch als meine seelsorgerliche Aufgabe verstehe. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Die ethische Situation ist für die Seelsorgerin mit dem Treffen einer Entscheidung in dem interdisziplinären Gespräch nicht beendet.34 Solche Rollenwechsel innerhalb einer Problemsituation sind für die Seelsorgerin keine Seltenheit: Das erlebe ich eigentlich sogar immer wieder, dass, wenn Patientinnen oder Patienten für sich entscheiden, „nee, ich lasse das nicht mehr machen“, dass Mitarbeitende kommen, und so im Gespräch für mich deutlich wird, die würden noch mehr Optionen sehen im medizinischen Bereich, die möglich sind, und dann das Gefühl haben, „Mensch, da hat jemand zu früh aufgegeben“. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Seelsorgerin Kerstin Heine ist in einer ethischen Situation in abgegrenzten Phasen nacheinander in verschiedenen Rollen beteiligt. Auch Seelsorgerin Carla Drews wechselt ihre Rollen innerhalb einer Problemsituation. Im Unterschied zu Kerstin Heine ist sie jedoch in einer bestimmten Phase der ethischen Auseinandersetzung in gleichzeitig mehreren Rollen an der Situation beteiligt. Deutlich 34 Siehe auch Kapitel 2.1.

Einflüsse auf die ethische Rolle von Seelsorgenden

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wird dies am Beispiel der Fallgeschichte einer älteren Patientin, bei der es einen Konflikt über die Einleitung einer künstlichen Ernährung per PEG-Magensonde gibt. Die Patientin hatte einen schweren Schlaganfall, wird künstlich über die Venen ernährt und ist nicht ansprechbar. Eine Patientenverfügung liegt nicht vor. Die Tochter der Patientin möchte, dass alles getan wird. Als sich der Zustand der Patientin nach einer Woche Therapie nicht verändert hat, stellt sich die Frage, ob eine PEG-Sonde gelegt wird. Im Behandlungsteam gibt es zwei unterschiedliche Einschätzungen. Während der behandelnde Arzt äußert, die Therapie könne noch anschlagen, und sich für eine PEG-Sonde einsetzt, sehen Pflegende und Therapeuten keine Chance für die Patientin und halten die Sonde für eine zusätzliche Belastung. In dieser Situation tritt die Seelsorgerin gegenüber unterschiedlichen Konfliktbeteiligten gleichzeitig in verschiedenen Rollen auf, die sie so beschreibt: Ich habe einerseits natürlich sehr hochfrequentiert die Angehörige besucht, im Zimmer, habe immer wieder versucht, ihren Blick auf die Mutter in ihrer Situation zu lenken […]. Das war die Aufgabe mit der Tochter. Die Aufgabe im Team war […], zu hören und auch zu verstehen, was versucht wird an Therapie, und wo Erfolge und eben nicht Erfolge sind. Und das Dritte war, ins Gespräch zu gehen mit dem Arzt, über dieses Zeitfenster. Und mit ihm ringen, ob er nicht von diesem Zeitfenster, das er ja auch nur aus der Erfahrung hat, zumindest den Blick langsam darauf wenden muss, dass diese Situation nicht medizinisch zu beheben sein kann. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

In einer Konfliktsituation zwischen palliativer und kurativer Medizin begleitet die Seelsorgerin die Angehörigen, wie sie an anderer Stelle betont, seelsorglich. Auch ihre Rolle gegenüber dem Arzt beschreibt sie primär als die einer Seelsorgerin. Zugleich ist sie ihrer Beschreibung nach Moderatorin im Team und leitet in dieser Rolle eine einberufene Fallbesprechung. Vor dem Hintergrund ihrer Rolle im Team übernimmt die Seelsorgerin im vorliegenden Fallbeispiel die Verantwortung für den Gesamtprozess des ethischen Konflikts, der seelsorgliche wie ethische Aufgaben umfasst, und in dem die Seelsorgerin selbst bereits positioniert ist. Innerhalb dieses Konfliktes übt die Seelsorgerin verschiedene Rollen aus, die aufeinander stoßen, was an dieser Stelle jedoch nicht näher ausgeführt werden soll.35 Andere der Interviewpartner – die eine wiederum andere Position in ihrer Klinik und dadurch ggf. in Teams haben – versuchen, das Aufeinanderprallen von Rollen zu verhindern. So äußert der Seelsorger Jakob Gutwirth: Also, wenn [betont] ich mit der Moderation eines ethischen Falls, eines Konflikts, beauftragt bin, habe ich nur die Moderation als Aufgabe. Da konzentriere ich mich voll und ganz drauf. Wir haben, wenn [betont] ein Seelsorger gebraucht wird, einen anderen hinzu gebeten. Also ich hab solche Fälle gehabt, wo ich dann meinen Kollegen gebeten 35 Siehe dazu Kapitel 3.1.

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Die Rolle von Seelsorgenden in der Konfrontation mit Ethik

hab, als betreuender Seelsorger der Patientin dazuzukommen. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Der Seelsorger, der in der Klinik das Ethikkomitee leitet, trennt strikt zwischen Seelsorge und Ethik. In der Klinik wird er, wie es scheint, wesentlich über seine Funktion in der Ethikarbeit wahrgenommen und hat hierin eine sehr anerkannte Position.

III.

Fazit: Ethik erweitert das Rollenspektrum von Seelsorgenden

Die geschilderten Beispiele aus den Interviews weisen darauf hin, dass Theologinnen und Theologen in der Klinik durch die Konfrontation mit Ethik in neue Situationen und Rollen gebracht werden können. Damit verbundene Herausforderungen sollen abschließend noch einmal vergegenwärtigt werden. Aus den Äußerungen der Seelsorgenden lässt sich folgern, dass sich die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen zu einem neuen professionellen Feld der Seelsorge entwickelt hat. Einige der Seelsorgenden haben im Krankenhaus den Status eines Experten bzw. einer Expertin im Bereich Ethik gewonnen: Seelsorgende werden in ethischen Fragestellungen konkret zu Rate gezogen, sie definieren ethische Probleme und bringen ihr spezifisches Verständnis von ethischen Situationen ein, sie sind in unterschiedlicher Weise in Gremien der Ethikberatung einbezogen. Für die Seelsorge im Krankenhaus, die traditionell primär den einzelnen Patienten im Blick hatte, ergeben sich mit der Zuständigkeit für ethische Fragen von der personellen bis zur institutionellen Ebene neue und intensive Anknüpfungspunkte im System Krankenhaus. Zwar haben Theologinnen und Theologen schon mit der Entwicklung der Krankenseelsorge zur Krankenhausseelsorge, wie oben dargestellt, eine ganze Reihe an Aufgaben übernommen, die über die Individualseelsorge hinausreichen; mit dem Kompetenzfeld Ethik jedoch scheint Seelsorge noch einmal deutlich näher an interdisziplinäre Strukturen und Behandlungsabläufe in der Klinik und damit an das System Krankenhaus heranzurücken. Gleichzeitig versteht sich ein Großteil der interviewten Theologinnen und Theologen in der Konfrontation mit Ethik primär als Seelsorgerin oder Seelsorger. Ethische Fragestellungen haben für Seelsorgende ihren Beschreibungen nach eine deutliche seelsorgliche Dimension. Im Verständnis und in ihrer Herangehensweise an ethische Themen verorten sich manche Seelsorgende dezidiert im System Kirche. Vor diesem Hintergrund sind Seelsorgende herausgefordert, verschiedene Rollen im Umgang mit ethischen Fragen zusammenzubringen bzw. voneinander abzugrenzen. Ein Großteil der Interviewpartner setzt sich mit möglichen Rollenkollisionen auseinander; andere Seelsorgende vereinbaren verschiedene

Fazit: Ethik erweitert das Rollenspektrum von Seelsorgenden

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Rollen miteinander, ohne dies (im Interview) zu problematisieren. So übernimmt die Seelsorgerin Carla Drews im Team der Palliativ- und Schlaganfallstation innerhalb einer ethischen Situation sowohl moderierende als auch seelsorgliche Aufgaben. Kerstin Heine dagegen begegnet der Herausforderung, in einer ethischen Frage Ansprechpartnerin für verschiedene Personen zu sein, dadurch, dass sie für sich klare Rollen in einzelnen, abgegrenzten Phasen der Auseinandersetzung mit dem Thema definiert. Seelsorgende können auch dadurch vor eine neue Situation gestellt werden, dass ihre Rolle – wie es Kerstin Heine praktiziert – von ethischer Frage zu ethischer Frage variiert. Die Seelsorgerin muss im klinischen Alltag abhängig von der ethischen Fragestellung und dessen Setting von Fall zu Fall entscheiden, mit welcher Haltung sie einem Problem begegnet. Was sind die Kriterien dafür, in einer ethischen Situation beispielsweise eine moderierende Position einzunehmen oder aber sich inhaltlich als Seelsorgerin oder Seelsorger zu positionieren? Noch einmal grundsätzlicher stellt sich die Frage nach der Übernahme einer bestimmten Rolle bezogen auf Klinische Ethikkomitees, denn die Rollen sind hier in der Regel zumindest über einen gewissen Zeitraum konstant. Seelsorgende sind so zum Beispiel mit der Entscheidung konfrontiert, ob sie sich in Ethikkomitees über ihre sozialen und kommunikativen Kompetenzen (zum Beispiel als Leiterin bzw. Leiter eines Komitees) oder über ihre inhaltlich theologischen Perspektiven profilieren. Zu reflektieren ist, was es für das Verständnis von Seelsorge bedeutet, wenn, wie beispielsweise im Falle von Seelsorgerin Annette Ingelmann, zugunsten der Abläufe in der Gesamtorganisation ein spezifisch seelsorgliches oder theologisches Anliegen zurückgestellt wird. Seelsorge ist schließlich damit konfrontiert, sich mit der grundsätzlichen Verortung von Ethik im Krankenhaus auseinanderzusetzen. Ethik entwickelt sich zum professionellen Feld von Seelsorge. Damit ist insbesondere eine stark eingebundene Seelsorge herausgefordert, im Blick zu behalten, dass ethische Fragen im Bewusstsein aller Berufsgruppen bleiben und nicht gänzlich an die Person einer Seelsorgerin oder eines Seelsorgers delegiert werden.

3.

Der Umgang von Seelsorgenden mit ethischen Problemen

3.1

Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

I.

II.

III. IV. V.

I.

Die Genese ethischer Situationen a) Die Eröffnung ethischer Kommunikation b) Der Verzicht auf ethische Kommunikation Die Veränderung ethischer Situationen a) Beziehungsarbeit und der Umgang mit Emotionen in ethischen Situationen b) Die raumzeitliche Veränderung des Entscheidungskontexts Die Nachbegleitung ethischer Entscheidungen Der Einfluss ethischer Situationen auf Seelsorgende Fazit: Seelsorgende gestalten ethische Situationen in vielfacher Hinsicht

Die Genese ethischer Situationen

Soll ein Patient weiter künstlich ernährt werden? Darf ein Sterbender seinen Angehörigen den Besuch verweigern? Diesen und ähnlichen Fragen begegnen die Klinikseelsorgenden im Krankenhaus. Wie in Kapitel 2.1 dargestellt, haben die Seelsorgenden ein weites Verständnis von Ethik, unter das verschiedenste ethische Situationen fallen. Zu nennen sind beispielsweise Gespräche zwischen Seelsorgenden und Ärzten, die zwischen Tür und Angel geführt werden, oder auch Gespräche zwischen Seelsorgenden und Patienten im Zimmer des Patienten. Zwischen diesen ethischen Situationen gibt es vielfache Beziehungen und Übergänge. Im Folgenden wird überprüft, wie die Seelsorgenden diese Beziehungen und Übergänge in medizinethischen Situationen wahrnehmen und wie sie an deren Gestaltung mitwirken. In einer Nahaufnahme wird der Einfluss der Seelsorgenden in ethischen Situationen betrachtet. So stellt sich zunächst die Frage, wie die Seelsorgenden daran beteiligt sind, dass aus einem Behandlungsverlauf heraus eine Situation entsteht, in der eine ethische Fragestellung in institutio-

Die Genese ethischer Situationen

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nalisierter und nicht-institutionalisierter Form diskutiert wird (I. a). Umgekehrt stellt sich auch die Frage, wieso in vergleichbaren Situationen kein ethischer Kommunikationsraum eröffnet wird (I. b). Ferner wird dargestellt, wie Seelsorgende in bestehenden Entscheidungskontexten agieren, indem sie diese raumzeitlich erweitern und durch ihr Einfühlungsvermögen dynamisieren (II.). Schließlich wird gezeigt, dass Seelsorgende ethische Fragen auch dann präsent halten, wenn die Entscheidung bereits getroffen wurde. Dies hängt mit ihrem Verständnis ethischer Situationen zusammen, das neben dem Entscheidungsmoment auch deren Vorsorge und Nachbegleitung umfasst (III.). Wurde bislang illustriert, wie Seelsorgende ethische Situationen verändern, soll auch umgekehrt untersucht werden, welchen Einfluss ethische Situationen auf das Verhalten der Seelsorgenden haben (IV.).

a)

Die Eröffnung ethischer Kommunikation

Eine Antwort auf die Frage, wie Seelsorgende daran beteiligt sind, dass es zur Einberufung ethischer Fallbesprechungen kommt, findet sich im Interview mit dem Seelsorger Jakob Gutwirth. Er berichtet von einer magersüchtigen jungen Frau, bei der die Mutter, der Pflegevater und das medizinische Personal darin übereinstimmen, die kurativen Maßnahmen einzustellen. Dann ändert sich jedoch die Situation, nachdem ihm der leibliche Vater einen Mitschnitt eines Telefonats zugänglich macht. Dieses hatte der leibliche Vater mit seiner Tochter geführt, und es dient ihm als Beweis, dass seine Tochter leben möchte. Jakob Gutwirth führt aus: Ich wurde hinzugerufen, um den leiblichen Vater in diesem Konfliktfall zu unterstützen. Und der erfuhr dann auch in diesem Gespräch über mich, dass die Therapie beendet werden soll. Er wurde daraufhin aggressiv und sagte, das wäre nicht zu verantworten […]. Er könnte Beweise dafür darlegen, dass […] seine Tochter, obwohl sie magersüchtig ist, trotzdem leben will. […] Ich hab die Aufnahme des Telefonats […] gehört. Ich habe gesagt: „Das geht nicht. Das ist nicht in Ordnung. Wir müssen das Ganze stoppen, um die Tochter selbst zu sprechen, was sie will […].“ Ich bin dann aus der Rolle des Seelsorgers auch raus und habe dann ein Ethikkonsil einberufen. […] Ich habe alle beteiligten Ärzte, alle beteiligten Familienangehörigen, sogar Freunde, alle zu einem Gespräch zusammengerufen. Der Konflikt stand dann natürlich sehr aggressiv auch im Raum. Da war zum einen der leibliche Vater und zum anderen die betreuende Familie. Und im Hintergrund wabern die ganzen Konflikte und die Sorge um die Tochter. Auf der einen Seite die betreuende Familie, die die Tochter nicht mehr leiden sehen können. Auf der anderen Seite der leibliche Vater, der um das Leben der Tochter kämpft. Das war ein sehr schwieriger Fall, und wir haben dann die Fehler, die im Laufe der zurückliegenden Therapie gelaufen sind, erkannt und erörtern können. Und dann haben wir auch eine Perspektive entwickeln können, die dazu geführt hat, dass die

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

Patientin dann wieder stabilisiert wurde, mit vernünftigen Unterbringungsanträgen. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2013 E)

Die unterschiedlichen Parteien, die im Ethikkonsil aufeinandertreffen, sind mit eigenen Zielsetzungen und Vorstellungen in das Gespräch gegangen. So ist vor dem Ethikkonsil für die Mutter, den Pflegevater und das medizinische Personal eindeutig, dass die Behandlungsoptionen bereits abgewogen sind und eine Entscheidung gefällt worden ist. Anders ist es jedoch für den leiblichen Vater und den Seelsorger, für die ein Kommunikationsbedarf besteht. Angestoßen wird dieser Prozess durch das Telefongespräch, dessen Aufnahme der Vater dem Seelsorger vorspielt. Diese Information bewegt den Seelsorger dazu, die bisherige Entscheidung, die Patientin nicht weiter zu behandeln, zu hinterfragen und in einem größeren Plenum diskutieren zu wollen. Der Seelsorger erzeugt eine institutionalisierte ethische Situation, in der eine Vielzahl an Personen, angefangen von den Ärzten über die Familie bis hin zu den Freunden der Patientin, zusammenkommen. Hier können sich alle Anwesenden über die verschiedenen Konflikte und Probleme austauschen und erkennen, dass in der bisherigen Therapie Fehler gemacht wurden. Infolgedessen wird eine andere Entscheidung, die Patientin weiter zu behandeln, getroffen. Zur Rolle des Seelsorgers ist an dieser Stelle zu sagen, dass dieser aus seiner Perspektive Seelsorge und Ethik gegenüberstellt und die beiden damit verknüpften Rollen und Aufgaben hier, aber auch an einer anderen Stelle im Interview, voneinander abgrenzt.1 Als Seelsorger versteht sich Jakob Gutwirth in dieser Situation als mitfühlender Begleiter des Vaters, der Angst davor hat, dass seine Tochter sterben könnte, wenn die Entscheidung der Therapiebeendigung nicht revidiert wird. Die Rolle des Ethikers bedeutet für Jakob Gutwirth hier, im Ethikkonsil mit den anderen Beteiligten die bisher getroffenen Entscheidungen im Licht der neuen Informationen zu betrachten und abzuwägen, ob nicht eine andere Entscheidung zu treffen ist. Genauer betrachtet, ist diese Opposition von Ethik und Seelsorge nicht zu halten. Im Seelsorgegespräch zeigt Jakob Gutwirth eine Aufmerksamkeit gegenüber der ethischen Fragestellung, das heißt der Entscheidung bezüglich der Beendigung oder Fortsetzung der Therapie. Diese Wachheit veranlasst ihn dazu, ein Ethikkonsil anzuberaumen. In diesem Ethikkonsil bringt er umgekehrt beziehungsorientierte Wahrnehmungen wie beispielsweise die aggressiven Stimmungen der Beteiligten mit ein. Die Rolle des Ethikers ist in diesem Sinne seelsorglich angereichert. So lässt sich sagen, dass beide Rollen sowohl seelsorgliche Anteile (im Sinne des Begleitens und Einfühlens in andere) als auch ethische Komponenten (im Sinne des Abwägens von Entscheidungen) haben.

1 Siehe Kapitel 3.3.

Die Genese ethischer Situationen

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Trotzdem liegt ein Rollenwechsel vor, da Jakob Gutwirth im Gespräch mit dem leiblichen Vater bzw. später in der ethischen Fallbesprechung jeweils anders handelt. Auch Seelsorgerin Susanne Christlieb ist daran beteiligt, wenn es in ihrem Krankenhaus dazu kommt, dass ein ethisches Beratungstreffen anberaumt wird: Ich bin jeden Tag zu den Frühbesprechungen hier auf der Station, sowohl für den Palliativbereich, als auch für den Schlaganfallbereich. Und ich bin in beiden Teamsitzungen, die einmal in der Woche sind. Und das heißt, ganz schnell und ganz früh höre ich, was gerade mit dem Patient oder der Patientin passiert, welche medizinischen oder therapeutischen Anfragen gestellt werden. Und ich kann meine Sicht der Dinge und meine Anfragen sofort formulieren. Wodurch es dann sehr früh dazu kommen kann, dass wir darüber nachdenken, ein ethisches Fallgespräch anzuberaumen, weil wir uns unsicher sind, bzw. weil keine klare Aussage durch die Patientin oder den Patienten zu erhalten ist. Und wir dann nach dem mutmaßlichen Patientenwillen schauen müssen, und da bin ich oft eine, die halt eher früher als später zumindest diese Frage in den Raum stellt: „Müssen wir nicht nachschauen?“ Und das heißt, es kann morgens passieren, dass ich bei der Übergabe für das ganze Team den Eindruck habe, jetzt wäre es dran, und ich muss natürlich begründen, warum ich so denke, und dann wird das kurz besprochen. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Die Seelsorgerin nimmt an den Frühbesprechungen und den Teamsitzungen der Station teil und erhält einen Eindruck von der Situation und der Behandlung der Patienten. Die Seelsorgerin nimmt zunächst in diesen Sitzungen die Aufgabe eines Frühwarnsystems wahr, was auch in ihrer Formulierung – „da bin ich oft eine, die halt eher früher als später diese Frage [bezüglich einer ethischen Beratung] in den Raum stellt“ – durchscheint. Das Team entscheidet dann gemeinsam, ob es ein Treffen geben wird oder nicht. Durch die Frage der Seelsorgerin kann sich der gesamte Zuschnitt der Situation ändern. Durch die Eröffnung eines ethischen Fallgesprächs erweitert sich der Kreis der Akteure um Verwandte und gegebenenfalls auch Freunde des Patienten. Ethische Fragen werden, wie Kapitel 2.1 zeigte, an unterschiedlichen Orten besprochen. Dazu zählen auch informelle Kontexte des Gesprächs am Krankenbett. Die Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach erzählt von einem Patienten, der aus Sicht des medizinischen Personals operiert werden soll, diese Operation anfangs jedoch verweigert: Da ist ein Patient gekommen, der unbedingt operiert werden musste, wo sonst klar war, dass der zum Sterben kommen wird innerhalb der nächsten Tage. Und der Patient saß auf dieser Station und wollte sich nicht operieren lassen. Ich bin dahin gerufen worden. Frau von Ebersbach, reden Sie mit dem, der muss sich doch operieren lassen. […] Ich weiß, dass ich gesagt habe: „Na, ich geh mal rein und guck mal, was los ist.“ Dass ich sozusagen aktiv dachte, ich werde jetzt nicht in Widerspruch gehen zu ihm. Wissen Sie, ich kann ihn nicht überreden, dass ich in so eine theoretische Ebene gehe. Sondern ich beruhige die Pflegemitarbeiterin und gehe mit ihr ins Gespräch. Aber für mich ist der

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

Ausgang offen und ich möchte wirklich gucken, was ist jetzt mit dem und wo will der denn hin. Das waren dann mehrfache Gespräche, die wir hatten und auch Ärzte wieder dran und Pflege wieder dran. Daran kann ich mich erinnern, der hat sich dann letztlich operieren lassen, aber doch aus einer freien Entscheidung heraus. Dem war das einfach alles viel zu schnell, wie er sozusagen dort hingedrängt wurde, wobei die Not auch groß war. Es hätte ihm auch was passieren können. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Für das medizinische Personal besteht hier ein medizinischer Handlungsbedarf. Die Frage, ob diese Operation durchgeführt werden soll oder nicht, stellt sich für das Personal nicht. Da sich der Patient jedoch weigert, sich der Operation zu unterziehen, holt das medizinische Personal die Seelsorgerin hinzu, die den Patienten dazu bewegen soll, sich operieren zu lassen. Immer noch handelt es sich für das medizinische Personal nicht um eine ethische Situation, in der es etwas zu entscheiden gäbe, sondern lediglich um einen schwierigen Patienten. Die Seelsorgerin widersetzt sich jedoch dem Auftrag, den Patienten von der Operation zu überzeugen. Sie formuliert: „Ich kann ihn da nicht überreden, dass ich da in so eine theoretische Ebene gehe.“ Sie kontrastiert die praktischen Erfahrungen und die Lebenswirklichkeit des Patienten mit den therapeutischen Überlegungen des medizinischen Personals. Sie bewahrt sich eine Offenheit gegenüber dem Ausgang der Situation und versucht herauszufinden, was die Wünsche des Patienten sind. Deswegen sucht sie das Gespräch mit ihm und beruhigt die Pflegerin. Sie erzeugt einen kommunikativen Raum. Dadurch wird den Beteiligten, besonders dem medizinischen Personal, deutlich, dass die Frage, ob der Patient behandelt wird, nicht allein aus medizinischer Sicht zu beantworten ist. Aus dem medizinisch Notwendigen wird ein Gegenstand des Abstimmens und Abwägens: Eine ethische Situation ist eröffnet. Die Seelsorgerin Susanne Christlieb berichtet in zwei Gesprächen und einer EMail, die im Feldtagebuch dokumentiert sind, von einer weiteren Situation.2 Frau Christlieb sagt, dass es sie sehr aufregt, wenn beispielsweise durch schlechte Kommunikation zwischen den Ärzten am Wochenende ein Patient wiederbelebt wird, bei dem es weder von dem Patienten noch den Angehörigen zum Thema Reanimation eine Aussage gibt. Kommt sie zufällig zu einer solchen Reanimation hinzu, fragt sie, nachdem die Reanimation schon eine Weile läuft, inwiefern weitere Reanimationen noch Sinn machen. Wenn ihr eine Patientenverfügung vorliegt, weist sie auf diese hin. Ansonsten stellt sie zumindest die Frage nach dem Sinn der Wiederbelebung in den Raum. Sie interveniert zum einen bei Patienten, zu deren Grunderkrankung noch eine Komplikation hinzugekommen ist, oder aber auch bei älteren Patienten. Ein Ziel, diese Frage zu stellen, ist für sie, dass die Ärzte und Pflegenden kurz innehalten, um diese eintrainierte Handlung zu unterbrechen und auf den Sinn für den Patienten zu hin2 Das Feldtagebuch gehört zum Instrumentarium der Ethnologie und ist eine Form der Dokumentation von Daten, die während der Feldforschung erhoben worden sind. Es kann zudem bereits einer ersten Reflektion dieser Ergebnisse dienen (siehe dazu Kapitel 1).

Die Genese ethischer Situationen

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terfragen. Manchmal entscheiden die Oberärzte, die zu der Wiederbelebung hinzugekommen sind, dass diese beendet wird. Jedoch hören nicht alle Ärzte mit der Reanimation auf. Dies reflektiert sie dann in einem Gespräch mit ihnen hinterher. (F Susanne Christlieb 9. 2. 2012 T, F Susanne Christlieb 21. 2. 2012 T, M Susanne Christlieb 3. 7. 2014 T)

Ähnlich wie in dem Beispiel von Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach stellt sich auch hier für die Ärzte nicht die Frage, ob eine Behandlung – die Reanimation – für den Patienten angezeigt ist. Die Seelsorgerin Susanne Christlieb eröffnet demgegenüber einen Raum für ethische Kommunikation, wenn sie den Eindruck hat, dass eine Wiederbelebung für den Patienten nicht mehr sinnvoll ist. Daraufhin wird in manchen Fällen die medizinische Routine der Behandlungssituation unterbrochen. In anderen Fällen bemüht sie sich im Nachgang um ein Gespräch mit den Medizinern. Bislang zeigte sich, dass Seelsorgende an verschiedenen Orten auf unterschiedliche Art und Weise Räume der ethischen Kommunikation eröffnen. Sie berufen ethische Fallbesprechungen ein, fragen in Teambesprechungen nach, ob ein solches Gremium anberaumt werden soll, oder gehen diesen Themen in Einzelgesprächen nach. Zumeist eröffnen die Seelsorgenden einen ethischen Kommunikationsraum, wenn sie den Eindruck haben, dass ihnen oder auch den anderen Beteiligten Informationen fehlen, um eine angemessene Entscheidung treffen zu können, oder dass eine bereits getroffene Entscheidung revidiert werden sollte. Bei der Eröffnung ethischer Kommunikationsräume liegt die Funktion der Seelsorgenden nicht darin, spezifische moralische Positionen zu vertreten, sondern aufgrund ihrer Wahrnehmungen überhaupt eine ethische Kommunikation in Gang zu bringen. b)

Der Verzicht auf ethische Kommunikation

In anderen Situationen entscheiden sich Seelsorgende dafür, keinen Raum für ethische Kommunikation zu eröffnen, wie sich am Beispiel der Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach illustrieren lässt. Sie begleitet einen Patienten, der bis zum Zeitpunkt seiner Krebserkrankung ein sehr aktiver Mensch war. Seit mehreren Monaten ist er im Krankenhaus und hat bereits einige Zyklen Chemotherapie durchlaufen. Dennoch verschlechtert sich sein Zustand. Der Chefarzt bietet ihm eine weitere Chemotherapie an, während andere Ärzte in diesem Krankenhaus eine weitere Behandlung in dieser Form nicht für angezeigt halten. Die Seelsorgerin sieht in dieser Situation „eine ethische Gefahr“ gegeben und schildert den Gesprächsablauf zwischen dem Chefarzt, dem Patienten und dessen Ehefrau:

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

Dieser Chefarzt hat dem Patienten in einem Gespräch die vierte Chemo angeboten. Und da war ich sogar dabei, weil der Chefarzt mich nicht erkannt hat, als ich da am Bett war bei dem Patienten, und die Ehefrau war da […]. Ich habe da nicht aktiv eingegriffen in diese Situation, und der Patient […], der hatte großes Vertrauen zu diesem Chefarzt. Und ich hatte hinterher das Problem: Ich bin keine Medizinerin, ich habe mir auch kein Urteil zu erlauben in Bezug auf die vierte Chemo. Was mir aber meine Erfahrung sagt – wie gesagt, ich habe es dann rückgekoppelt mit anderen Ärzten hier im Haus –, dass ihn praktisch diese vierte Chemo vernichten wird. Dass ich da wirklich in großer Sorge war, aber ich auch wusste, ich kann nicht das Vertrauen des Patienten zu seinem behandelnden Chefarzt brechen. Also so das war wirklich eine Konfliktsituation. Und ich habe mich besonnen, was heißt da Seelsorgerin sein […]? […] Ich weiß, dass ich mich sehr bemüht habe, dem Chefarzt nicht an den Karren zu fahren. Wenn ich als Privatperson da gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich mit meinem Angehörigen deutlicher gesprochen, bist Du verrückt, eine vierte Chemo, hol Dir mal eine zweite Meinung ein. Und so weit bin ich in dem Gespräch nicht gegangen. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin stuft das Angebot einer weiteren Chemotherapie als tödliche Gefahr ein und lässt sich diese Meinung von anderen Ärzten im Krankenhaus bestätigen. Für sie liegt ein ethisches Problem vor: Es ist die Frage, ob eine weitere Chemotherapie für diesen Patienten sinnvoll ist. Sie entscheidet sich jedoch dafür, diese innere Spannung nicht nach außen zu tragen und somit keinen Raum der ethischen Kommunikation zu eröffnen, da sie nicht in das Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und dem Arzt eingreifen möchte. Das Ziel, Schaden vom Patienten abzuwenden, und das Ziel, das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt nicht zu gefährden, treten in Konflikt. Die Seelsorgerin muss ihre Rolle in dieser ethischen Spannung justieren. Wird an dieser Stelle gar kein ethischer Kommunikationsraum eröffnet, so berichtet die Seelsorgerin Kerstin Schlegel von einem Fall, in dem zwar verschiedentlich ethisch kommuniziert wird, aber es nicht zur Eröffnung einer ethischen Kommunikation im größeren Kreis kommt. Der Patient liegt seit geraumer Zeit auf der Intensivstation und möchte, dass seine Therapie beendet wird. Die Ärzte und Psychiater der Station meinen jedoch, dass es noch nicht so weit sei, und der Patient sich für die Beendigung der Therapie entschieden habe, weil er bereits lange auf der Intensivstation liege und ein Mensch sei, der schnell aufgibt. Auch seine Angehörigen sind nicht für eine Therapiebegrenzung, doch, wie die Seelsorgerin erzählt, aus anderen Gründen als die Ärzte: Und die Angehörigen haben gesagt, sie wissen das, […] sie können sich noch nicht darauf einstellen, dass er jetzt stirbt. Und sie sind noch nicht so weit und sie glauben auch, dass, wenn er es wieder packt, es gibt ja noch eine Hoffnung, er es dann auch anders sieht. Und wir haben das aber im Auge behalten. Alle. Wobei die Pflege immer gesagt hat, […], es muss ein Ende haben. Es ist so fürchterlich, wir quälen ihn nur. Und es ging schon noch eine ganze Zeit. Aber irgendwann kam der Punkt, da war es dann eindeutig. Da war es eindeutig […], dass nichts mehr gut wird, und die Angehörigen

Die Genese ethischer Situationen

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[konnten] einfach auch durch diesen Prozess, den sie da durchmachen konnten, […] ja [zur Beendigung der Therapie sagen]. Aber seit diesem Wunsch, er will, dass abgeschaltet wird, auch dem Wunsch der Pflege, dass jetzt nichts mehr geht, ist schon viel Zeit vergangen. (I Kerstin Schlegel 8. 5. 2012 T)

Hier stehen die verschiedenen Wünsche und Perspektiven gegeneinander, die jedoch nicht in einem Ethikkonsil besprochen werden. Vielmehr führt die Seelsorgerin mehrere Gespräche mit den Angehörigen und dem Personal. So trifft zunächst auch keiner der Anwesenden eine Entscheidung. Vielmehr durchlaufen die Angehörigen über einen längeren Zeitraum einen Prozess, in dem es an einem nicht näher beschriebenen Punkt dazu kommt, dass sie dem Wunsch ihres Verwandten zustimmen. In einem anderen Krankenhaus tauschen sich die Seelsorgerin und eine Pflegerin über die Frage aus, ob eine Patientin einer Palliativstation einer weiteren Untersuchung unterzogen werden soll. Aus Sicht der Pflegerin ist dies unnötig. Die Seelsorgerin erzählt: [D]a war das […] so für die Schwester ein Thema: „Mensch wir wissen doch, wir arbeiten hier auf der Palliativstation und da geht’s doch drum, dass wir Menschen begleiten in dieser Situation und dass wir nicht noch alles machen, was jetzt noch möglich ist. Das ist doch nicht richtig. [Wir] sollten doch anders handeln, wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen.“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Die Pflegerin eröffnet im Gespräch mit der Seelsorgerin einen Raum der ethischen Kommunikation. Die Pflegekraft stellt hier der ärztlichen Anordnung, dass die Patientin noch einem weiteren Ultraschall unterzogen wird, die Verantwortung gegenüber, diese Patientin im Sterbeprozess einfühlsam zu begleiten. Obwohl sich die Pflegerin mit der Seelsorgerin über diese Situation austauscht, möchte sie diesen Umstand nicht in einem weiteren Kreis besprechen: Ich hab am Ende des Gesprächs noch mal gefragt: „Ja, wie wollen Sie denn jetzt weiter damit umgehen? Oder gibt es etwas, das ich aus Ihrer Sicht in diesem Zusammenhang noch tun sollte?“ Und da hat sie eben abgewunken und gesagt: „Ach nein, jetzt war die Patientin inzwischen auch schon abgeholt zur Sonographie.“ Wo sie dann zurückgefallen ist, sozusagen, in ihr Rädchendasein. […] Also, da wäre zum Beispiel für mich der Punkt, wo ich gerne in unserem Haus die Möglichkeit einführen würde, solche Dinge nachzubesprechen. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E, siehe Kapitel 3.2)

Die Seelsorgerin fragt die Pflegerin, wie sie mit der Situation umgehen möchte, und bietet ihr an, dass sie selbst aktiv wird. Die Pflegerin entscheidet sich jedoch, die Situation so zu belassen, wie sie ist. Sie gliedert sich wieder in das System des Krankenhauses ein, in dem sie eine untergeordnete Rolle spielt. Dies fasst die Seelsorgerin in den Begriff des „Rädchendaseins“. Durch die Entscheidung der Pflegerin ist der Handlungsspielraum der Seelsorgerin begrenzt; der Raum ethischer Kommunikation schließt sich, statt sich zu erweitern.

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

Es konnte herausgearbeitet werden, dass Seelsorgende sich in manchen Fällen gegen die Eröffnung eines ethischen Kommunikationsraums entscheiden. Dabei können ethische Erwägungen in den Ausschlag geben, wenn etwa das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht tangiert werden soll, oder auch seelsorgliche Wahrnehmungen, etwa die, dass die Angehörigen eine Weile benötigen, um einen bestimmten Prozess zu durchlaufen. In einer anderen Situation führt die Bitte der Pflegerin, die Kommunikation nicht weiter auszudehnen, zum Verzicht auf weitere ethische Kommunikation.3

II.

Die Veränderung ethischer Situationen

An den bislang beschriebenen Beispielen konnte illustriert werden, dass Seelsorgende ethische Kommunikationsräume eröffnen oder dies bewusst unterlassen. Nun stellt sich die Frage, wie sie innerhalb dieser Räume vorgehen. In manchen Situationen steht für die Seelsorgende die Arbeit mit den Beziehungen und der Umgang mit den Gefühlen der Anwesenden im Vordergrund. In anderen wiederum erweitern sie die ethische Situation, indem sie das heimische Umfeld der Patienten und Angehörigen einbeziehen oder verschiedene ethische Situationen miteinander verbinden. a)

Beziehungsarbeit und der Umgang mit Emotionen in ethischen Situationen

Das Vorgehen der Seelsorgenden in ethischen Kommunikationsräumen wird unter anderem durch das Eingehen auf die Beziehungen und Emotionen der Angehörigen geprägt.4 Die Seelsorgerin Christina Koehl erzählt von einer ethischen Beratung: Mir ist noch eine Besprechung in Erinnerung, die wir vor kurzem hatten, […] da hatte der Angehörige das Gefühl, wenn er ja sagt, dann stirbt seine Frau. Dann hören wir auf mit der Behandlung, dann stirbt seine Frau. Dann hat er das Gefühl, ich bin für den Tod meiner Frau verantwortlich. Und ihm das dann wegzunehmen, zu sagen, klar, es ist wichtig, zu sagen und so. Aber auch festhalten, Sie müssen das nicht entscheiden und Sie sind auch nicht für den Tod ihrer Frau verantwortlich. Solche Sachen sind dann auch seelsorglich wichtig. (I Christina Koehl 8. 10. 2012 T)

3 Es würde sich lohnen, die ethischen Prozesse im Vorfeld der Eröffnung oder Nichteröffnung ethischer Kommunikation, wie sie an den Beispielen hier aufgezeigt werden konnten, näher zu untersuchen. Deutlich wurde bereits, dass Seelsorgende hier eine wesentliche Rolle spielen. 4 Kapitel 3.3 widmet sich eingehend diesem Thema.

Die Veränderung ethischer Situationen

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Die Seelsorgerin zeigt sich sensibel gegenüber dem Gefühl des Ehemanns, für den Tod seiner Ehefrau verantwortlich zu sein, wenn er sich für die Therapiebegrenzung entscheidet. Sie bezieht ihre diesbezüglichen Wahrnehmungen in den Entscheidungsprozess ein und verweist auf das Recht, um den Ehemann zu entlasten. Rechtlich ist festgeschrieben, dass in solchen Situationen der (ggf. mutmaßliche) Wille des Patienten sowie die medizinische Indikation für die Entscheidung ausschlaggebend sind, nicht jedoch der Wille der Angehörigen. Sie verdeutlicht ihm damit, dass nicht er über die Therapiebegrenzung entscheide und er auch nicht für den Tod seiner Frau verantwortlich sei. Ähnlich wie Christina Koehl hat Seelsorger Florian Ahrens während einer ethischen Fallbesprechung das Gefühl, dass weniger die anstehende Entscheidung selbst als aus einer früheren Situation resultierende Schuldgefühle der Angehörigen für den Gesprächsverlauf ausschlaggebend sind: Ich erinnere mich an eine Situation, die war auch ganz typisch. Wo ich dann so raushörte, das eigentliche Problem lag darin, dass die Schuldgefühle hatten. Wenn wir unsere Mutter vier Wochen früher hier hergebracht hätten, da waren ja auch schon Anzeichen, hätte man sie da noch retten können? Das war die eigentliche Frage. Und dann habe ich das irgendwie zwischen den Zeilen rausgehört und habe das dann in dieser Runde mal angesprochen […]. „Moment mal“, konnten die Ärzte drauf antworten und sagen, „nein, der Krebs, der war schon so weit fortgeschritten, selbst wenn Sie vor vier Wochen gekommen wären, wäre das Ergebnis dasselbe gewesen. Wir hätten da auch vor vier Wochen nichts machen können.“ Und das war sehr entlastend für die Angehörigen. Da ist der Knoten geplatzt. Und ab der Stelle lief dann das Gespräch plötzlich viel entspannter. Also, meine Rolle kann dann manchmal insofern hilfreich sein, dass ich sozusagen zwischen den Zeilen raushöre, dass was man in der klassischen Seelsorge einfach auch lernt. Also, auch so die eigenen Gefühle zu befragen, was liegt denn jetzt bei den Angehörigen emotional obenauf. Und das waren in dem Fall die Schuldgefühle. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

In diesem Ethikkonsil tragen das Einlassen des Seelsorgers auf die Situation und sein Einfühlungsvermögen dazu bei, dass sich die Dynamik der Situation verändert. Durch seine Intervention können die Ärzte auf die bislang implizit präsenten Schuldgefühle der Angehörigen eingehen, wodurch sich die Angehörigen entlastet fühlen. In den bisher beschriebenen Beispielen standen institutionalisierte Settings im Vordergrund. Aber auch in nicht-institutionalisierten Zusammenhängen, in denen es um ethische Fragen geht, trägt ein beziehungsorientiertes Handeln zur Veränderung der Situation bei. Die Seelsorgerin Susanne Christlieb berichtet von Gesprächen, die sie mit dem Enkel einer Patientin führt. In ihrer Patientenverfügung hat diese sich gegen eine künstliche Ernährung ausgesprochen. Ihre Tochter, die ihre Bevollmächtigte ist, will dem entsprechen. Anders ein Enkel, der möchte, dass seiner Großmutter eine Sonde zur künstlichen Ernährung gelegt

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

wird. Nach einigen Gesprächen lenkt der Enkel ein und lässt die Palliativbehandlung zu. Die Seelsorgerin sagt: Ich habe dann des Öfteren Gespräche gehabt mit dem Enkel am Bett und habe gesagt: „Lassen Sie uns hingucken, schauen Sie Ihre Großmutter an.“ Und […] es kam dann natürlich irgendwann zu einer Aussage wie: „Großmutter darf nicht sterben, ich brauche sie noch.“ Und dann ist ein anderer Ansatz da. Seelsorglich, ja? Das hat überhaupt nichts mit Ethik zu tun, aber dann können ethische Entscheidungen auch in einem Kompromiss geschlossen werden und nicht in so einem Gegenüber und in so einer Gegenwehr. Weil damit ist ja gar niemandem gedient. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Interessant ist hier, dass die Seelsorgerin ähnlich wie der Seelsorger Jakob Gutwirth mit einer starken Dichotomie von Seelsorge und Ethik operiert. Die ethische Situation – der Enkel opponiert gegen eine einschlägige Patientenverfügung, die den Behandlungsabbruch fordert – wird mit ihrer Hilfe auf die Ebene der Beziehung zwischen Enkel und Großmutter verlagert und dort bearbeitet. Dies trägt zur Öffnung der Situation bei. Doch hat dieses Vorgehen durchaus ethische Implikationen: Wir haben die Patientin dann palliativ begleitet, aber es hat eben gebraucht. Und diese Zeit, das ist etwas, was wir aus unserer Erfahrung wissen, hätte es eigentlich nicht gebraucht. Dieser Zwischenpart, den wir einnehmen mussten, war notwendig für die Angehörigen. Für die Patientin war es nicht gut. […] Also das ist der Konflikt, mit dem das Team arbeiten muss. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Hier wird deutlich, dass die Seelsorgerin Seelsorge und Ethik stark kontrastiert, aber von außen betrachtet durchweg sowohl im engeren Sinne seelsorgliche als auch ethische Handlungslogiken zum Tragen kommen. In den Gesprächen versteht sich Susanne Christlieb als Seelsorgerin, das heißt als mitfühlende Begleiterin des Enkels. Zugleich zeigt sie sich auch in ihrer Rolle als Seelsorgerin sensibel gegenüber der ethischen Dimension der Situation, das heißt, der ethischen Relevanz und rechtlichen Bindungswirkung der einschlägigen Patientenverfügung. Dennoch entscheidet sich die Seelsorgerin dafür, zunächst den Bedürfnissen des Enkels Priorität einzuräumen. Sie versucht ihn dazu zu bringen, sich seiner Emotionen und Bedürfnisse bewusst zu werden. Die Seelsorgerin nimmt den Enkel in seiner biografischen Verfasstheit und Verletzlichkeit wahr. Das erhält mindestens für eine Zeit lang den Vorrang gegenüber dem rechtlichen Erfordernis – eine durchaus problematische ethische Implikation seelsorglichen Handelns an dieser Stelle.5 Für die bisher betrachteten Beispiele lässt sich sagen, dass Seelsorgende ein Gespür dafür haben, dass für die Angehörigen neben der Entscheidung über den 5 Siehe dazu Kapitel 4.1, III. b.

Die Veränderung ethischer Situationen

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Behandlungsverlauf auch ihre eigene Involviertheit und ihre Beziehung zu einem Verwandten wichtig sind. Die Seelsorgenden orientieren sich an diesen Beziehungen und fühlen sich in die einzelnen Personen ein. Dadurch können sie erkennen, welche Argumente und Vorgehensweisen die Angehörigen gegebenenfalls entlasten können. Im ersten hier dargestellten Fall beruft sich die Seelsorgerin auf eine rechtliche Argumentation, im zweiten Fall erhalten die Angehörigen eine medizinische Erklärung, und im dritten Fall ist die Arbeit an der Beziehung wichtig. Dieses Vorgehen der Seelsorgenden dynamisiert die Situationen.

b)

Die raumzeitliche Veränderung des Entscheidungskontexts

Die Seelsorgenden verändern nicht nur die Dynamik der Situation, sondern auch deren Zuschnitt. Die Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach rekapituliert die Geschichte eines über 80-jährigen dementen Patienten, der von zwei Ärztinnen behandelt wird. Wegen eines wiederholten Hirninfarkts kommt dieser vom Heim ins Krankenhaus. Bedingt durch den Infarkt kann er nicht mehr schlucken, so dass die Frage im Raum steht, ob diesem Patienten noch eine PEG-Sonde gelegt werden soll oder nicht. Dies soll in einer ethischen Fallbesprechung besprochen werden. Ehe diese beginnt, verschafft sich die Seelsorgerin einen Eindruck von dem Patienten: Als ich bei ihm war, hat er gerade mit seinem Arm so in der Luft gefuchtelt. Ich habe dann seine Hand genommen, die fiel praktisch in meine hinein sozusagen, und er hat die Augen aufgemacht. Und dann gab es einen Augenkontakt, also, da gibt es etwas Leeres, aber da gibt es auch etwas, wo ich den Eindruck hatte, der ist in Kontakt. Der hat registriert, dass da eine Hand seine Hand nimmt. Und ich hatte keinen blassen Schimmer, als ich da bei ihm stand, ob er ansprechbar ist, wie viel er hört, und ich konnte auch in der kurzen Zeit nicht eruieren, wie viel da letztlich bei ihm ankommt. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin geht beobachtend in die Situation hinein, kommuniziert nicht nur verbal mit dem Patienten, sondern nimmt körperlich Kontakt mit ihm auf. Durch den Besuch des Mannes gewinnt die Seelsorgerin einen eigenen, ambivalenten Eindruck von ihm. Kurz nach ihrem Besuch findet die ethische Fallbesprechung statt, in die sie ihre Beobachtung einbringt. Ihre Schilderungen sind maßgeblich für den weiteren Verlauf des Entscheidungsprozesses. Ausdrücklich weist sie während der Ethikberatung auf offene Fragen hin, die noch zu beantworten sind, ehe eine Entscheidung endgültig getroffen wird. Es sind Fragen nach dem Grad der Demenz, der Lebensqualität des Patienten im Heim und danach, ob die neu hinzugekommenen Schluckbeschwerden dessen Lebensqualität beeinflussen:

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

Ich als Seelsorgerin habe eingetragen, […] mit ihm habe ich eine völlig andere Erfahrung [als eine der Ärztinnen]. […] Und ich habe noch mal deutlich gemacht, dass für mich da noch so viele Leerstellen sind. Dass sozusagen mir nicht deutlich ist, wie dement ist er eigentlich, also, haben wir es da mit einer fortgeschrittenen Demenz zu tun. Und das andere, dass noch überhaupt noch nicht deutlich wurde und auch im Gespräch nicht deutlich wurde, welche Lebensqualität er eigentlich im Heim hatte bisher. Also, hat sich jetzt durch den Hirninfarkt extrem was verändert? (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Dieser Verweis der Seelsorgerin auf die „Leerstellen“ führt dazu, dass die Entscheidung vertagt wird. Zudem wird verabredet, dass weitere Informationen und Eindrücke eingeholt werden sollen. Bis zu einer weiteren Fallbesprechung soll eine Ärztin Kontakt zum Pflegeheim aufnehmen, in dem der Patient vor seinem Krankenhausaufenthalt wohnte, um einen näheren Eindruck von seiner Lebensqualität zu bekommen. Zusätzlich wird vereinbart, dass der Sohn und die Ehefrau des Patienten erneut angeregt werden, über den mutmaßlichen Willen ihres Angehörigen ins Gespräch zu kommen. Die Seelsorgerin verknüpft zwei Formen ethischer Situationen. Sie befindet sich zunächst am Patientenbett in einem nicht-institutionalisierten Umfeld. Dann nimmt sie an der ethischen Fallbesprechung teil. In diese bringt sie ihre Eindrücke vom Patienten mit ein, was wiederum dazu führt, dass weitere Informationen über sein Leben außerhalb des Krankenhauses eingeholt werden. Durch ihr Handeln erweitert sich die ethische Situation um weitere Personen, den Sohn und die Ehefrau des Patienten, sowie um einen weiteren Raum, das Lebensumfeld des Patienten im Seniorenheim.6 Der Seelsorgerin Christina Koehl gelingt es, durch ihre Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen eines Angehörigen den Zuschnitt der Situation raumzeitlich zu erweitern. Sie versucht, den Angehörigen bei den Sitzungen des Ethikkonsils Zeit zu geben, eine Entscheidung zu treffen. Sie sagt: Wenn ich sehe, ein Angehöriger ist einfach noch nicht so weit, etwas Bestimmtes zu akzeptieren. Also, es stellt sich raus, es wäre im Grunde gut, eine bestimmte Behandlung einzustellen. Aber ich habe gemerkt, dass der Angehörige dem im Augenblick nicht zustimmen kann. Und das ist kein ethisches Problem, das ist mehr. Dann merke ich aus seelsorglicher Sicht, dass ich hier jetzt nicht ethisch weiter machen kann. […] Dann kann es auch sinnvoll sein, erst mal das Ganze zu verlangsamen. Zu sagen, ich verstehe Sie. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für Sie schwer ist. Vielleicht müssen wir das auch gar nicht jetzt zu Ende bringen. Gehen Sie noch mal nach Hause, schlafen Sie, sprechen Sie mit Ihren Kindern oder weiß ich was, kommen Sie noch mal wieder und so. Das dann so, dann fühle ich so die Seelsorgerin in mir, die dann eben spürt, wie weit jemand ist, und dass es vielleicht noch Zeit braucht und Unterstützung, einen bestimmten Schritt tun zu können. (I Christina Koehl 8. 10. 2012 T) 6 Siehe Kapitel 3.6, III.

Die Nachbegleitung ethischer Entscheidungen

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Ähnlich wie die Seelsorgerin Susanne Christlieb und der Seelsorger Jakob Gutwirth kontrastiert Christina Koehl in diesem Beispiel Seelsorge und Ethik miteinander. Für sie heißt Seelsorge, Verständnis gegenüber der Situation des anderen zu zeigen und diesen zu begleiten. Im vorliegenden Beispiel ist dies die Erkenntnis, dass der Angehörige zu diesem Zeitpunkt der Entscheidung, die Therapie einzustellen, nicht zustimmen kann. Durch ihren aus ihrem Einfühlungsvermögen erwachsenen Vorschlag, dass der Angehörige die Situation zuhause mit seinen Kindern besprechen kann, verändert sie den raumzeitlichen Zuschnitt der ethischen Situation und die Zusammensetzung der Akteure. Auch das vermeintlich bloß seelsorgliche Handeln hat also wiederum ethische Implikationen. Zwischendurch lässt sich festhalten, dass Seelsorgende in ethischen Situationen auf unterschiedliche Arten und Weisen dazu beitragen, dass diese sich ändern. Während der ethischen Fallbesprechung und im persönlichen Gespräch gelingt es den Seelsorgenden, die Gefühle der Angehörigen an die Oberfläche zu bringen sowie auf der Beziehungsebene mit ihnen zu arbeiten. Hierdurch verändert sich die ethische Situation. Eine andere Vorgehensweise der Seelsorgenden ist es, den raumzeitlichen Zuschnitt ethischer Situationen zu weiten, indem sie unter anderem vorschlagen, dass weitere Informationen im heimischen Umfeld des Patienten erhoben werden. Aber auch die Verbindung nicht-institutioneller und institutioneller Zusammenhänge verändert die ethische Situation.

III.

Die Nachbegleitung ethischer Entscheidungen

Neben persönlichen Gesprächen und Verhandlungen in Ethikkomitees im Vorfeld einer Entscheidung begleiten die Seelsorgenden Angehörige und das medizinische Personal auch dann, wenn Entscheidungen bereits getroffen wurden. In einem Beispiel, das in den Kapiteln 3.5 und 3.7 aus anderen Perspektiven beleuchtet wird, geht es um zwei zu früh geborene Zwillingsmädchen. Die Eltern sind mit der Entscheidung konfrontiert, die Therapie bei einem der Kinder einstellen zu lassen. Dieses Kind ist ohne intensive therapeutische Maßnahmen nicht lebensfähig. Die Eltern entscheiden sich, diese Maßnahmen zu beenden. Die Seelsorgerin berichtet, wie die Therapiebegrenzung verlaufen ist: Am Anfang hatte es noch so die Geräte ein bisschen. […] Da habe ich es dann noch einmal gesegnet und die Eltern gesegnet. […] Dann kam der Arzt, und dann war eine ganz spannende Szene, die habe ich erst im Nachhinein verstanden. Ich war ein bisschen näher an der Tür, und der Arzt hat sich dann erst mir zugewendet und hat dann gesagt, also, und dabei hat er mich nicht angeguckt. Das fand ich erst ganz eigenartig. Und hat gesagt, ja, also die medizinische Situation wäre ja so und so. Die Eltern seien ja auch

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

aufgeklärt, hätten das verstanden und seien einverstanden. Da habe ich ihn dann noch einmal bestätigt […]. Und dann sagte er noch mal, das war mir eindrücklich, dass es ja bei solchen sehr früh geborenen […] Kleinen noch nicht die klassischen Hirntodkennzeichen gäbe. Aber das EEG, das sie zwei Mal gemacht hätten, hätte eben alle Anzeichen für schwerste Hirnschäden gezeigt. Und deswegen sei es jetzt angebracht oder in Ordnung, die […] Beatmung […] abzuschalten. Und erst danach ist er zu den Eltern, hat die Verabschiedung gemacht und angefangen, die Geräte wegzunehmen. Und er war dann auch dabei, bis das Kind gestorben ist. […] Also im Nachhinein habe ich verstanden, dass ich da so etwas wie eine Bezeugungsinstanz war, und zwar eben nicht als Privatperson, sondern in meiner Rolle als Klinikseelsorge. […] Ja, aber das auch dem Arzt wichtig war, […] dass offensichtlich er diesen Konflikt oder diese Verantwortung dieser Entscheidung sehr deutlich wahrgenommen hat. Und noch mal begründet und gerechtfertigt hat, wieso er diese Entscheidung getroffen hat. Und ihm auch wichtig war, sich zu versichern, die Eltern wissen, […] welche Entscheidung sie getroffen haben, weil sie mussten ja auch die Zustimmung geben. (I Ruth Lange 8. 5. 2012 T)

In dieser Situation haben die Eltern die Entscheidung, die Therapie zu beenden, innerlich getroffen, und auch das medizinische Personal stimmt mit ihr überein. Die Seelsorgerin begleitet die Anwesenden. Zunächst segnet sie das Kind sowie seine Eltern und gestaltet damit das Behandlungszimmer in einen rituellen Raum um.7 Anschließend tritt der Arzt ein, der die Entscheidung, die Therapie zu beenden, in die Tat umsetzen wird. Obwohl die Entscheidung bereits getroffen wurde, ist der Arzt nach der Deutung der Seelsorgerin sich seiner Verantwortung in dieser Situation sehr bewusst. Um die Therapie beenden zu können, ist es ihm wichtig, die Gründe für diese Entscheidung noch einmal zu rekapitulieren und sich zu vergewissern, dass die Eltern wissen, welche Entscheidung sie getroffen haben. Die Seelsorgerin ist hier die symbolische Adressatin ärztlicher Verantwortung wie auch die personelle Repräsentantin der im Konsens aller getroffenen Entscheidung. In einer anderen Situation, von der der Seelsorger Florian Ahrens berichtet, begleitet er eine Pflegekraft. Diese muss einen schwer lungenkranken Patienten pflegen, dessen Angehörige wünschen, dass er eine Transplantation bekommt. Die Perspektive der Pflegekraft ist, dass die Aufrechterhaltung der lebenserhaltenden Maßnahmen eine Quälerei ist, da sich der Patient aus ihrer Sicht im Sterben befindet: Und diese Pflegekraft, die steht nun in dem Konflikt, meine Güte, können die den denn nicht loslassen? Und ich muss das ertragen, dass der sich so quält, bloß, weil die Angehörigen ihn nicht loslassen können. […] Aber für die Angehörigen waren diese drei Wochen, die er noch erlebt hat, ganz wichtig. […] Und der ist dann wirklich einen Tag später gestorben, als die Angehörigen ihn dann losgelassen haben. Und da versuche 7 Siehe Kapitel 3.7, III.

Der Einfluss ethischer Situationen auf Seelsorgende

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ich dann also den Mitarbeitern deutlich zu machen, das ist eine nicht lösbare Situation, aber für die Angehörigen hat das etwas gebracht, und deine Arbeit war auch sinnvoll an der Stelle. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Der Seelsorger ermutigt die Pflegerin. Er geht auf ihre Gefühle ein und verdeutlicht ihr, dass ihre Arbeit den Angehörigen geholfen hat. Eine gefällte ethische Entscheidung muss also nicht das Ende aller Konflikte und Spannungen sein. Es ist der Seelsorger, der für eine im Nachgang stattfindende ethische Kommunikation bereitsteht und damit den verbliebenen Konflikt zu bewältigen hilft. Seelsorgende begleiten ethische Situationen an anderer Stelle auch durch Rituale nach. Anders als bei den meisten bisher beschriebenen Formen der Begleitung stehen im Ritual jedoch die symbolische und die performative Ebene im Vordergrund. Hierdurch erleben und verhandeln die Ritualteilnehmer die ethische Situation auf einer anderen Dimension.8 Seelsorgende verändern also ethische Situationen in vielerlei Hinsicht. Beispielsweise eröffnen sie Kommunikationsräume. Aber auch in ethischen Situationen nehmen sie Einfluss auf diese, indem sie den raumzeitlichen Zuschnitt oder aber die Dynamik der Situation verändern. Zudem begleiten sie die Beteiligten, nachdem die Entscheidung bereits gefällt wurde.

IV.

Der Einfluss ethischer Situationen auf Seelsorgende

Seelsorgende beeinflussen Situationen nicht nur, sondern werden auch durch diese beeinflusst. Dies reflektiert die Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach. Sie erzählt von einer Patientin mit einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung, die seit vielen Jahren im Heim lebt. Zu ihren Angehörigen zählen ihr Ehemann sowie zwei Töchter, von denen eine die Betreuung der Mutter übernommen hat. Die behandelnde Ärztin hat die Seelsorgerin in die Situation mit einbezogen, da zwischen der Ärztin und den Angehörigen der Konflikt besteht, ob die Patientin mit einem Port versorgt werden soll oder nicht. Die Ärztin fühlt sich von den Angehörigen unter Druck gesetzt, während die Verwandten daran zweifeln, dass die Patientin in diesem Krankenhaus angemessen behandelt wird. Die Seelsorgerin führt daraufhin mehrere Gespräche mit den Beteiligten, um sich ein umfassendes Bild von der Situation zu machen. Sie möchte herausfinden, welche Rollen die Beteiligten innehaben, aber auch, wie die Situation der Patientin im Heim ist. Zudem erkundigt sie sich nach der Lebensqualität der Patientin.

8 Siehe Kapitel 3.7.

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Der Einfluss der Seelsorgenden in Entscheidungssituationen

Schließlich spricht sie mit der Patientin, um unabhängig von den anderen Beteiligten einen Eindruck des mutmaßlichen Willens der Patienten zu erhalten: Diese Patientin hat gesprochen, wenn man sie angesprochen hat. Die hat von sich aus nichts erzählt. Ja, also insofern musste ich irgendwo ansetzen und habe angesetzt, wie es ihr geht. Da stand das Frühstück noch, und es ging ja nun um die Essensfrage, ich habe also mit den sichtbaren Dingen angefangen zu sprechen, wie es denn mit dem Essen stand heute früh. Und dann hat sie erzählt, dass sie einmal [vom Brötchen] abbeißt, und dann reicht es schon, und dann ist alles satt in ihr. Und ich habe schon da den Faden verfolgt, wie satt sie eigentlich das Leben letztlich hat. An welchem Punkt sie an sich selbst ist, also nicht so plump von dem Satz mit dem Brötchen aus, aber das war ein Pfad, und wenn ich jetzt ehrlich bin, dann war das auch auf dem Weg, als ich zu ihr ging, im Hinterkopf, dass ich selbst einen Eindruck davon haben möchte, wo die Patientin eigentlich hinwill. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Hier überträgt sich der Druck, einen Willen ermitteln zu müssen, auf die Seelsorgerin selbst.9 Im Gespräch setzt sie seelsorgliche Fertigkeiten wie die Hermeneutik symbolischer Sprechweise ein, um so den Willen der Patientin zu ermitteln. Im Interview reflektiert sie ihren Umgang mit der Patientin und beurteilt ihre Vorgehensweise im Nachgang kritisch. Ihr wird bewusst, dass sie nicht wie sonst in der Seelsorge ein klientenzentriertes Gespräch geführt, sondern das Gespräch mit dem Ziel begonnen hat, den Willen der Patientin zu erfahren. Und dann habe ich ein Gespräch mit ihr geführt, wo ich […], wenn ich jetzt noch mal kritisch raufgucke […], schon ein bisschen zielorientiert war. […] Aber ich sage mal, in der Situation, jetzt bei der Auswertung komme ich drauf, dass es ethische Anteile hat. Aber in der Situation erlebe ich mich ja als Seelsorgerin mit dieser Frage…, obwohl es mich jetzt gerade irritiert. Weil Seelsorge heißt für mich letztlich nicht zielorientiert reinzugehen, sondern den Raum zu öffnen, praktisch zu gucken, was ist sozusagen, was soll Gesprächsthema werden und dem Pfad dann auch zu folgen. Hier wollte ich einen Eindruck einsammeln praktisch, der dann auch medizinisch weiterhilft. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Seelsorgende stehen damit, wie auch das nächste Beispiel zeigt, vor der Herausforderung, dass ihr Handeln mit durch den Kontext beeinflusst wird. Dies können auch wirtschaftliche Faktoren sein. Die Seelsorgerin Susanne Christlieb berichtet, wie sich in ihrem Krankenhaus der Übergang eines Patienten von einer kurativen Station auf die Palliativstation ausgestaltet: Und gleichzeitig kommt ein ökonomischer Druck: Menschen haben nur noch eine bestimmte Verweildauer im Haus, und von daher müssen manchmal Entscheidungen schneller getroffen werden […]. Und es heißt, den Prozess dann zu forcieren, ist ein Teil des ethischen Prozesses für mich – also ich mach das nicht alleine, sondern wir versuchen als Team – die Angehörigen da mitzunehmen, um dann Entscheidungen ge-

9 Siehe auch Kapitel 3.5, II d.

Fazit: Seelsorgende gestalten ethische Situationen

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meinsam zu fällen und zu tragen, und aber auch dann nachzubegleiten. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Ethische Entscheidungen müssen auch unter ökonomischen Druck gefällt werden. Dieser Druck überträgt sich auf die Seelsorgerin und das Team, mit dem sie gemeinsam versucht, den Entscheidungsprozess zu beschleunigen. In vielen Fällen nehmen die Seelsorgenden Einfluss auf die ethische Situation. Sie agieren jedoch nicht in einem luftleeren Raum, sondern werden selber wiederum durch die Situationen beeinflusst, wie auch Kapitel 2.2 zeigt. Die Seelsorgerin Susanne Christlieb ist fest in das System Krankenhaus eingebunden, dessen ökonomische Logik sie in dieser Situation übernimmt und reproduziert. Die Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach wird in dem beschriebenen Beispiel wiederum durch die rechtliche Logik der Willensermittlung in ihrem Handeln beeinflusst, reflektiert dieses Eingebundensein und diese Einflussnahme im Interview jedoch kritisch. Diese Fähigkeit der Seelsorgenden, den Einfluss der ethischen Situationen auf das eigene Verhalten zu reflektieren, ist umso bedeutender, als ihre Konfrontation mit ethischen Fragen zunimmt.

V.

Fazit: Seelsorgende gestalten ethische Situationen in vielfacher Hinsicht

Als eine Berufsgruppe im Krankenhaus sind die Seelsorgenden auf unterschiedliche Arten und Weisen in ethische Situationen eingebunden. Sie eröffnen ethische Kommunikationsräume, wenn sie den Eindruck haben, dass im Hinblick auf eine weitere therapeutische Behandlung des Patienten, die Informationen nicht ausreichen oder aber widersprüchlich sind. In anderen Fällen entscheiden sie sich dafür, keinen ethischen Kommunikationsraum zu eröffnen. Seelsorgende agieren auch innerhalb ethischer Kommunikationsräume. Hier ist ebenfalls ihre einfühlsame Begleitung gefragt, durch die bisher latente Bedürfnisse und Fragen bewusst werden, deren Befriedigung und Beantwortung den Fortgang der ethischen Situation befördern. Die Seelsorgenden dynamisieren in solchen Fällen die ethischen Situationen. In anderen ethischen Situationen ist es ausschlaggebend, dass die Seelsorgenden den Kontext raumzeitlich erweitern. Sie öffnen Türen, die aus dem Krankenhaus in das heimische Umfeld führen. Damit wird die punktuelle Entscheidungssituation um weitere zeitliche, räumliche und personelle Dimensionen erweitert, was wiederum zur Lösung beitragen kann. Ebenso ist es von Bedeutung, dass Seelsorgende institutionalisierte und nicht-institutionalisierte Settings miteinander verbinden. Aufgrund ihres weiten Verständnisses von Ethik begleiten die Seelsorgenden die Patienten, deren Angehörige und das medizinische Personal in Situationen, in denen die Entscheidung bereits feststeht. Ihre Aufgabe kann es dann sein, die

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Ethik im Kontext der Organisation

innerlich getroffene Entscheidung und die Verantwortung der Beteiligten noch einmal symbolisch zu bekräftigen, so dass diese in die Tat umgesetzt werden kann. Die Seelsorgenden agieren jedoch nicht losgelöst von ihrem Umfeld, sondern sind tief in dieses eingebettet. In ihrem Handeln orientieren sie sich an den Beziehungen der in die Situation involvierten Personen. Dies kann dazu führen, dass die Seelsorgenden in ethischen Situationen den Druck, den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln zu wollen, für sich übernehmen. Aber auch andere Aspekte wie der ökonomische Druck, der auf der Ebene der Organisation anzusiedeln ist, können sich auf das Verhalten der Seelsorgenden auswirken.10 So wandern Seelsorgende in Entscheidungsprozessen zwischen den verschiedenen Kategorien ethischer Situationen hin und her. Sie sind Bindeglieder zwischen den Zusammenhängen und vermitteln zwischen unterschiedlichen ethischen Situationen. Dies gelingt ihnen auch, weil sie in der Organisation Krankenhaus im Allgemeinen und in ethischen Situationen im Besonderen unterschiedliche Rollen einnehmen können. Einige Seelsorgende kontrastieren die Rollen des Ethikers und des Seelsorgers miteinander, aber bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sie jeweils seelsorglich und ethisch agieren. Wie Seelsorgende an der Gestaltung organisationsethischer Prozesse beteiligt sind und sich gegenüber der Organisation Krankenhaus verhalten, wird im kommenden Kapitel beleuchtet.

3.2 I. II. III. IV. V.

Ethik im Kontext der Organisation Organisationsregeln und -kultur als Themen der Ethik Der Wandel von Strukturen ethischer Kommunikation Die kommunikative Einbindung der Seelsorgenden Die Einheit der Organisation Fazit: Umgang mit Ethik umfasst auch „Seelsorge an der Institution“

Seelsorgende sind mit Ethik nicht nur im Umgang mit Entscheidungssituationen konfrontiert. Auch die Organisation des Krankenhauses stellt als solche ein Thema ethischer Reflexionen und Auseinandersetzungen dar.11 Hier sind Seelsorgende einerseits strukturell eingebunden, wenn sie im Kontext von Ethikkomitees oder Ad-hoc-Arbeitsgruppen Fragen der Organisationskultur disku10 Siehe Kapitel 3.2. 11 Nach Klessmann, Institution, 13, gibt es drei Adressaten der Klinikseelsorge: zum einen die Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen, zum anderen die Mitarbeitenden, und zum dritten die Organisation als ganze.

Fazit: Seelsorgende gestalten ethische Situationen

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tieren oder in der Pflegeausbildung Einheiten zur Ethik durchführen. Auf der anderen Seite sind sie selbst an der Schaffung von Strukturen beteiligt, wenn sie auf die Gründung von Arbeitsgruppen hinwirken und dabei insbesondere Belange von Mitarbeitenden aufnehmen. Schließlich sind Rituale wie etwa Einführungs- oder Verabschiedungsgottesdienste von Mitarbeitenden zum einen Bestandteil der Organisationskultur, zum anderen stellen sie aber auch ethische Situationen dar, an denen diese reflektiert wird.12 Der hier dargestellte Umgang der Seelsorgenden mit Ethik im Kontext der Organisation ist damit deutlich umfangreicher als eine Befassung mit organisationsethischen Themen im engeren Sinn. Zu diesen zählt der Medizinethiker Ralf Charbonnier etwa Fragen des Entlassungsmanagements in der Klinik, der Rationalisierung und Rationierung sowie allgemein der Allokationsgerechtigkeit, aber auch Fragen der Feedback-Kultur, des Ideen- und Beschwerdemanagements.13 Das in jüngerer Zeit immer wichtigere Thema des Fehlermanagements wird man hier noch hinzurechnen müssen. Über solche organisationsethischen Fragen hinaus sind Seelsorgende in vielfacher Weise mit den Organisationsabläufen, strukturellen Veränderungen, der Organisation von Kommunikation, dem Miteinander der Berufsgruppen, dem Leitbild der Einrichtung sowie mit Katalogen von Unternehmenswerten und mit weiteren Themen der „Unternehmenskultur“14 befasst. Diese Felder sind allesamt von ethischer Relevanz und liegen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in nicht unbeträchtlichem Umfang im Fokus der Aufmerksamkeit der Seelsorgenden. Das Feld lässt sich dabei wie folgt strukturieren: Seelsorgende haben es zum einen mit den allgemeinen, die Abläufe der Organisation Krankenhaus normierenden Regeln der Organisation und mit der Organisationskultur, in die diese eingebettet sind, zu tun (I.). Ein zweiter, großer Bereich sind die Kommunikationsstrukturen des Krankenhauses. An der Schaffung neuer und der Weiterentwicklung bestehender Kommunikationsstrukturen sind Seelsorgende intensiv beteiligt (II.). Dabei lohnt sich auch ein Blick darauf, in welche Kommunikationsstrukturen die Seelsorgenden – neben den festen Strukturen der Klinischen Ethikberatung – selbst eingebunden sind (III.). Schließlich wird deutlich, dass Seelsorgende nicht nur mit einzelnen Regeln bzw. Strukturen der Organisation, sondern auch mit der Organisation als ganzer befasst sind und hier zum Teil eine symbolisch-integrierende Funktion erfüllen (IV.).

12 Siehe dazu auch Kapitel 3.7. 13 Vgl. Charbonnier, Entwicklung, 26; Charbonnier, Behandlungsentscheidungen, 527. 14 Vgl. etwa Hofmann, Unternehmenskultur.

92 I.

Ethik im Kontext der Organisation

Organisationsregeln und -kultur als Themen der Ethik

Bereits in Kapitel 2.1 wurde deutlich, wie sehr Fragen der Ethik medizinischen Handelns mit organisationsethischen und -kulturellen Fragen, insbesondere der nach dem Verhältnis der Berufsgruppen untereinander und nach der Kommunikation im Haus, verwoben sind. Dies wird auch im folgenden Interviewausschnitt prägnant sichtbar. [W]ir hatten [vor einiger Zeit] einen Fall, wo eine sterbende Patientin auf einer Station war, die auch länger bekannt war. Dann kamen über die Notaufnahme zwei neue Patienten herein, und die mussten in ein Patientenzimmer, wo eine Überwachung vorhanden ist, und dann sollte in der Nacht die sterbende Patientin verlegt werden. Da gab es einen Aufstand von der Pflege: „Das machen wir nicht, denn wir haben ja ein Leitbild. Sterbende werden nicht verlegt, wenn überhaupt, dann die anderen Patienten.“ Es kam dann aber doch zu einer Verlegung. Und beide Stationen [die ursprüngliche Station der Sterbenden und die, die sie aufnehmen sollte] haben dann sofort am nächsten Tag Beschwerde eingelegt: Wie man denn so unethisch verfahren könne? „Wir haben doch hier ein Leitbild, Dienstanweisungen im Umgang mit Sterbenden. Das geht so nicht.“ […] Ja, die pflegerische Stationsleitung hat sich an mich gewandt und um ein Gespräch gebeten. Die Patientin wurde um [Uhrzeit] verlegt und ist [vier Stunden später] tatsächlich verstorben. Ich habe dann im Gespräch mit der Stationsleitung das weitere Vorgehen abgesprochen. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Im Zentrum steht die medizinethische Frage, wie unter Bedingungen knapper räumlicher Ressourcen mit sterbenden Patienten umzugehen ist. Diese Frage wird hier nicht als solche problematisiert. Vielmehr ist sie im Krankenhaus grundsätzlich geklärt: Es existiert eine Dienstanweisung, die die Verlegung sterbender Patienten untersagt. Ob dies ohne Ausnahme gilt, oder ob von dieser allgemeinen Regel begründete Ausnahmen zulässig sind (Sollbestimmung), geht aus der Erzählung des Seelsorgers nicht hervor. Die diensthabende Pflegekraft wird im konkreten Fall vom Arzt angewiesen, die Verlegung zugunsten notaufgenommener Patienten dennoch vorzunehmen. In ihrem Protest beruft sie sich auf das Leitbild des Hauses, dem ein solches Verhalten wiederspreche. Dieser Konflikt, der sich an einer Organisationsregel entzündet, hat mehrere unmittelbar organisationsrelevante Ebenen. Zum einen geht es um die Haltbarkeit und Verbindlichkeit der Regeln selbst, zum anderen um das Leitbild des Krankenhauses, in dem die grundlegenden Unternehmenswerte festgeschrieben sind, und als dessen Konsequenz diese Regel aufgefasst wird, und drittens geht es um das Verhältnis der Berufsgruppen untereinander. Hinzu kommt als gesellschaftspolitischer Horizont der steigende ökonomische Druck im Gesundheitswesen und die damit verbundenen verschärften Verteilungsprobleme im Krankenhaus. Der Seelsorger zeigt sich auf allen Ebenen ansprechbar. Er betont die moralische Subjekthaftigkeit der Mitarbeiterin, die als unter ärztlicher Wei-

Organisationsregeln und -kultur als Themen der Ethik

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sungsbefugnis stehende Pflegekraft in ihrem Gewissen nicht gebrochen werden dürfe, was gerade unter verschärften ökonomischen Bedingungen zu beachten sei.15 Er interveniert im weiteren Verlauf direkt und wendet sich an je eine zuständige Instanz: an den Vorstand hinsichtlich der Dienstanweisung und an die Pflegedirektion hinsichtlich der Kommunikation zwischen den Professionen und des Verhältnisses der verschiedenen Stationen untereinander. Hier erweist sich der Seelsorger als eine Art kommunikativer Libero, der von den Pflegenden ebenso informell angesprochen werden kann, wie er sich selbst informell an Vorstand und Pflegedirektion wendet.16 Ein häufiges Thema, anhand dessen organisatorische Abläufe im Allgemeinen in den Blick kommen, ist das des Übergangs von der kurativen zur palliativen Therapie.17 An dieser Stelle ist die Seelsorgerin Andrea Schreiber involviert: Im Durchschnitt sterben zehn Patienten im Krankenhaus pro Monat. Eigentlich sei es so gedacht, dass Patienten zur palliativen Therapie in das andere Krankenhaus des gleichen Trägers kämen. Aber dies habe sie in den drei Monaten ihrer Anstellung noch nicht erlebt. Ihre Vermutung ist, dass eine gewisse Angst vor dem Übergang besteht. (F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K)

Die Seelsorgerin deutet hier die Nichteinhaltung einer organisatorischen Regel durch eine dahinterstehende Affektlage des Personals und macht im weiteren Verlauf entsprechende Vorschläge zur Abhilfe. Die Organisation als Ganze kommt insbesondere dann in den Blick, wenn es um die Wirtschaftlichkeitsanforderungen des Krankenhauses geht. Der Umgang mit knappen Ressourcen, das Spannungsfeld zwischen medizinischer Professionalität, Zuwendung zum Menschen und ökonomischer Rechenhaftigkeit prägt den Alltag im Krankenhaus. Diese betrifft insbesondere die medizinischen Berufsgruppen im Krankenhaus, und Seelsorgende berichten von entsprechenden Gesprächen mit Ärzten und Pflegekräften.18 Sich selbst sehen Seelsorgende davon grundsätzlich weniger betroffen. Unsere Leistungen sind schon mal gar nicht abrechenbar. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

15 Zur Bedeutung des Rekurses auf das Gewissen im Kontext der Organisation siehe auch Kapitel 3.4. 16 Der Seelsorger ist dabei auf der Ebene des Managements ungewöhnlich stark in die Organisation eingebunden und hat insofern eine Sonderstellung unter den interviewten Seelsorgenden inne. Dennoch ist er – wie viele andere Seelsorgende auch – eben nicht nur aufgrund seiner organisatorisch festgelegten Befugnisse und Funktionen, sondern darüber hinaus auch informell ansprechbar und agiert entsprechend. 17 Zu diesem Übergang siehe auch Kapitel 3.5. 18 Siehe dazu Kapitel 3.4, I. e.

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Ethik im Kontext der Organisation

Dies ändert sich dann, wenn auch die Arbeit von Seelsorgenden dokumentiert wird und einen Einfluss auf die finanziellen Zusatzeinnahmen einer Klinik hat. Ein Seelsorger beschreibt den ökonomischen Druck, der mit der sogenannten palliativen Komplexbehandlung einhergeht: [D]er ethische Konflikt ist bestimmt auch ein systemorientierter Konflikt. Weiß ich, was im Hinterkopf dieser Ärztin, die für diese palliative Komplexbehandlung zuständig ist, abläuft. Nach dem Motto: „Lassen wir die Patientin noch ein paar Tage, dann sind die sieben Tage erfüllt.“ […] Die muss halt Zahlen liefern. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Da in diesem Fall auch Seelsorge als Leistung abgerechnet werden kann, sehen sich nun auch Seelsorgende in ihrer eigenen Berufstätigkeit direkter als bisher mit ökonomischem Druck konfrontiert. Es steht zu erwarten (und bedürfte weiterer Forschungen), dass Seelsorgende sich auf diese Weise zunehmend als in die Organisation eingebunden erfahren, und das Thema der Organisation in ihren eigenen berufsethischen Reflexionen einen immer größeren Stellenwert erhalten wird.19 Auf eine andere Weise verhalten sich Seelsorgende zur Organisation des Krankenhauses, wenn sie diese in Unterrichtssituationen explizit thematisieren. Gemeinsam mit einer Pflegerin der Palliativstation führt die Seelsorgerin Susanne Christlieb eine Schulung für Altenpfleger durch und widmet sich dabei dem Thema der Sterbebegleitung. Sie betont, wie wichtig es ist, die Wünsche des Sterbenden zu respektieren. Als Beispiel führt sie an, dass die körperliche Linderung von Symptomen nicht ausschließlich über die Gabe von Medikamenten stattfinden muss. Körperliche Linderung könne auch heißen, dass der Patient ohne Kleidung sein darf, wenn er das will. Die Menschen gingen so, wie sie in die Welt gekommen seien. Für einen solchen Patienten sei es Lebensqualität, wenn man ihn nackt ließe. Man könne ihn auf andere Weise vor den Blicken der Menschen schützen. So gäbe es manchmal moralische Bedenken, wenn man sich vorstellt, dass ein alter Mann nackt im Bett liegt, und eine junge Pflegerin zu ihm kommt. Hier komme es jedoch auf eine Drehung des Blickwinkels an. (F Susanne Christlieb 20. 3. 2012 T)

Ähnliches berichtet die Seelsorgerin Barbara Schmitz über ihren Unterricht für Pflegeschülerinnen und -schüler: Oft wüssten die Schüler nichts von Begriffen wie Patientenautonomie oder Patientenwunsch. Als Beispiel führt sie eine Patientin an, die sich weigerte, um 19 Uhr ins Bett zu gehen. Sie war noch nie im Leben um diese Uhrzeit ins Bett gegangen. Diese Weigerung ist eigentlich ein normales Verhalten, aber im Krankenhaus werden solche Menschen zu schwierigen Patienten. (F Barbara Schmitz 8./9. 3. 2012)

19 Das dürfte insbesondere dann der Fall sein, wenn die Finanzierung von Seelsorge selbst zunehmend auf die Träger übergeht (siehe dazu Kapitel 5).

Organisationsregeln und -kultur als Themen der Ethik

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Beide Seelsorgerinnen gehen von konkreten Organisationsabläufen aus, deren ethische Relevanz sie den Pflegeschülerinnen und -schülern verdeutlichen. Jeweils geht es um pflegerische Handlungen, die unter dem Druck organisatorischer Vorgaben stehen. Dass ein sterbender Patient nackt und unbedeckt im Bett liegen darf, ist unüblich. Die Begründung hierfür ist doppelt moralisch grundiert: Zum einen soll der Patient vor den Blicken der anderen geschützt, zum anderen mögliche Schamgefühle des Pflegepersonals respektiert werden. Die entsprechende Regel der Organisation verdankt sich also durchaus ethischen Erwägungen, kann sich aber im Einzelfall als kontraproduktiv erweisen: eine Spannung, die nur durch eine am Individuum orientierte ethische Reflexivität überwunden werden kann.20 Im zweiten Beispiel der Ruhezeiten geht es um die Kollision individueller Gewohnheiten und Bedürfnisse der Patienten mit den durchrationalisierten Organisationsabläufen der Klinik. Auch hier besteht das Bildungsziel der Seelsorgerin offenbar darin, diese Spannung als solche wahrzunehmen und sie nicht sofort zu Ungunsten der Patientin aufzulösen, indem diese als „schwierige“ Patientin klassifiziert wird. Es gehört also zur ethischen Grundausbildung der Pflegeschüler und -schülerinnen, eine ethische Hermeneutik der eigenen Organisation zu entwickeln. Sie sollen also die Strukturen und Regeln der Organisation auch daraufhin lesen lernen, welche ethischen Probleme damit verbunden sein können. Darüber hinaus sind es insbesondere ‚weichere‘, üblicherweise unter den Begriff der Kultur21 gefasste Probleme, mit denen Seelsorgende befasst sind. Die Seelsorgerin Heike Schütz berichtet von einem gut funktionierenden Ethikarbeitskreis. Sie führt aus, dass die Mitglieder im engen Austausch stünden, sich oft sähen und gut füreinander erreichbar seien. Es gehe bei Gesprächen in diesem Kreis auch um solche Fragen, wo eine Änderung der Krankenhauskultur angemessen sei. Ein Beispiel sei der Umgang mit anderen Religionen, ein anderes sei das Thema Achtsamkeit. Da seien zwei Kulturthemen für [diese] Klinik. Es werde dann diskutiert, wie man solche Themen am besten platziert und wie man sich am besten interdisziplinär vernetzt. (F Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

Mit den Themen des Umgangs mit anderen Religionen und der Achtsamkeit sind wiederum moralisch relevante Aspekte der Krankenhausorganisation benannt, die sich nicht oder nicht vollständig in Dienstanweisungen oder ähnliche konditionale Regeln übersetzen lassen. Sie sind eher auf der Ebene der Haltungen angesiedelt,22 bedürfen als solche jedoch der wiederkehrenden kommunikativen 20 Zur ethischen Relevanz von Organisationsstrukturen und zur Orientierung am Subjekt vgl. Schneider-Harpprecht, Lebensgestaltung, 131f. 21 Siehe dazu auch Kapitel 2.1. 22 Zur Haltung der Fürsorge siehe auch Kapitel 3.3.

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Ethik im Kontext der Organisation

Aktualisierung. Seelsorgende fühlen sich insbesondere für solche ‚weichen‘ Themen der Organisationskultur verantwortlich. Das gilt auch für die Seelsorgerin Christlieb, die im Gespräch mit anderen Mitarbeitenden des Krankenhauses betont: Die Wahrung der Intimsphäre hat auch mit Respekt zu tun. Hier im Krankenhaus ist diese Form des Respekts auch eine Verhaltensregel, wenn die Pflege beispielsweise die Türe schließt, wenn sie bei einem Patienten ist, und nicht die Türe offen lässt, weil es gerade so heiß ist. Respekt hat hier dann auch etwas mit Gehorsam und Pflicht zu tun, da ich nicht alles selber bestimmen kann. Die von uns abhängigen Menschen brauchen noch mehr Respekt. Ich kann beispielsweise nicht einfach die Tür schließen, sondern ich muss fragen, ob sie offen oder geschlossen sein soll. (F Susanne Christlieb 10. 5. 2012 T)

Das Thema des Respekts ist wiederum am Übergang von Organisationsregeln zur Organisationskultur angesiedelt. Einerseits lässt es sich im hier dargestellten Fall in die Regel übersetzen, das Öffnen und Schließen der Tür des Patientenzimmers mit dem Patienten abzustimmen. Auf der anderen Seite ist die konkrete Regel nur ein Beispiel für eine Haltung, die den Patienten in seinen konkreten Bedürfnissen wahrnimmt und versucht, ihm in den rationalisierten Organisationsabläufen der Klinik ein Residuum an Privatheit zu gewähren, indem das Patientenzimmer zumindest zu einem kleinen Teil vom allen zugänglichen Ort der Therapie zur Privatsphäre des Patienten umcodiert wird. Eine solche organisationskulturelle Grundhaltung der Mitarbeitenden kann durch Regeln exemplifiziert und untersetzt werden, geht in diesen aber nicht vollständig auf.23 Insgesamt zeigen sich also wiederkehrende Themen, anhand derer sich Seelsorgende zur Organisation als ganzer verhalten. Diese reichen von einzelnen Organisationsabläufen bis hin zur Thematisierung von Werten, Zielen, Leitbildern und anderen Kulturfragen, wobei das Problem gedeihlichen Miteinanders der Berufsgruppen regelmäßig genannt wird. Dabei gilt es festzuhalten, dass die Befassung der Seelsorgenden mit Fragen der Ethik der Organisation zumeist keinen distinkten seelsorglichen Handlungsbereich ausmacht. In zahlreichen Fällen kommt die Organisation vielmehr im Kontext einer konkreten, auf ein Individuum bezogenen ethischen Fragestellung in den Blick. Die Organisationsebene des Ethischen ist also ein vielfach mitlaufender Aspekt, eine Dimension seelsorglichen Handelns, die gleichwohl explizit als solche wahrgenommen und reflektiert wird. Diese flexible Arbeit an der Organisation aus der Praxis heraus erweist sich, wie die von den Seelsorgenden geschilderten Beispiele zeigen, durchaus als erfolgreich. Angesichts eines konkreten ethischen Problems ergibt sich erhöhter Kommunikationsbedarf in der Organisation, dem die Seelsor23 Entsprechend ist es in vielen Häusern unklar, ob und inwiefern Ethikkomitees für organisationskulturelle Fragen zuständig und zu deren Bearbeitung geeignet sind.

Der Wandel von Strukturen ethischer Kommunikation

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genden durch die Organisation von Kommunikation zu begegnen suchen. Wie sie dies strukturell tun, ist Gegenstand des nächsten Abschnittes.

II.

Der Wandel von Strukturen ethischer Kommunikation

Der erhöhte Kommunikationsbedarf, der sich in ethischen Situationen zeigt, kann dazu führen, dass der Ruf nach entsprechenden festen Kommunikationsstrukturen laut wird. Die Seelsorgerin Kerstin Heine berichtet von einer Pflegekraft auf einer Palliativstation, die darunter leidet, dass bei Patienten Diagnostik durchgeführt wird, die sie selbst für im palliativen Kontext überflüssig hält. Die Seelsorgerin zitiert die Worte der Pflegekraft aus dem Gedächtnis: Mensch, also muss denn diese Frau jetzt auch noch dieser Untersuchung unterzogen werden? […] Wir wissen doch, wir arbeiten hier auf der Palliativstation und da geht’s doch drum, dass wir Menschen begleiten in dieser Situation und dass wir nicht [betont] noch alles machen, was jetzt noch möglich ist. Das ist doch nicht richtig, und das sollten wir doch anders handeln, wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen.

Im weiteren Verlauf der Begegnung versucht die Seelsorgerin die Pflegerin zu ermutigen, das Vorgehen auf der Intensivstation im Kreis der Mitarbeitenden kritisch zu reflektieren und sich gegen einen Umgang mit Patienten zu wehren, den sie für nicht angemessen hält. Dies geschieht jedoch nicht: Ich hab am Ende des Gesprächs noch mal gefragt: „Ja, wie wollen Sie denn jetzt weiter damit umgehen? Oder gibt’s etwas, das ich aus Ihrer Sicht in diesem Zusammenhang noch tun sollte?“ Und da hat sie abgewunken und gesagt: „Ach nein, jetzt war die Patientin inzwischen auch schon abgeholt zur Sonographie.“ Wo sie dann zurückgefallen ist, sozusagen, in ihr Rädchendasein. Was ich schade finde. Also, da wäre zum Beispiel für mich der Punkt, wo ich gerne noch in unserem Haus die Möglichkeit einführen würde, solche Dinge nachzubesprechen. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Doch Seelsorgende nehmen das Fehlen entsprechender Strukturen der Kommunikation nicht nur wahr und artikulieren dies, sondern sind auch konkret an Organisationsentwicklungsprozessen beteiligt, die diesem Mangel abhelfen sollen.24 Ich hab etliche Hüte auf. Hier gab es überhaupt kein Knowhow in Organisationsentwicklung. Und dann hab ich das quasi erstmal gemacht. Jetzt sind wir ja ein bisschen ausdifferenzierter. Dann bin ich sozusagen, in dem Maße kann ich wieder in die klassische Seelsorgerolle zurückgehen. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

24 Zu den Erwartungen von Seelsorgenden an die Einrichtung von Ethikstrukturen siehe Kapitel 2.1, III.

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Ethik im Kontext der Organisation

Hier sieht die Seelsorgerin ihre Aufgabe darin, an der Schaffung geeigneter Organisationsstrukturen mitzuwirken, solange diese noch nicht bestehen. Als die entsprechende Struktur etabliert ist, konzentriert die Seelsorgerin sich wieder auf die Wahrnehmung ‚klassischer‘ Seelsorgeaufgaben.25 Auch andere Seelsorgende berichten von solchen Übergangsfunktionen, in denen sie Kommunikation organisieren und auf die Schaffung entsprechender fester Strukturen hinwirken. Je kleiner und weniger differenziert die Organisation, desto größer dürfte hier die potenzielle Rolle der Seelsorgenden sein. Andrea Schreiber arbeitet seit ein paar Monaten an einem Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft, das sie als „kleines Haus mit Vor- und Nachteilen“ einschätzt. Zu den Vorteilen zählt sie, dass es sehr familiär zugehe und dass es kurze Wege gebe. Dies führe auf der anderen Seite aber zu intransparenten Strukturen. Ethikkonsile gebe es nur auf Zuruf. So sprächen sich die Ärzte bei schwierigen Entscheidungen einfach untereinander ab. Die Pflege bleibe außen vor, und es gebe in diesen Fällen keine Transparenz, wie Entscheidungswege abliefen. Im Sinne einer „Seelsorge an der Institution“ sei es ihre Aufgabe, „Fürsorge für leidendes Personal“ anzubieten und Ethikstrukturen zu etablieren. (F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K)

An anderer Stelle erzählt die Seelsorgerin, dass Mitarbeitende aus Pflege und Sozialarbeit ihrem Unmut über die intransparente Kommunikationskultur im Haus Ausdruck verliehen hätten. Sie als Seelsorgerin sei dabei Ansprechpartnerin gewesen und habe sich in dieser ihr zugeschriebenen Funktion „viel anhören müssen“. Jeweils fühlt sich die Seelsorgerin für die Kommunikationsprozesse im Haus zuständig und bezeichnet ihr darauf bezogenes Handeln als „Seelsorge an der Institution“. Sie weiß sich in diesem Anliegen mit anderen Berufsgruppen verbunden: Zusammen mit anderen Mitarbeiterinnen arbeite sie an einem Projekt im Haus mit, das auf die Verbesserung der Palliativsituation ziele. Angestoßen worden sei die Idee im Kontakt mit der am Klinikum angestellten Palliativschwester und der Sozialarbeiterin. Ziel sei es unter anderem, mehr Leute bei Therapieentscheidungen „mit ins Boot zu holen“ und den Austausch zwischen den Berufsgruppen zur Verbesserung von palliativen Therapien zu fördern. (F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K)

Gemeinsam mit Pflege und Sozialarbeit verfolgt die Seelsorgerin zwei Ziele: die transparentere Gestaltung von Therapieentscheidungen und die Förderung des Austausches zwischen den Berufsgruppen. Dies, wie der Fortgang der Entwicklung zeigt, mit Erfolg: Ein paar Monate später war das zweite Ziel schon in der Hinsicht erreicht, dass eine Arbeitsgemeinschaft zur Palliativversorgung ins Leben gerufen worden war. Hier trifft sich das Personal aus der Medizin und Pflege monatlich und diskutiert über Abläufe im Klinikum. Auch das erstge25 Zu den Rollen von Seelsorgenden in Klinischen Ethikkomitees siehe Kapitel 2.2, II.

Die kommunikative Einbindung der Seelsorgenden

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nannte Ziel wird von der Arbeitsgemeinschaft weiterverfolgt, indem die Gründung eines Ethikkomitees angestrebt wird. Andrea Schreiber ist somit an der stufenweisen Schaffung von zunehmend strukturierter ethischer Kommunikation beteiligt. Von der intransparenten Ad-hoc-Kommunikation führt der Weg über eine Arbeitsgemeinschaft, die wiederum die Gründung eines Ethikkomitees anstrebt. Die bisher dargestellte Arbeit der Seelsorgenden an der Schaffung und Entwicklung von Strukturen ethischer Kommunikation findet zumeist im Kontext kleinerer Häuser statt. Doch auch in großen, in komplexe Träger- bzw. Konzernstrukturen eingebetteten Häusern können Seelsorgende in Veränderungsprozessen eine aktive Rolle einnehmen. Der Seelsorger Jakob Gutwirth berichtet davon, wie er im Kontext von Strukturveränderungen zum Ansprechpartner für Mitarbeitende wird. Sehr häufig geht es aber auch um organisationsethische Fragestellungen. Dieses Thema ist in den letzten drei Jahren stärker geworden. Wir Seelsorger arbeiten da auch zusammen mit dem Betriebsrat und dem Betriebsarzt. Vor einigen Jahren hatten wir bei uns im Haus eine Strukturveränderung, es mussten gGmbHs gegründet werden, GmbHs und so weiter und so fort. Im Hintergrund waren steuerliche Gründe. Und da hat es viele Veränderungen gegeben. Es sind keine Bereiche ausgegliedert worden, sondern es sind Tochtergesellschaften gegründet worden. Es hat viele Veränderungen im Personalbereich gegeben, nicht im Sinne von ,Kündigung‘. Da waren wir, Mitarbeitervertretung, Betriebsarzt und Seelsorge sehr, sehr stark beschäftigt. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Hier kommt die Seelsorge neben anderen Einrichtungen an der Klinik zu stehen, die ebenfalls quer zur strukturellen Gliederung des Krankenhauses und den entsprechenden Hierarchieebenen angesiedelt sind und hier kommunikative Vernetzungsfunktionen erfüllen, nämlich dem Betriebsarzt und der Mitarbeitervertretung. Insgesamt zeigen sich Seelsorgende also, insbesondere was die Kommunikationsstrukturen angeht, vielfach als Akteure bzw. Katalysatoren organisationellen Wandels – alleine oder im Verbund mit anderen Diensten im Krankenhaus.

III.

Die kommunikative Einbindung der Seelsorgenden

Wenn Seelsorgende solcherart an Prozessen organisatorischen Wandels beteiligt sind, so ist nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Beteiligung zu fragen. Seelsorgende haben in aller Regel keine formellen Weisungsbefugnisse, noch auch nur Ansprüche, über organisationelle Belange informiert zu werden. Ihr Einfluss beruht nicht auf formellen Kompetenzen. Von daher richtet sich der

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Ethik im Kontext der Organisation

Blick auf die faktische kommunikative Einbindung der Seelsorgenden, in der sie ihre beratenden und vernetzenden Funktionen ausüben. Dort, wo Strukturen Klinischer Ethikberatung bestehen, sind, wie Kapitel 2.2 gezeigt hat, Seelsorgende zumeist eingebunden. Insofern ein Klinisches Ethikkomitee es nicht nur mit einzelnen Behandlungsentscheidungen, sondern darüber hinaus auch mit allgemeinen Organisationsabläufen, Leitbildfragen und Kommunikationsstrukturen zu tun hat, können Seelsorgende hierzu ihre Stimme erheben. Darüber hinaus sind sie an einer breiten Vielfalt von kommunikativen Strukturen beteiligt, die teils nur eine geringe formale Verfasstheit aufweisen. Die Seelsorgerin Ulrike Scholz arbeitet in einem Großklinikum und berichtet von zwei institutionellen Stellen, an denen die Seelsorge die Möglichkeit der Gestaltung von Organisationskultur habe. Der Chefarzt sei im Gegensatz zu anderen Ärzten der Klinik gegenüber der Seelsorge sehr aufgeschlossen und treffe sich alle halbe Jahre mit den drei Seelsorgern, um grundsätzliche Dinge, die im Klinikum anstehen, zu besprechen. Übergaben auf der Palliativstation finden immer [an einem bestimmten Wochentag] mittags statt, und sie selbst nehme regelmäßig teil. (F Ulrike Scholz 21. 3. 2012 K)

Aus einem kleineren Haus berichtet die Seelsorgerin Susanne Christlieb: Ich bin an den Geschäftsführer angebunden, und das heißt, ich habe dort einmal im Monat mindestens ein Gespräch und kann so auch meine Fragen, meine Eindrücke aus dem Haus, direkt platzieren. Und zum Beispiel, wenn Unruhe entsteht durch Konzernentscheidungen, und es an mich herangetragen wird, oder ich es wahrnehme, habe ich sozusagen die Möglichkeit, es in Stimme zu bringen und in Worte zu kleiden und es an entsprechender Stelle auch wieder zurückzuspiegeln. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Gleichsam zwischen den an Grundsatzfragen orientierten Gesprächen mit Führungskräften und der zum täglichen Arbeitsablauf gehörenden Stationsübergabe ist der Ethikarbeitskreis angesiedelt, von dem die Seelsorgerin Heike Schütz berichtet. Dieser stellt für sie eine Form der interdisziplinären Vernetzung dar. Er leiste, so berichtet sie, eine wichtige Arbeit für „Kulturthemen“ im Klinikum.26 Hinzu treten Strukturen der Vernetzung von Seelsorgenden untereinander auf der Ebene des Krankenhauses oder des Konzerns, in denen Fragen der Organisation thematisiert werden.27 26 Siehe oben, I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT. 27 „Hin zum Konzern gibt es eine übergeordnete [mit Seelsorge befasste Arbeitsgemeinschaft], dort bin ich hin eingeladen und auch delegiert, auch das ist eine Doppelfunktion. [Hier ist beispielsweise die Aufgabe,] das Seelsorge-Rahmenkonzept zu erarbeiten und immer wieder zu überarbeiten, wenn es denn Veränderungen gibt, und dann muss man es natürlich im eigenen Haus noch mal zuspitzen. Aber das ist genau diese Bindefunktion, die man damit hat. Aber natürlich auch Einfluss innerhalb des ganzen Konzerns.“ (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Die kommunikative Einbindung der Seelsorgenden

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Während diese Kommunikationsformen dauerhaft etabliert sind, hat eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe, von der die Seelsorgerin Susanne Christlieb berichtet, einen temporären Charakter. Sie wurde auf Weisung des Krankenhauskonzerns einberufen, der verschiedenen Organisationseinheiten den Auftrag erteilte, jeweils einen „Wert“ des Konzerns zu reflektieren. Die Gruppe um Frau Christlieb hatte den Wert „Nächstenliebe“ zugeordnet bekommen. Die folgenden Auszüge stammen aus Gedächtnisprotokollen verschiedener Sitzungen der Arbeitsgruppe. Die Seelsorgerin leitet die erste Sitzung mit den Worten ein: Heute möchten wir sammeln, was Ihre Bereiche jeweils unter Nächstenliebe verstehen. Und wo wir in Spannung mit diesem Wert bei unserer alltäglichen Arbeit kommen.

Sofort ist das Thema der Organisationsethik gesetzt: ein christlich semantisierter, aber wohl für alle Mitarbeitenden zustimmungsfähiger „Unternehmenswert“, der potenziell in Spannung zur Wirklichkeit der Organisation steht. Solche Spannungen werden in den verschiedenen Treffen der Arbeitsgruppe an unterschiedlichen Beispielen diskutiert. Zu diesen gehört immer wieder die Beziehung zwischen den Mitarbeitenden und den Patienten. In den Worten der Seelsorgerin: Ich verstehe „Grenzen setzen“ als einen Ausdruck von Nächstenliebe. Ich muss Grenzen setzen. Wenn die Menschen ins Krankenhaus kommen, sind sie in ihrer Bedürftigkeit grenzenlos. Ich sage als Seelsorgerin auch zu Patienten, dass ich jetzt gehen muss, um auch andere Patienten besuchen zu können. Nächstenliebe kann man auch unter den Aspekten der Gerechtigkeit und der Wirtschaftlichkeit betrachten.

Doch nicht nur gegenüber den Ansprüchen der Patienten, sondern auch gegenüber dem Krankenhaus als Unternehmen müssen die Mitarbeiter der Seelsorgerin zufolge Grenzen ziehen – und die Organisation muss vorhandene Grenzen der Leistungsfähigkeit berücksichtigen: Grenzen setzen hat auch eine politische Dimension. Die Menschen, die hier Nächstenliebe leisten, können nicht mehr leisten, da sie andernfalls ausbluten. Zwar hat man auf der einen Seite ein Ideal, aber wenn man dann in der nächsten Woche nicht mehr kommen kann, nützt dies dem System nichts. (F Susanne Christlieb 20. 5. 2011 T)

Die Seelsorgerin erfüllt hier zwei Funktionen. Zum einen führt sie die ihr vorgegebene Aufgabe durch und akzeptiert damit die Regeln und Prozesse der Organisation. Zum anderen nutzt sie die Arbeitsgruppe, um in eine kritische Distanz zu den Abläufen der Organisation zu treten und den Teilnehmenden die Möglichkeit zu geben, dies ebenso zu tun. Sie vermittelt hierdurch zwischen dem Programm der Organisation und den individuellen Problemen und Anliegen der Mitarbeiter. Aus Anlass einer von der Konzernleitung angestoßenen Maßnahme zur Vergewisserung der Unternehmenswerte ergibt sich in der Ad-hoc-Arbeitsgruppe die Möglichkeit zur Thematisierung verschiedenster organisatorischer

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Ethik im Kontext der Organisation

Belange. Wieder werden sowohl grundlegende Haltungen als auch konkrete Organisationsabläufe und ökonomisch induzierte Spannungen thematisiert. Diese Kommunikation ist gleichwohl nicht auf Änderung der Organisationsstrukturen ausgerichtet; ob sie dennoch zu solchen beigetragen hat, ist nicht bekannt. Zu den wichtigen institutionellen Orten, an denen für Seelsorgende die Organisation als ganze thematisch werden kann, gehört schließlich, wie oben schon gezeigt, ihre Beteiligung an der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Dies ist der Fall in Pflegeschulen, in der anlassbezogenen Fortbildung des medizinischen Personals, etwa zur Neuordnung des Betreuungsrechts (Patientenverfügung),28 aber auch in der Arbeit mit Ehrenamtlichen. Insgesamt weisen die Orte, an denen sich die Seelsorgenden zur Organisation als ganzer verhalten, unterschiedliche Grade der Institutionalisierung und Formalisierung auf. Von der formellen Struktur des Ethikkomitees über Lehraufgaben, Ad-hoc-Arbeitsgruppen bis hin zur anlassbezogenen, nichtinstitutionalisierten kommunikativen Intervention reicht das Spektrum. Ähnlich wie in ethischen Situationen, in denen es um Behandlungsentscheidungen geht, erfüllen Seelsorgende nicht nur jeweils Funktionen innerhalb dieser Strukturen, sondern vermitteln auch zwischen diesen. Dies reicht bis hin zur Schaffung neuer Kommunikationsstrukturen.29

IV.

Die Einheit der Organisation

Seelsorgende haben es nicht nur mit einzelnen Organisationsvollzügen und Organisationsstrukturen zu tun. Bereits die Ansprechbarkeit auf das Unternehmensleitbild (siehe oben Abschnitt I.) weist darauf hin, dass sie sich auch in Bezug auf die Organisation als ganze verstehen. So berichtet ein Seelsorger: Und dass wir letztendlich glaubwürdig bleiben, wenn wir [in der Öffentlichkeitsarbeit einen wohlklingenden Werbespruch verwenden], dass das nicht nur eine Luftblase ist – also, das wäre mir schon wichtig. Ich identifiziere mich mit unserem Haus, weil ich den Ansatz richtig und gut finde, und möchte meinen Ehrgeiz nicht verlieren dabei, das zu unterstützen. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E).

Die Seelsorgerin Heike Schütz ist ebenfalls stark mit ihrem Haus identifiziert und in Prozesse der Unternehmensentwicklung einbezogen. Dies gilt jedoch ihrer Wahrnehmung nach nicht für alle Seelsorgenden. Aus dem Feldtagebuch: 28 Vgl. I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E. 29 Die Einbindung der Seelsorgenden ist dabei in vielen Fällen informell, prekär und an bestimmte Ankerpersonen im medizinischen Team gebunden. Siehe dazu auch Kapitel 2.2.

Die Einheit der Organisation

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Insofern werde Heike Schütz im Klinikum sehr stark wahrgenommen. Ihre Seelsorgekollegen sähen sich da mehr als von außen kommend, als Besucher. Sie sagt: „Ich verstehe das so, das wird ja im Moment diskutiert: Kirche am anderen Ort. Das ist glaub ich das was ich so im Blick habe. Wenn ich so will, bin ich die Pfarrerin hier für die Klinik und mache hier Kirche am anderen Ort.“ (F Heike Schütz 24. 5. 2012 KT).

Neben der Selbstzuordnung zur Organisation als ganzer stehen also eine generelle Organisationsdistanz30 oder auch die Identifikation mit einem Organisationsteil bzw. einer Gruppe der Mitglieder der Organisation, etwa den Patienten oder den Mitarbeitenden, als Rollenkonzepte zur Verfügung. Zwischen diesen Rollenkonzepten, die von Seelsorgenden selbst vertreten oder von außen im Modus von Erwartungen angemutet werden, können erhebliche Spannungen entstehen (dazu siehe unten). Es gibt, nicht nur im letzten Zitat, Hinweise darauf, dass die Zuordnung der Seelsorgenden zur Organisation als ganzer mit religiösen Praktiken bzw. theologischen Reflektionen zu tun hat. Die Seelsorgerin Barbara Remmert berichtet, wie der von ihr durchgeführte wöchentliche Gottesdienst auf der Kinderstation eine symbolische Integrationsfunktion für die Station erhalten hat. Der Kindergottesdienst findet in der Kinderklinik immer [an einem festen Wochentag] im Spielzimmer auf der [Station] statt. Vor dem Gottesdienst geht Frau Remmert von Zimmer zu Zimmer, stellt sich vor und lädt zum Gottesdienst ein. Im Spielzimmer steht ein niedriger Tisch, auf dem eine große Kerze brennt und kleine Kerzen stehen, die zu Beginn von den Kindern in Verbindung mit einer Bitte entzündet werden. Der Ablauf ist in etwa folgender: Große Kerze entzünden – Begrüßung – Lied – kleine Kerzen entzünden (meist wird gebetet für Haustiere, Verstorbene, …) – Impuls (Bild, Figur, Geschichte, …) – Vaterunser (an den Händen fassen oder die Hände als Schale formen) – Lied – Segen – Kerzen auspusten. (F Barbara Remmert 27. 3. 2012 K)

Nicht nur Zeit und Ort, sondern auch der Ablauf ist festgelegt und gehört somit in gewisser Weise zur Routine der Kinderklinik. Es ist bemerkenswert, dass für die Gottesdienste ein säkularer Raum genutzt wird, der sich zentral auf der Station befindet. Die Nutzung dieses nicht religiös codierten Raums für den Gottesdienst spiegelt sich in der Liturgie, die im Vergleich zum agendarischen Gottesdienst wenige spezifisch christliche Elemente aufweist. Dieses Arrangement von Routine und vielfach anschlussfähiger religiöser Praxis leistet nach der Beobachtung der Seelsorgerin einen besonderen Beitrag für die Kultur der Kinderklinik.

30 Vgl. dazu die retrospektive Selbstbezeichnung eines Seelsorgers als „Alien“ (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E, siehe oben Kapitel 2.2) und die Aussage einer Seelsorgerin: „Und ansonsten bin ich institutionell nirgendwo wirklich eingebunden. Also ich bin angebunden an einer Pflegedienstleitung, aber ansonsten soll ich einfach möglichst gut meine Arbeit tun.“ (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E).

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Ethik im Kontext der Organisation

Auch wenn des Personal nicht dabei sei, äußerten sie immer: „Och, das ist so schön“, und meinen damit die gesammelte Atmosphäre, die während der Gottesdienstes auf der ganzen Station entstehe. Die Tür zum Spielzimmer sei früher während des Gottesdienstes offen gewesen, sei nun aber immer zu. Trotzdem bekommen die anderen Menschen auf der Station es mit, dass Gottesdienst ist. (F Barbara Remmert 27. 3. 2012 K)

Auch andere gottesdienstliche Vollzüge erfüllen integrative Funktionen. Dazu gehören Einführungs- und Verabschiedungsgottesdienste für Mitarbeitende, vor allem in kirchlichen Häusern, aber auch Taufen im Kontext schwieriger Behandlungssituationen und ethischer Entscheidungen am Lebensanfang.31 Doch nicht nur religiöse Praktiken, sondern auch religiöse bzw. theologische Semantiken können eine integrative Funktion für die Gesamtorganisation erfüllen. Im Kontext konfessioneller Häuser kann dies das „evangelische Profil“ der Einrichtung sein, das die gesamte Organisation in ihrer Differenziertheit als auf ein Ziel hin ausgerichtet deuten lässt: dass es um den ganzen Menschen in der Fülle seiner Beziehungen und Bedürfnisse geht. [ J]a, wir arbeiten nicht nur, indem wir unsere Arbeit tun, oder indem hier Ärztinnen und Ärzte medizinisch was versuchen, und Pflege getan wird, und therapeutisch gearbeitet wird. Also wir vertrauen auch darauf, dass Gott hier präsent ist und handelt. Es hat mich gefreut als Seelsorgerin, dass ich mit der Pflegedienstleitung erreichen konnte, dass alle, die regulär in unserem Krankenhaus aufgenommen werden – also nicht über die Notaufnahme, sondern bestellterweise –, gefragt werden, ob sie eine Seelsorgerin oder einen Seelsorger sprechen möchten. Eine Äußerlichkeit, aber doch etwas, wo deutlich ist, es geht hier nicht nur um Handeln, Reparieren, sondern da ist der ganze Mensch im Blick. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Auf ähnliche Weise bringt der Seelsorger Florian Ahrens den ethischen Maßstab einer umfassenden Sorge für die Menschen, vermittelt über die religiöse Attribution als „christlich“, mit der Organisation als ganzer und dem (konfessionellen) Träger des Hauses in Verbindung. [V]on den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hier im Hause erlebe ich einen unglaublichen Idealismus, also ein tolles Engagement, liebevoll im Umgang, das ist wirklich die Regel. Ich höre das immer wieder von den Patienten. Und ich versuche jetzt sozusagen deutlich zu machen: Das was ihr tut, ist ganz im christlichen Sinne. Dem Vorstand unseres Trägers ist es wichtig, genau das zu stützen. Dass wir also nicht nur ein Krankenhaus sind, das medizinisch handwerklich gute Arbeit leistet, sehr gute Arbeit leistet, sondern dass uns auch die seelische Seite der Menschen, der Patienten hier, ganz stark am Herzen liegt. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

„Christlich“ wird hier zum universellen Prädikat guten, engagierten Handelns aller Mitarbeitenden der gesamten Organisation. Religiöse Semantik kann mit31 Siehe dazu Hofmann, Unternehmenskultur, 37ff sowie hier Kapitel 3.7.

Die Einheit der Organisation

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hin insbesondere an konfessionellen Häusern eine integrative Funktion erfüllen, ebenso wie die Seelsorgerin oder der Seelsorger symbolisch für die Organisation als ganze stehen kann.32 So befindet sich im Eingangsbereich eines der besuchten Krankenhäuser in großen Lettern das Jesuswort „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28). Mit diesem Wort beginnt die dort arbeitende Seelsorgerin eine Gemeinschaftsbestattung totgeborener Kinder. Damit aktualisiert sie das Integrationsmoment dieses Bibelwortes am Ort eines rituellen Vollzugs, an dem Angehörige wie auch verschiedene Berufsgruppen des Krankenhauses teilnehmen. Der Einfluss solcher religiösen Integrationssemantiken, etwa in Leitbildformulierungen, sollte nicht überschätzt werden. Gleichwohl dürften sie dazu beitragen, dass Seelsorgende in christlichen Häusern oftmals als stark mit dem Proprium des Unternehmens assoziiert wahrgenommen werden. Dies ist wiederum keine spannungsfreie Position. So nimmt eine Seelsorgerin die hieraus erwachsende Einflussmöglichkeit als sehr prekär wahr: Also, ja, es ist klar, dass dem Träger – der ein dezidiert christlicher ist, und ja auch ein traditionsreicher christlicher Träger – das [christliche Profil] sehr wichtig ist. Und dass wann immer eine Problemanzeige Richtung [Leitungsgremium] gehen würde, da sofort das System in Bewegung käme. Aber ich muss natürlich genau mit diesem Machtmittel, von dem ich sehr wohl weiß, dass es da ist, auch sehr vorsichtig umgehen, um mir hier nicht meine Karte zu verspielen. (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Auch der Seelsorger Jakob Gutwirth geht achtsam mit seiner integrativen Funktion für das Haus als ganzes um. Insbesondere sieht er diese durch Interessenskonflikte im Haus gefährdet: [E]s hat eine Umstrukturierung bei uns hier im Haus gegeben. […] Das hat erforderlich gemacht, dass die Mitarbeitervertretung neu sortiert werden musste. Der Verein hatte keine Mitarbeitervertretung. Und ich wurde relativ schnell gefragt, ob ich nicht den Vorsitz für die Mitarbeitervertretung des Vereins übernehmen könnte. Da hat mein Vorstandsvorsitzender mich gebeten, ich möchte das bitte nicht übernehmen. Also da war für mich das Problem der Solidarität: Solidarität mit meinen Kolleginnen und Kollegen und gegenüber meinem Arbeitgeber. Und da fühlte ich mich sehr herausgefordert. Ich hab mich dann so entschieden, dass es für mich als Seelsorger wichtig ist, eine neutrale Stelle einzunehmen. Also nicht eine Partei zu ergreifen, weder für den 32 Dies formulieren Reiner Anselm und Stephan Schleissing im Anschluss an Beobachtungen zur Rolle von Seelsorgenden in klinischen Ethik-Komitees. „Vielleicht ist dies eine Erklärung für die allseits zu beobachtende Akzeptanz von Theologen in Klinischen Ethik-Komitees: Weil sie als ‚Experten fürs Unsichtbare‘ (Plaul) angesehen werden, vergegenwärtigen sie symbolisch in ihrer Rolle als Seel-Sorger jene ideale Einheit der Organisation, ohne die in der gelebten Alltagswelt eine funktionsspezifische Ausdifferenzierung in Expertenkulturen nicht gelingen könnte.“ (Anselm/Schleissing, Ethik, 12) Die hier angeführten Beispiele zeigen, dass die Repräsentation der idealen Organisationseinheit nicht nur von Seelsorgenden in EthikKomitees geleistet wird, sondern dies auch für rituelle Vollzüge und religiöse Semantiken gilt.

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Ethik im Kontext der Organisation

Vorstand noch für die Belegschaft, sondern meine neutrale Stellung in der Hierarchie beizubehalten, um einfach meine Aufgabe als Seelsorger für alle wahrnehmen zu können. Sonst hätte ich wahrscheinlich.., wenn ich es gemacht hätte, dann hätte es Verlierer gegeben. Für bestimmte Personen wäre ich dann als Seelsorger kein Ansprechpartner mehr. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Der Seelsorger empfindet die angesonnene Aufgabe, den Vorsitz der Mitarbeitervertretung zu übernehmen, als Gefahr für seine Stellung im Haus, die er als überparteilich begreift. Er sieht sich jenseits des Gegenübers von Arbeitgeber und Arbeitnehmern und will hier nicht als Teil einer Seite identifizierbar werden. Auch die Seelsorgerin Andrea Schreiber berichtet, dass sie aufpassen müsse, nicht als Interessenvertreterin bestimmter Mitarbeitendengruppen wahrgenommen zu werden. So sei sie zum Beispiel gebeten worden, im Rahmen eines angedachten Streiks der Pflegenden „einen Streik-Gottesdienst zu machen“. Dies habe sie abgelehnt, weil sie Seelsorgerin für das gesamte Klinikum sei. Sie habe aber eine Reihe von Alternativen angeboten, so etwa die eines Gottesdienstes für alle Mitarbeitenden. Offenbar befürchtet sie, ein Gottesdienst im Rahmen eines möglichen Pflegestreiks könnte als unangemessen parteiliches Statement wahrgenommen werden (F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K). Hieran wie auch an den vorangehenden Beispielen wird deutlich, welche Spannungen die beiden Seelsorgenden zwischen den Solidarisierungserwartungen verschiedener Seiten wahrnehmen und wie sorgsam und vorsichtig sie ihre selbst zugeschriebene Neutralitätsposition zu verteidigen suchen.

V.

Fazit: Umgang mit Ethik umfasst auch „Seelsorge an der Institution“

Seelsorgende leisten in vieler Hinsicht „Seelsorge an der Institution“.33 Die Ebene der Organisation ist dabei in zweierlei Hinsicht Gegenstand seelsorglichen Handelns. Zum einen kann sie einen speziellen Handlungsbereich darstellen, etwa wenn Seelsorgende explizit in Organisationsentwicklungsprozesse einbezogen sind. Zum anderen und vermutlich öfter ist die Ebene der Organisation ein Aspekt im Umgang mit ethischen Situationen: etwa wenn nicht nur im konkreten Fall Kommunikation organisiert wird, sondern wenn dieser konkrete Fall zum Ausgangspunkt genommen wird, die Kommunikation auch in ähnlich gelagerten Fällen zu verbessern. Die große Offenheit und das intensive Engagement, das bei vielen Seelsorgenden mit Blick auf die Organisation als ganze anzutreffen ist, korrespondiert dabei mit jüngeren Entwicklungen der Seelsorgelehre, die die „Seelsorge an den Strukturen“ als eigene Aufgabe zu begreifen gelernt hat, die ferner im Kontext systemischer Betrachtungsweisen ein entsprechendes In33 F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K.

Fazit: Umgang mit Ethik umfasst auch „Seelsorge an der Institution“

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strumentarium entwickelt hat, und die sich insgesamt nicht nur als Krankenseelsorge, sondern als Krankenhausseelsorge begreift.34 Es zeigt sich, dass ein solcher Bezug auf die Organisation als ganze den Seelsorgenden auch von anderen Mitarbeitenden und der Leitung zugetraut wird, indem sie gerade für Kommunikation quer zu einzelnen Organisationseinheiten, Mitarbeitendengruppen oder Fachlogiken in Anspruch genommen werden. Diese integrierende Funktion ist dabei nicht nur auf die funktionale Unterbestimmtheit des Seelsorgeberufs im Krankenhaus zurückzuführen, die es den Seelsorgenden erlaubt, gerade im Vorfeld von Ausdifferenzierungsprozessen Übergangsfunktionen auf dem Weg zur Etablierung neuer Kommunikationsstrukturen zu übernehmen, sondern hängt auch mit dessen religiöser Charakteristik zusammen. Es ist die integrierende Funktion religiöser Semantiken und Praktiken, die einer solchen Stellung der Seelsorgenden mindestens eine Hintergrundplausibilität verleiht. Ethik und Kultur der Organisation sind also ein wichtiger Gegenstand oder Aspekt in ethischen Situationen und stellen als solcher auch Anforderungen an die Seelsorgenden. Diese benötigen jedenfalls Fertigkeiten, in einer hochausdifferenzierten Organisation erfolgreich zu navigieren, richtige Ansprechpartner zu finden sowie gute Vorschläge für die Verbesserung organisationeller Abläufe und kommunikativer Strukturen zu machen. Sie benötigen selbst das, was sie den Pflegeschülerinnen und -schülern beizubringen versuchen: eine ethische Hermeneutik der eigenen Organisation. Besteht hier in kleineren, weniger differenzierten Häusern eher die Gefahr, die Seelsorge mit Querschnitts- und Organisationsentwicklungsaufgaben zu überlasten, dürfte in großen Häusern die Herausforderung darin bestehen, im hochgradig prozeduralisierten und formalisierten Umfeld überhaupt noch „Seelsorge an der Institution“ leisten zu können. In beiden Fällen kommt es jedoch stark auf die Einbindung der Seelsorgenden in die Organisation an.35 Mehrere Spannungsfelder öffnen sich angesichts der von den Seelsorgenden übernommenen bzw. ihnen zugeschriebenen Rolle, für die Organisation als ganze zu stehen. Die integrative Stellung muss ausgeglichen werden mit einer Berufstheorie derjenigen Seelsorgenden, die sich eher als von außen kommend empfinden bzw. einen „Zwischenraum“ zwischen Klinik und Kirche (Michael Klessmann) für sich in Anspruch nehmen. Die damit reklamierte Unabhängigkeit von der Organisation kann funktional gesprochen der Integrationsfunktion von Seelsorgenden in manchen Fällen durchaus zuträglich sein, insofern gegenüber einer eindeutigen organisationellen Einordnung der Seelsorge immer wieder die Querschnittsfunktion behauptet wird. Eine selbst zugeschriebene Organisationsdistanz kann jedoch ins Gegenteil umschlagen, wenn sich Seel34 Vgl. Klessmann, Krankenhausseelsorge, 351. 35 Siehe dazu Kapitel 2.2.

108

Ethik im Kontext der Organisation

sorgende gar nicht für die Vollzüge der Organisation zuständig fühlen. Zum anderen kann die Integrationsfunktion angefragt werden, wenn bestimmte Gruppen innerhalb der Organisation die dezidierte oder gar ausschließliche Solidarität der Seelsorgenden verlangen, etwa wenn die Seelsorge als Anwältin der Pflegenden auftreten oder umgekehrt Teil der Hausleitung sein soll. Eine dritte Herausforderung im Kontext der Integrationsfunktion besteht in dem Umstand, dass Seelsorgende selbst immer auch Partei in Konflikten sind und ihre integrative Funktion jedenfalls nicht immer als Unparteiische werden behaupten können. Schließlich entstehen mögliche Spannungen dann, wenn die Integrationsfunktion der Seelsorgenden gerade im Kontext ethischer Situationen als eine moralische ausgelegt wird, und ihre kommunikativen Interventionen demzufolge in den Verdacht geraten, Seelsorge trete als Anklägerin oder Richterin auf.36 All dies erfordert eine gute Rollenklärung der Seelsorge im Kontext der Organisation, die in einer positiven Wechselwirkung mit struktureller Klarheit der Klinik steht.37 Insgesamt lässt sich die Analyse der Stellung von Seelsorgenden zur Organisation als ganzer folgendermaßen zuspitzen: Im Kern steht die Seelsorgenden zukommende und ihnen von außen zugesprochene Fähigkeit, reflexive Räume zu schaffen und zu legitimieren, in denen sich die einzelnen Mitglieder der Organisation zu dieser selbst noch einmal ins Verhältnis setzen können. Diese Schaffung reflexiver Räume kann strukturiert geschehen, etwa im Kontext des Ethikkomitees. Hier operieren Seelsorgende gleichsam in einem festen Haus. Dies kann aber auch ad hoc geschehen; in solchen Fällen scheinen Seelsorgende den reflexiven Raum gleichsam wie ein Zelt um sich errichten zu können. Dieses Zelt wird dort aufgestellt, wo es noch keine festen Strukturen gibt, oder wo eine ethische Situation sich gleichsam zwischen den Strukturen abspielt. Dieses reflexive Zelt wird anlassbezogen aufgebaut und auch wieder abgebaut, wenn feste Strukturen an seine Stelle treten. Mit dieser reflexiven Aura ihres Amtes, die Orte der kommunikativen Organisationspflege schafft, stützt und legitimiert, während der ‚normale‘ Organisationsablauf unterbrochen wird, können Seelsorgende verstanden werden als Agenten einer „Unterbrechungskultur“38 im Krankenhaus. Damit erfüllen sie personal einen Teil derjenigen Funktion, die der Begriff der Ethik in der Medizin selbst einmal erfüllt hat: in Krisenfällen Kommunikation zu legitimieren. In dem Maße, in dem Ethik im Krankenhaus zunehmend zu einer hoch differenzierten Entscheidungstechnik für moralisch relevante Therapieoptionen wird, „Ethik“

36 Siehe dazu Kapitel 3.4. 37 Siehe dazu Kapitel 2.1, IV., zur Etablierung ethischer Fallbesprechungen. 38 Reber, Meister, 483.

Sorge in Beziehungen

109

also ihren festen Ort vor allem in der ethischen Fallbesprechung erhält,39 geht diese Funktion variabler Legitimation von Kommunikation verloren. Andere, allgemeinere Legitimationssemantiken treten an diese Stelle; hierzu gehört allen voran der Kulturbegriff. Eine Aussage wie „Das passt nicht zu unserer Kultur“ – oder auch, im konfessionellen Haus: „zu unserem christlichen Profil“ – dient wiederum als Markierung für Kommunikationsbedarf. Wenn jedoch, wie in jüngster Zeit, auch der Begriff der „Kultur“ zunehmend durch Maßnahmen und Strukturen der Kulturentwicklung professionalisiert, organisatorisch fest verortet und damit verengt wird, wird es wieder anderer Semantiken bedürfen, die Kommunikation über Organisationskrisen quer zu den Organisationsstrukturen legitimieren. Um so bedeutsamer kann je und je die Rolle sein, die Seelsorgenden als Legitimatoren von organisatorisch noch nicht fest strukturierter Kommunikation zukommt – auch wenn sie diese Leistung nur abhängig von ihrer konkreten Stellung in der jeweiligen Klinik und jedenfalls nie vollumfänglich erbringen können; und auch wenn die Arbeit der Seelsorgenden selbst unter den ökonomischen Knappheitsbedingungen und den damit einhergehenden Zielkonflikten steht, die Ursache vieler Krisen in der Organisation sind. Dass ihre Rolle hierbei zudem alles andere als unproblematisch und spannungsfrei ist, hat dieses Kapitel gezeigt.

3.3

Sorge in Beziehungen

I.

Ansätze einer Care-Ethik a) Care als moralische Perspektive: der Anstoß der Care-Ethik-Debatte b) Ethik der Achtsamkeit als praxisbezogener Care-Ansatz II. Care als Orientierung von Seelsorgenden in ethischen Situationen a) Care als Haltung b) Spirituelle Sorge als besonderes seelsorgliches Verständnis von Care c) Care als sorgende Aktivität III. Fazit: Care gehört zum Ethos von Seelsorgenden Das ist was, was ich auch als anstrengend erlebe bei meinem Beruf, zu wissen, da leiden Menschen an ein und derselben ethischen Frage, und ich bin die, die von außen dazukommt und für Verschiedene zeitweise eine Begleiterin ist. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin Kerstin Heine hat im Umgang mit ethischen Fragen verschiedene Personen im Blick, die in die ethische Situation involviert sind. Der Äußerung der Seelsorgerin liegt ein relationales Verständnis von ethischen Themen 39 Vgl. Frewer, Klinische Ethik, 33.

110

Sorge in Beziehungen

zugrunde, auf das in Kapitel 2.1 bereits näher eingegangen wurde. Seelsorgende kümmern sich nicht nur um den Betroffenen selbst, sie wenden sich bewusst weiteren an der Situation beteiligten Personen, wie beispielsweise Ärzten, Pflegekräften oder Angehörigen, zu. Seelsorgende beschreiben diese Zuwendung dabei so, dass diese als Fürsorge charakterisiert werden kann. Eine solche fürsorgliche Orientierung gegenüber einer Patientin bringt die Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach zum Ausdruck: Meine Erfahrung ist: Es ist wichtig, dass Menschen, die eine Chemotherapie machen, dahinter stehen. Manchmal ist es sogar so, […] dass ich sage, ich glaube, die Chemotherapie hilft auch nicht viel, wenn man nicht dahinter steht […]. Dass ich mich da auch tatsächlich positioniere, das würde ich sagen, mache ich als Seelsorgerin, weil ich mir Sorgen mache. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Ein Beispiel für eine sorgende Haltung gegenüber Mitarbeitenden beschreibt die Seelsorgerin Kerstin Heine. Sie berichtet von Problemsituationen, die anders entschieden wurden, als es sich Ärzte oder Pflegekräfte gewünscht haben. In kurzen Begegnungen mit den betreffenden Personen vergegenwärtigt sie diesen deren persönliche Betroffenheit. Gedeutet werden kann dies als Versuch, zum Innehalten, möglicherweise auch zum Austausch von Wahrnehmungen untereinander anzuregen. Es sind so diese kurzen Momente. Es ist ja wirklich meistens zwischen Tür und Angel, solche Gespräche. Aber das nicht einfach so vorbeigehen lassen, sondern den Menschen auch bewusstmachen: „Ja, das stimmt eigentlich. […] Also habe ich neben dem, was ich äußerlich zu tun habe, auch innerlich etwas, was mich beschäftigt?“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Sich zu sorgen kann für Seelsorgende – wie bereits die beiden Beispiele zeigen – sehr unterschiedliche Aspekte umfassen, die in diesem Kapitel beschrieben werden. Auffällig ist, dass die beobachtete Haltung der Seelsorgenden deutliche Parallelen zu Ansätzen der Care- oder Fürsorge-Ethik zeigt. Trotz dieser Parallelen bringen die Interviewpartner selbst ihr Handeln nicht mit dem Begriff CareEthik in Verbindung. Die Interviews lassen vermuten, dass fürsorge-ethische Ansätze einem Großteil der Seelsorgerinnen und Seelsorger nicht bekannt sind. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Einblick in die Idee der Care-Ethik gegeben. Im Anschluss wird am Beispiel von Interviewpassagen veranschaulicht, inwiefern sich bei Seelsorgenden im Umgang mit ethischen Problemen CareHaltungen zeigen. Herausgearbeitet wird, welche Besonderheiten Care-Orientierungen von Seelsorgenden gegenüber Care-Ethik-Konzepten zum Beispiel der Psychologin Carol Gilligan oder der Philosophin Elisabeth Conradi aufweisen. Seelsorgende sind ihren eigenen Berichten zufolge in den Kliniken umfänglich in ethische Fragestellungen involviert und herausgefordert, ihre professionellen Haltungen im Umgang mit ethischen Situationen zu reflektieren und zu profi-

Ansätze einer Care-Ethik

111

lieren. Dazu beitragen kann, dass Seelsorgende sich ihre grundlegenden Perspektiven in der Herangehensweise an ethische Themen vergegenwärtigen. Wie im Folgenden gezeigt wird, gehören Dimensionen einer Care-Ethik wesentlich zu den Leitorientierungen in der Seelsorge. Die Haltung und Praxis von Seelsorgenden lassen sich jedoch, wie ebenfalls verdeutlicht wird, hierauf nicht reduzieren.

I.

Ansätze einer Care-Ethik

Seit den 1980er Jahren werden verschiedene Care-Ansätze intensiv diskutiert.40 Im Rahmen dieses Beitrags können nur einige ausgewählte Aspekte von Care vorgestellt werden. Diese beschränken sich auf die Ansätze der Psychologin Carol Gilligan (1982) und der Philosophin Elisabeth Conradi (2001). a)

Care als moralische Perspektive: der Anstoß der Care-Ethik-Debatte

Die Auseinandersetzung mit dem Begriff Care und einer „ethics of care“ stieß Mitte der 1980er Jahre die amerikanische Entwicklungspsychologin Carol Gilligan durch ihr Werk „In a different voice“ (1982) an. Es haben sich von da an in der Ethik unterschiedliche Care-Konzepte etabliert. Alle Konzepte vereint eine grundlegende Kritik an der Kontextarmut, die mit der Ausrichtung des Handelns an Prinzipien einhergehe. Gefordert wird stattdessen der Bezug auf das konkrete Gegenüber, auf spezifische Situationen und die Berücksichtigung von Eingebundensein in Beziehungen. Ihre Überlegungen zu einer „ethics of care“ entfaltete Gilligan als langjährige Mitarbeiterin von Lawrence Kohlberg, mit dem sie gemeinsam zur moralischen Entwicklung von Kindern forschte. Gilligan hinterfragte das mit Kohlberg entwickelte Stufenmodell moralischer Entwicklung, nach dem weibliche Probanden bei der Lösung moralischer Probleme schlechter abschnitten als männliche Studienteilnehmer. Das Modell geht auf Beobachtungen an männlichen Probanden zurück und basiert auf Gerechtigkeitsprinzipien. Merkmale für Entscheidungen, die nach dem Prinzip der Gerechtigkeit gefällt werden, sind unter anderem ihre Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit. Bei Personen, die nach Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden, rücken situative Entscheidungsbedingungen zugunsten einer Verallgemeinerbarkeit der Entscheidung in den Hintergrund. Gilligan interpretierte die vorhandenen Studiendaten neu und stellte die These auf, dass Probanden ihr Urteil in moralischen Dilemmata entweder 40 Vgl. Biller-Andorno, Gerechtigkeit, 19ff; Kohlen/Kumbruck, Care-(Ethik); Kohlen, Conflicts; zur Kritik an Ansätzen der Care-Ethik vgl. Biller-Andorno, Gerechtigkeit, 57–119.

112

Sorge in Beziehungen

nach dem Prinzip der Gerechtigkeit („principle of justice“) oder aber dem Prinzip der Fürsorge („principle of care“) treffen. Dabei entscheiden gerade weibliche Studienteilnehmer in Dilemmasituationen anhand des Prinzips der Fürsorge. Care-Ethik ist jedoch für Gilligan nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden. Sie erstellte ein eigenes Stufenmodell, nach dem sich Fürsorge entwickelt.41 Aus ihren Beobachtungen folgerte Gilligan, dass für Personen, deren Handeln an Fürsorge ausgerichtet ist, das In-Beziehung-Stehen von Menschen zentral ist. Das Wahrnehmen gegenseitiger Verbundenheit führt dazu, verantwortlich miteinander umzugehen. Ethische Konflikte entstehen für Gilligan in einem Netzwerk aus Beziehungen. Die Berücksichtigung der Komplexität solcher Netzwerke ist Voraussetzung für die Lösung von Konflikten. Zentral für eine „ethics of care“ ist folglich die Einbettung von Handlungen und Entscheidungen in spezifische Beziehungen und Situationen. Care setzt Anteilnahme und ein intensives Sicheinlassen auf Situationen und die beteiligten Personen voraus. Damit lässt Gilligan der emotionalen, relationalen und kommunikativen Dimension im Umgang mit ethischen Konflikten besondere Bedeutung zukommen.42 Seit Mitte der 1980er Jahre erfolgte in den Pflegewissenschaften in den USA eine intensive Auseinandersetzung mit Care-Ethik-Konzepten. Diese hat wichtige Impulse für das professionelle Verständnis von Pflege gegeben; es kann jedoch an dieser Stelle nicht näher auf sie eingegangen werden.43

b)

Ethik der Achtsamkeit als praxisbezogener Care-Ansatz

Gilligans Ansatz wurde unterschiedlich rezipiert. Ein Hauptkritikpunkt lag darin, dass sie Fürsorge als Haltung, nicht aber als Praxis betrachtet. Zu den Vertreterinnen, die einen praxisbezogenen Care-Ansatz verfolgen, gehört unter anderem die Philosophin Elisabeth Conradi (2001), deren Care-Verständnis wie das Gilligans vor dem Hintergrund des Umgangs von Seelsorgenden mit ethischen Fragen aufschlussreich ist.44 Conradi übersetzt Care-Ethik als Ethik der Achtsamkeit. Der Ansatz ist dem Gilligans grundsätzlich nah. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass Care für Conradi eine Praxis, eine „sorgende Aktivität“, und nicht nur, wie für Gilligan, eine moralische Perspektive darstellt.45 Diese Fürsorgepraxis kann unter41 Vgl. Gilligan, voice, 64ff; Kohlberg, Psychologie, 345, 358. 42 Vgl. Gilligan, voice, 30, 95, 124. 43 Zum Einblick in die Care-Ethik-Debatte in den Pflegewissenschaften vgl. unter anderem: Kohlen/Kumbruck, Care-(Ethik). 44 Conradi, Take Care. 45 A.a.O., 48.

Ansätze einer Care-Ethik

113

schiedlich komplex sein und reicht nach Conradi von „kleinen Gesten der Aufmerksamkeit“ bis zu „kollektiven Aktivitäten“.46 Care ist im Sinne Conradis nicht auf individuelles Urteilen und Handeln begrenzt, sondern steht in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Zum einen wird der Umgang Einzelner mit Konflikten von deren Eingebundensein in gesellschaftliche „Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ geprägt, zum anderen können Konfliktprozesse auf Außenstehende und auf Institutionen, in denen sie verortet sind, zurückwirken. In diesem Sinne lässt sich Care nach Conradi als interaktive „gesellschaftliche Praxis“ verstehen.47 Conradi betont, dass Care trotz oft vorhandener Machtdifferenzen, die asymmetrische Care-Beziehungen kennzeichnen können, Chancen zur Ermächtigung der Beteiligten und damit zum Weiten von Handlungsspielräumen birgt, sofern die Einzigartigkeit des Gegenübers anerkannt wird. Wichtig sei es, „Machtdifferenzen spezifisch zu halten und sie nicht auf andere Bereiche der Beziehung oder der Person auszuweiten“. So könne verhindert werden, dass Personen in Care-Beziehungen auf eine bestimmte Rolle festgeschrieben werden.48 Ein wichtiger Aspekt bei Conradi ist, dass Fürsorge oft mit körperlichen Berührungen zu tun hat. Es kann dabei um die Pflege einer anderen Person gehen, aber auch um Berührungen wie eine tröstende Umarmung. Care verbindet Denken, Fühlen und Handeln miteinander. Diese Verwobenheit ist für Conradi das Besondere an sogenannten Care-Interaktionen. Sie betont, dass Care-Interaktionen selbst die Art und Weise des Umgangs mit ethischen Konflikten und damit auch deren Lösung beeinflussen.49 Wie am Beispiel der Ansätze von Gilligan und Conradi ersichtlich wird, umfasst Care eine Bandbreite an Bedeutungen. Conradi selbst äußert hierzu: „‚Care‘ hat eine Fülle von Bedeutungen, die von Zuwendung und Anteilnahme über Versorgung bis zur Mitmenschlichkeit und Verantwortung reicht.“50 In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Care-Ansätzen wird kontrovers diskutiert, welchen theoretischen Status eine Care-Ethik hat. Die Diskussion kreist im wesentlichen um die Frage, ob Care als eigenständige Ethik aufzufassen oder eher als Perspektive innerhalb einer ethischen Theorie zu verstehen ist.51 Unabhängig jedoch vom Status einer Care-Ethik betonen eine Reihe von Medizinethikerinnen und Medizinethikern, dass Care hohe Bedeutung

46 47 48 49 50 51

A.a.O., 13. A.a.O., 48. A.a.O., 54, 236. Vgl. a. a. O., 48ff, 233. Vgl. a. a. O., 13. Vgl. Biller-Andorno, Gerechtigkeit, 57ff.

114

Sorge in Beziehungen

für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in Medizin und Pflege hat.52 Verschiedene Dimensionen von Care, die nicht zuletzt die skizzierten Ansätze von Gilligan und Conradi kennzeichnen, gelten als nötige Erweiterungen im Umgang mit Patienten, Hilfebedürftigen und ethischen Themen. Hierzu gehört zentral das der Idee von Care innewohnende spezifische Verständnis von Individuen: Care-Ansätze stellen in erster Linie das Bild eines sozial angewiesenen, nicht aber das eines autonomen Menschen in den Mittelpunkt und verweisen auf Verantwortungen, die aus Beziehungen der Menschen untereinander entstehen. Sie kritisieren damit ein in der Praxis von Medizin und Pflege verbreitetes Autonomieverständnis insbesondere mit Blick auf solche Situationen, in denen von asymmetrischen Macht- oder Beziehungsverhältnissen auszugehen ist.53 Care impliziert eine hohe Sensibilität für den Einzelnen in seiner konkreten Situation. Der Mensch wird in seiner Einmaligkeit (und damit seiner biografischen Verfasstheit) und Verletzlichkeit wahrgenommen. Charakteristisch ist der „Versuch einer empathischen Rekonstruktion der Situation des Anderen“.54 Ausgehend von der Einsicht, dass Menschen grundlegend aufeinander angewiesen sind, geht mit Care eine starke Ausrichtung an Beziehungen einher. Individuen – und mögliche ethische Probleme – werden in soziale Kontexte eingebettet wahrgenommen. Umgekehrt hat das Knüpfen und Halten von Bindungen eine hohe Priorität. Diese Dimension von Care wird als sinnvolle Ergänzung zu der Medizinethik zugrunde liegenden Ethiktheorien betrachtet, die in der Gefahr stehen, Entscheidungskontexte nicht hinreichend zu berücksichtigen.55 Über eine soziale Interaktion hinaus haben einzelne Care-Ansätze insofern auch gesellschaftspolitische Relevanz, als sie die Rahmenbedingungen von CareOrientierungen in den Blick nehmen, und sich Vertreterinnen entsprechender Ansätze seit Jahren dafür einsetzen, strukturelle Bedingungen für eine fürsorgliche Praxis in und außerhalb von Einrichtungen in Medizin und Pflege zu verbessern.56 Care ist im skizzierten Sinn als Ethos zu verstehen, das im professionellen Kontext des Krankenhauses, der im Fokus dieser Veröffentlichung steht, diszi-

52 Vgl. Biller-Andorno, Gerechtigkeit; Veatch, Place, 210–224; Little, Care, 190–209; Wiesemann/ Biller-Andorno, Medizinethik, 16; Bockenheimer-Lucius/Cansou/Sauer, Ethikkomitee, 80– 88; Wallner, Health Care, 39–43; Salomon, Intensivmedizin, 16; Körtner, Ethik im Krankenhaus, 30f. 53 Vgl. Bockenheimer-Lucius/Cansou/Sauer, Ethikkomitee, 81f; Wallner, Health Care, 40. 54 Biller-Andorno, Gerechtigkeit, 174. 55 Vgl. Salomon, Intensivmedizin, 16; Bockenheimer-Lucius/Cansou/Sauer, Ethikkomitee, 81f. 56 Vgl. Kumbruck/Rumpf/Senghaas-Knobloch, Pflegearbeit, 11ff; Ehm/Rinderspacher, Familienpflegezeitgesetz, 315–323; Kohlen, Patientenautonomie, 15–23.

Care als Orientierung von Seelsorgenden in ethischen Situationen

115

plinenübergreifend zu verankern ist.57 Den Einzelnen im Sinne einer Care-ethischen Sichtweise adäquat zu behandeln, stellt im System Krankenhaus eine Herausforderung für alle Berufsgruppen dar. Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern sich bei Seelsorgenden als einer der Berufsgruppen im Krankenhaus im Umgang mit ethischen Situationen Care-Orientierungen zeigen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den umrissenen Dimensionen von Care, die in der medizinethischen Debatte relevant erscheinen. Zudem werden darüber hinausgehende Care-Haltungen und Care-Praktiken von Seelsorgenden aufgezeigt.

II.

Care als Orientierung von Seelsorgenden in ethischen Situationen

Bei den interviewten Seelsorgenden zeigen sich in der Art und Weise, wie sie ethische Fragen wahrnehmen und mit diesen umgehen, Parallelen zu einem Verständnis von Care als Haltung wie auch als Praxis. Wie die Schilderungen der Gesprächspartner veranschaulichen, ist oft beides miteinander verwoben. Zudem verdeutlichen die Interviews, dass Care-Orientierungen von Seelsorgenden im Unterschied zum skizzierten Care-Verständnis von Gilligan und Conradi auch eine spirituelle Ebene umfassen. Aus Gründen der Verständlichkeit wird im Folgenden versucht, Care als Haltung (a), als spirituelle Sorge (b) und als Praxis (c) getrennt voneinander zu beschreiben. a)

Care als Haltung

Die folgenden Aussagen der Seelsorgerin Susanne Christlieb zu Entscheidungssituationen bei Schlaganfallpatienten verdeutlichen wesentliche Aspekte ihrer Perspektive auf ethische Probleme und Situationen. Diese ist charakteristisch auch für andere der interviewten Seelsorgerinnen und Seelsorger: Gerade bei Schlaganfallpatienten, wo häufig auch sichtbar wird medizinisch, dass die Hoffnung auf Gesundung sehr gering ist, braucht es Zeit für die Angehörigen, dass sie mit auf den Weg kommen, dass der Zeitpunkt X passieren kann, dass man von dem kurativen Ansatz auf den palliativen wechseln muss, um für den Patienten Gutes zu tun. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E) Grundsätzlich ist mir wichtig, dass alle Beteiligten, sofern sie verfügbar sind, ihre Meinung äußern können, ihren Standpunkt begründet äußern können, und dass miteinander nach Lösungen gesucht wird. Und auch immer wieder bewusst ist, dass es einen Prozess bedeutet. Auch wenn irgendwann Entscheidungen getroffen werden

57 Zu der Notwendigkeit einer disziplinübergreifenden Ethik im Kontext sozialer Arbeit vgl. Conradi, Ethik, 1–19.

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müssen und es Einschnitte sind, ist es doch was Prozesshaftes, die Ethik. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Susanne Christlieb betrachtet Entscheidungssituationen systemisch, das heißt hier, eingebettet in einen sozialen Kontext. Sie versteht ethische Probleme innerhalb des Beziehungsgefüges von Patienten, Angehörigen und weiteren Beteiligten. Fühlen und Denken der Konfliktpartner, hier explizit der Angehörigen, spielen für sie dabei eine wichtige Rolle. Kommunikation unter den Konfliktpartnern ist für sie wesentlich und eine Voraussetzung für die von ihr gewünschte Dynamik in der Interaktion der Beteiligten. Der Umgang von Susanne Christlieb mit ethischen Fragen zeigt damit eine deutliche Nähe zu zentralen Aspekten des beschriebenen Care-Verständnisses von Gilligan und Conradi. Wie es sich konkret auf den Verlauf von ethischen Situationen auswirken kann, dass Seelsorgende diese in Beziehungsnetzen verortet betrachten und den Interessen und Empfindungen der Beteiligten hohen Stellenwert einräumen, zeigt die folgende Fallgeschichte: Seelsorgerin Susanne Christlieb berichtet von einer älteren Patientin, die ins Krankenhaus eingeliefert wird, und bei der die Entscheidung über das Legen einer PEG-Sonde ansteht. Die Patientin wünscht laut Patientenverfügung keine künstliche Ernährung. Ihre Tochter ist Bevollmächtigte und votiert für das Einhalten der Verfügung. Der Enkel aber, ein Sohn der Tochter, setzt sich vor dem Hintergrund seines christlichen Menschenbildes massiv dafür ein, dass eine Sonde gelegt wird. Die Seelsorgerin beschreibt im Interview, wie sie mit der Fallgeschichte umgegangen ist, und betont hier zuallererst die Notwendigkeit, die Situation zu entschleunigen und die emotionalen Aspekte des Konflikts in den Blick zu nehmen. Sie schildert, wie sie über eine seelsorgliche Begleitung des Enkels versucht, einen Weg zu bahnen, der aus der Kontroverse herausführt. Ihr Handeln ist zunächst davon getragen, die Motive für das Verhalten des Enkels zu ergründen. Bemühungen, das Gegenüber wirklich zu verstehen, werden im Verständnis von Care als zentraler Aspekt von Anteilnahme begriffen.58 Verstehen können, wie kommt denn so eine Aussage zustande […]. Ich habe dann des Öfteren Gespräche gehabt mit dem Enkel am Bett und habe gesagt, „Lassen Sie uns hingucken, schauen Sie Ihre Großmutter in Ruhe an“. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Der Enkel äußert nach einigen Gesprächen am Krankenbett schließlich, dass die Großmutter nicht sterben darf, da er sie noch braucht. Diese Situation arbeitet die Seelsorgerin mit ihm auf. Dem Interview kann nichts Näheres dazu entnommen werden, welche Aspekte hierbei im Vordergrund stehen, lediglich das Resultat der seelsorglichen Intervention wird benannt: Der Enkel ist nach einem 58 Vgl. Gilligan, voice, 187, 31, siehe dazu auch Kapitel 3.1, II a.

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oder mehreren Gesprächen mit der Seelsorgerin einverstanden, dass die Großmutter palliativ begleitet wird. Rückblickend auf den Konflikt äußert die Seelsorgerin: Dieser Zwischenpart, den wir einnehmen mussten, war notwendig für die Angehörigen. Für die Patientin war es nicht gut. […] Also das ist der Konflikt, mit dem das Team arbeiten muss. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Erklärend fügt sie hinzu, eine wichtige Voraussetzung für eine palliative Begleitung wäre für sie, dass der Übergang von einer kurativen zu einer palliativen Zielsetzung zumindest annähernd durch die Angehörigen akzeptiert ist. Bemerkenswert an dieser Fallgeschichte ist, dass die Seelsorgerin den Willen der Patientin ernst nimmt – an anderer Stelle im Interview betont sie, der Wille des Patienten stehe für sie an oberster Stelle –, er jedoch in der Situation nicht allein ausschlaggebend für ihr Handeln ist. Obwohl sie ein Bewusstsein dafür hat, dass eine Verzögerung in der Entscheidung nicht gut für die Patientin ist, misst sie dem Willen des Enkels in der Konfliktsituation zunächst höhere Bedeutung bei als dem Willen der Patientin. Offensichtlich geht es der Seelsorgerin darum, Konfliktprozesse so zu gestalten, dass Entscheidungen ermöglicht werden, die von (möglichst vielen) Konfliktbeteiligten mitgetragen werden können:59 Dann können ethische Entscheidungen auch in einem Kompromiss geschlossen werden und nicht in so einem Gegenüber und in so einer Gegenwehr. Weil damit ist ja gar niemandem gedient. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Anknüpfen lässt sich hier an Reiner Anselms Überlegungen zu einer kritischen Unterscheidung von Recht und protestantischer Theologie und Ethik. Im Sinne von Anselms Plädoyer für eine „Kunst der rechten Unterscheidung“ ermöglicht die Seelsorgerin in einer bestimmten Konfliktphase die „Koexistenz verschiedener Wertorientierungen“.60 Sie schafft durch dieses Handeln Spielraum für einen ethischen Kompromiss. Gleichwohl ist die entstehende Spannung zwischen Seelsorge und medizinischer Ethik nicht unproblematisch, da die seelsorgliche Intervention dem erklärten Willen der Patientin entgegensteht. Auch Seelsorger Florian Ahrens schenkt den Empfindungen von nahen Personen im Umfeld des Patienten große Beachtung und beschreibt eine Konfliktsituation, die sich hierdurch in eine Richtung entwickelt, die für den Patienten selbst eher negative Auswirkungen hat. In diesem Fall geht es um einen Patienten mit weit fortgeschrittenem Lungenkrebs. Die Angehörigen setzen sich für eine Lungentransplantation ein, obwohl aus medizinischer Perspektive eine weitere kurative Behandlung nicht mehr angezeigt ist. Florian Ahrens verweist ähnlich wie Seelsorgerin Susanne Christlieb darauf, dass eine umgehende Um59 Vgl. Gilligan, voice, 95. 60 Anselm, Theologische Ethik, 64, 61.

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Sorge in Beziehungen

stellung auf eine palliative Behandlung für den Patienten wohl besser gewesen wäre: Es ist vielleicht gruselig für den Patienten gewesen, aber für die Angehörigen waren diese drei Wochen, die er noch erlebt hat, ganz wichtig. Diese drei Wochen haben die gebraucht, um versöhnt, so ein Stückchen versöhnt, ihn loslassen zu können. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Dem Interview ist nicht zu entnehmen, wie Florian Ahrens sich den Angehörigen gegenüber konkret verhält. Zu vermuten ist, dass er keinen Zeitdruck erzeugt und sich dafür einsetzt, den Angehörigen die Zeit zu geben, die sie brauchen, um einer Umstellung auf eine palliative Behandlung zuzustimmen. Wie die Philosophin Andrea Maihofer betont, kann die Orientierung an Care auch bedeuten, in Konfliktentscheidungen Überlegungen zu noch verbleibenden Konflikten mit einzubeziehen.61 Care impliziert, während eines Konfliktes im Blick zu haben, wie sich bestimmte Konfliktdynamiken und -entscheidungen nach Abschluss des Konfliktes auf einzelne Beteiligte auswirken können. Die obige Äußerung von Florian Ahrens kann so gedeutet werden, dass er in dem Konflikt den Trauerprozess der Angehörigen antizipiert. In den beiden zuletzt genannten Beispielen sind die Konfliktverläufe wenigstens in einer Zwischenphase in erster Linie durch das Eingehen auf die Angehörigen bestimmt. Hierdurch ergeben sich, wie oben bereits angedeutet, durchaus problematische Spannungen zwischen dem seelsorglichen Umgang mit ethischen Fragen und medizinethischen Grundsätzen. In der überwiegenden Zahl von komplexen – und von den Seelsorgenden systemisch betrachteten – Konfliktsituationen sind die Seelsorgenden jedoch ausdrücklich primär an den Interessen bzw. am (mutmaßlichen) Willen des Patienten selbst orientiert. Diesen Willen der Patienten in einem Geflecht von Beziehungen und Interessen sorgfältig zu eruieren, ist für Seelsorgende von hoher Relevanz. Beispielhaft deutlich wird dies am Konflikt um eine Patientin, die mit einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung aus dem Pflegeheim ins Krankenhaus eingeliefert und von ihrer Familie begleitet wird. Wie die Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach berichtet, kann die Patientin nicht über eine PEG-Sonde ernährt werden. Die Angehörigen wirken vehement darauf hin, dass ein Port zur Ernährung über den Blutkreislauf gelegt wird. Die Seelsorgerin richtet in dieser Situation ihr Hauptaugenmerk auf die Patientin. Sie berichtet: Als ich die Patientin das erste Mal besucht habe, waren die drei auch am Bett der Patientin. Ich lerne die Patientin so kennen, alle Angehörigen haben stark über die Patientin gesprochen und zwischendurch auch mal mit ihr, aber es ist so eine „überSituation“ wie ich sie nicht mag [lacht] […]. Jedenfalls habe ich versucht, mit der

61 Vgl. Maihofer, Existenzweise, 148.

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Patientin dennoch ins Gespräch zu gehen und selbst Kontakt aufzunehmen. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin versucht, sich einen eigenen Eindruck vom Willen der Patientin zu verschaffen. Sie kommt in der Begegnung mit der Patientin schließlich zu dem Schluss, dass diese weiterleben möchte, und der Port in ihrem Sinn ist. Mir wurde deutlich in dem Gespräch, […] dass sie jetzt lange schon so lebt und dass sie jetzt auch so weiterleben mag. Also bei mir kam deutlich eine positive Lebensäußerung zu Tage. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

In anderen Patientengeschichten, in denen es Differenzen zwischen dem Willen von Patienten und den Interessen von Angehörigen oder dem Personal gibt, nehmen Seelsorgende ihren Beschreibungen zufolge oft die Rolle ein, Patienten in ihren eigenen Willensbekundungen zu stärken. Seelsorgerin Kerstin Heine berichtet von einem Patienten auf einer orthopädischen Station: Darum ging es: Lässt jemand eine Operation vornehmen oder nicht? Und der Patient hat für sich ganz klar entschieden: „Ich lasse das nicht machen. Also es hat zwar keine Auswirkungen auf meine Lebenszeit, aber auf meine Lebensqualität […].“ Und das gesamte Ärzteteam und auch die Pflegenden waren anderer Ansicht und ich habe es auch nicht verstanden, warum er das nicht machen lässt. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin kann die Entscheidung des Patienten nicht nachvollziehen. Dies ist jedoch im folgenden Gespräch mit ihm nicht relevant für sie. Hier geht es ihr vielmehr darum, dem Patienten gegenüber Respekt für seine Entscheidung zu zeigen. Der Seelsorgerin ist es sehr wichtig, dass der Patient eine Entscheidung trifft, die ihm im Inneren entspricht. Das Verhalten von Kerstin Heine ist charakteristisch für eine Reihe anderer Konfliktsituationen, die Seelsorgende schildern. Darüber hinaus treten Seelsorgende in einigen Konfliktfällen, in denen es Differenzen zwischen den Interessen von Patienten und anderen Beteiligten gibt, als Anwälte von Patienten auf. Eine solche Rolle übernimmt Seelsorgerin Christine Stein-Böttler in einer Situation, in der das behandelnde Team einen Patienten – mutmaßlich aus ökonomischen Gründen – in einem anderen Hospiz unterbringen will, als dieser es sich wünscht. Der Patient möchte in ein heimatnahes Hospiz verlegt werden, das jedoch belegt ist. Die Seelsorgerin macht sich zum „Sprachrohr“ für den Patienten und erreicht, dass er im Krankenhaus bleibt, bis im Hospiz seiner Wahl ein freier Platz zur Verfügung steht.62 Die zwei letztgenannten Fallgeschichten sind beispielhaft dafür, dass Seelsorgende sich in Beziehungsnetzen primär am Willen des Patienten orientieren. Gleichzeitig weisen andere Beschreibungen der Interviewpartnerinnen und In-

62 Siehe auch Kapitel 2.1, II.

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Sorge in Beziehungen

terviewpartner darauf hin, dass sie sich die Freiheit bewahren, nicht auf eine bestimmte Rolle gegenüber den Beteiligten an ethischen Situationen festgelegt zu sein. Wie Seelsorgerin Kerstin Heine zusammenfasst, erfordert ein systemisches Verständnis ethischer Probleme, von Fall zu Fall gründlich zu analysieren, welche Betroffenheiten es unter den Beteiligten gibt: Wir sind […] alle Geschöpfe Gottes und beteiligt […] an einem Konflikt, in dem manche in ihrer ganzen Person betroffen sind, und manche in ihrer beruflichen Rolle. Und das ist noch mal was, das mich in meinem Handeln dann orientiert, also die Frage: „Wer ist jetzt eigentlich derjenige, um den es geht? Wer ist in erste Linie der, der mit der Entscheidung, die getroffen wird, weiterleben oder auch sterben muss?“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Die Äußerung von Kerstin Heine bringt auf den Punkt, was andere Seelsorgende umschreiben: Für Theologinnen und Theologen in der Klinik hat es eine hohe Bedeutung, mit der Komplexität von ethischen Problemsituationen verantwortlich umzugehen. Für eine Orientierung an Care ist dies charakteristisch.63 Dass es eine große Herausforderung sein kann, verschiedene Situationsbeteiligte mit ihren Perspektiven und Bedürfnissen im Blick zu haben, ist dem Eingangszitat von Kerstin Heine zu diesem Kapitel zu entnehmen. Die dargestellten Berichte der Seelsorgenden zeigen, dass die sorgfältige Analyse von Betroffenheiten im Einzelfall bedeuten kann, die Interessen von Angehörigen in einer bestimmten Phase der ethischen Auseinandersetzung über die Interessen von Patienten zu stellen. Dies scheint für Seelsorgende insbesondere im Übergang von kurativen zu palliativen Behandlungsabschnitten eine Option zu sein. Für Florian Ahrens geht dies im Konflikt um den lungenkranken Patienten mit dem Bewusstsein einher, dass es keine Ideallösung für ethische Probleme gibt. Für eine Care-ethische Perspektive ist dies kennzeichnend: Wenn Konflikte in einem Netz von Beziehungen entstehen und bearbeitet werden müssen, hat dies zur Folge, dass oft „zwischen verschieden großen Übeln“ abgewogen werden muss.64 In Klinikkontext können Entscheidungen in ethischen Fragen unerträgliche oder schwer zu bewältigende Folgen für einzelne Beteiligte haben. Für Seelsorgende ist es selbstverständlich, sich solcher verbleibender Sorgen und Nöte der Beteiligten anzunehmen. Aus den Interviews lässt sich schließen, dass das seelsorgliche Verständnis von Fürsorge beinhaltet, über den akuten Entscheidungskonflikt hinaus für diejenigen zu sorgen, die mit getroffenen Entscheidungen leben müssen.65

63 Vgl. Gilligan, voice, 147. 64 Conradi, Take Care, 33. 65 Auf ein solches Grundverständnis im Umgang mit ethischen Konflikten wurde bereits in Kapitel 2.1 hingewiesen.

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Eine Schilderung von Seelsorger Florian Ahrens macht deutlich, was dies in der Praxis bezogen auf Mitarbeitende konkret bedeuten kann. In der oben bereits dargestellten Konfliktsituation um den schwerkranken Lungenpatienten äußert eine Mitarbeiterin aus der Pflege, dass sie große Schwierigkeiten hat, den Patienten, der auf Wunsch der Angehörigen künstlich am Leben gehalten wird, weiter zu pflegen. In den Augen der Pflegenden befindet sich der Patient in der Sterbephase, die lebenserhaltenden Maßnahmen empfindet sie als quälend. Der Seelsorger berichtet von einem Gespräch mit dieser Mitarbeiterin: Ich denke mal, was ich da machen kann, den Konflikt zwischen dem, was wünschenswert ist und dem, was machbar ist, einfach noch einmal zu formulieren und zu sagen, „Es lässt sich manchmal nicht lösen.“ […] Und da versuche ich dann also den Mitarbeitern deutlich zu machen, das ist eine nicht lösbare Situation, aber für die Angehörigen hat das etwas gebracht, und deine Arbeit war auch sinnvoll an der Stelle. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E) 66

Florian Ahrens übernimmt hier Sorge für die Pflegende, indem er ihr vergegenwärtigt, dass ihre Tätigkeit sinnvoll ist, obwohl die Entscheidung im Konfliktfall für sie persönlich ethisch problematisch bleibt. Er stärkt und ermutigt die Mitarbeiterin damit für ihre weitere Arbeit in der Pflege.

b)

Spirituelle Sorge als besonderes seelsorgliches Verständnis von Care

Der Umgang des Seelsorgers mit dem verbleibenden Konflikt der Mitarbeiterin verweist auf ein besonderes Verständnis von Care, das eine spirituelle Sorge – in diesem Fall gegenüber einer Mitarbeiterin – umfasst.67 Ein solches Verständnis von Care ist auch bei anderen Seelsorgenden zu beobachten. Es bezieht sich neben Mitarbeitenden auf Angehörige oder Patienten und soll an weiteren Aussagen von Florian Ahrens näher veranschaulicht werden: Ich habe mal für mich einen Satz formuliert, vor vielen Jahren, ich glaube, der ist immer noch in gewisser Weise richtig: Liebe ist wichtiger als Wahrheit. […] Ich denke […], ich verstehe mich als Begleiter. Begleiter, Geleiter, entlastend, ermutigend, tröstend. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E) 66 Siehe dazu auch Kapitel 3.1, III. 67 Im Rahmen der European Association for Palliative Care hat sich eine Task Force on Spiritual Care gegründet, die die US-amerikanische Consensus Definition für den Europäischen Kontext überarbeitet und eine vorläufige Arbeitsdefinition für den Begriff Spiritualität vorgelegt hat, auf die sich das Verständnis von Spiritualität in diesem Kapitel bezieht: „Spiritualität ist die dynamische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie Personen (individuell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz erfahren, ausdrücken und / oder suchen, und wie sie in Verbindung stehen mit dem Moment, dem eigenen Selbst, mit Anderen/m, mit der Natur, mit dem Signifikanten und / oder dem Heiligen.“ Nolan/Saltmarsh/Leget, Spiritual Care, 86–89 (Übersetzung: Roser, Spiritual Care).

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Der Seelsorger berichtet im Folgenden von einer schwerkranken Patientin, die eigentlich eine Lunge transplantiert bekommen sollte. Ihr Zustand verschlechtert sich dann aber rapide, so dass die Transplantation nicht mehr durchgeführt werden kann. In dieser Situation besucht der Seelsorger die Patientin. Und sie dann so: „Ach, ich wäre so gerne noch einmal ins Ausland gefahren, nie im Leben bin ich groß weggefahren.“ So in der Art, ich hab was verpasst im Leben. Und dann sagte sie: „Ach nee, ich war ja mal in Venedig.“ Und dann hat sie mit leuchtenden Augen von dieser einen Fahrt nach Venedig und vom Gardasee und so erzählt. Dass sie mir das erzählt hat, hat sie entlastet. „So viel habe ich doch nicht verpasst im Leben.“ Ich glaube, das hat ihr dann das Sterben ein bisschen leichter gemacht. So verstehe ich mich, also ein bisschen als Geburtshelfer. In dem Sinne, Dinge, die eigentlich da sind, an das Licht zu holen. (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Im Verhalten des Seelsorgers zeigt sich ein Fürsorgeverständnis, das sich in vieler Hinsicht mit Care-Ansätzen aus psychologischer oder philosophischer Perspektive deckt. Der Seelsorger lässt sich auf die spezifische Situation der Patientin ein, er intensiviert aktiv die Beziehung zu der kranken Frau. In seinem Handeln verbinden sich emotionale und kognitive Aspekte. Das Verhalten von Florian Ahrens weist aber darüber hinaus auf ein Verständnis von Fürsorge hin, das sich von den genannten Ansätzen unterscheidet: Fürsorge umfasst für ihn das Eingehen auf existenzielle Fragen und Nöte der Patientin. In ihrer wohl letzten Lebensphase beschäftigt die Patientin, ob sie etwas im Leben versäumt hat. Auf dieses Nachdenken über Sinn und Bedeutung ihres Leben lässt sich der Seelsorger ein und entlastet die Patientin, indem er ihr Vergangenes, eine Reise nach Italien, bewusst macht. Als „Geburtshelfer“ trägt er damit in gewisser Weise zur Ermutigung und Bestärkung, zum „empowerment“, der Patientin bei.68 Er eröffnet ihr den Spielraum, anders auf ihr Leben zurückzublicken. Auch im oben angeführten Gespräch zwischen Florian Ahrens und der Pflegenden geht es um persönliche Fragen nach Sinn und Bedeutung – in diesem Fall bezogen auf den beruflichen Kontext. Patienten, Angehörige und Mitarbeitende mit ihren existenziellen Fragen und Nöten zu begleiten, ist ein Wesensmerkmal der professionellen Arbeit von Klinikseelsorgerinnen und -seelsorgern. Seelsorge ist darauf ausgerichtet, kranke Menschen und deren Umfeld angesichts der Erfahrungen von Krankheit, Leid, Behinderung und Tod zu stärken. Seelsorgliche Gespräche, Gottesdienste, Andachten, Gebete und Lieder geben Raum, Grundfragen menschlicher Existenz zum Ausdruck zu bringen.69 Auch im Kontext ethischer Situationen nehmen Seelsorgende spirituelle Bedürfnisse des Gegenübers wahr und gehen auf diese ein. Bemerkenswert ist, in 68 Conradi, Take Care, 46–60. 69 Vgl. EKD-Konferenz der Krankenhausseelsorger, Kraft, 14–19.

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welchem Maß diese spirituelle Sorge in ein Grundverständnis von Care eingebettet ist und den Verlauf ethischer Situationen beeinflusst. Dies zeigt unter anderem das bereits angeführte Fallbeispiel um die Schlaganfallpatientin, in dem die Seelsorgerin Susanne Christlieb sich der Angst des Enkels vor dem Tod seiner Großmutter und seinen existenziellen Sorgen widmet.

c)

Care als sorgende Aktivität

Im vorangegangenen Abschnitt wurde dargestellt, dass Seelsorgende im Zusammenhang mit ethischen Situationen eine Grundhaltung einnehmen, die deutliche Parallelen zu Ansätzen der Care-Ethik zeigt. In einem nächsten Schritt soll es darum gehen, Fürsorge als Praxis, als sorgende Aktivität der Seelsorgenden zu beschreiben. Ausgangspunkt ist die Patientengeschichte eines 80-jährigen dementen Mannes. In einem von der Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach geschilderten Konflikt geht es um die Frage, ob bei dem alten Patienten eine PEGSonde gelegt werden soll. Eine Ärztin ist laut der Seelsorgerin der Meinung, der Mann reagiere eigentlich gar nicht, eine andere Ärztin ist sich unsicher. Die Seelsorgerin besucht den Patienten, bevor sie am selben Tag an einer Fallbesprechung zu diesem Konflikt teilnimmt. Sie schildert im Interview: Als ich bei ihm war, hat er gerade mit seinem Arm so in der Luft gefuchtelt. Ich habe dann seine Hand genommen, die fiel praktisch in meine hinein, und er hat die Augen aufgemacht. Und dann gab es einen Augenkontakt, also da gibt es auch etwas Leeres, aber da gibt es auch etwas, wo ich den Eindruck hatte, der ist in Kontakt. Der hat registriert, dass da eine Hand seine Hand nimmt. Und ich hatte keinen blassen Schimmer, als ich da bei ihm stand, ob er ansprechbar ist, wie viel er hört, und ich konnte es auch in der kurzen Zeit nicht eruieren, wie viel da letztlich bei ihm ankommt. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E) 70

Durch ihren Kontakt mit dem Mann gewinnt die Seelsorgerin den Eindruck, dass dessen Grad der Demenz unsicher ist. Offensichtlich hat die Seelsorgerin ein eigenes Verständnis davon, was „in Kontakt sein“ mit dem Patienten bedeutet. In der am selben Tag stattfindenden Fallbesprechung weist sie vor allem auf „Leerstellen“ hin. Sie macht deutlich, dass es für sie in dem Konflikt ungeklärte Aspekte gibt, die es noch zu bearbeiten gilt. Die Art und Weise, wie die Seelsorgerin mit dem dargestellten Konflikt umgeht, verkörpert vieles von dem, was Conradi als Charakteristika für Care-Interaktionen beschreibt. Care hat oft mit körperlichen Berührungen zu tun, die Interaktionen sind oft asymmetrisch, Fühlen, Denken und Handeln sind verwoben.71 70 Siehe auch Kapitel 3.1. 71 Vgl. Conradi, Take Care, 45ff.

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Sorge in Beziehungen

Von besonderer Bedeutung für die Fragestellung, wie Seelsorgende mit ethischen Situationen umgehen, ist schließlich, dass die Fürsorgepraxis der Seelsorgerin, in diesem Fall ihre körperliche Kontaktaufnahme mit dem dementen Patienten, den weiteren Verlauf des Konfliktgeschehens beeinflusst. Dass die Praxis Care einen entscheidenden Beitrag für die Lösung von Konflikten liefern kann, gehört zu den zentralen Thesen Conradis: Die Praxis Care wirft also nicht nur Konflikte auf, sie ist auch relevant im Hinblick auf deren Lösung. Aus der Praxis Care selbst ergeben sich bestimmte Weisen des Umgangs mit moralischen Konflikten.72

In der geschilderten Patientengeschichte führt der Verweis der Seelsorgerin auf Ungewissheiten, die sich für sie durch die Berührung mit dem Mann offenbaren, dazu, dass die Entscheidung im Konfliktfall vertagt wird. Weitere Informationen und Eindrücke, die zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten von Bedeutung sein können, sollen eingeholt werden. Bis zu einer weiteren Fallbesprechung soll eine Ärztin Kontakt zum Pflegeheim aufnehmen, in dem der Patient vor seinem Krankenhausaufenthalt wohnte, um einen näheren Eindruck von seiner Lebensqualität zu bekommen: Hat sich jetzt durch den Hirninfarkt extrem was verändert? Diese Schluckbeschwerden, wird das noch einmal seine Lebensqualität extrem einschränken? Also wovon hat der gelebt, was war sein Grund, im Leben zu bleiben? (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011)

Zum anderen wurde vereinbart, dass der Sohn und die Ehefrau des Patienten erneut angeregt werden, über den mutmaßlichen Willen ihres Angehörigen ins Gespräch zu kommen. In dieser Patientengeschichte offenbart sich in einer vergleichsweise kurzen körperlichen Berührung eine fürsorgliche Praxis der Seelsorgerin. Was Conradi als Care-Interaktion bezeichnet, lässt sich bei den Interviewpartnern aber auch als umfassendere sorgende Aktivität beobachten. Auf eine solche komplexere Fürsorgepraxis lässt die Schilderung von Seelsorger Jakob Gutwirth schließen, der einen Patienten mit weit fortgeschrittener Multipler Sklerose begleitet hat. Der Mann ist gelähmt und erblindet während eines Krankenhausaufenthaltes. Sein einziger Wunsch ist es, zu sterben. In dieser Konfliktsituation wird der Seelsorger von den Medizinern hinzugebeten. Nachdem der Patient ihn zunächst ablehnt, kann er dessen Vertrauen gewinnen und beginnt, ihm vorzulesen: Ich wollte ihm kleine Texte vorlesen, die für seine Situation vielleicht interessant, wichtig, sein könnten, und darüber ins Gespräch kommen. Und das haben wir dann auch einige Tage gemacht. […] Das war ein Buch von Henri Nouwen, sein Tagebuch

72 A.a.O., 233.

Care als Orientierung von Seelsorgenden in ethischen Situationen

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über die Zeit, wo er große Tiefe durchschritten hat, Selbstzweifel als Gottesmann […]. Es geht, grob gesagt, um die Suche nach Geborgenheit in der Liebe Gottes, neu in […] Gottes Vertrauen investieren zu können. Und in diesen Gesprächen mit dem Patienten kam es dann unter anderem zu der Frage: Was gehört denn für ihn jetzt dazu, dass sein Leben nicht einfach abreißt, dass es ausgeknipst wird, durch eine Spritze oder so. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Infolge der Gespräche wünscht sich der Patient eine Begegnung mit seinen beiden Töchtern, die er seit Jahren nicht gesehen hat. Er trifft diese schließlich noch einmal im Krankenhaus. Später bessert sich sein Zustand wieder, und er wird entlassen. Bezogen auf diese Patientengeschichte kann das Vorlesen von Texten als sorgende Aktivität gedeutet werden. Auch hier deckt sich das Verhalten des Seelsorgers mit vielen Aspekten, die Conradi als Charakteristika für Care-Interaktionen beschreibt. Im Unterschied zur vorangegangenen Fallgeschichte bezieht sich jedoch die Fürsorgepraxis des Seelsorgenden explizit auf eine existenzielle Not des Patienten. Auch Care als Praxis kann eine spirituelle Sorge für das Gegenüber umfassen und, wie die folgende Patientengeschichte illustriert, auch einen noch weit offeneren Konfliktprozess beeinflussen. Seelsorgerin Annette Ingelmann berichtet von einer psychotischen Patientin, die aus einer anderen Klinik eingeliefert wird. Sie ist stark sediert und wurde in der Vergangenheit gegen ihren Willen unter Einwilligung ihres Betreuers mit Elektroschocks behandelt. In der Klinik gibt es einen Konflikt darüber, wie viele Medikamente die Patientin bekommen soll. In dieser Konfliktsituation tritt die Seelsorgerin mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten ins Gespräch und schlägt vor, die Patientin mit Musik zu stabilisieren. Sie schildert: Diese Patientin hat einen klaren christlichen Hintergrund und ist jemand, die über die Musik sehr gut zu erreichen ist. […] Das fand ich hier gerade in der Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Ärzten – oder Zusammenarbeit nicht so sehr, aber Absprache – noch einmal eine spannende Geschichte. Die haben die Medikamentation so weit wie möglich runtergefahren. Und dieser Patientin an genau der Stelle diese Möglichkeit eröffnet, das Stabilisierende ihres Glaubens auch zu erleben. […] Ich habe mit dieser Patientin ganz viel gesungen. […] Es war in der Vorweihnachtszeit wie jetzt, […] so diese halbe Stunde singen, hat jedes Mal einen Tag stabilisiert. (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Der Zustand der Patientin hat sich der Seelsorgerin zufolge zunehmend gebessert, und sie konnte schließlich in eine sozialpsychiatrische Einrichtung ziehen. Der ethische Konflikt, der der Fallgeschichte zugrunde liegt, ist laut Annette Ingelmann auf zwei unterschiedliche psychiatrische Schulen zurückzuführen. Dieser Konflikt bekommt in der Patientengeschichte eine neue Dynamik – und zwar dadurch, dass die Seelsorgerin das Bedürfnis der Patientin nach Stabilität im Glauben wahrnimmt und der Patientin durch das gemeinsame Singen einen

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Zugang zu ihrer Spiritualität wiedereröffnet. Im gemeinsamen Singen wird die fürsorgliche Haltung der Seelsorgerin offenbar. Gleichzeitig wird durch das Singen eine Konfliktlösung auf den Weg gebracht, die für eine Care-Ethik charakteristisch ist. Konflikte werden nicht nur durch verbale Argumentation bearbeitet, sondern durch eine Verknüpfung sprachlicher Auseinandersetzung mit auch „nonverbalen Elementen gemeinsamen Handelns“73. Wie in den beiden letzten Abschnitten beschrieben wurde, lassen sich bei einem Großteil der interviewten Seelsorgenden Care-Haltungen beobachten; Parallelen zu einer fürsorglichen Praxis konnten an einzelnen Beispielen verdeutlicht werden. Das Verhalten von Seelsorgenden ist hierauf jedoch nicht zu reduzieren. So orientieren sich zum Beispiel vor allem Seelsorgende, die medizinethisch fortgebildet sind, in ethischen Situationen explizit an institutionellen Vereinbarungen hinsichtlich ihrer Rolle im Umgang mit ethischen Themen. Damit einher geht in aller Regel eine veränderte Grundhaltung im Umgang mit ethischen Problemen. Eine bewusste Trennung von Rollen beschreibt der Seelsorger Jakob Gutwirth, der in seiner Klinik das Klinische Ethikkomitee leitet: Zunächst muss ich sagen, dass ich ganz bewusst Seelsorge und Ethik scharf voneinander trenne. […] Als Seelsorger bin ich immer Parteigänger für eine Ratsuchende, für einen bestimmten Themen-, Fragenbereich, den die Menschen mitbringen, mit dem sie sich an mich wenden. In der Ethikberatung bin ich verpflichtet, eine vermittelnde Rolle einzunehmen, das heißt eine neutrale Position, sonst kann ich nicht beraten oder im Konfliktfall vermitteln. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Wie sich eine solche Abgrenzung der Rollen auf den Umgang mit einer ethischen Fragestellung ausüben kann, wird aus einer Beschreibung von Seelsorgerin Renate Frohmut deutlich. Diese tritt in den ethischen Fallbesprechungen in ihrem Krankenhaus entweder in der Rolle der Moderatorin oder der Rolle der Seelsorgerin auf. Findet ein Ethikberatungsgespräch auf Stationen statt, auf denen sie als Seelsorgerin tätig ist, so bleibt sie dort in der Rolle der Seelsorgerin. In anderen Situationen moderiert sie die ethischen Fallbesprechungen. In ihrer Rolle als Moderatorin ist ihr vor allem wichtig, für einen geregelten Ablauf des Gesprächs zu sorgen und möglichst alle ethischen Gesichtspunkte anzusprechen. Ein von ihr moderiertes Gespräch soll ergebnisoffen sein – verschiedene Werte und Argumente müssen gleichberechtigt zu Wort kommen. In einer ethischen Fallbesprechung, in der es darum geht, ob eine ältere, nicht ansprechbare Patientin mit oder ohne PEG-Sonde in eine stationäre Pflegeeinrichtung kommt, besteht bei der Seelsorgerin der Eindruck, die Frau soll auf Wunsch der Angehörigen vorschnell ohne Sonde in ein Heim verlegt werden. Sie reflektiert diese Situation wie folgt:

73 Conradi, Take Care, 235f.

Fazit: Care gehört zum Ethos von Seelsorgenden

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Da ging es auch um eine ältere Patientin, und da war die Frage, ob sie eine PEG-Anlage bekommen sollte oder nicht, und da gab es mehrere Angehörige […], die alle bei diesem Gespräch dabei waren. […] Und da weiß ich noch, […] da war ich als Moderatorin […] und da hatte ich ein Problem, ein inneres, mit mir, weil ein Teil der Angehörigen so sehr darauf drängte, dass diese alte Dame nun ohne PEG-Sonde schleunigst ins Altenheim kommen sollte. Und die das auch nicht adäquat argumentativ vertreten konnten, fand ich. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin bleibt in dieser Situation trotz innerer Anspannung in ihrer Rolle als Moderatorin. In dieser Rolle schlägt sich ihr Unwohlsein mit der Situation nicht darin nieder, dass sie im Sinne einer fürsorglichen Haltung Partei für die ältere Patientin ergreift. Allerdings muss hier einschränkend erwähnt werden, dass andere Beteiligte an der Fallbesprechung darauf hingewirkt haben, dass zunächst erst einmal abgewartet und „für das Leben“ entschieden wird. Festhalten aber lässt sich zumindest, dass sich die Seelsorgerin primär an institutionell vereinbarten Rollenmustern ausrichtet und ihre Fürsorge-Orientierung demgegenüber zurückstellt.

III.

Fazit: Care gehört zum Ethos von Seelsorgenden

Die Selbstbeschreibungen der Seelsorgenden illustrieren in vielfältiger Weise, dass ihre Herangehensweise an ethische Situationen von einem Care-Verständnis geprägt ist. Care kann als praktizierte Grundüberzeugung von Seelsorgenden verstanden werden. Oder anders ausgedrückt: Care gehört zum Ethos von Seelsorge, das Teil ihres beruflichen Selbstverständnisses ist. Parallelen zu Care spiegeln sich bei den Interviewpartnern sowohl in ihrer Haltung gegenüber ethischen Themen als auch in konkreten sorgenden Aktivitäten. In beidem drückt sich eine hohe Beziehungsorientierung, intensive Anteilnahme und das Einlassen auf die Einzigartigkeit von ethischen Situationen aus. Seelsorgende zeigen sich sensibel gegenüber differenzierten Kontexten ethischer Fragen und den Eigenheiten von Personen – beispielsweise denen, die eine besondere Verletzbarkeit zeigen und in der Ausübung ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt sind. Der Umgang von Seelsorgenden mit ethischen Themen ist damit von Leitorientierungen geprägt, die in der medizinethischen Auseinandersetzung mit Care-Ansätzen als bereichernd für die Praxis angesehen wird. Die Schilderungen der Seelsorgenden verdeutlichen ein Verständnis von Fürsorge, das auf soziale, emotionale und spirituelle Dimensionen menschlichen Lebens ausgerichtet ist. Dass Fürsorge für Seelsorgende auch eine spirituelle Ebene umfasst, unterscheidet das bei Theologinnen und Theologen beobachtete Care-Verständnis von prominenten Fürsorgeansätzen in der Psychologie und

128

Sorge in Beziehungen

Philosophie. Eindrücklich ist, inwiefern Seelsorgende ethische Situationen dadurch mitgestalten und beeinflussen, dass sie existenzielle Fragen und Nöte der Beteiligten wahrnehmen und aktiv in Entscheidungsprozesse einbeziehen. Dieses Potenzial von Seelsorgenden in ethischen Situationen gilt es in der medizinethischen Diskussion zur Klinischen Ethikberatung fruchtbar zu machen. Die beobachteten Fürsorge-Orientierungen der Seelsorgenden und ihre entsprechende Herangehensweise an ethische Fragen hängen wesentlich zusammen mit der organisatorischen Unterbestimmtheit der Rolle von Seelsorgenden in der Klinik. Seelsorgerinnen und Seelsorger gehören zum System Krankenhaus; gleichzeitig sind sie von ihrer Stellung im System her prädestiniert dafür, Dimensionen im Umgang mit ethischen Fragen zu stärken, die angesichts der Logik, der Gegebenheiten und Herausforderungen im Krankenhaus eher marginalisiert werden. In persönlichen Gesprächen mit Patienten oder Mitarbeitenden, aber auch im Kontext ethischer Fallbesprechungen, bringen Seelsorgende persönliche Haltungen, Motivationen und Ängste innerhalb des Gefüges der an einer ethischen Situation Beteiligten an die Oberfläche. Durch deren Bearbeitung bekommt die ethische Grundsituation oft eine neue Dynamik. Die Position der Seelsorgenden als Berufsgruppe zwischen Patienten, Angehörigen, Pflegenden, Medizinerinnen und Medizinern und den weiteren Professionen im Krankenhaus erleichtert ihnen eine flexible Rollenübernahme in komplexen Problemsituationen. Im Umgang mit ethischen Fragen sind die beobachteten Care-Orientierungen der Theologinnen und Theologen ein großes Potenzial, ethische Situationen in einen weiteren Horizont zu stellen und so stärker an die Wirklichkeit der Beteiligten zurückzubinden. Dies gilt für die Individualseelsorge wie für die institutionalisierte Ethikarbeit, für die seelsorgliche Haltungen und Praktiken, wie deutlich wurde, die Bearbeitung ethischer Probleme bereichern können. Fürsorge-Orientierungen in der Seelsorge führen vereinzelt zu Situationen, in denen diese in ein Spannungsverhältnis zur medizinischen Ethik treten. Dargestellt wurde dies am Beispiel zweier Patientengeschichten, in denen die Interessen von Angehörigen gegenüber dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten temporär in den Vordergrund gestellt wurden. Diese Situationen sind als durchaus problematisch zu bewerten. Möglicherweise sind die unterschiedlichen Ausrichtungen von Seelsorge und Ethik produktiv. In der Praxis stellt sich die Herausforderung, ein angemessenes Verhältnis zwischen Care-Orientierungen und medizinethischen Prinzipien zu wahren. In ethischen Situationen, in denen Seelsorgende bewusst eine Rollendifferenzierung zwischen Seelsorge und Ethik vornehmen, zeigt sich in einigen Fällen eine Tendenz, dass fürsorgliche Haltungen zugunsten einer unparteilichen Rolle im Umgang mit ethischen Fragen zurücktreten.

Gewissensfragen in der Klinik

3.4

129

Gewissensfragen in der Klinik

I.

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden a) Ein Wort auf dem Rückzug und sein begrifflicher Gehalt b) Der Mehrwert von „Gewissen“ gegenüber „Ethik“ c) Gewissensfragen verschiedener Berufsgruppen d) Professionelles und persönliches Gewissen e) Gewissen, Ökonomie und Recht II. Seelsorglicher Umgang mit Gewissensfragen a) Umgang mit dem positionellen Gewissen b) Umgang mit dem zwiespältigen Gewissen c) Seelsorge als „Bezeugungsinstanz“ III. Die religiöse Dimension des Gewissens a) Religiöse Symbolisierungsleistungen b) Das Gewissen als Ort innerer Heteronomie IV. Fazit: Der Gewissensbegriff markiert einen Raum für moralisches Subjektsein Also, für mich ist das Gewissen ein sehr sensibles, wichtiges inneres Organ, will ich mal sagen. Wenn darauf nicht genügend eingegangen wird, wenn es nicht gehört und berücksichtigt wird, und Menschen in ihrem Gewissen gebrochen werden, geht es um Zerstörung von Identität und Persönlichkeit. Und deshalb hat das eine hohe Priorität, wenn jemand an das Gewissen appelliert oder sagt: „Ich kann das mit meinem Gewissen nicht verantworten.“ Das hat eine ganz hohe Relevanz. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Das Gewissen ist im Medizinrecht eine eingeführte Kategorie. Die Gewissensfreiheit des Arztes ist geschützt, und mit ihr die Freiheit ärztlicher Berufsausübung insgesamt. Mit dem Gewissen sind zudem medizinrechtlich bestimmte Schutzräume markiert für Ärzte und Pflegekräfte, sofern diese in Weisungsverhältnissen stehen. Keine Ärztin, keine Pflegekraft kann gegen ihr Gewissen verpflichtet werden, etwa an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken.74 Doch wie funktioniert die Berufung auf das Gewissen jenseits des Rechts, in der Praxis des Krankenhauses? Dazu ist es interessant zu untersuchen, wie Seelsorger und Seelsorgerinnen von Gewissen sprechen. Dies aus mehreren Gründen: Zum einen verstehen sie sich in der Regel nicht allein als Krankenseelsorgende, sondern als Krankenhausseelsorgende.75 Sie wollen auch Ansprechpartner sein – und sind dies, je nach dem Grad ihrer Einbindung – für Mitarbeitende, für Pflegekräfte, für Ärzte, für andere Professionen im Krankenhaus. Sie beobachten also, wie andere mit Gewissenskonflikten umgehen, und werden spezifisch darauf angesprochen. Insofern sind Seelsorgende für die 74 Vgl. Duttge, Gewissen, 543–560. Der Gewissensbegriff ist insbesondere in folgenden Dokumenten der Bundesärztekammer genannt: Bundesärztekammer, (Muster-)Richtlinie, A1392–1403; Bundesärztekammer, Zentrale Ethikkommission, Empfehlungen, A-891–896. 75 Vgl. Klessmann, Krankenhausseelsorge, 351; siehe dazu auch Kapitel 3.2.

130

Gewissensfragen in der Klinik

Frage nach dem Gewissen gleichsam eine Messsonde dafür, welche Rolle das Gewissen im Krankenhaus spielt. Zum anderen sind sie eine eigene Profession im Krankenhaus und haben ein eigenes Berufsethos, auf das sie sich in Gewissensfragen berufen können.76 Drittens ist interessant, dass die Seelsorgenden als Theologinnen und Theologen aus ihrer theologischen Ausbildung einen Teil des metaphysischen Ballastes, den der Gewissensbegriff im Laufe seiner mehrtausendjährigen Geschichte angehäuft hat, mitschleppen. Daraus entspringt jedenfalls eine Sensibilität für den Begriff und die Sache des Gewissens. In den leitfadengestützten Interviews und auch während der teilnehmenden Beobachtungen wurden Seelsorgende explizit nach dem Gewissensbegriff gefragt; darüber hinaus brachten manche den Begriff auch selbst ein. Die entsprechenden Ausführungen werden im Folgenden zusammengefasst und ausgewertet. Was benennen sie damit? Welche Konflikte, welche Ereignisse im Krankenhaus werden – über das „Ethische“ hinaus – spezifisch mit dem Gewissensbegriff verbunden? Im Kontext der Studie wurde darauf verzichtet, einen allgemeinen Gewissensbegriff zugrundezulegen – nicht nur, weil dieser kaum beherrschbar ist, sondern weil gerade die Gewissensbegriffe der Seelsorgenden erhoben werden sollen. Das Material der Studie wird im Folgenden schrittweise nach drei Leitfragen ausgewertet: I. Wie sprechen Seelsorgende über das Gewissen? II. Wie gehen Seelsorgende mit dem Gewissen, dem eigenen und dem Gewissen anderer, um? Wie handeln sie in Situationen von Gewissenskonflikten? III. Wo werden spezifisch religiöse Aspekte des Gewissens namhaft gemacht? Das Ergebnis der folgenden Analyse sei als These vorangestellt: Seelsorgende benennen mit dem Terminus des Gewissens einen spezifischen Raum für moralisches Subjektsein, der gegenüber bestimmten Verhaltenserwartungen innerhalb der Organisation Krankenhaus behauptet und legitimiert wird. Das moralische Subjektsein, für das im Rekurs auf das Gewissen ein Freiraum reklamiert wird, ist individuell bestimmt: Ein Individuum rechnet sich starke, identitätsrelevante moralische Überzeugungen zu, die es reflektiert und aufgrund derer es handelt. Diese Überzeugungen sieht es in einer bestimmten Situation auf eine Weise tangiert, in der die eigene moralische Integrität auf dem Spiel steht. Wer sich auf sein Gewissen beruft, reklamiert damit einen Freiraum, seine Überzeugungen für erheblich zu halten, diese gegeneinander und mit den Erfordernissen der Situation abzuwägen und ihnen gemäß, gegebenenfalls auch gegen anderslautende Verhaltenserwartungen, zu handeln. Dieser reklamierte Raum für individuelle Moralität kann, muss aber nicht, religiös konnotiert sein. Prä76 Zur Frage des Berufsethos siehe Kapitel 4.1, I. und II. b, sowie die dort angegebene Literatur.

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden

131

zisiert und gleichzeitig moderat verallgemeinert heißt das: „Gewissen“ ist die Markierung für eine soziale Praxis der situativen Zuschreibung und Legitimation eines moralischen Reflexions- und Handlungsraumes an ein Individuum unter Verweis auf starke moralische Bindungen und auf die Bedrohung der Integrität dieses Individuums. Dieser Begriff des Gewissens mag sehr abstrakt klingen; dass er gleichwohl im Schnittpunkt dessen liegt, was die Seelsorgenden sehr konkret mit Gewissen beschreiben, soll im Folgenden anhand des Studienmaterials belegt werden.

I.

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden

a)

Ein Wort auf dem Rückzug und sein begrifflicher Gehalt

Schon im Vorfeld der Studie wurde – so auf einem Startworkshop mit Expertinnen und Experten aus Medizinethik und Sozialforschung – die Tragfähigkeit des Gewissensbegriffs bezweifelt. Dieser sei entweder antiquiert oder gleichsam metaphysisch überlastet und damit der Situation einer modernen Klinik unangemessen.77 Auch in den Interviews finden wir eine ganze Reihe von Voten der Seelsorgenden, die den Gewissensbegriff für de facto ausgestorben oder für der Sache nach nicht mehr verwendbar erklären. [D]ieses Wort, finde ich, gibt es gar nicht mehr. Also, da kann ich mich wirklich überhaupt an keinste Begebenheit erinnern, wo einer das mal gesagt hat. „Mein Gewissen sagt mir“ – also das, finde ich, gibt es gar nicht. Das ist… das ist…, wenn, dann ist es etwas Unausgesprochenes. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

Manche Seelsorgende ersetzen den Gewissensbegriff für sich durch eigene Umschreibungen wie „Bauchschmerzen“ (I Carla Drews 4. 11. 2011 E); eine Seelsorgerin spricht von „Spätmeldern“ nach Friedemann Schulz von Thun (F Barbara Schmitz 8./9. 3. 2012 T). Vor allem aber hat der Begriff der Verantwortung den Gewissensbegriff semantisch abgelöst.78 Diese Ablösung wird besonders deutlich in Sätzen, die Gewissens- und Verantwortungssemantik vermischen. Eine Seelsorgerin sagt: „Das kann ich aber mit meiner Verantwortung nicht vereinbaren.“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E) Hier steht „Verantwortung“, wo sprachlich „Gewissen“ stehen müsste. Umgekehrt sagen zwei Interviewte unabhängig voneinander: „Ich kann das mit meinem Gewissen nicht verantworten.“ (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E; I Carla Drews 4. 11. 2011 E). Auch hier greifen die 77 Zur Geschichte des Gewissensbegriffs vgl. Kittsteiner, Entstehung. Zum Gewissen in der neueren Philosophie und Medizinethik vgl. auch Bormann/Wetzstein, Gewissen. 78 Vgl. I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E; I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E; I Carla Drews 4. 11. 2011 E; I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E.

132

Gewissensfragen in der Klinik

Semantiken ineinander. Es ist eine wichtige Frage, inwieweit dieser semantische Ablösungsprozess mit spezifischen Verschiebungen – und vielleicht auch Verlusten – in der Problemwahrnehmung einhergeht. Zu vermuten ist, dass der Verantwortungsbegriff allgemein für moralische Überzeugungen oder ethische Abwägungen steht und damit die spezifische Leistung des Gewissensbegriffs nicht mehr erbringen kann, besonders ausgezeichnete Situationen persönlicher moralischer Involviertheit zu benennen. Umgekehrt hält eine Seelsorgerin den Gewissensbegriff gerade aufgrund seines Grenzcharakters für nicht mehr anwendbar. Im Feldtagebuch ist notiert: Sie empfindet das Wort als zu stark und meint, dass es aus einer Zeit stammt, als es noch besser zuzuordnen war, was gut oder schlecht bzw. hell oder dunkel war. Der Begriff des Gewissen gaukelt eine Eindeutigkeit vor, die sie nicht vorfindet. (F Anette Pfeiffer 2. 3. 2012 T)

Der Begriff des Gewissens kann die Vorstellung evozieren, dass heldenhafte Einzelne in einem menschenfeindlichen Umfeld unter Aufbietung ihrer Existenz für das Gute stehen. Ein solcher innerer Heroismus des Gewissensbegriffs, gleichsam dessen „Weiße Rose“-Konnotation, ist für den Betrieb des modernen Krankenhauses glücklicherweise in aller Regel nicht einschlägig. Erscheint der Gewissensbegriff also auf extreme Grenzlagen beschränkt, verliert er offenbar seinen Anwendungsbereich. Aber in allen Interviews verbinden die Seelsorgenden, und sei es nach einiger Zeit des Überlegens, schließlich eigene Assoziationen und Situationen mit dem Begriff des Gewissens. Es zeigt sich, dass unter dem Begriff des Gewissens, der in den explorativen Interviews dem Leitfaden gemäß erst gegen Ende angesprochen wurde, noch einmal andere Phänomene zur Sprache kamen als vorher, als nur von „Ethik“ die Rede war. „Gewissen“ ist also zwar als Wort vom Aussterben bedroht, aber als rekonstruktive Kategorie für die Berufspraxis der Seelsorgenden offenbar anschlussfähig. Ein Interviewausschnitt zeigt einen typischen Gesprächsverlauf: Interviewerin: Sie haben jetzt einige ethische Konflikte geschildert. Es gibt immer wieder Konflikte, wo einzelne Beteiligte sagen, dass das Gewissen im Spiel ist. Haben Sie solche Situationen erlebt? Annette Ingelmann: Bisher nicht. Interviewerin: Und indirekt? Können Sie sich an Situationen erinnern, wo indirekt das Gewissen ins Spiel kam, wo Sie das Gefühl haben, das spielt mit, ohne dass der Begriff genannt wird? Ingelmann: Ja. Also, doch, doch… Also, explizit nicht, aber implizit immer mal wieder. Also wenn es auf der Intensivstation geht um die Frage: Wie gehen wir hier jetzt weiter? Wobei ich ganz ehrlich gesagt, hier gerade unser Intensivteam als an der Stelle sehr…

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden

133

am Menschen orientiert erlebe, und auch einen hohen Respekt davor habe, wie die damit umgehen. Interviewerin: Woran merken Sie das denn bei diesen Situationen auf der Intensivstation, dass das Gewissen da schlägt bei dem einen oder anderen? Gibt es da bestimmte Anzeichen? Ingelmann: Ja, also schon immer mal wieder mit der Frage, was machen wir hier jetzt? Also mit diesen klaren Maßgaben. Wir setzen im Zweifelsfall Dialyse und alles andere aus, um dieses Sterben jetzt auch möglich zu machen, aber wir nehmen nicht die Beatmung weg. Und wenn es bei Hochbetagten noch mal zu einer OP gekommen ist, und [das Intensivteam] der Meinung war, das hätte wirklich nicht sein müssen – dass dann schon auch ein Konflikt zwischen der Intensivstation und unserer Chirurgie zu spüren ist. Also nach dem Motto: Die machen Sachen, die müssen eigentlich so nicht sein. Und dann, gerade bei der Chirurgie, spielt natürlich, wie überall in der Medizin, auch das Geld eine Rolle. (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Die Semantik des Gewissens selbst spielt nach Wahrnehmung der Seelsorgerin im Alltag keine Rolle. Wohl aber werden auf Nachfrage der Interviewerin bestimmte Situationen und paradigmatische Konflikte der Sache nach dem Gewissensbegriff zugeordnet. Häufig handelt es sich um Situationen an den Grenzen des Lebens, insbesondere auf der Intensivstation.79 Der Konflikt entsteht an dieser Stelle dadurch, dass die allgemeinen Regeln des Krankenhauses oder des Berufs – zum Beispiel: bei Sterbenden wird die Dialyse eingestellt, nicht aber die Beatmung – den Individuen und ihren Lebenslagen nicht mehr gerecht zu werden scheinen; als Gegenbild wird formuliert, man sei „am Menschen orientiert“. Mit dem „Gewissen“ wird das Recht des Individuellen gegenüber allgemeinen Regeln, gerade im Falle von Spannungen zwischen verschiedenen Regelregimen, reklamiert. Der Interviewausschnitt zeigt auch bereits einige exemplarische Konstellationen, in denen im Krankenhaus solche Konfliktlagen aufbrechen: 1. im Verhältnis verschiedener medizinischer Abteilungen oder Fachkulturen: Intensivstation da, Chirurgie dort; 2. im Verhältnis der Professionen untereinander. Das Gegenüber von Pflegekräften und Ärzten wird von eine ganzer Reihe von Seelsorgenden benannt als Konflikttyp, mit dem sie befasst sind; 3. im Aufeinandertreffen verschiedener Handlungslogiken bzw. Systemrationalitäten: einerseits die Logik der Medizin, dem Patienten gerecht zu werden, auf der anderen Seite die Logik der Ökonomie, die auf Kostenreduzierung und Gewinnmaximierung ausgerichtet ist.

79 Eine Seelsorgerin formuliert: „Auf der ITS [Intensivstation] gibt es ganz oft Gewissen.“ (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

134 b)

Gewissensfragen in der Klinik

Der Mehrwert von „Gewissen“ gegenüber „Ethik“

Die weithin erfolgte Ersetzung der Gewissens- durch die Verantwortungssemantik könnte zu der Mutmaßung veranlassen, dass im Rekurs auf „Gewissen“ im Wesentlichen dasselbe intendiert wird wie im Rekurs auf „Ethik“. Immer geht es um Konfliktlagen, die aus divergierenden moralischen Überzeugungen hinsichtlich anstehender (oder auch vergangener) Behandlungsentscheidungen entstehen und einer Lösung bedürfen. So gelesen wären Kliniken, in denen eine Ethikberatung etwa in Form von ethischen Fallbesprechungen etabliert ist, in der glücklichen Lage, einen institutionellen Abnehmer für individuelles Gewissen zu besitzen. „Ethik“ wäre die Technik des Ausgleichs zwischen konträren Gewissensbestimmtheiten; umgekehrt wäre das Gewissen lediglich der individuelle Sensor für ein ethisches Problem. In diesem Fall wäre der Gewissensbegriff verzichtbar. Allerdings sind den Interviews deutliche Hinweise darauf zu entnehmen, dass das, was unter Gewissen verstanden wird, über das hinausgeht, was unter dem Stichwort „Ethik“ in der Klinik besprochen werden kann. Eine Seelsorgerin sagt: „In der Ethik haben wir ja gelernt, dass man immer nur auf den Patienten guckt.“ (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E) Das Gewissen, so kann ergänzt werden, kommt dann ins Spiel, wenn neben „dem Patienten“ mit seinen Bedürfnissen und Interessen die Person der Handelnden selbst in den Blick rückt: Also […] letztes Jahr kurz vor Weihnachten war ich das erste Mal für mich an meine Grenze gekommen und damit mit meinem Gewissen noch einmal anders in Berührung, weil in sehr schneller Folge drei Patienten mit einer palliativen Sedierung [Pause] verstorben sind. Da kam es zu anderen Anfragen: zur Frage, wie aktiv oder passiv war dieser Weg. Ja, aber das war sozusagen bewusst das einzige Mal, dass ich da so ins, ins, ins Anfragen meiner selbst gekommen bin. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Auch andere Seelsorgerinnen betonen die eigene persönliche Involviertheit, die der Gewissensbestimmtheit eigne: Ja, wenn es die eigene Grenze überschreitet, wenn man das eigentlich so nicht machen möchte sozusagen. Wenn man an die Grenze des eigenen Handelns kommt und denkt, das ist unverantwortlich, so geht es eigentlich nicht. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E) Das Gewissen ist irgendwie eine innere Instanzstelle, die sich meldet, wenn [Pause], wenn ich den Eindruck habe, das, was andere hier tun, oder was ich hier tue, stimmt nicht mit dem überein, was ich verantworten könnte. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Diese eigene Involviertheit äußert sich insbesondere darin, dass eine Situation direkt auf die eigene Person bezogen wird, indem etwa eine Identifikation mit einer Patientin erfolgt, oder die Situation gleichsam in den eigenen sozialen Nahbereich hineingeholt wird:

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden

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Klassischer Satz: Die Pflegekraft auf der Intensivstation sagt: „Wenn das meine Großmutter wäre, das würde ich ihr gerne ersparen.“ Oder: „Wenn ich in dieser Situation wäre, ich würde so etwas nicht wollen.“ Oder: „Wenn meine Mutter hier läge, ich würde ihr das gerne ersparen, dass sie so lange leiden muss.“ (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E)

Das Spezifische dieser „Gewissensperspektive“ lässt sich am besten in Abgrenzung zu einer medizinethischen Standardoperation verstehen: Wenn der mutmaßliche Wille einer Patientin ermittelt werden soll, bei der keine einschlägige Patientenverfügung vorliegt, dann geht es nicht um die Frage: „Was würden Sie an ihrer Stelle tun?“, sondern es geht um die Frage: „Was würde diese Patientin nach all dem, was wir über sie wissen, jetzt wollen?“ Gefordert ist eine spezifische Form von Perspektivübernahme. Es gilt, sich in die Patientin hineinzudenken; aber dabei so zu tun, als wäre ich diese Patientin, mit ihrem Leben, ihren Vorlieben und Zielen. Das ist eine sehr voraussetzungsreiche und schwierige, gleichwohl medizinethisch wie rechtlich geforderte Denkoperation.80 Dagegen sind, wie das letzte Zitat deutlich macht, die Gewissensfälle, die die Seelsorger beschreiben, durch eine andere Form von Perspektivübernahme gekennzeichnet. Es geht nicht in erster Linie um die Patientin in ihrer materialen personalen Identität, sondern um mich. Bestimmend ist meine Identität, das, was mich ausmacht. Es „sind Werte verletzt, die mir wichtig sind“ (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E). Am deutlichsten wird das in der direkten Identifikation mit der Patientin („dieses sich Identifizieren mit der Patientin: Was wäre, ich wäre an der Stelle?“, I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E). Das ist medizinethisch in der Regel aus guten Gründen nicht gefragt. In einer wertepluralen Situation darf ich gerade nicht von mir auf andere schließen. Projektionen eigener Vorstellungen vom guten Leben auf andere sollen unterbleiben; vielmehr ist die Abstraktion von eigenen Präferenzen, so gut es eben geht, gefordert. Angezielt ist eine Entscheidungsfindung in Situationen, in denen die Akteure einen anderen als den eigenen Willen (des individuellen Patienten, aber auch des Gesetzgebers, der die allgemeinen Regeln festgelegt hat) zu berücksichtigen und dementsprechend zu handeln suchen. Mit dem Begriff des Gewissens kommt hingegen die eigene Perspektive, das eigene Fürrichtighalten hinein. Die medizinethisch geforderte Abstraktion wird, so legen es die Darstellungen der Seelsorgenden nahe, gerade nicht geleistet. Gewissenskonflikte und medizinethische Fragestellungen sind daher nicht unbedingt identisch. Damit ist jedoch nicht impliziert, dass sich jemand im Gewissen nicht an die Belange anderer gewiesen sähe. Auf der ITS [Intensivstation] gibt es ganz oft Gewissen. […] Also, das spielt auch eine Rolle, dass Pflegemitarbeiter das ganz klar benennen können: „Ich habe das Gefühl, ich

80 Zum Begriff des mutmaßlichen Willens vgl. Garbe, Wille.

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Gewissensfragen in der Klinik

versorge da Fleisch, das ist kein Mensch mehr. Seit Wochen rührt der sich nicht mehr, und wir machen sozusagen das volle Programm“, […] das hat mit dem Gewissen zu tun, natürlich. Zu sagen, leiste ich hier einen Beitrag, ein Leben zu verlängern, wo ich – also die Mitarbeiterin – überhaupt nicht mehr spürt, dass es hier um Lebensrettung geht oder um Lebensqualität. Sondern es ist etwas Unwürdiges, und da hatte sie einen Gewissenskonflikt und die Mitbeteiligung daran. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Der Gewissenskonflikt besteht hier darin, dass die Pflegekraft eine Entwürdigung des Patienten an sich selbst verspürt. In dem ihr aufgetragenen Umgang mit dem Patienten ist ihre eigene moralische Integrität tangiert. Diese Beschreibung lässt sich vor dem Hintergrund der Ethik Emanuel Levinas’ verstehen: Im Schicksal des Anderen geht es um mich.81 In der Selbstbezüglichkeit des Gewissens kann mithin durchaus eine Empfänglichkeit für die Belange des Anderen liegen. Das in diesem Sinne empfängliche Gewissen fungiert als Stimme des anderen, der sich nicht mehr äußern kann, in mir. Aber anders als in den mit „Ethik“ bezeichneten Denkoperationen werden die Belange des Anderen im Gewissen nie ohne Rekurs auf mich selbst thematisch. Eine Seelsorgerin unterscheidet explizit zwischen Gewissenskonflikten und ethischen Konflikten: Also, ich würde Gewissenskonflikt etwas in mir nennen, und ein ethischer Konflikt, da braucht es immer andere Beteiligte dazu, für mich. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Weil es im Gewissenskonflikt um die eigene Identität geht, werden auch innere Konflikte sichtbar. Das Gewissen erscheint hier als forum internum, das vom forum externum institutionalisierter Ethikkommunikation unterschieden ist. Damit kommt eine zusätzliche Struktur in das mit Gewissen Bezeichnete: Gewissen ist nicht nur, wie im Recht vorausgesetzt, die eigene, feste, ungeteilte Position, die ich gegenüber anderen oder gegenüber der Organisation zur Geltung bringen muss, um mir treu zu bleiben. Unter Gewissen fällt auch das Phänomen innerer Zerrissenheit: nicht zu wissen, wie mit widerstrebenden, jedoch gleichermaßen als gültig anerkannten Anforderungen umzugehen ist. Gewissen markiert nicht nur die eigene Position in der externen Kommunikation, sondern kann auch das innere Streitgespräch bezeichnen.82 Dies verallgemeinernd können zwei Typen von Gewissensausprägungen und entsprechenden Konflikten unterschieden werden, die die Seelsorgenden benennen.

81 Vgl. dazu Manzeschke, Nächstenliebe. 82 Die Seelsorgerin Kerstin Schlegel unterscheidet hier terminologisch zwischen positioneller „Seele“ und zwiespältigem „Gewissen“: „[M]eine Seele will es eigentlich nicht, mein Gewissen tut sich aber schwer, was mache ich.“ (I Kerstin Schlegel 8. 5. 2012 T).

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden

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1. Der erste mögliche Gewissenskonflikt entzündet sich am positionellen Gewissen. Ich persönlich, in meiner Berufsidentität und/oder persönlichen Identität, kann mich mit dem nicht einverstanden erklären, was hier passiert. 2. Der zweite Gewissenskonflikt verbindet sich mit dem zwiespältigen Gewissen. Ich weiß nicht, wie ich mich zu den verschiedenen Anforderungen, die auf mich eindrängen, selber noch einmal stellen soll. Hier ist das Gewissen nicht das Fundament eigener Positionalität, sondern Austragungsort widerstrebender starker normativer Bindungen, die ich jeweils als meine eigenen verstehe. Im Folgenden werden diese beiden Typen analytisch unterschieden. c)

Gewissensfragen verschiedener Berufsgruppen

„Gewissen“ hat es damit zu tun, dass handelnde Individuen sich zu verschiedenen normativen Anforderungen ins Verhältnis setzen müssen. Dabei zeigt sich, dass (in der Sicht der Seelsorgenden) verschiedene Gruppen im Krankenhaus verschiedene paradigmatische Konflikte erleben. Insbesondere sehen die Seelsorgenden Ärztinnen und Ärzte einerseits sowie Pflegende andererseits vor jeweils spezifische Konflikte gestellt. Im folgenden Interviewausschnitt bezieht sich die Seelsorgerin auf den Fall einer Patientin mit Krebs im Endstadium, die kurz nach einer schweren Operation an einer Metastase an der Wirbelsäule verstorben war. Interviewerin: Sie haben ja schon sehr viele ethische Konflikte erlebt. Gab’s darunter welche, wo Sie im Nachhinein sagen würden oder auch schon währenddessen dachten, dass da bei Ihrem Gegenüber das Gewissen im Spiel ist? Kerstin Heine: [Sehr lange Pause] Also, am häufigsten begegnet mir das bei Mitarbeitenden. Dieses Gefühl: „Kann ich das vor mir, vor meinem Gewissen vertreten, was ich tue oder was ich lasse?“ [Pause] Bei Patienten und Angehörigen wäre mir der Begriff „Gewissen“ nicht als erster eingefallen. Ja, es sind eher die Mitarbeitenden, bei denen mir dieser Begriff einfällt […]. Interviewerin: Gibt es da eine Geschichte, die Sie noch erzählen könnten? Heine: Also dieser Tod nach der Operation an der Wirbelsäulenmetastase, das war so eine. Wo die Oberärztin auf der Palliativstation sehr deutlich gesagt hatte: „Wir haben hier schon eine große Verantwortung hier und ich, ja… bin jetzt so ein bisschen unsicher: Bin ich der gerecht geworden, dieser Verantwortung, die ich habe?“ Interviewerin: Haben Sie noch andere Szenen im Kopf ? Heine: Also im Zusammenhang mit dem letzten Ereignis, wo eben die Schwester mich ansprach: „Mensch, also muss den diese Frau jetzt auch noch dieser Untersuchung unterzogen werden?“, da war das auch so für die Schwester ein Thema: „Mensch, wir

138

Gewissensfragen in der Klinik

wissen doch, wir arbeiten hier auf der Palliativstation, und da geht es doch darum, dass wir Menschen begleiten in dieser Situation, und dass wir nicht [betont] noch alles machen, was jetzt noch möglich ist. Das ist doch nicht richtig, und da sollten wir doch anders handeln, wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen.“ Interviewerin: Können Sie sagen, woran Sie da gemerkt haben, dass bei der Frau das Gewissen sich regte? Heine: Hab ich das gemerkt? [Pause] Ich erlebe sie sonst als eine, die eher ihre Aggressionen gar nicht zeigt und an dem Punkt hab ich sie gespürt, ja. Also das war wirklich so, dass sie aufgebracht war darüber, was mit der Frau gemacht wird, und wo sie sich [betont] auch in einer Position erlebt hat, wo ihre Erfahrung und ihre Sicht [betont] auf die Dinge nicht gefragt waren. Interviewerin: Hat für Sie der Bezug auf das Gewissen eine Funktion? Also können Sie sagen, warum bestimmte Menschen das in manchen Situationen machen? Heine: [Pause] Ja, wenn Sie das in dem Zusammenhang fragen, könnte ich mir zumindest vorstellen, also, dass es auch noch mal fungiert so als eine moralische Instanz. Die gerade so einer Mitarbeiterin, die sich eher als Rädchen im Getriebe erlebt, den Mut gibt zu widersprechen. Also, die sie tatsächlich stärkt. Interviewerin: Und hat sich dann was geändert in der Situation? Heine: Nein, das war das Frustrierende für mich [betont]. Ich hab am Ende des Gesprächs noch mal gefragt: „Ja, wie wollen Sie denn jetzt weiter damit umgehen? Oder gibt es etwas, das ich aus Ihrer Sicht in diesem Zusammenhang noch tun sollte?“ Und da hat sie eben abgewunken und gesagt: „Ach nein, jetzt war die Patientin inzwischen auch schon abgeholt zur Sonographie.“ Wo sie dann zurückgefallen ist, sozusagen, in ihr Rädchendasein. Was ich schade finde. Also, da wär zum Beispiel für mich der Punkt, wo ich gerne noch in unserem Haus die Möglichkeit einführen würde, solche Dinge nachzubesprechen. (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E) 83

Hier lassen sich zwei Typen von Gewissenskonflikten unterscheiden, die die Seelsorgerin einer Ärztin und einer Pflegekraft zuordnet. 1. Die Oberärztin erfährt sich als handlungsfähig. Sie muss entscheiden, und sie hat verschiedene Normen, denen sie gerecht werden will: auf den Patienten bezogene Normen, Normen der medizinischen Kunst, vielleicht ökonomische Normen usw. Daraus entsteht für sie die Frage: Ich musste handeln, habe ich richtig gehandelt? Oder ich muss handeln, handle ich richtig, wenn ich so verfahre? 2. Die Pflegekraft steht in diesem Interview für einen anderen Typ von Gewissenskonflikt. Sie erfährt sich in der geschilderten Situation nicht als Handlungssubjekt in dem Sinne, dass sie Ziele und Mittel ihres Handels selbst bestimmen könnte. Dafür steht das „Rädchendasein“ und die Frage, die sich

83 Siehe auch Kapitel 3.1 und 3.2.

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden

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ihr stellt: Soll ich an dieser Stelle durch Widerstand zum Handlungssubjekt werden? Soll ich, die ich das Rädchen bin, mich jetzt querstellen, weil ich das falsch finde, oder lasse ich die Dinge weiterlaufen? Der zweite Konflikttyp wird auch in einem anderen Interview explizit der Profession der Pflegenden zugeordnet: Wenn man an die Grenze des eigenen Handelns kommt und denkt, das ist unverantwortlich, so geht es eigentlich nicht. Schon gar nicht, weil die Pflege ja quasi in der Rolle ist, da schuldhaft mit einbezogen zu werden. Die können ja nicht bestimmen, ob weiter therapiert wird, aber machen sich sozusagen da fast schuldig dran, wenn sie das mitmachen. Ja, das ist ja nicht nur zugucken, sondern wirklich daran beteiligt sein. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Im ersten Fall steht der Gewissensbegriff für die Reflexion über die moralische Dignität eigener Handlungsoptionen im Sinne des oben genannten zwiespältigen Gewissens. Im zweiten Fall markiert der Gewissensbegriff die Frage, ob angesichts fixierter Verhaltenserwartungen überhaupt ein Raum eigenen Handelns besteht, bzw. ob ein solcher beansprucht werden soll – ob also das positionelle Gewissen handlungsrelevant werden soll. Einmal geht es um die Abwägung von Handlungsoptionen, dann wieder um die Konstitution von Handlungsräumen.84 In beiden Fällen wird ein Freiraum für moralisches Subjektsein reklamiert: einmal der Reflexion über Handlungsbestimmtheit, einmal des Handelns selbst. Die Zuordnung von Konflikttypen zu Professionen ist natürlich nicht in dieser einlinigen Form aufrecht zu halten; auch Pflegekräfte erfahren im Kontext der ihnen zugemessenen Entscheidungsspielräume ein zwiespältiges Gewissen und den entsprechenden Konflikt der Abwägung von Handlungsoptionen, die mit starken Wertungen belegt sind; und auch Ärzte stellen sich die Frage nach der Beanspruchung eigener Handlungsräume.85 Gleichwohl dürfte die Art und Weise, wie am Ort verschiedener Professionen Gewissenskonflikte erlebt werden, in der Tat große Unterschiede aufweisen.86 Dies zumal, als die Gewissensfreiheit 84 Um die Abwägung von Handlungsoptionen geht es hier allenfalls in dem Sinne, dass ‚sich nicht querstellen‘ auch als Form des Handelns verstanden werden kann. 85 „[…] dass da eine ökonomische Seite aufs Gas tritt praktisch und er als Chirurg immer mehr Fragezeichen hat, vor allen Dingen natürlich bei den Patienten, die dann zu sich auf der ITS [Intensivstation] landen, wie sinnvoll sein operativer Eingriff war.“ (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E) 86 Dabei verorten Seelsorgende in der vorliegenden Studie das Gewissen zumeist bei anderen (vgl. F Ulrich Maier 3. 4. 2012 T; anders I Kerstin Schlegel 8. 5. 2012 T; siehe auch oben Abschnitt I. b). Ihr eigenes Gewissen benützt eine Seelsorgerin explizit nur als Hermeneutik der Gewissenskonflikte der anderen: „[…] dass da was damit in Spannung gerät von meiner Haltung im Gegenüber, zu der Person, die da eine Ansicht vertritt, die einfach erst einmal weit auseinander liegt und ich versuchen möchte, zu verstehen. Also, ich kann dann schon sehr schnell von mir absehen, aber das ist vielleicht die Grundlage, wie ich ins Gespräch dann

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Gewissensfragen in der Klinik

explizit im ärztlichen Standesrecht kodifiziert ist und daher einen festen Bezugspunkt professioneller Selbstreflexion bildet, was bei Pflegenden nicht der Fall ist. Solche Unterschiede dürften auch die Beobachtung einer Teilnehmerin auf einer im Laufe des Projektes durchgeführten Tagungen stützen, Ärzte und Pflegende sprächen über Gewissenskonflikte eher untereinander als über die Professionsgrenzen hinweg. In beiden Typen von Gewissenskonflikten geht es jedoch um einen Raum für moralisches Subjektsein. Die Ärztin muss sich als Subjekt zu den verschiedenen Normen, zwischen denen sie steht, ins Verhältnis setzen; die Pflegekraft fragt sich: Gibt es für sie und ihr Empfinden einen Raum in der Klinik, der es zulässt, dass sie als Subjekt in Erscheinung tritt und sagt, ich finde das falsch? Gewissen markiert in beiden Fällen einen Raum für individuelle Moralität im Kontext organisationeller Abläufe. Dieser Raum für das Eigene, das Subjekt- oder Personsein, hat aber wiederum starke institutionelle oder organisatorische Voraussetzungen. Innere Freiheit braucht äußere Gestalt. Der (innere) Protest der Pflegerin findet im geschilderten Beispiel keinen Abnehmer. Es gibt – mit Ausnahme der offensichtlich als organisatorisch machtlos wahrgenommenen Seelsorgerin – niemanden, demgegenüber sie ihre Einwände ausspricht, vielleicht aussprechen kann. Die institutionellen Voraussetzungen dafür, dass sie als moralisches Subjekt in Erscheinung treten kann, sind an dieser Stelle offensichtlich nicht gegeben, oder sie sind in diesem Konflikt nicht zu Geltung gekommen. d)

Professionelles und persönliches Gewissen

Wenn es im Gewissen um das Persönliche geht, so ist zu fragen, wie sich dieses Persönliche zur Professionalität verhält. Umfasst der vermöge des Gewissensbegriffs reklamierte Raum moralischen Subjektseins das Professionsethos oder nicht? Der oben angeführte Fall der Ärztin auf der Palliativstation, die sich angesichts einer kurz vor dem Lebensende durchgeführten, schweren Operation fragt, ob sie ihrer Verantwortung gerecht geworden sei (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E), steht für eine Konstellation, in der das Handlungssubjekt sich den professionsethischen Normen gegenübersieht. Bin ich (als Person) dem gerecht geworden, was ich (als Angehörige einer Profession) tun sollte? Eine andere Konstellation wird in der folgenden Sequenz aus einem Interview mit einem Seelsorger sichtbar. Dieser Seelsorger ist einer der wenigen, die von sich aus den Gewissensbegriff verwenden.

komme. Und wo ich dann entdecke, da ist eigentlich ein Gewissen, was sehr dominant einerseits ist, aber auch sehr verunsichert […].“ (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Das Gewissensverständnis der Seelsorgenden

141

[A]lso ich möchte gerne, dass die Mitarbeitenden in ihrem Gewissen nicht gebrochen werden, in ihrer Identität, in ihrem Selbstanspruch, also im Anspruch an sich selbst als Pflegende. Dass sie da ganz bleiben, und dass nicht unter der Hand – na ja, wir müssen in der Ökonomie dies Eine oder das Andere opfern –, dass sie da gesund bleiben.

Hier nimmt der Seelsorger das Professionsethos der Pflegenden und ihre Identität eng zusammen. Jemand, der in seinem Gewissen gebrochen wird, erscheint als Individuum und ineins damit als Angehöriger einer Profession in Frage gestellt. Wenig später im Interview entfaltet er dies durch eine – zu Beginn dieses Kapitels bereits einmal zitierte – Beschreibung des Gewissens: Also, für mich ist das Gewissen ein sehr sensibles, wichtiges inneres Organ, will ich mal sagen. Wenn darauf nicht genügend eingegangen wird, wenn es nicht gehört und berücksichtigt wird, und Menschen in ihrem Gewissen gebrochen werden, geht es um Zerstörung von Identität und Persönlichkeit. Und deshalb hat das eine hohe Priorität, wenn jemand an das Gewissen appelliert oder sagt: „Ich kann das mit meinem Gewissen nicht verantworten.“ Das hat eine ganz hohe Relevanz. (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E)

Der Begriff, der Individualität und Professionszugehörigkeit vermittelt, ist der Begriff der Identität. Zur Identität gehören sowohl die professionelle Identität als Pflegekraft,87 Ärztin oder Seelsorgerin, als auch die individuelle Lebensgeschichte. Diese kombinierte professionell-biographische Identität steht im Gewissenskonflikt auf dem Spiel. Zusammenfassend kann gesagt werden: In der Wahrnehmung der Seelsorgenden wird vermöge des Gewissensbegriffs ein Raum für moralisches Subjektsein reklamiert. Dieser verhält sich zum Professionsethos unterschiedlich. Im einen Fall tritt eine Spannung zwischen dem Handeln eines Subjekts und dessen Professionsethos auf, oder es bestehen sogar Spannungen innerhalb des Professionsethos – etwa zwischen dem Respekt vor der Autonomie des Patienten und der Fürsorgepflicht. In diesem Fall ist die Gewissensfrage: Wie stelle ich mich als Person zu den (ggf. divergierenden) Anforderungen des Professionsethos? Im anderen Fall entsteht eine Spannung zwischen mir einschließlich meiner Profession und dem, was etwa die Organisation von mir will. Als Pflegekraft kann ich das, was ich hier sehe, nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Hier umfasst das, was mich ausmacht, mein individuell bestimmter Raum moralischen Subjektseins, das Professionsethos mit; ihm gegenüber stehen Normen und Verhaltenserwartungen, wie sie aus den Organisationsprozessen erwachsen. Die Grenze zwischen dem, was im Gewissenskonflikt als unaufgebbar zu mir gehörig verstanden wird, und dem, was als Auslöser des Konflikts gleichsam außen verortet wird, ist offenbar verschieblich. Das im Gewissen reklamierte

87 Zum Berufsethos der Pflege vgl. etwa Monteverde, Pflegeethik.

142

Gewissensfragen in der Klinik

‚Höchstpersönliche‘ ist kein abstraktes Subjekt, sondern material bestimmt:88 durch lebensgeschichtliche Erfahrungen, durch die eigene Professionalität, eventuell durch die eigene Organisationszugehörigkeit. Welche Aspekte dazugerechnet werden – ich als Mensch, ich als Pflegekraft, ich als Angehörige des Krankenhauses etc. –, hängt von der Situation des Konfliktes ab.

e)

Gewissen, Ökonomie und Recht

Das Thema Gewissen und Ökonomie wird in den Interviews regelmäßig angesprochen.89 Vor allem bei Fragen der Therapie am Lebensende ist Ökonomie der Topos für das Andere des Gewissens. „Ökonomie“ steht paradigmatisch für die professions- und persönlichkeitswidrige Regelrationalität, gegen die ein personaler Raum beansprucht werden muss.90 Mehrere Interviewte argwöhnen: Es könnte sein, dass das Gewissen unter ökonomischem Druck schwindet – dass also, so formuliert es eine Seelsorgerin, das, was sich heute als Gewissenskonflikt darstellt, irgendwann zu einem tragischen Konflikt wird. In diesem Falle wäre der Raum für eigene Entscheidungen, und damit der Raum, überhaupt einen Konflikt zu haben, gar nicht mehr vorhanden. Es bliebe nur noch die Erfahrung des „Rädchendaseins“, wider die eigene Überzeugung mitwirken zu müssen.91 Hier zeigt sich eine Grundfrage von seelsorglichen Strategien im Umgang mit ethischen Fragen wie etwa der Entschleunigung oder der Kontexterweiterung:92 Es handelt sich oftmals um ressourcenaufwändige, also teure Strategien, die im Kontext ökonomischen Umgangs mit knappen Gütern unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck stehen. Anders verhält es sich, wenn Gewissen und Recht einander gegenüberstehen. In einem Fall, der im Interview entweder nicht korrekt wiedergegeben wurde oder tatsächlich rechtlich irregulär verlaufen ist, geht es um eine schwerstkranke Patientin auf der Intensivstation. Eine Weiterbehandlung ist nach ärztlicher Aussage nicht mehr indiziert, aber der Betreuer verlangt Maximaltherapie. Das Ganze geht vor das Betreuungsgericht. Dieses, so die Schilderung des Seelsorgers, entscheidet für den Betreuer. Es verpflichtet die Ärztin, die Maximaltherapie fortzuführen. Die Ärztin sieht sich damit in der Situation, ihrem Gewissen zu88 Dazu vgl. Zarnow, Identität. 89 I Carla Drews 4. 11. 2011 E; I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E; I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E; I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E. 90 „Mir ist es ein Anliegen, dass die Mitarbeitenden in diesen engeren, verschärften Rahmenbedingungen nicht mit unnötigen, zusätzlichen Belastungen sich rumschlagen müssen.“ (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E) Siehe auch I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E (zitiert oben, I. b). 91 I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E; vgl. I Carla Drews 4. 11. 2011 E. 92 Siehe dazu Kapitel 3.1.

Seelsorglicher Umgang mit Gewissensfragen

143

widerhandeln zu müssen (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E).93 Solche Konflikte – Gewissen vs. Recht – sind aber anderer Natur als die vorgenannten Konflikte, in denen das Gewissen sich ökonomischen Forderungen ausgesetzt sieht. Denn zum einen gibt es andere Lösungsmöglichkeiten dafür: Im konkreten Fall hat das Krankenhaus Gespräche mit Betreuungsrichtern und anderen Juristen anberaumt über die Frage, wie in Zukunft mit solchen Fragen umzugehen sei. Rechtliche Konflikte sind, anders als ökonomisch grundierte, oftmals durch gute Kommunikation im Vorfeld zu verhindern.94 Zudem ist standes- wie strafrechtlich festgelegt, dass kein Arzt und keine Pflegekraft verpflichtet werden kann, an einem Schwangerschaftsabbruch teilzunehmen, auch wenn die Schwangere ein Recht auf diesen Abbruch hat. Ebenso können bei Therapien am Lebensende Ärzte nicht gezwungen werden, etwa das Beatmungsgerät abzuschalten, auch wenn die Patientin ein Recht darauf hat, dass es abgeschaltet wird. In einem solchen Fall müssen Patienten verlegt werden bzw. andere Ärzte eintreten. Das Recht räumt Menschen – zumeist gerade unter dem Rechtsbegriff des Gewissens – einen Raum des moralischen Gebundenseins ihm selbst gegenüber ein. Das Recht kennt, anders als die Ökonomie, die Gewissensfreiheit.95

II.

Seelsorglicher Umgang mit Gewissensfragen

Die interviewten Seelsorgerinnen und Seelsorger beschreiben ihren Umgang mit den Gewissenskonflikten anderer in vielfältiger Weise. Dies wird im Folgenden gegliedert nach den beiden Typen der Gewissenswahrnehmung, dem positionellen und dem zwiespältigen Gewissen, dargestellt.

a)

Umgang mit dem positionellen Gewissen Interviewerin: Sie hatten ja von der Pflegekraft gesprochen, die mit Ihnen das Gespräch suchte, wenn ich es richtig verstanden habe, weil die Pflegekraft selber der Meinung war, dass keine Therapie mehr sinnvoll ist. Von der Situation sprachen Sie vorhin und da sagten Sie, da spürten Sie, dass das Gewissen mitschwingt. Was haben Sie da gemacht? Wie sind Sie da ins Gespräch gegangen? […] Drews: Also, ich glaube, dass ich auch da… Es ist nicht so schön, das anzugucken, weil ich merke, dass ich eigentlich in dieser Situation immer ziemlich, letztlich hilflos bin.

93 Der Fall ist deswegen irregulär, da beim Fehlen einer medizinischen Indikation das Betreuungsgericht nicht befugt ist, eine Weiterbehandlung zu erzwingen. 94 So äußerte ein Chefarzt auf einer der Veranstaltungen des Forschungsprojekts, bei jedem Rechtskonflikt im Kontext der Klinik handele es sich um das Resultat einer fehlgeschlagenen Kommunikation. 95 Vgl. Filmer, Gewissen, 11–43.

144

Gewissensfragen in der Klinik

Also, ich glaube, dass schon in diesen Situationen für die Beteiligten die Chance, einen Raum zu haben, über die Situation zu reden, eine Hilfe ist. Von daher: Das ist das, was ich auch tatsächlich mache. Genau so eine Gewissens-Vergewisserung, auch, wenn ich da nicht inhaltlich reingehe, aber das verstehen zu können, dass da ein Gewissensproblem da ist, so würde ich es vielleicht ausdrücken, das ist glaube ich auch eine Unterstützung. Aber ich bin an keiner Stelle wirklich in den Prozess rein, im Sinne einer Veränderung des Prozesses. Interviewerin: Können Sie sagen, warum nicht? Drews: [lange Pause] Weil ich eine große Scheu vor Einmischung der Seelsorge in die Prozesse habe: eine Scheu, auf einer nicht strukturierten Ebene [zu intervenieren]. Also meine Hoffnung mit der Ethikarbeit und der ethischen Fallbesprechung ist oder war oder ist ja die, dass das dort auf einer strukturierten Ebene gelingen kann. Und gleichzeitig erlebe ich in kleineren Situationen, dass immer noch die Gefahr da ist, dass Mitarbeitende denken, Seelsorge will kontrollieren. Also „kleinere Situationen“ meine ich jetzt so: Wenn eine Patientin sich über irgendetwas beklagt, und ich noch einmal eine Rückfrage stelle, dann erlebe ich eine große Sensibilität oder zumindest eine Empfindlichkeit, dass es so wahrgenommen werden kann. Und da merke ich immer noch… ja, da erlebe ich Seelsorge ziemlich am Rande. [Pause] Ich möchte auf jeden Fall nicht, dass Mitarbeitende den Eindruck gewinnen, dass Seelsorge etwas beurteilt. Ich bin nicht Patientenfürsprecherin, ich bin an der Seite der Mitarbeitenden genauso wie der Patienten. Und ich glaube, dass daher meine Vorsicht kommt. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Wie diese Seelsorgerin artikulieren auch andere, dass sie sich dort, wo es keine Ethikkomitees gibt, als hilflos empfinden, wenn sie mit dem positionellen Gewissen anderer konfrontiert sind.96 In seelsorgerlich-professioneller Weise eröffnen sie für ihre Gesprächspartner einen Raum, in dem der Gewissenskonflikt artikuliert werden kann. Sie versuchen, ihr Gegenüber zu stärken („GewissensVergewisserung“). Doch gleichzeitig spüren sie die Aufforderung, sich über den geschützten Raum des Seelsorgegesprächs hinaus mit der Position (hier) der Pflegekraft zu solidarisieren und ggf. sogar in Klinikkontext für die Position mit einzustehen. Gegenüber dieser Einbeziehung in den Gewissenskonflikt sind viele Seelsorgende zurückhaltend. Das ist auch dann der Fall, wenn es um Dinge geht, von denen ein Seelsorger selbst sagt, das müsste man öffentlich machen.97 Eine andere Seelsorgerin, die in der Klinik gut eingebunden ist, optiert in diesem Falle für die hausinterne Skandalisierung. Sie spricht mit Ärzten und Vorständen und macht das zu einem Thema im Krankenhaus.98 Die Möglichkeiten des Umgangs mit dem positionellen Gewissen sind mithin abhängig von der Einbindung der Seelsorgenden ins Krankenhaus.99 Einige Seelsorgende 96 97 98 99

Vgl. I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E. Vgl. I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E. Vgl. I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E. Siehe dazu Kapitel 2.2, II.

Seelsorglicher Umgang mit Gewissensfragen

145

verstehen sich deutlich als Teil des medizinischen Teams. Das erweist sich als ambivalent für den Umgang mit Gewissenskonflikten, weil diese Seelsorgenden auf der einen Seite unter Umständen bessere Möglichkeiten haben, auch Kommunikationsprozesse anzuregen, aber auf der anderen Seite in Loyalitätskonflikte kommen, weil sie die guten Beziehungen zum Rest des Teams nicht aufs Spiel setzen wollen. Auf der anderen Seite gibt es auch Seelsorgende, die sich als Außenstehende in der Klinik beschreiben. Da sie sich als weithin isoliert wahrnehmen, sehen sie entsprechend weniger Möglichkeiten, mit Gewissenskonflikten umzugehen.

b)

Umgang mit dem zwiespältigen Gewissen

Auch in der Konfrontation mit dem zwiespältigen Gewissen anderer reagieren die befragten Seelsorgenden unterschiedlich; zwischen sehr direktiven und sehr zurückhaltenden Optionen zeigt sich ein breites Spektrum von Aussagen in den Interviews. Eine Seelsorgerin gibt eindeutige Ratschläge: Aus der Gemeindepraxis kenn ich, dass – also ist mir das nicht nur einmal passiert, aber an einen Fall erinnere ich mich sehr lebendig – dass eine 35-jährige Gemeindefrau kam und sagte: „Du, mein Frauenarzt hat gesagt, da ist irgendein Test. Es könnte sein, dass das Kind behindert ist.“ – Schwangerschaft, 35. Also, diese Untersuchungen, die da jetzt so alle gemacht werden. – „Und jetzt sagt der, ich soll zur Feindiagnostik gehen und möglichst eine Fruchtwasseruntersuchung machen.“ Und dann hab ich ihr das aber mal offen gelegt, also was das alles für Konsequenzen hat, wenn sie diesen Weg jetzt geht. Dass bei Frauen unter Vierzig die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind durch die Untersuchung geschädigt wird, größer ist, als dass eine Behinderung festgestellt wird. Und hab sie gefragt: „Was würdest du denn machen, es würde heißen, es ist ein Kind mit Down-Syndrom? Würdest du das Kind kriegen?“ Sagt sie: „Ja natürlich. Ist doch mein Kind.“ Dann hab ich gesagt: „Dann brauchst du auch all diese Untersuchungen nicht machen.“ Und dem Lieben Gott sei’s getrommelt und gepfiffen.. der Junge macht irgendwann demnächst Abitur. […] Ich finde diese ganze Geschichte mit den eugenischen Spätabtreibungen eine ethisch ungeheuer problematische Geschichte, und da hat meine ethische Position dieser Frau geholfen. (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

Eine andere Seelsorgerin ist deutlich vorsichtiger mit positioneller Intervention. Der Kontext sind Schwangerschaftsabbrüche in der Klinik: Ich würde, wenn da [im Falle eines geplanten Schwangerschaftsabbruchs] jemand ein Gespräch haben wollte, dann würde ich da auch hingehen natürlich und würde mir das anhören. Und ich würde – also ich bin da eigentlich ziemlich offen – mir das genau anhören. Ich würde das ganz situativ entscheiden. Und wenn das etwas wäre, wo ich persönlich ganz, ganz große Probleme hätte, würde ich das ganz vorsichtig auch sagen. Aber ich würde nie… – aber das ist eine Persönlichkeitsfrage, glaube ich, oder auch eine theologische, wie man Theologie versteht (also für mich ist der Aspekt von Liebe, Güte und Barmherzigkeit und Vergebung immer noch der größte) – und würde irgendwie…,

146

Gewissensfragen in der Klinik

suche da immer noch Wege, was auch immer Menschen so veranstalten. Also, es ist immer ein Weg, der nach vorne offen ist. Und deswegen bin ich nicht befugt, wenn ich jetzt persönlich vielleicht auch irgendwas moralisch falsch finde, dann heißt es ja nicht, dass es das auch ist. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

Die Zurückhaltung der Seelsorgerin artikuliert sich in diesem Interviewabschnitt auf sprachlicher Ebene auch darin, dass sie nicht einmal ausspricht, wozu sie sich nicht berufen fühlt („Aber ich würde nie…“). Eine dritte Seelsorgerin bringt ihre programmatische Nichtdirektivität auf den Punkt: Ich bin zum Glück nicht moralisch. (I Britta Schultz 17. 10. 2012 M)

Im Kontext der Interviews wird deutlich, dass sich das Maß an Interventionsfreude oder Zurückhaltung der Seelsorgenden nicht nur vor dem Hintergrund individueller Persönlichkeitsmerkmale, etwa des Temperaments, verstehen lässt. Hier sind vielmehr Grundlagen des eigenen Berufsverständnisses und der theologischen Überzeugung berührt.100 Der Umgang mit dem zwiespältigen Gewissen lässt sich jedoch noch auf einer anderen Ebene untersuchen. Es gibt im Kontext des Krankenhauses Praktiken, die innere Zwiespälte zulassen, und andere, die auf Vereindeutigung drängen. Eine Praxis, in der ein innerer Zwiespalt eigentlich nicht gefragt ist, ist die Ermittlung des Patientenwillens. Es ist die Funktion des Willens, in einer Situation der Uneindeutigkeit und der verschiedenen Handlungsoptionen Eindeutigkeit herzustellen. Eine Seelsorgerin berichtet von einer schwerstkranken Patientin, die sich hinsichtlich ihrer Weiterbehandlung nicht klar äußert. Sie reagiert nicht auf die entsprechenden Fragen der Ärzte. Eine Ärztin zieht sie hinzu, bittet sie, mit der Patientin zu sprechen. Die Seelsorgerin entspricht dieser Bitte und reflektiert ihr Gespräch mit der Patientin im Interview so: Wenn ich jetzt noch einmal kritisch raufgucke, würde ich sagen, ich war da, was ich sonst in der Seelsorge nicht bin, schon ein bisschen zielorientiert. Stimmt, das wird mir gerade so bewusst. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Erst, als sie im Interview berichtet, realisiert sie, dass sie nicht mehr ein allgemeines Gesprächsangebot gemacht hat, sondern den Willen der Patientin gezielt ermitteln wollte. Sie hat sich damit an der Schließung eines möglichen inneren Zwiespaltes zugunsten eines eindeutigen Willens – eine Schließung, die medizinethisch notwendig ist – beteiligt und wertet das im Nachhinein kritisch.101 Als Beispiel einer für Zwiespälte offenen Praxis kann der eindrückliche Bericht einer Seelsorgerin über eine demenzkranken Patientin dienen, bei der ent-

100 Siehe dazu Kapitel 4.1. 101 Siehe dazu ausführlich Kapitel 3.5, II. d.

Seelsorglicher Umgang mit Gewissensfragen

147

schieden werden soll, ob sie künstlich ernährt wird oder nicht. Ihr Sohn ist ihr Betreuer und gleichsam ihr Deuteengel: Er steht in engem Kontakt mit der Mutter und kommuniziert deren Belange dem medizinischen Personal. Doch in der Frage nach der künstlichen Ernährung scheitert der Sohn. Er weiß die Signale seiner Mutter nicht zu deuten und wendet sich an die Seelsorgerin. Sie ist in dieser Situation die Einzige, die es schafft, mit ihm zu erarbeiten: Für ihn ist es unklar, das heißt, für seine Mutter ist es auch unklar. Sein innerer Zwiespalt entspricht dem seiner Mutter; der von ihm empfundene Zwiespalt ist also gewissermaßen sachgemäß. Ein eindeutiger mutmaßlicher Wille lässt sich nicht ermitteln, oder besser: durch die Praxis der Willensermittlung erzeugen. Damit ändert sich die Situation, auch wenn sie nicht einfacher wird.102 Hier ist es gerade die seelsorgerliche Intervention, die den inneren Zwiespalt öffnet und nicht schließt. Insgesamt lässt sich ein breites Spektrum an Umgangsweisen von Seelsorgenden mit den Gewissenskonflikten anderer feststellen. Es reicht auf inhaltlicher Ebene von der eindeutigen eigenen Positionierung bis hin zur starken Urteilszurückhaltung; auf formeller Ebene von Öffnung eines Raumes innerer Zwiespältigkeit bis hin zur Schließung eines solchen Raumes; und auf praktischer Ebene von der eigenen Parteinahme im Kontext der Organisation bis zur Nichteinmischung. Wenn es bei „Gewissen“ um die Behauptung eines Raumes moralischen Subjektseins geht, dann sind die mit Gewissenskonflikten konfrontierten Seelsorgerinnen und Seelsorger gefordert, für sich zu entscheiden, inwieweit sie wiederum ihr eigenes Subjektsein in dieser Situation kenntlich machen sollen: als moralisches Individuum oder auch als Teil eines Teams bzw. einer Organisation. c)

Seelsorge als „Bezeugungsinstanz“

Im Rollenspektrum des seelsorgerlichen Umgangs mit Gewissensfragen findet sich eine weitere, von den Seelsorgenden teils als positiv, teils als negativ gewertete Option: Seelsorge als Rechtfertigungs- oder Bezeugungsinstanz. Eindrücklich ist hier wiederum ein konkreter Fall: Ein Zwillingspaar wird geboren. Der eine Zwilling ist gesund, der andere kann nur mit intensivmedizinischen Maßnahmen am Leben erhalten werden. Im Konsens zwischen Eltern und medizinischem Team fällt die Entscheidung, den zweiten Zwilling sterben zu lassen. Die Seelsorgerin tauft beide Zwillinge, nachdem die Entscheidung gefallen ist. Auch der betreuende Arzt nimmt an der Taufe teil. Am nächsten Tag ist der verabredete Zeitpunkt, an dem die Geräte abgeschaltet werden. Auf Bitten der Eltern ist auch die Seelsorgerin anwesend. Nun geschieht etwas Bemerkenswer102 Vgl. I Carla Drews 4. 11. 2011 E. Siehe auch Kapitel 3.1 und 3.5.

148

Gewissensfragen in der Klinik

tes. Der Arzt betritt den Raum und wendet sich zuerst an die Seelsorgerin. Ihr gegenüber wiederholt er noch einmal den medizinischen Befund, die Aussichtlosigkeit der Lage für den zweiten Zwilling und die getroffene Entscheidung, nun die Geräte abzuschalten. Die Seelsorgerin bestätigt ihm, dass diese Entscheidung gemeinsam getroffen wurde. Erst daraufhin wendet er sich an die Eltern und beginnt anschließend, die Geräte abzunehmen. Dazu die Seelsorgerin: Also im Nachhinein habe ich verstanden, dass ich da so etwas wie eine Bezeugungsinstanz war, und zwar eben nicht als Privatperson, sondern in meiner Rolle als Klinikseelsorge. […] Und ich so das Gefühl habe, wir haben uns dazu entschlossen, aber es braucht, bevor es getan wird, noch einmal einen Punkt, das genau festzumachen, zu markieren und zu bestätigen: Es geschieht nicht irgendwie […]. (I Ruth Lange 8. 5. 2012 T).

Die Seelsorgerin sieht sich an dieser Stelle in die Lage gebracht, die Instanz zu verkörpern, vor der sich der Arzt verantwortlich weiß. In ihrer professionellen Rolle als Seelsorgerin steht sie für das „vor“ der Verantwortung, für eine größere Öffentlichkeit, wenn nicht sogar für den Richter selbst.103 Man könnte hier von einer theomorphen Funktion der Seelsorge sprechen. Die sozialen Erwartungen an Seelsorgende sind offen für verschiedene Konzepte der Gerichtsinstanz zwischen demokratischer Öffentlichkeit und göttlichem Richter. Eine andere Seelsorgerin berichtet gleichsam die Gegengeschichte hierzu. Sie wird nachts in die Klinik gerufen. Ein Kind mit Trisomie 18 ist tot geboren worden, und sie glaubt, dass es eine Spätabtreibung gewesen sei. Auf Wunsch der Eltern soll sie das tote Kind segnen. Sie hat an der Stelle den Eindruck, sie solle absegnen, was passiert ist, ohne genau zu wissen, was sich eigentlich abgespielt hat.104 Auch hier ist die Seelsorgerin, mindestens ihrer eigenen Wahrnehmung nach, eine Bezeugungsinstanz, wenn auch in einer von ihr selbst als negativ empfundenen Art und Weise. Seelsorger und Seelsorgerinnen können mithin in diesen Gewissenskonflikten in die heikle Rolle kommen, gleichsam eine Gerichtsinstanz zu verkörpern. Daher rührt wohl auch ihre große Zurückhaltung, in Klinikprozessen zu intervenieren. Es ist auffällig, dass die beiden genannten Beispiele im Kontext ritueller Begleitung stehen. Im Ritus kann die Seelsorgerin symbolisch stehen für die Instanz, vor der man sich verantworten muss. Aber den Seelsorgenden ist bewusst, dass sie keinesfalls über diese rituell-symbolische Rolle hinaus im Klinikalltag zur ‚Gerichtsinstanz‘ werden dürfen. Allgemeiner kann man sagen: Ein Gewissenskonflikt richtet, wie Kant luzide analysiert hat,105 einen inneren Zwiespalt auf zwischen mir als Richter bzw. 103 Vgl. dazu Gestrich, Fortbildung, sowie die Kapitel 4.1 und 4.2 in diesem Band. 104 Vgl. F Annette Pfeifer 2. 3. 2012 T. Zum Problem des „Absegnens“ siehe auch Kapitel 3.7. 105 Vgl. Kant, Metaphysik, 373–491, § 13, A 98ff.

Die religiöse Dimension des Gewissens

149

Ankläger und mir als Angeklagtem. Dieser innere Zwiespalt heischt in der Seelsorgebeziehung die Identifikation des Seelsorgers mit einer der beiden inneren Instanzen; beides hat jedoch erhebliche Gefahren. In jedem Fall müssen Seelsorgende eine zugeschriebene Rolle aktiv übernehmen oder sich aktiv verweigern und benötigen hierfür entsprechende Fertigkeiten der Selbsterklärung.

III.

Die religiöse Dimension des Gewissens

a)

Religiöse Symbolisierungsleistungen

Religion erbringt im Kontext von Gewissenskonflikten eine Reihe von Symbolisierungsleistungen. Von diesen profitiert die Seelsorge, insofern sie Religion am Ort der Klinik ist. Drei dieser Symbolisierungsleistungen sind im Folgenden aufgeführt. (1.) Symbolisiert wird zum einen die Objektivität der Verpflichtung, mit der ich mich im Gewissen behaftet erfahre. Es ist nicht in mein Belieben gestellt, welche Normen mich verpflichten – dafür steht die Auszeichnung einer Norm als „Gebot Gottes“, Ordnung der „Schöpfung“, „christliches Menschenbild“ oder ähnliches. Diese Deutung nehmen die Seelsorgenden in der vorliegenden Studie in der Regel nicht selbst vor;106 zumeist nehmen sie sie als Selbstdeutung ihrer Gesprächspartner wahr und verhalten sich dazu. Dabei wird die religiöse Symbolisierung entweder als Ausdruck persönlicher Autonomie verstanden oder umgekehrt als religiöse Heteronomie kritisiert (dazu siehe unten).107 Eine Frau hatte im Rahmen einer Zwillingsschwangerschaft nach IVF eine Frühgeburt. Die Kinder kamen auf die neonatologische Intensivstation. Die Frau meinte, sie sei jetzt an dem Punkt zu sagen: „Was habe ich mit der IVF meinen Kindern nur zugemutet? Ich habe Schuld daran, weil ich eigene Kinder haben wollte. Habe ich in die Schöpfung eingegriffen? (F Barbara Remmert 27. 3. 2012 K)

(2.) Religiös kann auch der innere Richter symbolisiert werden, das Gegenüber, dem ich mich verpflichtet fühle bzw. vor dem ich mich verantworten muss – dafür steht die Vorstellung des richtenden Gottes.108 Diese Gerichtsinstanz kann wiederum veräußerlicht und auf die Seelsorge übertragen werden (s. o. zur Bezeugungsinstanz). Diese religiöse Symbolisierungsleistung spielt für den Umgang mit Gewissenskonflikten im Nachhinein („nachlaufendes Gewissen“109 als Bezeichnung für die Aufgabe, mit dem Täter meiner Taten weiterleben zu müssen) 106 107 108 109

Vgl. aber I Kerstin Schlegel 8. 5. 2012 T (siehe Kapitel 4.1, III. b). Vgl. I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E; I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E. Vgl. Kant, Metaphysik, 373–491, § 13, A 98ff. Vgl. Slenczka, Phänomenologie, 241.

150

Gewissensfragen in der Klinik

eine große Rolle. Ein religiöser Umgang mit Schuld in der Seelsorge hat den großen Vorteil, dass Gott kann, was ich nicht selber kann: mir vergeben. Eine katholische Kinderärztin sei auf Frau Remmert zugekommen und suchte angesichts eines anstehenden Schwangerschaftsabbruchs das Gespräch. „Was brauchen Sie von mir als Seelsorgerin?“, habe sie die Ärztin gefragt. Die antwortete: „Absolution. Aber die können sie mir nicht geben.“ Frau Remmert deutete dies darauf, dass sie kein Priester sei und in den Augen der Kinderärztin deshalb keine Absolution erteilen könne. (F Barbara Remmert 27. 3. 2012 K)

(3.) Schließlich und vor allem kann der Raum für moralisches Subjektsein selbst symbolisiert werden, der im Gewissen behauptet wird. Das geschieht etwa im Falle von Taufen in der Klinik. Taufe ist das Personalisierungsritual der Kirche überhaupt.110 Nirgendwo anders wird so eindeutig symbolisiert, dass dieser Mensch eine eigene Person ist und als solche buchstäblich Raum beansprucht. Auch das Seelsorgegespräch markiert symbolisch einen Raum für innere Zwiespälte, der nicht funktionalisiert und nicht operationalisiert ist. Insgesamt kann die religiöse Berufung auf das Gewissen verstanden werden als Kultur des Selbstumgangs im Horizont starker Verpflichtungen und der empirischen Allgemeinheit des Scheiterns an solchen Verpflichtungen. Die genannten Symbolisierungen sind keineswegs unproblematisch; der Weg zur religiösen Neurose ist in Fragen des religiösen Schuldumgangs nicht weit.111 Gleichwohl erlauben sie es, für Schulderfahrungen Sprache zu finden und Handlungsfähigkeit in Situationen starker Verpflichtungen zurückzugewinnen. b)

Das Gewissen als Ort innerer Heteronomie

Dieses in der Berufung auf das Gewissen reklamierte unaufgebbare Personzentrum kann sich, gerade weil es material bestimmt ist, als etwas Fremdes darstellen. Im Gewissen tritt das Subjekt sich selbst gegenüber. Die Selbstbindung im Gewissen kann als eine Fremdbindung erscheinen. Da ist irgendwie so eine höhere Instanz in ihnen, die ihnen [eine bestimmte Handlung] verbietet oder erlaubt. Sonst würden sie ja sagen: Wenn es Menschen wären, dann wird das ja gesagt; also, „meine Mutter sagt immer“; [ebenso,] wenn es Institutionen sind oder irgendwas, ich glaube, dass das eher diese höhere Instanz in ihnen selber ist. Und das ist glaube ich etwas, was man als Gewissen bezeichnen kann. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

110 Siehe Kapitel 3.7. 111 Vgl. Moos, Vergebung, 96.

Die religiöse Dimension des Gewissens

151

Während hier die höhere Instanz noch im Menschen selbst verortet und von anderen einflüsternden Stimmen abgegrenzt wird (Autonomiemodell),112 so ist das Gewissen für eine andere Seelsorgerin gerade der Ort fremden Einflusses: Weil natürlich häufig das Gewissen auch gespeist wird durch sehr markante Sätze des Umfeldes: […] „Du kannst doch Deine Mutter nicht verhungern lassen.“ Also, diese Gewissensfragen, die damit einhergehen. Oder wenn jemand, wie dieser junge Mann, sagt, sein christlicher Glaube und damit sein Gewissen kann es nicht zulassen, dass wir nicht alles Menschenmögliche machen, damit die Großmutter wieder gesund wird. […] Und wo ich dann entdecke: Da ist eigentlich ein Gewissen, was einerseits sehr dominant ist, aber auch sehr verunsichert, z. B. durch Aussagen, die hier getroffen werden. […] Also, wenn jemand in den vielen Regenbogenblättchen gelesen hat – und wir das als allgemeines Volksgut, als unser Gewissen, haben –, dass ein Mensch mit drei Tagen ohne Wasser stirbt […]. Und das verinnerlicht hat, was wir ja in der Regel haben. Und dann kommt hier die Bitte des Arztes, darüber nachzudenken, weil es medizinisch nicht mehr indiziert ist, sowohl Nahrung als auch Flüssigkeit abzustellen, wegzunehmen. Dann kommt dieses Gewissen zum Vorschein: Ich darf doch… Sie darf nicht verhungern und sie darf nicht verdursten. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

In Spannung zum Verständnis des Gewissens als eines Personzentrums steht hier die Auffassung des Gewissens als eines Ortes innerer Heteronomie. Dies schließt an die reformatorische Wahrnehmung vom Terror des Gewissens wie auch an die Tradition der Gewissenskritik etwa bei Nietzsche an. Das Gewissen steht in der Gefahr, einen theomorphen Charakter zu bekommen. Diese Hermeneutik des Gewissens durch die Seelsorgerin ist insofern aufschlussreich, als sie das normanwendende Subjekt unterscheidet von den es verpflichtenden Normbeständen; in der historischen Nomenklatur der Gewissensreflexion unterscheidet sie zwischen conscientia und syntheresis.113 Ist diese Unterscheidung vollzogen, so sind die Normen durch Berufung auf das – im genannten Beispielfall sogar als „christlich“ qualifizierte – Gewissen nicht als sakrosankt gesetzt, sondern durchaus anfragbar und diskutabel.114 Einem Verständnis von Gewissen als ‚Diskursvermeidungsmarker‘ ist somit gewehrt115 – unter Umständen unter Inkaufnahme einer Sicht, die die Gewissensbindung nicht mehr als Selbstbindung verstehen und damit den identitätsbedrohenden Charakter des Gewissenskonfliktes nicht mehr ernst nehmen kann.

112 Vgl. Kant, Metaphysik, 373–491, § 13, A 98ff. 113 Vgl. Schaede, Gewissensproduktionstheorien, 154. 114 In historischer Terminologie ist hier die Frage nach dem irrenden Gewissen gestellt. Vgl. a. a. O., 153. 115 So, als liefere es „Gründe […], sich diesem ethischen Prozess gar nicht aussetzen zu können“ (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E). Dazu vgl. Stössel, Freiheit, 209f.

152 IV.

Gewissensfragen in der Klinik

Fazit: Der Gewissensbegriff markiert einen Raum für moralisches Subjektsein

Gewissen steht in den Interviews für Situationen, in denen ein Raum für moralisches Subjektsein reklamiert wird – in den genannten Ausprägungen des positionellen Gewissens (ich kann hier nicht mitmachen) und des zwiespältigen Gewissens (ich stehe im Widerstreit mit mir). Dieser Raum für moralisches Subjektsein ist nicht der eines formalen Ichs, eines Menschenwürdeträgers und Rechtssubjekts, sondern es ist der eines bestimmten Individuums mit materieller Identität, konkreten Lebenserfahrungen, Professionalität, ggf. seinem Glauben. Im Gewissen steht dieses Individuelle in den meisten von den Seelsorgenden benannten Fällen einer allgemeinen Anforderung (den Regeln einer Organisation, dem Ethos einer Profession oder anderen generalisierten Verhaltenserwartungen) gegenüber. In dieser Situation erweist sich die Frage als entscheidend, inwieweit das, wodurch sich das Individuum verpflichtet sieht, allgemein kommunizierbar ist. Die individuelle Gewissensüberzeugung ist potenziell nicht in dem Maße überzeugend begründbar, wie sie die Einzelne oder den Einzelnen bindet. Die Berufung auf das Gewissen kann in diesem Fall einen Kommunikationsabbruch nach sich ziehen. Mindestens gibt es eine Spannung zwischen Gewissen und Kommunikation. In jedem Fall muss der Raum individueller Moralität, der vermöge des Rekurses auf Gewissen offengehalten werden soll, legitimiert werden. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen. 1. Diese Legitimität wird einerseits gestiftet von Ethikprozessen, in denen ein bestimmter Raum für moralisches Subjektsein reserviert, aber gleichzeitig auf medizinethische Fragen im zunehmend engen Sinne begrenzt ist. 2. Für darüber hinausgehenden Legitimationsbedarf tritt in jüngerer Zeit ein anderer Begriff zunehmend an die Stelle des Ethikbegriffs. In vielen Unternehmen ist es legitim zu sagen, es passe nicht zur Kultur des Hauses, so zu handeln. Auch so kann ein bestimmter Raum für moralisches Subjektsein (und ein entsprechender Kommunikationsbedarf) reklamiert werden.116 3. Es können weiterhin religiöse Semantiken sein, die den Raum für moralisches Subjektsein legitimieren. Im christlichen Krankenhaus kann man sagen, etwas sei aus christlicher Sicht nicht zu verantworten. Religion kann helfen, einen Raum für moralisches Subjektsein offen zu halten. 4. Zum Schluss aber scheint der letzte Legitimationsbegriff eben der des Gewissens selber zu sein. Wer sich auf sein Gewissen beruft, reklamiert einen Raum moralischer Subjektivität, der jedenfalls nicht leichthin verweigert werden kann. Deswegen gilt es, an diesem Begriff festzuhalten, auch wenn der 116 Siehe dazu auch Kapitel 3.2, V.

Fazit: Der Gewissensbegriff

153

Verantwortungsbegriff ihn weithin ersetzt hat. Hier hat der Gewissensbegriff einen semantischen und pragmatischen Mehrwert, den man nicht leichthin aufgeben sollte. Insgesamt lässt sich sagen, dass das Gewissen im Kontext des Krankenhauses als Reklamation eines Freiraumes individueller Moralität ebenso notwendig wie ‚gefährlich‘ ist. Das Gewissen kann zur „Trumpfkarte“ werden, um sich über mühsam ausgehandelte allgemeine Regeln im Umgang mit moralischen Problemen hinweg zu setzen; entsprechend wertet die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert das Gewissen als einen zu überwindenden individualethischen Restbestand in einer sich zunehmend professionalisieren Medizinethik.117 Andererseits ist die Organisation auf den individuellen, ggf. die eigene Stellung riskierenden und die zugemessene Rolle überschreitenden Einspruch angewiesen. Auch eine inhaltlich und institutionell professionalisierte Medizinethik wird auf die moralische Sensibilität des Einzelnen, auf die Binnenverankerung des Moralischen, nicht verzichten können. Aus der Sicht der Organisation gilt es also, das Gewissen gleichzeitig zu fördern und es einzuhegen.118 In dieser spannungsvollen Lage zwischen Förderung und Einhegung des Gewissens, zwischen Organisationsregeln und individueller Gewissensbestimmtheit, auch zwischen Stärkung und Kritik des Gewissens sehen sich die Seelsorgenden wiederum in ihrem eigenen moralischen Subjektsein und damit in ihrem eigenen Gewissen gefordert. Sie müssen sich immer neu zwischen Selbstermächtigung und Selbstzurücknahme verorten und entsprechende Reaktionsweisen einüben. Der Umgang mit dem Gewissen gehört damit – unabhängig davon, ob der Terminus selbst verwendet wird – zu den wichtigsten Aufgaben der Seelsorge im Bereich der Ethik.

117 Vgl. Schöne-Seifert, Gewissen. 118 Zum Verhältnis von Gewissen und Institution vgl. klassisch Hegel, Grundlinien, §§ 137–139.

154

3.5

Verhandlungen über Personsein

Verhandlungen über Personsein

I. „Personsein“ als Hintergrundkonzept ethischer Kommunikation II. Momente des Personseins am Lebensende a) Erinnerungen und Gedächtnis b) Vorlieben c) Kommunikation und Beziehungsgestaltung d) Der Wille als Kern einer Person III. Das Personsein von Föten und Säuglingen a) Blicken, begreifen und benennen b) Artefakte gestalten c) Von Personen sprechen: Die Beerdigung von Föten d) Anerkennung inszenieren: Die Taufe IV. Fazit: Personsein an den Grenzen des Lebens ist eine prekäre Zuschreibung

I.

„Personsein“ als Hintergrundkonzept ethischer Kommunikation

Aus dem Eintrag im Feldtagebuch zu einer ethischen Fallbesprechung: Der Logopäde erklärt, dass die Patientin bereits einmal im Krankenhaus war und zu diesem Zeitpunkt noch Brei essen sowie selber trinken konnte. Er erläutert, dass er die Patientin am Morgen der ethischen Fallbesprechung getroffen hat, und sich ihr Zustand im Vergleich zu früher verschlechtert hat. Da sie nicht mehr trinken möchte, und auch aus anderen medizinischen Gründen eine sichere Ernährung nicht mehr möglich ist, spricht er den mutmaßlichen Willen der Patientin in diesem Zusammenhang an. Logopäde: Was würde sie sagen, was man machen soll? Sie selbst kann das nicht. Sie kann nicht so kompliziert reden. So komplizierte Dinge mit ihr zu verhandeln, geht nicht, da sie die Frage nicht versteht. Als ich sie gefragt habe, ob es ihr schmeckt, hat sie später genau diese Worte wiederholt. Seelsorgerin: Sie wiederholt den Satz? Logopäde: Ja. Sie kann beispielsweise, die Frage, ob sie Schmerzen hat, mit ja oder nein beantworten. Aber kompliziertere Sachverhalte gehen nicht. […] Pflegerin: Ich führe bei ihr eine Vollpflege durch. Außer über Blicke kann sie nicht viel kommunizieren. Ich kenne sie aber erst seit gestern. Seelsorgerin: Ihre Blicke. Wie deutest du sie? Wie verstehst du sie? Pflegerin: Sie wirkt leicht hilflos. Sie versteht nicht, was mit ihr ist. So schaut sie einen an. Seelsorgerin: Sie weiß nicht, wo sie ist. (F Susanne Christlieb 22. 2. 2012 T)

Diese und weitere ethischen Fallbesprechungen, deren auf Mitschriften gestützte Gedächtnisprotokolle im Folgenden in Auszügen wiedergegeben werden, fanden

„Personsein“ als Hintergrundkonzept ethischer Kommunikation

155

auf einer Palliativstation in einem geriatrischen Krankenhaus statt. Angesichts der anstehenden Entscheidung zum weiteren Therapieverlauf werden Wahrnehmungen über die Patientin ausgetauscht. Es geht um personale Qualitäten: Wie steht es um ihre Fähigkeiten sich zu ernähren, wie um ihre Wahrnehmung, Kognition und Willensbildung, ihr Kurz- und Langzeitgedächtnis, wie um ihre raumzeitliche Orientierung, wie überhaupt um die Fähigkeit, zu anderen in Beziehung zu treten? Mitglieder des medizinischen Teams, Angehörige, die Seelsorgerin und andere Anwesende stellen ihre Wahrnehmungen zu verschiedenen Aspekten des Personseins der Patientin dar. Diese Wahrnehmungen werden miteinander konfrontiert und abgeglichen; die entsprechenden personalen Fähigkeiten werden der Patientin graduell oder vollständig zu- bzw. abgesprochen. Ethische Fallbesprechungen zu Therapien am Lebensende – wie auch am Lebensanfang und in anderen Situationen, in denen personale „Kompetenzen“119 von Patientinnen und Patienten prekär erscheinen – werden somit zu Verhandlungen über Personsein. Nun gehört die Überzeugung, dass der Mensch Person ist und als solcher unabhängig von seinem konkreten Zustand Achtung beanspruchen kann, nicht nur zum Kern des Rechtssystems und des ärztlichen wie des pflegerischen Ethos, sondern ist auch in der christlichen Tradition grundlegend verankert.120 Diese Überzeugung dürfte auch faktisch nahezu von allen im Gesundheitswesen Tätigen geteilt werden. Nichtsdestotrotz ist die Frage, wie es um personale Attribute wie Beziehungsfähigkeit, Kognition oder Willensbildung bei einer konkreten Patientin bzw. einem konkreten Patienten empirisch bestellt ist, in ethischen Fallbesprechungen wie auch in anderen ethischen Situationen Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Diese Verhandlungen haben unterschiedliche Funktionen. Sowohl der Lebensanfang wie auch das Lebensende sind durch Unsicherheiten und Neuordnungsvorgänge in den sozialen Beziehungen gekennzeichnet.121 Um die entstehende bzw. schwindende Person gruppiert sich das soziale Gefüge in solchen Verhandlungen neu. Im Kontext der Klinik müssen die beteiligten Akteure zudem konkrete Behandlungsentscheidungen legitimieren und sich gegenüber anderen positionieren; hier kann die Zuschreibung bzw. die Aberkennung von personalen Attributen ein explizites oder implizites Argument darstellen.122 Die Verhandlungen, in welcher Hinsicht und in welchem Ausmaß eine Patientin oder ein Patient noch oder schon als Person soll gelten können, sind mithin auch ethisch von erheblicher Relevanz.

119 Zum Kompetenzmodell insbesondere von Autonomie vgl. Beauchamp/Childress, Principles, 114–120. 120 Dazu Sturma, Person, 44ff; Stock, Person II, 225–231; Körtner, Leib, 44–80. 121 Vgl. Kaufmann/Morgan, Anthropology, 319. 122 Vgl. Conklin/Morgan, Babies, 658f.

156

Verhandlungen über Personsein

Nicht zuletzt aufgrund der Verankerung des Personkonzepts in der christlichen Tradition ist zu erwarten, dass Klinikseelsorgende in den Aushandlungsprozessen um das Personsein besonders engagiert sind. Mehr noch: Diese Verhandlungen stellen ein wichtiges Scharnier zwischen den im engeren Sinne seelsorglichen und den ethischen Aufgaben der Seelsorgenden dar. Daher werden sie im Folgenden eingehend untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass Seelsorgende nicht nur in der Zuschreibung, sondern auch im Absprechen oder Abschwächen personaler Aspekte beteiligt sind. Die Aussage, dass sie im medizinethischen Kontext als „Anwalt der Person“123 auftreten, bedarf also der Präzisierung. Dazu werden im Folgenden neben Interviewauszügen vor allem Materialien zu ethischen Fallbesprechungen und Teambesprechungen, zu Unterrichtsstunden für Hebammenschülerinnen, Taufen von Säuglingen sowie zu Bestattungen von Säuglingen und Föten untersucht. Der Terminus „Person“ und seine Ableitungen werden in der Klinik selbst in der Regel nicht verwendet. Philosophische und kulturwissenschaftliche Diskurse verzeichnen eine Fülle von je unterschiedlich bestimmten, hochstufigen Theoriebegriffen wie „Person“, „Personalität“, „Personsein“, „personale Fähigkeiten“, „Persönlichkeit“ etc. Diese Differenzierungen stehen hier nicht im Fokus des Interesses. Vielmehr fungiert „Personsein“ im vorliegenden Kontext als Kode zur Auswertung des ethnographischen Materials, der verschiedene Beobachtungen aufeinander beziehbar macht. Mit „Personsein“ ist, so die These, ein in den ethischen Kommunikationsprozessen in der Klinik präsentes Hintergrundkonzept benannt, eine Art ethischer Heuristik, in der sich verschiedene theoretische Perspektiven (etwa kantischer oder utilitaristischer Herkunft) sedimentiert haben, die in sich selbst aber durchaus beweglich und spannungsvoll ist. Im Folgenden werden zunächst die Grundlinien dieses Konzepts skizziert, bevor das empirische Material analysiert werden kann (II.–III.). Zunächst ist festzustellen, dass „Personsein“ in doppelter Hinsicht Gegenstand von Aushandlungsprozessen ist. Erstens wird im oben dargestellten Sinne verhandelt, inwieweit einem Einzelnen bestimmte personale Attribute zuzurechnen sind, inwieweit dieser also als Person soll gelten können. Zweitens ist der Inhalt des Personbegriffs, also die Gesamtheit seiner Merkmale, selbst Gegenstand von Verhandlungen. Auf diesen Umstand hat insbesondere die Ethnologie hingewiesen, für die die Frage nach der Kategorie der Person seit Marcel Mauss’ wegweisendem Aufsatz „A category of the human mind: the notion of person; the notion of self“ im Zentrum des Interesses steht.124 Der kleinste gemeinsame

123 Atzeni/Voigt, Religion, 229. 124 Mauss, human mind, 1–25. Vgl. auch Conklin/Morgan, Babies, 658–661; Kaufman, places, 2249–2261.

„Personsein“ als Hintergrundkonzept ethischer Kommunikation

157

Nenner der verschiedenen ethnologischen Zugänge dürfte in der These liegen, dass Personkonzepte kulturell variieren: Who or what is called person is, among other things, a highly contingent historical formation; it is both the site and the source of ongoing cultural contests and always under construction as a self-evident fact of nature.125

Welches menschliche Wesen ab wann, wie lange und weshalb unter die soziokulturelle Kategorie der Person fällt, welche Ansprüche eine Person hat, und welche an sie gestellt werden dürfen, wird von den Mitgliedern einer Gesellschaft ausgehandelt. Als formale Gemeinsamkeit aller Personkonzepte lässt sich dabei namhaft machen, dass Personen als Akteure oder Urheber von zielgerichteten Handlungen verstanden werden und eine bestimmte Stellung innerhalb einer sozialen Ordnung innehaben.126 Innerhalb dieser allgemeinen Bestimmung können nun einzelne Personkonzepte spezifiziert werden. So zeichnet sich das unter anderem von Clifford Geertz so benannte „westliche Personenkonzept“ durch weitere Merkmale aus: The Western conception of the person as a bounded, unique, more or less integrated motivational and cognitive universe, a dynamic center of awareness, emotion, judgment, and action organized into a distinctive whole and set contrastively both against other such wholes and against its social and natural background, is, however incorrigible it may seem to us, a rather peculiar idea within the context of the world’s cultures.127

Für die weitere Analyse soll nun keine spezifische philosophische Entfaltung dieses Personkonzeptes zugrunde gelegt werden.128 Für eine erste Heuristik personaler Attribute genügt es, vier miteinander verwobene Momente des Personkonzepts zu unterscheiden. 1. Dazu zählt erstens die Zentriertheit der Person. Eine Person wird als ein zentriertes Ganzes vorgestellt, in deren Zentrum personale Fähigkeiten wie Bewusstsein, Gefühle, Urteilskraft und Handlungsfähigkeit angesiedelt sind. Eine Person ist in diesem Sinne Subjekt.129 2. Zu dieser allgemeinen Struktur einer Person kommt zweitens deren individuelle Bestimmtheit, also ihre synchrone und diachrone Identität.130 Eine Person wird verstanden als ein durch eine Menge von Eigenschaften bestimmtes Individuum, das sich von anderen unterscheidet und eine gewisse zeitliche Kontinuität in seiner Bestimmtheit aufweist. 125 126 127 128 129 130

Hartouni, technologies, 300. Harris, Individual, 602. Geertz, Understanding, 48. Vgl. dazu Sturma, Person; Heinrichs, Person I, 220–225. Conklin/Morgan, Babies, 658, 681f. Vgl. Sturma, Person, 50; 53.

158

Verhandlungen über Personsein

3. Drittens gehört es zu einer Person, in einem sozialen Raum situiert zu sein, sich also mit anderen (verbal und nonverbal) in Beziehung setzen und in andere hineinversetzen zu können.131 4. Quer zu diesen drei Aspekten liegt ein vierter: Eine Person wird als Trägerin von Ansprüchen und Rechten verstanden. Dieser moralisch-juridische Aspekt der Person – in der Begrifflichkeit von Mauss: die persona132 – ist auf die anderen drei bezogen: Als allgemein vernunft- und willensfähiges Subjekt kann eine Person Respekt für ihre Autonomie133 bzw. Würde134 beanspruchen, ist aber umgekehrt auch Adressat von Pflichten; das konkret bestimmte Individuum hat einen Anspruch auf Berücksichtigung seiner spezifischen Verfasstheit und seiner Vorstellungen vom guten Leben; und die Person im sozialen Raum wird insbesondere als Trägerin von Ansprüchen auf Solidarität verstanden. Diese Aspekte werden für den Bereich der Medizin in verschiedenen ethischen Konzepten unterschiedlich gefasst, sind aber jeweils von erheblicher Bedeutung. Die genannten Momente des Personseins135 sind mithin nicht essentialistisch, sondern als Resultate sozialer Aushandlungsprozesse zu verstehen, die in einem historischen Kontext stehen und konkrete lebensgeschichtliche und institutionelle Orte haben.136 Das gilt insbesondere für die personale Identität.137 Je nach Kontext werden unterschiedliche Eigenschaften relevant; je nach Umfeld ist eine andere Identitätsformation wichtig.138 „Identität ist […] nicht an eine Bezugsgruppe gebunden und Identität ist nicht aus ‚einem Guß‘, sondern Identität entsteht in einem Prozeß der wechselnden Identifikation innerhalb eines Beziehungsnetzwerkes.“139 Für den vorliegenden Zusammenhang ist entsprechend nicht die Frage entscheidend, wann und inwiefern Menschen Personen sind, sondern unter welchen Bedingungen und in welchen Hinsichten sie als solche angesehen und behandelt werden. Damit richtet sich der Blick auf die Verhandlungen über Personsein und die Praktiken, durch die Menschen der Status einer Person oder einzelne Aspekte davon zu- und abgesprochen werden.140 Noch 131 132 133 134 135

136 137 138 139 140

Zur Empathie vgl. Hollan/Throop, Empathy, 2. Mauss, human mind, 14. Beauchamp/Childress, Principles, 101–114. Kant, Grundlegung zur Metaphysik, BA 77. Der Aspekt der Leiblichkeit der Person gehört – zumal in der Klinik – zu allen hier genannten Personmomenten hinzu und wird daher nicht als eigener angeführt (siehe dazu Körtner, Leib, 31). Vgl. Alkemeyer, Selbstbildungen; Sturma, Person, 54. Schicktanz, Selbst-Deutung, 184; Sökefeld, Identity, 419. A.a.O., 422. Bräunlein/Lauser, Grenzüberschreitungen. Zum Begriff der sozialen Praxis vgl. Reckwitz, Grundelemente.

„Personsein“ als Hintergrundkonzept ethischer Kommunikation

159

die in der kantischen Tradition verwurzelte Überzeugung, dass der Achtungsanspruch von Personen unverhandelbar ist, verdankt ihre soziale Wirksamkeit eben solchen Aushandlungsprozessen. Das Personkonzept ist also in zweifacher Weise normativ angelegt. Zum einen enthält es Merkmale, die inhaltlich normativer Natur sind: dies sind die Ansprüche und Rechte, als deren Träger die Person erscheint. Die Zuschreibung, ein Rechtssubjekt zu sein, ist rein kontrafaktisch (das heißt sie hat keinen Anhalt in der Erfahrung). Zum anderen enthält das Personkonzept auch in seinen inhaltlich deskriptiven Merkmalen normative Erwartungen, die denen, die als Personen gelten, entgegengebracht werden: Eine Person möge sich als kognitiv und voluntativ zentriert zeigen; sie möge in ihren Eigenschaften über die Zeit hinweg identifizierbar sein; und sie möge Beziehungen eingehen, die sie als Person unter anderen Personen verstehen lassen. Diese normativen Erwartungen können in der Erfahrung eher bewährt oder eher enttäuscht werden; es liegt jedoch in ihrer Natur, dass sie niemals gänzlich durch Erfahrung abgedeckt sein können. Die Zuschreibung von Personsein ist immer auch kontrafaktisch; sie verbindet in unauflöslicher Weise empirische und normative Momente. Besonders in Übergangsphasen wie dem Lebensbeginn, der in den zu diskutierenden Beispielen nicht selten mit dem Lebensende überein fällt, und dem Sterben und Tod älterer Menschen werden die unterschiedlichen Momente des Personenkonzepts thematisch.141 Wenn ein Mensch erst im Werden oder schon im Schwinden begriffen ist, sind bestimmte Personaspekte noch kaum oder kaum mehr von der Erfahrung gedeckt. Ein Neugeborenes oder ein Mensch im Koma ist nur eingeschränkt als zentriertes Subjekt erfahrbar. In diesen Übergangsphasen wankt mithin die erfahrungsmäßige Bewährung des oben dargestellten, normativen Personkonzepts. Redeweisen und Verhaltenspraktiken im Umgang mit vermindertem Personsein etablieren sich.142 Diese sind durchaus spannungsvoll, da die personalen Attribute zumeist nicht graduierbar sind, faktisch aber graduell zu- und abgesprochen werden. Dies wird im Folgenden zunächst anhand von Protokollen ethischer Fallbesprechungen zu Therapien am Lebensende (II.) und anschließend anhand verschiedener Beispiele des Umgangs mit Menschen entfaltet, deren Lebensanfang und Lebensende zeitlich nahezu zusammenfallen, also totgeborenen oder kurz nach der Geburt versterbenden Säuglingen (III.).

141 Morgan, Personhood, 13. 142 Für Patienten im Koma vgl. etwa Kaufman, places, 2255.

160

Verhandlungen über Personsein

II.

Momente des Personseins am Lebensende

a)

Erinnerungen und Gedächtnis

Der zu Beginn des Kapitels wiedergegebene Protokollauszug verdeutlicht, wie die Teilnehmer der ethischen Fallbesprechung über das Schwinden kognitiver Fähigkeiten der Patientin wie auch ihrer Fähigkeit zu essen verhandeln. Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden neben den kognitiven Fähigkeiten auch persönliche Vorlieben, frühere Gewohnheiten und weitere Aspekte thematisiert, die auf das Personsein der Patientin verweisen: Ehemann: Wir haben eine Polin, die uns pflegt und versorgt. Ich habe zu meiner Frau gesagt, in der Hitlerjugend haben wir doch ein Lied über das Polenmädchen gesungen. Sie konnte alle Strophen singen. Ich konnte sie nicht mehr. Tochter: Mein Sohn musste ein Gedicht lernen. Er war ganz beeindruckt, dass meine Mutter das gesamte Gedicht noch kannte. Arzt: Das Kurzzeitgedächtnis ist sehr schnell gestört. Das Langzeitgedächtnis jedoch nicht. […] Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis fallen [erst] in Tests auf. Tochter: Das heißt, dass das [die Demenz] fortschreitet. Arzt: Ja. (F Susanne Christlieb 22. 2. 2012 T)

In der zitierten Passage der ethischen Fallbesprechung zeigt sich zunächst eine deutliche Spannung zwischen den Aussagen der Angehörigen und denen des Arztes. Der Ehemann und die Tochter der Patientin versuchen, durch ihre Aussagen die Patientin in ihrem Personsein zu vergegenwärtigen, indem sie deren Erinnerungsfähigkeit als Argument für ihre kognitiven Fähigkeiten und für ihre diachrone Identität – sie ist noch dieselbe! – ins Feld führen. Der Arzt interpretiert das Thema des Gedächtnisses aus medizinischer Sicht; die angeführten Fähigkeiten, sich an früh Erlebtes wie das vor 1945 gelernte Lied zu erinnern, sprechen für ihn nicht gegen eine fortschreitende Demenz. Aussagekräftig sind für ihn die medizinischen Tests, in denen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses nachgewiesen werden, sowie vor allem die bildgebenden Verfahren, die Hirnschädigungen anzeigen. Nicht die alltagsweltlich beeindruckenden Leistungen der Patientin, sondern die dem Krankheitsbild entsprechenden, im Alltag zum Teil eher unauffälligen oder, da hirnorganisch, unsichtbaren Phänomene zeigen für den Blick des Experten das unaufhaltsame Schwinden des Personseins der Patientin an. Indem der Arzt seine Ansicht durch Verweis auf Testverfahren bzw. organische Schäden objektivieren kann, setzt er sich in der Verhandlung gegen die Sicht der ¸Laien‘ durch. Dass insbesondere das funktionsfähige Gehirn – begriffen als Sitz der Rationalität und des Denkens – einen

Momente des Personseins am Lebensende

161

ausschlaggebenden Marker für den Personenstatus darstellt, verdeutlicht auch ein anderer Abschnitt derselben ethischen Fallbesprechung.143 Der Oberarzt wiederholt die medizinischen Befunde und fragt: Wie können wir für sie Lebensqualität erzeugen? Seelsorgerin: Ich muss eine Rückfrage stellen. Die Bildgebung zeigt eine stetig größer werdende Hirnschädigung? Der Oberarzt bejaht die Frage und erläutert die medizinischen Befunde erneut. Seelsorgerin: Das bedeutet, dass diese Erkrankung, die sie in sich trägt, immer weiter fortschreitet und sie in den Prozess des Sterbens bringt. Oberarzt: Ja. Das wird so sein. […] Bei Schlaganfallpatienten, die 50 Jahre alt sind, ist das eine andere Sache. Aber bei ihr wird keine Besserung entstehen. Ich bin in einem Zwiespalt. Es kann durch die Medikamente schlechter geworden sein. Die Frage ist, wie wir Lebensqualität erreichen? Das Hirn wird nicht besser. (F Susanne Christlieb 22. 2. 2012 T)

Das Stichwort der Lebensqualität erfüllt an dieser Stelle eine wichtige Funktion. Angesichts der Erwartung, dass die Hirnschädigung der Patientin weiter zunehmen wird, ihre kognitiven Fähigkeiten abnehmen werden, und auch ihr Tod in greifbare Nähe gerückt ist, kommt das Personsein der Patientin in der Folge auf andere Weise in den Blick. In ihrem Kern erscheinen nun nicht mehr kognitive Fähigkeiten, sondern Bedürfnisse, Interessen, Vorlieben, denen die Therapie so weit als möglich entsprechen soll.

b)

Vorlieben

Die Frage nach der Lebensqualität wird häufig in ethischen Fallbesprechungen, aber auch in Teambesprechungen, im Zusammenhang mit der Ernährung und der Gabe von Flüssigkeit gestellt. In der palliativen Pflege werden Patientinnen und Patienten abhängig von ihrem Zustand Flüssigkeiten, Sprays oder Eiswürfel gegeben, die mit Geschmacksstoffen versetzt sind, die sie als angenehm empfinden. Wenn ein Patient seine Vorlieben nicht mehr selbst kundtun kann, müssen diese von denjenigen erfragt werden, die ihn schon länger kennen. In der Weiterführung der ethischen Fallbesprechung ist es die Seelsorgerin, die nach den Geschmacksvorlieben der Patienten fragt. Seelsorgerin: Es ist wichtig herauszukriegen, was sie gerne trinkt, auch wegen des Geschmacks. Mochte sie Saft oder Wein? Tochter: Sie mag Schorle. Letztes Jahr hat sie noch viel gegessen und einen guten Appetit. 143 Ohnuki-Tierney, Brain Death, 237.

162

Verhandlungen über Personsein

Etwas später sagt der Oberarzt, nachdem er verschiedene medizinische Optionen erläutert hat: Das Spray ist für den guten Geschmack. Wir machen alles. Beispielsweise haben wir es auch schon mit Bier versetzt. Da sie Pudding mag, ist auch das möglich. Ehemann: Sie mag Apfelschorle.

Die Frage nach dem Geschmack, die im Dienste einer medizinischen Maßnahme steht, macht die Patientin in neuer Weise als Person sichtbar. Sie, die immer weniger als Subjekt des Denkens und Erinnerns angesprochen werden kann, erscheint nun als Subjekt von Geschmacksvorlieben. Diese werden im Modus biographischer Reflexion eruiert. Was mag sie, das heißt: Was mochte sie? Aufgrund der unterstellten Kontinuität der Geschmacksvorlieben kommt die Patientin in ihrer diachronen Identität in den Blick. Ähnlich bedeutsam wie der Geschmack sind die musikalischen und olfaktorischen Vorlieben, wie das Beispiel einer anderen ethischen Fallbesprechung zeigt. Die Patientin, ebenfalls dement, liegt im Sterben. Bei einer sie betreffenden ethischen Fallbesprechung sind unter anderem ihr Ehemann sowie ihr Schwager anwesend. Schwager: Direkt sprechen, das ist lange her. Manchmal passten die Antworten. […] Musik war etwas für sie. Seelsorgerin: Das ist eine wichtige Information für uns. Wenn wir die passende Musik für sie finden, brauchen wir nicht so viele Medikamente. Schwager: Der Fernseher ist immer gelaufen. Ehemann: Bei Blasmusik hat sie immer mitgemacht.

Außer über die Musik soll die Patientin auch über ihren bevorzugten Duft angesprochen werden. Seelsorgerin: Gibt es eine Lotion, die es ihr angenehm macht? Wir haben im Haus eine Aromatherapeutin. Aber wir müssen nicht noch einen zusätzlichen Duft drauf machen. Der Duft ist für das Erinnerungsgedächtnis wichtig. Eine der Angehörigen antwortet: Ihre Lotion ist da. (F Susanne Christlieb 25. 1. 2012 T)

Indem für die Patientin angenehme sinnliche Erfahrungen abgefragt werden, wird sie in ihrer diachronen Identität sichtbar. Es ist aufgrund des Gesprächsprotokolls nicht eindeutig festzustellen, aber möglich, dass diese Identität für die hier Beteiligten auch geschlechtlich konnotiert ist: Als Verwenderin einer parfümierten Lotion erschiene die Sterbende dann als Subjekt einer mit Weiblichkeit assoziierten Praxis der Körperpflege, die sie früher selbst durchgeführt hat. Jedenfalls behaften die palliative Pflege und die dazu nötige Befragung der Angehörigen die Patientin auf ihrer lebensgeschichtlichen Identität – einer Identität, die hier nicht mehr auf kognitiver, sondern auf körperlich-sinnlicher Ebene

Momente des Personseins am Lebensende

163

angesiedelt wird. Zudem wird die Identitätsleistung nicht mehr von der Patientin selbst („ich mochte immer schon…“), sondern nur noch von den Angehörigen allein erbracht. Durch Besprechung ihrer Vorlieben erhält die Patientin gleichsam eine identitäre Außenstütze angelegt, die aus Erinnerungen der Angehörigen errichtet wird. In dem professionell-ethisch wie medizinisch kodierten Kontext einer ethischen Fallbesprechung öffnet sich ein Fenster für Biographiearbeit. Hier zeigt sich die Seelsorgerin intensiv engagiert und bringt damit eine seelsorgliche Kernkompetenz ein.144 c)

Kommunikation und Beziehungsgestaltung

Die Fähigkeit, mit anderen Personen kommunikativ zu interagieren und Beziehungen zu gestalten, stellt einen weiteren Aspekt des Personseins dar, der einem Menschen zu- oder abgesprochen werden kann. Der Schwager der Patientin äußert in der oben wiedergegebenen ethischen Fallbesprechung, seine Schwägerin habe schon lange nicht mehr gesprochen, und, falls sie etwas gesagt habe, hätten ihre Antworten „manchmal“ gepasst. Es gelingt ihm nicht mehr, die Äußerungen seiner Schwägerin durchgängig als Elemente einer sinnvollen Kommunikation zu deuten. Mit der Kommunikationsfähigkeit wird ein zentrales Moment von Personsein fraglich. Entsprechend setzen sich in ethischen Situationen am Lebensende Familienmitglieder, aber auch Seelsorgende sowie das medizinische Personal mit der Frage auseinander, inwieweit ein Patient noch die Fähigkeit hat, soziale Beziehungen und emotionale Bindungen einzugehen, aufrechtzuerhalten und auf dieser Grundlage zu handeln.145 Wie wichtig die verbale Kommunikation für das Personsein ist,146 zeigt der zu Beginn des Kapitels wiedergegebene Ausschnitt aus 144 An dieser Stelle wird auch deutlich, warum der sperrige Begriff des Personseins und nicht so sehr der geläufige der Subjektivierung hier als Rekonstruktionskategorie geeignet ist. Bei der Rede von „Praktiken der Subjektivierung“ (Alkemeyer, Selbstbildungen) steht vor allem die Frage im Vordergrund, unter welchen soziokulturellen Voraussetzungen Menschen die Widerständigkeit innengelenkter Akteure an den Tag legen. Hingegen kommt die Zuschreibung von Personsein auch ohne die Unterstellung eines aktual wirksamen Subjektzentrums aus. Personsein kann noch zugeschrieben werden, wenn die Akteursqualität eines „Subjekts“ nicht mehr erfahrbar ist. Zudem ist der Begriff der Person in der Reflexion der „Grenzen personalen Lebens“ (Sturma, Person, 36, 48 u. ö.) eingeführt und erlaubt, die Verschränkung deskriptiver und normativer Aspekte zu beschreiben. Praktiken der Subjektivierung sind in diesem Sinne eine Unterkategorie der Praktiken der Personalisierung, nämlich jene, in denen aktuale Akteursqualität zugeschrieben wird. Im Kontext der Seelsorgetheorie ist es vor allem der Begriff der Individualität, der Anschluss an personale Zuschreibungen im hier verwendeten Sinne erlaubt (vgl. Steck, Theologie, 603– 619; Karle, Seelsorge; Roser, Klinikseelsorge). Siehe dazu auch Kapitel 4.1. 145 Vgl. Conklin/Morgan, Babies, 685. 146 „[T]hrough language a sense of time is linked to that continuity of identity without which

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Verhandlungen über Personsein

der ethischen Fallbesprechung zur Weiterbehandlung der Patientin. Hier tritt mit der reduzierten sprachlichen Kommunikationsfähigkeit der Patientin ein zentraler Aspekt des Personseins zurück. Die Patientin kann nach der Wahrnehmung des medizinischen Personals zur Findung und Legitimierung von Therapieentscheidungen kaum noch beitragen, da sie komplexe Fragen nicht beantworten kann. Ihr Status als zentrierte Person und damit als Subjekt in dem sie betreffenden Behandlungsgeschehen („Wille“) ist gefährdet. So deutet die Pflegerin auch nonverbale Signale („Blicke“) als Form der Kommunikation. Es ist die Seelsorgerin, die die Pflegerin durch ihre Rückfrage nach der Bedeutung der Blicke ermutigt, ihre Interpretation der nonverbalen Signale einzubringen und so die Patientin als kommunizierende Person wieder einzuführen. Dies gelingt formal, insofern die Pflegerin ihr Einfühlungsvermögen nutzt, um sich in die Patientin zu versetzen und als deren Stimme tatsächlich eine Botschaft in die Fallbesprechung einzubringen. Da diese Botschaft inhaltlich aber lediglich in einer Frage besteht – Wo bin ich? Was ist mit mir? –, scheitert der Versuch, die Patientin als kognitiv oder voluntativ in das Geschehen eingebunden vorzustellen. Die Patientin kommt als Person-in-Beziehung, nicht aber als zentriertes Subjekt in den Blick. Genau umgekehrt ist dies in der anderen bereits teilweise zitierten ethischen Fallbesprechung. Hier ist die Beziehung zwischen der Patientin und dem medizinischen Personal im Abbruch begriffen; gleichwohl erscheint die Sterbende der Pflegerin als voluntatives Subjekt, als wollende Akteurin. Einleitend erläutert der Oberarzt den medizinischen Zustand der Patientin sowie deren Behandlung. Oberarzt: Die Patientin bekommt Morphin. Jetzt ist sie ruhiger. Sie bekommt es wegen der Schmerzen. Sie bekommt auch ein angstlösendes Mittel, da es Krämpfe unterbindet. Die Medikamente erleichtern die Symptome. […] Bei der Patientin sind viele Gehirnbereiche geschädigt. Es gibt keine Prognose. Pflegerin: Seit sie Morphin bekommt, ist sie ruhiger. Im Bett nimmt sie freiwillig eine Embryonalhaltung ein. Sie zieht die Decke über den Kopf. Sie möchte nicht essen. Sie macht auch dann den Mund nicht auf. Sie möchte auch kein Licht. Sie entfernt sich psychisch. Wir fühlen eine Distanz. Verstehen Sie das? Dies ist mein subjektiver Eindruck. (F Susanne Christlieb 25. 1. 2012 T)

Die Pflegerin beschreibt den sich im Auflösen begriffenen Kontakt zur Patientin auf verschiedenen Ebenen, indem sie sich auf die verschiedenen nonverbalen Signale bezieht, die die Patientin aussendet. Die Patientin entfernt sich aus der Beziehung; sie verweigert die Wahrnehmung („Licht“), das Essen, die Kommu-

accountability for conduct cannot exist.“ (Harris, Individual, 600.) Vgl. auch Einarsdóttir, Experts, 38. Siehe zu diesem Themenkomplex auch Kapitel 3.6, IV.

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nikation. Es entsteht – in der Wahrnehmung der Pflegerin – eine Distanz, eine reduzierte Beziehung zwischen Patientin und Personal. Gleichzeitig entsteht das Bild einer Frau, die aus ihrem Personsein heraustritt. Ihre gekrümmte Lage wird verstanden als Embryonalhaltung, als Regress in einen präpersonalen Status. Im Kontrast zu dieser eindrücklichen Beschreibung schwindenden Personseins steht jedoch der Umstand, dass die Patientin hier durchweg als Akteurin erscheint. Sie ist in den Beschreibungen der Pflegerin grammatikalisch das Subjekt des Rückzuges. Sie entfernt sich, nimmt gar „freiwillig“ eine Embryonalhaltung ein. Ein Aktzentrum, sogar ein Wille, und sei er nur körperlich zum Ausdruck gebracht, wird hier beharrlich gegen alle Zeichen schwindenden Personseins zugeschrieben. Die Pflegerin sieht die Patientin als Person, die sich in ihrem Personsein selbst entzieht. Diese Zuschreibung ist um so auffälliger im Kontrast zu den Ausführungen des Arztes, in denen die Patientin passiv, als Empfängerin von Medikamenten sowie hinsichtlich ihrer organischen Schädigungen, aber nicht eigentlich als Person in den Blick kommt. Im weiteren Verlauf der Fallbesprechung kommt – auf Initiative der Seelsorgerin – der Ehemann der Patientin zu Wort, der das Sichentziehen seiner Frau auf seine Weise zum Ausdruck bringt. Die Seelsorgerin fragt in der ethischen Fallbesprechung: Welchen Eindruck haben Sie von ihrer Frau, Herr Kaiser? Ehemann: Sie fehlt mir. Seelsorgerin: Wie ist es, wenn Sie an ihrem Bett sitzen? Ehemann: Sie reagiert, lacht. Dann schläft sie wieder ein. (F Susanne Christlieb 25. 1. 2012 T)

Die erste Antwort des Ehemannes erscheint auf den ersten Blick als Missverständnis. Gefragt ist eine objektivierende Aussage, in der er über seine Frau sprechen soll. Er aber antwortet auf der Ebene seiner Beziehung zu ihr, die er als abgerissen beschreibt (Beziehungsmoment). Auch wird deutlich, dass sie nicht mehr die Person ist, die er sein Leben lang kannte (Identitätsmoment). Dennoch ist selbst in dem Satz „Sie fehlt mir“ die Frau noch in einem schwachen Sinne Subjekt (Zentrierungsmoment). Durch die zweite, nachsetzende Frage der Seelsorgerin kann der Ehemann dann eine der Erwartung der Zuhörenden eher entsprechende Antwort geben. Er zeichnet die Beziehung beider teils als noch vorhanden (sie reagiert und lacht) und teils als verlöschend (sie schläft ein). Und wieder ist die Frau das Subjekt; sie bleibt, auch am Rande des absoluten Beziehungsabbruchs und angesichts der sich auflösenden Kontinuität ihrer Identität, für ihren Mann wie für die Pflegerin Person: eine Person, die sich selbst entzieht. Die Zuschreibung der verschiedenen Personmomente kann mithin sehr ungleichzeitig sein; und sie ist jedenfalls immer auch kontrafaktisch. Vor allem die

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Zuschreibung von Urheberschaft („Wille“) scheint dabei besonders beharrlich zu sein. d)

Der Wille als Kern einer Person

Die Kategorie des Willens ist für die Medizinethik zentral. Die Achtung vor der Würde des Menschen ist bereits bei Immanuel Kant als Achtung des Willens, der die Maximen des Handelns selbst setzt und vernünftig prüft, konzipiert.147 Beauchamp und Childress reduzieren in ihrem Prinzip des „respect for autonomy“ die Anforderungen an die Vernünftigkeit des Willens und räumen der Selbstbestimmung des Einzelnen an sich bereits einen – gleichwohl nicht absoluten – Achtungsanspruch ein.148 Diesem Anspruch wird im Bereich der Medizin unter anderem durch die notwendig einzuholende informierte Einwilligung des Patienten bei jeder Behandlungsmaßnahme entsprochen. An den Grenzen des Lebens kann die Einholung eines solchen informed consent schwierig bis unmöglich werden; Patienten sind unter Umständen nicht mehr in der Lage, einen Willen zu bilden bzw. verständlich zu artikulieren. Für diesen Fall sind medizinrechtlich verschiedene Möglichkeiten vorgesehen, die aktuale Willensbestimmung zu ersetzen: durch den vorab in einer Patientenverfügung für die entsprechende Behandlungssituation verfügten Willen; durch die Ermittlung des „mutmaßlichen Willens“ (Was würde die Patientin jetzt wollen?), die dem Betreuenden oder auch den Teilnehmenden an einer dazu einberufenen ethischen Fallbesprechung bzw. einem Konsil überlassen ist; oder auch durch die Berücksichtigung des „natürlichen Willens“, also der aktualen Strebungen und Wünsche von als nicht einwilligungsfähig klassifizierten Personen, etwa von Kindern oder Demenzkranken.149 Nun setzen die rechtlichen Bestimmungen in der Regel die binäre Unterscheidung von Einzelnen, denen Einwilligungsfähigkeit – in der gerade in Rede stehenden Hinsicht – attestiert wird, und anderen, die diesbezüglich als nicht einwilligungsfähig gelten, voraus.150 In der Praxis findet sich, wie bei anderen Aspekten des Personseins, diese eindeutige Grenze nicht. Auch hier sind abgestufte Praktiken der Zurechnung personaler Qualitäten – hier: des Willens – beobachtbar. Das ‚Höchstpersönliche‘ des Willens wird in verschiedenen insti-

147 Kant, Grundlegung zur Metaphysik, BA 70–79. 148 Beauchamp/Childress, Principles, 101–114. 149 Zur umstrittenen Beachtlichkeit des natürlichen Willens vgl. Jox/Ach/Schöne-Seifert, Patientenverfügungen, A-394–396; Rehbock, Kommunikation. 150 Eine Ausnahme bildet etwa § 8a Transplantationsgesetz, in dem der Wille auch nicht voll einsichtsfähiger Kinder und Jugendlicher „zu beachten“ ist. Dazu vgl. Weilert, Kindeswohl; Moos, Gewebespende.

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tutionellen Settings und Prozeduren geformt und gerahmt.151 In diese sind die Seelsorgenden, wie die folgenden Beispiele zeigen, ebenfalls stark einbezogen. Im ersten Beispiel engagiert sich eine Seelsorgerin direkt in der Ermittlung des Willens einer Patientin. Diese ist an Krebs in einem weit fortgeschrittenen Stadium erkrankt und nimmt von sich aus nicht mehr genügend Nahrung zu sich; eine Entscheidung über die Aufnahme oder Nichtaufnahme künstlicher Ernährung steht an. Die Patientin äußert sich hierzu nicht vernehmlich; es ist zudem nicht klar, inwieweit sie ihre Situation realisiert. Zwischen einigen Angehörigen, die künstliche Ernährung fordern, und der behandelnden Ärztin, die diese nicht befürwortet, entsteht ein Konflikt, in dem die Ärztin die Seelsorgerin um Hilfe bittet. Diese berichtet im Interview über ihren Versuch, sich selbst ein Bild vom Wollen der Patientin zu machen: Wenn ich jetzt noch einmal kritisch raufgucke, würde ich sagen, ich war da, was ich sonst in der Seelsorge nicht bin, schon ein bisschen zielorientiert. Stimmt, das wird mir gerade so bewusst. Man muss wissen, diese Patientin hat […] von sich aus nichts erzählt. Ja, insofern musste ich irgendwo ansetzen und habe angesetzt, wie es ihr geht. Da stand das Frühstück noch, und es ging ja nun um die Essensfrage, ich habe also mit den sichtbaren Dingen angefangen zu sprechen, wie es denn mit dem Essen stand heute früh. Und dann hat sie erzählt, dass sie einmal [vom Brötchen] abbeißt, und dann reicht es schon, und dann ist alles satt in ihr. Und ich habe schon da den Faden verfolgt, wie satt sie eigentlich das Leben letztlich hat. An welchem Punkt sie selbst ist, also nicht so plump von dem Satz mit dem Brötchen aus, aber das war ein Pfad. Und wenn ich jetzt ehrlich bin, dann hatte ich auch schon auf dem Weg, als ich zu ihr ging, im Hinterkopf, dass ich selbst einen Eindruck davon haben möchte, wo die Patientin eigentlich hinwill. Also ihren mutmaßlichen Willen […]. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin findet sich hier in der Rolle, direkt an der Ermittlung des Patientenwillens beteiligt zu sein. Im Nachhinein reflektiert sie, dass sie ein direktives und einem externen Zweck verpflichtetes Gespräch begonnen und damit diejenige Nondirektivität und Klientenzentrierung aufgegeben hat, die sie sich professionsspezifisch zurechnet. Gleichzeitig bringt sie aber seelsorgliche Kompetenzen ein: neben ihrem Einfühlungsvermögen vor allem ihre Fähigkeit, symbolische Rede zu verstehen („wie satt sie eigentlich das Leben letztlich hat“). So trägt sie als Seelsorgerin dazu bei, dass der Patientin erfolgreich ein Wille hinsichtlich ihrer weiteren Behandlung zugeschrieben werden kann. Auch rein körperliche Signale werden (nicht nur) von Seelsorgenden als Äußerungen eines Willens gedeutet. Eine alte Patientin, so berichtet ein Seelsorger, sei hochgradig ausgezehrt in die Klinik eingewiesen worden. Sie habe nicht mehr verbal kommuniziert, sich aber deutlich gegen alles Essen gewehrt, das ihr angereicht wurde. Diese starke körperliche Verweigerung wird von ihm und dem 151 Vgl. dazu Roser, Klinikseelsorge, 79, im Anschluss an Steck, Theologie.

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Verhandlungen über Personsein

Behandlungsteam als Wille, auch keine künstliche Ernährung über eine Magensonde zu erhalten, gedeutet,152 obwohl die Patientin als nicht mehr einwilligungsfähig erscheint: Und wir waren dann der Meinung […], dass wir gesagt haben, keine PEG-Sonde mehr. Dass wir der Überzeugung waren, dass was sie mit Verweigerung von Nahrung deutlich macht, ist doch noch ihr Wille. Ja, sie scheint etwas zu begreifen, selbst wenn sie nicht mehr ganz bei klarem Sachverstand ist. Bei 25 Kilo kann man nicht mehr davon ausgehen, weil ja dann auch die ganze Versorgung über Niere und so nicht mehr gut funktioniert. Ja. Und trotzdem waren wir der Überzeugung, ein Mensch kann auch, wenn er nicht mehr bei ganz klarem Sachverstand ist, noch einen Willen äußern. Ob es jetzt der ist, dass man den Kopf wegdreht, den Mund fest zusammen zwingt, sich wehrt gegen alles, was in einen noch reingeschoben wird, und [sie sich] so ja auch bei anderen Dingen sich massiv gewehrt hat dagegen. Dann habe ich das zu achten als auch eine Willensäußerung: „Ja, nicht mehr länger mit mir.“ (I Uwe Schröder 4. 2. 2012 T)

Obwohl also die Patientin nach Wahrnehmung des Seelsorgers bedingt durch ihren körperlichen Zustand nicht mehr in der Lage ist, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen und ihrer Handlungen abzusehen, interpretiert er die Verweigerung der Nahrungsaufnahme als Ausdruck des Willens. Er deutet mithin den Körper als „Mittel zum Verfolgen von Interessen“153 und respektiert diese, indem er die Entscheidung gegen eine PEG-Sonde mitträgt. Der Seelsorger versteht – in Übereinstimmung mit dem medizinischen Team – die Patientin auch im Zustand der Nichteinwilligungsfähigkeit immer noch als Person im Sinne einer Urheberin ihres Verhaltens und einer Steuerungsinstanz ihrer Behandlung. Damit werden die Behandelnden entlastet, die nicht in vollem Umfange die Last der Behandlungsentscheidung tragen müssen. Insofern hat die Zuschreibung von Personalität erhebliche ethische Relevanz (und ist in solchen Fällen denn auch stark umstritten154): Mit ihr werden Entscheidungen zugerechnet und die Verantwortung für deren Folgen zugewiesen. In einer ähnlich gelagerten Entscheidungssituation wird einem dementen Patienten – unabhängig von seinen kognitiven Fähigkeiten – ein Wille zugeschrieben. Im Interview berichtet der Seelsorger Uwe Schröder von einer ethischen Fallbesprechung, in der die Frage diskutiert wird, ob ein Patient mit Demenz über eine PEG-Sonde ernährt werden soll oder nicht. Im Verlauf der Besprechung stellt sich heraus, dass der Patient noch in der Lage ist, Nahrung zu sich zu nehmen: 152 Anders als in den Ausführungen von Rehbock, Kommunikation, 190 angenommen, liegt hier im Verstehen der Körpersignale tatsächlich eine – sprachlich im apophantischen „als“ im letzten Satz des folgenden Zitats erkennbare – Deutung vor. 153 Schicktanz, Selbst-Deutung, 185. 154 Aus medizinethischer Sicht dezidiert gegen diese Deutung Jox/Ach/Schöne-Seifert, Patientenverfügungen.

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Der Patient bekommt ganz normal Essen und Trinken angeboten, solange er isst und trinkt, [was er] zu sich nimmt, trotz seiner Demenz. Viele Demente essen und trinken, auch wenn sie es irgendwann mal verlernen können. […] Dann haben wir gesagt, dann würden wir auch nichts mehr unternehmen. Aber solange er isst und trinkt, ist es sein Wille, auch begrenzter Wille […]. Aber er wird nicht am Leben erhalten über eine PEGSonde zu den weiteren Bedingungen. So haben wir dann zum Beispiel entschieden. (I Uwe Schröder 4. 2. 2012 T)

Daneben führen Seelsorgende auch andere körperliche Prozesse auf die Urheberschaft der Patientin bzw. des Patienten zurück und lassen so noch am Rande des personalen Lebens die Person zum Vorschein kommen. Auch hier wird Verantwortung zugewiesen – wenngleich auch nicht ganz abgegeben: Der Seelsorger betont, dass die letzte Entscheidung vom Team gefällt wurde. Selbst wenn Verhaltensweisen im Spiel sind, die gemeinhin als unwillkürlich gelten, steht noch die Vorstellung eines Personzentrums, dem das Verhalten als intentionale Handlung zugerechnet werden kann, im Raum. Die folgende Passage entstammt einer Teambesprechung auf einer Palliativstation nach dem Versterben eines Patienten. Seelsorgerin: Bei diesem Patienten dachten wir, dass er noch ins Hospiz kommt. […] Pflegende: Es war abzusehen. Er hatte viel Stuhlgang. Seelsorgerin: Im Rückblick: Er hat sich ganz entblößt und ganz entleert. (F Susanne Christlieb 9. 2. 2014 T)

Die Seelsorgerin legt den Stuhlgang des Patienten in der Rückschau nicht als einen reinen körperlichen Vorgang aus, sondern versteht den Patienten, wenngleich am Rande einer uneigentlichen Sprechweise, noch als personalen Urheber seines Verhaltens. Eine andere Praxis der Willenszuschreibung bildet die Ermittlung des vorabverfügten oder mutmaßlichen Willens mithilfe einer Patientenverfügung. Auch hier ist die Bestimmung des Patientenwillens Resultat einer Deutung, nun nicht mehr von mündlichen Aussagen oder körperlichen Signalen, sondern von einem Text, den der Patient – zumeist mit Hilfe eines Formulars – vorab niedergelegt hat. In einer ethischen Fallbesprechung finden wir die Seelsorgerin Susanne Christlieb in dieser Deutung sehr engagiert; sie ist es, die während des Gesprächs die Patientenverfügung aus den Akten hervorholt, aus ihr vorliest und sie interpretiert. Hier ruht die Willenszuschreibung auf der Voraussetzung eines Subjekts, das früher urteils- und einwilligungsfähig war und sich zu dieser Zeit für einen bestimmten Behandlungsverlauf in einer antizipierten Krankheitssituation entschieden hat. Mit diesem vergangenen Subjekt wird der gegenwärtige Mensch als identisch gedacht; er ist der, der früher wollte, dass jetzt mit ihm so

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und so verfahren wird.155 Das diachron-identitäre Moment des Personseins ersetzt in diesem Fall das personale Zentrum (den aktualen Willen). So kann ein Wille (und damit ein Personzentrum) zugeschrieben werden, obwohl der Patient aktual als ‚willenlos‘ erlebt wird. Seelsorgerin: Ich kenne den Patienten nicht. Ich stelle die Frage: Wenn er hätte hier sitzen können und alles gehört hatte, was würde er antworten? Ich möchte den mutmaßlichen Patientenwillen herausfinden. Nach einer längeren Diskussion um die Patientenverfügung sagt der Sohn: Wir machen dies. Es ist eine Willenskundgebung. Und später: Ich entscheide dies. […] Der Wille des Vaters ist hier ziemlich klar. (F Susanne Christlieb 9. 2. 2014 T)

Am Phänomen des Willens können drei Aspekte analytisch unterschieden werden, die an dieser Stelle auch faktisch auseinanderfallen: die Urheberschaft für eine Handlung, die Zielgerichtetheit der Handlung aufgrund der Vorwegnahme ihres Resultats sowie die Energie, die eine Person antreibt und die benötigt wird, um die intendierte Handlung umzusetzen.156 Die planende Vorwegnahme des Handlungsresultats hat der Patient in der Vergangenheit erbracht (in der Abfassung der Verfügung); die Energie zur Umsetzung ist in der Gegenwart von Angehörigen bzw. Behandelnden aufzubringen („Wir machen dies“ bzw. „Ich entscheide dies“); die Urheberschaft für eine Handlung wird hingegen dem gegenwärtigen Patienten zugeschrieben („Der Wille des Vaters ist hier ziemlich klar“). Die Ausführung des Willens ist – unterstützt durch juristische Dokumente – von einer Person auf eine andere Person übertragen worden. Am Ende vollzieht der Sohn in Vertretung seines Vaters dessen Willen. Die juristischen Dokumente und die Auslegung derselben während der ethischen Fallbesprechung erhalten somit eine Stellvertreterfunktion für den Vater. In der Auslegung der Patientenverfügung tritt das Personsein des Patienten als Willensbestimmung (von früher), als mutmaßliches Wollen (für die Gegenwart) sowie als Willensvollzug (durch den Sohn und dann auch durch das Klinikpersonal) zu Tage. Seelsorgende sind also oftmals intensiv engagiert, wenn es um die Zuschreibung eines ‚willensförmigen‘ Personzentrums auch an den Grenzen des Personalen geht. Doch es gibt auch gegenläufige Beispiele. Dazu gehört der Fall einer demenzkranken Frau, bei der ebenfalls die Entscheidung über die Aufnahme einer – lebensverlängernden – künstlichen Ernährung (PEG-Sonde) ansteht. Ihr Sohn, gleichzeitig ihr Betreuer, kümmert sich intensiv um sie und hat in bisherigen Entscheidungssituationen mit großer innerer Sicherheit ihren mutmaßlichen Willen dargelegt. An dieser Stelle gelingt es ihm jedoch nicht, die Signale, 155 Vgl. auch Schicktanz, Selbst-Deutung, 181. 156 Throop, action, 34–35.

Momente des Personseins am Lebensende

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die er von seiner Mutter empfängt, in einen Willen zu übersetzen. Er kann nicht sagen, ob sie weiter leben will oder nicht; zu uneindeutig und widersprüchlich scheint ihm, was er wahrnimmt. Die Seelsorgerin berichtet im Interview von ihren Gesprächen mit ihm: Bis zum Schluss würde ich sagen, dass diese Unsicherheit da war. Er ist nicht zu dem Ergebnis gekommen, sie will nicht mehr essen, sie will nicht mehr leben, an dem Punkt war er nicht. Das hat es auch noch mal ein Stück schwieriger gemacht, dass, obwohl er so einen dichten Kontakt hat, da keine Klarheit war. Oder bzw. weil er so einen engen Kontakt zu der Mutter hatte, war es, glaube ich, deutlich, dass es da auch keine Klarheit gab. Die Mutter war nicht klar, glaube ich auch […]. (I Carla Drews 4. 11. 2011 E)

Gegenüber der Anforderung, einen mutmaßlichen Willen der Patientin zu formulieren, kommt die Seelsorgerin mit dem Sohn zusammen zu der Einsicht, dass von einem eindeutigen Willen an dieser Stelle nicht gesprochen werden kann. Sie führt das Scheitern des Sohnes, das Wollen seiner Mutter zu verstehen, darauf zurück, dass die Mutter sich selbst nicht eindeutig zeigt. Damit entsteht eine schwierige Situation: Auf der einen Seite ist rechtlich die Zuschreibung eines mutmaßlichen Willens unbedingt erforderlich, um die Behandlung einleiten oder unterlassen zu können; auf der anderen Seite erscheint das gerade aufgrund der Sensibilität des Sohnes und seiner großen Nähe zur Mutter nicht möglich. An dieser Stelle scheitert die Praxis der Willenszuschreibung. Die Seelsorgerin verschärft einerseits das Problem, indem sie dies zum Ausdruck bringt; auf der anderen Seite hilft sie auch, eine Lösung zu finden, eben indem sie die Situation selbst als uneindeutig versteht und dies artikuliert. Das Misslingen der Willenszuschreibung wird damit nicht als ein Scheitern des betreuenden Sohnes, sondern als situationsangemessen erkennbar. Dadurch wird die Situation nach dem Bericht der Seelsorgerin bewältigt: Der Sohn fällt nun für seine Mutter eine Entscheidung und entscheidet sich gegen eine künstliche Ernährung – eine Lösung, die medizinrechtlich irregulär ist, da für den Fall, dass ein mutmaßlicher Wille nicht ermittelt werden kann, nach ärztlicher Indikation – und in dubio pro vita – zu entscheiden ist.157 Der im Krankenhaus vorgegebenen Anforderung der Willenszuschreibung gegenüber verhalten sich Seelsorgende also unterschiedlich: In den zunächst dargestellten Fällen beteiligen sich die Seelsorgenden an der Praxis der Zuschreibung des mutmaßlichen Willens und tragen durch den Einsatz ihrer empathischen und hermeneutischen Fähigkeiten dazu bei, dass diese erfolgreich ist. Im zuletzt entfalteten Fall ist die Seelsorgerin diejenige, die das Scheitern der Praxis der Willenszuschreibung zugesteht. Auch hierdurch eröffnet sich eine Lösungsmöglichkeit; indem der Mutter der Wille als personales Moment nicht 157 Zur Praxis der Ermittlung des mutmaßlichen Willens vgl. die Beiträge in Borasio et al., Patientenverfügung.

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Verhandlungen über Personsein

mehr zugesprochen wird, tritt der Sohn als eigene Person in diese Entscheidung ein, auch wenn er sich nun nicht mehr als ausführendes Organ der Mutter verstehen kann. Symbolische Rede, Körpersprache, die Abfassung eines Textes in der Vergangenheit: Der mutmaßliche Wille einer Person wird aufgrund verschiedener Verhaltensweisen, die als Willensausdruck verstanden werden, zugeschrieben und als solcher anerkannt. Sowohl vergangenes als auch gegenwärtiges Verhalten wird in komplexen Deutungsprozessen als Willensäußerung verstanden. Die Deutung von Verhalten als Willensäußerung erweist sich dabei als sehr stabil; sie reicht weit in Situationen hinein, in denen die kognitiven Fähigkeiten der Patienten schon deutlich reduziert sind. Der Wille erscheint somit als einer der wichtigsten Aspekte des Personseins in solchen Grenzsituationen; indem er zugeschrieben wird, wird der Achtung vor dieser Person Ausdruck verliehen. Aus ethischer Perspektive ist allerdings zu fragen, ob die Praktiken der Willenszuschreibung an den Grenzen personalen Lebens nicht zuweilen überstrapaziert werden. Zwar gilt in der Behandlung Einwilligungsunfähiger dann, wenn kein mutmaßlicher Wille ermittelt werden kann, die ärztliche Indikationsstellung allein als behandlungsrechtfertigend; es ist aber fraglich, wie viel Raum für Zweifel am Erfolg einer Willensermittlung angesichts der Robustheit der Zuschreibungen des Willens noch vorhanden ist.

III.

Das Personsein von Föten und Säuglingen

Um Zuschreibung von Personsein geht es auch bei Föten, früh geborenen oder unter der Geburt verstorbenen Säuglingen. Bei Schwangerschaft, Geburt und (früher) Kindheit handelt es sich um Übergangsphasen, in deren Verlauf das neue Lebewesen zur Person wird. Dabei bestimmt jede Gesellschaft mit Hilfe soziokultureller Praktiken, ab wann ihre jüngsten Mitglieder den Status einer Person erhalten und Teil der menschlichen Gemeinschaft werden:158 Wie am Lebensende sind es auch am Lebensanfang Prozesse der sozialen Anerkennung, durch die das Personsein konstituiert wird.159 Die biologische und die soziale Geburt müssen dabei nicht zeitlich zusammenfallen. Auch ist ihr Verhältnis nicht ein für allemal festgelegt: Ethische Debatten wie diejenige über den Schwangerschaftsabbruch oder über die Selektion von Embryonen in der künstlichen Befruchtung sind Orte gesellschaftlicher Aushandlung über das Wann und Wie der Zuschreibung von Personalität an werdendes menschliches Leben. Doch jenseits dieser allgemeinen Aushandlungen besteht auch für jedes einzelne be158 Vgl. Conklin/Morgan, Babies, 657f. 159 Vgl. Kaufmann/Morgan, Anthropology, 319.

Das Personsein von Föten und Säuglingen

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ginnende menschliche Leben neu die Frage, ob, wann und inwieweit es für die mit ihm Befassten zur Person wird. Die Zuschreibung und Anerkennung des Personseins bildet entsprechend auch am Lebensbeginn eine zentrale Schnittstelle von Seelsorge und Klinischer Ethik. Seelsorgende arbeiten zumeist entschieden darauf hin, dass etwa Kinder, denen ein Weiterleben verwehrt ist, als Personen anerkannt werden. Sie begreifen diese Anerkennung als Voraussetzung dafür, dass die Eltern, aber auch die Mitarbeitenden, sich von den sterbenden oder verstorbenen Kindern verabschieden und trauern können. Unterstützend wirken dabei die Rituale der Taufe, Segnung und Beerdigung, die die Seelsorger durchführen. Insbesondere die Taufe, das zentrale Initiationsritual des Christentums, inszeniert das Werden der Person – die soziale Geburt.160 Aber auch andere, zunächst unscheinbare Praktiken befördern die Zuschreibung von Personsein. Schließlich unterstützen die Klinikseelsorger die Eltern darin, der Person ihres Kindes in materialer Form, beispielsweise durch Symbole oder Anzeigen, Ausdruck zu verleihen. Doch auch hier affirmieren die Seelsorgenden das Personsein nicht durchweg. In manchen Fällen geben sie explizit den Ambiguitäten Ausdruck, die mit einem Personseinim-Werden verbunden sind. a)

Blicken, begreifen und benennen

Zu den ‚personalisierenden‘ Praktiken, die Seelsorgende durchführen oder zu denen sie andere ermutigen, gehört es, die Kinder anzublicken, zu berühren und ihre Namen zu nennen. Durch den Blick der anderen wird das Kind zur Person. Die ehrenamtliche Seelsorgerin Renate Zimmermann berichtet von einer Segensfeier für ein Kind, bei dem die Eltern sich aufgrund der medizinischen Diagnose für einen Spätabbruch der Schwangerschaft entschieden haben: Das wurde dann [nach dem Abbruch der Schwangerschaft], das Kindchen wurde dann in so einer Nierenschale gebracht und die Schwester hat es zugedeckt. Und der Mann hat die Decke weggezogen, er wollte dass ich das sehe, dass… ich sollte es sehen, ja, ich sollte es wahrnehmen, dass es ein todkrankes Kind war. Und nicht lebensfähig, und es sah so süß aus, es war so entzückend und es ist ja schon dann so verkommen, das ist also einfach schrecklich. Und die Frau sagte dazu: „Es soll nicht in der Ewigkeit verloren gehen.“ Und dann haben wir also eben auch einen Sterbesegen gesprochen, also jedenfalls verschiedene Gebete […]. Also ich mache das dann richtig so wie einen Sterbeabschied, also richtig mit liturgischen Formen, sodass das dann auch eigentlich einen Rahmen hat, und gleichzeitig alle Zugang haben. Und dabei hatte ich eine Kerze angezündet. Und dann schrieb die Mutter mir später, dass sie diese Kerze mit ihrer achtjährigen Tochter dann immer wieder anzündet zum Gedenken an das Kind. Also insofern sind Zeichen was ganz Wichtiges. (I Renate Zimmermann 21. 6. 2012 K) 160 Vgl. Mohn, Taufe, 93.

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Verhandlungen über Personsein

Die Erzählung der Seelsorgerin zeigt, wie sehr die Zuschreibung von Personsein in prekären Situationen Aushandlungsprozessen unterliegt. Die beschriebenen Handlungen und die einbezogenen Gegenstände lassen den Personstatus des Kindes als unsicher erscheinen. Zunächst wird dieses in einer Nierenschale, also einem medizinischen Auffang-, Aufbewahrungs- und Abfallbehälter gebracht. Es ist bedeckt, eine Geste, die zwischen schützend-wärmendem Bedecken einerseits und Verbergen andererseits schwankt. Entsprechend wirkt das Aufdecken durch den Vater einerseits brutal, da es den toten Fötus in seiner Nacktheit und Ungeschütztheit preisgibt. Zudem bringt es die Seelsorgerin in eine quasi-diagnostische Rolle: Sie soll, so deutet sie die Situation, mit gleichsam ärztlichem Blick sehen, dass das Kind nicht lebensfähig gewesen wäre (und so die Legitimität des Schwangerschaftsabbruchs anerkennen).161 Andererseits sehen nun die Anwesenden das Kind, und mindestens die Seelsorgerin sieht es als Person, als Kind, das sie mit für Neugeborene üblichen Adjektiven beschreibt („süß“, „entzückend“). Auch der Satz der Mutter („Es soll nicht in der Ewigkeit verloren gehen“) lässt sich so verstehen, dass sie mit Hilfe religiöser Semantik eindrücklich den prekären Status des toten Kindes zwischen Person und Nichtperson zum Ausdruck bringt. Die Seelsorgerin führt dann einen „richtig[en]“ Sterbeabschied durch, öffnet also einen Raum, in dem das nun sichtbare Kind vollumfänglich als Person anerkannt ist. Offenkundig wird die Bedeutung des Blicks für die Zuschreibung von Personsein in einer Ansprache der Seelsorgerin Miriam Vogt, die sie bei einer Sammelbestattung hält: Sie alle sind heute hier, weil Sie um ein oder gar um mehrere Kinder trauern, um Kinder, die manchmal kaum zu sehen waren, nur ein Bild vom Ultraschall, während andere zumindest die Chance hatten, ihr Kind anzusehen, zu begrüßen, um es dann gleichzeitig wieder zu verabschieden. Für Außenstehende ist das oft kaum fassbar, weil sie es nicht sehen konnten. (M Miriam Vogt 5. 12. 2012 M)

Der frühe Anblick des Kindes auf dem Ultraschallbild oder der direkte Anblick des geborenen Kindes dienen dazu, eine Beziehung zu der Person des Kindes aufzubauen. In der – teils durch technische Apparate vermittelten – Wahrnehmung erscheint das Kind als „Du“, als personales Gegenüber. Diese Erfahrung entbehren diejenigen, die das Kind nicht sehen konnten.162 Eine solche Aufnahme einer Beziehung von Person zu Person kann auch durch Berührung geschehen.163 Auf die Bedeutung der Berührung geht die Seelsorgerin Ute Schmitz während einer Unterrichtseinheit für Hebammenschülerinnen ein: 161 Vgl. zum ärztlichen Blick Michel Foucault: Die Geburt der Klinik, insbesondere 121–136. 162 Siehe dazu auch Kapitel 3.7. 163 Vgl. auch Garten/von der Hude, Palliativversorgung, 130.

Das Personsein von Föten und Säuglingen

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In dieser Unterrichtsstunde berichtet sie, wie sie eine Mutter bei der Verabschiedung von ihrem totgeborenen Kind begleitete. Da seit der Geburt eine Woche vergangen war, lag das Kind im Kühlraum. Die Hebammen hatten das Kind in ein Moseskörbchen [einen für diesen Zweck bereitgestellten, kleinen gepolsterten Korb] gelegt und es mit einer Decke zugedeckt. Zudem trug es ein Mützchen. Dadurch wirkte das Kind gewärmt. Frau Schmitz hat das Kind gesegnet und die Mutter begleitet. Sie hat ein Gespräch mit der Mutter geführt. Die Mutter nahm das Kind auf den Arm. Der Andachtsraum war für diese zwei Stunden gesperrt. Nach dem Abschied wurde ein Stern an die Wand der Kapelle gehängt. Der Abschied sei sehr schön gewesen. Frau Schmitz sagt als Fazit, dass es sehr wichtig sei, dass das Kind gesegnet und wahrgenommen wurde. Später ergänzt sie noch, dass sie in anderen Situationen versucht, den Eltern die Angst davor zu nehmen, ihr Kind anzuschauen. Für sie sei es eine Möglichkeit, dass Kind wahrzunehmen. Dies bestätigt auch Frau Hoffmann, die katholische Seelsorgerin. Beide Klinikseelsorgerinnen sagen zudem, dass es wichtig ist, das Kind zu berühren. Für Frau Hoffmann ist dies eine Möglichkeit, den Tod zu begreifen. (F Barbara Schmitz 8./ 09. 3. 2012 T)

Die Seelsorgerin, aber auch die Hebammen, haben hier dem Personsein des Kindes durch verschiedene Praktiken Ausdruck verliehen. Dazu zählt, das Kind anzukleiden, da die soziale Haut der Kleidung dem verstorbenen Säugling zu einer Identität verhilft und der sozialen Beziehung Ausdruck verleiht.164 Zugleich zeigt das Mützchen, das ihm aufgesetzt wird, das Kind als Subjekt des menschlichen Grundbedürfnisses nach Wärme. Aber auch das direkte Ansehen des Kindes, das eine Situation personalen Gegenübers konstituiert (und entsprechend großer Überwindung bedarf) unterstützt diesen Prozess.165 Noch stärker wirkt in dieser Hinsicht die (noch in größerem Maße überwindungsbedürftige) Berührung, durch die eine Brücke zwischen Personen geschaffen wird. b)

Artefakte gestalten

Kleidung stellt einen materialen Ausdruck von Personsein dar. Die Klinikseelsorger nutzen auch andere Artefakte und Praktiken, um die Eltern darin unterstützen, dem Personsein ihres Kindes Ausdruck zu verleihen. Frau Zimmermann (s. o.) entzündet bei der Abschiedsfeier eine Kerze; eine Handlung, die die Mutter später wiederholt, um sich an das Kind zu erinnern. Auch die Anbringung eines Sterns in der Klinikkapelle trägt dazu bei. In manchen Fällen sind in dieser Klinikkapelle die Sterne mit den Namen sowie den Geburts- und Sterbedaten der Kinder versehen. Eine andere Materialisierung von Personsein stellt die Taufurkunde dar, die eine Seelsorgerin nach einer Nottaufe ausstellt. Von einer

164 Hansen, World, 373. Vgl. auch Turner, Skin, 112. 165 Vgl. dazu auch Lévinas, Antlitz, 63–70.

176

Verhandlungen über Personsein

weiteren Form, durch die das Personsein des Kindes regelrecht festgeschrieben wird, berichtet die Klinikseelsorgerin Christina Koehl: Ich habe Leute auch schon ermutigt, eine Traueranzeige in die Zeitung zu machen. Also es war, die hatten den Wunsch, haben sich aber nicht getraut, nach dem Motto, dürfen wir überhaupt, weil das Kind gab es [unverständlich]. Hinterher finden die Leute das blöd, so nach dem Motto. Ich habe sie sehr ermutigt: Na klar, das Kind hat es gegeben, es hatte einen Namen, es gab es in ihrem Leben. Klar, machen sie das. Alles, was nachher an dieses Kind erinnert. Es wird nachher diesen Zeitungsausschnitt geben, den kann man ausschneiden und aufbewahren. Und alles, was irgendwie greifbar macht, es gab dieses Kind, ist wichtig. Auf jeden Fall. (I Christina Koehl 8. 10. 2012 T)

Im metaphorischen Sinne wird diese Seelsorgerin – wie andere auch – zur Geburtshelferin, da sie die Eltern bei der sozialen Geburt ihres Kindes unterstützt. Sie ermutigt die Eltern, durch die Traueranzeige die Person des Kindes zu materialisieren und damit einen Bezugspunkt zukünftiger Erinnerungspraxis zu schaffen.

c)

Von Personen sprechen: Die Beerdigung von Föten

Ist bereits das Personsein von Menschen mit einer langen Lebensgeschichte und die von Säuglingen mit kurzer Lebensdauer prekär, so ist es noch schwieriger, Föten als Personen zu verstehen. Insbesondere indem sie Bestattungen von Föten durchführen, sind Seelsorgende daran beteiligt, diese als Personen erscheinen zu lassen. Diese Trauerfeiern und Beerdigungen führen die Klinikseelsorgenden sowohl für einzelne Föten wie auch als Sammelbestattungen oder als gemeinsame Trauerfeiern durch. Die Praxis, Menschen zu Grabe zu tragen, steht im diametralen Gegensatz zur Praxis der Entsorgung von Embryonen und Föten als organischem Abfall. Föten erhalten durch den Beerdigungsritus den Status einer fötalen Person zugesprochen.166 Vor allem die Namensnennung des verstorbenen Kindes markiert dessen Personstatus. Sabine Lorenz, eine katholische Seelsorgerin, sagt während der Ansprache bei einer Beerdigung: Alina – Deine Eltern haben Dir diesen Namen ausgesucht, so wirst Du uns allen in unserer Erinnerung bleiben und so hat auch Gott Dich beim Namen gerufen. Alina, wir segnen Dich nacheinander mit dem Zeichen des Wassers, das uns an unsere Taufe erinnert. Wir wissen Dich genauso mit Gott verbunden, wie wir es sind. (M Sabine Lorenz 2012 M)

Die Namensgebung und die Nennung des Namens sind ein Teil der sozialen Geburt, durch die das Kind in ein Geflecht sozialer Beziehungen integriert 166 Morgan, embryo, 251; Hartouni, Conceptions, 4.

Das Personsein von Föten und Säuglingen

177

wird.167 Häufig liegt hinter der Namenswahl ein längerer Prozess, da die Eltern mit dem Namen des Kindes Wünsche, Hoffnungen und Vorstellungen verbinden – eine personale Vorgeschichte des Menschen, die bis in die Zeit vor der Zeugung zurückgehen kann. Die Seelsorgerin unterstreicht die soziale Eingebundenheit des Kindes zudem durch die Segnung, die eine Erinnerung an (und einen Ersatz für) die Taufe darstellt.168 In ihrer Ansprache geht Sabine Lorenz nicht nur auf die Beziehung zwischen dem verstorbenen Mädchen und ihren Eltern ein, die auch durch die Namensgebung zum Ausdruck kommt, sondern spricht ebenso von einer Beziehung zwischen Alina und Gott. Die unvollständige und prekäre Anerkennung des verstorbenen Kindes wird durch die religiöse Symbolisierung absoluter Anerkennung durch Gott gestützt und transzendiert.169 Durch das an die Taufe erinnernde Wasser und die Namensnennung erhält diese Anerkennung sinnlichen Ausdruck. Dass im Fötus die Person bereits angelegt, aber noch nicht voll entfaltet ist, veranschaulicht hingegen ein Auszug aus einer Predigt, die der Klinikseelsorger Horst Wolf anlässlich einer Trauerfeier für Stille Geburten hält: Sie haben von mir eine Rose bekommen – eine mit Knospen, einige Blüten sind schon offen. Ich lade Sie ein, mit uns diese Knospen zu betrachten. Eine Knospe zeigt uns: es ist etwas im Werden und Wachsen; es ist noch vieles an Leben verborgen, noch nicht entfaltet; das Innere ist beschützt und behütet. Eine Knospe ist mit einer großen Hoffnung verbunden und verweist auf die Zukunft. So birgt jede Knospe ein Geheimnis, ihr Geheimnis, denn sie trägt das Ganze bereits in sich, das macht sie wertvoll, liebenswert. – Vielleicht sind Ihnen beim Hören dieser Gedanken wie selbstverständlich Erinnerungen an die Zeit mit Ihrem Kind gekommen. So einzigartig, wie Knospen sind, so einzigartig sind Ihre Kinder, derer wir heute gedenken. Sie alle waren am Wachsen. Einige von Ihnen konnten als Eltern und Geschwister das Heranwachsen für kurze Zeit erleben, aber unendlich vieles blieb verborgen. (I Horst Wolf 14. 8. 2012 T)

Eindrücklich zeichnet Horst Wolf die Kinder als Personen-im-Werden, die noch keinen vollständigen Personenstatus im Sinne eines personalen Gegenübers erreicht hatten. Dennoch werden sie durch die Trauerfeier (für einen kleinen Personenkreis) sozial sichtbar. Das Personsein dieser Kinder ist – wie das Innere der Knospe – dem Blick der anderen entzogen. Es bestand eher im Status des Möglichen als des Wirklichen.170 167 Vgl. Conklin/Morgan, Babies, 672. 168 Wie Hebammen und Seelsorgende berichten, gibt es auch eine verschwiegene Praxis der Taufe toter Kinder, vor der die Seelsorgerin hier zurückschreckt. Es ist eine offene Aufgabe, dies theologisch einzuholen. 169 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 231–250. 170 Indirekt lehnt sich Horst Wolf mit dem Vergleich der Kinder mit Knospen an das Konzept der Möglichkeit an: „As a conceptual apparatus, potentiality does complex work: to imagine or talk about potential is to imagine or talk about that which does not (yet and may never) exist.“ (Taussig/Hoeyer/Helmreich, Anthropology, 4).

178

Verhandlungen über Personsein

Auch die Seelsorgerin Heike Schütz verwendet eine florale Symbolik für werdende Personen. In einer Beerdigungsansprache vergleicht sie das verstorbene Mädchen mit einem Samen: Wussten Sie, dass ein einziges Weizenkorn, das in die Erde fällt und keimt, eine Pflanze mit bis zu 120 neuen Körnern entstehen lassen kann? […] Indem wir [das Kind beerdigen], geschieht etwas mit ihr. Und es geschieht auch etwas mit uns. Wir werden gewissermaßen mit ihr mitverwandelt, obwohl wir nicht mit hinabsteigen in diese fruchtbare Erde Gottes. Soviel fruchtbares Potenzial steckt in allem Lebendigen, das Gott hervorbringt – im Kleinen wie im Großen! So viel schöpferische Kraft […]. Im vollen Vertrauen auf diese schöpferische Verwandlungskraft Gottes dürfen wir heute Ihre kleine Tochter beerdigen.

Dieses Bild wird bei der Beisetzung nach dem Erdwurf noch einmal aufgenommen: Wie ein Samenkorn, das stirbt, damit es viel Frucht bringt, können wir deshalb jetzt Ihre kleine Tochter […] in diese Erde legen. (M Heike Schütz, Urnenbestattung, ohne Datum, K)

Die generativen Bilder der Knospe und des Samens haben hinsichtlich der Personalität des Kindes einen anderen Klang als die zuvor beschriebenen Beispiele. Während etwa die Nennung des Namens einen Menschen als ein einzigartiges Individuum und insofern als Person vergegenwärtigt, konzipieren Knospe und Samen als grundlegend nichtpersonale Bilder die Person als werdende, verborgene, entzogene. Auch Termini wie „Schmetterlingskinder“ oder „Sternenkinder“, die in diesem Kontext gebraucht werden, dienen zwar einerseits der symbolischen Vergegenwärtigung des kurzen Lebens, aber stellen dieses andererseits nicht oder nur sehr abgeschwächt als personales Leben dar. Beerdigungsansprachen und andere Vollzüge im Kontext des Todes eines Fötus oder eines Neugeborenen zeigen sich damit als differenzierte Praktiken im Umgang mit personalen Qualitäten, die zwischen einer starken Betonung und einer deutlichen Abschwächung des Personseins variieren können. Dass die Zuschreibung von Personsein im Hinblick auf den folgenden Trauerprozess auch problematisch sein kann, zeigt folgendes Beispiel eines nicht lebensfähigen Fötus: Dabei mussten [die Eltern] entscheiden, ob das Kind im Mutterleib durch eine Spritze getötet wird oder nicht. In diesem Fall haben die Eltern sich dagegen entschieden, da sie wollten, dass das Kind unter der Geburt stirbt. Die Geburt wurde eingeleitet und war sehr lang und schmerzhaft. Nach der Geburt haben die Eltern Fotos und Abdrücke vom Kind gemacht. Sie haben noch eine Nacht mit ihm verbracht. Die Asche des Kindes haben sie unter der Eiche verstreut, wo sie geheiratet haben. Jedoch gab es ein für die Mutter des Kindes tragisches Nachspiel. Das Kind hatte einen Jungennamen bekommen. Durch die Obduktion klärte sich jedoch, dass das Kind ein Mädchen gewesen war.

Das Personsein von Föten und Säuglingen

179

Für die Mutter war es ein Schock, da sie dachte, einen Jungen geboren zu haben und nun um das falsche Kind getrauert zu haben. Denn die Bindung zu dem Kind war da. (F Barbara Schmitz 8./9. 3. 2012 T)

Die Eltern hatten sich ganz bewusst dazu entschieden, das Kind in größtmöglichem Umfang als Person anzunehmen und eine, wenn auch nur sehr kurze, gemeinsame Geschichte mit ihm zu haben. Das Kind erhielt also ein Stück diachroner Identität; um so schwerer war es für die Eltern, dass ein zentrales Merkmal der Identität, das Geschlecht, sich im Nachhinein als ‚Irrtum‘ herausstellte. Insgesamt stellt sich daher im seelsorglichen wie im ethischen Kontext die Frage, wie viel Person, wie viel „Du“ jeweils möglich, wünschenswert, angemessen und erträglich ist. Seelsorgende handeln hier keineswegs nur in Richtung einer Verstärkung personaler Zuschreibungen, wie die Bilder des Samens und der Knospe zeigen, sondern vermögen es auch, den Personstatus offen zu halten.171 d)

Anerkennung inszenieren: Die Taufe

Vermutlich das mächtigste Mittel sozialer Geburtshilfe durch Seelsorgende ist die Taufe.172 Eine ihrer Funktionen ist die Integration des Novizen – des Täuflings – als ein vollgültiges Mitglied in die christliche Gemeinschaft.173 In einem Interview erzählt die Klinikseelsorgerin Ruth Lange von einer Taufe, die sie an Zwillingen vorgenommen hat. Die Zwillinge kamen durch einen Notkaiserschnitt zur Welt, da durch einen Ultraschall bei einem der Mädchen Wassereinlagerungen festgestellt worden waren. Nach der Geburt wurden bei ihr Hirnschädigungen diagnostiziert; zudem brauchte sie eine apparative Unterstützung von Herz- und Lungenfunktion. Die Eltern entschieden sich, die Therapie bei diesem Kind zu beenden. Sie baten die Klinikseelsorgerin, zuvor beide Mädchen zu taufen. Diese Taufe fand einen Tag vor der Beendigung der therapeutischen Maßnahmen statt. Im Interviewauszug berichtet Ruth Lange von ihren ersten Eindrücken, die sie von den Zwillingen hatte: [I]ch habe die beiden Kinder […] erst richtig bei der Taufe gesehen. Und da ist mir schon der Größenunterschied zum einen und zum anderen das unterschiedliche Verhalten der beiden Mädchen bei der Taufe aufgefallen. Weil eben das größere, [Name], ganz ruhig da lag, und die kleinere, [Name], die hat echt gezappelt, solange die mit dem Taufwasser betupft wurde. Das heißt, es war so […] sichtbar, wie unterschiedlich die waren. Das, es gab auch einen klaren sinnlichen Eindruck, natürlich war der ja auch 171 Zur Bedeutung religiöser Semantiken im Umgang mit Personalität siehe auch Kapitel 4.1. 172 Es soll keineswegs behauptet werden, die Taufe hätte ihren einzigen oder auch nur vorrangigen Sinn oder intendierten Zweck in der Zuschreibung von Personsein. Deutlich ist nur, dass sie dies – für einen funktionalen Blick – leistet. 173 Vgl. Mohn, Taufe, 105.

180

Verhandlungen über Personsein

schon geleitet von meiner Perspektive, aber zumindest hat da nichts mehr dagegen gesprochen. […] Ich habe die Eltern gefragt, und für die Eltern war die Entscheidung bei der Taufe eigentlich schon klar [dass die Geräte abgeschaltet werden würden]. (I Ruth Lange 8. 5. 2012 T)

Der Abschnitt zeigt eine deutliche Spannung zwischen der Gleichbehandlung der beiden Zwillinge als vollgültiger Personen in der Taufe und dem Wissen der Seelsorgerin, dass das eine Mädchen aufgrund der Entscheidung der Eltern bald sterben wird. In der Taufsituation selbst nimmt sie zum ersten Mal beide Kinder wahr; und ihr Blick wird zum ärztlichen Blick, der die Unterschiede im Aussehen und Verhalten der beiden registriert und damit die getroffene Entscheidung rechtfertigt. Hier stehen ein religiös-unbedingtes und ein empirisch orientiertes Personkonzept unvermittelt nebeneinander. An einer anderen Stelle des Interviews bezieht sich die Seelsorgerin in diesem Zusammenhang auf Elektroenzephalogramme des kranken Kindes. In diesen Messungen zeigte sich keine Hirnaktivität – ein Befund, der im Kontext eines „westlichen“, kognitiv zentrierten Personkonzepts, wie es etwa dem Hirntodkriterium zugrunde liegt, als Verlust von Personsein gelten muss.174 Die Spannung zwischen der religiösen Gleichbehandlung und der medizinischen Ungleichbehandlung der beiden Zwillinge führt zu einem Legitimationsbedarf, den die Seelsorgerin noch während der Taufe empfindet und im Nachhinein benennt. Offenbar kostet es sie einige Mühe, in der Taufe die personale Gleichwertigkeit der beiden Mädchen angesichts der Erfahrung ihrer Unterschiedlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Doch ähnliches gilt offenbar auch für den Arzt: Ist er im Umfeld die Taufe für die Seelsorgerin die Instanz, die die bevorstehende Ungleichbehandlung legitimiert,175 so wird umgekehrt die Seelsorgerin für den Arzt bei der Situation der Geräteabschaltung zu einer „Bezeugungsinstanz“,176 vor der er sich noch einmal rechtfertigt, bevor er die lebenserhaltenden Geräte des einen Mädchens abnimmt. Taufe und Geräteabschaltung, religiös-kontrafaktische Zuschreibung vollen Personseins an beide Mädchen in der Taufe und diametral entgegengesetzter medizinischer Umgang mit beiden in der Folge, Affirmation des Lebensrechtes als Grundrecht der Person und Zulassen des Sterbens sind hier miteinander tief verwoben.

174 „The conceptual bedrock of brain death is the cherished principle of that culture, especially in the Enlighment philosophy espoused by intellectuals since the 17th century primarily in France, England, Germany, and the United States, whereby rationality is the most important criterion for humaness. As a corollary, the brain – the seat of rational thought – occupies the most prominent place among the body parts. In this dominant ‚Western‘ philosophical perspective a ‚person‘ ceases to exist when the functions located in the cerebrum are ‚irreversebly‘ lost.“ (Ohnuki-Tierney, Brain Death, 237), Conklin/Morgan, Babies, 658. 175 „Und dann sagte er noch mal, das ist auf jeden Fall gut.“ (I Ruth Lange 8. 5. 2012 T). 176 Siehe dazu Kapitel 3.4.

Fazit: Personsein an den Grenzen des Lebens

181

Als Resümee lässt sich sagen, dass die Klinikseelsorger in Momenten, in denen der Lebensanfang und das Lebensende nah beieinander liegen, eine hohe Sensibilität für Fragen des Personseins der Kinder zeigen. Hier begleiten sie Eltern in der sozialen Geburt ihrer Kinder und affirmieren deren Personstatus; dort artikulieren sie Unsicherheiten und halten den Personstatus offen. In der Taufe wird ein religiöser Personstatus auch dann zugeschrieben, wenn zentrale personale Qualitäten, wie sie mit dem Gehirn assoziiert sind, als unwiederbringlich erloschen gelten. Zwischen Medizin, Familie und Religion treffen in diesen Situationen verschiedene Personkonzepte abrupt aufeinander; ihre Spannung wird tief empfunden und rituell artikuliert.177

IV.

Fazit: Personsein an den Grenzen des Lebens ist eine prekäre Zuschreibung

Am Lebensanfang und -ende entwickeln sich in den genannten, medizinisch prekären Situationen Praktiken im Umgang mit reduziertem Personsein. Die Betreuenden stehen – nicht nur, aber auch im Kontext der Findung und Legitimation von Behandlungsentscheidungen – in Aushandlungsprozessen um das Personsein dieser Patienten. Im Fall älterer Personen können die Angehörigen und das medizinische Personal dabei in der Regel auf die Lebensgeschichte der Personen zurückgreifen. Wenn die personale Zentriertheit zurücktritt und die Patienten insbesondere nicht mehr als voluntative Subjekte auftreten, kann diese personale Qualität durch die Betonung der diachronen Identität gleichsam ersetzt werden. Wenn das Behandlungsteam versucht, musikalische und Geschmacksvorlieben einer bewusstlosen Patientin zu eruieren und diesen zu entsprechen, erscheint die Patientin auf andere Weise als Person. Anders als es die geläufige Rede von einem kognitions- bzw. gehirnzentrierten „westlichen“ Personkonzept nahelegt, reichen die Praktiken der Zuschreibung von Personsein weit über den kognitiven Bereich hinaus. Entsprechend zeigen Seelsorgende im Umgang mit Demenzkranken eine Hermeneutik, die diese auch bei stark reduzierten kognitiven Fähigkeiten als Personen versteht. Kognition als Personalitätsmarker kann in diesem Sinne durch Identität (oder auch durch Urheberschaft im Sinne eines natürlichen Willens) ersetzt werden. Eine solche Verschiebung personaler Zuschreibungen und entsprechender Praktiken ist bei Föten oder Säuglingen, die sterben, nur sehr bedingt möglich. Hier betätigen sich insbesondere die Seelsorger als Geburtshelfer, indem sie die Eltern, in ihrem Bestreben, dem Personsein ihres Kindes Ausdruck zu verleihen, unterstützen. Die Abnahme von Hand- und Fußabdrücken, die Nennung des 177 Dazu siehe auch Kapitel 3.7.

182

Verhandlungen über Personsein

Namens, die Berührung der Haut repräsentieren Individualität und, wenngleich unter Umständen sehr kurzzeitige, diachrone Identität. Materielle Artefakte und Symbole sowie Rituale wie Taufen oder Segnungen stützen die soziale Geburt des Kindes. Sie können im Kontext konkreter Entscheidungssituationen stehen und insofern ethisch relevant sein.178 In jedem Fall gehören sie zur Hintergrundaffirmation des Wertes menschlichen Lebens, die Seelsorgende und andere durch solche Praktiken in Kliniken immer wieder vollziehen, und in deren Kontext sich auch jede in der Klinik getroffene Behandlungsentscheidung rechtfertigen lassen muss. Klinikseelsorgende sind in Aushandlungsprozessen um das Personsein besonders engagiert; diese bilden ein wichtiges Scharnier zwischen ihren im engeren Sinne seelsorgerlichen und ihren ethischen Aufgaben. Dabei sind Klinikseelsorgende in vielen Situationen an der Zusprechung und Stärkung des Personenstatus beteiligt. Sie nehmen Patientinnen und Patienten – oftmals wider den Augenschein – auf verschiedenen „Kanälen“ als kommunikations- und beziehungsfähig wahr und bringen dies zum Ausdruck. Ferner stellen Tauf- und Segenshandlungen seelsorgliche Praktiken dar, in denen das Personsein eines Menschen affirmiert wird. In anderen Situationen, wie beispielsweise bei der Beerdigung von Föten, verdeutlichen Auszüge aus Predigten, dass die Klinikseelsorgenden sich zum Personenstatus dieser Föten ambivalent verhalten und diesen mit Hilfe bildhafter Sprache und religiöser Semantiken teils unterstreichen (Namensnennung), teils abschwächen. In den religiösen Handlungen kommt zusätzlich zu den einleitend genannten Personmomenten ein Weiteres zur Geltung: das Personsein-vor-Gott. Wenn auch personale Zentriertheit, Identität, soziale Einbettung und juridische wie moralische Rechtsträgerschaft problematisch werden, verbleibt diese letzte Zuschreibung, die die kontrafaktischen Elemente des Personseins – wie auch dessen Verborgenheit – im Modus religiös-symbolischer Redeweise aufnehmen kann. Dabei kann die religiöse Affirmation des Personseins als Korrektiv eines kompetenzorientierten Personenkonzepts dienen, das an empirisch feststellbaren „Personqualitäten“ orientiert ist. In ihrer praktischen Anthropologie treten Seelsorgende also nicht durchweg als „Anwalt der Person“179 oder als „Stimme der Patienten“180 im Sinne einer Affirmation des Personstatus eines Patienten auf, sondern bringen durchaus auch den prekären Charakter personaler Zuschreibungen zum Ausdruck. In ethischer Hinsicht wird dies wiederum etwa dann relevant, wenn Seelsorgende sich an der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens – auch dies eine 178 Siehe auch Kapitel 3.7. 179 Atzeni/Voigt, Religion, 229. 180 Bentele, Ethikberatung, 40.

Fazit: Personsein an den Grenzen des Lebens

183

schwierige personale Zuschreibung – beteiligen. Hier zeigen sie sich in vielen Fällen direkt involviert in hermeneutische Praktiken der Zuschreibung eines mutmaßlichen Willens aus Patientenverfügungen oder verbalen wie nonverbalen Äußerungen nichteinwilligungsfähiger Patienten. Doch auch die Artikulation der Einsicht, dass die Zuschreibung eines willensförmig-eindeutigen Strebeziels problematisch sein kann, gehört zum Spektrum seelsorglicher Möglichkeiten. Ethisch birgt diese lebensweltliche wie religiöse Erfahrung der Präsenz und Verborgenheit von Personsein eine wichtige Einsicht.181 Je „mehr Person“ insbesondere im Sinne einer willensförmigen Subjektivität einer Patientin oder einem Patienten attestiert wird, desto stärker sind Team und Angehörige bei Behandlungsentscheidungen entlastet, da sie die eigenen Handlungen als Ausführung des Patientenwillens verstehen können. Mit Hilfe der Zuschreibung von Personsein wird also die Balance von Fürsorge und Selbstbestimmung jeweils neu justiert.182 Der Umgang mit personalen Kategorien stellt also sowohl in im engeren Sinne seelsorgerlicher wie auch in ethischer Hinsicht ein komplexes Spannungsfeld dar. In der Überschneidung und möglichen Kollision lebensweltlicher, ethischer, medizinischer und religiöser Vorverständnisse und Konzepte von Personsein müssen Seelsorgende mit hoher Sensibilität agieren – einer Sensibilität, die sie aus ihrer theologischen Reflexionstradition mitbringen, aber auch feldspezifisch weiter zu entwickeln haben.183

181 Zur ethischen Relevanz von Personkonzepten vgl. auch Parish, Persons, 31–50. 182 Dazu siehe auch Kapitel 3.3. 183 Siehe dazu Kapitel 4.1 und 4.2.

184

3.6 I.

II.

III.

IV. V.

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache a) Selbstverortung von Seelsorgenden angesichts der Dominanz medizinischer Sprache b) Seelsorgliche Übergänge zwischen den Welten oder „die Kunst, sie zusammenzubringen“ Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden a) Religiöse Rede in der Klinik: Eine Bestandsaufnahme b) Biblische Bildsprache: Die Gleichnisse Jesu c) Religiöse Glaubenssprache: Nächstenliebe und Geschöpflichkeit d) Theologische Theoriesprache: Befreiungstheologie e) Exkurs: Räume und Raumkonflikte f) Funktion und Grenzen religiöser Sprache im ethischen Kontext Moralische und entmoralisierende Rede a) Juridische Sprache als Artikulation des Ethischen b) Die Rede von Würde als moralische Verstärkung c) Die Rede von Schuld und Schuldgefühlen zwischen Moralisierung und Entmoralisierung d) Die Rede von Ambivalenz als Distanzierung von einem eindeutigen moralischen Urteil e) Funktion und Grenzen moralischer Sprache im ethischen Kontext Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen: Der seelsorgliche Umgang mit nonverbaler Kommunikation Fazit: Seelsorgende haben ein Gespür für Sprache als Form des Ethischen

Bei der Frage, wie Seelsorgende mit ethischen Problemen umgehen, haben die beiden vorangegangenen Kapitel den Fokus auf zwei thematische Konzepte gerichtet, die sich aus dem Studienmaterial ergeben haben: Gewissen und Personalität. Dieses Kapitel lenkt die Perspektive auf eine andere Ebene. Es geht um Sprache und Grenzen von Sprache im Hinblick auf professionelle Rollen, ethische Haltungen und moralische Verständigung. Sowohl ein reflektiertes Rollenverständnis als auch eine klare ethische Haltung stellen notwendige Voraussetzungen für überlegtes Handeln in ethischen Situationen dar. Folgende Fragen sollen geklärt werden: Wie verhalten sich Seelsorgende zu den ethisch relevanten Sprachproblemen in der Klinik? Welche kommunikativen Funktionen erfüllt dabei religiöse und ethisch-moralische Sprache? Wie verwenden und deuten Seelsorgende nonverbale Kommunikation? In der Klinik finden sich Seelsorgende in einem System vor, in dem mehrere Sprachen gesprochen werden. Dabei ist die medizinische die mit Abstand dominanteste, und Seelsorgende berichten von ihren unterschiedlichen Wegen, sich mit dieser Fachsprache zu arrangieren. Neben der medizinischen Fachsprache

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache

185

mischen sich noch andere in das klinische Sprachkonzert: So sind auch rechtliche, ökonomische und religiöse Redeweisen zu vernehmen. Mit und hinter den unterschiedlichen Sprachen werden normative Vorannahmen transportiert, die untrennbar mit der jeweiligen Sprache verbunden sind. Insofern kann man von „Sprachwelten“ sprechen. Denn jede Sprachwelt „interpretiert und konstruiert Wirklichkeiten, artikuliert Selbstverständnisse und Menschenbilder, formuliert Sinnhorizonte, die im Dialog der unmittelbar [B]eteiligten […] nicht selten ausgeblendet werden.“184 Seelsorgende nehmen die Dominanz medizinischer Sprache in der Klinik wahr und reagieren darauf mit Rollenbeschreibungen und sprachlichen Übergängen zwischen den Sprachwelten (Abschnitt I.). Seelsorgende reagieren aber nicht nur auf die klinische Vielsprachigkeit. Sie bringen vielmehr ihr genuin theologisches Handwerkszeug ein. Dazu gehören religiöse Redeweisen genauso wie ethisch-moralische Sprache. In Abschnitt II. schließen sich an eine Bestandsaufnahme, wo religiös gesprochen wird, Ausführungen darüber an, was die Seelsorgenden mit der Verwendung dieser Sprachformen erreichen. Abschnitt III. behandelt dies analog für moralisches Sprechen der Seelsorgenden in der Klinik. Abschnitt IV. widmet sich den Grenzen der Sprachlichkeit und analysiert nonverbale Praktiken in der Seelsorge sowie die grundsätzliche Vorsicht von Seelsorgenden gegenüber der Deutung von Körpersemantiken.

I.

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache Language constructs world. To have a world, to live in a world, means, for humans, to inhabit a time and place in which a certain language is connected with experience to give meaning to that experience. […] Whenever any event occurs in our lives […] it does not become an experience to us until language is attached to the event and it is given meaning.185

Das Zitat des amerikanischen Pastoraltheologen Charles V. Gerkin greift eine sprachtheoretisch grundlegende Ansicht auf: Die Welt, in der wir leben, wird durch Sprache konstruiert. Die Kritik am sogenannten linguistic turn aufgreifend, wird hier die Sprachtheorie nicht soweit getrieben, dass es außerhalb der Sprache keine Wirklichkeit gäbe. Aber erst durch Sprache werden Ereignisse zur bedeutungsvollen Erfahrung und damit Teil unserer je eigenen Welt. Damit geht einher, dass es neben der welterschließenden auch die weltbegrenzende Dimension der Sprache gibt. In Anschluss an Heidegger kann man vom ‚entdeckenden‘ und dem ‚verdeckenden‘ Aspekt von Sprache reden: 184 Ingensiep/Rehbock, Sprache, 10. 185 Gerkin, Human, 39f.

186

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Sprache bedingt und ermöglicht nicht nur menschliches Denken, Erkennen und Handeln, sie begrenzt und beschränkt es auch in seinen Möglichkeiten. Die sprachliche Darstellung der Wirklichkeit, und so auch der menschlichen Situation, erfolgt im Rahmen von Begriffssystemen und Darstellungsformen, die bestimmte Aspekte der Realität beleuchten und „entdecken“, andere dagegen ausblenden und „verdecken“ (Heidegger).186

Der verdeckende Aspekt von Sprache besagt, dass es etwas anderes gibt, das mit der verwendeten Sprache nicht erfasst wird. Dieses Andere kann beispielsweise etwas sein, das von anderen Sprachen ausgedrückt wird. Darunter sind nicht nur Fremdsprachen, sondern auch verschiedene Fach- und Alltagssprachen zu verstehen. Aber das Andere kann auch etwas sein, das von Sprachen benannt wird, aber nicht darin aufgeht. Die Pointe ist also keine bestimmte Sprachphilosophie im Sinne des linguistic turn. Es geht um Sprache als Perspektive, die eine Sprachwelt erschafft und etwas anderes verdeckt. In diesem Sinne lässt sich von verschiedenen an Sprache gebundenen Welten sprechen, die voneinander abgegrenzt sind und das Andere der anderen Welt ausblenden.187 In der Klinik lassen sich verschiedene Sprachen und damit verbundene Sprachwelten unterscheiden, die sich voneinander abgrenzen und sich gegenseitig durchdringen. Das sind die an Fachsprachen der verschiedenen Berufsgruppen gebundenen Sprachwelten, aber auch die Welt der Alltagssprache. Es geht im Folgenden vor allem um drei Beziehungsmuster der Sprachwelten untereinander: Verdeckung, Ausgrenzung und Durchdringung. Diese Muster sind mit ethischen Problemen behaftet, die bei sprachkritischer Analyse zutage treten. Die Durchdringung von Sprachwelten ist Thema in Abschnitt III. Abschnitt I. stellt dar, wie Seelsorgende in der Dominanz medizinischer Sprache Formen der Verdeckung und Ausgrenzung wahrnehmen und mit welchen Rollenbeschreibungen sie dieser Wahrnehmung begegnen (I.a). Des Weiteren reagieren Seelsorgende auf die Dominanz medizinischer Sprache mit sprachvirtuosen Übergängen zwischen verschiedenen Sprachwelten (I.b). a)

Selbstverortung von Seelsorgenden angesichts der Dominanz medizinischer Sprache

Mit gutem Grund ist medizinische Fachsprache die Sprachform, die in der Klinik einen zentralen Stellenwert einnimmt. Denn medizinische Fachsprache erschließt die Körperlichkeit von Patientinnen und Patienten und bildet die 186 Ingensiep/Rehbock, Sprache, 11. 187 Alternativ wird im Folgenden auch von „Sphären“ und „Sprachwelten“ gesprochen. Die „Sprachwelten“ haben direkten Anschluss an Gerkins Begriff der „language worlds“ (Gerkin, Human, 53f), der die Unhintergehbarkeit von Sprache für unser Weltverständnis ausdrückt.

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache

187

Grundlage für Diagnostik und Therapie. Die reduktionistische Sprachform der medizinischen Fachsprache übt bisweilen eine so große Dominanz aus, dass auch Seelsorgende sich dieser Sprache bedienen.188 Andere Dimensionen des kranken Menschen werden mit dieser Sprachform traditionell nicht abgebildet, wie zum Beispiel die sozialen und spirituellen Bedürfnisse. Für die Erfassung dieser Dimensionen müssen die Sprecher in andere Fachsprachen oder in Alltagssprache wechseln. Zu dem, was von medizinischer Sprache ausgeblendet wird, gehören punktuell auch die ethischen Probleme, welche die medizinische Praxis betreffen. Das Ethische ist […] sozusagen auf verborgene und daher auf oft umso problematischere, kritikbedürftige Weise präsent, etwa in Form einer impliziten normativen Haltung hinsichtlich der Behandlungsmethoden, die als besonders bewährt, evidenzbasiert, durch Studien abgesichert gelten […]. Dass das aus objektivierender, schematisierender medizinischer Sicht Beste auch das für den Patienten in seiner individuellen Situation Beste ist und dass genau das auch getan werden soll, das wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt.189

Manche Seelsorgende empfinden angesichts der Verborgenheit des Ethischen einen Solidarisierungswunsch mit „Ethik“. Gegenüber „Ethik“ äußern sich die Seelsorgenden grundsätzlich positiv. Auch bei der Rede von „Werten“ und „Wertvorstellungen“ zeigten sich die Seelsorgenden durchaus aufgeschlossen.190 Für den Seelsorger Philipp Vogt sind die Mitglieder des Ethikkomitees Mitglieder einer Werte- und Sprachgemeinschaft. Sie trauen sich, die „Schattenseite der Medizin“ zur Sprache zu bringen. Und zwar ihre massiven Schattenseiten. Also das kann man in der Ethik gut unterbringen und auch ansprechen. Und da sind wir ein bisschen unter unseresgleichen, weil wir auch diese Schattenseiten zur Sprache bringen; auch die Tabuzonen, was sonst schwieriger ist. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Unter den Schattenseiten des Medizinsystems versteht der Seelsorger alles, was dem Image des gut funktionierenden Systems schaden könnte: das Eingestehen von Fehlern, die Rede von der Rationierung von Ressourcen und das Ansprechen des Tabuthemas Endlichkeit. In der Sprachwelt der Ethik fühlt sich der Seelsorger

188 Eine Seelsorgerin spricht von „Blinddärmen“ und „Leistenbrüchen“ anstatt von Patienten. Weitere Ausführungen zu diesem Zitat s. u. 189 Fiebach et al., Sprache, 52. 190 Auf folgende Interviewfrage, die auf das Funktionssystem „Moral“ abzielt, antworteten Seelsorgende mit Beispielen aus der Praxis: „Interviewerin: […] Ich suche nach einer Situation, wo Sie in einem Seelsorgegespräch am Krankenbett oder in einem Seelsorgegespräch mit einer Pflegekraft, einem Arzt, gemerkt haben, dass das, was Sie leitet, das, was Ihre Werte, Überzeugungen ausmacht, in Spannung steht zu den Werten, den Grundüberzeugungen, Ihres Gegenübers.“ (I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E) Vgl. auch I Carla Drews 4. 11. 2011 E; I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E und I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E.

188

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

unter seinesgleichen, weil die verborgenen ethischen Probleme der Medizin ans Licht gebracht werden. Zwischendurch lässt sich festhalten: Ethisch relevant sind die seelsorglichen Reaktionen auf die Verborgenheit des Ethischen und auf die Hermetik medizinischer Fachsprache. „Ethik“ ist für Seelsorgende einerseits eine Sprachwelt, die „Schattenseiten“ des Medizinsystems ausleuchten kann. Andererseits wird „Ethik“ als Gemeinschaft jenseits professionsspezifischer Abgrenzung wahrgenommen, als eine Art übergreifender Kommunikation. Neben der verdeckenden Funktion von Sprache lässt sich auch eine ausgrenzende Funktion feststellen. Dies zeigt sich in der seelsorglichen Begegnung mit medizinischer Fachsprache. Der Seelsorger Philipp Vogt schildert seine Eindrücke von ärztlichen Visiten: Ich hab dann da so einen Zettel mit verschiedenen Kürzeln, die ich mir inzwischen schon so etwas entziffert habe. Da brauchst du einfach nur ins ärztliche Abkürzungsverzeichnis gehen. Oder mitunter weißt du das auch und kriegst es mit Dauer der Zeit mit, wenn du immer auf denselben Stationen bist, was das heißen könnte. Und trotzdem weiß ich nie ganz genau die ärztliche Geschichte. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Die Sprachwelt der Medizin äußert sich für den Seelsorger Philipp Vogt in Kürzeln und Chiffren, die übersetzt werden können. Aber es gibt da auch bleibendes Nichtwissen gegenüber der „ärztlichen Geschichte“. Damit können inhaltliche Fakten über die jeweilige Patientin gemeint sein, die sich Nichtmedizinern mangels Fachwissen nicht erschließen. Der Ausdruck „ärztliche Geschichte“ kann aber auch heißen, dass der Seelsorger die Welt der Medizin als hermetisches System wahrnimmt, wo Ärztinnen und Ärzte unter sich bleiben. An anderer Stelle spricht eine Seelsorgerin drastischer von der Konfrontation mit der medizinischen Sprachwelt: Es ist natürlich ein großer Unterschied, ob ich jetzt mit einem Mediziner rede, der mir dann auch ein paar Fachbegriffe um die Ohren haut, die ich nicht verstehe, wo ich dann nachfragen muss. (I Katharina Läge 14. 6. 2012 KT)

Diese Aussage ist Ausdruck dafür, dass die Seelsorgerin die Welt der Medizin als bewusst ausgrenzend erlebt. Das Mittel der Ausgrenzung sind die Fachbegriffe und die Art, wie diese verwendet werden. Die Seelsorgerin schaut im weiteren Verlauf dann auch kritisch auf ihre eigene Sprache und fragt, wo sie sich unverständlich ausdrückt, und was sie zur besseren Verständigung beitragen kann. Die von den Seelsorgenden erlebte Ausgrenzung lässt sich systemtheoretisch rekonstruieren. Das Medizinsystem zielt wie alle Funktionssysteme darauf ab, einen innerärztlichen Kommunikationsbereich abzustecken und ein Alleinstel-

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache

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lungsmerkmal gegenüber anderen Systemen zu markieren.191 Von beiden Zitierten wird dies als Ausgrenzung erlebt, auf die sie unterschiedlich reagieren. Eine Umgangsweise besteht im Versuch, die medizinische Fachsprache zu verstehen, durch Nachfragen und Selbststudium. Eine andere Reaktion ist die Erkenntnis, dass es einen bleibenden Graben des Nichtverstehens gibt, und „die ärztliche Geschichte“ nie ganz verstanden wird. Wieder eine andere Reaktion ist die Anerkenntnis der Seelsorgerin, dass sie selber eine Sprache spricht, die bisweilen unverständlich und übersetzungsbedürftig sein kann. Zu den Reaktionen auf die Dominanz der medizinischen Sprachwelt gehört es auch, dass Seelsorgende eine professionelle Rolle entwickeln und sich dadurch in der Klinik verorten. Dabei zeigen sie antagonistische Rollenverständnisse, mit denen sie sich mit nichtmedizinischen Gruppen identifizieren (1). An anderer Stelle nehmen sie sich aus Widersprüchen heraus und vertreten ein desintegratives Rollenbild, das sich jeglicher Identifikation und Zuordnung zu einer Sprachwelt entzieht (2). Gegenüber Kapitel 2.2, wo es um seelsorgliche Rollenverständnisse in der Konfrontation mit Ethik geht, liegt hier der Fokus auf Rollenbeschreibungen, die aus der Abgrenzung von der medizinischen Sprachwelt entstehen. (1) Die Seelsorgerin Christine Stein-Böttler erzählt von einem Palliativpatienten, mit dem man laut der Dienstbesprechung halt massive Probleme […] hat, weil er nicht einsichtig ist und vielleicht auch nicht geistig erfassen kann, was Hospiz heißt. (I Christine Stein-Böttler 25. 10. 2011 E)

Den Vorschlag, zeitnah in ein kliniknahes Hospiz verlegt zu werden, lehnte der Patient ab und wollte in ein heimatnahes Hospiz verlegt werden, das aber zu dem Zeitpunkt keine Plätze frei hatte. Wenn dem Patientenwunsch Folge geleistet würde, würde sich die Verlegung weiter verzögern, und das Klinikbett wäre weiter belegt. Die Seelsorgerin gab dem Wunsch des Patienten eine Stimme und wies beharrlich auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hin. Dadurch zog sie in den Dienstbesprechungen Kritik auf sich und beschreibt die Atmosphäre auf der Palliativstation so: „Alle gegen den Pfarrer und den Patienten.“ Mit dem Bild des Sprachrohres findet sie dann eine Sprache für ihre antagonistische Funktion innerhalb der Klinik: Und die böse Pfarrerin hat jetzt ihren Ruf ab. Das ist Kommunikation: Man kann, wenn man eine Stellung hat, alles äußern. Und ich werde deshalb nicht geschnitten. Es wird natürlich gelästert, klar, aber ich kann mich hinstellen […] und Sprachrohr sein für jemand, der sich vielleicht nicht mehr in der Weise äußern kann und unter Umständen keine Angehörigen hat, die sich hinstellen und sagen: „Das machen wir nicht mit! Da geben wir nicht unsere Einwilligung!“ (I Christine Stein-Böttler 25. 10. 2011 E)

191 Vgl. Luhmann, Code, 183–195.

190

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Das Bild des Sprachrohres dient dazu, das eigene Handeln zu rechtfertigen und mit dem Ruf der „bösen Pfarrerin“ umzugehen.192 Das Bild des Sprachrohres hat keine unmittelbar biblischen Anklänge, ist aber gut vereinbar mit dem Bild eines Propheten, der Anfeindungen aushalten muss und sich gleichzeitig der Notwendigkeit seiner Mission gewiss ist. Mit der sogenannten „prophetischen Dimension“ der Seelsorge bezeichnet der Seelsorgetheoretiker Michael Klessmann „eine kritische widerständige Haltung bezogen auf einen konkreten Kontext“.193 Die zitierte Seelsorgerin beschreibt mit der „bösen Pfarrerin“ und dem „Sprachrohr“ eine Rolle, die sich im konkreten Klinikkontext verortet und von innen heraus Kritik übt sowie Veränderung bewirken will. Das Bild des Sprachrohres ermöglicht es der Seelsorgerin, ihre Positionierung als passives Sich-Zur-Verfügung-Stellen zu deuten und für diese Position aber aktiv einzutreten. Im Bild des Sprachrohrs gesprochen, hat sie nur die Funktion, der Stimme des Patienten Gehör zu verschaffen. (2) Anders ist es, wenn Seelsorgende sich als „Alien“ (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E) oder als „dazwischen“ (F Christine Stein-Böttler 16. 2. 2012 K) bezeichnen.194 Dies sind Sprachbilder, mit denen sich die Sprecherinnen der Zuordnung zu einer bestimmten Sprachwelt entziehen: weder Kirche noch medizinisches Team. In dem Sinne desintegrieren sich die Seelsorgerinnen mit dem „dazwischen“ aus beiden genannten Gruppen. Weitere Sprachbilder für eine Rolle, die sich aus den Arbeitskontexten herausnimmt, liefert ein Zitat des Seelsorgers Philipp Vogt. Darin antwortet er auf die Frage, worin denn seine Anerkennung und Kompetenz im Behandlungsteam bestehe: Diese Unbefangenheit und so ein Bindeglied zu sein. Ich trage keinen weißen Kittel, den tragen wir nach wie vor nicht. Ich bin außerhalb, ich bin Fremdarbeiter, Wanderarbeiter, außerhalb dieses Klinikinstrumentariums. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Die Externität gegenüber dem Kontext wird auch von Philipp Vogt am Ende durch das „außerhalb“ herausgestrichen. Und der Gegensatz zur Arztrolle wird

192 Die Seelsorgerin Andrea Schreiber verwendet für sich die Bezeichnung „Buh-Frau“. Hier ist die Situation anders gelagert: „Sie wurde von der Frau eines sterbenden Patienten gerufen mit der Bitte um Gebet und Segen. Doch bei dem Besuch erlebte sie sich als Buh-Frau, nachdem der Patient am Ende fragte, ‚ob es denn schon so weit sei‘ mit ihm.“ (F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K). Die „Buh-Frau“ ist aber ebenso ein sprachliches Mittel für die Rollenbeschreibung in einer antagonistischen Situation. Das „Buh“ kann sich darauf beziehen, dass die Seelsorgerin sich als Medium von der Ehefrau missbraucht gefühlt hat. Oder das „Buh“ kann der Erfahrung gelten, dass sie als Seelsorgerin ungewollt mit dem Thema Tod und Sterben identifiziert wird. 193 Klessmann, Dimension, 241. Vgl. auch Kapitel 2.1 im vorliegenden Buch. 194 Seelsorgende wechseln zwischen verschiedenen Rollenkonzepten, wie in diesem Fall Christine Stein-Böttler.

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache

191

mit dem Verweis auf den weißen Kittel, den Seelsorger bewusst nicht tragen, betont. Es ist bemerkenswert, dass der Seelsorger Philipp Vogt mit diesem Rollenbild zu einer seelsorglichen Haltung kommt, die etwas Verbindendes stiftet. Gerade dadurch, dass Philipp Vogt seine „Unbefangenheit“ betont und er sich als „Fremdarbeiter“ bezeichnet, sieht er sich als ein „Bindeglied“ zwischen den verschieden Gruppen in der Klinik. „Unbefangenheit“ meint hier keine Unwissenheit oder Naivität der medizinischen Welt gegenüber. Was darunter zu verstehen ist, erläutert der Seelsorger Philipp Vogt an anderer Stelle, wo er über seine Eindrücke bei den ärztlichen Visiten auf der Onkologie erzählt: Ich habe natürlich nicht das Vorwissen, aber ich habe dadurch einen großen Gewinn, weil ich dann nicht auf diese Schiene komme, dass ich noch parallel etwas Ärztliches durchdenken muss. […] Aber ich denke, wenn ich nicht soviel weiß, dann hab ich mehr die Antennen offen auf dem anderen, wenn ich als Seelsorger komme und nicht als Arzt. Und das finde ich schon mal sehr, sehr gut. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Was wie ein geschickter Umgang mit der eigenen medizinischen Unwissenheit anmutet, deutet der Seelsorger für sich als eine ‚gewählte‘ Unwissenheit. Sein Gewinn aus dieser Rolle ist eine bewusst distanzierte Sicht auf die medizinischen Wissensbestände. Seine Anerkennung dieser Distanz empfindet er als ein Privileg, das es ihm mehr als den medizinisch Eingeweihten ermögliche, „die Antennen offen auf dem anderen“ zu haben. Damit umschreibt er eine Haltung der Fürsorge, wie schon an anderen Beispielen in Kapitel 3.3 gezeigt wurde. Mit „dem anderen“ ist entweder eine Person oder eine Sache gemeint. Wenn man es hier personal deutet, dann sind diejenigen Menschen im Blick, die ebenfalls durch die Fremdheit der medizinischen Sprache betroffen sind. Das sind zuerst die Patientinnen und deren Angehörige, aber es können auch Personen im therapeutischen Team gemeint sein, die von einer ärztlich dominierten medizinischen Fachsprache ausgeschlossen sind (Pfleger, Sozialarbeiterinnen, Musiktherapeuten etc.). Hier erschließt sich nun auch der Begriff des „Bindeglieds“, den Philipp Vogt im Zusammenhang mit dem „Fremdarbeiter“ aufgebracht hatte. Denn durch die Fähigkeit zur gewählten Unwissenheit kann er aus der nichtmedizinischen Perspektive eine Verbindung zur medizinischen Welt herstellen. Er und andere Seelsorgende berichten zum Beispiel davon, dass sie in Visiten Verständnisfragen stellen und für Patienten sowie für Angehörige als Übersetzerinnen medizinischer Fachsprache agieren. Andere Seelsorgende erzählen auch von der Möglichkeit, Schuldgefühle und das Erleben von Scham zu erfragen und es gegenüber dem therapeutischen Team zu verbalisieren.

192 b)

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Seelsorgliche Übergänge zwischen den Welten oder „die Kunst, sie zusammenzubringen“ Interviewer: Sehen Sie da irgendwo Schnittpunkte oder auch Themen oder Begriffe, wo diese Sprachwelten zusammenkommen? Seelsorgerin: Das ist die Kunst, sie zusammenzubringen. Das ist wirklich die Kunst. Es ist natürlich ein großer Unterschied, ob ich jetzt mit einem Mediziner rede, der mir dann auch ein paar Fachbegriffe um die Ohren haut, die ich nicht verstehe, wo ich dann nachfragen muss. Aber auch ich muss mich verständlich ausdrücken: Was will ich jetzt eigentlich, was ist mein Anliegen, was ist Seelsorge? Denn er versteht auch meine Sprache nicht unbedingt. Und die Kunst ist es zu übersetzen. Auch mit Patienten [gilt das] . […] Ich habe den Hartz IV-Empfänger, ich habe den, der kaum sprechen kann, ich habe ganz eloquente Leute. Auf den Privatstationen, da sind ganz viel Akademiker, die dann mit mir über Gott und die Welt diskutieren. Auch ihre Sprache bringen sie mit. Ja und die Kunst ist eben, sich dann auf die Ebene zu begeben, damit man überhaupt miteinander kommunizieren kann. (I Katharina Läge 14. 6. 2012 KT)

Für die Seelsorgerin ist es „ Kunst“, die Sprachwelten zusammenzubringen. Das heißt zunächst einmal, dass ihr das Zusammenbringen schwer fällt. Sie belegt das anhand verschiedener Gesprächskonstellationen. Die Kommunikation mit Medizinern findet sie in doppelter Hinsicht schwierig: einerseits empfindet sie den medizinischen Fachjargon als ausgrenzend und fühlt sich verbal angegriffen. Andererseits findet sie es auch nicht leicht, das Anliegen der Seelsorge gegenüber anderen Sprachwelten verständlich zu machen. Auch im Umgang mit Patientinnen ist sich die Seelsorgerin bewusst, dass sie möglicherweise in einer ganz anderen Sprachwelt lebt als ihr Gegenüber. Den Begriff „Kunst“ verwendet die Seelsorgerin dann auch im Sinne von Kompetenz und Technik, die die Sprachwelten zusammenbringen kann. Für sie besteht diese Technik einerseits darin, übersetzten zu können. Andererseits besteht die Kompetenz darin, eine bestimmte Haltung einzunehmen und sich „auf die Ebene [der Patienten] zu begeben“. Als Übersetzerin befindet sich die Seelsorgerin auf der Grenze zwischen den Sprachwelten und übt eine vermittelnde Rolle aus. Wie alle Berufe in der Klinik sind auch die Seelsorgenden nicht auf eine Sprachwelt, etwa die der Religion, festgelegt. In der Funktion des Übersetzens begibt sich die Seelsorgerin in eine Vogelperspektive und sucht begrifflich Analogien und Ansatzpunkte zwischen verschiedenen Sprachwelten. Man kann insofern von einer ethischen Funktion ihrer Seelsorgekunst sprechen, als die Übersetzungstätigkeit aus der ethischen Haltung der Fürsorge resultiert. Für Seelsorgende der zugrundeliegenden Studie zählen zu einer ethischen Situation nicht nur explizite und punktuelle Behandlungsentscheidungen, sondern auch implizite Abwägungen, prozesshaftes Ent-

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache

193

scheiden und Fragen der Organisationskultur im Krankenhaus.195 Mit ihrer Kunst, die Sprachwelten zusammenzubringen, zielt die Seelsorgerin auf das gegenseitige Verstehen im Krankenhaus. Es ist ihr wichtig, dass sowohl die verschiedenen Berufsgruppen untereinander als auch die Patientinnen und deren Angehörige sich auf einer Ebene treffen. Dies zu ermöglichen, sieht sie als Aufgabe der Klinikseelsorge. Auch die Seelsorgerin Susanne Christlieb agiert als Übersetzerin. Sie tut dies in einer institutionalisierten ethischen Situation (einer ethischen Fallbesprechung), in der es um eine Behandlungsentscheidung bei einer Patientin mit fortschreitender Demenz geht. Oberarzt: Das Kurzzeitgedächtnis ist sehr schnell gestört. Das Langzeitgedächtnis jedoch nicht. Deswegen fällt im Alltag die Störung nicht auf. Erst wenn es beispielsweise eine Schluckstörung gibt, fällt dies von außen auf. Wir haben das alle mal, dass uns etwas entfällt. Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis fallen nur in Tests auf. Tochter: Das heißt, dass das fortschreitet? Oberarzt: Ja. Seelsorgerin: Das kennen wir von einem Herzinfarkt. Die Schädigungen, die zu einem Herzinfarkt führen, fangen vorher schon an. Aber wir merken dies im Körper nicht. Im Gehirn ist das ähnlich. Liegt das an den Blutbahnen? Oberarzt: Ja, das mit dem Herz ist ein gutes Beispiel. Das ist im Gehirn ähnlich. (F Susanne Christlieb 22. 2. 2012 T)

Der Oberarzt erläutert in medizinischer Fachsprache, warum die Angehörigen das langsame Voranschreiten der Demenz nicht bemerkt haben. Die Tochter fasst die vielen medizinischen Informationen auf eine für sie existentielle Frage zusammen: „Das heißt, dass das fortschreitet?“ Nach Bejahung durch den Oberarzt hat die Seelsorgerin den Eindruck, dass die Tochter zwar die Konsequenz, aber nicht die Ursache des Voranschreitens verstanden hat, und zieht einen medizinischen Vergleich. Die nicht sichtbaren Vorschädigungen bei einem drohenden Herzinfarkt erscheinen der Seelsorgerin eine gute Übersetzung zu sein für das, was bei der Demenz langsam und nicht direkt sichtbar voranschreitet. Die Übersetzung bleibt in der Sprachwelt der Medizin und wird vom Arzt offenbar nicht als Wildern im fremden Terrain, sondern als adäquate Erläuterung des Sachverhaltes gesehen. Durch ihre Übersetzungskunst beeinflusst die Seelsorgerin die ethische Situation zunächst dahingehend, dass die Kultur des Verstehens in der Fallbesprechung gefördert wird. Des Weiteren kann dies das Vertrauen der Angehörigen in die Entscheidungsstrukturen befördern und holt sie bildlich gesprochen 195 Vgl. Kapitel 2.1 in diesem Buch.

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

„mit ins Boot“. Dies ist im Hinblick auf die anstehende Entscheidung über die Ernährung der Patientin von immenser Wichtigkeit für einen konfliktarmen Fortgang des Entscheidungsprozesses. In den Beispielen der Seelsorgerinnen Katharina Läge und Susanne Christlieb agieren diese als Übersetzerinnen zwischen den Sprachwelten. Daneben halten die Seelsorgenden die verschiedenen Welten in der Klinik noch durch andere Techniken zusammen: durch schnelle Sprachwechsel zwischen den Welten, durch vagabundierende Semantiken und durch Scharniersemantiken. Die Seelsorgerin Heike Schütz hält die verschiedenen Sprachwelten zusammen, indem sie schnelle und fast virtuose Sprachwechsel vollzieht. Als Beispiel soll ein Feldtagebuchausschnitt dienen, der einen Klinikrundgang zusammen mit der Seelsorgerin beschreibt. Im Laufen unterhält sich die Seelsorgerin mit den beiden teilnehmenden Beobachtern. Ab und zu begegnet sie Klinikpersonal, mit dem sie in eine andere Gesprächssituation und Sprachwelt wechselt. Heike Schütz läuft mit uns durch die Klinik. Sie trifft mit einem Oberarzt der Intensivstation zusammen und sagt zu ihm gewandt: „Ach nee, der Meister! … Und, alles gut?“ […] Der Oberarzt sagt, dass er im Moment viel angefragt ist und dass das manchmal ein Problem sei. Heike Schütz zum Oberarzt: „Wenn man so wichtig ist. Geht mir ja auch so.“ […] Heike Schütz läuft mit uns in den Intensivbereich und begrüßt Pflegerinnen, die in einem Zimmer am Patienten arbeiten, mit einem Hallo und dem kurzen Verweis, dass sie Besuch mitbringt. Sie zeigt uns einen dunklen Raum ohne Fenster, in dem Infusomaten und andere nicht benutze Gerätschaften stehen. „Ich sag Ihnen einfach von den Räumlichkeiten her: Das ist ein Raum, da werden die Verstorbenen reingeschoben. Und: so ist der Raum. Sie können gerne fotografieren.“ […] Heike Schütz [sagt] zu den diensthabenden Pflegenden am Stützpunkt: „Hallo. Wir sind gleich wieder weg. Tschüss.“ Zu uns gewandt: „Ich mache jetzt hier nichts Offizielles. Denn das wäre jetzt ein bisschen aufgeplustert. (F Heike Schütz 24. 5. 2012 K)

Das erste Gespräch findet mit einem Oberarzt statt, den die Seelsorgerin duzt. In der Anrede „Meister“ stecken einerseits Ironie und andererseits Anerkennung seiner Position in der Klinik. Als Antwort auf die Klage des Oberarztes, dass er so unter Zeitdruck ist, markiert sie auch in ironischer Gebrochenheit ihre Wichtigkeit. Der Seelsorgerin gelingt es also, die Welten und ihre Berechtigung in der Klinik klar zu benennen und gleichzeitig die Ebenen durch eine „lebensweltliche“196 Sprachform der Ironie zu verbinden. Die Architektur dieses ersten Gespräches verdankt sich wie auch die folgenden einer ständigen Tür-und-AngelSituation, da sich die Seelsorgerin mit den Begleitern in ständiger Bewegung befindet und mit den Leuten auf dem Flur ins Gespräch kommt. Den Pflegenden im Intensivbereich gibt sie die kurze Meldung, dass sie mit Besuch auf der Station unterwegs sei, und verabschiedete sich wieder beim Gehen. Diese kurze Ge196 Habermas, Theorie, 107ff.

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache

195

sprächseinheit verdeutlicht die seelsorgliche Haltung, dass es sich in der Klinik um geschützte Räume handelt, und dass die Pflegenden ein Recht auf Kenntnis haben, wer von außen in diese Räume eintritt. In der Gesprächseinheit zum Thema des Geräteraumes bildet die Kritik an der Krankenhauskultur im Umgang mit den Verstorbenen eine Ebene, die verbindend zwischen den Gesprächspartnern wirken soll. Hier sind es die teilnehmenden Beobachter, die die Seelsorgerin mit ins Boot holt. In anderen Gesprächskonstellationen kann sich die Seelsorgerin aber auch mit Klinikpersonal gegen die gemeinsamen Feinde verbünden, zum Beispiel die Krankenhauskultur oder allgemein die Ökonomisierung.197 An dem Ausschnitt wird deutlich, auf welchen Ebenen Heike Schütz eine Verbindung zwischen den verschiedenen Welten in der Klinik herzustellen vermag. In den einzelnen Gesprächseinheiten waren dies Sprachformen, die man frei nach Habermas der lebensweltlichen Kommunikation zuordnen könnte: Ironie, Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskeln. Die Kritik an der Raumnutzung könnte man mit der Habermas’schen Kritik an der Kolonialisierung der Lebenswelt vergleichen, wo es um das Eindringen von Systemen wie Ökonomie und Medizin in die Lebenswelt geht. Der Umgang mit Verstorbenen als eigentlich genuiner Teil der privaten Lebenswelt ist im Krankenhaus durch die Logiken der medizinischen und juridischen Welt kolonialisiert worden. In deren Logik bringt ein Verstorbener weder Profit, noch kann er geheilt werden. Da passt die Abstellkammer als Aufbewahrungsort. Heike Schütz kritisiert diese Kolonialisierung und schafft mit dieser Kritik eine verbindende Ebene, an der Vertreter aller Sprachwelten anschließen können. Im weiteren Sinne verbindet Heike Schütz die verschieden Welten auch durch ihre körperliche Präsenz im Raum der Klinik und geht damit über reines Sprachhandeln hinaus. Sie ist in der Situation des Klinikrundgangs nicht an eine bestimmte Station oder Arbeitsabläufe gebunden. Sie durchschreitet und durchbricht die Grenzen, die für anderen Klinikmitarbeitende und deren Sprachwelten gelten. Neben dem Bündel an Kunstgriffen, derer sich Heike Schütz zur Überbrückung der Trennung der Welten bedient hat, kann man im Studienmaterial auch beobachten, dass es auf sprachlicher Ebene zum Import von Semantiken aus der einen in die andere Sprachwelt kommt. Dabei nehmen Seelsorgende unbewusst oder gerade bewusst eine gesteuerte Übernahme „fremder“ Denkwelten in Kauf. Eine Seelsorgerin erläutert ihr Besuchskonzept und rechtfertigt, dass sie sich auf die intensive Einzelbegleitung von wenigen Patienten beschränkt. Denn:

197 Zur Ökonomisierung des Krankenhauses siehe Kapitel 3.2, I. Vgl. auch Herrmann/Kliesch, Markt.

196

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

In der Klinik gibt es viele Blinddärme und Leistenbrüche, also einen so hohen Durchlauf, dass ich es gar nicht schaffen würde, alle zu besuchen. (I Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K)

Mit „Blinddärmen“ und „Leistenbrüchen“ bezeichnet die Seelsorgerin hier die Patientinnen, die sie wegen deren kurzer Liegedauer nur in seltenen Fällen besucht. Patienten in der Sprache auf ihr krankes Organ oder ihre Krankheit zu reduzieren, kann manchmal üblich im medizinischen Sprechen sein. Allerdings ist in der Medizin diese reduktionistische Redeweise über Patienten mittlerweile mehr und mehr verpönt. Die Seelsorgerin hat den vermeintlich medizinischen Fachjargon in ihre Redeweise übernommen und kauft sich damit eine reduktionistische Sicht auf die Patienten ein. Die Funktion dieser reduzierenden Rede ist es, in gewissem Sinne den Druck zu reduzieren, der auf Seelsorgenden lastet, wenn sie eine Besuchskultur entwickeln und rechtfertigen müssen. Die Entscheidung für die eine oder andere Form der Besuchskultur hat in jedem Falle berufsethische Aspekte, aber auch Auswirkungen auf die Kultur des Krankenhauses. Denn es macht einen Unterschied, ob Patienten mit kurzer Liegezeit regelmäßig oder auf Anfrage oder gar nicht seelsorglich betreut werden. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung eines medizinischen Begriffs im seelsorglichen Kontext liefert der Seelsorger Philipp Vogt, der das Instrumentarium von seelsorglicher Arbeit in der Klinik beschreibt: Also ich denke mir schon manches Mal: Man kann mit Worten heilen und man kann mit Worten verletzen. Und auch mit Nichtgesagtem oder auch nonverbal. Wir haben jetzt nicht das Skalpell wie ein Arzt, der einen falschen Schnitt macht, und, wenn der falsch sitzt, ist es unter Umständen lebensgefährlich oder tödlich für jemanden. Wie tödlich manchmal vielleicht unsere Schnitte da sind, ist nicht so spürbar. (I Philipp Vogt 27.4. 2012 K)

Wenn man von der gewissen Selbstdramatisierung absieht, die in dieser seelsorglichen Rollenbeschreibung steckt, lässt sich dazu Folgendes sagen: Philipp Vogt reflektiert in diesem Abschnitt die Instrumente der Seelsorge im Gegenüber zum medizinischen Instrumentarium. Damit bewegt er sich auf dem Feld einer Konkurrenz von Handlungsvollzügen in der Klinik. In der religiösen Sphäre werde nur geredet, in der medizinischen werde operiert. Diese holzschnittartige Handlungskonkurrenz darf als Hintergrundschablone vermutet werden. Der Seelsorger reiht sich nun aber nicht in dieses Schwarz und Weiß der Konkurrenz ein, sondern lässt das Bild des Skalpells in den Kontext der Seelsorge emigrieren. Das Skalpell dient zunächst als negativer Vergleichspunkt. Auf der anderen Seite steht das Instrument der Seelsorge, das Wort. Diese metaphorische Verknüpfung erinnert an das biblische Bild vom Wort Gottes, das „schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ (Hebr 4,12) ist. In diesem konnotativen Feld liegt die Redeweise, dass Seelsorger mit dem Wort etwas in der Hand hätten, das „unter

Der Umgang von Seelsorgenden mit medizinischer Sprache

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Umständen lebensgefährlich oder tödlich“ ist. Beispiele für eine tödliche Schnittkraft des Wortes werden nicht geliefert. Aber deutlich ist, dass es dem Seelsorger um einen engen Vergleich zwischen dem Instrumentarium der Seelsorge und der Ärzte geht, und dass beide eine große Verantwortung tragen. Der Seelsorger Philipp Vogt ist der Konkurrenzsituation durch einen begrifflichen Brückenbau begegnet: Das Skalpell als Chiffre für die Handlungsvollzüge der medizinischen Sphäre ist im übertragenen Sinne auch das Instrument religiöser Handlungsvollzüge. Der Seelsorger hat sich die ärztliche Perspektive zu eigen gemacht und hat von dort aus nach einer Verbindung der religiösen und der medizinischen Sphäre gesucht. Neben den vagabundierenden Semantiken, die von der einen in die andere Welt emigrieren, gibt es Semantiken, die ursprüngliche Haftpunkte in mehreren Sprachwelten haben. Der Seelsorger Philipp Vogt berichtet vom Fall einer sterbenskranken Krebspatientin, die sich wegen eines Tracheostomas (Verbindungsröhrchen zwischen Luftröhre und Außenluft) nur schwer äußern konnte, und bei der mehr über sie als mit ihr geredet wurde. Sowohl die Angehörigen als auch die Ärzteschaft befürworteten eine Maximaltherapie. Auf einer interdisziplinären Teamsitzung ging es darum, dass wir sie nicht quälen und ihr Leiden verlängern. Und da sagte die Ärztin, sie hat das Gefühl: „Wir verlängern nicht ihr Leiden und wir quälen sie auch nicht.“ Da bin ich mir nicht so sicher. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Mit Verweis auf das „Leiden“ der Patientin wurde in der Teamsitzung dafür argumentiert, das kurative Therapieziel in ein palliatives zu ändern. Die Semantik vom Leiden ist lebensweltlich verankert und daher für Vertreter unterschiedlicher Sprachwelten gut zugänglich. Dies gilt unbenommen der Tatsache, dass unterschiedliche Sprecherinnen auch Unterschiedliches mit der Semantik verbinden können. Im Beispiel wird deutlich, dass der Leidensbegriff seine Scharnierfunktion erfüllt. Leiden ist eine anschlussfähige Semantik in der Medizin und der Religion. Die erwähnte Ärztin nahm den Begriff zum Anlass, um zu sagen, dass sie keine Leidensverlängerung bei der Patientin sehe, und der Seelsorger äußerte, dass er mit dieser Einschätzung nicht übereinstimme. Zum Scharnierbegriff „Leiden“ lässt sich festhalten, dass er lebensweltlich verankert ist und einen Kommunikationsprozess abbildet, der verschiedene Sprachwelten in der Klinik überbrückt. Scharnierbegriffe werden abhängig vom Gesprächssetting unterschiedlich verstanden und sind als Chiffren mit situationsspezifischer Funktion zu sehen. Das macht sie brauchbar für ethische Situationen, da sie die Kommunikation ermöglichen. Diese Beobachtung lässt sich gut mit Ergebnissen der Studie „Ethik als Kommunikation“ von R. Anselm et al.

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

in Einklang bringen. Dort wird festgestellt, dass das Agieren von Seelsorgenden in Ethikkomitees dazu diene, den Kommunikationsprozess am Laufen zu halten und dabei die einzelnen Mitglieder in diesen Prozess zu integrieren. Er [ein bestimmter Seelsorger] treibt also genau so Ethik, wie sie in den Klinischen Ethik-Komitees verstanden wird: Ethik als Kommunikationsprozess.198

In diesem Konzept von Ethik spielen Seelsorgende durch ihre „Sprachfähigkeit“ eine gewichtige Rolle in Ethikkomitees. Da in den Klinischen Ethik-Komitees Kommunikation als Wert an sich betrachtet wird, der gewissermaßen die Konstitution der Besprechungen überhaupt erst ermöglicht, weil sie als verbindender Minimalkonsens das Zusammensein legitimiert, ist anzunehmen, dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger nicht nur aufgrund der Fachvertretung als Theologinnen und Theologen, sondern mit ihrer Sprachfähigkeit tatsächlich als Seelsorgerinnen und Seelsorger ihren Platz im Klinischen Ethik-Komitee innehaben.199

Auch der Begriff des Gewissens ist ein Beispiel für Scharniersemantiken, da er sowohl in der theologischen Tradition als auch im ärztlichen Standesrecht vorkommt. Nach dem Lexem „Gewissen“ wurde in den Interviews gefragt. Es zeigte sich, dass einige Seelsorger den Begriff mit ethischen Situationen in der Klinik verknüpfen konnten, und dass andere ihn zu moralisch aufgeladen fanden. Eine Scharnierfunktion hat der Gewissensbegriff insofern, als das Gewissen nicht nur eine Kategorie religiöser Rede ist, sondern auch in der medizinischen Sphäre als „ärztliches Gewissen“ geläufig ist. Kapitel 3.4 in diesem Buch widmet sich ganz den Fragen, wie und mit welcher Funktion Gewissensfragen in der Klinik auftauchen. Die Rede von „Nächstenliebe“ ist eine Form religiöser Rede, die den Brückenschlag zwischen den Welten durch den Bezug auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens unternimmt. Dieser Konsens kommt dadurch zum Ausdruck, dass Nächstenliebe übersetzbar in andere anerkannte Werte ist: Empathie, Mitgefühl, Fürsorge. Der Nächstenliebebegriff taucht im Studienmaterial besonders in zwei Bezügen auf: einerseits in Klinikleitbildern, die von Seelsorgenden reflektiert und in Gremien diskutiert werden. Mit Anschluss an die Rede dieses Abschnitts kann man von „Nächstenliebe“ dort als einem institutionalisierten Scharnierbegriff sprechen. Davon ist in Kapitel 3.2 zu lesen, wo es um ethische Fragen der Organisation Krankenhaus geht. Andererseits sprechen Seelsorgende dort von „Nächstenliebe“, wo es um die Reflexion ihrer Handlungsorientierung geht. Dort kann „Nächstenliebe“ zu einem Scharnier werden,

198 Lück, Professionalisierung, 55. 199 Brisgen, Authentizität, 103.

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

199

das die verschiedenen Rollen von Seelsorgenden zusammenbindet, indem es den Fokus auf den „Menschen“ richtet: Mein eigener Antrieb ist ja schon begründet aus dem Gedanken der Nächstenliebe. Ich möchte da sein für Menschen generell, aber speziell jetzt hier im Krankenhaus. (I Katharina Läge 14. 6. 2012 KT)

Der Begriff der „Nächstenliebe“ ist eine Form religiös integrierender Rede im Krankenhaus. Davon wird im nächsten Abschnitt die Rede sein. Bei den Sprachwelten zeigten sich sowohl in der abgrenzenden, als auch in der überbrückenden Rede Chancen für die Gestaltung der ethischen Situation. Während die abgrenzende Rede zu kritischer Distanz gegenüber anderen Sprachwelten und deren Logiken verhilft, befördern überbrückende Redeweisen die Entscheidungsprozesse und schaffen eine Nähe zwischen mehreren Beteiligten. Herausfordernd wird es für die Seelsorgenden bleiben, diese unterschiedlichen Redeweisen bei sich wahrzunehmen und von Fall zu Fall zu entscheiden, welche Redeweise der ethischen Situation dienlich ist.

II.

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

Lag in Abschnitt I. der Schwerpunkt auf den seelsorglichen Reaktionen auf vorliegende Beziehungen zwischen klinischen Sprachwelten, geht es nun um das Terrain der Sprachwelt, auf dem sich Seelsorgende von ihrer theologischen Ausbildungen her sicher bewegen: die religiöse Rede. Seelsorge kann sich zwar jeder Sprache bedienen, aber die ‚Kernsprache‘ oder ‚Grundsprache‘ sei die Sprache der Religion und des Glaubens, so der Pastoralpsychologe Charles Gerkin.200 Diese normative Behauptung muss sich in der Praxis erweisen. Wenn Religion und Glaube die Kernsprache der Seelsorge ist, dann sollte sich religiöse Rede auch im Studienmaterial als gewichtige Sprachform nachweisen lassen. Bei Gerkin bezieht sich die Behauptung von Religion als seelsorglicher Kernsprache darauf, dass Seelsorgende sich ihrer hermeneutischen Aufgabe in Seelsorgesituationen bewusst werden und dabei die Möglichkeiten der religiösen Sprache nutzen sollen. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Funktion von Sprache in ihrer Reflexion auf die professionellen Haltungen und die Seelsorgerollen. Diese Reflexion ist notwendige Voraussetzung für ein reflektiertes Handeln in ethischen Situationen. Es stellt sich zunächst die Frage, was unter religiöser Rede zu verstehen ist und wo in der Klinik religiös gesprochen wird (a). An diese Bestandsaufnahme des 200 „But the core and grounding language world on which pastoral counseling proceeds is the language of religion and faith.“ (Gerkin, Human, 53f.)

200

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Studienmaterials schließen sich eine Typologie religiöser Rede und eine Analyse dessen an, was in den einzelnen Fällen mit der religiösen Rede zum Ausdruck gebracht wird und welche Funktion diese in der Reflexion auf Haltungen und Rollen hat (b, c, d). Es folgt ein Exkurs zur Sprache von Räumen und zu räumlichen Konflikten, in die Seelsorgende in der Klinik involviert sind (e). Der Abschnitt schließt mit einem Fazit zur Funktion und den Grenzen religiöser Rede als Reflexionsinstrument für ethische Haltungen und professionelle Rollen (f). In der vorliegenden Studie wurde der Eindruck gewonnen, dass religiöse Rede nicht nur in genuin seelsorglichen Situationen eine Rolle spielt. Vielmehr verwenden Seelsorgende religiöse Rede auch bei der Reflexion auf ethische Haltungen und professionelle Rollen. Die Frage ist, was Klinikseelsorgende damit kommunikativ erreichen und welche möglichen Voraussetzungen sie damit für ethische Situationen schaffen. Die Anwendung religiöser Rede in ethischen Situationen wurde in der Studie einerseits im organisationsethischen Kontext,201 andererseits hinsichtlich des Einflusses von Ritualen auf ethische Entscheidungen untersucht.202 Im vorliegenden Kapitel konzentrieren sich die Beobachtungen auf religiöse Sprache im Raum der professionellen Selbstreflexion.

a)

Religiöse Rede in der Klinik: Eine Bestandsaufnahme

Den Ausgang bildet die Beobachtung, dass religiöse Rede das Ende von Ethik bedeuten kann. So sieht es eine Seelsorgerin, die über die Funktion des Wortes „Sünde“ nachdenkt. Im Rahmen einer schwierigen Therapieentscheidung bei einem Patienten bringt die Ehefrau „Sünde“ ins Gespräch. Die Seelsorgerin erzählt von dieser Frau: Dann fing sie an zu weinen und sagte auf einmal: „Und lade ich da nicht Sünde auf mich?“ Und dann war das natürlich kein ethisches Gespräch mehr, sondern ein seelsorgliches, tröstendes. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

Für die Seelsorgerin endet das ethische Gespräch, als die Frau zu weinen anfängt, und das Wort „Sünde“ fällt. Das Gespräch geht für sie „natürlich“ in einen seelsorglichen und tröstenden Modus über. Ethik scheint für die Seelsorgerin eine andere Sprachwelt zu sein als die der Religion, der Seelsorge und des Trostes. Deshalb ist religiöse Rede auch in ethischen Entscheidungssituationen schwer nachweisbar. Wilfried Sturm spricht sogar von einer „religiösen Sprachlosigkeit“ von Seelsorgern in der Klinik. „Was soll man da in Gottes Namen sagen?“ lautet der Titel seiner Dissertation zur Seelsorge in ethischen Konfliktsituationen in der

201 Siehe Kapitel 3.2, IV. 202 Siehe Kapitel 3.7.

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

201

Neonatologie.203 Die in seinem Titel zitierte Frage habe sich eine Klinikseelsorgerin gestellt, „als sie die ersten Male an einer Patientenfallbesprechung auf der neonatologischen Intensivstation teilnahm“.204 Diese Frage ist zunächst aporetisch zu verstehen und unterstreicht, dass Seelsorgende meinen, religiöse Sprache in ethischen Situationen nicht verwenden zu können. Reiner Anselm et al. halten für die Kommunikation in Klinischen Ethikkomitees fest,205 dass Theologen in solchen Gremien weder durch theologische Sprache noch durch dezidiert theologische Inhalte auffallen. Statt theologisch – oder gar religiös – motivierter Stellungnahmen zeigen sie vielmehr operationale Kompetenzen. Sie strukturieren die Diskussion, wobei sie in ihrer professionellen Identifikation zurücktreten. Auffällig ist, dass es hierzu einer eindeutig qualifizierbaren religiösen Symbolsprache nicht bedarf.206

Auch im Rahmen der vorliegenden Studie äußerten sich Seelsorgende in der Richtung, dass sie ihre Arbeit nicht als genuin theologisch verstehen, sondern dass sie sich das nötige medizinische, organisationsethische und psychologische Knowhow angeeignet haben und damit die Aufgaben in ethischen Situationen bewältigen.207 Diese Theologie-Begrenzung ist eine Frucht der Pastoralpsychologie, die eine Entkopplung seelsorglicher Gespräche von religiösen Erwartungen forderte und professionelle Anleihen in der Psychologie machte.208 Angesichts des Eindrucks, dass bisherige medizinethische Fortbildungen für Klinikseelsorgende keine genuin theologischen Kompetenzen förderten, äußerte eine Seelsorgerin auf einer Tagung den Wunsch, die theologischen Kompetenzen mehr einbringen und auf die Ethik anwenden zu können: „Wie spanne ich denn den Bogen aus der Ethik zurück in die theologische Ethik?“ Diese Frage unterstreicht den Eindruck mancher Seelsorgenden, sich in der klinischen Ethik in einer theologiefreien Zone zu befinden. Es kann nun aber gezeigt werden, dass Seelsorgende religiöse und ethische Rede nicht so stark trennen, wie sie selber und die genannten Studien suggerieren. In Kapitel 3.2 wurde die integrative Funktion religiöser Semantiken im Kontext der Organisationsethik deutlich. Zudem, und darauf soll im Folgenden der Schwerpunkt liegen, dient religiöse Sprache als Reflexionsinstrument für ethische Haltungen und professionelle Rollen. Der Begriff „religiöse Rede“ soll hier für Semantiken verwendet werden, die einen expliziten Bezug zur sprachlich 203 204 205 206 207

Sturm, Gottes Namen. A.a.O., 12. Vgl. Anselm/Schleissing, Ethik. Ley, Organisation, 42. Vgl. I Heike Schütz 24. 5. 2012 KTund I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K. Für andere wiederum sind Seelsorge und Ethik identisch: vgl. I Christine Stein-Böttler 25. 10. 2011 E und I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E. 208 Siehe dazu Kapitel 4.1, III. a.

202

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

kodierten Welt der Religion herstellen. Die Betonung liegt auf „explizit“, weil ein impliziter Bezug auf Religion auch in der Studie „Ethik als Kommunikation“ von Reiner Anselm et al. konstatiert wird.209 So unterscheidet ein Seelsorger ein „explizites und implizites Vorhandensein von Religion“. In der Auswertung des Interviews definiert Constantin Plaul: Explizit werde Religion im Komitee [Ethikkomitee] nicht verhandelt. Sie könne höchstens dort ausdrücklich zum Thema werden, wo es vermittelt durch den Patienten aufgegeben ist, sich im Blick auf dessen Religionszugehörigkeit zu fragen, welche Vorgehensweise angebracht wäre. Aber hinsichtlich des Kommunikationsprozesses im Komitee selbst bleibt Religion latent. Als äußerst weit reichend wird dann allerdings der Bereich der impliziten Religion gefasst: Für Herrn Kamm [den interviewten Seelsorger] können darunter eigentlich alle ethischen Themen fallen.210

Für unsere Zwecke lassen sich nun alle die Sprachformen als explizit religiös fassen, die von religiös sozialisierten und theologisch ausgebildeten Hörerinnen und Hörern als religiöse Rede identifiziert werden können. Dies umfasst sämtliche sprachliche Reflexionsstufen von der Semantik praktizierten Glaubens bis hin zur theologischen Theoriesprache. Wo wird in der Klinikseelsorge religiös gesprochen? Eine Kartierung des Studienmaterials ergibt folgende Landschaft: Am offensichtlichsten ist die religiöse Sprache in Gottesdiensten und in Ritualen im klinischen Kontext.211 Auch auf Textmaterial der Klinikseelsorge (Flyer, Aushänge, Giveaways) finden sich religiöse Sprachcodes. Was die gesprochene Sprache außerhalb institutionalisierter Settings angeht, lässt sich religiöse Rede von Seelsorgenden in zwei Situationen feststellen: zum einen, wenn sie davon ausgehen, dass diese Rede vom unmittelbaren Hörer verstanden wird, und zum anderen, wenn religiöse Semantiken explizit an sie herangetragen werden. Konkret sieht es im erhobenen Studienmaterial so aus, dass die Seelsorgenden in den Interviews jeweils von einem religiös sozialisierten Gegenüber ausgingen. Besonders in den vom Theologen Fabian Kliesch geführten Interviews und seinen teilnehmenden Beobachtungen verwendeten die Seelsorgenden gehäuft theologische Semantiken, wozu auch theologische Fachsprache zählt. Was die Orte religiöser Sprache in den Interviews angeht, so kommt sie dort gehäuft vor, wo die Seelsorgenden auf einen religiösen Begriff der Interviewfrage reagieren oder wo sie von Fällen berichten, in denen die Menschen in der Klinik religiöse Semantik eingebracht haben.212 Ein Spezialfall der extern induzierten 209 So deutet Anne-Kathrin Lück die operationalen Kompetenzen von Seelsorgern als implizite theologische Kompetenzen. Vgl. Lück, Professionalisierung, 64, 69. 210 Plaul, Prophet, 79. 211 Vgl. Kapitel 3.7. 212 Auch Constantin Plaul konstatiert ähnliches, aber nur mit Blick auf einen einzigen Aspekt religiöser Rede und dies auch nur im Setting des Ethikkomitees: „Sie [Religion] könne

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

203

religiösen Rede stellt eine von der Klinikleitung verordnete Reflexion eines Klinikleitbildes dar.213 Und eben dort, wo Seelsorgende über ihre Berufsrolle und ethische Handlungsorientierung sprachen, findet sich gehäuft religiöse Rede. Beispielsweise verwendet ein Seelsorger den Begriff „Rollenaura“ für die Art und Weise, wie Patienten ihn wahrzunehmen scheinen. Diese Rollenaura beschreibt er aus Patientensicht mit folgenden Worten: Da kommt Kirche, da kommt in einer gewissen Weise auch das Transzendente, das Unendliche, das Geheimnis des Lebens. Da kommt etwas, das größer ist als ich selbst, also alles das, was wir vielleicht irgendwo unter der Chiffre […] Gott fassen würden. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Die Sprachwelt der Religion begegnet dem Seelsorger hier als Wahrnehmung seiner Berufsrolle aus Patientensicht. Aus Gesprächen mit Patienten weiß der Seelsorger, dass manche Patienten Seelsorgende mit „Kirche“ identifizieren und damit Unterschiedliches assoziieren. Zum einen verbinden Patienten negative Erfahrungen von Moralisierung oder Tod mit Kirche. Zum anderen sind positive Konnotationen vorstellbar, wie zum Beispiel die Freude von Patienten darüber, dass sich „Kirche“ als Institution für sie persönlich interessiert. Mit den folgenden von Seelsorger Philipp Vogt vorgebrachten Begriffen verbinden sich ebenfalls verschiedene Seelsorgevorstellungen von Patientinnen und Patienten: Transzendenz, Unendlichkeit, Geheimnis des Lebens. Wenn Seelsorgende mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht werden, erhält die Seelsorge etwas Mystisches und Gottähnliches, was mit einer Erwartungshaltung verbunden sein kann, die auf Heilung, Vergebung, Tröstung zielt. Während der Begriff „Kirche“ Seelsorgende zu Vertretern einer Institution macht, behaften die anderen Begriffe Seelsorger bei ihrer priesterlichen Rolle. Die Erwartungen von Patienten an Seelsorge sind ein Anlass, bei dem religiöse Sprache gesprochen wird und Seelsorgende Rollen und damit verbundene Haltungen angeboten bekommen. Im Anschluss an diese Kartierung religiöser Rede im Studienmaterial entfalten die folgenden Abschnitte b-d eine Typologisierung der verwendeten religiösen Sprachformen und fragen nach der Funktion der Typen für Situationen, in denen Seelsorgende über ihre ethischen Haltungen und professionellen Rollen Rechenschaft abgeben. Seelsorgende verwenden religiöse Semantik in den oben genannten klinischen Situationen, um damit jeweils einen bestimmten Sachverhalt zu erläutern. Zum Beispiel gebrauchen sie bei einer Rollenbeschreibung religiöse Begriffe, um auf besondere Aufgaben oder Rollenkonflikte in ihrem Beruf aufmerksam zu mahöchstens dort ausdrücklich zum Thema werden, wo es vermittelt durch den Patienten aufgegeben ist, sich im Blick auf dessen Religionszugehörigkeit zu fragen, welche Vorgehensweise angebracht wäre.“ (Plaul, Prophet, 79). 213 Siehe Ausführungen zur „Arbeitsgruppe Nächstenliebe“ in Kapitel 3.2.

204

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chen. Auch in der Nacherzählung ethischer Situationen fallen religiöse Beschreibungssemantiken, die auf eine bestimmte Deutung des Sachverhalts rückschließen lassen. Religiöse Rede fungiert hier als Mittel zum Zweck des Verständnisses einer Sachlage, die die Seelsorgenden wahrnehmen und auf Nachfrage in den Interviews erläutern. Dieser Gebrauch religiöser Rede lässt sich einerseits funktional daraufhin analysieren, was mit der Rede bezweckt wird. Zum anderen lassen sich im Material unterschiedliche Typen religiöser Rede ausmachen, die sich in Verbindung mit unterschiedlichen Sprachgestalten bringen lassen. Religiöse Rede findet sich also in verschiedenen Typen von Sprachformen, die sich durch ihren Abstraktionsgrad und die Anwendungsorte unterscheiden. Die Typologisierung religiöser Rede nach Sprachformen, an der sich das Folgende orientiert, stammt von Markus Buntfuß.214 Er geht vom metaphorischen Charakter religiöser Sprache aus. Gemäß der Interaktionstheorie wird Sprache dann metaphorisch, wenn zwei Kontexte mit wechselseitiger Auslegung aufeinandertreffen, ohne dass ein Drittes benannt wird. In seiner Unterscheidung verschiedener religiös-metaphorischer Sprachebenen geht Buntfuß zunächst von dem faktischen Befund metaphorischen Sprachgebrauchs in der biblischen Gründungssprache des Christentums, insbesondere den neutestamentlichen Gleichnissen,215

aus. Danach widmet er sich der Metaphorizität theologischer Theoriesprache. Buntfuß betrachtet sowohl die „biblische Gründungssprache“ als auch die Theoriesprache als Sprachformen, in denen sich Metaphorizität findet. Hier ergibt sich ein interessanter Impuls für die Perspektive auf religiöse Rede in der Klinik. Demnach ist religiöse Rede nicht nur in biblischer Sprache zu finden, sondern auch in den unterschiedlichen Abstraktionsstufen theologischer Theoriesprache. Auf jeder Stufe hat religiöse Rede eine bestimmte Funktion für den Kommunikationsprozess, die im engen Zusammenhang mit der Sprachform auszulegen ist. Aus dem erhobenen Material lässt sich religiöse Rede in mehrfacher Sprachgestalt finden: als biblische Bildsprache, die direkt auf biblische Erzählungen rekurriert (b); als religiöse Glaubenssprache, die lehrmäßig verdichtete Symbole und Begriffe verwendet (c); und als theologische Theoriesprache, deren Begriffe sich z. B. einer bestimmten theologischen Schule zuordnen lassen (d).

214 Vgl. Buntfuß, Tradition. Buntfuß geht es in seinem Entwurf einer metaphorologischen Theologie um die Frage: „Inwiefern lassen sich Wandel und Veränderung in der Theologie mit metaphorischen Paradigmenwechseln in Zusammenhang bringen?“ (117) 215 Ebd.

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b)

205

Biblische Bildsprache: Die Gleichnisse Jesu

Für den Bereich biblischer Bildsprache sieht Buntfuß die Gleichnisse Jesu als ein eindrückliches Beispiel metaphorischer Sprache, die nicht durch eigentliche Rede ersetzbar wäre.216 Eine sprachliche Leistung von Gleichnissen sieht Buntfuß darin, dass ein Auslegungsspielraum eröffnet wird, der den Rezipienten auffordert, seine Einbildungskraft zu benutzen. Seelsorgende nutzen diese Leistung der Gleichnissprache, wenn sie beschreiben sollen, woran sie sich in ethischen Situationen orientieren. Auf die Frage, was der Maßstab ihres Handelns sei, antwortet die Seelsorgerin Annette Ingelmann: Mein ethischer Maßstab ist da schon… christliche, biblische Theologie. Wo ich einfach denke, dass wir nach dem gucken müssen, was diesem Nächsten, diesen unseren geringsten Geschwistern angemessen ist. Was brauchen die jetzt? (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

In ihrer Antwort spielt die Seelsorgerin auf zwei Gleichnisse an. Mit dem „Nächsten“ ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10) im Blick. Mit den „geringsten Geschwistern“ rekurriert sie auf die matthäische Endzeitrede: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Die Seelsorgerin verbindet die beiden Narrative mit ihrer anschließenden Frage auf eine kreative Weise: „Was brauchen die jetzt?“. Diese Frage fasst ihre Haltung zusammen, mit der sie in ethische Situationen hineingeht: Es geht ihr um einen Blick für die Bedürfnisse der Menschen. Die Sprachform der Gleichnisse hilft ihr dahingehend, dass in jeder neuen ethischen Situation nicht von vornherein feststeht, wer die Menschen sind, deren Bedürfnisse Beachtung finden sollen, und um welche Bedürfnisse es sich handelt. Die Gleichnisse machen deutlich, dass es sich um einen situativen Deutungsprozess dessen handelt, der sich des Bedürfnisses annimmt.217 Ein anderer Seelsorger verwendet bei der Beschreibung seiner ethischen Maßstäbe ebenfalls die Bildwelt des barmherzigen Samariters. Eine treibende Motivation seiner Ethik ist es, dass er das Kliniksystem von dem „Wahn“ befreien will, alle gesund machen zu können. Dabei fällt ihm auf, dass er selber auch diesem „Wahn“ erlegen ist: [I]ch möchte eigentlich auch mich selbst, aber auch die anderen immer wieder davon befreien und diese Wunde offen halten. Ich darf verletzlich sein, ich darf fehlbar sein, ich darf auch krank sein, ich darf auch chronisch krank sein, ich darf auch unheilbar krank sein. Ich glaube, dass das unheimlichen Druck wegnimmt. Denn so ein Ideal von Ge-

216 Vgl. a. a. O., 117ff. 217 In Kapitel 3.3 wird ausgeführt, dass Seelsorgende in einer ethischen Situation Ansprechpartner für verschiedene Beteiligte sein können und sehr unterschiedliche Bedürfnisse wahrzunehmen imstande sind.

206

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

sundheit, das ich immer in der Gesellschaft finde, höre ich in dem Satz: Hauptsache gesund, und in dieser Selbstbeschwörungsformel: Möge doch ich ja nicht krank werden und mein Nächster auch. Möge ich ja nie unter die Räuber fallen und halbtot da liegen. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Das Bild von der Wunde bildet den Einstieg in die Bildwelt des biblischen Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, das durch folgende Worte als prägende Narration im Hintergrund des Abschnitts steht: „Wunde“, „halbtot“, „unter die Räuber fallen“, „Nächster“. Es stellt sich wie bei der Seelsorgerin Annette Ingelmann auch hier die Frage, wozu im vorliegenden Abschnitt die Verknüpfung mit einer Erzählung und konkret mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters dient. Dazu soll herausgestellt werden, was Gleichnisse im Allgemeinen und das Samaritergleichnis im Besonderen für die Rezipienten leisten. Lk 10,30–35 ist nicht nur ein fiktionaler, sondern auch ein metaphorischer Text, der über die rhetorische Funktion einer Beispielgeschichte hinausgeht. Die Frage nach dem Nächsten (V. 29) regt an, die Kernmetapher des „Nächsten“ auf die Personen im Gleichnis zu übertragen. Das ist eine metaphorische Leistung, weil unter rea′ (Lev 19,18 f) ein israelitischer Volksgenosse und keineswegs ein Fremder zu verstehen ist – eine provokante metaphorische Kopplung des Begriffs. Mit der Metaphorizität ist einerseits eine Deutungsoffenheit der Bilder und andererseits auch eine Deutungsaktivierung der Leserinnen und Leser gemeint. „Bildlichkeit impliziert Uneindeutigkeit“,218 weshalb es auch bei dem Gleichnis des barmherzigen Samariters nicht nur ein einziges tertium comparationis gibt. Weil Gleichnisse deutungsoffen sind, aktivieren sie auch zur Deutung, das heißt, sie laden Hörende ein, sich auf den Verstehensprozess einzulassen. Der Seelsorger Philipp Vogt nutzt genau diese zur Deutung einladende Funktion des Gleichnisses, um verschiede Akteure im Medizinsystem zueinander und zu sich selbst ins Verhältnis zu setzen. In der für ihn als wahnhaft bezeichneten Krankenhauskultur kann der Seelsorger sich durch die Gleichnissprache als Mitleidender und Mitbetroffener ins Verhältnis zum Medizinsystem setzen. Auch er sieht sich der Vorstellung verfallen, dass man nur glücklich sein kann, wenn man gesund und leistungsfähig ist. Er greift aus dem Gleichnis die Bilder der Verletzlichkeit und Betroffenheit heraus und stellt sie als etwas allgemein Menschliches dar, das sein Daseinsrecht hat: „Ich darf krank sein.“ Der Seelsorger nutzt hier die Erzählung als „Medium ethischer Reflexion [und lässt sich darauf ein,] die experimentelle ethische Dimension zu erkunden.“219 Seine Erkundungen gehen freilich über das Gleichnis hinaus, das die „Wunde“ des Verletzten gerade nicht offenhalten möchte, sondern durch den Samariter ver218 Zimmermann, Kompendium, 13. 219 Haker, Klinikseelsorge, 170.

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

207

sorgt wissen will. Aber es bleibt festzuhalten, dass der Seelsorger Philipp Vogt sich der Sprachform des Gleichnisses bedient, um eine Kritik an einer Krankenhauskultur zu üben, die ihm unmoralisch vorkommt und falschen Vorstellungen vom glücklichen Leben verfallen zu sein scheint.

c)

Religiöse Glaubenssprache: Nächstenliebe und Geschöpflichkeit

Die Sprachform der religiösen Glaubenssprache ist nah an biblischer Sprache. Ihr ist aber ein gewisser Abstraktionsgrad zu eigen, indem sie lehrmäßig verdichtete Begriffe und Symbole verwendet. So werden mit „Nächstenliebe“ und „Geschöpflichkeit“ ganze Erzählzusammenhänge gebündelt. Der Unterschied zu biblischer Sprache liegt in der Verwendung, bei der die Begriffe aus ihrem narrativen Kontext herausgelöst werden und dadurch einen höheren Abstraktionsgrad bekommen. Des Weiteren werden Begriffe der religiösen Glaubenssprache auf eine neue Sachebene angewendet, die kategorial völlig verschieden von der ursprünglichen Sachebene sein kann. Aus der religiösen Rede der Klinikseelsorger sollen Beispiele religiöser Glaubenssprache beleuchtet werden. Seelsorgerin Katharina Läge nennt „Nächstenliebe“ in ihrer Antwort auf die Frage, woran sie sich in ihrer Arbeit als Klinikseelsorgerin orientiert: Also mein eigener Antrieb ist ja schon begründet aus dem Gedanken der Nächstenliebe. Ich möchte da sein für Menschen generell, aber speziell jetzt hier im Krankenhaus. (I Katharina Läge 14. 6. 2012 KT)

Anders als in der biblischen Bildsprache steht hier nicht eine bestimmte biblische Narration im Hintergrund. Vielmehr bezieht sich die Seelsorgerin auf Nächstenliebe als einen abstrakt formulierbaren Wert („Gedanken“) oder als eine Haltung. Der Rekurs auf einen Begriff religiöser Glaubenssprache hat hier die Funktion, dass er von den Kommunikationspartnern als gemeinsames Vokabular angesehen werden kann, und dass die Seelsorgerin keine Erklärung über den Hintergrund des Begriffs abgeben muss. Wohl aber ist der Begriff so offen, dass sie für das Gegenüber präzisieren muss, was sie mit Nächstenliebe im Bereich der Klinik meint. Für sie äußert sich Nächstenliebe darin, dass sie für die Menschen in der Klinik da ist. Diese Präzisierung ist zwar auch noch recht offen, aber für die Kommunikationssituation gerade ausreichend. Auch die Seelsorgerin Annette Ingelmann rekurriert in einer analogen Gesprächssituation auf „Nächstenliebe“ und bringt damit die Mitmenschlichkeit in Verbindung. Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, das sind für mich Werte und Orientierungsleitfäden, ja? (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E)

208

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Wenn die Seelsorgerin „Mitmenschlichkeit“ und „Nächstenliebe“ nebeneinanderstellt, redet sie metaphorisch. Beide Begriffe allein beschreiben nicht hinreichend, was die Seelsorgerin als ihre ethische Haltung sieht. Vielmehr nennt sie zwei Konzepte unterschiedlicher Herkunft nebeneinander, die gemeinsam ein Drittes erzeugen, eine gegenseitige Auslegung zwischen der religiös geprägten Nächstenliebe und dem säkularen Konzept von Mitmenschlichkeit. Mit dieser metaphorischen Rede macht die Seelsorgerin ihre ethische Orientierung nach zwei Seiten hin anschlussfähig: hin zu ihrer Rolle als Pfarrerin und hin zu ihrem klinischen Arbeitskontext.220 Zwischendurch lässt sich festhalten, dass beiden Seelsorgerinnen mit Verweis auf den Begriff „Nächstenliebe“ sowohl eine theologische Selbstorientierung als auch eine theologische Rollendeutung gelingt. Eine Funktion religiöser Glaubenssprache besteht darin, dass die Seelsorgerinnen ihre ethische Orientierung mit einem Begriff benennen, der keiner weiteren Erläuterung bedarf und die Situation von der Begründungspflicht entlastet. Gleichzeitig bleibt eine Deutungsoffenheit bestehen, die einen weiten Handlungsspielraum in ethischen Situationen lässt. Eine weitere Seelsorgerin beschreibt ihre ethische Orientierung mit dem Hinweis auf einen anderen Zusammenhang mit Worten aus der religiösen Glaubenssprache. Also wir sind […] alle Geschöpfe Gottes und beteiligt […] an einem Konflikt, in dem manche in ihrer ganzen Person betroffen sind, und manche in ihrer beruflichen Rolle. Und das ist noch mal was, das mich in meinem Handeln dann orientiert, also die Frage: Wer ist jetzt eigentlich derjenige, um den es geht? Wer ist in erste Linie der, der mit der Entscheidung, die getroffen wird, weiterleben oder auch sterben muss? (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin bringt ihre Handlungsorientierung mit den „Geschöpfe[n] Gottes“ in Verbindung. Der Rekurs auf diese dogmatische Begrifflichkeit bringt eine Egalität in einen ethischen Konflikt: Alle am Konflikt Beteiligten sind Gottes Geschöpfe und sind von der Entscheidung betroffen.221 Als Seelsorgerin gilt es dann herauszufinden, welches Geschöpf gerade dasjenige ist, das im Fokus steht und am schwersten an den Folgen einer Entscheidung tragen muss. Die Rede von Geschöpflichkeit führt bei der Seelsorgerin zu einer Grundhaltung, die die Aufmerksamkeit auf diejenigen ausrichtet, die das größte Bedürfnis an Zuwendung haben. Was den Umgang mit ethischen Situationen betrifft, scheinen die

220 An anderer Stelle bringt Annette Ingelmann die Sorge um den Nächsten und den Patientenwillen in Zusammenhang. Auch dort kann es so verstanden werden, dass sich „Patientenwille“ und „Nächstenliebe“ gegenseitig auslegen. Darauf wird in Abschnitt III. a eingegangen. 221 Vgl. Kapitel 3.3.

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Orientierung an Geschöpflichkeit und der Rekurs auf die Gleichnissprache (vgl. Annette Ingelmann) zu einer ähnlichen Grundhaltung zu führen. Wie auch schon bei „Nächstenliebe“ handelt es sich bei den „Geschöpfen Gottes“ um geprägte religiöse Glaubenssprache, die in der Interviewsituation als gemeinsamer Verständnishorizont angesehen wird, der nicht mehr erklärungsbedürftig ist. Damit hat der Rekurs auf die Geschöpflichkeit sowohl die Funktion, eine theologische Antwort auf die Frage nach dem Maßstab ethischer Urteilsbildung zu liefern, als auch ein Gefühl des Einverständnisses in der Kommunikationssituation zu erzeugen. In der Antwort spinnt die Seelsorgerin die Geschöpflichkeit metaphorisch weiter und verknüpft verschiedene lebensweltliche Themen mit diesem Topos religiöser Glaubenssprache: In einer Konfliktsituation können die Geschöpfe Gottes in ihrer ganzen Person und in ihrer beruflichen Rolle betroffen sein. „Geschöpfe“, „Person“ und „Rolle“ stellt die Seelsorgerin nebeneinander und eröffnet so einen Raum für eine metaphorische Beschreibung ihrer Handlungsorientierung. So lässt sich festhalten, dass die Seelsorgenden mit religiöser und nichtreligiöser Semantik eine doppelte Anschlussfähigkeit haben: Sie können sich innerhalb der Klinik verständlich machen in weltlicher Sprache, und sie können die Situation in der Klinik in Bezug auf ihre eigene Professionalität theologisch rekonstruieren. d)

Theologische Theoriesprache: Befreiungstheologie

Gemäß der Interaktionstheorie wird Sprache dann metaphorisch, wenn zwei bislang nicht verbundene Sachbereiche nebeneinander gestellt werden. Dabei können sie nicht nur lose nebeneinander stehen wie in dem Beispiel von „Mitmenschlichkeit“ und „Nächstenliebe“. Vielmehr können sie auch in einen Begriff gebracht werden. Das geschieht in der hochstufigen theologischen Theoriesprache, wo Markus Buntfuß auch eine unhintergehbare Metaphorizität zugegen sieht. Die metaphorischen Begriffsschöpfungen der Theoriesprache nennt er: „‚Genitivtheologien‘: Theologie der Kultur, der Befreiung, der Hoffnung, des Lebens der Natur etc.“222 In Genitivtheologien dient das Genitivattribut als Filter oder Schirm, der eine neue Einsicht auf das Ganze der Theologie vermittelt […]. Die dabei eröffnete Hintergrundmetaphorik entscheidet weitgehend darüber, wie das Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis in neuer Weise perspektiviert wird. Aber auch hier bewirkt die metaphorische Interaktion, daß nicht nur die Theo-

222 Buntfuß, Tradition, 224.

210

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

logie, sondern auch ihr jeweiliger Interpretationsbegriff eine Bedeutungsänderung erfährt.223

Die metapherntheoretische Sichtweise auf die „Theologie der Befreiung“ bringt mit sich, dass Theologie hier auf einen bestimmten politischen Kontext bezogen ist und von diesem definiert wird. Umgekehrt wird „Befreiung“ theologisch aufgeladen und kann beispielsweise in Verbindung mit biblischen Befreiungserzählungen gebracht werden. Ein Seelsorger verknüpft seine Rolle in der Klinik mit der Theologie der Befreiung. Ausgangspunkt ist eine Steilvorlage, die ihm ein ärztliches Mitglied des Ethikkomitees gegeben hat. Dieser hatte die Mitarbeiter des Ethikkomitees als „Guerilla-Ethiker“ bezeichnet. Der Seelsorger Philipp Vogt knüpft daran an: Aber ich denke, dass wir diese Guerillakämpfer sind und dass wir uns eine gewisse Unabhängigkeit auch erkämpfen und bewahren können und sollten. Und ich würde mich auch ein Stück weit – Stichwort Befreiungstheologie – als Befreiungstheologe im Krankenhaus verstehen (lacht). Ich würde gerne Ärzte, aber das ist jetzt fast ein Überanspruch, von dem Wahn befreien, alles lösen zu müssen, jeden heilen zu müssen, und den Tod eben als Versagen einzuordnen. Und ich würde auch das System gerne befreien wollen von dieser Wahnvorstellung, jeden zu jeder Zeit mit allen gesund machen zu können. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Ausdrücklich stellt sich Philipp Vogt in den theologischen Kontext einer Theologie der Befreiung. Die Funktion dieser theologischen Theoriesprache liegt zunächst darin, um Einverständnis beim Interviewpartner zu werben und ohne Begründungslast ein theologisches Rollenverständnis zu artikulieren. Des Weiteren dient der Rekurs auf die Theologie der Befreiung dazu, das Bild des Guerillakämpfers theologisch aufzuwerten und mit dem Bildfeld der Befreiung als theologischem Konzept weiterzuarbeiten. Mit der Theologie der Befreiung verpflichtet sich der Seelsorger einer bestimmten Perspektive und Sprachwelt, die von Unterdrückungsstrukturen ausgeht und sich für Befreiung einsetzt. Im vorliegenden Fall ist der Übertragungskontext das Krankenhaus oder das Medizinsystem. Mit der theologischen Theoriesprache der Theologie der Befreiung wird das Krankenhaus zu einem Ort, an dem Unterdrückung herrscht, und der zu einer Positionierung des Befreiungstheologen herausfordert. Der Begriff „Befreiungstheologie“ wird im Zitat nicht isoliert verwendet, denn der Seelsorger Philipp Vogt verwendet Schlagworte, die in dessen konnotatives Umfeld passen: „Guerillakämpfer“; „System“; „Unabhängigkeit […] erkämpfen“; „befreien“; „Gesellschaft“. Auffällig ist, dass er die „Befreiungstheologie“ in Richtung „Kampf“ deutet. Dies ist auch in befreiungstheologischen Texten üb-

223 Ebd.

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

211

lich.224 Dass für den Klinikseelsorger Philipp Vogt die Befreiungstheologie einen theologischen Reflexionshintergrund seiner Arbeit darstellt, zeigt auch die Beobachtung, dass er sich auch an einer anderen Stelle im Interview als „Befreiungstheologe“ bezeichnet. Wir kommen in unserer Gesellschaft mehr weg von der Schuld. Wir sind eigentlich mehr bei der Scham, bei der Beschämung. Und da komme ich jetzt wieder als Befreiungstheologe (lacht) ins Spiel. Die Scham besteht heute oft in diesem Mythos von diesem gelingenden Leben. Und das hat Wolfgang Drechsel auch schon so gesagt.225 Demnach müsste ich mich schämen, wenn dieser Mythos zerstört ist, wenn ich so da liege, und meine ganzen Pläne sind dahin, die ich mir gemacht habe. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

In diesem Abschnitt sieht Philipp Vogt seine Aufgabe als Befreiungstheologe darin, dass er den „Mythos vom gelingenden Leben“ als Mythos benennt und dass er die Beschämung über das Scheitern an diesem Mythos wahrnimmt. In den anderen befreiungstheologisch konnotierten Interviewabschnitten bestand das Leiden in einer Angst vor der eigenen Sterblichkeit und Fehlbarkeit. Diese beiden Phänomene sind nicht deckungsgleich, zeigen aber beide den Ansatzpunkt der befreiungstheologischen Reflexion Philipp Vogts: den Ansatz bei den konkreten Leiderfahrungen der Menschen, denen Klinikseelsorger begegnen. In der Logik der Theologie der Befreiung wird dieser theologische Ausgangspunkt beim konkreten Leiden als „Schrei der Armen“ bezeichnet. In diesem Schrei sei Gott selbst präsent. So wäre es zu kurz gegriffen, in der Theologie der Befreiung nur eine Reflexion über das Thema der Befreiung zu sehen. Vielmehr ist sie „eine Reflexion über Gott im Kontext der Befreiung. [… Sie] hat auf das Wort Gottes im Schrei der Armen gehört.“226 Das Wort Gottes im Schrei der Armen zu hören, setzt voraus, dass das Wort Gottes von anderen nicht im Schrei der Armen, sondern in anderen Äußerungen gehört wird. Hier wird auf die Geschichte Lateinamerikas verwiesen, wo die Kolonialisierung im Namen Gottes stattgefunden habe und sich die Unterdrücker also auch auf das Wort Gottes berufen hätten. Der Anspruch der Befreiungstheologie ist es, Idolatrien aufzudecken, wo „Gott“ nur als Chiffre eines unterdrückenden Systems verwendet wird, und zu helfen, „den wahren Gott von den falschen Abbildern zu unterscheiden“.227 „Diese Auseinandersetzung zwischen dem Gott des Lebens

224 Joâo B. Libanio stellt dazu heraus, dass die Theologie der Befreiung (ThB) von Anfang an versucht hat, „die Erlösung im Horizont der Befreiung herauszuarbeiten. […] Das Wort Gottes ermutigte die ThB im Kampf gegen eine ungerechte Gesellschaft und im Einsatz für die Entstehung des neuen Menschen.“ (Libanio, Befreiung, 36) 225 Philipp Vogt nimmt hier Bezug auf einen Aufsatz von Drechsel, Schatten, 314–328. 226 Richard, Befreiungstheologie, 20. 227 A.a.O., 21.

212

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

und den Abbildern ist ein echter spiritueller Kampf, der im Gläubigen selbst, in der Kirche und der Gesellschaft ausgetragen wird.“228 In den befreiungstheologischen Reflexionen von Philipp Vogt ist festzustellen, dass es ihm in der Klinikseelsorge um die Aufdeckung von Idolatrien geht. Wenn man das Bild so ausziehen wollte, dann tragen die falschen Götter bei ihm die Namen „Gesundheit“ und „Mythos vom gelingenden Leben“. Beides, Gesundheit und gelingendes Leben, sind Wunschvorstellungen, die das „System“ guten Gewissens vertritt und gegen die nichts einzuwenden wäre, wenn sie nicht als verabsolutierende Ideologien daherkämen. Aufgabe des befreiungstheologischen Klinikseelsorgers ist nun die Unterscheidung in Gott und Abgott. Dies äußert sich darin, dass die unterdrückenden Strukturen aufgedeckt und deren Wirkung als Angst und Beschämung benannt werden. Das Ziel einer so gearteten Klinikseelsorgearbeit fasst Philipp Vogt dann in dem Bild der offen zu haltenden Wunde und in der Selbsterlaubnis, krank und sterblich sein zu dürfen. [U]nd ich möchte eigentlich auch selbst, aber auch die andern immer wieder davon befreien, diese Wunde offen zu halten. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K).

Ausgegangen war der Seelsorger Philipp Vogt von der Theologie der Befreiung, die er zunächst auf das Medizinsystem und hier nun auch auf sich selbst als zu Befreiendem anwendet. Diese weite Deutungsaktivität des Seelsorgers liegt in der Metaphorizität der theologischen Theoriesprache selbst begründet. Die Rede von der „Theologie der Befreiung“ als sogenannter Genitivtheologie ist insoweit deutungsoffen, als unbestimmt bleibt, wie „Theologie“ und „Befreiung“ sich gegenseitig auslegen. Diese Deutungsoffenheit lädt dazu ein, deutungsaktiv zu werden und als Theologe bestimmte soziale Phänomene als Strukturen der Unterdrückung bzw. Befreiung theologisch zu deuten.

e)

Exkurs: Räume und Raumkonflikte

Die religiöse Sprachwelt äußert sich für Seelsorgende nicht nur in religiöser Sprache, sondern auch in religiös konnotierten Gegenständen (Artefakten) und Räumen. Am Beispiel einer teilnehmenden Beobachtung soll deutlich werden, wie religiöse und medizinische Sprachwelt in Form von Artefakten nebeneinander stehen und teilweise in Konflikt miteinander treten können. Wenn man die Kapelle eines städtischen Großklinikums verlässt, fällt der Blick auf die gegenüberliegende Wand des Klinikflures. Auf der linken Seite hängen hinter Glas und in Holz eingerahmt ein bebilderter Bibelvers und die Termine für die Klinikgottesdienste. „Gott spricht: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen. Jer 29,13.14“ lautet die Aufschrift 228 A.a.O., 22.

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

213

am unteren Bildrand. Etwa auf gleicher Höhe rechts davon ist ein nur provisorisch mit zwei Klebestreifen befestigtes laminiertes Blatt angehängt, auf dem es heißt: „!!!!!!! Hygienische Händedesinfektion nicht vergessen!!!!“ Darunter befindet sich ein fest installierter Spender für die Händedesinfektion, und neben diesem hängt ein laminiertes Blatt mit bebilderten Angaben, wie die Händedesinfektion vollzogen werden muss. Der visuelle Eindruck der Aushänge vermittelt die Aufspaltung in zwei Welten: links die Sphäre der Religion, der religiösen Praxis und religiösen Sprache. Rechts davon die Welt der Medizin, der medizinischen Sprache und Praxis. Allein die Materialien unterstützen die Spaltung. Da ist einerseits der Bilderrahmen aus Naturholz mit Bild und Texten. Die Materialien der medizinischen Sphäre sind hier anderseits Metall, Plastik, Klebeband und der Inhalt des Desinfektionsspenders. Die beschriebenen Artefakte machen deutlich, dass die beiden Sphären auf normativer Ebene konkurrieren. Normativität meint hier, warum ein Verhalten „vorzugswürdig“229 erscheint. Bei dem Begriff der Vorzugswürdigkeit spielt es keine Rolle, ob die vorgeschriebenen Handlungen gesollt, richtig oder gut sind. Das Verbindende liegt darin, dass hinter Handlungsanweisungen eine Orientierung steht. Hinter dem Imperativ „Hygienische Händedesinfektion nicht vergessen“ steht die Norm, dass das Wohl des Patienten das Handeln in der Klinik orientieren soll. Denn die Krankenhaushygiene dient zuallererst dem Schutz der Patientinnen und Patienten, für die eingeschleppte oder von einer anderen Station übertragene Keime gefährlich werden können. Auch auf der Seiten der Welt der Religion finden sich Handlungsaufforderungen, wenn auch nicht so explizit wie auf der medizinischen Seite. Direkt neben dem Bibelvers sind die Gottesdiensttermine angeschlagen. Schon allein der Aushang von Terminen beinhaltet die latente Aufforderung, die Veranstaltungen wahrzunehmen. An der Wand des Klinikflures begegnen der Betrachterin also zwei Normen, die ihre Umsetzung in konkreten Handlungen fordern: das Wohl als Patientin und als gläubiger Mensch. Die Spaltung in die zwei Normen und die zwei Handlungen des Gottesdienstbesuchs und der Händedesinfektion stehen nicht grundsätzlich in Konflikt zueinander. Es ist denkbar, dass sich Gottesdienstbesucher die Hände desinfizieren und dabei keinen Normenkonflikt verspüren. Dennoch kann man von einer Konkurrenz der angesprochenen Normen und Handlungsanweisungen sprechen, da sie mit unterschiedlichen Institutionen und Sprachwelten in Verbindung stehen und die von der Norm betroffene Person unterschiedlich adressieren. Der Leser der Information zur Händedesinfektion wird als potenzieller Krankheitsüberträger und als für andere gefährliches Subjekt angesprochen. Die medizinische Fachsprache zielt auch darauf ab, die 229 Vgl. Härle, Voraussetzungen, 210–237.

214

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Leserinnen in ihren medizinischen Berufen und in ihren Rollen als Patienten und deren Angehörigen zu adressieren. Demgegenüber richtet sich die religiöse Sprache an religiöse Subjekte unabhängig von ihrer Berufs- oder Aufenthaltsrolle im Klinikum. Dass es auch de facto zum Konflikt kommt – und zwar genau an dem Ort, wo die beschriebenen Artefakte hängen – zeigt folgender Ausschnitt aus der teilnehmenden Beobachtung: Die zuständige Seelsorgerin erzählt, dass die Kapelle sich auf dem Flur einer Projektstation befinde, wo eine neue zeitliche Schichtung des Personals ausprobiert werde. Die Patientenversorgung würde dadurch besser, da sie zeitnah geschehe und Ansprechbarkeit gewährleistet werde. Damit gehe einher, dass vermehrt kränkere Patientinnen auf die besagte Station verlegt würden, und dass die Patienten dort insgesamt sehr infektionsanfällig seien. Das führe manchmal dazu, dass aus Hygienegründen die Tür zum Stationsflur abgeschlossen werde, und man nicht mehr ohne weiteres in die Kapelle komme. De facto kommt es dann zu einem Konflikt zwischen den Handlungsaufforderungen von Religion und Medizin, zwischen Gottesdienstbesuch und Hygienevorschriften. Wenn das Patientenwohl in Gefahr ist, wird diese Norm über die Möglichkeit des Gottesdienstbesuchs gestellt. Die Gottesdienstbesucher kommen nicht ohne weiteres in die Kapelle. Auch Räume kommunizieren also etwas, werden aber hier nicht als „Sprache“ im engeren Sinne verstanden: Klinikseelsorgerinnen berichten von Erfahrungen, die auf eine ähnlich enge Verknüpfung von topographischer und normativer Konkurrenz hindeuten. So ist es in vielen Kliniken der Fall, dass Seelsorgende wie selbstverständlich das Patientenzimmer verlassen, sobald die ärztliche Visite das Zimmer betritt. Das medizinische Wohl des Patienten wird in dem Fall als vorrangig und als dringlicher gesehen als die Bedürfnisse des Patienten als eines religiösen Subjekts. Als Thema topographischer Konkurrenzen in der Klinik trat auch das Thema hervor, welche Räume für Handlungsvollzüge bereitgestellt werden, die am ehesten der religiösen Sphäre zuzuordnen sind. Bei diesen Räumen geht es neben den Klinikkapellen um Aussegnungs- und Abschiedsräume sowie um die Seelsorgebüros. Die Lokalisation der genannten Räume wurde seitens der interviewten Seelsorgerinnen sehr genau wahrgenommen und als Zeichen der Wertschätzung der Arbeit der Seelsorge gewertet. Die Wertschätzung zeigt sich da drin, welches neue Büro ich haben würde. Und das war für mich so ein Schlüsselsatz. Und dann habe ich gesagt: „Mir wäre es wichtig, dass ich es alleine nutzen kann und dass man es leicht findet.“ (I Barbara Remmert 4. 5. 2012 K)

Das neue Büro liegt im Keller direkt neben den Intensivstationen. Dies habe sie nicht als Abschiebung interpretiert, sondern nun sitze sie dort, wo man sie am meisten brauche. Es wird deutlich, wie sich die Klinikseelsorgerin in den dargestellten Konkurrenzen der Welten verortet und darin handelt. Die Handlung

Zur Funktion religiöser Rede bei Klinikseelsorgenden

215

besteht in dem Fall darin, dass Barbara Remmert den Raum für sich einforderte, der ihr für das Arbeiten in der religiösen Sphäre notwendig erschien.

f)

Funktion und Grenzen religiöser Sprache im ethischen Kontext

Es lässt sich festhalten, dass Seelsorgende religiöse Rede in der Interviewsituation verwenden, wenn sie Rechenschaft darüber abgeben, was ihre Rolle zusammenhält, welche ethische Handlungsorientierung sie sich zu eigen gemacht haben und wie sie strukturelle Dimensionen der Klinik bewerten. In anderen Kapiteln des vorliegenden Buches werden Beispiele angeführt, wo religiöse Rede auch direkten Anschluss an die Klinik hat. So wird in Kapitel 3.2 die Arbeit einer interprofessionellen Arbeitsgruppe zum Thema Nächstenliebe beschrieben, wo religiöse Rede die Arbeit der Arbeitsgruppe bestimmt. Auch in Kapitel 3.7 findet religiöse Rede Anwendung im Raum der Klinik, wenn es beispielsweise um Rituale am Krankenbett geht. Es besteht weder eine religiöse Sprachlosigkeit, noch weichen Seelsorgende religiöser Rede aus. In Abschnitt II. konnte vielmehr gezeigt werden, dass jede religiöse Sprachform eine bestimmte Funktion im Kommunikationsprozess erfüllt, die ohne die religiöse Semantik nicht so hätte erbracht werden können. Die biblische Bildsprache leistet als narrative Sprachform einen Beitrag dazu, die Prozesshaftigkeit von ethischen Situationen aufzugreifen, dem Nebeneinander von Wertungswidersprüchen Raum zu geben und ein Sich-HineinversetzenKönnen in die ethische Situation zu ermöglichen. Religiöse Rede als religiöse Glaubenssprache leistet einen Beitrag, wenn es um eine begründungsentlastete und deutungsoffene Formulierung ethischer Haltungen geht. Diese Sprachform hat etwas von einem Bekenntnisakt in dem Sinne, dass auf Nachfrage knappe Rechenschaft über die eigene ethische Orientierung gegeben werden kann. Gleichzeitig ermöglicht diese Knappheit einen breiten Handlungs- und Deutungsspielraum. Als theologische Theoriesprache einer bestimmten Schulrichtung kann religiöse Rede dazu betragen, eine ethische Gesamtsituation aus einer theoretischen Distanz zu betrachten und sich den theoretischen Vorannahmen der Schulrichtung anzuschließen. Dies kann wie in dem Beispiel der Theologie der Befreiung dazu führen, dass der Klinikbetrieb allegorisch und damit vermeintlich eindeutig im Raster der theologischen Schule ausgedeutet wird. Andere Theoriehintergründe sind dagegen zurückhaltender gegenüber einer „Wut des Verstehens“ (F.D.E. Schleiermacher) und zeichnen sich durch hermeneutische Zurückhaltung aus.230 230 Vgl. Abschnitt IV.

216

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Jede der drei vorgestellten religiösen Sprachformen hat ihre Grenzen und Gefahren. Die Sprachform der theologischen Schule ist in Kommunikationssituationen hilfreich, in der an den gemeinsamen Wissenshintergrund der Gesprächspartner angeknüpft wird. Die Interviews haben offenbar diese Form religiöser Rede herausgefordert. Im Miteinander der verschiedenen Berufe in der Klinik sind solche Sprachformen mit Vorsicht zu genießen, wenn man sich mit allzu eindeutigen Urteilen aus konkreten ethischen Situationen herauszieht, die Kompromisse und Deutungsvielfalt brauchen. Die Sprachform der narrativen biblischen Rede und der religiösen Glaubenssprache eröffnet die Möglichkeit, die Ambiguität und Vieldeutigkeit von ethischen Situationen zu explizieren und zusammenzuhalten. Die Grenze dieser Sprachformen liegt dort, wo klare Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden müssen. Allerdings könnte religiöse Rede auch gerade dort eingesetzt werden, wo vermeintlicher Entscheidungsdruck besteht, und als Mittel zur Entschärfung des Konflikts beitragen. Auch in der Vor- und Nachbereitung von ethischen Konflikten können diese deutungsoffenen religiösen Sprachformen eine entlastende Rolle spielen.

III.

Moralische und entmoralisierende Rede

Neben einer Kompetenz in religiöser Sprache wird Seelsorgenden auch im Hinblick auf moralisches Sprechen viel zugetraut.231 Der Erwartung, sprachfähig in moralischen Dingen zu sein, füllen die Seelsorgenden sehr unterschiedlich aus. So treten sie an verschiedenen Stellen moralisch positionell auf, und an anderen Stellen enthalten sie sich moralischer Urteile. Entlang der Wortfelder Recht, Patientenwille, Würde, Schuld232 und Ambivalenz sollen Verwendungszusammenhänge und Funktionen von moralischer Sprache bei Seelsorgenden beleuchtet werden. Dabei wird zunächst gezeigt, dass moralische Rede im Krankenhaus vielfach Rede in Rechtstermini ist, und dass Seelsorgende sich dieser Art moralischen Sprechens weitestgehend anschließen (a). Des Weiteren ist ein sehr sensibler Umgang mit moralischem Sprechen zu verzeichnen, der situationsbedingt auf moralische Verstärkung oder auf eine Distanzierung von moralischem Urteilen abzielt.233 Insgesamt ist bei der Versprachlichung des Moralischen eine ähnliche Doppelbewegung wie in den Kapiteln 3.4 und 3.5 zu erkennen: Seelsorgende eignen sich bestimmte Konzepte an, z. B. das des Gewissens und den Person-Begriff, und lassen sich auf die Impli231 Vgl. Kapitel 3.1. 232 Vgl. hierzu auch Kapitel 3.1, 3.4 und 3.7 in diesem Buch. 233 Vgl. Kapitel 4.1, III. b.

Moralische und entmoralisierende Rede

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kationen dieser Begriffe ein. Demgegenüber zeigen Seelsorgende aber auch immer wieder, wie sie sich den Begriffen entziehen. Bei der Rede vom Moralischen ist also einerseits die Bewegung zu sehen, dass sich Seelsorgende auf eine positionelle ethische Rede einlassen. Auf die Frage nach ihrer moralischen Instanz antwortet eine Seelsorgerin, dass ich so an Punkten gemerkt habe, dass das so richtig sein soll. Und das hat dazu geführt, dass ich mich damit auseinandergesetzt habe. Und jetzt finde ich schon, dass ich […], dass ich schon genau gucke und prüfe, wo ich stehe und warum ich da stehe und auch wo die Kirche steht. (I Barbara Remmert 4. 5. 2012)

Hier geht es um richtige und falsche Standpunkte, die die Seelsorgerin nach Prüfung einnehmen kann. Demgegenüber äußert eine andere Seelsorgerin ihre Distanzierung von moralischen Urteilen: Ich bin zum Glück nicht moralisch. (I Britta Schultz 17. 10. 2012 M)

Entlang der Begriffe Würde (b), Schuld bzw. Schuldgefühl (c) und Ambivalenz234 (d) wird diese seelsorgliche Doppelbewegung von moralischer Verstärkung und moralischer Distanzierung ausgelotet. Ein Zwischenfazit (e) schließt Abschnitt III. ab.

a)

Juridische Sprache als Artikulation des Ethischen

Neben dem verdeckenden und ausgrenzenden Aspekt von Sprache lassen sich ein weiteres sprachliches Phänomen in der Klinik und der seelsorgliche Umgang damit beobachten. Das Phänomen besteht darin, dass eine Sprachwelt in die andere eindringt und damit nicht nur die Sprachform, sondern auch die in der Sprachwelt mitschwingenden Normen ‚kolonialisiert‘.235 In der Klinik betrifft dies vor allem die Juridifizierung medizinethischer und alltäglicher Sprache.236 Seelsorgende reagieren unterschiedlich auf diese beiden ‚Kolonialisierungen‘. Die Verrechtlichung der Medizinethik erweckt zunächst wenig Widerstand der Seelsorgenden. Dies liegt daran, dass das Recht in sich schon normativ sehr 234 Der Wortsemantik nach geht es bei Ambivalenz sehr wohl um ein Urteil, eben um das Urteil, dass zwei Wertungsmöglichkeiten gleichzeitig vorliegen. Die Pragmatik des Wortes „Ambivalenz“ kann sich von einer moralischen Positionierung distanzieren, indem in der psychologischen Tradition Egon Bleulers mit „Ambivalenz“ das zwiespältige Erleben, nicht aber das Urteilen gemeint ist. 235 In seiner „Theorie kommunikativen Handelns“ spricht Jürgen Habermas von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die Systeme. Die Kolonialisierungsrichtung ist bei Habermas zwar eine andere, weil es um die Durchdringung der Lebenswelt durch zweckrationale Systeme geht. Aber die Kolonialisierung geschieht in seiner Theorie auch durch Sprache und hat normenverändernde Wirkung. 236 Vgl. zur Ökonomisierung Herrmann/Kliesch, Markt. Vgl. zur Juridifizierung medizinischer Sprache: Kliesch, Ethos, 278–295.

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

reichhaltig ist und medizinethische Debatten gerade in Deutschland vor allem im Modus von rechtspolitischen Debatten ausgetragen werden. Man kann pointiert sagen: die Juridifizierung der Sprache ist ein Einfallstor für Ethik in der Klinik, und Klinische Ethik hat überhaupt durch das Recht so große Relevanz. Trotzdem sehen Seelsorgende an manchen Stellen mögliche Konflikte zwischen rechtlichen und anderen Normen und bringen sie zum Ausdruck. Denn juridische Sprache hat auch ausgrenzende Aspekte, nämlich nur über das Richtige und nicht das Gute zu reden. Die rechtliche Sprachwelt manifestiert sich zunächst in juridischer Sprache, die sich in medizinethischen Debatten etabliert hat, wie zum Beispiel die Rede vom Patientenwillen. Neben der juridischen Sprache gibt es aber auch den Rechtsbegriff, wie er beispielsweise in der alltagssprachlichen Wendung „Recht haben“ zum Ausdruck kommt. Auch in medizinethischer Sprache wird mit „Recht“ argumentiert. Sowohl in der alltagssprachlichen als auch in der medizinethischen Sprache ist mit dem Rechtsbegriff eine Unschärfe zwischen rechtlicher und moralischer Sprache gegeben. Den juristischen Terminus „Patientenwille“ verwenden und bewerten Seelsorgende unterschiedlich. Auf Nachfrage der Interviewerin, was der Maßstab ihres Handelns in ethischen Konflikten sei, antwortet eine Seelsorgerin: Das eine ist der Mensch mit seinen Wünschen, also der ganz konkrete Patient, wenn sich das irgendwie erschließen lässt: Was ist der Patientenwille? Gibt’s den niedergeschrieben, ausgesprochen, vermittelt? Das ist einfach die zentrale Frage: also wenn er sich nicht selbst äußern könnte: Was würde der Mensch, um den es gerade geht, wollen, wenn er das könnte? Das ist so das eine. Denn es geht immer um den Menschen. Und das andere ist mein ethischer Maßstab: das ist schon christliche, biblische Theologie. Wo ich einfach denke [Pause], dass wir nach dem gucken müssen, was diesem Nächsten, diesen unseren geringsten Geschwistern angemessen ist: Was brauchen die jetzt? (I Annette Ingelmann 22. 10. 2011 E)

Die Seelsorgerin nennt zwei Maßstäbe ihres Handelns: den Patientenwillen und christliche Nächstenliebe. Letzteres bezeichnet sie als „ethischen Maßstab“, ersteres als „zentrale Frage“. Mit dem „Patientenwillen“ ist hier deutlich die juristische Konstruktion des mutmaßlichen Willens gemeint: „Was würde der Mensch, um den es gerade geht, wollen, wenn er das könnte?“ Die Seelsorgerin fasst mit dem rechtlichen Terminus des Patientenwillens das, was ihr als Maßstab in ethischen Konflikten gilt. Darauf zielte die Frage der Interviewerin. Man könnte pointiert sagen: Als die Seelsorgerin nach Ethik gefragt wird, spricht sie automatisch rechtlich. Mit dem Beispiel soll hier gezeigt werden, dass rechtliche Sprache im Reden von Seelsorgenden in enger Verbindung mit ethischen Kategorien steht. Dahinter steht die hohe Anschlussfähigkeit rechtlicher Sprache, die Seelsorgende in der Klinik wahrnehmen. Mit der Rede vom Patientenwillen kann man ohne Vor-

Moralische und entmoralisierende Rede

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klärungsdruck in die Diskussion ethischer Konflikte in der Klinik eintreten. Dass es sich dabei um eine Durchdringung rechtlicher und ethischer Kategorien handelt, wird an der Sprache nicht deutlich. Vielmehr haben rechtliche Termini den ethischen Diskurs kolonialisiert. Die beiden Maßstäbe, Patientenwille und Nächstenliebe, stehen in der Darstellung der Seelsorgerin unverbunden nebeneinander, und kein Konflikt scheint zwischen ihnen zu herrschen. „Patientenwille“ könnte hier eine nichtreligiöse Übersetzung für das sein, was für die Seelsorgerin „Nächstenliebe“ ausmacht. Bei näherem Hinsehen benennt die Seelsorgerin mit „Nächstenliebe“ hier aber einen fürsorglichen Aspekt: „Was brauchen die jetzt?“ Insofern ist Nächstenliebe an dieser Stelle keine religiöse Chiffre für das Prinzip der Autonomie, sondern für das Prinzip der Fürsorge. Es ist auffällig, dass die Seelsorgerin als erstes einen Terminus aus der rechtlichen und erst dann aus der religiösen Sprachwelt nennt, um ihren Orientierung in ethischen Konflikten zu benennen. Diese bewusste oder unbewusste Vorordnung der juridischen Sprache lässt sich auch bei anderen Seelsorgenden beobachten, was mit der hohen Anschlussfähigkeit der rechtlichen Sprache im Raum der Klinik erklärt werden kann. So bekräftigt eine andere Seelsorgerin bei der Darstellung ihrer Maßstäbe in ethischen Konflikten: Susanne Christlieb: Ich war schon immer jemand, die den Patientenwillen an oberste Stelle gestellt hat. Was ja erst vor drei Jahren, zwei Jahren durch das Bundesverfassungsgericht so gestärkt worden ist. Interviewerin: Durch das Patientenverfügungsgesetz? Christlieb: Genau. Aber der Patientenwille ist für mich wirklich das oberste Gebot. Und das kommt natürlich hin und wieder in einen Konflikt mit christlichen Geboten. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Zunächst spricht die Seelsorgerin von der „obersten Stelle“, die der Patientenwille einnehmen soll, und verwendet dann die Bezeichnung „oberstes Gebot“. Pointiert kann man sagen, dass sie damit den Begriff des Patientenwillens in die religiöse Sprachwelt hineinzieht. Denn wenn eine Pfarrerin den Begriff „oberstes Gebot“ verwendet, hat dies gewollt oder ungewollt Anklänge an die neutestamentliche Frage nach dem höchsten Gebot, nach dem ein Schriftgelehrter Jesus fragt. Vielleicht legt es sich hier eher als im anderen Beispiel nah, davon auszugehen, „Patientenwille“ als eine Übersetzung von „Nächstenliebe“ zu sehen. Denn in der biblischen Perikope vom höchsten Gebot, deren Bildwelt die Seelsorgerin bedient, zielt das Gespräch auf die Gottes- und die Nächstenliebe. Im nächsten Schritt weist die Seelsorgerin dann aber auch auf mögliche Konflikte zwischen dem „Patientenwillen“ und „christlichen Geboten“ hin. Anders als bei der Seelsorgerin Annette Ingelmann wird hier die mögliche

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Konflikthaftigkeit der Sprachwelten und der damit verbundenen Normen herausgestrichen.237 Auch an anderen Stellen markieren Seelsorgende die Bedeutsamkeit der rechtlichen Sphäre in der Klinik, indem sie den Rechtsbegriff alltagssprachlich und in seiner genannten Unschärfe verwenden. Seelsorgerin Frohmut erzählt von einem Beratungsgespräch mit den Eltern eines schwer kranken Säuglings. Die Ärzte sahen anscheinend noch eine Überlebenschance und plädierten für eine Maximaltherapie. Und die Eltern haben gesagt, das ist keine Überlebenschance, das ist nur eine Leidensverlängerung, und unser Kind hat ein Recht darauf, dass es nicht jetzt fünf Jahre oder wie auch immer groß leidet und nur in Krankenhäusern verbringt, und wir möchten das nicht. (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E)

Hier stammt ‚Recht‘ nicht aus einer juristischen Sprachwelt, sondern wird alltagssprachlich verwendet. Es dient hier als Verstärkung des Arguments, dass die Eltern keine Leidensverlängerung für das Kind wollen.238 Die Seelsorgerin hat nichts Grundsätzliches an dieser Juridifizierung der Alltagssprache auszusetzen. Das verwundert nicht, weil der Rechtsbegriff stark in der Alltagssprache verankert ist. Ein abschließendes Beispiel zeigt noch deutlicher, dass die Juridifizierung anderer Sprachwelten – und damit auch das Primat rechtlicher Normen – in der Klinik angekommen ist und auch von Seelsorgenden unkritisch gesehen wird. Seelsorger Ahrens erzählt von einer schwer kranken Patientin, die bei vollem Bewusstsein die Nahrung verweigerte. Der Seelsorger beschreibt den Einfluss des Rechts auf einen ethischen Konflikt. Am wichtigsten sei es allen gewesen, dass „juristisch nichts verkehrt gemacht wurde“ und dass das „juristisch sauber war“ (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E). Es ist festzustellen, dass der Seelsorger den ausschlaggebenden Einfluss der rechtlichen Sphäre auf den ethischen Konflikt in Kauf nimmt. Aus seelsorglicher oder ethischer Sicht hätte er auch das Leiden von Patientin und Personal oder die Autonomie bzw. Fürsorgepflicht ins Spiel bringen können. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Juridifizierung von Sprachwelten in der Klinik sehr stark verankert ist, und dass in vielerlei Hinsicht rechtlich geredet wird, wenn es um Ethik geht. Für die Platzierung ethischer Debatten in der Klinik ist dies eine Chance. Die Gefahr liegt in den normativen Implikationen für das Reden und Entscheiden in der Klinik, die die Phänomene 237 Als konkretes Beispiel für einen solchen Konflikt nennt die Seelsorgerin Susanne Christlieb das Beispiel, wo eine künstliche Ernährung gegen den mutmaßlichen Willen der Patienten weitergeführt wurde. Grund war die „christliche Auffassung“ des bevollmächtigten Enkelsohnes, dass ein Mensch bis zum Tod ernährt werden müsse. 238 Rechtliche Sprache kann auch entlasten. Siehe dazu Kapitel 3.1, III. a.

Moralische und entmoralisierende Rede

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der Juridifizierung der Sprache haben. Aber auch das ethische Konfliktpotenzial dieser ‚Kolonialisierung‘ wird von Seelsorgenden vereinzelt benannt.239

b)

Die Rede von Würde als moralische Verstärkung

Auch der Würdebegriff oszilliert zwischen ethischen und rechtlichen Zusammenhängen. Er ist sowohl in Rechtstexten wie dem Grundgesetz als auch in medizinethischen Publikationen einschlägig. Im erhobenen Material der vorliegenden Studie dient das Wortfeld Würde/würdig als moralischer Prädikator, unter dem jeder etwas anderes verstehen kann, und gegen den niemand leichtfertig etwas einwenden kann. Für mich ist es eine christliche Haltung und ein christliches Gebot, dass ein Mensch ein würdevolles Sterben hat. Das geht bei mir nicht einher mit Ernährung bis zum Schluss. Das zeigt mir die Medizin, die Erfahrung, die dazu gehört, und das war ein hartes Ringen um einen Weg. (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E)

Hier verwendet die Seelsorgerin „würdevoll“ als starkes Prädikat, um gegenüber der Interviewerin ihre moralische Position deutlich zu machen, dass „Ernährung bis zum Schluss“ sich nicht mit ihrer christlichen Haltung und ihren Erfahrungen in der Klinik übereinbringen lassen. Eine andere Verwendung des Terminus zeigt das folgende Zitat: Respekt hängt auch mit dem mutmaßlichen Patientenwillen zusammen. Wir nehmen Menschen in ihrer Abhängigkeit ernst und lassen sie entscheiden. Es hat etwas mit Mündigkeit und Würde zu tun. Da passt der Satz: Was Du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu. (F Susanne Christlieb 10. 5. 2012 T)

Die Seelsorgerin verwendet das Wort „Würde“ hier in einem interdisziplinären Gremium, das über das Krankenhausleitbild diskutierte. Der Abschnitt zeigt einerseits, dass die Seelsorgerin davon ausgeht, dass der Würdebegriff für Vertreter unterschiedlicher Professionen in der Klinik verständlich ist (Pflege, Medizin, Ergotherapie, Verwaltung). Andererseits zeigt der Abschnitt, dass „Würde“ anders gefüllt wird als im vorigen Beispiel. Während dort das gute Sterben im Blick war, dient „Würde“ hier als Prädikator für den Respekt vor der Selbstbestimmung. Wieder anders füllt die Seelsorgerin Heike Schütz den Würdebegriff. Sie erzählt von einer Spätabtreibung, bei der sie von den Eltern um eine Nottaufe gebeten wurde. Das Kind war also da. Ich sollte es nottaufen. Sie haben dieses sterbende Kind von Hand zu Hand gereicht. Jeder sollte kommen und das Kind halten. Es könnte sein, dass das ein großer Stress war für das Kleine, aber das war in dem Moment irgendwie auch gar nicht 239 Vgl. oben das Beispiel von Seelsorgerin Renate Frohmut.

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

mehr so wichtig. Es war einfach [Pause], es hatte viel Würde.“ (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

„Es hatte viel Würde.“ Wenn man das „es“ auf die Situation bezieht, hatte das Ritual ihr eine gewisse Würde und Annehmbarkeit verliehen. Wenn mit „es“ das Kind gemeint ist, dann wurde seine Würde durch das Ritual sichtbar gemacht.240 Würde wäre mit Bezug auf das Kind dann nicht als Schutzprinzip gedacht, sondern als Eigenschaft, die affirmiert und von der Gemeinschaft der Situation oder dem Kind zugesprochen wird. Für Heike Schütz ist „Würde“ jedenfalls eine Chiffre dafür, dass es etwas gibt, das die Tragik und Konflikthaftigkeit der Situation überbrückt und die verschiedenen Welten zusammenbringt, zum Beispiel die medizinische Welt der Krankheit des Kindes und die religiöse Welt der Taufe. Insgesamt hat die Rede von Würde in allen Beispielen die Funktion, eine moralische Einschätzung zu verstärken. c)

Die Rede von Schuld und Schuldgefühlen zwischen Moralisierung und Entmoralisierung

Auch die Rede von Schuld dient in der Klinik als moralischer Begriff und als Indikator, der anzeigt, dass es um eine Situation geht, in der eine Entscheidung zu moralischen Selbst- oder Fremdvorwürfen führen würde oder geführt hat. Wenn es um Schuld geht, können Seelsorgende als zuständig angesehen werden. So beschreibt es die Seelsorgerin Barbara Remmert, wenn sie auf die Frage antwortet, ob Schuld eine Rolle in ihrer Arbeit spiele: Natürlich spielt Schuld eine große Rolle. Und ich denke schon, dass da Klinikseelsorge auch etwas zu sagen hat. Dass es irgendwie klar ist, dass das in der Klinikseelsorge auch ein Thema sein darf. Also wo sonst darf denn das Thema sein? Also höchstens, es ist Thema und es wird alles ausgeredet. Und gegenüber der Klinikseelsorge wird gesagt: Also die kennen sich mit Schuld doch aus! (lacht) Interviewer: Experte… (lacht) Remmert: Experte, genau. Und da darf man das auch bereden, und das wird einem nicht sofort ausgeredet. Allerdings ist es jetzt auch nicht meine Art, jemanden irgendwie so in seiner Schuld moralisch noch so eins drauf zu geben, das sicher nicht. (I Barbara Remmert 4. 5. 2012 K)

An dem Abschnitt wird deutlich, dass die Seelsorgerin die Rede von Schuld dem Bereich der Klinikseelsorge zuordnet. Dort und nur dort sei Schuld ein Thema. In anderen professionellen Kontexten sei die Rede vielleicht kurz Thema, dann aber werde Schuld den Betroffenen „ausgeredet“. Die Seelsorgerin spielt hier auf ihre Erfahrungen an, dass in Patientengesprächen der Pflege und den sozialpsycho240 Vgl. auch Kapitel 3.7 in diesem Buch.

Moralische und entmoralisierende Rede

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logischen Diensten auch die Rede von Schuld aufkommen kann, dass aber dort dem Thema ausgewichen oder Schuld abgesprochen werde. Demgegenüber werde die Rede von Schuld als ein Gebiet angesehen, auf dem die Seelsorge eine Expertise habe und einen Raum zum Aussprechen biete. Sie lacht bei dem Gedanken, dass es Experten für die Schuld geben könne, weil es ihr absurd erscheint, moralische Fragen an einer Profession festzumachen. Anderseits weist sie die Expertenrolle nicht zurück und will in der Seelsorge den Raum bieten, wo über Schuld gesprochen werden kann. Sie nimmt diese Rolle an und ist sich des moralischen Gewichts der Rede von Schuld bewusst. Sie nennt Beispiele von Patienten, die nach einem Schwangerschaftsabbruch regelmäßig zu ihr in den nachsorgende Beratung kamen, und dann, als sie das Thema Schuld nur vorsichtig ansprach, sich verschlossen und nicht mehr kamen. Daher zeigt sich die Seelsorgerin vorsichtig gegenüber der Rede von Schuld und möchte niemanden in seiner Schuldigkeit moralisch verurteilen. Demgegenüber verwahrt sich die Seelsorgerin Andrea Schreiber gegen die Rede von Schuld und wählt einen anderen sprachlichen Weg als die Seelsorgerin Barbara Remmert. Sie spricht von „Schuldgefühlen“. In einem Feldtagebucheintrag ist zu lesen: Frau Schreiber berichtete von einer Patientin, wo im Rückblick die Begleitung am Lebensende „ideal“ gelaufen sei. Es habe sich um eine Frau mit fortgeschrittenem gynäkologischen Krebs und palliativer Therapiesituation gehandelt. „Trotz der Palliativsituation stand noch eine Operation an.“ Sie habe drei „dichte Gespräche geführt, in der sie ihre Lebensgeschichte aufgearbeitet“ habe. Vor 40 Jahren habe sie eine Abtreibung gehabt, und die habe die Frau noch sehr belastet. „Damals ging es einfach nicht anders.“ Frau Schreiber habe ihr dann vorgeschlagen, einen Brief an ihr abgetriebenes Kind zu schreiben und eine Beichte vorgeschlagen. Die Beichte haben sie dann gemeinsam durchgeführt. Es sei hier nicht ihre Aufgabe als Seelsorgerin gewesen, Schuld zu beurteilen, sondern es sei um den Umgang mit Schuldgefühlen gegangen. Vor der OP [Operation] habe die Frau dann gesagt: „Jetzt kann ich in die Operation gehen“. (F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K)

Anders als die Seelsorgerin Barbara Remmert lässt sich Andrea Schreiber nicht auf eine Semantik des Moralischen ein, sondern gibt Umschreibungen des moralischen Konflikts wieder: „Lebensgeschichte aufarbeiten“, „Belastung“, „es ging damals einfach nicht anders“, „Schuldgefühle“. Für Andrea Schreiber ging es in der Begegnung um Schuldgefühle, also die emotionalen und nicht die moralischen Aspekte des lange zurückliegenden Konflikts. Zur Entlastung bot sie der Patientin eine Beichte an.241 Auch wenn eine Beichte von der Liturgie her nicht ohne die Anerkennung von Schuld auskommt, lag der Fokus der Seelsorgerin Andrea Schreiber auf der Entlastung von Schuldgefühlen. Die Rede von 241 Vgl. Zimmerling, Beichte.

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Schuldgefühlen ist der Pragmatik nach eine Strategie, sich von der Frage „Wer hat Schuld?“ zu distanzieren. Die Beispiele zeigen, dass die Rede von Schuld von den beiden Klinikseelsorgerinnen als Indikator für moralische Fragen gesehen wird. Frau Remmert sieht die Klinikseelsorge durchaus in der Lage und der Pflicht, zum Thema Schuld etwas zu sagen. Frau Schreiber sieht sich nicht in der Stellung, „Schuld zu beurteilen“. Sie bevorzugt den Begriff „Schuldgefühle“, der eine Distanzierung von moralischem Urteilen beinhaltet. Eine Distanzierung von Moral schwingt auch in der Rede von Ambivalenzen mit. Während aber die Rede von Schuldgefühlen den moralischen Konflikt ausblendet, erkennt die Rede von Ambivalenzen einen moralischen Konflikt an. Das zeigt der nächste Abschnitt.

d)

Die Rede von Ambivalenz als Distanzierung von einem eindeutigen moralischen Urteil

Anders als „Schuldgefühle“ entstammt die Semantik der „Ambivalenz“ der moralischen Sprache. Der Pragmatik nach sind sich Schuldgefühle und Ambivalenzen ähnlich, weil sie beide in psychologischer Sprache geläufig sind. Der Begriff „Ambivalenz“ wurde von dem Psychiater Eugen Bleuler geprägt. Er bezeichnete damit das gleichzeitige Nebeneinander von zwei konträren Affekten, Intentionen und Deutungen: man fühlt etwas und fühlt gleichzeitig das Gegenteil, man will etwas und will es gleichzeitig nicht, man deutet etwas positiv und gleichzeitig negativ.242 Seelsorgende schließen sich in ihrer Reflexion über zwiespältiges Erleben in der Klinik an die Semantik der Ambivalenz an und vermeiden dadurch moralische Positionierung in der ethischen Situation. Die Zwiespältigkeit steht in Verbindung mit konfligierenden Normen der verschiedenen Sprachwelten in der Klinik und wird von verschiedenen Personen in der Klinik erlebt und artikuliert.243 Im Studienmaterial verwenden Seelsorgende das Lexem „Ambivalenz“ für unterschiedliche Erlebnisse, bei denen die Logiken der verschiedenen Sprachwelten aufeinanderprallen und dennoch durch die entmoralisierende Rede von der „Ambivalenz“ zusammengehalten werden. 242 Bleuler unterscheidet dementsprechend zwischen affektiver, voluntärer und intellektueller Ambivalenz und meint, dass sich diese Formen unterscheiden, aber im Erleben des Patienten nicht trennen lassen. Vgl. Bleuler, Ambivalenz, 85–97. 243 „Ambivalenz“ hat sich auch in anderen empirischen Studien mit Patienten am Lebensende als Phänomen herausgestellt. Vgl. Gehring et al., Ambivalenzen. Eine Studie von 2011 schlägt den Bogen zur Ethik und nähert sich der Frage, wie die ambivalenten Wünsche von Patienten am Lebensende ethisch verstanden werden können. Vgl. Ohnsorge et al., Ambivalence, 629–641.

Moralische und entmoralisierende Rede

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Auf die Frage nach einer Begegnung, in der das Thema Schuld eine Rolle spielte, berichtet die Seelsorgerin Heike Schütz von einem Paar, das sie vor und nach einem späten Schwangerschaftsabbruch begleitet hat. In allen drei Stadien spielte das Wort „Ambivalenz“ eine Rolle. Vor der Entbindung gestaltete sich das Gespräch mit den Eltern im Rückblick folgendermaßen: Heike Schütz: So, jetzt kam ich zu denen und habe zunächst wissen wollen: Gibt es Unklarheiten? Gibt es ein Schuldgefühl? Interviewerin: Haben Sie so gefragt? Heike Schütz: Das hab ich direkt so nicht gefragt, fühlen Sie sich schuldig? Sondern: Wie geht’s Ihnen damit? Und: Gibt’s Ambivalenzen? Genau. Gibt’s Ambivalenzen an der Stelle? Gibt’s irgendeine Ecke in Ihnen, die sagt: Weiß ich nicht, ob ich da das Richtige mache. Und da kam raus, dass das irgendwie nicht der Fall ist. Die waren erstaunlich klar, was ich ganz selten habe. Ich habe oft sehr ambivalente Gegenüber: Einerseits. Andererseits. (F Heike Schütz 24. 5. 2012 K)

Das Paar hatte sich bereits für einen späten Schwangerschaftsabbruch entschieden, und die Seelsorgerin vermutet, dass bei ihnen Unklarheiten und Schuldgefühle zu finden seien. Sie vermeidet aber die moralische Rede von Schuld und macht dem Paar ein Deutungsangebot mit dem Wort „Ambivalenzen“. Dies ist hier nicht als eine direkte Übersetzung von Schuldgefühlen zu verstehen, sondern als das gleichzeitige Verspüren von Wertungswidersprüchen: Beispielsweise könnten sich hier die Werte des Lebensschutzes und die Leidensminimierung beim Kind entgegenstehen. Die Seelsorgerin vermutet solche Wertungswidersprüche bei dem Paar, weil sie diesem „Einerseits. Andererseits“ oft bei anderen Paaren begegnet ist. Im vorliegenden Fall verneint das Paar, Ambivalenzen zu verspüren. Nach der Entbindung greift die Seelsorgerin den Gesprächsfaden wieder auf. [D]ann hat sie entbunden, und dann ging es ihr schlecht. Richtig schlecht. Und dann dachte ich eben: Jetzt sind wir doch beim Thema Schuld. Und dann habe ich noch mal lange mit ihnen geredet. Und da kam immer noch nicht das Thema Schuld als Schuld. Aber […] die Ambivalenz war größer. Dann haben sie das Kind auch gesehen. Da war ich jetzt nicht dabei. Es war auch goldig. Und dann kam die Frage: Warum? Warum muss das passieren? Und so haben wir uns dann entlang gehangelt. Und schließlich kamen wir dann doch an bei dem Thema: Das ist jetzt eine unglaublich harte Nummer, entscheiden zu müssen an der Stelle: Wie mache ich es denn jetzt? Also da komme ich sowieso nicht rund raus. Ohne Schuld kommt man nicht raus. (F Heike Schütz 24. 5. 2012 K)

In diesem Stadium der Begleitung erschien es der Seelsorgerin so, dass die widerstrebenden Emotionen bei den Eltern deutlicher zutage getreten sind. Das äußerte sich für sie darin, dass es der Mutter „richtig schlecht“ ging, und WarumFragen auftaten. Die Seelsorgerin unterscheidet hier zwischen dem „Thema

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Schuld als Schuld“ und Ambivalenzen als einer gewissen Vorstufe von Schuld oder Schuldgefühlen. Das Reden und Denken in der Kategorie von Ambivalenzen hat der Seelsorgerin einen Zugang zur Kommunikation mit dem Paar ermöglicht. Vielleicht hätten sie beim Wort „Schuld“ abgeblockt.244 Letztendlich ist die Seelsorgerin dann „doch beim Thema“ angekommen. Damit bezieht sie sich auf die Frage des Interviewers, der eine Begebenheit zum Thema Schuld hören wollte. Für die Seelsorgerin liegt der Unterschied zwischen der Rede von Ambivalenzen und Schuld darin, dass Ambivalenzen als Wertungswidersprüche verspürt werden. Bei der Rede von Schuld geht es um die Zuschreibung von Verantwortung. Es geht um eine verantwortliche Entscheidung mit Konsequenzen: man kommt nicht „rund“ aus der Sache raus. Damit ist für die Seelsorgerin das zur Sprache gekommen, was man mit dem Begriff Schuld fassen könnte. Den Begriff „Schuld“ selbst greift sie aber im weiteren Kontakt mit den Eltern nicht auf, auch nicht in der Trauerfeier anlässlich der Urnenbeisetzung des verstorbenen Kindes. Sie bevorzugt die Rede von Ambivalenzen. In der Traueransprache verwendet die Seelsorgerin das Bild des sich verwandelnden Samenkornes, überträgt es zunächst auf das verstorbene Kind und dann auf die Eltern. In sehr bewegender Weise, liebe A. und lieber B., sind wir drei ja auch schon darüber ins Gespräch gekommen, wie Sie bereits verwandelt worden sind. In aller Ambivalenz, die unweigerlich damit verbunden war: Sie haben mir zum Beispiel geschildert, wie Sie über das, was in den letzten Wochen geschehen ist, Ihre Unbefangenheit verloren haben. (M Heike Schütz 22. 6. 2012 KT)

Bei der Überleitung zu den Fürbitten taucht „Ambivalenz“ zum letzten Mal auf. Und es sind Wünsche, die auch der wunderbaren Existenz Ihrer kleinen Tochter in all ihrer für Sie damit verbundenen Ambivalenz gerecht werden können. (M Heike Schütz 22. 6. 2012 KT)

In der Traueransprache bildet „Ambivalenz“ ein entmoralisierendes Scharnier auf mindestens zwei Ebenen. Es wird deutlich, dass „Ambivalenz“ in mehreren Begegnungen zwischen Seelsorgerin und Eltern eine Rolle gespielt hat und von beiden Seiten als der Begriff akzeptiert wurde, der alles Unbehagen mit der Situation erfasste. Insofern schafft „Ambivalenz“ sowohl die Verbindung zwischen Eltern und Seelsorgerin als auch das Scharnier zwischen den Erlebnissen in der Klinik und dem Alltag, in den sie mit der Trauerfeier entlassen werden. Darin scheint die Leistung von „Ambivalenz“ in dieser ethischen schwierigen Konfliktsituation gelegen zu haben: dass er als Scharnier auf verschiedenen Ebenen 244 So berichtet es die Seelsorgerin Barbara Remmert. Ein Paar, das sie nach spätem Schwangerschaftsabbruch über Monate begleitet hatte, brach den Kontakt ab, als sie das Gefühl hatten, „ich will ihnen die Schuld zuschieben“. (I Barbara Remmert 4. 5. 2012 K)

Moralische und entmoralisierende Rede

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gebraucht werden kann und die Konflikthaftigkeit einfängt, ohne mit „Schuld“ in Verbindung gebracht zu werden. Der Seelsorger Philipp Vogt wendet „Ambivalenz“ auf einen anderen Sachverhalt an. Im Interview kam die Frage drauf, was Ethik im Allgemeinen und konkret in Form des Klinischen Ethikkomitees für eine Aufgabe hat: Ethik zeigt ja auch Dilemmata auf, Ambivalenzen, die so gut wie nicht zu lösen sind, wo man zwar den besten Lösungsweg zu finden versucht, aber wo man oft wieder in diesen Dilemmata steckt. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Was Heike Schütz „einerseits – andererseits“ nennt, das heißt bei Philipp Vogt „Dilemmata“, und „Ethik“ habe die Funktion, diese Dilemmata aufzuzeigen und einen Lösungsweg zu suchen. „Ethik“ meint bei Philipp Vogt nicht nur Ethik als Disziplin, sondern fungiert auch als Chiffre für das Ethikkomitee, dessen Mitglied auch Philipp Vogt ist. Seine seelsorgliche Rolle formuliert er immer wieder im Vergleich zur „Ethik“ und findet einerseits Übereinstimmungen, andererseits auch Unterschiede. Zum Beispiel sagt er an anderer Stelle, dass es eine seelsorgerliche Kompetenz sei, Ambivalenzen im Sinne von Spannungen auszuhalten, während „Ethik“ die Ambivalenzen aufzeigen und auflösen wolle: Und als Seelsorger muss ich nichts bewerten, sondern kann stehen lassen, kann aushalten oder muss mitunter aushalten: Dinge die unvereinbar und gegensätzlich sind. Ich glaube, wir können eine solche Ambivalenz eher zulassen und versuchen auszuhalten, anstatt dass wir die lösen müssen. Als Ethiker muss ich wohl versuchen, den besten Weg für die Patienten aus diesem Dilemma zu finden. Aber das ist nicht die vorrangige Herangehensweise eines Seelsorgers. Ich bin ein Stück weit ein Container und nehme das in mir auf – wenn ich das Bild mal nehme –, ohne dass ich jetzt schon in gut und böse sortiere. (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K)

Als Seelsorger identifiziert Philipp Vogt die Seelsorge mit dem, was „Ambivalenz“ auf sprachlicher Ebene tut: Sie kann widerstreitende Wertungen in sich aufnehmen (Containing) 245 und sie kommentarlos stehen lassen, ohne ein abschließendes moralisches Urteil zu fällen.

245 Das Konzept des Containing wurde von Wilfried R. Bion geprägt und meint die Spiegelung fremder Affekte in der eigenen Affektwelt. Vgl. Bion, Lernen. In der Psychotherapie brauchen Dilemmasituationen „einen Container, nämlich die Psyche des Therapeuten, der genug freie Kapazität zur Verfügung stellt, damit nicht aushaltbares, nicht verstehbares und noch nicht in Sprache fassbares, teils unbewusstes Material des Klienten einen Nistplatz findet“ (Till, Krisenintervention, 779).

228 e)

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Funktion und Grenzen moralischer Sprache im ethischen Kontext

Für die moralische Rede von Seelsorgenden lässt sich festhalten, dass sie einerseits sehr sensibel mit moralischer Sprache und moralischem Urteilen umgehen. Andererseits passen sie sich den Sprachcodes in der Klinik an und reden oftmals in Rechtstermini, wenn es um moralische Fragen geht. Positiv gewendet kann man sagen, dass die Juridifizierung der Sprache in medizinethischen Diskussionen ein Einfallstor für Ethik in der Klinik darstellt. Seelsorgende verwenden verschiedene Begriffe, um bestimmte Anliegen moralisch zu verstärken oder zu entmoralisieren. Der Würdebegriff dient als moralischer Verstärker und wird von den Seelsorgenden verwendet, wenn sie ihr moralisches Urteil artikulieren und untermauern wollen. Die Rede von Würde hat den Vorteil, dass sie eine breite Akzeptanz in der Klinik genießt und zum Jargon unterschiedlicher Berufsgruppen in der Klinik zählt. Eine Gefahr für die Kommunikation ist allerdings die Undeutlichkeit, weil jeder etwas anderes mit Würde assoziieren kann. Es könnte sich aber auch um eine positive Unschärfe handeln: Die vermeintliche Einigkeit über das Ziel „Würde“ erlaubt ein positives Gespräch, in dem ausgehandelt wird, was Würde in diesem Fall bedeutet. Neben moralverstärkender Rede verfolgen Seelsorgende zwei Sprachstrategien, um nicht moralisch urteilen zu müssen. Unter dem Einfluss pastoralpsychologischer Ausbildung ist besonders die Rede von Schuldgefühlen verbreitet. Hier wird durch Psychologisierung die Moral gleichsam suspendiert. Unklar erscheint in manchen Beispielen, welche rituellen Angebote oder seelsorglichen Interventionen angesichts von Schuldgefühlen angemessen sind. Bei der Rede von Ambivalenzen besteht die Entmoralisierung nicht in einer Suspendierung des Moralischen. Vielmehr wird ein moralisches Dilemma aufgezeigt, ohne ein moralisches Urteil zu fällen.

IV.

Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen: Der seelsorgliche Umgang mit nonverbaler Kommunikation Wie kann man einen Menschen kennenlernen auf nonverbale Weise? Zunächst gucke ich, wie die da sind, viel mit Intuition. Beim ersten Kontakt [mit einer kommunikativ eingeschränkten Patientin] habe ich gemerkt, dass das Herz so stark pulsierte. Darüber habe ich mit ihr auch geredet. Ich habe gesagt, dass ich das mal zu deuten versuche, was das vielleicht sein könnte. Sie hat aber an der Stelle nicht reagiert. Also die erste Kontaktaufnahme fand ich jetzt für mein Gefühl relativ mühsam. Dann bin ich da auch raus und habe gesagt: Ich gehe nochmal und hole ein paar Informationen ein über sie bei den Verwandten: Denn ich kann’s ja sozusagen nicht wissen. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen

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Die Seelsorgerin Heike Schütz erzählt in diesem Interviewausschnitt von ihrem Kontakt zu einer 80-jährigen Patientin Frau S., die nach einem Schlaganfall weder schlucken noch sprechen oder aufstehen konnte. Die Verwandten wohnten weit weg, und die Betreuerin willigte in die Anlage einer PEG-Sonde ein. Bei einem Besuch der Verwandten kam es zu einem Konflikt mit der Betreuerin darüber, dass die Verwandten über die Fragen der künstlichen Ernährung gerne mitentschieden hätten. Die Seelsorgerin Heike Schütz wurde dazu gebeten und machte es sich zur Aufgabe zu vermitteln und herauszufinden, was Frau S. denn selber wolle. Heike Schütz besuchte die Patientin mehrmals und war dabei auf nonverbale Kommunikation angewiesen. In dem Interviewausschnitt wird deutlich, dass die Seelsorgerin davon ausgeht, dass „Kennenlernen“ auf nichtsprachliche Weise möglich sei. Dieses Kennenlernen findet zunächst über körperlichen Kontakt statt, hier über das Spüren des Herzschlags.246 Während es in diesem Beispiel um die Möglichkeit des Kennenlernens ging, beleuchtet Heike Schütz an anderer Stelle einen weiteren Aspekt dieses Erstkontakts mit Frau S. Es geht darum, ob über ein Kennenlernen hinaus bei einem Erstkontakt eine nonverbale Auftragsklärung zustande kommen kann. Eigentlich ging es da erst mal darum zu sortieren und so weiter, diesen Auftrag entgegenzunehmen. Und dann bin ich halt hingegangen und habe auch mit ihr gebetet. Das war so ein bisschen unklar von ihrer Körpersprache: Will sie das denn überhaupt? Also sie kann nicken, aber kein Wort sprechen. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

In dieser Beschreibung des Erstkontakts mit Frau S. hält Heike Schütz fest, dass es ihr um Auftragsklärung ging, und beschreibt, was sie sich an der Patientin zu sehen erhofft hatte: ein Nicken im Sinne eines Auftrags, sie zu begleiten. Dieses körperliche Zeichen ist ausgeblieben, und so blieb der Erstkontakt „ein bisschen unklar“. Im nächsten Schritt des Kennenlernens suchte die Seelsorgerin Kontakt zu den Verwandten. Der nonverbale Kommunikationskanal reichte der Seelsorgerin nicht aus, um zu einer Entscheidung über den Willen von Frau S. zu gelangen. Vielmehr begriff die Seelsorgerin die nonverbale Kontaktaufnahme als ein Element in einem Prozess des Kennenlernens und ergänzte ihre Wahrnehmung durch Fremdwahrnehmungen der Verwandten. Heike Schütz tut hier das, was in Kapitel 3.1 mit dem Begriff der Dynamisierung der Entscheidungssituation beschrieben wird. Beim dritten Besuch bei Frau S. – sie lag mittlerweile in einem Pflegeheim – spielte für Heike Schütz wieder die nonverbale Kommunikation eine Rolle:

246 Ob es sich dabei um eine Propriozeption (Eigenwahrnehmung) des eigenen Herzschlags oder eine Wahrnehmung des Herzschlags bei Frau S. handelte, bleibt in dem Interviewausschnitt unklar. Wahrscheinlicher ist die erste Form, die einen guten Anschluss an das Seelsorgekonzept von Peter Frör aufweist. Vgl. Frör, Komapatienten, 522–535.

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Und bei diesem Gespräch war sie für mich körpersprachlich ziemlich greifbar. Es war klar, dass sie leidet, und klar war, dass es wohl eher kein körperliches Leiden ist, sondern irgendeine Form von seelischem Leiden sein muss. Und ich hatte wirklich den Eindruck, dass sie mich als Adresse auserkoren hat, um das irgendwie abzuladen. Obwohl es das Problem ist – das muss ich Ihnen ja nicht sagen –, dass wir da mit sehr viel Unbekannten arbeiten müssen. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

Mit diesem Interviewausschnitt befinden wir uns in einem späteren Stadium im Prozess des Kennenlernens zwischen Heike Schütz und Frau S. Mit der Zeit ist offenbar das Vertrauen von Heike Schütz in die Deutung nonverbaler Signale von Frau S. gewachsen. Sie empfindet die Botschaft des Gesprächs „körpersprachlich […] greifbar“ und interpretiert die Signale als ‚seelisches Leiden‘. Heike Schütz empfindet sich bei dieser Kommunikation als „Adresse“, an der die Patientin etwas ablädt. Auffällig ist, dass Heike Schütz auch in diesem Stadium daran festhält, dass die nonverbale Kommunikation einer Gleichung mit vielen Unbekannten ähnelt. Bei der Bewohnerin Frau S. hat sie sich dann eingesetzt, dass keine Sonde für künstliche Ernährung angelegt wird. Der Umgang mit Grenzen der Sprache und nonverbale Kommunikation gehören zur seelsorglichen Praxis.247 Auch in der Seelsorgetheorie gibt es Ansätze, die sich mit dem Themenfeld auseinandersetzten. Peter Frörs Seelsorgeansatz im Umgang mit Komapatienten speist sich aus seiner Arbeit auf der Intensivstation des Klinikums Großhadern in München. Frör hat im Anschluss an die prozessorientierte Psychologie Techniken der nonverbalen Kommunikation mit Komapatienten erarbeitet. Wichtig bei der Begegnung mit Komapatienten sei das „Achten auf den Kanal“. Damit meint Frör, dass Seelsorgende den kommunikativen Übertragungsprozessen Beachtung schenken und dahingehend auf sich selber achten sollen, was mit ihnen in der Begegnung mit Komapatienten passiert. Dies bezeichnet Frör als Eigenwahrnehmung oder Propriozeption. Die Seelsorgerin Heike Schütz bezeichnet diese Propriozeption mit Intuition. Neben der Selbstwahrnehmung achtet Heike Schütz auch auf andere Kanäle: auf das, was sie am Körper von Frau S. wahrnimmt, und auf die Kommunikation mit den Verwandten. Was die Körpersprache betrifft, geht Frör in seiner Theorie so weit, dass er die Körpersprache von Komapatienten in einen binären Code übersetzt: Menschen im Koma kommunizieren wesentlich mit und über den Körper. Es gilt, diese Zeichen zu verstehen und mit ihnen zu arbeiten. Ein Grundsatz aus der prozessorientierten Psychologie heißt: ‚Ein – wenn auch noch so kleine[s] Zeichen – bedeutet Ja. Gar kein Zeichen bedeutet Nein.248

247 Vgl. auch Kapitel 3.1, II. b: „Ich habe dann seine Hand genommen, die fiel praktisch in meine hinein.“ (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E) 248 Frör, Komapatienten, 531.

Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen

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Die praktische Theologin Elisabeth Naurath analysiert die großen Seelsorgetheorien mit Blick auf die Leibthematik und attestiert ihnen eine Leibvergessenheit.249 Dabei liege in der leiblichen Kommunikation die eigentliche Kommunikationsform der Seelsorge.250 Ihre theoretischen Impulse empfängt Naurath aus der Gestalttherapie, dann im Anschluss an das Konzept von „Verleiblichung“251 bei Robert Eidam und in Anlehnung an die Psychologie sozialer Kommunikation bei Karl Heinz Dehees.252 Eine konkrete Herausforderung für die Seelsorge sieht Naurath in der Frage: Wie kann man in der Seelsorge mit dem breiten Spektrum der nonverbalen Äußerungen und deren Interpretationsnotwendigkeit bzw. -schwierigkeit umgehen, ohne den Eindruck von Inkompetenz und Überforderung zu erzeugen? 253

Naurath antwortet mit Rekurs auf ein Modell von Petra Christian-Widmaier, die einen Ablauf typischer Interaktionsphasen zwischen Klinikseelsorgenden und schwerstkranken Patienten empfiehlt.254 Für den konkreten Umgang mit nonverbalen Äußerungen empfiehlt Naurath, den Seelsorgebesuch in vier Interaktionsphasen einzuteilen und sich bewusst zu machen, welche nonverbale Kommunikationsweise in der jeweiligen Phase die zentrale Rolle spielt (Zutritts-, Begrüßungs- und Etablierungsphase; Gesprächsphase; Ritualphase; Aufbruchsund Verabschiedungsphase). Des Weiteren betont Naurath die Relevanz der Körpersprache in der Seelsorge, einerseits als Kommunikationsmedium und andererseits als Kommunikationsinhalt: Es darf und soll über den Köper als Zeichen gesprochen werden.255 Es wird deutlich, dass nonverbale Kommunikation in einen Interaktionsprozess eingebunden ist, der verschiedene Phasen durchläuft und um so mehr Bedeutung zugewiesen bekommt, je länger sich die Kommunikationspartner kennen. Aber auch da sehen Seelsorger die nonverbale Kommunikation als einen Grenzbereich an, dem mit Vorsicht vor eindeutigen Aussagen zu begegnen ist. Diese hermeneutische Zurückhaltung in der Deutung körpersprachlicher Signale findet sich in mehreren Beispielen des Studienmaterials und wird hier mit unterschiedlichen Metaphern beschrieben: Heike Schütz verwendete dafür das Bild der „Gleichung mit vielen Unbekannten“. Ein anderes Bild kommt in einem Beispiel vor, auf das schon in Abschnitt 2.3.I a eingegangen wurde. Dort erzählt Seelsorgerin Ulrike von Ebersbach vom Kontakt zu einem dementen Patienten. 249 250 251 252 253 254

Vgl. Naurath, Leibsorge, 44ff. Vgl. a. a. O., 170. Vgl. Eidam, Verleiblichung. Vgl. Delhees, Kommunikation. Naurath, Leibsorge, 177. Vgl. Ablaufskizze „Nonverbale Kommunikationsweisen“ von Petra Christian-Widmaier, abgedruckt in Naurath, Leibsorge, 179. 255 Vgl. a. a. O., 194f.

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

Es stand eine ethische Fallbesprechung bevor, in der geklärt werden sollte, ob eine PEG-Sonde gelegt wird oder nicht. Die Seelsorgerin berichtet vom Erstkontakt mit dem Patienten: Als ich bei ihm war, hat er gerade mit seinem Arm so in der Luft gefuchtelt. Ich habe dann seine Hand genommen, die fiel praktisch in meine hinein sozusagen und er hat die Augen aufgemacht. Und dann gab es einen Augenkontakt, also da gibt es auch etwas Leeres, aber da gibt es auch etwas, wo ich den Eindruck hatte, der ist in Kontakt. (I Ulrike von Ebersbach 8. 11. 2011 E)

Die Seelsorgerin beschreibt ihre Beobachtung und übersetzt dadurch den nichtsprachlichen Körperkontakt in Sprache. Durch diese Übersetzung deutet sie das Geschehen als Kommunikation des Patienten mit ihr: Seine Hand „fiel praktisch in meine hinein und er hat die Augen aufgemacht“. Doch dann zeigt sie die Ambivalenz dieser Kommunikation auf und beschreibt ihren Eindruck vom Augenkontakt einerseits mit dem Bild der Leere und andererseits mit der Redewendung „der ist in Kontakt“. Im weiteren Prozess der ethischen Entscheidung wandelt sich das Bild der Leere in „Leerstellen“, von denen die Seelsorgerin spricht. Die Metapher von den „Leerstellen“ bringt sie dann als Argument in die ethische Fallbesprechung ein und bewirkt damit, dass die Entscheidung im Konfliktfall vertagt wird. Eine weitere Metapher der hermeneutischen Vorsicht, die sich im Studienmaterial findet, bezieht sich nicht nur auf nonverbale Kommunikation. Eine Seelsorgerin äußert sich zu der Frage, ob es überhaupt möglich sei, das Gegenüber in einer seelsorglichen Situation zu erkennen. Um zu verdeutlichen, dass man überhaupt und besonders in Grenzsituationen des Lebens Vorsicht bei der Deutung des Gegenübers walten lassen solle, rekurriert sie auf das von F.D.E. Schleiermacher geprägte Bild der „Wut des Verstehens“. Schleiermacher schreibt in seinen Reden über die Religion: Mit Schmerzen sehe ich es täglich wie die Wut des Verstehens den Sinn gar nicht aufkommen und wie Alles sich vereinigt, den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt desselben zu befestigen damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerückt werde.256

Aus diesen Zeilen spricht nicht nur gebotene Vorsicht bei der Sinndeutung, sondern die Wahrnehmung, dass sich das Verstehen selber im Weg stehen kann. Was hier im Kontext von Schleiermachers religiöser Bildungslehre steht, überträgt die Seelsorgerin auf den Kontext des Verstehens von Menschen in seelsorglichen Situationen:

256 Schleiermacher, Religion, 133.

Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen

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Oder wie das so schön heißt bei Schleiermacher: da gibt es doch die schöne Formulierung mit der „Wut des Verstehens“, die den Sinn gar nicht aufkommen lässt. Also dass zum Verstehen im Grunde immer dieser Abstand gehört, dass es möglicherweise noch einen Sinn gibt, den man gar nicht in Betracht gezogen hat, und nicht, dass man sich auf etwas so drauf wirft, und […] es sozusagen mit der eigenen Interpretation erstickt. (I Ulrike Scholz 8. 5. 2012 K)

Die Seelsorgerin deutet das Bild von der „Wut des Verstehens“ so, dass man sich bei Verstehensprozessen immer die hermeneutische Vorsicht vor Augen halten muss. Es gebe immer noch einen anderen Sinn, den die Deuterin nicht in Betracht gezogen hat. Diese Reflexionen machen Aussagen für Verstehensbedingungen im Allgemeinen. Für den Umgang mit nonverbalen Zeichen in ethischen Grenzsituationen lässt sich das von der Seelsorgerin eingebrachte Bild der Wut des Verstehens als Warnung davor lesen, der eigenen Deutung einen absoluten Wert beizumessen. Auch das Fallbeispiel des Seelsorgers Alexander Klein geht in dieselbe Richtung wie diese theoretischen Überlegungen der Seelsorgerin. Es geht um den Kontakt zu einem Patienten, der über Wochen im Wachkoma lag, und bei dem die ethische Frage im Raum stand, ob und wie lange er noch künstlich ernährt werden sollte. Alexander Klein besuchte ihn zunächst alleine und dann im Beisein der Frau des Patienten. In der Reflexion des ersten Besuches verwendet der Seelsorger Bilder, die die Ambivalenz des wachkomatösen Zustandes ausdrücken. Im seinem Verbatim heißt es: Seelsorger: Ich klopfte an die angelehnte Tür, wartete einen Moment und betrat das Zimmer. Der Patient lag halb zugedeckt in seinem Bett und starrte mit halb geöffneten Augen zur Decke. Es war das unregelmäßige Geräusch seiner Atmung zu hören, das durch die Kanüle im Tracheostoma [Verbindungsröhrchen zwischen Luftröhre und Außenluft] verstärkt wurde. (V Alexander Klein 30. 10. 2011 K)

Im Vorfeld des Besuchs hat Alexander Klein in Erfahrung gebracht, wie über den Patienten auf der Station geredet wurde, und dass er in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden einen sonderbaren Zwischenstatus zwischen Leben und Tod hätte. In seinen Reflexionen des Verbatims gebraucht Alexander Klein das Bild des „Halbtoten“ und schließt sich damit an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter an, wo der unter die Räuber Gefallene als hemithane¯s/halbtot bezeichnet wird. Über den ersten Besuch sagt der Seelsorger rückblickend: Meine Wahrnehmung wurde entsprechend dem „halbtoten“ Zustand zunächst darauf gelenkt, dass der Patient nur halb zugedeckt lag und halb geöffnete Augen hatte. (V Alexander Klein 30. 10. 2011 K)

Sprachlich ist hier eine Wechselwirkung zwischen ethischem Problem, religiöser Sprache und der Wahrnehmung nonverbaler Zeichen zu beobachten. Der ethische Konflikt auf der Station hatte sich am wachkomatösen Zustand des Pati-

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Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

enten entzündet, der hinsichtlich des Behandlungsauftrags konträre Meinungen erzeugte: Behandlungsabbruch oder Maximaltherapie. Der ethische Konflikt erzeugte auf der Station ambivalente Wahrnehmungen des Patienten, was vom Seelsorger mit dem Bild des Halbtoten aufgegriffen wurde. In seinen Reflexionen begab sich der Seelsorger in die Bildwelt des Samaritergleichnisses und bemerkte, dass seine Wahrnehmung des ersten Besuchs von der Gleichnissprache geprägt wurde. Das Bild des Halbtoten ist insofern eine Beschreibung, die sich nicht auf eine „Wut des Verstehens“ einlässt, als es eine Metapher für die unauflösbare Ambivalenz der Situation ist. Andererseits endet das Gleichnis damit, dass der unter die Räuber Gefallene vom Halbtoten zum Lebenden wird. Auch an die Leser richtet sich ein Imperativ, es dem Samariter gleich zu tun. So verbleibt der Seelsorger Alexander Klein im Verbatim auch nicht bei einer bloßen Anzeige von inneren Zuständen, die in der Ambivalenz verbleibt. Vielmehr deutet er den Kontakt mit dem Patienten im Sinne des Gleichnisses: Dies kann ich im Nachhinein so für mich deuten, dass die Begegnung der „Nächstenwerdung“ gedient hat. In meiner Wahrnehmung bin ich von einem Fremden zum Nächsten geworden, und aus dem halbtoten Herrn M. ist ein Lebender geworden. (V Alexander Klein 30. 10. 2011 K)

Sowohl der Patient als auch er selber als Seelsorger sind in dieser Perspektive durch die Begegnung verändert worden. Mit dieser allegorischen Auslegung des Gleichnisses löst der Seelsorger die Ambivalenz auf. Konsequenterweise müsste der Seelsorger auf dieser Grundlage für eine Maximaltherapie bei dem Patienten eintreten oder zumindest für einen Umgang mit dem Patienten plädieren, der ihn als Lebenden würdigt. Im zweiten Besuch, bei der die Ehefrau des Patienten dabei ist, setzt er dies um, indem er im Gespräch sowohl zur Frau als auch zum Patienten spricht. In dieser Begegnung wird ein anderes Bild für die unauflösbare Ambivalenz verwendet und vom Seelsorger aufgegriffen. Die Ehefrau sitzt am Krankenbett ihres Mannes und sagt über ihn: Wie er hier liegt. Wie eine Puppe. (V Alexander Klein 30. 10. 2011 K)

Für den Seelsorger Klein übersetzt das Bild der Puppe den Begriff der Ambivalenz. Eine Puppe sei einerseits ein lebloses Ding, anderseits wird sie für diejenige lebendig, die mit ihr spielt, schreibt er in seinem Verbatim. Von außen gesehen mutet das Bild der Puppe aber sehr aggressiv an, und es gibt keinen Anhaltspunkt aus dem Verbatim, dass das Bild der Puppe von der Ehefrau als ambivalent empfunden wird. Für sie ist eine Puppe leblos. Die Ambivalenz kommt durch ihr Verhalten zum Ausdruck. Diese Ambivalenz wird darin deutlich, dass die Ehefrau des Patienten einerseits beklagt, dass ihr Mann nichts mehr mitbekommt, und sie ihn andererseits streichelt und direkt anspricht.

Grenzen der Sprache und die Ethik der Grenzsituationen

235

Seelsorger: Guten Tag, Herr M. Ich war schon mal bei Ihnen. Ich wollte Sie und Ihre Frau nochmal besuchen. Zur Ehefrau des Patienten gerichtet. Darf ich mir einen Stuhl an Ihr Bett holen? Ehefrau: Ja. Weist mit dem Kopf auf einen leeren Stuhl. Der Seelsorger setzt sich und schaut die Ehefrau still von der Seite an, während sie ihren Mann streichelt und ihn wiederholt zu beruhigen versucht, wenn er hustet. Seelsorger: Ihr Mann scheint sich ja gut zu beruhigen, wenn Sie bei ihm sind. Ehefrau: Er hat heute wieder viel Schleim. Aber ich bin froh, dass er das nicht mehr alles mitbekommt. Das hätte er nicht gewollt. Seelsorger: Meinen Sie nicht, dass er merkt, dass Sie da sind? Ehefrau: Nein. Wenn es doch nur das Herz gewesen wäre. Aber das Gehirn… Wie er hier liegt. Wie eine Puppe. (V Alexander Klein 30. 10. 2011 K)

Die Brücke von der Seelsorgesituation in die ethische Situation bildete eine Dienstbesprechung, auf deren Verlauf sich die ambivalente nonverbale Kommunikation mit dem Patienten ausgewirkt hat. Alexander Klein berichtet von dieser Besprechung: Die Kommunikation mit dem Patienten wurde von allen Beteiligten sehr ambivalent erlebt. Die ethische Relevanz der Frage nach Bewusstsein und Kommunikationsfähigkeit des Patienten zeigte sich daran, dass bei der begründeten Annahme von Bewusstseinsregungen das palliative Therapieziel in ein kuratives umgewandelt hätte werden müssen. Denn der mutmaßliche Patientenwille machte nur Aussagen zum Therapieabbruch bei dauerhafter Bewusstlosigkeit. Von den verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern des Stationsteams wurde die Kommunikationsfähigkeit des Patienten aber durchaus unterschiedlich erlebt. Vor allem die Berufsgruppen, die körperlich mit dem Patienten interagierten – wie die Pflege und die Physiotherapie –, äußerten ihren Eindruck, dass der Patient auf sie reagiere und sich äußere. Bei der Körperpflege und den physiotherapeutischen Anwendungen beobachteten sie Augenaufschlagen, Tonusveränderungen der Muskulatur und mimische Veränderungen des Patienten, bei denen sie das Gefühl hatten, etwas auf ihre Präsenz rückgemeldet zu bekommen. Auch die Musiktherapeutinnen berichteten von ähnlichen Eindrücken. Dem wurde von ärztlicher Seite entgegengehalten, dass dies alles als unbewusste Reaktionen im Rahmen des komatösen Zustandes gewertet werden könne. Auf bewusste Hirnaktivität gebe dies keinen Hinweis, zumal die wiederholte Bildgebung auf einen so massiven Hirnschaden hindeute, dass keine bewussten Reaktion zu erwarten seien. (V Alexander Klein 30. 10. 2011 K)

Der Ausschnitt belegt nochmal den Zusammenhang zwischen sprachlichen Grenzsituationen und ethischen Konflikten. Da in der Patientenverfügung ein Therapieabbruch bei dauerhafter Bewusstlosigkeit festgehalten war, hatte die Wahrnehmung von nonverbaler Kommunikation des Patienten eine gewichtige Bedeutung für die Frage der Behandlung. In der Dienstbesprechung gab es un-

236

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

terschiedliche und widerstreitende Erfahrungen und Perspektiven hinsichtlich der Kommunikationsfähigkeit des Patienten. In der Dienstbesprechung wurde diese Ambivalenz zwar benannt, musste aber letztendlich dem Entscheidungsdruck weichen. Wie Alexander Klein berichtet, setzte sich die ärztliche Deutung durch, die sich auf die diagnostische Bildgebung berief. Der Patient erhielt nur Flüssigkeit und verstarb nach mehreren Wochen. Wie die Beispiele belegen, bewährt sich seelsorgliches Handeln auch am Übergang zur Sprachlosigkeit. Einerseits verfügen Seelsorgende über ein Repertoire nichtsprachlicher Mittel. Andererseits bemühen sich Seelsorgende intensiv, die nichtsprachlichen Zeichen ihres Gegenübers zu deuten. Besonders in ethischen Entscheidungssituationen, in denen es um Menschen mit fehlender Sprachfähigkeit geht, ist der Deutungsdruck hoch. Um der intrinsischen Unschärfe und der gebotenen Vorsicht bei der Deutung nichtsprachlicher Zeichen gerecht zu werden, unternehmen Seelsorgende hermeneutische Metareflexionen, die sich in metaphorischen Umschreibungen für „Ambivalenz“ niederschlagen (z. B. „halbtot“, „Puppe“) oder sich an die Warnung vor einer „Wut des Verstehens“ (F.D.E. Schleiermacher) anschließen.

V.

Fazit: Seelsorgende haben ein Gespür für Sprache als Form des Ethischen

In jeder Klinik tönt ein babylonisches Sprachgewirr aus verschiedenen Fach- und Alltagssprachen. Medizin, Religion, Recht und Ökonomie – jede dieser Sprachen ist eine eigene Welt, die eigene Normen transportiert. Vermittelt durch die interviewten Seelsorgenden können wir in das Sprachgewirr hineinhören und merken, wie jede dieser Sprachen sich in der Klinik behauptet: die medizinische Sprache meist sehr laut und dominant. Die juristische Sprachwelt geht dagegen subtiler vor und wandert leise in medizinische und medizinethische Sprache ein. Seelsorgende, die von außen kommend in das Sprachgewirr hineinhören, haben gute Ohren, um auf die Beziehungen der verschiedenen Welten zu hören und darauf zu reagieren. Wie verhalten sich Seelsorgende zu den ethisch relevanten Sprachproblemen in der Klinik? Seelsorgende verwenden an manchen Stellen „Recht“ und rechtliche Sprache als ethische Sprache. Sie sprechen von „Ethik“ und verwenden ethische Sprache quer zu anderen Sprachwelten und als Sprachform, die viele Professionen und Sprachwelten umschließt. Seelsorgende grenzen Medizin und Religion als getrennte Sprachwelten voneinander ab. Andererseits schaffen sie Übergänge zwischen den Sprachwelten der Medizin und der Religion. Dabei gestalten sie eine seelsorgliche Sprachkultur, die in verschiedene Sprachen einstimmen und unkonventionelle Übergänge zwischen den Sprachwelten herstel-

Fazit: Seelsorgende haben ein Gespür für Sprache als Form des Ethischen

237

len kann. Die seelsorgliche Sprachkultur findet situationsbedingt aber auch eine abgrenzende Sprache, die Raum für eine eigene Rollendefinition lässt und Kritik an ethisch problematischen Seiten der anderen Sprachen ermöglicht. Seelsorgende haben damit die Möglichkeit ihre Reaktionen nicht nur in Interviewsituationen zum Ausdruck zu bringen, sondern auch in Gesprächen mit Klinikmitarbeitern. Dort könnten sie sich mit Mitarbeiterinnen solidarisieren, die ebenfalls die verdeckenden und ausgrenzenden Aspekte der medizinischen Sprache wahrnehmen, oder mit Mitarbeitern, die ebenfalls Kritik an der Verrechtlichung des klinischen Alltags üben. Diese Solidarisierungen an sich könnten schon die Klinikkultur beeinflussen. Manchmal bilden sich daraus auch Initiativen, die die Klinikkultur nachhaltig prägen.257 Seelsorgende treten in der Klinik auch als Theologinnen und Theologen auf und nutzen ihre religiösen Sprachfähigkeiten. Religiöse Rede verwenden Seelsorgende in mehreren Sprachformen, die je unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllen. Die Sprachformen der narrativen biblischen Bildsprache (Gleichnisse) und der religiösen Glaubenssprache (Nächstenliebe, Geschöpflichkeit) erfüllen die Funktion, die Ambiguität und Vieldeutigkeit von ethischen Situationen zur Sprache zu bringen. Die Sprachform der theologischen Theoriesprache (Befreiungstheologie) ist in Kommunikationssituationen hilfreich, wo Position bezogen werden muss, und wo die voraussetzungsreichen Begriffe vom Gegenüber verstanden werden. Durch die Reflexion auf unterschiedliche religiöse Sprachformen werden Haltungen und Rollenbilder der Seelsorgenden geprägt, die die Grundlage für konkrete ethische Situationen bilden können. In Teamgesprächen erscheint die Rede von Nächstenliebe sehr anschlussfähig und vermag es, die Klinikkultur zu prägen, zumal wenn der Begriff in einem Leitbild verankert ist. Auch die moralische und entmoralisierende Rede von Seelsorgenden ist beachtenswert. Während „Würde“ als moralischer Verstärker dient, reden Seelsorgende von „Schuldgefühlen“, um Moral zu suspendieren, und sie sprechen von „Ambivalenzen“, um ein moralisches Dilemma aufzuzeigen. Je nachdem, ob in einer ethischen Konfliktsituation eine moralische Verstärkung oder moralische Entlastung angezeigt ist, können Seelsorgende die genannten Begriffe in die Diskussion einbringen und damit dem Entscheidungsprozess eine Richtung geben. Zuletzt ist es auch angebracht, sich über die Grenzen von Sprachlichkeit bewusst zu werden, weil viele ethische Situationen in der Klinik zu einer nonverbalen Kommunikation zwingen. Seelsorgende haben ein breites Repertoire an nonverbalen Kommunikationsmitteln, das sie einsetzen. In ethischen Entscheidungssituationen ist der Druck, die nonverbale Kommunikation des Gegenübers 257 Siehe Kapitel 3.2, II.: Gründung einer professionsübergreifenden Palliativ-Arbeitsgruppe.

238

Sprachen und Grenzen von Sprache im Krankenhaus

zu deuten, aber so groß, dass Seelsorgende vor einer Fehlinterpretation warnen. Anders als einige Seelsorgetheorien es nahelegen, lassen Seelsorgende in der Praxis eine gewisse hermeneutische Vorsicht walten. Dieser Abschnitt bildet mit dem Fokus auf der nonverbalen Kommunikation den Übergang zu Kapitel 3.7, das sich den Ritualen in der Klinik widmet. Es verbleiben Spannungen, Unsicherheiten und Herausforderungen für die seelsorgliche Praxis. Das Instrument der Rollenklärung ist für Seelsorgende ein probates Mittel, um mit einer bestimmten Haltung in ethische Situationen zu gehen. Ein Spannungsfeld tut sich dadurch auf, dass seelsorgliche Rollenbeschreibungen zwischen zwei konträren Auffassungen von der Einbindung in Klinikstrukturen changieren. So gibt es Rollenbeschreibungen, mit denen Seelsorgende ihre Dazugehörigkeit zum Behandlungsteam ausdrücken. Seelsorgende vertreten aber auch Rollenverständnisse, mit denen sie sich aus den Klinikstrukturen herausnehmen. Eine empirische Studie von Reiner Anselm et al. fand ähnliche Rollentypen bei Theologen in Klinischen Ethikkomitees und bezeichnet diese Typen als „integrativ“ und „desintegrativ“.258 Die desintegrativen werden als grundsätzlich problematisch und als nicht konstruktiv gewertet.259 Auf dem Hintergrund eines säkularisierungstheoretischen Ansatzes und der Annahme der erschwerten Vermittlung religiöser Themen der Öffentlichkeit sind in der genannten Studie zwei recht unterschiedliche Umgangsformen damit zutage getreten, deren wesentliche Differenz sich vor allem an der Frage der kommunikativen Selbstverortung des Theologen bzw. der Theologin festmachen lässt.260

Die prophetische Form äußere sich in einer ‚desintegrativen Selbstverortung‘ der Klinikseelsorge und gehe einher mit dem Anspruch, in Klinischen Ethikkomitees „einzig zuständig für die Grundfragen des christlichen Selbstverständnisses“261 zu sein. Dieser Anspruch scheitere an der kommunikativen Wirklichkeit und führe zur Isolierung und Resignation der Klinikseelsorge. Die pastorale Umgangsform mit der säkularisierten Sprache in der Klinik wird demgegenüber als „integrative Selbstverortung“262 bezeichnet und zeichne sich dadurch aus, dass das Fehlen explizit religiöser Kommunikation in Klinischen Ethikkomitees „nicht die Irrelevanz theologischer Partizipation in solchen Gremien“263 bedeute. Vielmehr stünde die religiöse Dimension durch die Person des Theologen immer latent zur Verfügung, ohne explizit abgerufen werden zu müssen. 258 259 260 261 262 263

Vgl. Anselm/Schleissing, Ethik. Vgl. Plaul, Prophet, 86. A.a.O., 84. A.a.O., 77. A.a.O., 78ff. A.a.O., 84.

Die ethische Funktion von Ritualen

239

Die desintegrative Selbstverortung als grundsätzlich kommunikationshinderlich zu sehen, wird durch die Ergebnisse von Kapitel 3.6 nicht unterstützt. Es ist vielmehr so, dass eine Rolle, die sich aus der organisatorischen Einbindung herausnimmt, zuweilen produktive Distanz ermöglicht und kommunikationseröffnend wirken kann. Außerdem hat die Untersuchung ergeben, dass die Rollenverständnisse von Seelsorgenden situationsgebunden sind und zwischen integrativen und desintegrativen Färbungen wechseln. Es bleibt aber die Gefahr, dass die Rollenverständnisse als starre Gebilde und nicht als situationsgebunden und flüchtig gesehen werden. Unsicherheiten lassen sich im Umgang mit den Begriffen Schuld und Schuldgefühl erkennen. Die pastoralpsychologisch geprägte Rede von Schuldgefühlen verunmöglicht zwar keine Beichte, aber die Sprache der Beichte lässt sich nicht ungebrochen auf die Semantik der Schuldgefühle umstellen. Seelsorgenden ist die Unsicherheit anzuspüren, inwieweit man angemessen von Schuld sprechen kann. Hier besteht theologischer Klärungsbedarf: Inwieweit können Seelsorgende von Schuld sprechen, ohne sich zum Richter aufzuschwingen? Die Rede von Ambivalenzen bringt eine Spannung mit sich. Denn in ethischen Situationen geht es nicht nur um Kultur- und Rollenfragen, sondern auch um Entscheidungsprozesse. Mit der Rede von Ambivalenzen kann der Entscheidungsprozess verlangsamt oder sogar grundsätzlich infrage gestellt werden. Neben den Grenzen der Sprachlichkeit bleibt es eine Herausforderung, den Einfluss von Sprachformen auf konkrete Entscheidungsprozesse zu beleuchten. Damit ist gemeint, dass die Art, wie und was gesprochen wird, eine Auswirkung darauf hat, wie eine Entscheidung abläuft und wie die Entscheidung verarbeitet wird. Auf einen Beschreibungsversuch auch unter Einbeziehung von Material aus der vorliegenden Studie sei hier verwiesen.264

3.7

Die ethische Funktion von Ritualen

I. Rituale als symbolische Handlungskomplexe II. Die Neuordnung ethischer Situationen im Ritual III. Rituale in Entscheidungssituationen a) Rituelle Schließung ethischer Situationen b) Die Gefahr des „Absegnens“ IV. Die Ordnung sozialer Beziehungen und die Verhandlung sozialer Rollen im Ritual V. Exkurs: Räume als Ressource für das Ritual VI. Fazit: Rituale sind Orte symbolischer Kommunikation über Ethik

264 Vgl. Fiebach et al., Sprache.

240 I.

Die ethische Funktion von Ritualen

Rituale als symbolische Handlungskomplexe Interviewer: Was für Rituale könnten Sie sich vorstellen bei belastenden Situationen für Ärzte? Seelsorgerin: Da gab es einen kurzen Ausschnitt in dieser Serie mit einer Klinikseelsorgerin, die dann in diesem Emergency Room die Ärzte ganz kurz zusammen gerufen hat und die Pflegenden. So eine Schüssel hatte sie, eine ganz normale Waschschüssel, die jede Station hat, und hat destilliertes Wasser reingetan, und dann gab es eine Tafel, auf der dann immer verzeichnet war, wer gestorben ist. Und dann ist sie die Namen noch einmal durchgegangen und so, mit der Möglichkeit, jetzt kann jeder sich noch einmal an die Person erinnern, was hat uns damit verbunden, und dann hat sie Leute gebeten, ihre Hände zu waschen und das damit im Prinzip abzulegen, abzuwaschen. Und in einem guten Sinn abzulegen. Und dann gab es noch einmal ein Ritual der Händesalbung zur Stärkung der Hände, weil alle mit den Händen auch arbeiten. Das ist natürlich amerikanisch und nicht unsere Welt, aber es ist eine Idee. Es könnte auch ganz anders sein. Aber das fand ich eine faszinierende Idee, da war ich noch gar nicht im Krankenhaus, fand ich das schon so „oah“. Ja, klingt gut, und das Ganze hat nur zehn Minuten gedauert, und das muss auch immer alles schnell gehen und sollte trotzdem effektiv sein. Interviewer: Was wäre dann die Wirkung des Rituals? Seelsorgerin: Entlastung auf der einen Seite, aber auch die Stärkung auf der anderen Seite. Also es ist ja beides, das Alte abgeben und für das Neue gerüstet sein. Es können ja wieder schwierige Sachen kommen. (I Katharina Läge 16. 6. 2012 KT)

In dieser Interviewpassage erzählt die Seelsorgerin eine Szene aus einer USamerikanischen Fernsehserie nach, um zu erläutern, dass sie in manchen Situationen Rituale als effektiv einstuft. Hier dient es auf der einen Seite dazu, das Personal zu entlasten, und auf der anderen Seite dazu, die Beteiligten zu stärken. Interessant an diesem Ritual ist, dass der Ort – die Notaufnahme –, aber auch die verwendeten Gegenstände wie die Schüssel und das destillierte Wasser, aus der medizinischen Sphäre stammen. Die Seelsorgerin der Fernsehserie gestaltet die medizinische Sphäre in eine rituelle Sphäre um und eröffnet hierdurch einen kommunikativen Raum. Sie bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich an die Verstorbenen und die Erfahrungen mit ihnen zu erinnern. Damit geraten die Beziehungen zwischen dem Personal und den Patienten noch einmal in den Blick. Eine besondere symbolische Bedeutung kommt den Händen in diesem Ritual zu. Die Hände sind für das medizinische Personal das ausführende Organ ihrer Arbeit. Das Händewaschen steht für den symbolischen Übergang zu etwas Neuem: Denn im übertragenen Sinne waschen sich Pflegende und Ärzte etwas von den Händen ab, mit dem sie behaftet sind. Aber auch das Wasser ist wichtig: Es ist ein Symbol für Erneuerung und Heilung und steht für etwas Lebens-

Rituale als symbolische Handlungskomplexe

241

spendendes.265 Anschließend salbt die Seelsorgerin die Hände des medizinischen Personals. Salben im Krankenhaus dienen der Heilung von Verletzungen und dem Schutz der Haut. So kann diese Salbung durch die Seelsorgerin als stärkende Handlung gedeutet werden. Durch die sinnlichen Erfahrungen des Waschens und des Berührens erhält die Situation eine neue Bedeutung. Im Vordergrund stehen nun nicht mehr die Erinnerung an die Verstorbenen und die im Bild des Händewaschens symbolisierte Schuld, sondern die Stärkung der Ritualteilnehmer. Dadurch eröffnet sich ihnen eine neue Perspektive auf den Berufsalltag. Rituale wie die Taufe eines Neugeborenen oder die Aussegnung eines Verstorbenen zu feiern, gehört zu den primären Aufgaben von Seelsorgenden im Krankenhaus. Seelsorgende gestalten Rituale häufig, wenn sich das Leben in seiner Brüchigkeit, Verletzlichkeit und Endlichkeit zeigt und an seine Grenzen gelangt. Eine solche Situation trat in der eingangs erwähnten Serie deutlich zutage. Zudem lenkt die Szene den Blick auf eine zunächst verborgene Seite von Ritualen, die die Seelsorgenden im Klinikum gestalten: den Zusammenhang von Ritualen und ethischen Situationen. Ehe dieser Konnex erläutert wird, soll der Begriff des Rituals näher betrachtet werden. Es ist wichtig anzumerken, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Ritualtheorien und -definitionen verschiedener Disziplinen gibt. Die hier vorgestellte Begriffsbestimmung lehnt sich deshalb an einen aus der Ethnologie stammenden performativen Ansatz an, dessen zugrundeliegende Idee es ist, „Aufmerksamkeit auf die sinnkonstitutiven Aspekte des Handelns zu lenken“ sowie die prozessuale Dimension des Rituals zu betonen.266 Ein Ritual ist eine Handlung bzw. ein Handlungskomplex, die bzw. der in den meisten Fällen auf eine vorgegebene Art und Weise erfolgt oder sich an einem vorgegebenen Schema orientiert. Rituale sind sowohl räumlich und zeitlich strukturiert und gestalten den Raum und die Zeit der Ritualteilnehmer.267 Die Beteiligten greifen bei der Durchführung von Ritualen auf geprägte Handlungen und Formulierungen zurück. Der Bezug zwischen Ritualen und Religionen besteht darin, dass Religionen als symbolische und kulturelle Ordnungsmuster verstanden werden können. Dies wird beispielsweise an dem eingangs beschriebenen Ritual deutlich. Das Händewaschen in dieser Szene verweist auf die in Mt 27,24 beschriebene Szene: Pilatus wäscht sich die Hände und deklariert sich damit als nicht schuldig an Jesu Verurteilung und Tod. Anders gesagt: „Rituale, die innerhalb des Systems Religion in ihrer Zeichenhaftigkeit und Bedeutung definiert sind, [bieten] Ausdrucksmöglichkeiten, die in der jeweiligen Religio-

265 Hänel, Ritual, 259. 266 Krieger/Belliger, Einführung, 10. 267 Hänel, Ritual, 252.

242

Die ethische Funktion von Ritualen

sität gefüllt und aktualisiert werden.“268 Durch ihre Teilnahme am Ritual und den Rückgriff auf die gegebenen Symbole transzendieren die Personen ihre Gemeinschaft. Diese Transzendenz ergibt sich auch daraus, dass das Ritual bereits vor der Zusammenkunft der Akteure bestanden hat und über das Zusammentreffen hinaus Bestand haben wird. Die Formen eines Rituals unterscheiden sich von ähnlichen Alltagshandlungen, insofern sie symbolischer und nicht instrumenteller Natur sind. So dient das Händewaschen in dem eingangs dargestellten Beispiel nicht der Hygiene, sondern symbolisiert, dass sich das medizinische Personal von etwas befreit. Zwar nutzen die Akteure vorgegebene Formen und Abläufe, doch zugleich gehen sie kreativ mit dem Ritual um, wodurch es sich verändert. Wie ein solches Ritualdesign aussehen kann, zeigt die geschilderte Episode der Serie „Emergency Room“.269 Die Seelsorgerin gestaltet ein neues Ritual, das aber biblische und religiöse Handlungen und Motive aufgreift. Da in solchen und anderen Ritualen Traditionen und die individuellen Lebenssituation zusammenspielen, können die Teilnehmenden im Ritual Themen aufgreifen, die für sie bedeutsam sind. In solchen Momenten sind Rituale passgenau. Das Ritual ist ein Instrument sozialer Kommunikation, durch das soziale Botschaften vermittelt werden: Sei es, dass sie wie in Übergangsriten – rites de passage –, den Übergang von einem Status in einen anderen Status markieren, oder sei es, dass sie kollektive Werte erneut bestätigen. Dieser Ritualtypus der Übergangsriten wird an dieser Stelle gesondert betrachtet, da eine Vielzahl der im Krankenhaus vollzogenen Rituale Übergangsrituale sind. Die Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner beschreiben, dass Übergangsrituale aus drei Phasen bestehen.270 Ihre Funktion besteht darin, den Übergang einer Person oder Gemeinschaft von einem sozialen Status in einen anderen zu begleiten. Als Beispiel sei die Hochzeit genannt, bei der aus unverheirateten Personen ein Ehepaar mit neuen Rechten und Pflichten wird. Die erste Phase des Übergangsrituals ist die Ablösungsphase, bei der die Teilnehmer aus dem bestehenden Status herausgelöst werden. Dieser folgt die liminale Phase, in der sich die Teilnehmenden in einem Zwischenzustand befinden. Hier haben sie weder den alten noch den neuen sozialen Status inne. Dementsprechend ist diese Zeit durch Unsicherheiten geprägt, die den Einzelnen, aber auch die Gemeinschaft an sich betreffen.271 Beendet wird das Ritual durch die Integrationsphase, durch die die Teilnehmer wieder Teil der Gesellschaft, allerdings mit einem neuen Status, werden.

268 269 270 271

A.a.O., 254. Karolewski/Miczek/Zotter, Ritualdesign, 10. Van Gennep, rites, 11. Turner, Ritual, 94. Wuthnow, Meaning, 120–123.

Rituale als symbolische Handlungskomplexe

243

Rituale öffnen und schließen Räume der Uneindeutigkeit, bringen Ambivalenzen zum Ausdruck und erlauben, diese zu äußern. Damit fördern Rituale die Stärkung des Zusammenhalts von Gruppen und Institutionen. Durch ihre Teilnahme an Ritualen können Akteure ihre eigenen Normen und Werte reflektieren. Zudem dienen sie zur Bewältigung von Unsicherheiten. Das Thema der Schuld, das in dem zu Beginn zitierten Interviewauszug mitschwingt, weist auf den bereits erwähnten Zusammenhang von Ritualen und ethischen Situationen hin. Im Zusammenhang mit ethischen Situationen kommen Ritualen zwei Funktionen zu. Erstens stellen Menschen in solchen Grenzsituationen ihre eigenen Handlungen, Werte und Normen auf den Prüfstand und hinterfragen ihre Identität und Verortung im Geflecht sozialer Beziehungen. Dies können sie im kommunikativen Raum des Rituals reflektieren. Anders als bei Treffen ethischer Gremien ist hier jedoch weniger die diskursive Ebene als die performative und symbolische Ebene von Bedeutung, wodurch die Teilnehmer die ethische Situation auf einer anderen Ebene erleben und verhandeln. Die zweite Funktion des Rituals ist es, den Teilnehmern symbolisch eine Möglichkeit vorzuzeichnen, wie diese Situation überwunden werden kann. Dabei bannt es die mit der ethischen Situation verbundene Unsicherheit und erzeugt eine neue Ordnung und Eindeutigkeit. Rituale dienen auch der Ziehung von Grenzen. So markieren sie den Übergang von einem Lebenskontext in den nächsten und damit verbunden auch neue Rollen und Identitäten, wie es beispielsweise durch das Ritual der Hochzeit geschieht. Zugleich werden den Teilnehmern im Ritual neue Deutungen und Einordnungen ihrer Lebenssituation angeboten. Seelsorgende vollziehen Rituale im Kontext ethischer Situationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zum Teil sind sie in die Nachbegleitung ethischer Situationen eingebettet (II.). Hier zeichnen die Seelsorgenden den Beteiligten symbolisch Wege vor, die sie aus der Situation herausführen können. Seelsorgende, Patienten und Angehörige führen Rituale auch dann durch, wenn die Entscheidung ansteht. Hier wird die ethische Situation in ihrer Uneindeutigkeit im Ritual aufgegriffen, und eine Eindeutigkeit wird symbolisch hergestellt (III.). Zudem bestätigen die Teilnehmer in Ritualen das bestehende Beziehungsgefüge oder verdeutlichen hierdurch, dass Personen einen neuen sozialen Status innehaben (IV.). Um diese Rituale gestalten zu können, müssen Seelsorgenden Ressourcen wie konkrete Räume zur Verfügung gestellt werden (V.).

244 II.

Die ethische Funktion von Ritualen

Die Neuordnung ethischer Situationen im Ritual

Bedingt durch die Vielzahl therapeutischer Optionen werden Patienten, ihre Angehörigen und das medizinische Personal zunehmend in ethische Situationen verwickelt. Schaut man sich an, wann Seelsorgende Rituale im Zusammenhang mit ethischen Situationen durchführen, fällt auf, dass viele dieser Rituale nach der Entscheidung stattfinden. Häufig sind sie eine der wenigen Möglichkeiten, die den Beteiligten zur Verfügung stehen, um im Nachgang die ethische Situation zu reflektieren und gegebenenfalls zu einem Abschluss zu bringen. In diesen Ritualen wird insbesondere die Schuld der Patienten und Angehörigen sowie des medizinischen Personals angesprochen. Schuld und Schuldgefühle sind insbesondere bei Ritualen, die Seelsorgende gemeinsam mit Patientinnen gestalten, die einen Schwangerschaftsabbruch haben vornehmen lassen, ein zentrales Thema. Diese Rituale sind unterschiedlich komplex. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie die moralische Zerrissenheit, die die Frauen zum Teil Jahre nach der Entscheidung empfinden, im Ritual aufgreifen. Vorab ist es wichtig festzuhalten, dass es an dieser Stelle weder darum geht, Schwangerschaftsabbrüche moralisch zu bewerten, noch zu behaupten, dass alle Frauen nach einem solchem Eingriff Schuldgefühle empfänden. Im Folgenden wird der induzierte Abort als Schwangerschaftsabbruch und nicht als Abtreibung bezeichnet. Die Entscheidung für den Begriff des Schwangerschaftsabbruchs wurde getroffen, da es hier um die Perspektive und Entscheidungen der Frauen geht. Diese Wortwahl stellt keine moralische Bewertung der Situation dar.272 Ein solches Ritual, das die Vergebung von Schuld thematisiert, begeht die Seelsorgerin Miriam Vogt mit einer Patientin alleine in einer Kapelle. Diese hatte ein Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Bei dem Fötus war Trisomie 21 diagnostiziert worden. Die Seelsorgerin bezeichnet das Ritual als Ritual zum Bekenntnis von Schuld und zur Vergebung (kurz: Vergebungsritual). In seiner Struktur ähnelt es einem Übergangsritual und wird als solches analysiert. Im ersten Abschnitt des Rituals steht das Bekenntnis der Schuld im Vordergrund. Dieses Thema greift die Seelsorgerin in dem von ihr gesprochenen Gebet auf. Sie bringt den lebensgeschichtlichen Kontext der Patientin in das Gebet mit ein und kontextualisiert deren Entscheidung für den Schwangerschaftsabbruch. Die Seelsorgerin betet: Gott, wir stehen heute vor dir und bitten dich nun um deinen Beistand. Wir sind hier, weil Schuldgefühle so schwer auf dem Leben von Frau X. lasten und ihr zeitweise fast die Luft zum Atmen nehmen. Diese Schuld bringen wir vor dich und bitten dich um deine Entlastung und Vergebung. 272 Weilert, Spätabbruch.

Die Neuordnung ethischer Situationen im Ritual

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Du weißt, dass im November ein drittes Kind, L., entstanden ist – mitten in einer schwierigen Ehephase. So konnte Frau X. keine Freude empfinden. Der medizinische Befund von Trisomie 21 bei L. führte zu dem Entschluss des Schwangerschaftsabbruchs, weil sie sich in der Lebenssituation absolut überfordert sah, dieses dritte Kind zu bekommen. Es war ein furchtbarer und quälender Prozess, der wohl zu den schlimmsten Tagen von Frau X. gehört. Seitdem findet Frau X. keine Ruhe mehr und ist geplagt von Schuldgefühlen. Vom Gesetz her ist ihr nichts vorzuwerfen und ist alles rechtens, aber ihr innerer Richter klagt sie pausenlos an, und auch die Sorge, dass du, Gott, und auch L. ihr nicht vergeben können, lassen sie verzweifeln. Ihr Wert, dass Leben zu schützen sei, und dein Gebot: du sollst nicht töten, wurden durchbrochen. Die Schuld lastet nun schwer auf Frau X., denn das Geschehene ist nicht rückgängig zu machen. Barmherziger Gott, du weißt, dass wir Menschen Fehler machen und schuldig werden, dass wir unzureichend sind. Genau deshalb hast du Jesus Christus in unsere Welt gesandt, der uns deine Botschaft bringt: Die Liebe zu uns Menschen ist größer und tiefer als alles andere. Nichts kann uns von deiner Liebe trennen, auch nicht die Schuld. (M2 Miriam Vogt, ohne Datum, M)

Die Seelsorgerin eröffnet durch die Eingangsworte und das darauffolgende Gebet einen kommunikativen Raum. Sie ordnet zunächst die Entscheidung der Patientin für den Schwangerschaftsabbruch in den Lebenszusammenhang der Frau ein. Dann greift sie die moralische Zerrissenheit der Patientin auf. Diese Zerrissenheit umschreibt sie abwechselnd mit den Worten Schuld oder Schuldgefühl. Durch den Wechsel von der psychologischen Ebene (Schuldgefühl) zur moralischen Ebene (Schuld) objektiviert die Seelsorgerin das Erleben der Patientin. Die Selbstvorwürfe der Patientin werden als (mögliche) Schuld vor Gott gedeutet. Der Aussage der Seelsorgerin nach fühlt sich die Patientin seit ihrer Entscheidung für den induzierten Abort ruhelos, da sie gegen ihre eigenen Normen und Werte – das Leben zu schützen – sowie Gottes Gebot – Du sollst nicht töten – verstoßen hat. Diesen Verstoß gegen die Normen und Werte findet sich in dem von der Seelsorgerin verwendeten Sprachbild des inneren Richters wieder. Dieser innere Richter ist eines von drei Symbolen, das die Seelsorgerin anbietet, um die innere Zerrissenheit der Patientin zu fassen. Der innere Richter steht dabei in kantischer Manier für die Selbstverurteilung. Diese Selbstverurteilung wird zweitens als Urteil einer externen Instanz gedeutet, von der dann auch Vergebung zu erhoffen ist. Hierfür steht das Symbol Gott. Offenbar an die Beschreibung der Patientin anschließend symbolisiert schließlich auch die Anklage des Kindes selbst die innere Zerrissenheit. Die Patientin fürchtet, dass sie von ihm keine Vergebung erhalten kann. Gleichzeitig verweisen die Formulierungen des „inneren Richters“ sowie „vom Gesetz her“ darauf, dass für diese Patientin auf der einen Seite die rechtliche

246

Die ethische Funktion von Ritualen

Logik, innerhalb derer ein Schwangerschaftsabbruch straffrei ist, und auf der anderen Seite die moralische Bewertung ihres Tuns auseinanderlaufen. Der letzte Abschnitt des Gebets leitet zur nächsten Phase des Rituals über, in dem es um die Vergebung der Schuld geht. Die Seelsorgerin verwebt an dieser Stelle die Erfahrungen und Lebenswelt der Patientin mit christlichen Glaubensvorstellungen und Praktiken. Sie fragt die Patientin, ob sie bereit ist, das, was sie als ihre Schuld empfindet, vor Gott zu bringen. Miriam Vogt leitet diesen Abschnitt mit den Worten ein: So frage ich dich nun, X.X., bist du bereit, das, was als Schuld und Versagen auf dir lastet, vor Gott zu bekennen, all das, was dich quält, nun in seine Hände zu legen, so antworte mit: „Ja, ich bekenne meine Schuld und lege sie in Gottes Hand.“ (M2 Miriam Vogt, ohne Datum, M)

In diesem Abschnitt wird das psychologische Sprachspiel der Schuldgefühle endgültig verlassen und die Empfindungen der Patientin werden rituell als Schuld benannt und objektiviert. Zugleich erfolgt hier der Übergang zur Vergebung der Schuld. Symbolisch übergibt die Patientin ihre Schuld in Gottes Hände. Ähnlich wie in der US-amerikanischen Serie „Emergency Room“ kommt den Händen eine wichtige Bedeutung zu. Gottes Hände stehen hier für die Möglichkeit, Schuld abzulegen und als vergeben zu erfahren. Fortgesetzt wird die rituelle Inszenierung der Vergebung der Schuld mit dem Vaterunser und dem Abendmahl, das die Seelsorgerin mit der Patientin feiert. Die Seelsorgerin greift auf geprägte Formulierungen wie die der Einsetzungsworte, des Vaterunsers und der Austeilung des Abendmahls zurück. Dabei können besonders Sätze wie „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, aber auch „Gott vergibt Dir all deine Schuld und Verfehlungen“ in diesem Moment eine für diese Frau spezifische Bedeutung annehmen. Symbolisieren und kommunizieren sie doch, dass ihre Schuld vergeben wird. Die subjektive Erfahrung der Schuld und des Selbstvorwurfes sowie der implizit mitschwingende Vorwurf anderer werden dadurch in einen religiösen Raum hinein transzendiert. Dies scheint auch in den Worten der Seelsorgerin, die sie während des Abendmahls spricht, durch: Als Zeichen für die Vergebung der Schuld hat uns Jesus die Feier des Heiligen Abendmahles hinterlassen. Im Abendmahl soll deutlich werden: Jesus, also auch Gott, setzt sich mit allen Menschen an einen Tisch, ganz gleich, was in ihrem Leben vorgefallen ist. Immer wieder will Gott die Gemeinschaft mit uns erneuern und uns befreien von Schuld und Versagen. Das hat er uns schon in der Taufe zugesagt, aber wir können uns dessen vergewissern, indem wir das Abendmahl feiern. Niemand wird von Gottes Tisch ausgeschlossen, sondern liebevoll breitet Gott seine Arme aus, wenn wir zu ihm kommen, und er vergibt uns das, was uns in unserem Leben nicht gelingt. (M2 Miriam Vogt, ohne Datum, M)

Die Neuordnung ethischer Situationen im Ritual

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Die Worte der Seelsorgerin inszenieren symbolisch die Heilung des Selbstvorwurfes und des – vermuteten oder tatsächlichen – Vorwurfs der anderen im Abendmahl. Hierfür steht das Bild, dass Gott sich mit allen Menschen an einen Tisch setzen will. Die Resozialisierung der schuldbeladenen Patientin – vor sich selbst und vor den anderen – wird sinnfällig im gemeinsamen Mahl, in einer verbindenden sozialen Handlung. In der dritten und letzten Phase des Rituals geht die mit Schuld verknüpfte Situation durch das Gebet und den Segen in eine Situation der Vergebung über. Die erbetene und angebotene Vergebung, die im Empfang des Abendmahls schon symbolisch angenommen wurde, wird nun auch zugesprochen. Gegen die innere moralische Zerrissenheit der Patientin setzt die Seelsorgerin Gottes Güte und bittet darum, dass sich diese im Selbstumgang der Patientin manifestieren möge. Sie betet: Gnädiger, barmherziger Gott, du hast uns Menschen zugesagt, dass du immer wieder einen neuen Anfang mit uns wagst. Niemanden, der bei dir anklopft, weist du ab. Du begegnest uns mit deiner barmherzigen Liebe und schenkst uns deine Vergebung. Wir bitten dich, lass uns deine Liebe spüren und darauf vertrauen, dass wir immer und immer bei dir willkommen sind. So bitten wir dich heute für Frau X., dass sie deine Liebe und Vergebung annehmen kann und sie sich selbst ebenso mit Barmherzigkeit begegnet. Wir danken dir, Gott, für deine Güte und deinen Beistand in allen unseren Lebenssituationen.

Dann spricht sie den Segen: Gott segne dich und er behüte dich, Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und er sei dir gnädig. Gott hebe seine Augen auf dich und er schenke dir seinen Frieden – von nun an bis in Ewigkeit. Amen. (M2 Miriam Vogt, ohne Datum, M)

Durch das Gebet und den Segen zeichnet die Seelsorgerin der Patientin symbolisch einen Weg vor, der von ihrer moralischen Zerrissenheit zum Frieden führen kann. Ob die Patientin dieser Deutung folgt, ist hier nicht ersichtlich. Generell kann jedoch gesagt werden, dass Rituale in Situationen, die durch Unsicherheiten geprägt sind, Sicherheit und Hoffnung vermitteln können. In diesem, aber auch in anderen Ritualen lässt sich beobachten, dass den Betroffenen im Hinblick auf ihre getroffenen Entscheidungen symbolische Wege angeboten werden. Ein Beispiel stammt von der Seelsorgerin Renate Zimmermann: Dann sagte mir eine Patientin: „Ich bin zwischendurch in Amerika gewesen, und da habe ich ein Kind erwartet und das habe ich abgetrieben, das habe ich aber meinem Mann nie erzählt.“ Also während der Ehe ist das passiert. Und das hat sie doch als sehr starke Schuldgefühle erlebt. Nachträglich, als sie Krebs kriegte, sagte sie: „Das ist sozusagen die Bestrafung dafür.“ Sie war auch völlig [einverstanden], dass sie bestraft worden war, denn sie hatte darunter immer gelitten. Dann haben wir zusammen ge-

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Die ethische Funktion von Ritualen

betet, und das hat ihr auch geholfen. Und sie hat auch dann alle Chemotherapien und alles gemacht. Das war gar nicht so sehr schlimm, also das war kein sehr großer Befund gewesen. Das hat mich damals sehr erschrocken, dass jemand nach vielen Jahren… es war also, was weiß ich, fünfzehn Jahre oder noch länger her das ganze Erlebnis, dass das für sie so lange ein wirkliches, traumatisches Erlebnis war. Sie hatte eigene Kinder. (I Renate Zimmermann 21. 6. 2012 K)

Ihre jetzige Krebserkrankung empfindet die Patientin als Strafe. Auch hier ist die ethische Situation bereits abgeschlossen, da die Patientin die Entscheidung vor langer Zeit getroffen hat. Die Seelsorgerin bearbeitet dies in einem Gebet, dessen Wortlaut nicht bekannt ist. An diesem Gebet kann aufgezeigt werden, dass Personen, die an einem Ritual teilnehmen, hinsichtlich der Bewertung einer ethischen Situation nicht übereinstimmen müssen. Die Patientin empfindet Schuld und meint, dass die Erkrankung eine Strafe für ihre Schuld ist. Diese Ansicht teilt die Seelsorgerin offenbar nicht. Die Sichtweisen beider Frauen werden in der religiösen Dimension aufgenommen. Dies unterscheidet Rituale von ethischen Konsilen, da die Teilnehmer eines solchen Konsils zu einer gemeinsamen, möglichst im Konsens getroffenen Entscheidung kommen, während bei Ritualen unterschiedliche Bewertungen nebeneinander bestehen bleiben können, ohne dass diese Spannung aufgelöst werden muss. Mit Schuld setzen sich auch die Angehörigen und das medizinische Personal auseinander. Seelsorger Uwe Schröder berichtet: Und es gibt rituelle Formen. Vor allem Andachten bei Sterbenden und Andachten bei Verstorbenen. Jetzt kann man natürlich sagen, na klar, da geht es jetzt um das Abschiednehmen. Abschiednehmen ist nicht einfach, und trotzdem ist mit dem Abschiednehmen nicht selten was ganz anderes noch verbunden. Nämlich, haben wir es richtig gemacht? Haben wir etwas falsch gemacht? Sind wir dran schuld, dass sie jetzt hat sterben müssen? Sind wir dran schuld, dass sie so lang hat leiden müssen? Dass wir sie damals doch noch mal zurückgeholt haben? Und all diese Dinge. Also jetzt mit dem Gewissen beschwert. Manchmal beschwert, weil sie jetzt sterben muss, oder er sterben muss. Jetzt ist der Pfarrer da und hat eine ritualisierte Form, wo man das zumindestens ein Stück entlastend hinbekommt. (I Uwe Schröder 4. 2. 2012 T)

Ähnlich wie die Angehörigen stellt sich das medizinische Personal die Frage, ob sie dem Patienten gerecht geworden sind. Die Seelsorgerin Susanne Christlieb geht diesem Problem während der Teambesprechung auf der Palliativstation auf ritualisierte Art und Weise nach. Ein Moment der Teambesprechung ist für die Erinnerung an die Verstorbenen reserviert. Nachdem das Team die Situation einiger Patienten besprochen hat, nimmt die Seelsorgerin das auf der Station ausgelegte Gedenkbuch und leitet einen Moment der Erinnerung ein. Normalerweise dient das Gedenkbuch dazu, die Geburts- und Sterbedaten der Patienten wie auch Erinnerungen an sie festzuhalten. Ebenfalls sind in ihm Dankesschreiben an das medizinische Personal zu finden.

Die Neuordnung ethischer Situationen im Ritual

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Seelsorgerin: Am 14. März ist Frau B. gestorben. Pflegerin: Sie sagte mal, dass sie sterben wollte, dann wollte sie wieder nicht sterben. Logopädin: Diese Ambivalenz war sehr schwierig. Ergotherapeutin: Ich fand, dass es sehr schnell ging. Erst war sie auf der kurativen Station, dann kam sie auf die Palliativstation, da sie keine Nasensonde wollte. Die Patientin brauchte Zeit, um zu verstehen, um was es geht. Ärztin: Sie war isoliert, dann kam sie auf die Palliativstation. Sie hat sich fünf oder sechs Mal die Nasensonde gezogen und gesagt, dass sie das nicht will. Sie hat die letzten Jahre immer gesagt, dass sie nicht künstlich ernährt werden möchte, da sie selbst eine Angehörige gepflegt hat, die eine PEG-Sonde hatte. Ärztin: Wir haben mit ihr und ihren Angehörigen entschieden, dass wir die Lungenentzündung behandeln und schauen, ob das Schlucken besser wird. Dann, als sie auf der Palliativstation war, wollte sie etwas zu trinken. Dann bekam sie eine Magensonde. Einen Tag später hat sie sich selbst die Magensonde gezogen. Dann wollte sie essen und trinken. Dann wollte sie Spritzen, da sie sterben wollte. Dann hatte sie wieder Angst vor dem Sterben. Ich habe die Angehörigen nach ihrer Einschätzung gefragt. Sie haben sich für die palliative Behandlung entschieden. Die Patientin hat sich selbst die Braunüle gezogen. Wir haben dies als ihren natürlichen Willen genommen. Seelsorgerin: Solche Patienten sind schwierig. Ihre Angehörigen sind dankbar, dass ihr ihr in den letzten Tagen des Leidens beigestanden habt. So eine Situation wie mit dieser Patientin ist schwierig. (F Susanne Christlieb 15. 3. 2012 T)

Da diese Treffen regelmäßig stattfinden und auf eine bestimmte Art und Weise ablaufen, ähneln sie klassischen Ritualen. Zu Beginn der Besprechung tauschen sich die Anwesenden über die medizinische Situation der Patientin aus. Sie rekapitulieren den Behandlungsverlauf. Zugleich verhandeln sie eine ethische Frage: Sind sie der Patientin gerecht geworden? Diese Frage stellt sich, da die Patientin zunächst keine eindeutigen Signale im Hinblick auf die Fortsetzung oder Beendigung ihrer Therapie ausgesendet hat. Diese Ambivalenz hat sich auf das Team übertragen. Indem das Team gemeinsam die Situation der Patientin bespricht und seine Eindrücke teilt, können sie einen Überblick über die Situation gewinnen und diese so anders einordnen. Die Unsicherheit, die das Team verspürt, greift die Seelsorgerin mit ihrer Bemerkung – „solche Patienten sind schwierig“ – auf. Sie bringt die Situation durch diese Objektivierung zum Abschluss. Der Austausch untereinander stärkt die Teammitglieder und ermöglicht es ihnen, sich den Aufgaben des Alltags zu stellen, da durch die Objektivierung der Situation eine Entlastung möglich wird – gleichsam ein säkularer Vergebungszuspruch. Die bisher dargestellten Rituale finden alle nach einer Entscheidungssituation statt und sind eine Form der Nachbegleitung ethischer Situationen. In ihnen wird die innere Spannung und Unsicherheit der Patientinnen, aber auch der Ange-

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Die ethische Funktion von Ritualen

hörigen und des medizinischen Personals thematisiert. Die Patienten haben eigene und soziale Normen gebrochen, wie das Beispiel des Vergebungsrituals zeigt. Die Angehörigen und das medizinische Personal haben das Gefühl, vor sich und dem Patienten versagt zu haben, da sie ihn nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht haben oder anders hätten behandeln müssen. Das Ritual eröffnet einen Raum, innerhalb dessen diese Problematik angesprochen werden kann. Gleichzeitig wird den Ritualteilnehmern eine neue Einordnung der Situation angeboten. Dies liegt auch in den Prozessen und Inhalten der Rituale begründet, die die aktuelle Situation der Teilnehmer mit religiösen Vorstellungen verweben. Damit kann sich die Perspektive der Teilnehmer wandeln.

III.

Rituale in Entscheidungssituationen

In den bislang beschriebenen Situationen fanden die Rituale nach einer bereits getroffenen Entscheidung statt. Wichtig ist hierbei, dass sie eine ethische Situation zu einem Abschluss bringen. Diese schließende Funktion ist auch bei Ritualen bedeutsam, die gefeiert werden, während Entscheidungen anstehen. Diese Rituale sind als Teil ethischer Entscheidungssituationen anzusehen. Die Rituale können zur Vereindeutigung ethischer Situationen beitragen. In manchen Fällen wird dies von den Akteuren positiv wahrgenommen, in wiederum anderen Situationen führt es zu Spannungen.

a)

Rituelle Schließung ethischer Situationen

Wie während eines Rituals eine ethische Situation eindeutig wird, kann anhand des Abschieds illustriert werden, den Renate Zimmermann mit einer sterbenden Patientin und ihren Angehörigen feiert: Die Patientin war auf einmal bewusstlos, wurde im Klinikum operiert am Kopf, und man hat auch was gefunden. Und die Tochter war Ärztin, und dann stand ich mit allen Geschwistern, also allen Kindern da am Bett. Und ich kannte die gut. Dann ging es darum, die Patientin hatte keine Patientenverfügung, ob die Tochter das Todesurteil oder nicht, also dass nichts mehr gemacht wird, unterschreibt. Und sie sagte eben, die Hirnstromkurve ist gerade. Es hat keinen Zweck, und selbst wenn noch was gemacht wird, also es war einfach nichts. Sie war eigentlich im tiefsten Koma, und es war einfach die Frage, ob es je wieder irgendwas was werden wird, weil sie schon so lange im Koma war. Und dann haben sie sich entschlossen. Also wir haben dann am Bett gebetet. Wir haben auch noch laut mit ihr gesprochen und haben uns richtig von ihr verabschiedet. Und ich hab so einen Todessegen, also so, ja, so einen Beerdigungssegen gesprochen und das Vaterunser mit denen allen zusammen gebetet. Und wir waren eigentlich so eine richtig gute Gruppe um das Bett herum. Wie viel die Patientin mitgekriegt hat, weiß

Rituale in Entscheidungssituationen

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ich nicht. Dann wurde eben unterschrieben, dass es zu Ende gehen darf, und dann ging es ganz schnell natürlich zu Ende. (I Renate Zimmermann 21. 6. 2012 K)

Im Vordergrund steht zunächst die ethische Frage, ob die Tochter sich für die Beendigung der Therapie entscheiden soll oder nicht. Während die Tochter eine Entscheidung trifft, gestaltet die Seelsorgerin am Bett der Patientin ein Ritual. Die Angehörigen und die Seelsorgerin beten gemeinsam und reden mit der Sterbenden. Schließlich spricht die Seelsorgerin eine liturgische Form des Sterbesegens, den sie zunächst salopp als Todessegen bezeichnet. Dieser Segen stellt eine Grenzziehung und Neuordnung der Situation dar, da die Situation im Zimmer der Patientin in die Nähe zur tatsächlichen Beerdigung gerückt wird. So steht nicht mehr die Behandlung der Patientin im Vordergrund, sondern der Abschied von ihr. Der Segen trägt dazu bei, die Situation eindeutiger werden zu lassen. Im Anschluss an das Ritual wird die Entscheidung umgesetzt: Die Tochter unterschreibt, die Geräte werden abgeschaltet. Das Ritual schließt die ethische Situation. Im folgenden Beispiel ist ebenfalls die rituelle Schließung einer Entscheidungssituation ausschlaggebend.273 In diesem Fall ist es die Seelsorgerin, die den Arzt darin unterstützt, den Schritt zwischen der Entscheidung und dem Vollzug derselben zu tun. Es geht um zwei Mädchen, die durch einen Notkaiserschnitt auf die Welt kamen. Das eine Kind ist nicht lebensfähig, und so entscheiden sich die Eltern, die Therapie bei diesem zu beenden. Bevor dies geschieht, bitten die Eltern die Seelsorgerin darum, beide Kinder zu taufen. Diese Taufe bestätigt das Personsein beider Mädchen, auch des nicht lebensfähigen Zwillings. Sie besiegelt jedoch auch die Entscheidung der Eltern, die Therapie für das nicht lebensfähige Kind zu beenden. Die Taufe der Kinder nimmt in mehrfacher Hinsicht die Abschiedssituation voraus. So wusste die Seelsorgerin bereits vor dem Taufgespräch, dass das eine Mädchen keine Überlebenschance hat: Und die Perspektive war bereits, dass es vermutlich nicht überleben wird. Und das wurde mir vorher so vom Pflegepersonal gesagt. Und dass haben mir im Grunde die Eltern auch gesagt. Es gab einen ganz klaren tiefen Schmerz und in dem Sinne eine ganz große Zerrissenheit. Aber die Zerrissenheit war nicht die, gibt es noch eine Chance für unser Kind, verwehren wir ihm eine Chance, sind wir da leichtfertig. Sondern ich glaube, die Zerrissenheit war die, dieses Kind hat keine Chance und es muss sterben. Und das ist schrecklich, und das andere Kind lebt. Welchem Kind wende ich mich zu und wem wende ich mich mit welcher Kraft zu? (I Ruth Lange 8. 5. 2012 T)

Aus den Schilderungen der Seelsorgerin wird deutlich, dass die Eltern die Entscheidung bereits getroffen haben. Dennoch fühlen sie Schmerz und eine große Zerrissenheit. Sie leiden an der Grausamkeit des Unerklärlichen, ein gesundes

273 Siehe Kapitel 3.1 und 3.5.

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Die ethische Funktion von Ritualen

Kind und ein sterbendes Kind zu haben. Sicher sind sie sich jedoch, dass sie beide Kinder taufen lassen möchten. Trotz der Unterschiedlichkeit dieser Kinder stellt die Taufe sie gleich, da sie beiden zuspricht, in die christliche Gemeinde aufgenommen zu sein und den Status einer Person innezuhaben. Während der Taufe merkt die Seelsorgerin dann, dass sie die Entscheidung der Eltern nachvollzieht, die Therapie bei dem einen Mädchen zu beenden: Ich habe die beiden Kinder nicht gesehen, bevor ich das Elterngespräch geführt habe und auch nicht danach. Das heißt, interessanterweise habe ich sie erst richtig bei der Taufe gesehen. Und da ist mir schon der Größenunterschied zum einen und zum anderen das unterschiedliche Verhalten der beiden Mädchen bei der Taufe aufgefallen. Weil eben das größere, [Name], ganz ruhig da lag, und die kleinere, [Name], die hat echt gezappelt, solange die mit dem Taufwasser betupft wurde. Das heißt, es war so […] sichtbar, wie unterschiedlich die waren. Das, es gab auch einen klaren sinnlichen Eindruck, natürlich war der ja auch schon geleitet von meiner Perspektive, aber zumindest hat da nichts mehr dagegen gesprochen. Der Oberarzt sagte auch, ja, er will da auch dabei sein, wenn es irgendwie geht. Er kam dann und war dann bei der Taufe des Mädchens definitiv dabei, das später sterben würde. Und er ist dann ganz leise rausgegangen irgendwann, das habe ich gar nicht gemerkt. Der war am Ende nicht mehr da, und ich habe das kleinere Mädchen getauft. (I Ruth Lange 8. 5. 2012 T)

Diese Handlung der Seelsorgerin, etwas in Worte fassen und zu bezeugen, ist maßgeblich für die am nächsten Tag stattfindende Verabschiedung. Bei dieser sind die Eltern und die Seelsorgerin anwesend. Im Interview schildert die Seelsorgerin, wie sie für den Arzt Adressatin seiner Verantwortung wird, ehe das eine Mädchen verabschiedet und dessen Therapie beendet wird: Ich war ein bisschen näher an der Tür, und der Arzt hat sich dann erst mir zugewendet und hat dann gesagt, also, und dabei hat er mich nicht angeguckt. Das fand ich erst ganz eigenartig. Und hat gesagt, ja, also die medizinische Situation wäre ja so und so. Die Eltern seien ja auch aufgeklärt, hätten das verstanden und seien einverstanden. Da habe ich ihn dann noch einmal bestätigt, weil ich mich genau erinnert hab, dass ich sie auch gefragt habe im Elterngespräch vor der Taufe, ob ihnen das bewusst sei, ob das für sie so in Ordnung sei, diese Entscheidung, dass sie ihr Kind gehen lassen. Und dann sagte er noch mal – das war mir eindrücklich – dass es bei solchen sehr früh geborenen […] Kleinen noch nicht die klassischen Hirntodkennzeichen gäbe. Aber das EEG, das sie zwei Mal gemacht hätten, hätte eben alle Anzeichen für schwerste Hirnschäden gezeigt. Und deswegen sei es jetzt angebracht oder in Ordnung, die […] Beatmung […] abzuschalten. Und erst danach ist er zu den Eltern, hat die Verabschiedung gemacht und angefangen, die Geräte wegzunehmen. Aber das war auch dem Arzt wichtig, wenn wir bei dem Thema ethischer Konflikt sind, dass offensichtlich er diesen Konflikt oder diese Verantwortung dieser Entscheidung sehr deutlich wahrgenommen hat. Und noch mal begründet und gerechtfertigt hat, wieso er diese Entscheidung getroffen hat. Und ihm auch wichtig war, sich zu versichern, dass die Eltern wissen, welche Entscheidung sie getroffen haben, weil sie mussten ja auch die Zustimmung geben. Und ich so das Gefühl habe, es braucht, bevor es getan wird, noch einmal einen Punkt, das genau festzuma-

Rituale in Entscheidungssituationen

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chen, zu markieren und zu bestätigen, es geschieht nicht irgendwie, weil es wir mal gesagt haben. (I Ruth Lange 8. 5. 2012 T)

Für den Arzt ist es ausschlaggebend, dass er noch einmal die Möglichkeit erhält, die verschiedenen Handlungsoptionen und die damit verbundenen Normen und Werte anzusprechen. Er vergegenwärtigt sich, den Eltern und der Seelsorgerin die getroffene Entscheidung und ihre Gründe. Die Seelsorgerin wird für ihn zur Zeugin dieser Entscheidung, auch weil sie durch die Taufe für die gleiche Würde der Kinder steht. Zugleich bleibt sie da, hört und sieht zu. Damit wird die Entscheidung für den Arzt noch einmal auf einen Punkt gebracht und markiert. Er legt sich damit vor der Seelsorgerin auf die Entscheidung und die Durchführung derselben fest. In beiden bislang untersuchten Beispielen begleiten die Rituale die Entscheidungssituation und die Durchführung dieser Entscheidung. In beiden Situationen markieren sie den Abschluss der Entscheidungssituation. Im ersten Beispiel wird durch das Ritual die Situation zu einem Moment des Abschieds. Im zweiten Beispiel schreibt der Arzt der Seelsorgerin die Rolle der Zeugin zu. Dadurch kann er vor ihr die Situation rekapitulieren und die Entscheidung umsetzen.

b)

Die Gefahr des „Absegnens“

Die Funktion von Ritualen, Eindeutigkeit herzustellen, indem sie Grenzen markieren, wird von den Beteiligten nicht nur positiv aufgenommen. Seelsorgerin Andrea Schreiber berichtet von einer Begegnung, bei der das Ritual zu Spannungen führte: Sie wurde von der Frau eines sterbenden Patienten gerufen mit der Bitte um Gebet und Segen. Doch bei dem Besuch erlebte sie sich als „Buh-Frau“, nachdem der Patient am Ende fragte, „ob es denn schon so weit sei“ mit ihm. (F Andrea Schreiber 28. 3. 2012 K)

Der Patient hat den Eindruck, dass die rituellen Handlungen des Gebets und des Segens eine Eindeutigkeit produzieren und bestätigen, dass er sterben wird. Er protestiert gegen diese Eindeutigkeit und betont, dass er noch nicht so weit ist zu sterben. Die Seelsorgerin sieht sich, ohne es zu wollen, in der Rolle eines Todesengels, der das Ende bezeichnet. An diesem und am folgenden Beispiel zeigt sich, dass Rituale Spannungen erzeugen und sogar selber ethisch problematisch werden können. Die Seelsorgerin Annette Pfeiffer erzählt, dass sie wegen der Durchführung eines Rituals in einen Gewissenskonflikt kam. Im Feldtagebuch steht: Auf meine Frage nach der Bedeutung des Konzepts Gewissen antwortet mir Frau Pfeiffer, dass sie eher etwas mit dem Begriff des Gewissenkonflikts anfangen kann. Um

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Die ethische Funktion von Ritualen

dies zu verdeutlichen, berichtet sie mir von einem Erlebnis aus ihrer Zeit als Gemeindepfarrerin, die ihr Gewissen belastet habe. Zu dieser Zeit hatte sie für das Klinikum, in dem sie jetzt als Klinikseelsorgerin tätig ist, Rufdienst. Eines Nachts wurde sie in den Kreißsaal gerufen, wo sie, wie ihr mitgeteilt wurde, eine Totgeburt in der 26. Schwangerschaftswoche begleiten sollte, um die Eltern zu unterstützen. Zudem sollte sie das Kind segnen oder taufen. Das Kind hatte Trisomie 18 und eine schlechte Lebenserwartung. Es wäre schwerstbehindert gewesen. Das Kind habe einen Namen gekriegt und wurde gehalten. Sie tat alles, was man als Seelsorgerin im Falle einer Totgeburt oder Fehlgeburt tut. Diese Erfahrung war für sie total belastend. Im Nachhinein verbindet sie mit diesem Erlebnis den Begriff Spätabtreibung, auch wenn keiner der Anwesenden in der Situation diesen Begriff verwendet hat. Sie hatte den Eindruck, dass sie diese Entscheidung zur Spätabtreibung absegnen sollte, indem sie dieses Kind segnete. Sie war nicht am Entscheidungsprozess beteiligt. Ihre eigene Überzeugung ist es, dass es besser gewesen wäre, das Kind zu bekommen und dann zu schauen, wie sich die Situation entwickelt. Sie habe sich missbraucht gefühlt. (F Annette Pfeifer 2. 3. 2012 T)

Die Seelsorgerin fühlt sich durch das Ritual belastet. Aus ihrer Sicht hat keine Totgeburt, sondern eine Spätabtreibung stattgefunden. Sie hat den Eindruck, dass sie die Entscheidung der Eltern absegnen soll, die nicht im Einklang mit ihren eigenen Überzeugungen ist. Die Feier des Rituals wird für die Seelsorgerin zu einem ethischen Problem, da sie eine ihrer moralischen Grenzen überschritten sieht. Rituale begleiten auf unterschiedlicher Art und Weise Entscheidungen. Manche laufen parallel zu den Entscheidungen der Beteiligten ab und markieren, dass eine Grenze durch die Entscheidung gezogen und auch überschritten wird. Als Beispiel sei die Verabschiedung der Sterbenden genannt, bei der durch das Ritual und die von der Tochter der Patientin getroffene Entscheidung der Übergang vom Leben in den Tod markiert wird. Da Rituale Übergänge inszenieren und durch sie Eindeutigkeiten erzeugt werden können, kann ihre Durchführung sowohl bei den Patienten wie auch den Seelsorgerinnen zu Spannungen führen. Die Seelsorgerinnen geraten in Spannungen, wenn sie Entscheidungen von Angehörigen und Patienten absegnen sollen, die nicht mit ihren Normen und Werten konform sind. Umgekehrt empfinden auch die Patienten Spannungen, wenn sie den Eindruck haben, dass ein Ritual Prozesse, Entscheidungen und Ergebnisse vorweg inszeniert, mit denen sie noch nicht im Einklang sind.

Ordnung sozialer Beziehungen und sozialer Rollen im Ritual

IV.

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Die Ordnung sozialer Beziehungen und die Verhandlung sozialer Rollen im Ritual

Durch ihre Teilnahme an Ritualen können die Beteiligten ihre eigenen Normen und Werte sowie Entscheidungsoptionen thematisieren. In Ritualen affimieren die Teilnehmenden zudem Änderungen im Beziehungsgefüge. In diesem Zusammenhang steht das Beispiel von Seelsorgerin Heike Schütz. Sie erzählt von einer jungen Frau, die erst spät bemerkt, dass sie schwanger ist, wobei die medizinischen Untersuchungen ergeben, dass das Kind schwer geschädigt ist. Kurz nach der Geburt nimmt Heike Schütz im Kreißsaal eine Nottaufe vor. Sie erzählt: Ganz kurz im Kreißsaal – also die Frau hatte quasi gerade entbunden, das war eine halbe Stunde her – dann kam ich dazu. Was ist denn passiert? Wie geht es denn jetzt, erst mal würdigen, erst mal die Schönheit auch selber sacken lassen, so entschleunigen, kein Ritual sozusagen vor sich herschieben. Und da wusste ich jetzt nicht, Mensch wie gehst Du jetzt dran, und da hatte ich diese Engels-Zettelchen mitgebracht. Ich will sie jetzt nicht quälen mit so einem Taufspruch, was soll ich Ihnen jetzt sagen, vielleicht wollen Sie jetzt ihre Intuition entscheiden lassen, und dann hat sie gezogen: „Bittet, so wird euch gegeben, suchet, …“ Die hat das, glaub ich, in dem Moment gar nicht so geschnallt, weil sie gerade entbunden hatte. Die ist 25. Die wusste auch nichts von einer Hebamme, die war überwältigt einfach von dieser Geburt und auch geerdet und gewürdigt. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

Die Seelsorgerin verlangsamt die Situation und arbeitet nicht mit einem vorgefertigten Ritual, sondern fühlt sich in den Moment ein und gestaltet ihn situativ. Sie ermöglicht es den Eltern, einen Teil des Rituals selbst zu gestalten: Sie müssen sich vorstellen, innerhalb von fünf Tagen müssen die lernen, als Paar und als Familie, was das bedeutet, ein Kind zu haben. Ganz kompetent haben die sich da organisiert, haben auch selbst ein Ritual gefunden dann. Das Kind war also da. Ich sollte es nottaufen, war ihnen ganz wichtig, nicht nur segnen, sondern nottaufen, das ist auch noch mal eine wichtige Unterscheidung. Aber jedenfalls ihr Ritual war, dass sie dieses sterbende Kind von Hand zu Hand gereicht haben. Jeder sollte kommen und das Kind halten. Könnte sein, dass das ein großer Stress war für das Kleine. Aber das war in dem Moment irgendwie auch gar nicht mehr so wichtig. Es war einfach… es hatte viel Würde. Interviewerin: Eine Anerkennung dieses Lebens. Seelsorgerin: Ja. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

Während der durch die Seelsorgerin vollzogenen Nottaufe hat sie einen offenen Raum gestaltet, in dem die Eltern durch ihren Vorschlag, das Kind von Hand zu Hand zu reichen, selbst zu Ritualdesignern werden. Diese Handlung und das Symbol der Hand haben multiple Bedeutungen. Erstens scheinen die Beteiligten aus der Außenperspektive betrachtet im wahrsten Sinne des Wortes die Existenz

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Die ethische Funktion von Ritualen

des Neugeborenen zu begreifen und erfassen und würdigen damit sein Leben. Es wirkt, als ob sie ähnlich wie Paten das Leben des Kindes bezeugen und seinen Personenstatus bestätigen. Zweitens symbolisiert die Hand, dass das Kind getragen und geschützt wird. Drittens kommunizieren die Ritualteilnehmer durch die Berührung mit dem Kind, werden untereinander zu einer Gemeinschaft und nehmen es in ihrer Mitte auf. Damit ähnelt diese Handlung der Präsentation eines Neugeborenen im Kreise der Familie. In diesem Ritual steht eine andere Bedeutung der Hand im Vordergrund als in dem fiktiven Beispiel aus der USamerikanischen Serie. Sie ist weniger das ausführende Organ der Arbeit, sondern mehr das Organ der Beziehung und des Kontaktes. Diese Handlung und die sich anschließende Taufe zeigen auf, dass Rituale sich neu entwickeln und zugleich an Überliefertes anknüpfen. Die Seelsorgerin sagt: Ich schreibe da die Urkunde. Das wird eine Wirkung haben. Da bin ich mir ziemlich sicher, aber wirklich sicher. Und das waren Leute, die haben dem eine Bedeutung beigemessen. Und dann das Ritual ganz kurz: einfach nur Wasser, warmes Wasser, ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Aber sehr oft hab ich genau in so einer Situation das Gefühl, sei lieber still, sag mal gar nicht so viel. Und so war es da auch. Ich habe da ein bisschen was gesagt, aber noch nicht mal gebetet und kein Vaterunser und gar nichts, einfach nur… Manchmal habe ich das Gefühl, einen Satz sagen und das sacken lassen, und das reicht fast schon. (I Heike Schütz 24. 5. 2012 KT)

Heike Schütz knüpft bei dieser Taufe an die vorgegebene Liturgie an, reduziert sie zugleich auf das Wesentliche und geht kreativ mit ihr um. Dadurch schafft sie ein Ritual, das der Situation angemessen ist. Zwei miteinander verbundene Aspekte kommen in dieser Passage klar zum Vorschein. Rituale wie die Taufe bekunden erstens, dass das Kind in seinem Personsein anerkannt wird. Dies wird noch durch die Taufurkunde betont, durch die das Leben des Kindes im wahrsten Sinne des Wortes in das Leben seiner Eltern eingeschrieben und dadurch identifizierbar wird. Zweitens bestätigen solche Rituale die Veränderungen im sozialen Beziehungsgefüge. In diesem Falle heben sie den Übergang des Paares in die Elternschaft hervor. Vergleichbares lässt sich anhand eines auf die Seelsorgerin Miriam Vogt zurückgehenden Beispiels diskutieren. Sie hat Materialien zur Verfügung gestellt, die bei einer Bestattung von Föten, die entweder tot geboren oder in Folge eines induzierten Aborts gestorben sind, verwendet wurden. In verschiedenen Abschnitten des Rituals geht sie auf die Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern ein und hebt damit hervor, dass diese Frauen und Männer sich auch als Eltern verstehen dürfen. Während der Ansprache sagt sie: Auch Ihre Kinder waren für manche nicht sichtbar und waren dennoch da, jedes einzelne. Sie alle sind heute hier, weil Sie um ein oder gar um mehrere Kinder trauern. Um

Ordnung sozialer Beziehungen und sozialer Rollen im Ritual

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Kinder, die manchmal kaum zu sehen waren, nur ein Bild vom Ultraschall, während andere zumindest die Chance hatten, ihr Kind anzusehen, zu begrüßen, um es dann gleichzeitig wieder zu verabschieden. Für Außenstehende ist das oft kaum fassbar, weil sie es nicht sehen konnten. Deshalb ist es ein wichtiger Schritt, dass dieses Kind seinen Platz bei Ihnen und in Ihnen haben darf, auch wenn es sich schon wieder verabschiedet hat. Es gehört dennoch zu Ihrer Familie, zu Ihrem Leben dazu, wenn auch ganz anders, als Sie es sich vorgestellt und erhofft hatten. (M Miriam Vogt 5. 12. 2012 M)

Die Seelsorgerin fasst in Worte, dass die verstorbenen Kinder Teil der Familie und Teil des Lebens der Beteiligten sind. Dadurch würdigt sie die Anwesenden in ihrer Elternschaft. Diese Bestätigung des sozialen Status als Eltern, Geschwister und Großeltern erteilt sie allen Anwesenden gleichermaßen. Damit ordnet das Ritual das Beziehungsgefüge neu. Die Seelsorgerin ist sich bewusst, dass sich die Besucher aus unterschiedlichen Gründen von ihrem Kind verabschieden. Sie sagt: Liebe Eltern, liebe Geschwister, liebe Großeltern und Freunde, viele Fragen tun sich auf, wenn sich ein Kind verabschiedet, und auch, wenn Menschen sich bewusst entscheiden, sich von einem Kind zu verabschieden, weil sie sich nicht zutrauen, mit dieser Situation im Alltag zu leben. Fragen nach dem Warum, warum so, manchmal auch Fragen nach der eigenen Verantwortung, nach den eigenen Grenzen. Und zu diesen Fragen gehören viele unterschiedliche Empfindungen: Gefühle wie Schmerz und Trauer, Wut und Zorn, bei manchen gehört auch das Gefühl von Schuld und Versagen dazu. Oder das Gefühl von Leere, von verlorengegangenen Hoffnungen, Enttäuschung, manchmal auch von Alleingelassensein. (M Miriam Vogt 5. 12. 2012 M)

Mit den unterschiedlichen Todesursachen der Kinder sind verschiedene Gefühle der Eltern verknüpft. Besonders das Gefühl der Schuld markiert bei denjenigen, die ihr Kind aufgrund ihrer Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch zu Grabe tragen, die ethische Komponente der Entscheidung. Zugleich zeigt sich jedoch, dass dem Gefühl der Schuld wiederum symbolisch etwas anderes entgegengesetzt werden kann, da die Seelsorgerin allen am Ende ihrer Ansprache Trost in Aussicht stellt. Damit begrenzt das Ritual symbolisch die Schuld. In der Nottaufe und der Beerdigung sprechen die Seelsorgerinnen diesen Kindern den Status einer Person zu. Genauso bedeutend ist auch, dass sie den Eltern dieser Kinder den Status der Elternschaft zusprechen. Diese Eltern treten damit aus dem liminalen Zustand, in dem sie sich während der Schwangerschaft und dem Tod ihres Kindes befunden haben, heraus. Das Ritual kommuniziert damit die Neuordnung der sozialen Beziehungen.

258 V.

Die ethische Funktion von Ritualen

Exkurs: Räume als Ressource für das Ritual

Seelsorgende feiern im Krankenhaus eine Vielzahl an Ritualen. Um diese durchführen zu können, benötigen sie Ressourcen, zu denen konkrete Räume zählen. Die Seelsorgerin Sophie Lang erzählt, wie in ihrem Krankenhaus die Patientenzimmer in Sterbezimmer verwandelt werden. Dadurch wird eine Grenze zwischen dem Alltag im Krankenhaus und dem rituellen Vollzug in demselben Raum markiert: Und der Gedanke war, dass man ursprünglich gesagt hat, jeder Patient, der bei uns stirbt, hat erst einmal während des Sterbeprozesses ein eigenes Zimmer. Also wir schieben niemanden raus, sondern wir schieben den, der nicht stirbt, heraus. Um den Sterbenden nicht auch noch zu verunsichern und zu sagen, „Du darfst da sein“. Und da auch den Abschied zu feiern. Da auf der Station sind die Schwestern so vorbereitet, dass wir auch dann da im Zimmer einen Abschied feiern können mit dem Patienten, mit den Angehörigen. Das kommt sehr oft vor, also dass man das auf der Station nutzt. Dass man sagt, wir schließen jetzt mal das Zimmer und dann richten wir es, verdunkeln wir es leicht, öffnen die Fenster. Und stellen, was man eigentlich sonst nicht darf, ein Kerze hin, wenn wir einen Blick drauf haben während der Feierlichkeit. Ein Kreuz und ein Blümchen stehen oftmals da. Dass wir einfach diesen Tisch, diese Umgebung des Verstorbenen richten und gestalten. Und wir laden die Angehörige dazu ein, wer sich einladen lässt. (I Sophie Lang 19. 7. 2012 T)

Die Klinikseelsorgerin setzt diesen Abschied vom Alltag durch verschiedene Handlungen wie das Verdunkeln des Zimmers und das Öffnen des Fensters sowie unterschiedliche Symbole wie Kerze oder Kreuz ab. In diesem Krankenhaus wird der Sterbende noch einmal dadurch gewürdigt, dass ihm beim Sterben ein eigener Raum gelassen wird. Anhand von Sophie Langs Aussage kann zudem veranschaulicht werden, dass Seelsorger bei der Durchführung von Ritualen manchmal einem Druck zur Legimitation unterliegen. Denn es besteht ein potenzieller Konflikt zwischen den Trauernden, die Zeit und Raum für diesen Prozess benötigen, und den ökonomischen Anforderungen seitens des Krankenhauses, diese Zimmer wieder mit Patienten zu belegen. Zugleich wird durch die Inanspruchnahme des Patientenzimmers eine rituelle Grenze zwischen dem Klinikalltag und dem Sterben des Patienten gezogen. Wenn die Spannung zwischen den Ritualen und der Organisationsethik und -logik des Krankenhauses zunimmt, müssen andere Lösungen gefunden werden. Sophie Lang beschreibt, dass es mittlerweile ein Aussegnungszimmer im Krankenhaus gibt. Hier beanspruchen die Seelsorgenden zwar einerseits erneut Ressourcen, andererseits kann die Ressource des Patientenzimmers wieder genutzt werden. Damit verläuft die Grenze zwischen Klinikalltag und Abschied entlang einer anderen Linie als in dem vorher genannten Beispiel:

Fazit: Rituale sind Orte symbolischer Kommunikation über Ethik

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Und dann haben wir jetzt vom Klinikablauf das Ritual, dass wir sagen: In Ordnung, wenn es über vier, fünf Stunden geht, bis wir die Angehörigen haben, dann bringen wir den Verstorbenen in das Aussegnungszimmer und da kann man Abschied feiern. Dann kann auf den Stationen schon alles Normale laufen. Es kommt alles in den normalen Rhythmus wieder zurück. Und dann können wir uns da speziell alle Zeit der Welt lassen. ( I Sophie Lang 19. 7. 2012 T)

Wie bereits erwähnt, deutet das Zitat auf die Spannung zwischen den Bedürfnissen der Trauernden und den Ansprüchen des Klinikalltags hin. Diese manifestieren sich in den unterschiedlichen Zeitökonomien.

VI.

Fazit: Rituale sind Orte symbolischer Kommunikation über Ethik

In ethischen Situationen im Krankenhaus stehen Werte und Normen, Identitäten und soziale Rollen auf dem Spiel. Patienten, Angehörige und das medizinische Personal werden auf ihre Entscheidungen und Handlungen befragt. Es entsteht ein Gefühl der Unordnung und Unsicherheit. In einer solchen Situation eine Entscheidung zu treffen, kommt einer Grenzziehung gleich. Diese Grenzziehung nehmen Rituale symbolisch vorweg oder vollziehen diese nach. In ethischen Situationen, in denen die Entscheidung bereits gefällt wurde, stehen häufig Fragen nach der Schuld oder Schuldgefühlen wie auch nach dem angemessenen und gerechten Umgang miteinander im Vordergrund. Dies greifen die Seelsorgenden im Ritual auf und zeichnen einen Weg vor, den die Teilnehmenden potenziell beschreiten können. Sie rekurrieren hierbei auf symbolische, durch das Christentum geprägte Ordnungssysteme, wobei eine Passung zwischen der individuellen Situation und den vorgeprägten Motiven wichtig ist. Nachweisen lässt sich dies unter anderem an dem Segen des Vergebungsrituals. Dieser Segen ist Teil einer bestehenden Liturgie und beruht auf vorgeprägten Formulierungen. Zugleich können die einzelnen Worte in dieser Situation für die Ritualteilnehmer eine spezifische Bedeutung annehmen. Die Rituale sind selbst noch nicht die neue Wirklichkeit. Sie antizipieren sie vielmehr und erschließen neue Wege zu ihr. Wichtig ist, dass die Seelsorgenden und die Ritualteilnehmer in der Bewertung der ethischen Situation nicht übereinstimmen müssen, wenn sie gemeinsam ein Ritual feiern. Dies liegt einerseits im Ritual selbst begründet, das einen kommunikativen Raum eröffnet oder auch einen Rahmen darstellt, in dem unterschiedliche Meinungen, Bewertungen und Deutungen nebeneinander Bestand haben können. Andererseits liegt dies auch an der Fähigkeit der Seelsorgenden, Ambivalenzen nicht auflösen zu müssen, sondern aushalten zu können. Wie die vorangegangenen Kapitel zeigen, ist dies eine wichtige Fähigkeit Seelsorgender.

260

Die ethische Funktion von Ritualen

In anderen ethischen Situationen wie der Nottaufe von Säuglingen oder der Beerdigung von Föten ist die Funktion von Ritualen, Eindeutigkeit herzustellen, wichtig. Sie vereindeutigen den sozialen Status einer Person oder tragen dazu bei, dass die Situation eindeutig wird, da eine Entscheidung getroffen wird. Dies kann bestätigend und bestärkend funktionieren, wie der Gedenkmoment während der Teamsitzung, aber auch die bezeugende Funktion der Seelsorgerin für den Arzt veranschaulichen. Jedoch birgt dieses Eindeutigkeitsmoment von Ritualen eine potenzielle Spannung in sich, die die Patienten, die Angehörigen, das medizinische Personal, aber auch die Seelsorgerinnen spüren. Nicht zuletzt, weil die Akteure den Eindruck haben, dass Rituale Entscheidungen „absegnen“ können, müssen Seelsorgende Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit solch spannungsreichen Momenten entwickeln. An den Beispielen lässt sich nachweisen, dass es ein breites Spektrum an Ritualformen gibt, die die Seelsorgenden jeweils auf die Situation bezogen einsetzen können. Bei den meisten Ritualen handelt es sich um Elemente christlicher Lebenspraxis, die ihren Ursprung im Gottesdienst haben. Die hohe Akzeptanz, die die Betroffenen gegenüber den Ritualen zeigen, dürfte zumeist darauf zurückzuführen sein, dass sie ihnen aus ihrem persönlichen Leben bekannt oder auch durch Erinnerungen an Gottesdienste vertraut sind. Die religiöse Sozialisation der Betroffenen, ihre Erinnerung daran oder gegebenenfalls ihre innere Bereitschaft, sich auch auf ein unbekanntes Ritual einzulassen, tragen entscheidend dazu bei, dass Rituale ihre Funktion erfüllen können. Doch das Ritual funktioniert nicht unabhängig von dem, der es verantwortet und durchführt. Die Autorität der Seelsorgenden als Ritualexperten spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie bringen Traditionen ein, die ihnen selbst vertraut sind und die sich bewährt haben. In dramatischen Situationen ethischer Entscheidungen bringen die Seelsorgenden Elemente der gottesdienstlichen Dramaturgie ein. Die liturgische Gestaltung eines Gottesdienstes bildet mit dem Bekenntnis von Schuld, dem Zuspruch der Vergebung, Worten der Lebensorientierung und der Ermutigung durch den Segen für die nächsten Schritte ins Leben in komprimierter Weise wesentliche Lebenserfahrungen ab. Durch das Vertrauen, dass sich die Seelsorgenden bei den Betroffenen erworben haben, und durch ihre Kompetenz als Ritualexperten finden ihre Ritualangebote Zuspruch und Akzeptanz, auch wenn bei den Betroffenen der Zugang zu religiösen Erfahrungen unterschiedlich intensiv ausgeprägt ist. Als Ritualexperten treffen die Seelsorgenden keine Entscheidungen, öffnen aber Räume dazu, deuten Situationen, geben Entscheidungshilfen und stärken die Kommunikation unter den verschiedenen Akteuren. Als Fazit lässt sich ziehen, dass die Seelsorgenden in diesen Ritualen seelsorgliche sowie ethische Fähigkeiten und Fertigkeiten aktualisieren, die in den vorangegangenen Kapiteln diskutiert wurden. Diese theologisch grundierte Ethik von Seelsorgenden wird im folgenden Kapitel vertieft.

4.

Perspektiven einer Ethik der Seelsorge

4.1

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

I. Zur Frage der Zuordnung von Seelsorge und Ethik II. Materiale Themen a) Ethik über Entscheidung hinaus b) Die Belange des Einzelnen c) Institutionen und Organisationen d) Verstehen und Inszenieren III. Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik a) Leistung und Grenzen von Theologie b) Moral und Moralbegrenzung IV. Fazit: In der Seelsorge begegnen sich moralische Subjekte auf transmoralischem Grund

Die in den Teilen 2 und 3 dargestellten empirischen Ergebnisse haben ein differenziertes Bild des Umgangs von Seelsorgenden mit ethischen Situationen gezeichnet. Auch wenn diese Ergebnisse nicht repräsentativ sind, so lässt sich aus ihnen doch schließen, dass die seelsorgliche Praxis auf dem Feld der Ethik mindestens so differenziert ist wie innerhalb des Samples der von uns interviewten und begleiteten Seelsorgenden. Nun sagt die Vorfindlichkeit einer Praxis noch nichts darüber aus, ob diese als gut, angemessen oder richtig zu beurteilen ist. Ein solches Urteil ist jedoch spätestens dann notwendig, wenn Ausbildungsmodule gestaltet, also bestimmte Lernziele formuliert werden sollen. Im Folgenden gilt es also, die empirischen Ergebnisse unter wertenden bzw. normativen Gesichtspunkten zu betrachten, um die normativen Grundlagen offenzulegen, die in die Formulierung der Ausbildungsziele eingehen. Die normativen Grundlagen können nur im Kontext einer theologischen Reflexion seelsorglicher Praxis des Umgangs mit ethischen Situationen entwickelt werden. Dazu sind Einsichten zusammenzufassen, die in der Enzyklopädie der theologischen Unterdisziplinen einerseits auf die praktische Theologie

262

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

(Seelsorgelehre), andererseits auf die systematische Theologie (theologische Ethik) verteilt sind. Es gilt also, sich auf zwei Theoriediskurse zu beziehen, die trotz der in Deutschland seit etwa zwei Jahrzehnten währenden Bemühung um eine konstruktive Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik1 weithin divergent sind. Beide zeichnen sich zudem jeweils durch eine starke innere Heterogenität der Zugänge, Kategorien und Methoden aus. Um die Komplexität dieses heterogenen theoretischen Feldes zu reduzieren, läge es nahe, von einer definitorischen Setzung dessen, was Seelsorge sei, und dessen, was Ethik sei, auszugehen.2 So ließe sich in übersichtlicher Deduktion ein Raster schaffen, in das die hier gewonnenen Ergebnisse eingeordnet und in dem sie evaluiert werden könnten. Ein solches Verfahren verbände theoretische Übersichtlichkeit mit normativer Sicherheit.3 Gleichwohl würde dies der beobachteten Vielspältigkeit seelsorglicher Praxis kaum gerecht werden; es bliebe zudem den von den Seelsorgenden selbst explizit oder implizit vertretenen Seelsorgekonzepten äußerlich und könnte diese nur von einem mehr oder weniger zufällig gewählten, gleichsam pseudo-archimedischen Punkt annehmen oder verwerfen.4 Daher soll im Folgenden ein anderer Zugang gewählt werden. Die Prämisse ist, dass Seelsorgelehren (für Konzepte der theologischen Ethik gilt Vergleichbares) zwar weithin ein empirisches Defizit haben,5 aber nichtsdestotrotz auf Erfahrungen mit Seelsorge aufbauen. Bei aller auf das Gesamt der Seelsorge ausgreifenden Systematisierung dürften den Autorinnen und Autoren paradigmatische Seelsorgeerfahrungen vor Augen gestanden haben. Wenn dem so ist, dann kann die Vielfalt der Theorieansätze als Reflexion auf die Vielfalt der seelsorglichen Praxis gelesen werden, und die Theoriekonflikte als Hinweis auf innere Spannungen in der seelsorglichen Praxis. Es wird also darum gehen, die im vorgestellten Material sichtbaren Spannungen auf die Antagonismen und Bruchlinien des theoretischen Feldes fruchtbar zu beziehen. Dabei wird ein hermeneutischer Zirkel durchschritten, der auf der einen Seite vom Material aus die Theorien sichtet und auf der anderen Seite von den theoretischen Zugängen aus die Praxis kritisch befragt. Aus diesem Zirkel entsteht keine Seelsorgelehre aus einem Guss. Angezielt ist vielmehr, Plausibilitäten mittlerer Stufe aus der Konfrontation der Praxisanalyse mit den Seelsorgelehren zu gewinnen, um so eine reflexive Distanz zu erzeugen, die dann ihrerseits für die Seelsorgelehre insgesamt wie auch für die Formulierung von Ausbildungszielen fruchtbar ist. An die Stelle der Normie1 Vgl. die Beiträge in Pastoraltheologie 80 (1991), Heft 1; für die spätere Debatte siehe die in diesem Kapitel genannte Literatur. 2 Vgl. Herms, Struktur; Fischer, Dimensionen. 3 Dieses Bedürfnis haben auch einige Seelsorgende in den Interviews geäußert. 4 Zu verschiedenen Verhältnisbestimmungen von Seelsorge und Ethik und deren Abhängigkeit von theologischen Prämissen vgl. Sturm, Gottes Namen, 27–44. 5 Vgl. Steck, Theologie, 603.

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

263

rungssicherheit eines deduktiven Zugangs tritt damit der Aufweis möglicher, aber empirisch unterfütterter Aspekte und Perspektiven normativer Reflexion der Seelsorgepraxis. Es geht also um Orientierungsmarken mit reflexiver Distanz zur eigenen Praxis, die in der Suche nach einer glaubwürdigen seelsorgerlichen Berufsidentität hilfreich sein können, obwohl oder gerade weil sie sich nicht in eine einzige Deduktionspyramide einordnen lassen, sondern so heterogen und teilweise eklektisch sind wie der Theologiegebrauch der Seelsorgenden selbst.6 Dieses Verfahren schließt mithin an die Reflexionsgänge der Seelsorgenden in den Interviews an, die ihre Praxis in dem Kontext verschiedener, durchaus nicht immer kohärenter Berufstheorien setzen.7 Im Folgenden wird zunächst die Frage nach der Zuordnung von Ethik und Seelsorge insgesamt gestellt (I.). Vor dem Hintergrund der hier bestehenden Differenzen in der theologischen Literatur werden die verschiedenen materialen Themen, die sich aus dem Umgang der Seelsorgenden mit ethischen Situationen haben erheben lassen, in theologischer Perspektive diskutiert (II.). Daraus ergeben sich eine Reihe von Grundfragen des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik, in deren Kontext dann auch die anfänglich aufgeworfene Zuordnungsfrage differenzierter beantwortet werden kann (III.). Hinsichtlich der beiden involvierten theologischen Teildisziplinen sei noch angemerkt, dass sich theologische Ethik und Seelsorgelehre durch stark divergierende Fachkulturen auszeichen, die sich bis in die Sprache hinein verfolgen lassen. Unterschiedliche Referenzautoren, Grundkategorien und Beschreibungsformen von Wirklichkeit führen zu jeweils anderen Zugängen zum Thema. Auch wenn durch Verzicht auf eine autoritative Rahmentheorie nicht entschieden werden muss, ob nun eine Poimenik des Ethischen oder eine theologische Ethik der Seelsorge zu entfalten ist, so sei doch eine Tendenz verdeutlicht: Im Folgenden werden vor allem verschiedene Seelsorgeansätze zu Grunde gelegt, da diese den Beruf des Seelsorgers und der Seelsorgerin insgesamt reflektieren. Wo immer es nötig ist, werden Aspekte aus beiden Fächern einbezogen und zueinander ins Verhältnis gesetzt.

6 Damit ist nicht eine pluralistische Metatheorie der Seelsorge selbst gemeint, wie sie SchneiderHarpprecht, Lebensgestaltung, 8, diskutiert, dann aber zu Recht verwirft. Die hier wahrgenommene Theorievielfalt soll nicht in einem normativen Pluralismus zusammengegossen werden. Das Theorieprogramm ist viel bescheidener; es geht letztlich um die Beziehbarkeit einer als spannungsvoll wahrgenommenen Wirklichkeit auf verschiedene Theoriekonzepte. 7 Vgl. dazu die vielschichtigen berufstheoretischen Konzepte vom Seelsorger Philipp Vogt, dem „Befreiungstheologen“ und „unter die Räuber Gefallenen“ in Kapitel 3.6.

264 I.

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

Zur Frage der Zuordnung von Seelsorge und Ethik

Inwiefern die Ethik zur Seelsorge gehöre, ist in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder Gegenstand von Einzelbeiträgen oder auch Zeitschriften-Sonderheften gewesen.8 Auch in neueren Lehrbüchern zur Seelsorge hat das Thema Eingang gefunden.9 Dies ist jedoch nicht durchweg der Fall.10 Das Thema Ethik in der Seelsorge hat also noch keinen gänzlich gefestigten Stand in der Literatur. Für die deutsche Diskussion lässt sich seit Ende der 1980er Jahre eine zunehmende Aufmerksamkeit für das Thema Ethik in der Seelsorge feststellen. Bis in diese Zeit stehen sich eine verkündigungsorientierte Seelsorge, die vor allem mit dem Namen Eduard Thurneysens verbunden ist, auf der einen Seite und die jüngere, aus der US-amerikanischen Seelsorgebewegung hervorgegangene, in Deutschland prominent mit dem Namen Joachim Scharfenbergs verbundene pastoralpsychologische Seelsorge gegenüber.11 Die „Entdeckung“ der Ethik für die Seelsorge ist unmittelbar mit der Kritik an einer als dominant empfundenen pastoralpsychologischen Seelsorge verbunden.12 Gegenüber einem Paradigma eines Seelsorgegesprächs, das sich nicht nur jeglichen moralischen Urteils enthält, sondern ethische Konflikte darüber hinaus auf den Normdruck unverarbeiteter Autoritätsprobleme zurückführt, wird nun die eigenständige Bedeutung ethischer Fragestellungen reklamiert.13 Damit ist auch eine veränderte moralische Zeitdiagnose verbunden. Der Einzelne stehe in der Gegenwart nicht mehr nur vor der Aufgabe, sich aus den Fängen heteronomer Traditionsmoralen zu emanzipieren; vielmehr seien eine „Orientierungskrise“, ein „Wertewandel“ und ein „Wertepluralismus“14 festzustellen, in dem die positive Suche nach dem moralisch Richtigen zur Aufgabe der Lebensführung in der Gegenwart geworden sei. Bei allem Wissen um die Ambivalenz des Moralischen müsse sich also die

8 Vgl. die Beiträge in den Sonderheften Pastoraltheologie 80 (1991); Wege zum Menschen 58 (2006); Körtner Ethik im Krankenhaus; Ziemer, Orientierung; Haker et al., Perspektiven, sowie die weitere in diesem Kapitel genannte Literatur. 9 Vgl. etwa Nauer, Seelsorge; Klessmann, Begleitung; Engemann, Seelsorge. 10 So fehlt das Thema etwa bei Morgenthaler, Seelsorge, nahezu ganz. 11 Vgl. insbesondere Scharfenberg, Gespräch. Einen Überblick über die Seelsorgekonzeptionen gibt Nauer, Seelsorge. 12 Vgl. die Beiträge in Pastoraltheologie 80 (1991). 13 In diesem Gegenüber zur Pastoralpsychologie liegt eine theologiepolitische Zuspitzung, die Züge eines Klischees trägt. Das Entmoralisierungsinteresse etwa bei Joachim Scharfenberg verdankt sich einer Bewegung der Entdogmatisierung und Abkehr von vorformulierten Überzeugungsgehalten, die es in der Seelsorge vermeintlich zu transportieren gälte (dazu vgl. Steinmeier, Kunst, 21). Dass damit keine Abstinenz von der Ethik verbunden sein muss, zeigen etwa Scharfenbergs Ausführungen zur Selbstprüfung des Seelsorgers (vgl. Gespräch, 83). 14 Ziemer, Orientierung, 389.

Zur Frage der Zuordnung von Seelsorge und Ethik

265

Seelsorge der „ethischen Aufgabe“15 stellen und die ethische, moralische oder sittliche Kompetenz des Einzelnen stärken. Neben dieser – mit einer spezifischen Diagnose von Modernität bzw. „Postmodernität“ verbundenen – Wiederentdeckung der Ethik in ihrer nicht in Psychologie auflösbaren Eigenlogik ist es ein wahrgenommener „Ethikbedarf“16 im Feld des Krankenhauses, der zu einer Wiederentdeckung des Ethischen in der Seelsorgelehre führt. Ethische Fragen, unter anderem zu Therapieentscheidungen am Lebensende, die Einrichtung von Ethikkomitees in Krankenhäusern und die Implementierung von Ethikprozessen in Qualitätsmanagementsystemen konfrontieren Seelsorgende mit dem Thema Ethik und lassen den Ruf nach einer Entwicklung „ethischer Kompetenz“17 lauter werden. Dabei wird die Hinwendung zum Thema Ethik von Anfang an als Wiederentdeckung verstanden. Michael Klessmann sieht einen Traditionsstrang, der von der sokratischen Gesprächsführung über die Wüstenväter und das Seelsorgeverständnis der Aufklärung verläuft;18 über die Frage nach spezifisch christlichen Beständen moralischer Überzeugung und ethischer Reflexion sah man sich darüber hinaus auch wieder auf die kerygmatische Seelsorge gewiesen.19 Hinsichtlich der Zuordnung der Ethik zur Seelsorge lassen sich mit grobem Strich zwei grundsätzlich unterschiedene Bestimmungen finden. Auf der einen Seite steht die parataktische Zuordnung: Hier erscheint Ethik als eine eigene „Dimension“ der Seelsorge neben den religiösen, therapeutischen, kommunikativen oder anderen Dimensionen. Die Wiederentdeckung des Ethischen löst also das Gegenüber verkündigungsorientierter und beratungsorientierter Seelsorge dahingehend auf, dass nun plurale „Dimensionen“ oder „Bausteine“ der Seelsorge nebeneinander stehen.20 „Ethik“ erscheint als Drittes neben den Antagonisten „Religion“ und „Therapie“. Auf der anderen Seite steht der Versuch etwa von Eilert Herms, durch den Aufweis der „ethischen Struktur“ von Seelsorge die Ethik als Rahmentheorie für die Seelsorge zu etablieren: die hypotaktische Zuordnung. Seelsorge, so Herms, ziele im Ganzen auf die Stärkung der ethischen Urteilsfähigkeit des Einzelnen. Sie sei daher in toto in ethischen Kategorien zu begreifen. Mit der Grundaussage theologischer Anthropologie, den Menschen als „Vollzug endlicher Freiheit in der Praxissituation endlicher Freiheit“21 zu be15 16 17 18 19

A.a.O., 391. Roser, Klinikseelsorge. Siehe dazu Kapitel 4.2. Klessmann, Begleitung, 108ff. Es kann hier nur festgestellt werden, dass in den USA der Weg anders verlief. Eine wesentliche Figur ist hier Browning, context. Vgl. dazu Brandhorst, Seelsorge, 84–87; siehe auch O’Brien, Ethikausbildung. 20 Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 119; Klessmann, Begleitung, 108ff; Kunz/Neugebauer, Seelsorge, 251; Wintzer, Vergewisserung, 18ff. 21 Herms, Struktur, 52.

266

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

greifen, ist ein gemeinsamer Horizont von Seelsorge und Ethik gegeben, der Spannungen zwischen beiden schon auf der Theorieebene ausschließt.22 Beide Zuordnungen haben ihre Chance, aber auch ihre Probleme. Die parataktische Zuordnung dürfte zum einen die Berufsrealität von Seelsorgenden gut wiedergeben, die sich mit heterogenen Anforderungen konfrontiert sehen. Zum anderen erlaubt sie es, die bisherigen Seelsorgeparadigmen von Verkündigung, Therapie oder Diakonie als „Totalisierungen“23 zu erkennen, die nur begrenzte Erschließungskraft haben und sich notwendig ergänzen. Unklar bleibt jedoch die Zuordnung der verschiedenen „Dimensionen“. Dies in doppelter Hinsicht: Formal ist zu fragen, ob es sich dabei um unterschiedliche, verschiedenen Situationen zuzuordnende Elemente der Seelsorgepraxis oder aber um nur analytisch unterscheidbare Aspekte derselben Seelsorgesituationen handelt. Damit verbunden ist die inhaltliche Frage, ob es Graubereiche und/oder Spannungen zwischen der Ethik und anderen „Dimensionen“ der Seelsorge gibt, und wie mit diesen umzugehen sei. Der Ansatz von Eilert Herms hat umgekehrt die Stärke, gerade ethische Implikationen allen seelsorglichen Handelns verstehbar zu machen. Er bietet zudem einen guten Anschluss an das in dieser Studie aufgewiesene weite Ethikverständnis der Seelsorgenden. Gleichzeitig, anschließend an eben dieses Ethikverständnis, übersieht dieser Ansatz aber, dass nicht alles „Ethik“ ist. Die praktische Differenzierung fehlt; das gilt schon für Fragen der Lebensführung, umso mehr aber für die Konfrontation von Seelsorgenden mit einer professionalisierten Medizinethik. Zudem löst die begriffliche Harmonisierung mitnichten die von Seelsorgenden in der Praxis namhaft gemachten Spannungen von Ethik und Seelsorge auf.24 Die beiden Grundtypen der Zuordnung können gemäß der eingangs entfalteten Theoriehermeneutik selbst als Aufweis einer Spannung in der seelsorglichen Praxis gelesen werden: der Spannung zwischen einer sich zunehmend ausdifferenzierenden, pluriformer werdenden Praxis auf der einen Seite und dem Vorliegen eines – oder auch nur der Suche nach einem – einheitlichen seelsorglichen Berufsethos sowie der Wahrnehmung, dass das Ethische eben nicht unverbunden neben anderen seelsorgerlichen Tätigkeitsfeldern zu stehen kommt. Müssen die beiden Extreme in dieser Theoriespannung, also die klar hypotaktische wie die klar parataktische Konstruktion, als theoretisch ungenügend gelten, so fällt die Aufmerksamkeit auf differenziertere, zwischen den beiden Grundtypen liegende Beobachtungen und Theorieansätze.25 So fragt 22 Vgl. a. a. O., 61. 23 Hauschild, Alltagsseelsorge, 380. 24 Zur Kritik an Herms vgl. auch Klessmann, Begleitung; Fischer, Dimensionen, 208, 221. In der Kritik einer Subsumtion der Seelsorge unter die Ethik manifestiert sich dabei auch der Unterschied zwischen den einzelnen theologischen Fachkulturen. 25 Die gleiche Kritik wie am Ansatz von Herms trifft den entgegengesetzten Vorschlag von

Materiale Themen

267

Christoph Schneider-Harpprecht, was Ethik von Seelsorge lernen könne, konzipiert also Ethik mindestens teilweise in Verlängerung seelsorglicher Formen der Wahrnehmung und des Handelns.26 Johannes Fischer weist auf das Berufsethos von Seelsorgenden hin, das der Differenzierung von eher ethischen und eher seelsorglichen Handlungen vorausliegt.27 Auch Christoph Morgenthaler referiert auf ein einheitliches Berufsethos der Seelsorge, wie es in den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie vertreten sei. Morgenthaler sieht den Kern der berufsethischen Richtlinien darin, dass sich Seelsorgende auf bestimmte Werte verpflichten, wozu beispielsweise das Nichtschadensprinzip gehöre, das die Seelsorge von der ärztlichen Standesethik übernommen habe.28 Auch Michael Herbst plädiert für ein einheitliches Berufsethos, das die Seelsorgenden auf eine „ethische Verbindlichkeit“29 verpflichte. Doris Nauer konzipiert eine „pastoralpsychologisch-ethische Dimension“30 von Seelsorge, bleibt aber nähere Ausführungen zu den Verbindungen der verschiedenen Teilaspekte dieser Dimension schuldig. Je eingehender die Autorinnen und Autoren das Praxisfeld der Klinikseelsorge wahrnehmen, desto ergiebiger werden ihre Beobachtungen zur Zuordnung von Ethik und Seelsorge. Daher erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, die Vogelperspektive der Zuordnungsfrage zu verlassen und sich materialen Einzelaspekten des Umgangs von Seelsorgenden mit Ethik aus theologischer Perspektive zu nähern.

II.

Materiale Themen

a)

Ethik über Entscheidung hinaus

Für das Feld der Klinikseelsorge sind es vor allem zwei Typen von ethischen Situationen, die in der Literatur theologisch in den Blick genommen werden.31 Auf der einen Seite sind dies die seelsorgetypischen Gespräche unter vier oder wenig mehr Augen, auf der anderen Seite der multidisziplinäre ethische Diskurs im Ethikkomitee oder Ethikforum.32 Im ersten Fall sei dem Seelsorger oder der Seelsorgerin die Förderung der „‚sittliche[n] Kompetenz‘“33 aufgegeben; dies

26 27 28 29 30 31 32 33

Brisgen, Authentizität, 93–95, die Poimenik als Referenztheorie ethischer Kommunikation von Seelsorgenden zu verstehen. Vgl. Schneider-Harpprecht, Lebensgestaltung. Vgl. Fischer, Dimensionen, 211ff. Vgl. Morgenthaler, Seelsorge, 376. Herbst, beziehungsweise, 244. Nauer, Seelsorge, 172. Der Terminus „ethische Situation“ begegnet bereits bei Lange, Konfliktsituationen, 68f. Vgl. Ziemer, Orientierung; Roser, Klinikseelsorge. Ziemer, Orientierung, 391.

268

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

nicht im Modus des flinken Ratschlags, sondern eher im Versuch, die Hindernisse einer eigenen ethischen Entscheidung auszuräumen. Traugott Roser macht als Gegenstand der Seelsorge in diesen Situationen vor allem das Ethos der verschiedenen Berufsgruppen in der Klinik namhaft, wie es neben dem Gespräch in direktem Gegenüber auch etwa in der Ausbildung von Pflegenden Gegenstand seelsorglicher Beteiligung ist. Während Vier-Augen-Gespräche auch zu ethischen Themen noch im Rahmen des bisher für Seelsorge Üblichen liegen, unterliegt der ethische Diskurs im multidisziplinären Setting, etwa im Ethikkomitee, anderen Regeln und erfordert eine besondere Kompetenzschulung für Seelsorgende. Diese Zweiteilung der Situationen muss von den vorliegenden Ergebnissen her differenziert werden.34 ‚Klassische‘ Entscheidungssituationen im institutionalisierten Kontext finden ihren Vorlauf und ihre Fortsetzung in Gesprächen zwischen Tür und Angel; Sequenzen informeller Gespräche führen zu Behandlungsentscheidungen; Behandlungsentscheidungen und/oder die damit verbundenen ethischen Fragestellungen können latent bleiben. Auch wenn also die Grundregeln, die gültigen Argumente, die Abläufe und die Sprecherrollen im Ethikkomitee und im informellen Seelsorgegespräch voneinander zu unterscheiden sind, so gibt es zwischen diesen beiden idealtypischen Situationen doch einen breiten Graubereich von Interaktionsformen und Thematisierungsweisen des Ethischen. Interessant sind daher vor allem die in Seelsorgekonzepten angegebenen Gründe dafür, warum Seelsorgende weit über klassische Entscheidungssituationen hinaus35 mit „Ethik“ befasst sind. Nach Dietz Lange ist der Grund hierfür vor allem in der begrenzten Rationalisierbarkeit ethischer Situationen zu suchen.36 Eine ethische Situation ist nur partiell mit den Mitteln einer zur rationalen Entscheidungstechnik ausgestalteten Medizinethik zu bewältigen. Auch wenn also Optionen gegeneinander gestellt, Begründungen abgewogen und Entscheidungen lege artis gefällt und geprüft wurden, muss für die Beteiligten die Situation damit noch nicht „erledigt“ sein. Insbesondere Fragen von Schuld und Vergebung können sich im Nachgang stellen. In poimenischen Standardwerken wird diesen Themen denn auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt.37 Friedrich Wintzer benennt einen weiteren Aspekt: Während Ethik auf Handlungsoptionen fokussiert ist, bleiben die mit ethischen Situationen verbundenen Ohnmachtserfahrungen weithin unthematisch. Auch darin weist eine

34 35 36 37

Siehe dazu Kapitel 2.1. Zu diesen vgl. etwa Körtner, Ethik im Krankenhaus, 120f. Vgl. Lange, Konfliktsituationen, 69. Dabei wird besonders die Unterscheidung von Schuld und Schuldgefühlen deutlich herausgearbeitet, vgl. Morgenthaler, Seelsorge, 107ff, und Herbst, beziehungsweise, 343ff.

Materiale Themen

269

Entscheidungssituation über sich hinaus.38 Schließlich weist Anne Brisgen darauf hin, dass Seelsorgende klinikexterne lebensweltliche Kontexte im Blick haben und schon von daher gegebene Entscheidungssituationen transzendieren.39 Nach Johannes Fischer wiederum hat es eine theologische Ethik nicht mit Moral als dem Inbegriff der expliziten Überzeugungsgehalte, sondern mit Sittlichkeit bzw. Ethos als den habituellen Grundorientierungen situativen Wahrnehmens und Handelns zu tun. So gebe es ein geistliches Ethos der Seelsorge, das über Kommunizierbares hinausgeht, das auch nicht explizit kommuniziert werden muss, sondern sich in verschiedenen Formen der Interaktion transportieren kann und zudem nicht auf das individuelle Ethos der Seelsorgenden beschränkt ist. Auch wenn dieser Ansatz für die medizinische Ethik als kommunikative Praxis nicht sehr anschlussfähig ist,40 so ist ihm doch für unsere Zwecke ein wichtiger Hinweis zu entnehmen: Ethisch relevant sind nicht nur die propositionalen Gehalte moralischer Überzeugungen; ethisch relevant sind ebenso Grundorientierungen, die tief in die Praxis bzw. in den Habitus verschiedener Berufsgruppen eingelassen sind. So müssen Seelsorgende etwa die Auffassung vom unendlichen Wert des menschlichen Lebens nicht ständig verbalisieren; diese kommuniziert sich schon etwa durch ihren Umgang mit totgeborenen Säuglingen oder durch die gottesdienstliche Praxis. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit Zeit relevant. In Teil 3 konnte gezeigt werden, dass das Thema „Zeit“ als Grunddimension der Seelsorge im Umgang mit ethischen Situationen hohe Relevanz besitzt. Das gilt in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ist im Umgang mit normativen Fragen von Entwicklungsprozessen auszugehen, die die punktuelle Logik der Entscheidung übersteigen; zum anderen kommt es unter Beteiligung von Seelsorgenden zur Dynamisierung von Entscheidungsprozessen; weiterhin weisen Seelsorgende an verschiedenen Stellen auf das notwendige Gespür für den richtigen Augenblick hin; und schließlich geht es auch um die berufsethisch relevante Frage, wie mit der knappen Ressource Zeit im Seelsorgeberuf umzugehen ist. „Zeit“ wird insbesondere bei Stefan Gärtner als Thema der Seelsorge entfaltet. Aus grundsätzlichen theologischen Reflexionen über Gottes Herrschaft in der Zeit und über die Zeit folgert er, dass eine „Seelsorge, die an der Zeit ist“,41 sich für das Thema Zeit sensibel zeigen müsse. Insbesondere solle Seelsorge ein Ort der Entschleunigung, der Endlichkeit, der Neustrukturierung der Zeit und der rituellen Antizipation einer anderen Zeit sein. Ob das auch für den seelsorglichen Umgang

38 39 40 41

Vgl. Wintzer, Vergewisserung, 25. Vgl. Brisgen Authentizität, 93–95. Dazu siehe Kapitel 1, III. a. Gärtner, Zeit, 146.

270

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

mit Ethik so allgemein gesagt werden kann, ist fraglich.42 Für den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch zumindest festzuhalten, dass Klinikseelsorgende über ihre Beschäftigung mit Ethik noch einmal stärker an den Zeitpraktiken und Zeitregimen der Klinik beteiligt sind. Ethik in der Klinik steht oftmals unter der Notwendigkeit, in überschaubarer Zeit zu Entscheidungen zu kommen, um eine angemessene weitere Behandlung zu ermöglichen. Es gilt also, dass Seelsorgende sich über ihren eigenen Umgang mit Zeit zwischen Dringlichkeit und Entschleunigung Rechenschaft geben müssen. Es sind also durchweg theologische Kernthemen wie Schuld und Vergebung, Ohnmacht und Passivität, „Geist“ und Zeitlichkeit, die sich auf das in dieser Studie beobachtete erweiterte Ethikverständnis von Seelsorgenden beziehen lassen. Insbesondere eine theologisch reflektierte Care-Ethik bietet Anschlusspunkte dafür, „Ethik“ über die punktuelle Entscheidungssituation hinaus zu denken und zu gestalten.43 Ethik, verstanden als auf die medizinische Praxis bezogene Technik der Entscheidungsfindung, weist, vermittelt über die genannten Themen, von selbst über sich hinaus. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass auch diese „überschüssigen“ Momente von Entscheidungssituationen selbst ethisch relevant sind: So ist etwa die Grenze von Abhängigkeit und Gestaltbarkeit, von Macht und Ohnmacht nicht fest, sondern fluide. Die diskursive Umverlagerung dieser Grenze kann eine ethische Situation erheblich anders zuschneiden und ist insofern ethisch hochgradig relevant. Auch der Umgang mit Schuld und die Zusage der Vergebung dienen nicht nur gleichsam dem psychischen Großreinemachen nach schwierigen Entscheidungen. Die Behauptung von Handlungsfähigkeit, insbesondere in Dilemmasituationen und angesichts starker Abhängigkeitserfahrungen, ist – Stichwort Rechtfertigung – nicht nur ein zentrales Thema theologischer Ethik,44 sondern auch für die Organisationsabläufe des modernen Krankenhauses von unmittelbarer Bedeutung.45

b)

Die Belange des Einzelnen

Dass der einzelne Mensch in seiner unhintergehbaren Würde und Individualität Zentrum und Zielpunkt sowohl ethischer Reflexion als auch aller seelsorglichen Bemühung ist, ist ein cantus firmus protestantischer Theologie. Die Traditionslinien werden hier zurückgezogen bis zu Luther46 und für die liberale Theo42 Es wird bei Gärtner deutlich, dass er aus seinen allgemeinen Überlegungen keine praktischen Konsequenzen zieht. So bleiben auch die Implikationen für die ethischen Aufgaben der Seelsorge unbenannt. 43 Siehe Kapitel 3.3. 44 Vgl. Lange, Konfliktsituationen, 71–73; Körtner, Sozialethik, 98ff. 45 Dazu siehe Kapitel 3.7, II. 46 Kreß, Individualität, 93f; Tanner, Kirche, 33f.

Materiale Themen

271

logie der Gegenwart vor allem bis zu Schleiermacher.47 Die Begriffe des Gewissens, der Persönlichkeit, der Individualität und der Person sind die festen theologischen Ankerpunkte des Nachdenkens über Personalität.48 Dass Menschen unabhängig von ihren Fähigkeiten als Personen zu respektieren sind, macht insbesondere Nicole Frommann in ihrem Seelsorgeansatz deutlich. Sie widmet sich Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma sowie deren Umfeld. Seelsorge für die betroffenen Menschen sei Seelsorge, „die den Ernst der Erkrankungen und der Behinderungen kennt und um die erlittenen Verluste weiß“.49 Konsequent wirkt Frommann einer De-Personalisierung entgegen, indem sie durchgehend von „Menschen im Wachkoma“ spricht und sie als „eine Teilgruppe der Menschen mit schweren Hirnschädigungen“ sieht.50 Besonders in Bezug auf die ethischen Aufgaben macht sie deutlich, dass diese Menschen ins Geschehen inkludiert werden müssen. Möglicherweise wäre es gut, wenn eine ethische Einzelfallberatung im Beisein der betroffenen Menschen stattfinden würde, falls sie dazu körperlich und psychisch in der Lage scheinen. Die Beteiligung der behinderten Menschen an solchen Gesprächen ist sinnvoll, damit nicht über sie entschieden wird, sondern mit ihnen gemeinsam, aber auch stellvertretend für sie nach Möglichkeiten eines guten und sinnvollen Lebens gesucht wird. Im Sinne der UN-Behinderten-Konvention scheint eine Beteiligung schwerstbehinderter Menschen an diesen Diskussionen nicht nur sinnvoll, sondern auch angemessen und rechtsnotwendig.51

Verstärkend gibt sie zu bedenken, dass die Gespräche in jedem Fall „so geführt werden [sollten], als seien die betroffenen Menschen anwesend“.52 Der Gedanke Immanuel Kants, dass der Achtungsanspruch der Person nicht aus empirisch Vorfindlichem erwächst, sondern a priori zu begründen ist, erscheint als moderne, bis in die Rechtsordnung eingegangene Reformulierung der theologischen Einsicht, dass das wahre und volle Menschsein des Menschen erst unter den Augen Gottes sichtbar wird. Theologisch ebenso gut verankert wie die Betonung der Personalität und der damit verbundene Achtungsanspruch ist das Moment der Entzogenheit der Person. Was einen Menschen im Kern ausmacht, ist ihm selbst und anderen nicht zugänglich. Das Individuum bleibt in seiner Identität sich und anderen ein Geheimnis: Für diese, gerne mit Dietrich Bonhoeffers Gedicht „Wer bin ich?“ il47 Tanner, Kirche; Wagner-Rau, Seelsorge. 48 Zum Begriff der Individualität vgl. etwa Körtner, Ethik im Krankenhaus, 129; Kreß, Individualität, 97. 49 Frommann, Verletzte, 11. 50 A.a.O., 12. 51 A.a.O., 265f. 52 A.a.O., 266.

272

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

lustrierte Einsicht53 werden unterschiedliche theologische Denkmittel im Verbund mit human- und sozialwissenschaftlichen Theoriebeständen herangezogen. In seiner praktischen Theologie stützt sich Wilhelm Gräb auf die Subjektivitätstheorie Schleiermachers.54 Joachim Scharfenbergs Referenztheorie ist hingegen die Psychoanalyse Sigmund Freuds, insbesondere sein Begriff vom Unbewussten.55 Besonders prominent im Zusammenhang mit Entzogenheitsmomenten der Person ist die praktische Theologie Henning Luthers und seine Betonung des Fragmentarischen jeglicher Identität.56 Für ihn sind es vor allem die Bruchlinien der Identität, an denen das Individuum religiös valente Freiheitserfahrungen machen kann. Auch Michael Herbst gewinnt diesem Konzept positive Aspekte und Konsequenzen für die Seelsorge ab: Fragmentarische Identität ist […] – weil im extra nos verankert – doch ‚gehalten‘ und unterwegs zur Ganzheit im Reich Gottes. Das hat für die Seelsorge enorm entlastende Konsequenzen: In der Seelsorge kann dazu ermutigt werden, von ganzem Herzen halbe Sache zu machen.57

Seelsorge soll nach Herbst die Menschen darin stärken, „das fragmentarisch Gute zu tun und den Rest der Vollendung zu überlassen“.58 Auch in der intensivsten Seelsorgebeziehung – und der sorgfältigsten ethischen Fallberatung – wird die Person des Patienten nicht vollständig transparent werden.59 Gegen die religiöse Aufladung von Fragmentarität als dem Ort der Freiheit wendet sich wiederum Isolde Karle.60 Sie rekonstruiert die Entzogenheit der Person mit Hilfe der Systemtheorie Niklas Luhmanns: Ein autopoetisches System ist für seine Umwelt niemals ganz durchschaubar.61 Karle ist es auch, die die „moderne“ Zentralstellung des Individuums am pointiertesten anfragt. Die Probleme moderner Subjektivität, die die klassische Seelsorge am Ort des Einzelnen zu bearbeiten versucht, verdanken sich nach Karle der sozialen Konstruktion von „Person“ und „Identität“ und sind damit gerade nicht dem Einzelnen zuzurechnen. Karles Kritik an sozialen Zuschreibungen wie etwa dem Geschlecht kulminiert in der Rede von der „Illusion des mündigen und sein Schicksal selbst bestimmenden Bürgers“.62 Spätestens hier wird der Anschluss ihrer Seelsorgetheorie an die medizinische Ethik problematisch, da diese bei aller 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Zarnow, Identität, 352. Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 69–76. Vgl. Karle, Seelsorge, 219. Luther, Religion. Herbst, beziehungsweise, 214f (Hervorhebungen entfernt). A.a.O., 215. A.a.O., 216. Vgl. Karle, Seelsorge, 225ff, 229. Vgl. a. a. O., 219f. Karle, Seelsorge, 237.

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Einsicht in die Kontrafaktizität und die soziale Bedingtheit personaler Zuschreibungen doch aus guten Gründen am regulativen Ideal individueller Selbstbestimmung festhält. Festzuhalten ist, dass der einzelne Mensch in seiner Individualität und Personenwürde, aber auch in seiner letzten Entzogenheit, Unverfügbarkeit und Unverständlichkeit gemeinsamer Gegenstand von Ethik und Seelsorge ist. Dass Seelsorge es insgesamt mit der Stärkung des Einzelnen in seiner Urteilsfähigkeit und Lebensgewissheit zu tun hat, dass Seelsorge insbesondere in der Klinik die Personalität des Einzelnen angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung der Organisation zur Geltung zu bringen hat und dass sie darin einem fundamentalen ethischen Erfordernis folgt, kann weithin als Konsens gelten. Dabei besteht allenfalls die Gefahr, sich theologisch allzu schnell einer wohlfeilen Kritik an der Medizin als Verobjektivierung und Entpersonalisierung des Einzelnen anzuschließen.63 Dem gegenüber ist mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie festzuhalten, dass zum einen Theologinnen und Theologen nicht die Einzigen sind, die in der Klinik das Personsein des Einzelnen im Blick haben. Gerade im palliativmedizinischen Kontext, aber längst nicht nur dort, sind es auch Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte, die versuchen, den „ganzen Menschen“ wahrzunehmen. Das gilt auch für das Unternehmen medizinischer Ethik: „Ethik“ kann in der Klinik geradezu als Chiffre dafür verstanden werden, der Unhintergehbarkeit des Individuums Rechnung zu tragen.64 Zudem hält auch die naturwissenschaftliche Medizin mit ihren Ultraschallbildern von Ungeborenen oder den individuell angepassten Mundpflege-Sprays für Sterbende eigene Personalisierungspraktiken vor.65 Die „Patientenorientierung“66 ist also kein Alleinstellungsmerkmal der Seelsorgenden; gleichwohl haben sie mit ihren in dieser Studie aufgewiesenen Praktiken der Hervorhebung oder Abschwächung von Personalität einen eigenen, tief in der theologischen Tradition verankerten Umgang damit. Eine besondere Färbung erhält die theologische Aufmerksamkeit auf die Belange des Einzelnen durch den Gewissensbegriff. Er steht im Kern der Wiederentdeckung der Ethik für die Seelsorge.67 Dabei wird er in der Literatur durchaus unterschiedlich verwendet. Für Hartmut Kreß steht er für den – wenngleich auch kritischen – Anschluss an moderne Auffassungen von Individualität und ethischer Autonomie des Einzelnen.68 Damit ist ein weiter Gewissenbegriff angezielt, bei dem die moralische Subjektivität des Einzelnen im 63 64 65 66 67 68

So Klessmann, Krankenhausseelsorge, 17, 249, mit Verweis auf Klaus Dörner und andere. Vgl. Anselm/Schleissing, Ethik, 9. Siehe dazu Kapitel 3.5. Vgl. Scharffenorth/Müller, Patienten-Orientierung. Vgl. Pastoraltheologie 1991, 1. Zum allgemeinen Gewissensbegriff vgl. auch Preul, Luther. Vgl. Kreß, Individualität, 1991.

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Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

Zentrum steht. Auch für Dietz Lange ist das Gewissen „der Ort, an dem der ethische Konflikt als solcher erfahren wird“.69 Geht es in diesem Sinne im Gewissen zunächst vor allem um die Frage nach der Angemessenheit des Handelns, kommt dann jedoch sofort ein religiöser Ton hinzu: „Dennoch ist etwas Wahres in jedem Gewissensspruch enthalten, und das ist seine Unbedingtheit. Sie besagt, daß in jeder einzelnen Tat ‚das Ganze‘ auf dem Spiel steht, nämlich meine Existenz, oder genauer: meine Bestimmung.“70 In dieser Unbedingtheits- bzw. Totalitätsdimension des Gewissens zeigt es sich als Ort des Religiösen im Menschen: „Das Gewissen ist diejenige Ebene im Selbstbewußtsein des Menschen, auf der er auf sein Gottesverhältnis ansprechbar ist.“71 Die theologische Verwendung des Gewissensbegriffs weist also eine Spannweite auf, die von der schlichten moralischen Urteilsinstanz – der Beurteilung einer Handlung als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen, richtig oder falsch – bis hin zum Gewissen als religiös-moralischem Zentrum der Person, in dem diese sich als ganze moralisch herausgefordert und sich darin gleichzeitig vor Gott stehen sieht, reicht. Letztere, auf Martin Luther zurückgehende Konzeption des Gewissens72 kann in unserem Zusammenhang ebenso problematisch wie erschließungskräftig sein. Problematisch ist der Gewissensbegriff dann, wenn mit seiner Hilfe in jede ethische Frage eine existenziell-heroische Schwere hineingelegt wird, in der die Beteiligten sich im Kern ihres Menschseins angefragt und riskiert erfahren. Das dürfte für eine Vielzahl ethischer Situationen im Krankenhaus nicht angemessen sein. Medizinische Ethik als Technik der Konsensfindung bezieht sich oft auf pragmatische Fragen guter Kommunikation zwischen den Disziplinen und Berufsgruppen im Krankenhaus, auf organisationelle Abläufe und situative Abstimmungen; längst nicht immer sind die Beteiligten daher in einer derart umfassenden Weise in Anspruch genommen. Der Gewissensbegriff steht also in der Gefahr einer heroischen Überlastung medizinischer Ethik. Gleichwohl liegt eine Chance des Gewissensbegriffs darin, in den funktionalen Abläufen der Organisation und den formalisierten Prozeduren der Entscheidungsfindung gerade solche Situationen zu identifizieren, bei denen es für Einzelne eben um mehr geht: bei denen personale Integrität auf dem Spiel steht. In diesem Sinne ist der Gewissensbegriff als Code für die Suspendierung der „affektiven Neutralität“ des medizinischen Personals bezeichnet worden.73 In dieser Art und Weise verstehen die Seelsorgenden in der vorliegenden Studie den Gewissensbegriff.74 69 70 71 72 73 74

Lange, Konfliktsituationen, 66; vgl. Klessmann, Begleitung, 304f. Lange, Konfliktsituationen, 67. A.a.O., 70 (im Original kursiv). Vgl. Moos, Sünde. Rohde, Soziologie, 257ff, nach Klessmann, Krankenhausseelsorge, 22. Ulrich Körtner reduziert dagegen den Gewissensbegriff auf solche Konflikte, in denen der

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Ebenso erschließungskräftig sind in diesem Zusammenhang die theologisch präsent gehaltenen Momente der Kritik am Gewissen.75 Dazu gehört die philosophische Gewissenskritik etwa Friedrich Nietzsches, die das Gewissen als Ort der Heteronomie im Einzelnen identifiziert. Dazu gehört auch eine im engeren Sinne theologische Gewissenskritik, die gegen ein solipsistisches Ideal individueller Autonomie argumentiert.76 Die Berufung auf die Gewissensbestimmtheit darf nicht dazu führen, dass der Einzelne sich aus intersubjektiven Verantwortungskontexten zurückzieht – eine Gefahr, der Hartmut Kreß durch ein „relationales“ Gewissensverständnis zu begegnen sucht.77 Insbesondere ist hier das Verhältnis von individueller Gewissensbestimmtheit und den allgemeinen Regeln und Übereinkünften, den Prozeduren und Verfahren des Rechts, aber auch des einzelnen Krankenhauses näher zu bestimmen. Hier ist auf der einen Seite an einem letzten Vorrang des Individuellen festzuhalten.78 Andererseits ist dann gleichzeitig von der notwendigen Selbstbegrenzung des Einzelnen zugunsten allgemeiner Regeln zu sprechen.79 Insgesamt erscheint ein theologisch reicher Gewissensbegriff als ein sinnvolles Instrument, eine gehaltvolle Phänomenologie der individuellen Moralität im organisationalen Kontext zu entfalten. Gerade in der ebenfalls in unserer Studie gezeigten Abständigkeit des Gewissensbegriffs sollte dieser also nicht zugunsten einer unschärferen, weil ubiquitären Rede von „Verantwortung“ suspendiert werden. Dies gilt zumal, insofern der Gewissensbegriff auch die Brücke zur eigenen moralischen Gebundenheit der Seelsorgenden, also zu ihrem individuellen Ethos und Berufsethos schlagen kann.80

c)

Institutionen und Organisationen

Die Entdeckung der Ethik in der Seelsorgelehre ist unmittelbar verbunden mit einer neuen Betonung organisationeller Rahmenbedingungen, die sich gegen ein individualistisch verengtes Seelsorgeverständnis wendet. Dabei kommen unterschiedliche Momente in den Blick. Einen ersten Zugang bildet die – teils mit Mitteln der Befreiungstheologie artikulierte – Frage nach einer Seelsorge „an den Strukturen“. Nicht allein der einzelne Patient oder die Klientin, sondern auch die

75 76 77 78 79 80

Einzelne sich selbst gegenüber steht und grenzt diese gegen von außen herangetragene ethische Forderungen ab (vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 120, 136). Dies erscheint vor dem Hintergrund der Gewissenssemantik der Seelsorgenden in der vorliegenden Studie als eine unnötige Einschränkung. Denn auch die von außen herangetragene ethische Forderung kann dazu führen, dass der Einzelne sich als ganze Person herausgefordert sieht. Vgl. Kreß, Individualität, 91f. Vgl. a. a. O., 92–97. Vgl. a. a. O., 98–100. Vgl. a. a. O., 101–103. Dazu siehe unten, III. b. Vgl. Herms, Struktur, 62; Müller, Ethos, 3ff; Roser, Klinikseelsorge.

276

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

„Strukturen“ insgesamt sind Gegenstand seelsorglichen Handelns. Dies setzt voraus, dass die Seelsorgenden einen Ort jenseits der „Strukturen“ einnehmen können, von dem aus sie diese kritisieren können. Für Michael Klessmann ist dieser Ort der „‚Zwischen-Raum‘“ zwischen Kirche und Klinik, den die Seelsorgenden innehaben. Indem sie in der Klinik keine fest umrissenen Aufgaben haben, sich im Krankenhaus geradezu als „fremd und störend“81 empfinden und zur „strukturellen Bedeutungslosigkeit“82 verurteilt sind, sind sie zwar Außenseiter, haben aber darin gleichzeitig die nötige kritische Distanz zum Klinikbetrieb, die ihnen spezifische Möglichkeiten bietet: Gegenüber einer tendenziell verobjektivierenden Medizin sind sie Anwälte der Personen, gegenüber der Effizienzorientierung schaffen sie Räume der Zweckfreiheit, und gegenüber einer medizinischen Logik, die das Sterben so weit wie möglich hinauszögern will, können sie sich nötigenfalls auch für dessen Annahme einsetzen. In dieser Linie sieht Wolfgang Drechsel es als Aufgabe der Seelsorge, „sich auch der Angst zu stellen, die die Konfrontation mit der menschlicher Endlichkeit immer wieder auslöst“.83 Eine spezifisch christliche Seelsorge könne „sich dem Gegenüber zuwenden, ohne selbst den Mythos vom gelingenden Leben immer wieder neu inszenieren zu müssen“.84 Nun sieht Michael Klessmann selbst die Gefahr eines ‚prophetischen‘ Selbstverständnisses, die mit der Verortung von Seelsorge im „Zwischenraum“ verbunden ist: die Gefahr, die eigene Ohnmacht zu rationalisieren, die Gefahr der Arroganz und Selbstüberschätzung. Dennoch geht es ihm bei der Reflexion auf den Organisationskontext vor allem darum, eine kritisch-widerständige Rolle der Seelsorge zu reklamieren. Dem gegenüber weist Dorothee Haart auf die massiven Veränderungen der Krankenhauslandschaft durch die Reformen seit den 1990er Jahren hin. Durch sie seien den Seelsorgenden erhebliche Möglichkeiten struktureller Gestaltung zugewachsen;85 vielfach verstehe man sie nun eingebunden ins Behandlungsteam oder sogar ins betriebswirtschaftliche Management. Die Nische der strukturellen Bedeutungslosigkeit, die für Klessmann selbstverständlich ist, geht nach dieser Beobachtung verloren.86 Das gilt, so sei hinzugefügt, ebenso für die reklamierte Rolle der Seelsorgenden als Anwälte der 81 82 83 84 85

Klessmann, Krankenhausseelsorge, 16. Ebd. Drechsel, Schatten, 328. Ebd. Dies wird insbesondere an der Institution des Klinischen Ethikkomitees deutlich: Wenn ein Ethikkomitee noch nicht etabliert ist, haben Seelsorgende große Erwartungen an dieses (siehe Kapitel 2.1, IV.); sie sind an dessen Etablierung wie auch an der Schaffung anderer Strukturen beteiligt (siehe Kapitel 3.2, II.); sie sind beteiligt, wenn ethische Probleme zu „Fällen“ für das Ethikkomitee werden (siehe Kapitel 3.1, III.) und sie nehmen im Ethikkomitee verschiedene Rollen ein (siehe Kapitel 2.2, II.). 86 Vgl. Haart, Wirtschaftsunternehmen, 254ff.

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Person oder der Endlichkeit des Lebens – Motive, die nicht erst im Kontext der Palliativmedizin auch Eingang ins ärztliche und pflegerische Selbstverständnis gefunden haben. Die Spannung zwischen dem prophetischen Gegenüber der Seelsorgenden zum Klinikbetrieb bei Klessmann und der organisationellen Einbindung bei Haart entspricht wiederum dem Spektrum seelsorgerlicher Positionen in der Klinik.87 Wichtig ist an dieser Stelle die präzise Wahrnehmung und Gestaltung der eigenen Position, um sich nicht eine kritische Außenposition kontrafaktisch zu erschleichen.88 Ein zweites seelsorgliches Instrument der Wahrnehmung von Organisationen ist das der „systemische[n] Praxis“.89 Gegen eine der pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge zugeschriebene Verengung auf das Individuum und seine intrapsychischen Strukturen90 soll hier zum einen das Individuum in den verschiedenen sozialen Kontexten, in denen es steht, wahrgenommen werden; zum anderen sind diese Kontexte selbst Gegenstand seelsorglicher Intervention und erscheinen damit als potenziell gestaltbar. So bildet auch die Organisation Krankenhaus mit ihrer pluriformen und multifunktionalen Struktur einen Gegenstand seelsorglicher Wahrnehmung und Gestaltung. Dazu gehört insbesondere die Wahrnehmung der Religionskultur im Krankenhaus, in der sich wie in der Gemeinde öffentliche und private Religionskultur überschneiden, in der die Privatwelt und die funktionale Welt des Krankenhauses aufeinander treffen.91 Dazu gehört weiterhin das wichtige Thema der Ökonomie des Krankenhauses, das sich längst nicht nur auf die Gesundheitsökonomie beschränkt. Udo Schlaudraff weist darauf hin, wie sehr das Thema knapper Ressourcen auch die Seelsorge bestimmt: in den Allokationsentscheidungen der einzelnen Seelsorger (gehe ich nun in dieses oder in jenes Zimmer?), der Kirche (wie viele Seelsorgende stellen wir wo zur Verfügung?), der Krankenhausträger und des Staates. Seelsorge selbst ist zu begreifen innerhalb eines Geflechtes verschiedenster kontingenter und damit gestaltbarer Allokationsentscheidungen.92 Dazu gehört schließlich auch die Reflexion der Rolle der Ethik in der Organisation Krankenhaus, wie sie insbesondere Anselm et al. in einem Forschungsprojekt zu Ethikkomitees im Krankenhaus angestellt haben. Wird in der 87 Siehe Kapitel 3.2, III. 88 Eine ähnliche Beobachtung macht Eberhardt Hauschild im Kontext der Alltagsseelsorge: Gegen Henning Luthers Betonung einer kritischen Distanz der Seelsorge gegenüber der Alltagssorge beobachtet Hauschild in seiner Analyse von Geburtstagsbesuchen, dass es in der Tat Gesprächsgänge gibt, die sich reflexiv zum Alltag verhalten, dass aber viel häufiger die „alltägliche Solidarität der Konventionen“ (Hauschild, Alltagsseelsorge, 386) die bestimmende Haltung der Seelsorgenden im Gespräch ist. 89 Schneider-Harpprecht, Lebensgestaltung, 132. 90 Vgl. dazu Roser, Klinikseelsorge, 77–81. 91 Vgl. Steck, Theologie, 270; Roser, Klinikseelsorge, 79. 92 Vgl. Schlaudraff, Krankenhausseelsorge, 211ff.

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Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

Klinik von „Ethik“ gesprochen, geht es dabei lange nicht immer um entgegenstehende moralische Überzeugungen. Nach ihren Beobachtungen fungiert „Ethik […] vor allem als eine ‚Chiffre der Thematisierung‘ […] von Problemen […], für deren Bearbeitung komplexe Zuständigkeiten erforderlich sind.“93 Ethik markiert primär einen Bedarf an Kommunikation, insbesondere dann, wenn asymmetrische Organisationspraktiken betroffen sind.94 In diesem Zusammenhang weisen Anselm et al. der Seelsorgerin und dem Seelsorger eine spezifische Funktion zu, nämlich die, in der Ethikkommission die ideale Einheit der Organisation zu repräsentieren. Dies ist gleichsam die formale Übersetzung des Klessmann’schen Zwischenraums: Indem die Seelsorgerin nicht funktional zugeordnet ist, kann sie zwar nicht wie bei Klessmann eine organisationstranszendente Position reklamieren, aber sie steht für die alle Differenzierung übersteigende Einheit des Gesamtbetriebs. Damit ist zumindest eine Möglichkeit seelsorglicher Positionierung im Krankenhaus gegeben.95 Jenseits der Organisation des Krankenhauses ist auch der Krankenhausträger von erheblicher Bedeutung. Die „Philosophie“ des Trägers, die Zielvorgaben und Leitbildprozesse finden ihren spezifischen Niederschlag im einzelnen Krankenhaus. Für die Rolle der Seelsorge ist es insbesondere von Bedeutung, ob sie etwa im Kontext eines konfessionellen Trägers eine möglicherweise unangefochtenere Stellung innehat als in kommunal oder privatwirtschaftlich geführten Häusern, vielleicht aber auch der Nähe zu „denen da oben“ verdächtig ist. Zu den ‚weichen‘ Faktoren gesellen sich ‚harte‘ wie die Gestaltung des Anstellungsverhältnisses und der Besoldung von Seelsorgenden.96 Insgesamt gilt es also, die Frage der Organisation des Krankenhauses nicht nur im Spannungsfeld von prophetischer Distanz versus Einbindung zu diskutieren, auch wenn diese Spannung immer wieder den Berufsalltag bestimmen mag. Zentral ist zunächst die Entwicklung von Fähigkeiten, die Organisation als Ganze und die eigene Einbindung in ihr wahrzunehmen und einschätzen zu lernen. Vorhandene Ansätze systemischen Denkens sind dabei in organisationstheoretischer und organisationssoziologischer Hinsicht weiterzuentwickeln. Darüber hinaus bedarf es einer ethischen Reflexion auf die Bedeutung von Institutionen, allgemeinen Prozessen und Organisationsstrukturen, auf die sich Ethik nicht nur im Modus des individuellen Einspruchs beziehen kann. Vielmehr gilt es wahrzunehmen, dass sich in allgemeinen Prozessen und Strukturen immer auch moralische Belange sedimentiert haben, und dass diese der weiteren Gestaltung und aufmerksamen Pflege bedürfen. Die mit der Berufung auf Ethik im 93 94 95 96

Anselm/Schleissing, Ethik, 8. Vgl. a. a. O., 12. Siehe dazu Kapitel 3.2, IV. Dazu vgl. Bentele, Ethikberatung, 34f; zur Bedeutung von Leitungskontakten Klessmann, Krankenhausseelsorge, 18.

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Gesundheitswesen der letzten Jahrzehnte geschaffenen Reflexionsräume sind in dieser Hinsicht überaus wertvoll. Sie offen zu halten und ihre Funktion nicht allein auf hochgradig formalisierte Entscheidungstechniken zurückzuschneiden, wird in Zukunft auch seelsorgliche Aufgabe sein.

d)

Verstehen und Inszenieren

Ein weiterer wichtiger Schnittpunkt zwischen Seelsorge und Ethik in der Klinikseelsorge ist der der Aufmerksamkeit auf Sprache. Die funktionale Differenzierung der Arbeitsbereiche spiegelt sich auf sprachlicher Ebene als Differenzierung der Sprachwelten. Hier ist wiederum ein Anschluss an das Seelsorgekonzept von Stefan Gärtner aufschlussreich. Gärtner geht aus von der seelsorgerlichen Erfahrung, zwischen verschiedenen Sprachwelten zu stehen. „Between two languages?“ heißt das Kapitel seines Buches, das sich der Sprache als einer Grunddimension der Seelsorge widmet. Bei den two languages handelt es sich hier um die psychologische und die theologische Sprache. Die selbstgestellte Frage, ob Seelsorgende zwischen den Stühlen stehen, hebelt Gärtner mit dem Aufruf aus, die „Spannung zwischen psychologischem und theologischem Sprachspiel“97 aufzuheben. Denn die Wirklichkeit, in der die Pastoranden leben, sei „vielschichtig“,98 und es gebe Pastoranden, die religiös unmusikalisch seien. Auch solchen Pastoranden müsse man ein adäquates Sprachangebot machen. „Will der Seelsorger dem Pastoranden in allen Dimensionen gerecht werden, dann ist er auf beide sowie auf weitere Sprachen angewiesen.“99 Die Erfahrung, zwischen Sprachwelten zu stehen und sie mehr oder weniger komplementär zu gebrauchen, spiegelt sich auch in vielen Aussagen der Seelsorgenden in dieser Studie.100 Allerdings greift ein solch harmonisierendes Vermittlungskonzept oftmals dann zu kurz, wenn es um den Bereich der Ethik geht. Denn die verschiedenen Sprachwelten stehen auch für bisweilen konfligierende Normen, Geltungsansprüche und Dominanzstrebungen. In Konfliktsituationen ließen sich im Material dieser Studie auch Sprechweisen von Seelsorgenden feststellen, die nicht auf eine Komplementarität, sondern auf eine ausschließende Kritik an der anderen Sprach- und Denkwelt zielten.101 Insbesondere die erzählende Sprache ist in jüngerer Zeit sowohl von der Ethik als auch von der Seelsorge entdeckt worden. In der Seelsorge ist es vor allem Albrecht Grötzinger, der die narrative Rekonstruktion von Lebensgeschichten als 97 98 99 100 101

Gärtner, Zeit, 275. A.a.O., 272. A.a.O., 275. Siehe dazu Kapitel 3.6, Abschnitt II. Erinnert sei an den befreiungstheologischen Sprachduktus des Seelsorgers Vogt, der die Normen der medizinischen Sphäre harsch kritisiert. Siehe Kapitel 3.6 in diesem Buch.

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Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

zentrale Aufgabe der Seelsorge begriffen hat.102 Damit ist die Beschränkung des Narrativen auf biblische Erzählungen überwunden, die doch allzu leicht in einer Fremdbestimmung des Gesprächs durch biblische Erzählungen resultieren kann.103 Die hermeneutische Kompetenz der Seelsorgenden,104 der differenzierte Gebrauch religiöser Semantiken, aber auch der über die bloße verbale Kommunikation hinausgehende Berufshabitus der Seelsorgenden105 bilden starke Ressourcen des seelsorglichen Umgangs mit Ethik. Dabei sind auch die Grenzen der Sprache und des Verstehens zu beachten. Wiederum Stefan Gärtner geht davon aus, dass Fremdheit und Differenz Kennzeichen der spätmodernen Seelsorge sind, und „daß der Fremde zum Normalfall des anderen geworden ist“.106 Deshalb lautet seine auf Sprachpraxis zielende Leitfrage: „Wie kann es heute überhaupt noch Verständigungsmöglichkeiten zwischen Seelsorger und Pastorand geben?“107 Dies impliziert, dass die Rolle des Seelsorgers die eines Hermeneuten sei, der seinen Pastoranden verstehen will, der selbst verstanden werden will und der „die Texte der christlichen Traditionen verstehen und als lebensbedeutend und heilsam verständlich machen“108 will. Im Anschluss an Ricœur sieht Gärtner im metaphorischen Sprachhandeln des Seelsorgers die Möglichkeit zur Verständigung. Es geht um die Freisetzung neuer Möglichkeiten durch Sprache, um „einen prinzipiell unabschließbaren und notwendigerweise pluralen, einen schöpferischen und wechselseitigen Prozess der Interpretation zwischen Text- und Selbstverstehen“.109 Die prinzipielle Unabschließbarkeit des hermeneutischen Prozesses hat auch eine Seelsorgerin in dieser Studie zum Bestandtteil ihrer Berufstheorie gemacht.110 Solche hermeneutischen Überlegungen lassen sich gut anschließen an die bereits entfalteten Einsichten in das Entzogenheitsmoment der Person (siehe oben c) ebenso wie an die über punktuelle Entscheidungssituationen hinausgehende Prozesshaftigkeit ethischer Kommunikation (siehe oben a).111 Weiterhin ist im Bereich der Seelsorge eine neue Aufmerksamkeit auf Rituale namhaft zu machen, wie sie etwa Michael Klessmann feststellt.112 Rituale verbinden die private und die öffentliche Religionskultur. Sie stellen den Einzelnen 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111

Vgl. Klessmann, Krankenhausseelsorge, 245. Vgl. Lange, Konfliktsituationen, 74f. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 125. Vgl. Fischer, Dimensionen, 223. Gärtner, Zeit, 330. Ebd. A.a.O., 331. A.a.O., 335. Siehe Kapitel 3.6, III. Zum Konzept narrativer Ethik im Kontext der Klinikseelsorge vgl. Haker, Klinikseelsorge, 167–207. 112 Vgl. Klessmann, Begleitung, 155ff.

Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik

281

in einen größeren Raum religiöser Praxis und moralischer Überzeugungen. Sie haben daher ein inhärentes Objektivitätsmoment.113 Ohne zu moralisieren, verbürgen sie einen überindividuellen Kommunikationsraum, in dem es um Fragen des Guten und Richtigen geht; trotz ihrer jeweils besonderen Situation können sich die Einzelnen in dieser Weise kommunikativ eingebunden wissen. In ethischer Hinsicht weisen die christlichen Rituale dabei insbesondere auf das Thema der Personalität zurück. Taufe, Segnung und Bestattung inszenieren den unbedingten Wert des Lebens in jeder einzelnen Handlung; sie spannen einen moralischen, aber auch weit über das Moralische hinausgehenden Horizont auf, der Seelsorgende, Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeitende von wechselseitiger moralischer Überzeugungsvergewisserung entlasten kann. Insbesondere für Seelsorgende gilt: Wer Kinder tauft oder Föten aus Spätabtreibungen segnet, muss die in diese Praxis eingelassene Überzeugung vom unendlichen Wert des einzelnen Lebens unabhängig von der Verfasstheit dieses Lebens nicht ständig kommunikativ zur Geltung bringen. Die ethische Funktion von Ritualen, wie sie in dieser Studie aufgewiesen wurde, ist daher auch theologisch nicht zu überschätzen. Mit den Kategorien Friedrich Schleiermachers gesprochen: Nicht nur hervorbringendes, sondern auch darstellendes Handeln ist ethisch relevant.114

III.

Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik

a)

Leistung und Grenzen von Theologie

Es steht außer Frage, dass Seelsorge wie Ethik als Bestandteile seelsorglicher Praxis theologisch zu reflektieren sind. Hingegen besteht durchaus Uneinigkeit darüber, inwieweit explizit theologische Reflexionsformen und materiale religiöse Semantiken das Handeln der Seelsorgerinnen und Seelsorger prägen sollen, inwieweit hier also „spezifisch Christliches“ zum Ausdruck kommen soll. Als theologische Subdisziplinen weisen sowohl Seelsorgelehre als auch Ethik einen inneren Theologie-Begrenzungsdiskurs auf. Für die Seelsorgelehre ist es vor allem die Pastoralpsychologie gewesen, die auf Reduzierung der materialen theologischen Elemente drängte. Sie forderte eine therapeutische, psychologische oder psychoanalytische Professionalisierung der Seelsorge sowie die Freisetzung des seelsorgerlichen Gesprächs von dem Erwartungsdruck, spezifisch „Christliches“ unterbringen zu müssen.115 Mit der Abkehr vom pastoralpsychologischen Paradigma war dann eine Wiederöffnung 113 Vgl. Stollberg, Gottesdienst, 226–228. 114 Vgl. Schleiermacher, Sitte, 30–45. 115 Vgl. Scharfenberg, Gespräch; Tanner, Kirche.

282

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

hin zur Theologie und zur religiösen Praxis verbunden.116 Unter anderem Isolde Karle sucht nach einer „spezifisch christlichen Kompetenz von evangelischen Seelsorgern und Seelsorgerinnen“,117 die sie material insbesondere im Aufweis überindividueller Sinnzusammenhänge der Krankheit und des Sterbens, allgemeiner in der Kommunikation eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses verortet.118 Auch die theologische Ethik betreibt ihren eigenen Theologie-Begrenzungsdiskurs, der vor allem an der Frage nach dem „Proprium“ theologischer Ethik ausgetragen wird.119 So werden auch in der Literatur zur Seelsorge und Ethik materiale Maßstäbe seelsorglich-ethischer Intervention benannt. Diese werden etwa in einer prinzipiellen Option für die Armen, in der Orientierung an der Subjektwerdung des Einzelnen oder auch in einem christlichen Menschenbild gesucht, das sich durch Endlichkeit, Abhängigkeit, Fragmentarität sowie einen dialogischen Charakter auszeichne.120 Auf der anderen Seite stehen hier etwa die Beiträge in Anselm/Schleissing, Ethik, die in der klinischen Ethik und so auch in der seelsorgerlichen Beteiligung an ihr nicht zuletzt ein formales Thematisierungsinstrument von Organisationsproblemen sehen. Ähnlich optieren Ansätze, die der Seelsorge nicht die Vertretung eines materialen christlichen Ethos zur Aufgabe geben, sondern ihr die Förderung eigenständiger ethischer Urteilsbildung aufseiten der Klienten zum Ziel setzen.121 Diese Aufgabenbestimmung wird in der Regel mit Rekurs auf die christliche Freiheit in reformatorischem Verständnis vorgetragen und erhält so einen konfessionellen Unterton. Man dürfe, so die einhellige Auskunft, in der Seelsorge keine Kasuistik betreiben, wie sie die katholische Beichtpraxis ausgebildet hat.122 Allerdings lässt sich die Frage nach dem Ort des Theologischen in der Seelsorge nicht konfessionell zuordnen. Auch wenn sich etwa der katholische Seelsorgeentwurf Doris Nauers spezifisch „christlichen Werten und Normen“123 verpflichtet sieht, so optiert doch die katholische Moraltheologie hier keineswegs eindeutig.124

116 117 118 119 120 121 122 123 124

Vgl. Wagner-Rau, Seelsorge. Karle, Seelsorge, 239. Vgl. Karle, Seelsorge, 240, 243. Vgl. Honecker, Ethik, 20–32. Vgl. Klessmann, Begleitung, 251f. Vgl. Lange, Konfliktsituationen, 63; Schneider-Harpprecht, Lebensgestaltung. Vgl. ebd.; Körtner, Ethik im Krankenhaus, 123. Nauer, Seelsorge, 179. Zum Gegensatz von autonomer Moral und Glaubensethik in der katholischen Moraltheologie vgl. etwa Kreß, Individualität, 95f; Merks, Grundlinien, 31ff; sowie im protestantischen Bereich die stark auf materiale moralische Intervention drängende „nuthetische Seelsorge“ (vgl. Adams, Seelsorge).

Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik

283

Mit Blick auf die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigt sich auch hier, dass die theoretischen Spannungen ein Spektrum seelsorglicher Handlungsoptionen – in diesem Fall: zwischen Theologiegebrauch und Theologievermeidung – markieren, das sich auch empirisch aufweisen lässt. Im Kontext der Interviews der vorliegenden Studie werden materiale theologische Reflexionsformen vor allem mit Blick auf die eigene Rollenpositionierung verwendet. Es scheint mithin im Praxisfeld des Krankenhauses hilfreich, wenn nicht gar erforderlich zu sein, die um das Handlungsfeld „Ethik“ erweiterte Berufsrolle wiederum theologisch ausweisen zu können. Für die Seelsorgelehre gilt es also, im Anschluss an den flexiblen Theologiegebrauch der Seelsorgenden125 die ethische Praxis so zu reflektieren, dass die Seelsorgenden diese zugleich als einen Teil ihrer eigenen seelsorgerlichen Berufsidentität (und nicht als ein außen anmontiertes ‚Zusatzaggregat‘) begreifen können. Um Ethik solcherart theologisch als das „Eigene“ der Seelsorge zu verstehen, mag eine allgemeine Bestimmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik (siehe hier I. und IV.) hilfreich sein. Mindestens ebenso ertragreich dürfte es jedoch sein, sich im Anschluss an die empirischen Resultate der vorliegenden Studie bewusst zu machen, in welchem großen Umfang Seelsorgende Fähigkeiten und Fertigkeiten aus dem Kernfeld der Seelsorge auch in der Konfrontation mit Ethik einbringen. Das reicht von der Hermeneutik symbolischer Sprache in der Suche nach dem mutmaßlichen Willen eines Patienten über die Sensibilität für die Kontrafaktizität personaler Zuschreibungen und die liturgische Begleitung ethisch komplexer Lebenssituationen bis hin zu einem relationalen, kontextuellen und oftmals auch systemischen Verständnis von Konfliktsituationen. Die theologische Tradition stellt hier mit Begriffen wie Person, Gewissen oder Nächstenliebe differenzierte Instrumente bereit, um die mit „Ethik“ verbundenen Problemfelder und Spannungen zu reflektieren und nach angemessenen Lösungen zu suchen – Instrumente, die nicht erst durch die Verwendung theologischer Semantiken praktisch zur Geltung kommen. Bevor also das Verhältnis von Seelsorge und Ethik auf dem begrifflichen Reißbrett geklärt ist, arbeiten Seelsorgende auch im Umgang mit Ethik immer schon mit ihrem ureigenen theologisch-seelsorglichen Inventar. Dies wahrzunehmen und zu pflegen ist eine wichtige Aufgabe ethischer Professionalisierung in der Seelsorge. Die Chancen wie die Schwierigkeiten, die das theologische Gepäck mit sich bringt, zeigen sich exemplarisch am Thema der Schuld. Wir finden Seelsorgende an dieser Stelle hochsensibel dafür, wie Zuschreibungen von Schuld ethische Situationen beeinflussen, belasten oder blockieren können.126 Sie bieten, teils in religiöser Semantik, Verbalisierungshilfen und Rituale für den Umgang mit 125 Siehe Kapitel 3.6. 126 Siehe Kapitel 3.1, II. a; Kapitel 3.4; Kapitel 3.6, III.c.

284

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

Schuld an. Dabei zeigen sich Verlegenheiten, wenn etwa die religiös-moralische Rede von Schuld zugunsten der psychologisierenden Rede von Schuldgefühlen zurückgestellt wird, gleichzeitig aber Vergebung von Schuld zugesprochen werden soll.127 Offenbar besteht hier die Sorge, in der Benennung von Schuld in alte Schemata einer auf die Sünde fixierten Theologie zurückzufallen. Hier gilt es, das Thema Schuld theologisch intensiv zu reflektieren und den Reichtum der christlichen Tradition an Narrativen und Praktiken zwischen der Benennung und der Kritik von Schuld wiederzuentdecken.128 Einschlägig ist in diesem Zusammenhang auch die Wahrnehmung von Seelsorgenden, eine Art ethischer Objektivität zugeschrieben zu bekommen („Bezeugungsinstanz“).129 Seelsorge scheint hier das übersubjektive Moment moralischen Gebundenseins zu repräsentieren und damit stellvertretend als Instanz zu dienen, vor der man sich verantworten muss. Diese „kirchliche“ Funktion der Seelsorge ist dabei unabhängig von der Frage, ob es ein spezifisch christliches oder ein allgemein humanes Ethos ist, an dem sich die Verantwortlichkeit des Einzelnen bemisst.130 Die Gefahr dieses Objektivitätsmoments wird deutlich in der Formulierung Hans Martin Müllers: „Der Seelsorger kann in diesem Prozess weder als Medium (Spiegel) noch als unbeteiligter Zuschauer agieren, sondern er ist beteiligt als Repräsentant. Er repräsentiert gegenüber der Subjektivität sowohl das allgemeine Ethos wie das ‚bessere Ich‘.“131 Seelsorgende, die mit dieser Zuschreibung konfrontiert werden, werden sehr bewusst dosieren müssen, inwieweit sie in diese eintreten oder sie zu konterkarieren versuchen, um nicht – gerade gegenüber den Mitarbeitenden – in die Rolle einer Kontrollinstanz zu kommen. An dieser Stelle verweist die Frage von Theologiegebrauch und -begrenzung voraus auf die Frage von Moral und Moralbegrenzung.

b)

Moral und Moralbegrenzung

Nicht nur der Stellenwert der Religion bzw. Theologie, auch der Stellenwert der Moral in Ethik und Seelsorge ist zu justieren. So gibt es wiederum einen Moralbegrenzungsdiskurs in der Seelsorgelehre. Er ist wie gezeigt besonders prominent im Kontext der pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge, findet sich aber auch in Beiträgen zu Ethik und Seelsorge. Im Anschluss an Friedrich Schleiermacher wendet sich Friedrich Wintzer gegen die „Moralisierung der 127 128 129 130

Siehe Kapitel 3.6; 3.7. Vgl. dazu Eibach, Lebensgeschichte, 505f; Moos, Sünde. Siehe Kapitel 3.4, II. Vgl. dazu Karle, Seelsorge; Winkler, Normen, 30, 37; Kreß, Individualität, 97; Müller, Ethos, 12ff; Anselm/Schleissing, Ethik, 10. 131 Müller, Ethos, 14.

Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik

285

Seelsorge und die damit verbundene Gesetzlichkeit“.132 Ulrich Körtner macht der Seelsorge gerade das Transmoralische zur Aufgabe.133 Im Interesse einer christlichen Freiheit des Einzelnen habe sie, so Körtner in Aufnahme einer Formulierung Niklas Luhmanns, geradezu „vor Moral zu warnen“.134 Dieser Moralbegrenzungdiskurs korrespondiert mit einem gleichgerichteten Moralbegrenzungsdiskurs innerhalb der theologischen Ethik135 sowie mit entsprechenden Positionen der medizinischen Ethik. Armin Nassehi stellt fest – getreu seinem an der Soziologie Niklas Luhmanns orientierten Verständnis von Ethik und Moral –, dass es in medizinischen Ethikkommissionen vornehmlich nicht um den Austrag moralischer Überzeugungen gehe, sondern gerade um die kommunikative Vermeidung von Moral.136 Ähnlich argumentiert Bettina SchöneSeifert, wenn sie in der medizinischen Ethik die Einhaltung gemeinsam gegebener Regeln, nicht aber die Gewissensbestimmheit des Einzelnen in den Vordergrund stellt.137 Unbenommen dieses Bemühens um Begrenzung des (individuell) Moralischen ist es gleichwohl sinnvoll wahrzunehmen, dass materiale moralische Überzeugungsgehalte bzw. materiale Ethosformen verschiedener Ebenen in der Klinik aufeinanderstoßen und kommunikative Foren des Austrags benötigen. Es gilt, sich zu den „Regeln der Sitte“138 zu verhalten. Dies sind zum einen die Formen des individuellen Ethos bzw. der individuellen moralischen Überzeugungen bei Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden. Bei letzteren, insbesondere bei Ärztinnen und Ärzten, durchaus aber auch bei Pflegenden und Seelsorgenden, ist hier noch einmal zwischen einem individuellen Ethos und dem Berufsethos zu unterscheiden.139 Weitere moralische Bestände eignen der Organisation selbst bzw. werden vom Träger eingebracht. Mit Wolfgang Krohn kann hier von „Institutionenmoral“ gesprochen werden.140 Darüber hinaus sind es materiale Bestände der Medizinethik zu nennen, wie sie etwa in die Strukturierung ethischer Fallbesprechungen eingehen.141 Für Seelsorgende kann zudem die kirchliche Meinungsbildung zu medizinethischen Fragestellungen relevant

132 133 134 135 136 137 138 139 140 141

Wintzer, Vergewisserung, 25, vgl. 23. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 126. A.a.O., 127. Vgl. Körtner, Sozialethik, 32f. Vgl. Nassehi, Entscheidens, 374. So in Schöne-Seifert, Gewissen. Herms, Struktur, 61. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 108. Wolfgang Krohn nach Anselm/Schleissing, Ethik, 12. Vgl. auch Roser, Klinikseelsorge, 83. Vgl. etwa das „Georgetown-Mantra“ von Autonomie, Gerechtigkeit, Nichtschaden und Nützen (Beauchamp/Childress, Principles), wie es in das Nimwegener Modell der ethischen Fallbesprechung eingegangen ist. Zu verschiedenen Modellen Klinischer Ethikberatung vgl. Frewer et al., Ethikberatung.

286

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

sein, wie sie in kirchlichen Verlautbarungen artikuliert wird. Mit solchen, und sei es auch nur vermuteten, kirchlichen Normenbeständen werden Seelsorgende auch in der Erwartung der Patientinnen und Patienten konfrontiert.142 Schließlich sind es die materialen Normenbestände, die im Medizinrecht kodifiziert worden sind und dadurch einen – abhängig von dem Grad ihrer Durchsetzbarkeit – mehr oder weniger bindenden Charakter haben. Zur Unterscheidung dieser verschiedenen Ebenen und Orte des Ethos kommt ein grundlegender Wertepluralismus, durch den sich auf einzelnen Ebenen jeweils noch einmal Differenzierungen ergeben.143 Auch wenn es also nicht die Aufgabe der Seelsorge sein kann, ein materiales Ethos durchzusetzen – so ein cantus firmus protestantischer Seelsorgelehre –, müssen Seelsorgerinnen und Seelsorger sich doch dieser Fülle moralischer Bestände bewusst sein und sich gemeinsam mit denen, die ihnen anvertraut sind, zu ihnen verhalten. Für die Einzelnen können solche materialen Normenbestände auf der einen Seite belastend sein, da sie die eigene Lebensführung heteronom zu beeinflussen drohen. Gleichzeitig kann die individuelle Übernahme gegebener Normen durchaus auch entlastend wirken gegenüber der Zumutung einer Individuation durch spezifische Normenverarbeitung.144 Oftmals gelingt es den Seelsorgenden, an vorgefundene Normenbestände theologisch konstruktiv anzuschließen. Hier ist es insbesondere der Terminus der Nächstenliebe, der etwa die medizinethische Zentralstellung der Selbstbestimmung des Patienten zu rekonstruieren erlaubt. Auch Narrative wie das des barmherzigen Samariters ermöglichen eine Aneignung des ärztlichen oder pflegerischen Ethos im theologischen Horizont. Solche Scharniersemantiken und -narrative können eine theologische Auseinandersetzung mit vorgefundenen Normenbeständen vermitteln, die keineswegs unkritisch sein muss.145 Doch nicht immer gelingt eine solche Vermittlung, und verschiedene Normenbestände erscheinen in einem antagonistischen Verhältnis. So erzählt die Seelsorgerin Kerstin Schlegel von einem jungen Mann, der eine Fortsetzung der Therapie ablehnte, während das medizinische Personal und sie selbst gegen diese Entscheidung waren. Dass man so das Gefühl hatte, dass da abgestellt wurde, das hätte noch eine Perspektive gegeben, und diese Therapiebegrenzung war, theologisch ausgedrückt, gegen den Willen Gottes. Sie war eine sehr menschliche Entscheidung. Seelsorgerlich ja, weil in Bezug auf die Eltern sehr viel gemacht wurde, und weil die auch gut Abschied nehmen

142 143 144 145

Vgl. Winkler, Normen, 37. Vgl. dazu Ziemer, Orientierung; Kunz/Neugebauer, Seelsorge. Vgl. Winkler, Normen, 32. Siehe Kapitel 3.6, II.

Grundfragen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik

287

konnten, weil es schon auch der Wille des [ jungen Mannes] war. Aber wo wir alle gesagt haben, guten Gewissens kann man es nicht machen. (I Kerstin Schlegel 8. 5. 2012, T)

Hier findet sich die Seelsorgerin zwischen einer für sie christlich kodierten Norm, vorhandene Therapiechancen auch zu ergreifen („Wille Gottes“), und der Überzeugung des jungen Mannes, der sich für eine Therapiebegrenzung entscheidet („menschliche Entscheidung“), wieder. Auf normativer Ebene erscheint eine Vermittlung der konträren Überzeugungen nicht möglich. So führt die Seelsorgerin eine Unterscheidung ein zwischen dem Seelsorglichen, das die Perspektive des Patienten zur Geltung bringt, und dem Ethischen, das materialen „christlichen“ Normenbeständen verpflichtet ist. Ähnlich optiert eine Seelsorgerin in der Spannung zwischen dem rechtlichen Erfordernis, einer therapiebegrenzenden Patientenverfügung zu folgen, und der seelsorglichen Berücksichtigung des Wunsches eines Angehörigen, die Therapie fortzusetzen.146 Seelsorge wird an diesen Stellen verstanden als ein Reservat, in dem sich der Einzelne noch einmal zu den vorgegebenen Normenbeständen verhalten kann und muss. Ein solches Reservat des Einzelnen wird auch mit Hilfe der Gewissenssemantik in Anspruch genommen. Bei Lichte betrachtet handelt es sich jedoch nicht um ein Gegenüber von Seelsorge und Ethik, sondern vielmehr um einen Umgang mit verschiedenen Normenbeständen, also um ein ethisches Problem.147 Das stark am Individuum orientierte Berufsethos der Seelsorgenden steht dabei in einer potenziellen Spannung zu allgemeinen medizinethischen und -rechtlichen Regeln. Das ist aus ethischer Perspektive betrachtet alles andere als unproblematisch; entstammen diese allgemeinen medizinethischen bzw. medizinrechtlichen Regelungen doch oftmals demokratischen Entscheidungsprozessen, denen eine umfangreiche gesellschaftliche Meinungsbildung vorausgegangen ist, wie es etwa im Patientenverfügungsgesetz der Fall war – Prozessen, denen selbst eine moralische Dignität eignet. Im zuletzt genannten Fall wird die Übertretung des Allgemeinen recht lapidar geschildert; von einem vertieften Problembewusstsein ist wenig zu spüren. Andere Seelsorgende verhalten sich strikt nach medizinrechtlichen Vorgaben. Sie unterscheiden dann zwischen einem „Seelsorgemodus“ und einem „Ethikmodus“148 und wissen sich in letzterem, insbesondere im Kontext der Ethik146 Siehe Kapitel 3.1, II. a („Enkel“). 147 Das unterscheidet sich wesentlich von dem Konflikt, den Udo Schlaudraff zwischen Seelsorge und Ethik konstatiert. Bei ihm steht Ethik für die Verallgemeinerung, das Argument mit dem Ziel der Handlungsorientierung, während die Seelsorge das Individuum mit dem Ziel seiner Tröstung und Vergewisserung im Blick hat (vgl. Schlaudraff, Krankenhausseelsorge, 209ff). 148 „Als Ethiker muss ich wohl versuchen, den besten Weg zu finden für die Patienten […] aus diesem Dilemma. Aber das ist nicht die vorrangige Herangehensweise eines Seelsorgers […]. Ich bin ein Stück weit ein Container und […] nehme das in mir auf, wenn ich das Bild

288

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

kommission, gänzlich an allgemeine Vorschriften und Verfahren gebunden, während sie in der Seelsorge normative Fragen suspendieren. Auch diese säuberliche Scheidung zwischen Seelsorge- und Ethik-Rolle ist eine unterkomplexe Heuristik des Ausgleichs bzw. der Abwägung zwischen verschiedenen Normenbeständen. An dieser Stelle besteht ein berufsethischer Klärungsbedarf in der Seelsorge.149 Hier sind insbesondere die bereits genannten Einsichten der systemischen Seelsorge, die das Individuum auch als Teil des Rechtssystems zu verstehen vermag, weiterführend.150 Auch die explizite Reflexion auf die eigene Rolle im Kontext des Umgangs mit Ethik ist hier hilfreich. Mit den bereits genannten Rollen des „Grenzgängers“151 im „Zwischenraum“ (Klessmann), des Vertreters kirchlicher Normen,152 des Moderators, des Medizinethikers, des theologischen oder religiös spirituellen Experten, des Informationsträgers, des Übersetzers, oder der Stimme des Patienten153 verbinden sich jeweils implizite ethische Positionierungen. So wird sich der „Grenzgänger“ den Normen der Organisation bzw. des Trägers weniger stark verbunden fühlen als jemand, der sich vollständig mit dem Krankenhaus identifiziert.154 Gegenüber der vereinfachten Zuordnung von Seelsorgerolle und Ethikrolle ist es unabdingbar, sich die ethischen Implikationen jeder Rollenzuschreibung deutlich zu machen. In diesem Sinne handelt es sich bei „Seelsorge“ und „Ethik“ tatsächlich um „Dimensionen“ seelsorglichen Handelns im Sinne von unterschiedlichen Perspektiven auf das Handeln in einer Situation und nicht um verschiedene Handlungs- und Situationstypen. In ethischen Situationen hat also seelsorgliches Handeln immer auch ethische Implikationen, die es zu reflektieren gilt. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob und inwieweit Seelsorgende sich in ethischen Situationen selbst moralisch positionieren oder hier eher nondirektiv vorgehen sollen. Die theologischen Beiträge bieten hier verschiedene Heuristiken an. Während Johannes Fischer die Nondirektivität stark macht,155 wendet sich Ulrich Körtner gegen eine Illusion ethischer Neutralität.156 Auch Kunz und

149

150 151 152 153 154 155 156

mal nehme, ohne dass ich jetzt schon in gut und böse sortiere […]. Und mein ethisches Gewissen sagt: […] das geht doch alles überhaupt nicht. […] Ich bin kein Ethiker […], ich will mir das nicht anmaßen.“ (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K). Hier mag es durchaus weiterführend sein, mit Katrin Bentele „eine ausdrücklich für die Seelsorge weitergedachte Professionsethik im Kontext der Medizinethik“ zu entwickeln (Bentele, Ethikberatung, 42). Siehe dazu Kapitel 4.2. Vgl. Evertz, Ethik-Komitees. Vgl. Winkler, Normen, 30f. Vgl. Bentele, Ethikberatung. So etwa I Jakob Gutwirth 10. 11. 2011 E. Vgl. Fischer, Dimensionen, 220. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 122.

Fazit: Moralische Subjekte auf transmoralischem Grund

289

Neugebauer verlangen, die strikte Nondirektivität zu überwinden.157 Dietz Lange gibt das Kriterium an, nur dort positionell zu intervenieren, wo man einen entsprechenden ethischen Konflikt bereits selbst erfahren habe.158 In der vorliegenden Studie wurde deutlich, dass hier ebenso situative Erwägungen wie der grundlegende Habitus der einzelnen Seelsorgerin oder des einzelnen Seelsorgers eine Rolle spielen. An dieser Stelle mag die von Reiner Preul im Kontext der Entfaltung seines Gewissenbegriffs zugewiesene Seelsorgefunktion eine hilfreiche Heuristik darstellen: Nach Preul nimmt die Seelsorgerin am inneren Gespräch teil, das das Gegenüber in seinem Gewissen führt. Ebenso wie im ‚äußeren‘ Gespräch stark positionelle wie auch moderatorische Interventionen angemessen sein können, so dürfte das auch für die seelsorgerliche Teilnahme am Gewissensgespräch gelten. Seelsorgende sollten sich also auch in ethischer Hinsicht von der gesprächstherapeutischen Nondirektivitätsvorschrift Carl Rogers159 durchaus emanzipieren, ohne gleich einer starken moralischen Meinungsfreudigkeit zu verfallen. Auf anderer Ebene liegt die Zweckbestimmung des Seelsorgegesprächs. Auch Preuls Teilnahme am inneren Gewissensgespräch geht davon aus, dass das Seelsorgegespräch an den Zwecken des Gegenübers orientiert ist. Im Zuge ethischer Inanspruchnahme von Seelsorgenden kann es aber wie gezeigt dazu kommen, dass diese sich externen Zwecken, etwa der Ermittlung eines mutmaßlichen Willens, verpflichtet fühlen und mit diesem Ziel ein Seelsorgegespräch eröffnen. Hier ist eine besonders sorgfältige Rollenreflexion und Auftragsklärung vonnöten. Inwieweit gehört die Orientierung an externen Zwecken noch in den Rahmen des vom Patienten erteilen Seelsorgeauftrags, und inwieweit sprengt es diesen? Inwieweit kann die Seelsorgerin dem Patienten also noch als Seelsorgerin gegenübertreten, und wo handelt es sich um einen Rollenwechsel, der explizit markiert werden muss? Auch diese Fragen können nur in der konkreten Situation beantwortet werden; es gehört aber zur seelsorgerlichen Professionalität, sie zu stellen.

IV.

Fazit: In der Seelsorge begegnen sich moralische Subjekte auf transmoralischem Grund

Gegenüber der eingangs dargestellten, in der Literatur diskutierten Frage, ob Ethik und Seelsorge nun eher hypotaktisch oder eher parataktisch zuzuordnen seien, hat sich im Durchgang durch die materialen Fragen eine deutliche Diffe157 Vgl. Kunz/Neugebauer, Seelsorge, 257. 158 Lange, Konfliktsituationen, 74f. 159 Zu dieser vgl. Gestrich, Fortbildung, 292.

290

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

renzierung ergeben. In der Zuordnung der Ethik zur Seelsorge sind verschiedene Problemebenen zu unterscheiden: zum einen die Ebene der unterschiedlichen Orte und der dort vorherrschenden Kommunikationsweisen (am Krankenbett, während der Visite, in der Ethikkommission), zum anderen die Rollen (Wahrnehmung der ethischen Implikationen jeder Seelsorgerolle gegenüber einer zu einfachen Parataxe von Seelsorge- und Ethikmodus), drittens die für die Seelsorge notwendigen ethischen Kompetenzen (sind diese in Verlängerung seelsorglicher Kompetenzen zu konzipieren, oder handelt es sich um eigene zusätzliche Kompetenzen? 160) und schließlich viertens die Unterscheidung verschiedener Fachlogiken, Reflexionsformen und Reflexionstraditionen in der Ethik und in der Seelsorge. Auf allen diesen Ebenen lassen sich sowohl Divergenzen als auch Konvergenzen zwischen Seelsorge und Ethik feststellen. In allem zeigt sich eine ethische Grundierung von Seelsorge wie auch ein seelsorglicher Umgang mit Fragen der Ethik, was die Chance bietet, dass die verschiedenen Fachtraditionen aufeinander bezogen werden und sich gegenseitig bereichern können.161 Ethik wie Seelsorge, hierin ist Eilert Herms zuzustimmen, bewegen sich im gemeinsamen Horizont einer Reflexion der Praxis endlicher Freiheit.162 In dieser Reflexion geht es um konkrete Fragen der Lebensführung zwischen der Behauptung und Wiedererringung der Handlungsfähigkeit des moralischen Subjekts163 und der Wahrnehmung starker Abhängigkeitserfahrungen, von Rezeptivität und Passivität. Im Umgang mit materialen Normenbeständen geht es dabei zum einen um die individuelle Aneignung und Abstoßung vorhandener Normen, zum anderen aber auch um die grundlegende Hochschätzung und politische Fortentwicklung derjenigen allgemeinen Regeln, denen die Einzelnen im Kontext der funktional differenzierten Organisationen des Krankenhauses unterworfen sind. Bei allen schweren Spannungen, die sich zwischen den Belangen des Einzelnen und dem Programm der Organisation je und je ergeben und die Anlass zur Kommunikation unter dem Label der Ethik sind, ist es auch hier hilfreich, sich zu erinnern, dass die Organisation des Krankenhauses insgesamt unter der Zielbestimmung steht (und auch auf diese ansprechbar ist), dem Einzelnen in seiner Lebenssituation zu helfen. Damit ist keine Identität von Seelsorge und Ethik behauptet. Seelsorge geht selbstverständlich über Ethik weit hinaus, und es gibt Formen ethischer Kommunikation, die nicht als seelsorglich verstanden werden können. Für eine theologische Verhältnisbestimmung sei an dieser Stelle Folgendes festgehalten: Seelsorge hat nicht nur, wie gezeigt, ethische Implikationen, sondern treibt je und

160 161 162 163

Siehe dazu 4.2. Vgl. dazu auch Roth, Seelsorge. Vgl. Herms, Struktur. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 126.

Fazit: Moralische Subjekte auf transmoralischem Grund

291

je auch selbst Ethik: Sie ist dann ein Ort verdichteter Kommunikation über das Gute und Richtige. Als Ort des Ethischen ist Seelsorge aber dadurch ausgezeichnet, dass die Anerkennung des Gesprächspartners nicht durch dessen Überzeugungen und Handlungen bedingt ist. In einer Seelsorgebeziehung begegnen sich (auch) moralische Subjekte auf einem transmoralischen Grund. Theologisch gesprochen: Ethische Kommunikation in der Seelsorge ist Kommunikation über das Gesetz auf dem Boden des Evangeliums.164 Damit lässt sich der religiöse Aspekt der Seelsorge im Umgang mit Ethik in doppelter Weise verorten. 1. Gesetz: Die ethische Kommunikation weist, wie gezeigt, in vieler Hinsicht über sich hinaus. Verantwortung ist prinzipiell unabschließbar, ethische Fragen können eine Unbedingtheit annehmen, die identitätsbedrohend ist, und das Gegenüber bleibt dem eigenen verstehenden wie handelnden Zugriff letztlich entzogen. Es sind diese Unbedingtheitsmomente des Ethischen, die in religiösen Symbolen und theologischen Reflexionsfiguren präsent gehalten werden.165 2. Evangelium: Die Anerkennung des Gesprächspartners unabhängig von dessen Überzeugungen und Taten ist in den Berufshabitus der Seelsorgenden tief eingegangen. Dennoch ist in jeder realen Beziehung die unbedingte Anerkennung des anderen, wie sie im Rechtfertigungsglauben mitgesetzt ist, immer nur unvollständig realisiert. Auch sie muss also symbolisch mitgeführt werden: in rituellen Formen, in religiöser Rede, oder auch nur in der Amtsperson der Seelsorgerin, die nie nur für sich selbst steht.166 Es sei betont, dass hiermit keine harmonisierende Zuordnung von Ethik und Seelsorge vorgenommen ist. Vielmehr ist behauptet, dass das sachlich spannungsvolle und theologiegeschichtlich sehr unterschiedlich bestimmte Verhältnis von Gesetz und Evangelium eine gute Heuristik ist, um einerseits die integrale Zugehörigkeit der Ethik zur Seelsorge und andererseits die Spannungen, denen Seelsorge auf dem Feld der Ethik begegnet, theologisch zu verstehen. So kann etwa das Spannungsfeld von Moral und Entmoralisierung gelesen werden als Resultat der Anforderung, Kommunikation über das Gesetz zu ermöglichen, aber gleichzeitig den Horizont des Evangeliums präsent zu halten. Durch diese theologische Rekonstruktion werden die Spannungen nicht kleiner; sie erscheinen vielmehr sachgemäß. Die Probleme sind nicht gelöst, sondern allererst 164 Vgl. Kreß, Individualität; Lange, Konfliktsituationen, 64f. 165 Vgl. Barth, Verantwortungsethik. 166 Die unbedingte Anerkennung des anderen auch bei tiefstem moralischen Dissens sollte selbstverständlich auch alle anderen Orte und Formen ethischer Kommunikation prägen. In der Seelsorge bildet sie jedoch darüber hinaus eine Klammer der ethischen Auseinandersetzung, die – in welcher Form auch immer – explizit präsent gehalten wird.

292

Ethik und Seelsorge: Theologische Überlegungen

formuliert. Dies allerdings öffnet den Raum für eine der Situation wie der eigenen Professionalität als Seelsorgerin bzw. Seelsorger angemessene Positionierung in diesem Spannungsfeld.167 Wenn Seelsorge solcherart ein Raum ist, in dem sich (auch) moralische Subjekte auf transmoralischem Grund begegnen, in der im Horizont des Evangeliums (auch) über das Gesetz kommuniziert wird, so tritt die Frage, ob das, was in der Seelsorge geschieht, für diese auch im praktisch ausweisbaren Sinne spezifisch ist, in den Hintergrund. Prinzipiell ist vieles der Seelsorge Zugerechnete im Krankenhausalltag auch sonst vorhanden und professionalisiert: Das für die Seelsorge reklamierte Endlichkeitsbewusstsein168 hat mit der Palliativmedizin sogar eine eigene medizinische Subdisziplin erhalten. Der Individuumsvorbehalt der Seelsorge ist Grundmotiv klinischer Ethik, in medizinischen Personalisierungspraktiken eingegossen und in der Care-Ethik des Pflegeberufs auch berufsethisch reflektiert. Die seelsorgliche Einbeziehung externer Kontexte ist ebenso im Blick der Sozialdienste. Das Thema Religion ist unter der Chiffre der „Spiritualität“ auch Thema von Bestrebungen der spiritual care.169 Die Expertise für Ethik teilen sich Seelsorgende mit Philosophen, Medizinethikern und auch Ärzten; und schließlich kann auch die Vertreterschaft für „christliche Werte“ (Nauer) aus protestantischer Perspektive gerade nicht allein den Seelsorgenden zugeschrieben werden. Auch jenseits der Seelsorge ist viel Gesetz und einiges an Evangelium im Krankenhaus. In der Suche nach einer allgemeinen wie individuell fruchtbaren Rolle der Seelsorge im Umgang mit Ethik dürfte es also wenig hilfreich sein, nach einem „Spezifikum“ zu suchen. Vielmehr erweist die Seelsorge ihre Stärke gerade darin, an die genannten Aspekte der „Personenorientierung“ des Medizinbetriebs aus eigener innerer Berufsverpflichtung anschlussfähig zu sein und diese im Kontext eines eigenen, professionellen Begriffs von „qualitätvoller“ Seelsorge auch pflegen und weiterentwickeln zu können. In dieser Mitarbeit am Gemeinsamen im Kontext einer eigenen Professionalität, in dieser Pflege medizinischer Ethosformen durch deren hermeneutische Einbin-

167 Damit sind allerdings andere Verhältnisbestimmungen als unzureichend abgewiesen. Unzureichend erscheint der Versuch, Seelsorge als Raum des Evangeliums zu bestimmen und Ethik dann als das Andere der Seelsorge zu verorten (vgl. dazu Stolberg, Schweigen). Eine Seelsorge, die sich ethischen Fragen nicht öffnet, wäre ebenso amputiert wie eine Kommunikation des Evangeliums, die das Gesetz nicht kennt. Ebenso unterkomplex erscheint die Zuordnung der Ethik zum Allgemeinen und der Seelsorge zum Individuellen, Partikularen (vgl. dazu Sturm, Gottes Namen, 326–328). Das Gesetz enthält beide Formen von Bestimmtheit (und gerade die klinische Ethik zeichnet sich durch das Bemühen aus, insbesondere dem individuellen Patienten gerecht zu werden); und das Evangelium wird als beide Bestimmtheitsformen transzendierend gefasst werden müssen. 168 Vgl. Everts, Ethik-Komitees, 352ff. 169 Vgl. Roser, Klinikseelsorge, 87.

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

293

dung in den lebendigen Traditionsstrom des Christentums mag man dann auch – das sei in die laufenden Verteilungsdebatten um Klinikseelsorge und medizinische Ethik hinein gesagt – das Spezifische und Unverzichtbare der Seelsorge im Feld der Medizinethik erkennen.

4.2

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

I.

Ein neues Modell ethischer Kompetenz in der Seelsorge a) Ethische Kompetenz als Thema der Seelsorgeliteratur b) Die Struktur ethischer Kompetenz in der Seelsorge c) Die inhaltliche Grundbestimmung ethischer Kompetenz in der Seelsorge II. Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge a) Feldspezifische Ethikkompetenzen b) Seelsorgliche Kompetenzen als ethische Kompetenzen c) Ethische Metakompetenz III. Fazit: Ethische Kompetenz sollte bereits in der grundständigen Seelsorgeausbildung entwickelt werden

Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Ethik im Gesundheitswesen benötigen auch Klinikseelsorgende ethische Kompetenz. Das ist sowohl in wissenschaftlichen Beiträgen zur Seelsorgelehre170 wie in kirchlichen Texten171 unbestritten. Damit ist zugleich die Feststellung verbunden, dass es entsprechender, die allgemeine Seelsorgeausbildung ergänzender Ausbildungsanstrengungen bedarf. Über diesen Konsens hinaus ist gleichwohl keine Übereinstimmung in der Frage erreicht, worin diese ethische Kompetenz der Seelsorgenden bestehen soll, wie sie sich zu den anderen für die Seelsorge charakteristischen Kompetenzen verhält und wie sie zur ethischen Kompetenz anderer Berufsgruppen im Krankenhaus in Beziehung steht. Im Folgenden werden die Ergebnisse der vorliegenden Studie für einen gehaltvollen Begriff ethischer Kompetenz in der Seelsorge ausgewertet. Dabei gehen die in Kapitel 4.1 entfalteten theologischen Überlegungen ein. In einem ersten Schritt wird die Grundbestimmung ethischer Kompetenz in der Seelsorge entwickelt (I.), bevor die einzelnen Teilaspekte ethischer Kompetenz in der Seelsorge dargestellt werden (II.). Folgerungen für die Gestaltung der Seelsorgeausbildung beschließen das Kapitel (III.).

170 Roser, Klinikseelsorge; Charbonnier, Behandlungsentscheidungen; Gestrich, Fortbildung; Klessmann, Krankenhausseelsorge, 306; Körtner, Ethik; Nauer, Seelsorge. 171 EKD-Konferenz der Krankenhausseelsorger, Kraft; EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen, Muttersprache, sowie die in Wortmann/Jarck/Mummenhoff, Qualitätshandbuch, versammelten Texte.

294

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

I.

Ein neues Modell ethischer Kompetenz in der Seelsorge

a)

Ethische Kompetenz als Thema der Seelsorgeliteratur

Um einen gehaltvollen Begriff ethischer Kompetenz zu bestimmen, sind mindestens vier Fragen zu beantworten: 1. Was ist unter Kompetenz in der Seelsorge zu verstehen? 2. In welcher Beziehung steht ethische Kompetenz in der Seelsorge zur ethischen Kompetenz anderer Berufsgruppen im Krankenhaus? 3. Wie ist ethische Kompetenz in das Kompetenzspektrum der Seelsorge selbst einzuordnen? 4. Welche einzelnen Aspekte bzw. Elemente umfasst ethische Kompetenz in der Seelsorge? Hinsichtlich dieser vier Fragen wird in der Literatur relativ uneinheitlich optiert. Zu 1.: Der Begriff der Kompetenz ist, gerade im Kontext des Themas „Qualität in der Krankenhausseelsorge“, beliebt,172 bleibt aber in aller Regel unausgewiesen. Häufige Wechselbegriffe sind „Fähigkeit“173 oder „Befähigung“.174 Weiterhin werden erforderliche „Kenntnisse“ angeführt und entweder unter dem Kompetenzbegriff subsumiert oder ihm beigeordnet, sodass von „Kenntnissen und Kompetenzen“ die Rede ist.175 Gedacht ist also in der Regel an eine spezifische Menge von Wissensbeständen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die durch Information und Einübung angeeignet und an geeigneter Stelle zur Geltung gebracht werden. Auffällig ist dabei, dass der Kompetenzbegriff schwankend teils im Singular und teils im Plural verwendet wird.176 Neben der Vorstellung eines Bündels von individuellen Ressourcen, also ethischen Kompetenzen, steht offenbar die Vorstellung einer einheitlichen zusammenhängenden Befähigung zur Ethik, also einer ethischen Kompetenz im Singular. Die verschiedenen individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten sollen sich mithin zu einer situativ angemessenen Problemlösungskapazität integrieren. Dies bleibt aber ebenso unausgewiesen wie der Kompetenzbegriff selbst. Gegen solche affirmative Verwendungsweisen des Kompetenzbegriffs steht die Position einer Skepsis gegenüber einer Kompetenzorientierung in der Seel-

172 Vgl. a. a. O., 60f. 173 EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen, Muttersprache, 5.2.4.4; Nauer, Seelsorge, 262f. 174 Gestrich, Fortbildung, 289. 175 Beides etwa bei Charbonnier, Behandlungsentscheidungen, 527. 176 Vgl. etwa Körtner, Ethik, 116f.

Ein neues Modell ethischer Kompetenz in der Seelsorge

295

sorge. Dietz Lange warnt explizit vor einer „totalen Professionalisierung der Seelsorge“ und fährt fort: Es darf nicht dahin kommen, dass man der verblassenden kirchlichen Amtshierarchie durch den verführerischen Glanz einer auf psychologischer, ethisch-theoretischer oder auch theologischer ‚Kompetenz‘ gegründeten Expertenhierarchie aufzuhelfen sucht, womöglich noch um den Preis des christlichen Propriums der Seelsorge.177

Gegenüber einer solchen Kompetenzorientierung sieht Dietz Lange die wesentlichen Befähigungen zur Seelsorge in der Lebens- und Glaubenserfahrung. Alle weiteren Qualifikationen sollten dieser „Grundhaltung des solidarischen Glaubens“178 untergeordnet werden. Auch Dietrich Rössler problematisiert in seinem Grundriss der Praktischen Theologie eine am Begriff der Kompetenz ausgerichtete Professionalisierung der Seelsorge.179 Er formuliert gewichtige Einwände im Namen einer einerseits unaufgebbar an die Individualität des Seelsorgers geknüpften und zudem in das Gesamt des Pfarrberufs integrierten Seelsorgetätigkeit. Solche Einwände werden im Folgenden präsent zu halten sein, um nicht der Gefahr einer Formalisierung und ,Entmaterialisierung‘ der Seelsorgeausbildung durch eine Überbetonung der Kompetenzorientierung zu erliegen. Zu 2.: Eine wichtige Vorentscheidung für den Begriff ethischer Kompetenz in der Seelsorge und für die Gestaltung von Ausbildungseinheiten ist es, ob ethische Kompetenz spezifisch Seelsorgerinnen und Seelsorgern zukommt, also vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen, etwa ethisch-theologisch profilierten Verfasstheit am Ort des Seelsorgeberufs in den Blick kommt,180 oder ob ethische Kompetenz vornehmlich als eine allen Berufsgruppen in der Klinik gemeinsame Kompetenz verstanden wird, die Seelsorgende sich auch erwerben müssen.181 Technisch gesprochen: Ist ethische Kompetenz vor allem als Teil seelsorglicher Berufsethik oder als Teil einer allgemeinen klinischen Bereichsethik zu konzipieren? Zu 3.: Die Einordnung ethischer Kompetenz in das seelsorgerliche Kompetenzspektrum wird in der Regel als Nebenordnung konzipiert. Ethische Kompetenz erscheint als ein Element einer längeren Liste seelsorglicher Kompetenzen, die darüber hinaus etwa theologische, kommunikative und pastoralpsychologische Kompetenz182 oder kommunikative, liturgische, interreligiöse und

177 178 179 180

Lange, Konfliktsituationen, 77. Ebd. Vgl. Rössler, Theologie, 202–206. So Charbonnier, Behandlungsentscheidungen, 25; EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen, Muttersprache, 5.2.4.2. 181 Vgl. dazu das von Körtner, Ethik, entwickelte Stufenmodell ethischer Kompetenz in der Klinik. 182 Roser, Klinikseelsorge, 87f.

296

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

Deutungskompetenz183 umfasst. In einer stark pastoralpsychologisch ausgerichteten Konzeption kommt ethische Kompetenz neben Beziehungs-, Gesprächsführungs-, pastoralpsychologischer, pastoraltheologischer und institutionenspezifischer Kompetenz zu stehen.184 Doris Nauer nennt solcherart zwanzig verschiedene Kompetenzen.185 Zuweilen wird betont, dass die ethische Kompetenz nicht unverbunden neben den anderen seelsorglichen Kompetenzen stehe, ohne dies jedoch weiter auszuweisen.186 Eine innere Verbindung der ethischen Kompetenz zu anderen seelsorglichen Kompetenzen wird etwa sichtbar im EKD-Text „Seelsorge – Muttersprache der Kirche“. Hier wird es als ein Element ethischer Kompetenz in der Seelsorge bezeichnet, „seelsorgliche Wahrnehmungen einbringen und auf ethische Argumentationslinien beziehen zu können“.187 Es gehört also zur ethischen Kompetenz, andere seelsorgliche Kompetenzen für den Bereich der Ethik fruchtbar zu machen. Auch dies wird jedoch nicht weiter systematisch entfaltet. Wie unsicher die Zuordnung ethischer Kompetenz zu den übrigen seelsorglichen Kompetenzen ist, zeigt sich auch bei Michael Klessmann, der an einer Stelle den Erwerb von ethischer Kompetenz durch Seelsorgende für notwendig hält,188 diese ethische Kompetenz aber in seiner Liste seelsorglicher Kompetenzen an anderer Stelle nicht benennt.189 Zu 4.: Für die innere Differenzierung ethischer Kompetenz in der Seelsorge werden in der Literatur wiederum verschiedene Angebote gemacht. Im Anschluss an Trutz Rendtorff unterscheidet Traugott Roser die Fähigkeit zum Umgang mit Problemen erster Ordnung, das heißt konkreten materialethischen Fragestellungen, Problemen zweiter Ordnung, das heißt ethischen Theoriefragen, und Problemen dritter Ordnung, die es mit dem kulturellen Kontext zu tun haben.190 Ralf Charbonnier untergliedert ethische Kompetenz nach den Bereichen der Medizin-, Kommunikations- und Organisationsethik191 und fächert diese jeweils detailliert auf. Der EKD-Text „Die Kraft zum Menschsein stärken“ unterscheidet wiederum hinsichtlich der Strukturen und Verfahren ethischer Entscheidungsfindung einerseits und dem materialen Gehalt der Urteile andererseits.192 Ulrich Körtner lehnt sich an das Modell Patricia Benners zur Ent183 184 185 186 187 188 189 190 191 192

Körtner, Ethik, 105; Wortmann/Jarck/Mummenhoff, Qualitätshandbuch, 48ff. Gestrich, Fortbildung, 288f. Nauer, Seelsorge. Vgl. Charbonnier, Behandlungsentscheidungen, 530; Körtner, Ethik, 113; Nauer, Seelsorge, 246. EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen, Muttersprache, 5.2.4.4. Vgl. Klessmann, Begleitung, 306. Vgl. Klessmann, Begleitung, 164: Hier ist nur von Wahrnehmungs-, Gesprächs-, symbolischer und ritueller Kompetenz die Rede. Vgl. Roser, Klinikseelsorge, 86f. Vgl. Charbonnier, Behandlungsentscheidungen, 526. Vgl. EKD-Konferenz der Krankenhausseelsorger, Kraft, 24.

Ein neues Modell ethischer Kompetenz in der Seelsorge

297

wicklung von Pflegekompetenz an und entfaltet ethische Kompetenz in einem fünfstufigen Schema vom „Neuling“ bis zum „Ethik-Experten“,193 das sich durch zunehmende Erweiterung und Vertiefung auszeichnet. An anderer Stelle werden Listen ethischer Teilkompetenzen geboten, die kein einheitliches Strukturierungsprinzip voraussetzen.194

b)

Die Struktur ethischer Kompetenz in der Seelsorge

Die Rede von Kompetenz ist in Pädagogik, Psychologie und Betriebswirtschaft häufig und von der beständigen Klage begleitet, die Verwendung des Terminus sei diffus und uneinheitlich.195 Das wird sich auch durch den vorliegenden Beitrag nicht ändern lassen; gleichwohl ist eine begriffliche Präzisierung vonnöten. Die Referenz für einen Begriff der Kompetenz in der Seelsorge wird im Folgenden der Berufsbildungsforschung entnommen, da sich auch die anschließenden Überlegungen zur Bildung ethischer Kompetenz (Abschnitt III. und Kapitel 4.3) auf den Seelsorgeberuf beziehen. Der Bildungswissenschaftler Alexander Wick unterscheidet zwei große Gruppen von Kompetenzkonzepten: Entweder werden Kompetenzen, wie dies auch in der Literatur zur Seelsorge in der Regel der Fall ist, als „Bündel von Fertigkeiten und Fähigkeiten“ verstanden. Dem setzt Wick – unter anderem im Anschluss an die Kompetenzdefinition der OECD196 – ein anderes Konzept gegenüber, das er selbst bevorzugt: Hier erscheint Kompetenz als „Selbstorganisationsfunktion“: „Kompetenz ist der individuelle Organisations- und Funktionsapparat zur Nutzung und Entwicklung der eigenen Ressourcen bei der aktiven, ziel- und lösungsorientierten Auseinandersetzung mit definierten Lebenssituationen.“197 Kompetenz ist in dieser Perspektive nicht das Bündel individueller Ressourcen zum Umgang mit bestimmten Problemen, sondern der „Organisationsapparat“,198 der abhängig von Situationen je und je auf diese Ressourcen zugreift. Im Blick sind also nicht einzelne Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern die durch ihre strukturierte Indienstnahme hervorgebrachte Problemlösungskapazität. Insbesondere stehen nicht einzelne Wissensbereiche im Vordergrund, sondern deren je nach Situation neu vorgenommene Kombination und Adaption. Im Folgenden wird die These vertreten, dass ethische Kompetenz in der Seelsorge in spezifischer Art und Weise sowohl 193 Körtner, Ethik, 116f. 194 Vgl. EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen, Muttersprache; Nauer, Seelsorge, 262f. 195 Vgl. etwa Kauffeld, Kompetenzen, 15ff, und die Fülle der Modelle in: Erpenbeck/von Rosenstiel, Kompetenzmessung. 196 Dazu vgl. Wick, Kontextabhängigkeit, 25. 197 Wick, Kompetenzentwicklung, 3. 198 A.a.O., 4.

298

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

Kompetenzen im ersten als auch Kompetenz im zweiten Sinne der dargestellten Unterscheidung impliziert. Das hier vertretene Modell ethischer Kompetenz ist in Abbildung 4 schematisch dargestellt.

Abbildung 4: Zur Untergliederung ethischer Kompetenz in der Seelsorge.

Auf der ersten Ebene ist gemäß des genannten bildungstheoretischen Ansatzes zwischen Fertigkeiten und Fähigkeiten einerseits und der Selbstorganisationsfunktion andererseits zu unterscheiden. Die Fertigkeiten und Fähigkeiten lassen sich dabei noch einmal unterscheiden, sodass ethische Kompetenz in der Seelsorge insgesamt in drei Rubriken unterteilt wird. Der erste Bereich umfasst diejenigen Wissensbestände, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die in aller Regel in der Literatur als das Gesamt ethischer Kompetenz angesprochen werden. Hier geht es zum einen um Feldkompetenz, also um das nötige Wissen und die Geläufigkeit, sich in einer Klinik zu bewegen und Gespräche mit Mitarbeitenden, Patienten und anderen Berufsgruppen führen zu können. Zum anderen gehört dazu die allgemeinethische und medizinethische Kompetenz, also die Kenntnis von Begriffen und Reflexionsfiguren der Ethik insgesamt wie speziell der Medizinethik als Bereichsethik. Unter letztere sind zu rechnen die Kenntnis von Methoden ethischer Fallbesprechung, das Wissen um rechtliche Grundlagen sowie eine entsprechende durch Training und Berufstätigkeit erworbene Erfahrung in der Teilnahme an ethischer Kommunikation im Kontext der Klinik. Die Ergebnisse dieser Studie und die an sie anschließenden theologischen Reflexionen zeigen jedoch, dass ein solcher Zuschnitt ethischer Kompetenz deutlich zu kurz gegriffen wäre. Es gibt ein zweites Bündel ethischer Fertigkeiten und Fähigkeiten, auf das es aufmerksam zu sein und die es zu entwickeln gilt.

Ein neues Modell ethischer Kompetenz in der Seelsorge

299

Dabei handelt es sich um die im engeren Sinn seelsorglichen Kompetenzen, die es als ethische Kompetenzen zu entwickeln gilt. Seelsorgliche Kernkompetenzen wie kommunikative Kompetenz, Deutungskompetenz und liturgische Kompetenz werden so als genuine Elemente ethischer Kompetenz sichtbar und müssen als solche entwickelt werden. Drittens ist ein Bereich ethischer Kompetenz in der Seelsorge namhaft zu machen, der hier in Ermangelung einer besseren Bezeichnung als ethische Metakompetenz bezeichnet wird und der an das Konzept von Kompetenz als Selbstorganisationsfunktion anschließt. Ethische Metakompetenz ist darauf gerichtet, die normativen Aspekte seelsorglichen Handelns selbst zu reflektieren und eine eigene „ethische Rolle“ gegenüber individuellen Gesprächspartnern wie im Kontext der Organisation zu entwickeln. Ethische Metakompetenz ist also damit befasst, die feldspezifischen und die im engeren Sinne seelsorglichen Fertigkeiten und Fähigkeiten situationsangemessen zu kombinieren und sich zu dabei auftretenden Spannungen reflektiert verhalten zu können. Die in der Literatur zumeist vollzogene Nebenordnung ethischer Kompetenz neben anderen seelsorglichen Kompetenzen ist also unzureichend, da die Beziehungen der verschiedenen Kompetenzbündel zueinander ungeklärt bleiben. Gleichzeitig können diese auch nicht in eine spannungsfreie Unterordnung des einen unter das andere aufgelöst werden. In der Entwicklung des solcherart angereicherten Begriffs ethischer Kompetenz in der Seelsorge spiegelt sich also die Einsicht des Kapitels 4.1, dass weder die Parataxe noch die Hypotaxe von Ethik und Seelsorge das Verhältnis beider angemessen beschreiben kann. Die innere Dreigliederung des Begriffs der ethischen Kompetenz ist nicht nur ein analytisches Spiel. Vielmehr müssen für die drei Kompetenzbereiche jeweils Orte der Schulung und Weiterentwicklung angegeben werden können. Die feldspezifischen ethischen Kompetenzen können seit einiger Zeit in spezialisierten Ausbildungseinheiten für Klinikseelsorgende erworben werden. Die allgemeinen seelsorglichen Kompetenzen werden zumeist in Kursen der Klinischen Seelsorgeausbildung oder ähnlichen Ausbildungsformen entwickelt. Wo aber ist der Ort der Entwicklung der ethischen Metakompetenz und auf welche Weise kann diese entwickelt werden? Es bedarf unseres Erachtens also einer dritten Säule in der Ausbildung ethischer Kompetenz von Seelsorgenden, deren Grundlinien in Abschnitt III. entfaltet werden, und für die in Kapitel 4.3 ein konkreter Vorschlag gemacht wird. c)

Die inhaltliche Grundbestimmung ethischer Kompetenz in der Seelsorge

Bevor die einzelnen Kompetenzbereiche abgeschritten werden, sollen im Anschluss an Kapitel 4.1 einige materiale Grundbestimmungen ethischer Kompetenz in der Seelsorge benannt werden. Im Kern besteht ethische Kompetenz

300

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

darin, mit den im empirischen Material ausgewiesenen Spannungen umgehen zu können, die sich Seelsorgenden im Umgang mit Ethik in der Klinik darstellen. Diese Spannungen konnten im Abschnitt 4.1 zu den Bruchlinien des theoretischen Feldes der Seelsorgetheorie bzw. der theologischen Ethik in Beziehung gesetzt werden. Zu ihnen gehört etwa die Spannung zwischen eigener moralischer Positionierung und moralischer Enthaltsamkeit in ethischen Diskussionen oder die Spannung zwischen einer religiösen Semantisierung ethischer Fragestellungen versus einer rein „säkularen“ Redeweise; diese kehren auf der Ebene der Seelsorgerollen wieder als Spannung zwischen einer moderatorischen und einer positionellen Rolle in der ethischen Kommunikation. Solche Spannungen erscheinen in vieler Hinsicht sachgemäß und können unseres Erachtens nicht sinnvoll durch die Festlegung einer definitiven Rahmentheorie für Ethik und Seelsorge beseitigt werden.199 Daher wird die ethische Kompetenz in der Seelsorge im Kern darin bestehen, diese Spannungsfelder wahrzunehmen und sich in ihnen theologisch reflektiert zu positionieren – je nach Situation, eigener theologischer Einsicht wie auch eigener Persönlichkeit und seelsorglicher Professionalisierung. Die Rede von „Spannungen“ oder auch „Polaritäten“ darf dabei nicht dazu führen, in aristotelischer Manier immer die Mitte zwischen polaren Optionen für angemessen zu halten. Gerade auch eine „extreme“ Selbstpositionierung kann je und je angezeigt sein. Darin, dass sie eben solche Spannungen seelsorglicher Praxis aufweisen, haben diese und hoffentlich weitere empirische Studien ihre Rechtfertigung und ihren Wert für die seelsorgliche Praxis. Denn nicht alle Spannungen werden am eigenen Leibe erfahren; manche zeigen sich auch erst im Unterschied der eigenen Praxis zur Praxis anderer, die durch Erfahrungsaustausch oder eben durch Studien vermittelt wird. Es ist also eine wesentliche Aufgabe der Seelsorgeaus-, -fort- und -weiterbildung auf dem Feld der Ethik, solche ethisch-seelsorglichen Spannungen präsent zu halten und zu reflektieren. Inhaltlich stellt sich ethische Kompetenz in der Seelsorge als theologisch qualifiziert dar. Den in obiger Abbildung einst benannten ersten Bereich ethischer Kompetenzen teilen Seelsorgende mit anderen Berufsgruppen; eine Ausbildung im multiprofessionellen Kontext erscheint von daher durchaus sinnvoll. Die anderen beiden Kompetenzbereiche sind jedoch der Seelsorge eigen und bedürfen entsprechender Kommunikation unter Seelsorgenden. Als ein Fundament für diese Kommunikation bietet sich die in Kapitel 4.1 namhafte gemachte Einsicht an, dass sich in Seelsorgebeziehungen immer (auch) moralische

199 Mit dem Begriffspaar von Gesetz und Evangelium wurde lediglich eine – gleichsam theologisch-metatheoretische, da nicht an einen bestimmten theologischen Ansatz gebundene – Heuristik für die genannten Spannungen im seelsorglichen Umgang mit Ethik vorgeschlagen (siehe Kapitel 4.1, IV.).

Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge

301

Subjekte auf transmoralischem Grund begegnen. Von dieser rechtfertigungstheologischen Einsicht aus können die genannten Spannungen wahrgenommen und reflektiert werden, wobei immer auch die Funktion der Seelsorge in der Pflege und Weiterentwicklung der verschiedenen Ethosformen in der Klinik zu bedenken sein wird. So ist ethische Kompetenz in der Seelsorge angesiedelt zwischen professions- und bereichsspezifischen Ethosformen, allgemeiner Ethik und dem durch religiöse und theologische Traditionsbestände eröffneten Raum der Reflexion über Moral und Ethik. Diese notgedrungen unscharfe Grundbestimmung wird im Folgenden im Durchgang durch die einzelnen Elemente und Aspekte ethischer Kompetenz angereichert und präzisiert.

II.

Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge

a)

Feldspezifische Ethikkompetenzen

Für den spezialisierten und hochgradig ausdifferenzierten Bereich der Klinik ist zunächst Feldkompetenz im eigentlichen Sinne vonnöten. Ralf Charbonnier rechnet dazu: medizintheoretische und medizinische Grundkenntnisse, Wissen darüber, wie sich besondere Krankheitszustände für den Patienten darstellen, Kenntnisse über die unterschiedlichen Berufsgruppen im Krankenhaus „mit ihren Regeln und Sprachspielen“, Einsicht in die Organisation des Krankenhauses sowie Grundkenntnisse des Gesundheitswesens.200 Die Notwendigkeit solcher Feldkompetenz, die zum Teil theoretisch geschult, zum Teil erst im Feld durch Erfahrung erworben wird und die ein prinzipiell unbeschränktes, sich beständig erweiterndes Feld an Kenntnissen und Erfahrungen beinhaltet, dürfte unbestritten sein. Aus den Interviews der ersten Studienphase ist zu entnehmen, dass einige Seelsorgende therapeutische oder medizinische Vorkenntnisse, etwa aus der Ausbildung in einem Medizinberuf, besitzen – Kenntnisse die sowohl im Gespräch mit Patienten als auch mit Mitarbeitenden von Nutzen sind. Allerdings ist an dieser Stelle hinzuweisen auf die Beobachtung, dass Seelsorgende mit therapeutischen Vorkenntnissen teils dazu tendieren, sich stark mit dem medizinischen Team zu identifizieren und zuweilen dem Patienten als Vertreter der Klinik gegenüberzutreten:201 Es besteht eine Gefahr der Überidentifikation mit der Organisation Krankenhaus. Das ist beileibe kein Argument gegen den Erwerb von Feldkompetenz, weist aber auf die Notwendigkeit einer sorgfältigen Rollenreflexion am Ort der ethischen Metakompetenz hin. Auch diejenigen Studi-

200 Charbonnier, Behandlungsentscheidungen, 527. 201 Siehe Kapitel 2.2, II. a; 3.1, IV.

302

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

enmaterialien, die auf eine Übernahme des ärztlichen Blicks durch Seelsorgende hinweisen,202 zeigen in diese Richtung. An die Seite dieser allgemeinen Feldkompetenz tritt notwendigerweise eine medizinethische Grundkompetenz, die sich wiederum in zwei Bereiche aufgliedern lässt. Zum einen handelt es sich um Grundkenntnisse der allgemeinen Ethik, also etwa der Unterscheidung verschiedener ethischer Ansätze und der Grundbegriffe wie Willen, Norm, Wert, Gewissen, praktische Urteilskraft und den damit verbundenen Sachproblemen. Der genuine Ort für den Erwerb dieser Kenntnisse ist das Theologiestudium, wobei Ulrich Körtner zurecht darauf hinweist, dass die Ethik in der Enzyklopädie der theologischen Fächer, wie sie an den Universitäten gelehrt wird, allenfalls eine marginale Position innehat, und die Kenntnisse examinierter Theologinnen und Theologen auf diesem Feld sehr begrenzt sind.203 Das hier offenbar Lücken bestehen, zeigt sich indirekt daran, dass Medizinethik-Fortbildungen für Klinikseelsorgende, wie sie etwa am Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum durchgeführt werden, nicht selten mit einer allgemeinen „Einführung in die Ethik“ beginnen. Über diese Grundkenntnisse der Allgemeinen Ethik hinaus ist in der Klinik vor allem eine solide Beherrschung des medizinethischen Instrumentariums vonnöten. Das bezieht sich zunächst auf die rechtlich kodifizierten Normen und entsprechenden Grundbegriffe, beispielsweise auf Regelungen zum mutmaßlichen Willen, zur Patientenverfügung oder zur Organspende. Weiterhin gehört dazu die Kenntnis ärztlicher Leitlinien und des ärztlichen Standesrechts in medizinethisch besonders umstrittenen Behandlungsfeldern, etwa hinsichtlich des Umgangs mit künstlicher Ernährung am Lebensende sowie des Behandlungsverzichts bei Frühgeborenen. Grundkenntnisse des ärztlichen und pflegerischen Ethos zählen ebenso dazu wie das Wissen um Einrichtungen und Prozeduren Klinischer Ethikberatung, etwa über den Ablauf ethischer Fallbesprechungen, sowie Wissen aus der Organisationsethik, das sich auf Kommunikationskulturen, Fehlermanagement und ähnliches bezieht. Dabei handelt es sich einerseits um dynamische, regelmäßig sich verändernde Wissensbestände, die einer beständigen Fort- und Weiterbildung bedürfen. Zum anderen spielt das Moment der Erfahrung eine wesentliche Rolle, gerade wenn es um Chancen und Grenzen ethischer Kommunikation geht. So gehört es zu den Grundproblemen der Ethik, dass die Subsumtion von „Fällen“ unter allgemeine Normen selbst nicht noch einmal vollständig regelgeleitet ist, sondern auch auf individuen- und organisationsspezifischen Habitualisierungen beruht. Solche Erfahrung wird in der Diskussion von Fällen erworben, in der Ausbildung wie auch später in der be202 Siehe dazu Kapitel 3.6. 203 Vgl. Körtner, Ethik, 114.

Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge

303

ruflichen Praxis. Das oben dargestellte, von Ulrich Körtner vorgeschlagene Stufenmodell der Entwicklung ethischer Kompetenz macht zu Recht diesen Punkt stark. Medizinethische Grundkompetenz im bereichsethischen Sinne bedarf also spezifischer Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote, wie sie seit einigen Jahren von unterschiedlichen Institutionen angeboten werden.204 Spätestens dann, wenn Seelsorgende in formelle Strukturen ethischer Kommunikation in der Klinik eingebunden sind, ist die Ausbildung und kontinuierliche Pflege dieser Kompetenz unverzichtbar. Allerdings kann dies nicht, wie vielfach nahegelegt, bereits als das Gesamt ethischer Kompetenz gewertet werden. Denn zum einen bliebe dann eine solche Kompetenz mit der übrigen Berufsexistenz der Seelsorgenden unverbunden. Sie wäre ein rein äußerliches Zusatzaggregat, das mitliefe, ohne professionell integriert zu sein. In diesem Sinne wünschte sich eine Seelsorgerin auf einem der Fachgespräche zur Studie explizit eine Rückbindung der Medizinethik an die theologische Ethik. So wichtig also Kenntnisse und Erfahrungen im spezialisierten medizinethischen Bereich sind, reichen sie doch für eine entsprechende Professionalisierung der Seelsorge nicht aus. Dazu kommt ein zweiter Punkt. Medizinethik als Bereichsethik, wie sie sich zu einer eigenen akademischen Disziplin mit Fachzeitschriften, Studiengängen und Konferenzen entwickelt hat, stellt sich heute im Kern dar als eine hochspezialisierte Technik ethischer Entscheidungsfindung vor allem im Umgang mit moralisch umstrittenen Therapieoptionen. Diese entwickelt sich an Fällen, wird an Fällen fortgebildet und an Fällen gelehrt. Wie jedoch solche „Fälle“ zustande kommen, wann also etwas zum medizinethischen Problem wird, liegt selbst in der Regel nicht im Blick der Medizinethik. In der vorliegenden Studie hat sich gezeigt, dass Seelsorgende selbst einen weiteren Ethikbegriff haben, der sich auch auf die vorlaufenden und nachfolgenden Phasen von Entscheidungsprozessen bezieht; der selbst ‚latente‘ ethische Situationen unter sich fasst, in denen niemals explizit abgewogen und entschieden wird. Wenn ein solches weites Ethikverständnis berechtigt ist, ist es notwendig, unter ethischer Kompetenz mehr zu verstehen als eine Professionalisierung von Entscheidungskommunikation. Neben der Spezialisierung ethischer Kommunikation bedarf es also gleichsam ihrer Antispezialisierung, also der Rückbindung an lebensweltliche Kontexte, die Seelsorgende den Studienergebnissen zufolge regelmäßig leisten. Auch aus diesem Grund kann die ethische Kompetenz von Seelsorgenden nicht auf den Bereich spezialisierter Medizinethik beschränkt bleiben.

204 Ausbildungen bieten unter anderem an das Zentrum für Gesundheitsethik, Hannover, die Arbeitsstelle Ethik im Gesundheitswesen, Hamburg, die Stabsstelle Ethik der Marienhaus GmbH und viele andere. Vgl. Charbonnier, Behandlungsentscheidungen, 528f sowie die Beiträge in Haker et al., Perspektiven.

304

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

Diesem weiten Ethikbegriff entsprechend gibt es ein breites Spektrum ethischer Situationen in der Klinik, das über die geläufige Zweiteilung von Gesprächssituationen in das seelsorgliche Gespräch unter vier Augen auf der einen Seite und die institutionalisierte Ethikkommunikation auf der anderen Seite205 hinausgeht. Viele ethische Situationen sind demzufolge auch nicht allein entweder mit seelsorglichen Kompetenzen im engeren Sinne oder mit spezifisch medizinethischen Kompetenzen zu bestreiten. Angebote zur Ausbildung ethischer Grundkompetenz im hier dargestellten Sinne haben sich in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen entwickelt – von der mehrtägigen Fortbildung bis hin zum berufsbegleitenden Masterstudiengang. Auch wenn diese Angebote noch längst nicht alle Klinikseelsorgenden erreicht haben, so ist zumindest strukturell davon auszugehen, dass an dieser Stelle kein Mangel besteht. Daher wird die ethische Grundkompetenz im Folgenden nicht weiter entfaltet; vielmehr soll es hier gerade um jene Kompetenzen gehen, die darüber hinausgehen und zumeist nicht im Blick der Literatur und der Ausbildungsanbieter sind.

b)

Seelsorgliche Kompetenzen als ethische Kompetenzen

Die Auswertungen des Materials zum Umgang von Seelsorgenden mit ethischen Situationen (Teil 3) haben gezeigt, wie seelsorgliche Handlungsweisen auf dem Feld der Ethik relevant werden. Dies wird im Folgenden anhand von drei Kompetenzbereichen expliziert, die so oder ähnlich typischerweise zur seelsorglichen Kompetenz gerechnet werden.206 Dies sind die kommunikative Kompetenz, die Deutungskompetenz und die liturgische Kompetenz. Damit sind drei verschiedene Aspekte seelsorglicher Kompetenz benannt, die nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind, sondern lediglich analytisch unterschieden werden können. Kommunikative Kompetenz: Es ist eine Grundfunktion klinischer Ethik, in der funktional ausdifferenzierten Organisation der Klinik auf unabgegoltene Kommunikationsbedarfe hinzuweisen und Kommunikation zu ermöglichen.207 Von daher ist zu erwarten, dass die den Seelsorgenden zugesprochene bzw. von ihnen erwartete kommunikative Kompetenz auch im Umgang mit ethischen Situationen relevant wird. So ist in der Studie deutlich geworden, wie Seelsorgende ihre hermeneutische Kompetenz, symbolische Rede zu verstehen sowie nonverbale Kommunikation zu deuten, in den Dienst der Findung von Behandlungsentscheidungen stellen. Dabei trat eine Spannung auf zwischen verschiedenen 205 Vgl. Roser, Klinikseelsorge, 9f. 206 Vgl. etwa Wortmann/Jarck/Mummenhoff, Qualitätshandbuch, 48–51. 207 Vgl. Nassehi, Entscheidens; Anselm/Schleissing, Ethik.

Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge

305

möglichen Zweckbestimmungen dieser Verstehensanstrengungen: Dient die hermeneutische Kompetenz nur dazu, Verstehen in einem ansonsten von den Zwecken des Patienten geleiteten Gespräch zu ermöglichen, oder darf sie auch dem rechtlich vorgegebenen Zweck der Willensermittlung dienen? 208 Weitere Spannungen bestehen im Gegenüber von empathischen und konfrontativen Sprachweisen, die im ethischen Bereich als Spannung zwischen der Sprache moralischer Zurückhaltung und der Sprache moralischer Positionierung wiederkehren, sowie in der Frage, inwieweit Seelsorgende eher zwischen den unterschiedlichen Sprachwelten der Klinik übersetzen oder durch eigene Sprachformen und Semantiken kenntlich werden sollen, was wiederum zu unterschiedlichen Sprecherpositionen in ethischer Kommunikation führt. Es gehört daher zur Ausbildung seelsorglicher Sprachkompetenz selbst, sich solche Spannungen ethischen Sprechens bewusst zu machen und sich dazu reflektiert zu verhalten. Zur kommunikativen Kompetenz gehört ebenso der Umgang mit verschiedenen Settings und Orten der Kommunikation. Insbesondere aus dem Wechsel zwischen formeller und informeller Kommunikation kann die Spannung erwachsen, welche Inhalte informeller Gespräche in die formelle Kommunikation einfließen dürfen und sollen. Im institutionalisierten Kontext einer Ethikberatung gehört hierzu ferner die Spannung zwischen zwei möglichen Sprecherrollen, der moderatorischen, das Gespräch insgesamt integrierenden Rolle und der positionellen, zum Gespräch aus einer bestimmten Perspektive beitragenden Rolle. Auch diese Spannungen verlangen einen reflektierten Umgang, dessen Einübung zur Entwicklung kommunikativer Kompetenz im ethischen Kontext gehört. Zum reflektierten Umgang mit Räumen der Kommunikation gehört schließlich auch der Umgang mit verschiedenen Zeitregimen ethischer Situationen. Wir haben gesehen, wie Seelsorgende sowohl an der Dynamisierung und Verlagerung von Entscheidungssituationen als auch an deren punktueller Zuspitzung beteiligt sind. Ähnlich gelagert ist auch die Spannung zwischen einer Entgrenzung der Kommunikationssituation durch Hinzuziehung weiterer potenziell Betroffener einerseits und einer zielführenden Schließung der Situation im Dienste pragmatischer Entscheidungsfindung andererseits. In all diesen Hinsichten wird deutlich, dass die seelsorgliche Kernkompetenz der Kommunikation im Kontext der Kommunikationsaufgabe „Ethik“ einer spezifischen Ausgestaltung bedarf, die die möglichen inneren Spannungen dieser Kommunikationssituation präsent hält und einen reflektierten Umgang mit ihnen ermöglicht. In diesem Sinne gilt es kommunikative Kompetenz als ethische Kompetenz in der Seelsorge zu entwickeln. 208 Siehe Kapitel 4.1, II. d.

306

Ethische Kompetenz in der Seelsorge

Deutungskompetenz: Seelsorgende vermögen es, Lebenssituationen im religiösen Horizont zu deuten. Dabei verwenden sie eine Fülle von Kategorien, die auch ethisch relevant sind. Mit der Verwendung dieser Kategorien verbinden sich wiederum Spannungen mit denen es reflektiert umzugehen gilt. Die seelsorgliche Sensibilität für Deutungsprozesse und Deutungskategorien, mithin die seelsorgliche Deutungskompetenz, gilt es wiederum als ethische Kompetenz zu entwickeln.209 Zu diesen Kategorien gehört zum einen die religiös-ethische Kernkategorie der Person. Die Spannungen zwischen der Zuschreibung eines Personstatus und des Absprechens personaler Qualitäten bzw. der Anerkenntnis der Entzogenheit einer Person wurden in Kapitel 3.5 eingehend dargestellt. Sie sind in gleicher Weise seelsorglicher wie ethischer Natur und müssen als solche reflektiert werden. In hermeneutischer Hinsicht gehört hierzu auch die Spannung zwischen dem Versuch, eine Person zu verstehen, und der Anerkennung einer bleibenden Fremdheit und Entzogenheit dieser Person. Auch dies kann etwa im Kontext der Ermittlung des mutmaßlichen Willens unmittelbare ethische Relevanz erhalten. Eine weitere religiös-ethische Kernkategorie ist die des Gewissens, deren Gebrauch durch die Seelsorgenden im Kapitel 3.4 dargestellt wurde. Hier ergab sich insbesondere im Kontext der Organisation Krankenhaus die Spannung zwischen der Gewissensbestimmtheit des Einzelnen, in der gegenüber allgemeinen Verhaltenserwartungen ein individueller Raum reklamiert wird, und der Zurücknahme eigener moralischer Überzeugungen zugunsten allgemeiner Regeln. Dies verbindet sich mit der alten religiösen Einsicht, dass wider das eigene Gewissen zu handeln schädlich ist, es aber auch einen Terror des Gewissens geben kann. Weiterhin gehört es zu den Deutungsleistungen von Seelsorgenden, Ambiguitäten und Ambivalenzen zum Ausdruck zu bringen und damit kommunizierbar zu machen. Hierzu gehören widersprüchliche Strebungen während der Suche nach einer Entscheidung und die Wahrnehmung von Schuldgefühlen nach

209 Zum Begriff der Deutung vgl. Barth, Religion, 10. Die Pointe des Deutungsbegriffs ist hier nicht die Zuordnung zu einem bestimmten religionsphilosophischen bzw. theologischen Programm. Mögliche Alternativbegriffe wären der Begriff der Erfahrung ( Jüngel), der Begriff der Wahrnehmung (Ricoeur) oder auch der Begriff des Diskurses (Schoberth). Ungeachtet aller Nuancierungen im Einzelnen wird Religion bzw. Glauben hier jeweils von einem hermeneutischen Elementarvollzug aus gedacht, mittels dessen etwas als etwas verstanden wird. In diesem Elementarvollzug verschränken sich die Lebenswirklichkeit des religiösen Subjekts bzw. des glaubenden Menschen mit dem symbolischen Material der (hier:) christlichen Tradition. Indem auch das professionalisierte theologische Verstehen der Seelsorgerin als Deutung bezeichnet wird, ist eine grundlegende Kontinuität zwischen religiösen bzw. glaubensmäßigen Elementarvollzügen und theologischer Reflexion behauptet. Jeweils weist der Deutungsbegriff darauf hin, dass es sich nicht um rein rezeptive, passive Vorgänge handelt; eine Deutung enthält immer auch ein aktives, formendes Moment.

Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge

307

einer solchen. Die Artikulation von Ambiguität kann dabei in Spannung treten zur notwendigen Herstellung von Eindeutigkeit, mit denen es Ethik in Entscheidungssituationen in der Klinik zu tun hat: Es muss irgendwann entschieden werden. Zu den Spannungen seelsorglicher Situationsdeutung gehört auch die zwischen Moral und Moralbegrenzung bzw. Moralkritik.210 Besonders relevant im seelsorglichen wie im ethischen Kontext ist die Spannung zwischen dem Eingeständnis, dass jemand sich schuldig gemacht hat, und der Begrenzung individueller Schuld durch entlastende Argumentation, durch kollektive Entscheidung oder durch rituelle Aufnahme bis hin zum Vergebungsritual. Schließlich gehört in den Kontext der seelsorglichen Deutungskompetenz auch die den Seelsorgenden zugeschriebene Funktion, für einen religiös wie ethisch ‚objektiven‘ Raum zu stehen: für eine Instanz, vor der man sich zu verantworten hat, die für das moralisch Gute und Richtige bürgt, für ein geistliches Amt, das Schuld zurechnen und vergeben kann.211 Psychologisch handelt es sich um Übertragungsprozesse, die bis hin zur theomorphen Überlastung gehen, aber durchaus positive Funktionen im Seelsorgegespräch erfüllen können.212 Die Spannung zwischen dieser ‚objektiven‘ Rolle der Seelsorge und dem Anspruch, auf Augenhöhe und in Solidarität mit allen Gesprächspartnern zu kommunizieren, ist theologisch etwa im Gegenüber von Amt und Person213 oder auch durch den Begriff des Bruchs im Seelsorgegespräch214 reflektiert worden. Die ethisch valenten religiösen Kategorien wie Person, Gewissen etc. sind also in sich spannungsvoll strukturiert. Es gehört zur Ausbildung der seelsorglichen Deutungskompetenz als ethischer Kompetenz, sich dieser Spannungen auch in ihren ethischen Aspekten bewusst zu sein und damit produktiv umzugehen. Dies gilt auch für die gleichsam auf einer höheren Ebene angesiedelte Spannung zwischen der bewussten Einführung theologisch-ethischer Kategorien und dem Verzicht auf religiös-theologische Semantisierung. Auch dazu müssen sich Seelsorgende verhalten. Liturgische Kompetenz: Die ethische Relevanz von Klinikgottesdiensten ist in ritualtheoretischer Perspektive in Kapitel 3.7 dargestellt worden. Insbesondere

210 Siehe Kapitel 4.1. 211 Etwa im Verständnis der Seelsorge als „Bezeugungsinstanz“; vgl. Drechsel, Gemeindeseelsorge, 126–151; vgl. die Abschnitte 3.4, II. c; 4.1, III. a. 212 Vgl. Gestrich, Fortbildung, 294; Stollberg, Gottesdienst, 226f. Stollberg formuliert: „Deshalb ist die Spannung zwischen persönlicher Begegnung von Mensch zu Mensch und ‚amtlichem‘ Besuch, zwischen Kirche und einzelnem Mitglied (oder auch Nichtmitglied) nicht vorschnell aufzulösen, sondern trotz aller Anstrengung, die uns das abverlangt, auszuhalten und aufrecht zu erhalten.“ (227) 213 Vgl. Drechsel, Gemeindeseelsorge, 126–151. 214 Vgl. Thurneysen, Seelsorge; Gräb, Lebensgeschichten, 226–230.

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Ethische Kompetenz in der Seelsorge

Kasualien bieten „Sprachgewähr“215 für Wahrnehmungen von Ambivalenzen und für Schulderfahrungen. Zudem kommunizieren Gottesdienste in Sprache wie in ritueller Handlung den unendlichen Wert jedes einzelnen Lebens. Damit entlasten sie die an ihnen Beteiligten vom moralischen Bekenntnis. Sie symbolisieren und stabilisieren durch dieses moralische Objektivitätsmoment den transmoralischen Grund, auf den sich Menschen in Seelsorgebeziehungen begegnen. Sie inszenieren sinnfällig die Reintegration derer, die sich schuldig gemacht haben, in die Gemeinschaft; sie inszenieren die Heilung des sozialen Risses, der durch potenziell schuldhafte Entscheidungen entsteht. Obwohl also Gottesdienste grundsätzlich nichtdiskursiv angelegt sind und in der Regel auch keine einzelnen diskursiven Elemente enthalten, stehen sie so in Bezug zum diskursiven Geschäft der Ethik.216 Klinikseelsorgende bedürfen also im hohen Maße der liturgischen Kompetenz: insbesondere in der Findung glaubwürdiger Sprach- und Gestaltungsformen in Grenzsituationen des Lebens. Vor allem aber müssen sie eine eigene Stellung entwickeln zu der in dieser Studie deutlich gewordenen Spannung zwischen der moralischen Imprägnierung von Ritualen (Inszenierung des unendlichen Wertes des Lebens) und der Wahrnehmung von Seelsorgenden, dass Gottesdienste auch als nachträgliche Affirmation von Entscheidungen, als Prozeduren des „Reinwaschens“ und „Absegnens“ verstanden und missbraucht werden können. Theologisch gesprochen ist die im Ritual vollzogene Inszenierung217 von Rechtfertigung immer als iustitia externa, als Handeln Gottes und nicht als Handeln der Menschen, zu verstehen und muss als solches zum Ausdruck kommen. Ein Beispiel für die glaubwürdige Inszenierung solcher äußeren Gerechtigkeit ist unseres Erachtens die Einbindung des Abendmahls in den im Kapitel 3.7 dargestellten Vergebungsgottesdienst.

c)

Ethische Metakompetenz

Für den Umgang mit ethischen Situationen in der Klinik ist es also unabdingbar, die seelsorglichen Kernkompetenzen als ethische Kompetenzen zu entwickeln. Dies geschieht wie im vorherigen Abschnitt dargestellt vor allem dadurch, dass Seelsorgende die mit diesen Kompetenzen verbundenen Spannungen in ethischen Situationen wahrnehmen und sich reflektiert zu ihnen positionieren. Gerade indem sie dies tun, verhalten sie sich zu ihren eigenen Kompetenzen. Hier geschieht der Überschritt von den Kompetenzen im Plural, verstanden als Bündel von Fertigkeiten und Fähigkeiten, zur Kompetenz im Singular, verstanden als 215 Vgl. Jetter, Symbol, 94. 216 Zum „Verkündigungsmoment“ der Seelsorge vgl. Klessmann, Krankenhausseelsorge, 19f; im Kontext der Ethik Roser, Klinikseelsorge. 217 Zum Begriff der Inszenierung vgl. etwa Meyer-Blanck, Inszenierung.

Die Elemente ethischer Kompetenz in der Seelsorge

309

Selbstorganisationsfunktion. Diese soll im Folgenden als ethische Metakompetenz entfaltet werden. Sie besteht im Grundsatz darin, die normativen Aspekte seelsorglichen Handelns in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen, zu reflektieren und das eigene Handeln entsprechend auszurichten. Neben dem Umgang mit Spannungen im Umfeld der kommunikativen, Deutungs- und liturgischen Kompetenz gehören dazu vor allem folgende Punkte: Zum einen geht es darum, das eigene moralische Involviertsein wahrzunehmen. Seelsorgende sind nicht nur ethische Reflekteure, sondern auch moralische Subjekte. Sie haben eigene moralische Überzeugungen, die gerade in den strittigen Fragen der Medizinethik hohe Bindungskraft haben können (Organspende, Schwangerschaftsabbruch und ähnliche Problemfelder). Die hiermit gegebene Spannung zwischen der moralischen Positionierung und der moralischen Selbstzurücknahme im Seelsorgegespräch ist bereits entfaltet worden. Zur ethischen Metakompetenz gehört es vor allem, das eigene moralische Involviertsein in die seelsorgliche Professionalität zu integrieren; es zu verstehen als unverzichtbare Voraussetzung für ethische Sensibilität und für die ethische Empathie, die moralischen Konflikte, in denen sich Gesprächspartner befinden, überhaupt wahrnehmen zu können. Gleichzeitig gilt es, die möglichen Gefahren moralischen Involviertseins in ethischen Situationen zur Kenntnis zu nehmen. Die moralische Überzeugung drängt dahin, sich als unmittelbar bindenden Spruch des Gewissens darzustellen und als solcher ethische Reflexion und Kommunikation zu verweigern. Die Kompetenz des Umgangs mit der eigenen moralischen Involviertheit lässt sich also verstehen als ethische Variante der Kompetenz, mit eigener Betroffenheit umzugehen, wie sie etwa der Gegenstand von KSA-Kursen ist.218 Zweitens gehört es zur ethischen Metakompetenz, eine eigene ethische Rolle im Team und in der Organisation zu finden. Die Spannung zwischen der Position des (vermeintlich) unabhängigen Grenzgängers einerseits und der vollständigen Identifikation mit Team und Organisation andererseits ist bereits entfaltet worden. Im Zuge dieser Rollenklärung ist auch zu reflektieren, inwieweit die Organisation als ganze Gegenstand der Seelsorge ist, inwieweit eine Seelsorgerin die möglicherweise an sie herangetragene Erwartung, die Einheit des Ganzen zu symbolisieren, für sich übernehmen will, oder ob sie eine eher positionelle Rolle bevorzugt.219 Die Klärung der ethischen Rolle wird umso wichtiger, je intensiver Seelsorgende einerseits in formelle Strukturen der Ethikberatung, andererseits in das behandelnde Team (etwa im Kontext der Palliativmedizin) eingebunden sind.

218 Vgl. Gestrich, Fortbildung, 293. 219 Siehe Kapitel 3.2.

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Ethische Kompetenz in der Seelsorge

Schließlich gehört es zur ethischen Metakompetenz, die widerstrebenden Handlungserwartungen, die sich auf den ersten Blick als Spannungen zwischen Seelsorge und Ethik darstellen, angemessen verstehen zu können. In dem Dilemma eines Behandlungsteams auf einer Palliativstation, einer eindeutigen Patientenverfügung auf Therapieverzicht Folge leisten zu müssen, gleichzeitig aber einem Angehörigen Zeit geben zu wollen, sich zu verabschieden, stehen nicht „Ethik“ und „Seelsorge“ gegeneinander. Beide Optionen haben normative und seelsorgliche Implikationen. Es handelt sich also um ein gleichzeitig ethisches und seelsorgliches Spannungsverhältnis, das als solches eine Positionierung erfordert. Im Kontext der Entwicklung ethischer Metakompetenz steht ferner die Arbeit an einem professionellen Berufsethos von Seelsorgenden, wie sie insbesondere im katholischen Kontext vorangetrieben worden ist.220 Dazu gehört die Ethik der Gesprächsführung, insbesondere der Vertraulichkeit, die sehr stark bereits ins seelsorgliche Berufsverständnis eingelassen ist. Dazu gehören ebenso Fragen des Umgangs mit Macht, mit Sexualität und auch mit den ökonomischen Aspekten des eigenen Handelns. Ebenso ist eine Ethik des Selbstumgangs nötig, wie sie insbesondere in der Seelsorgeausbildung unter dem Stichwort der „Sorge für sich selbst“ thematisch ist. Ein wesentlicher und noch weithin unabgegoltener Punkt eines seelsorglichen Berufsethos ist jedoch die Beziehung zu medizinethischen und rechtlichen Regelungen. Inwieweit fühlen sich Seelsorgende als Seelsorgende an die materialen Regeln und formalen Prozeduren medizinischer Ethik gebunden, und inwieweit gilt diese Gebundenheit nur für sie „im Ethikmodus“? Die unter dem Begriff des Gewissens aufgewiesene Spannung von starker Bindung des Einzelnen und allgemeiner Regelgeleitetheit kehrt hier auf der Ebene seelsorglicher Professionalität wieder. Daher ist es notwendig, ein inneres seelsorgerliches Verhältnis zur Medizinethik zu entwickeln, das über die säuberliche Trennung von „Seelsorgemodus“ und „Ethikmodus“ hinausgeht – ohne jedoch zu verdecken, dass hier potenziell Spannungen existieren, und dass medizinethische Professionalisierung auch nicht bedeuten kann, lediglich ein vorgegebenes Regelwerk auszuführen.221 Insgesamt geht es in der ethischen Metakompetenz also um eine umfassende Aneignung von „Ethik“ in die seelsorgliche Professionalität: Nicht in dem Sinne, dass ein Seelsorger nun zum Medizinethiker mutierte; sondern so, dass der theologisch reflektierte Umgang mit ethischen Situationen als Teil der seelsorglichen Berufsidentität verstehbar wird.222 Wie gezeigt, bedarf es eminent

220 Vgl. Rosenberger et al., Ethik-Kodex. 221 Zum Berufsethos von Seelsorgenden vgl. Körtner, Ethik, 113; Roser, Klinikseelsorge, 83f; Müller, Ethos. 222 Normative Aspekte seelsorglichen Handelns sind dabei nicht nur auf der abstrakten Ebene

Fazit: Ethische Kompetenz

311

theologischer Reflexionsinstrumente, um mit den aufgezeigten Spannungen umzugehen. Nur durch diese Integration des Ethischen in die seelsorgliche Berufsrolle bleibt also der lebendige Anschluss des Umgangs mit Ethik an die eigene theologische Tradition erhalten. Nur dadurch können Seelsorgende dann auch zur Pflege der Ethosformen und der Strukturen ethischer Reflexion in der Klinik aus eigenen Quellen beitragen – diejenige Leistung, die nach oben vorgetragener Auffassung als seelsorgliches Spezifikum im Umgang mit der Ethik in der Klinik verstanden werden sollte.223 Die hier gegebene Liste materialer Kompetenzen ist keineswegs abgeschlossen. Wichtig ist vor allem die als ethische Metakompetenz entfaltete Grundzuordnung: die Reflexion ethischer Implikationen seelsorglichen Handelns; der Ausbau seelsorglicher Kompetenzen als ethischer Kompetenzen; die Integration von Ethik in die seelsorgliche Professionalität; und zugleich die Aufrechterhaltung eines weiten Ethikverständnisses, wie es die Seelsorgenden in dieser Studie gezeigt haben.

III.

Fazit: Ethische Kompetenz sollte bereits in der grundständigen Seelsorgeausbildung entwickelt werden

Ethische Kompetenz in der Seelsorge besteht aus drei wesentlich aufeinander bezogenen Bereichen: der feldspezifischen ethischen Kompetenz, den seelsorglichen Kompetenzen als ethischen Kompetenzen und der ethischen Metakompetenz. In der Seelsorgeausbildung ist nun sicherzustellen, dass alle drei Bereiche ihren Ort in der Ausbildung haben. Für die spezifisch feldethischen Kompetenzen gibt es, wie oben dargestellt, ein breites Angebot von Schulungen bis hin zu berufsbegleitenden Studiengängen. Die seelsorglichen Kompetenzen im engeren Sinn werden in der klinischen Seelsorgeausbildung und in vergleichbaren Ausbildungsformen geschult. Prekär ist hingegen der Ort der Ausbildung ethischer Metakompetenz. Zwar wird zuweilen in Angeboten bereichsethischer Zusatzqualifikation auch das Thema seelsorglicher Rolle und Berufsidentität in kurzen Einheiten angesprochen; es erscheint aber fraglich, ob dies die geforderte Integration von Ethik in die seelsorgliche Professionalität tatsächlich zu leisten vermag. Vielmehr gilt es, bereits in der grundständigen Ausbildung seelsorglicher Kernkompetenzen die normativen Aspekte seelsorglichen Handelns zu bedenken und entsprechende Wahrnehmungs- und Reflexionskompetenz ausvon Seelsorgekonzepten zu suchen (so Bentele, Seelsorgekonzepte, 137–165). Sie zu bedenken gehört vielmehr direkt in das seelsorgliche Alltagsgeschäft. 223 In diese Richtung gehen die oben genannten Warnungen vor einer Überprofessionalisierung der Klinikseelsorge und deren Abkoppelung vom parochialen Pfarramt (I.).

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Ethische Kompetenz in der Seelsorge

zubilden. Die notwendige dritte Säule ethischer Kompetenz, die ethische Metakompetenz, ist also bereits in der grundständigen Seelsorgeausbildung zu verankern. In dem in diesem Buch vorgestellten Heidelberger Modul wird eine Ausbildungseinheit vorgeschlagen, die sich insbesondere in Kurse der Klinischen Seelsorgeausbildung oder auch in andere Modelle der Seelsorgeausbildung, etwa das kombinierte Modell der Evangelischen Landeskirchen in Baden,224 integrieren lässt. Es mag eingewandt werden, dass Kurse der grundständigen, insbesondere der Klinischen Seelsorgeausbildung bei weitem nicht nur für Klinikseelsorgende durchgeführt werden. Vielmehr wird am Beispiel des seelsorglichen Praxisfeldes der Klinik eine Ausbildung für Seelsorge insgesamt angezielt.225 In vielen Landeskirchen absolvieren alle Vikarinnen und Vikare, die sich auf die Gemeindeseelsorge vorbereiten, einen Kurs der Klinischen Seelsorgeausbildung. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Ausbildung ethischer Kompetenz dort fehl am Platz wäre. Im Gegenteil: Wenn, erstens, das Praxisfeld der Klinik ernst genommen wird, gilt es, dieses auch in seinen ethischen Aspekten zu erfahren. Zweitens sind es Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer, die oftmals Pflegeheime auf ihrem Gemeindegebiet betreuen. Auch wenn in diesen die Etablierung ethischer Kommunikationsstrukturen noch nicht so fortgeschritten ist wie in den Kliniken, so liegt hier doch ein großes Feld medizinethischen Reflektionsbedarfs vor. Viele Behandlungsentscheidungen am Lebensende werden nicht im Krankenhaus, sondern im Pflegeheim gefällt. Eine entsprechende Professionalisierung ist überfällig; eine entsprechende Kompetenzentwicklung bei Gemeindepfarrerinnen und -pfarrern erscheint daher überaus wünschenswert. Drittens und vor allem aber ist es auch die Gemeindeseelsorge selbst, die normative Implikationen hat, die es mit ethischen Dilemma-Situationen, Entscheidungskonflikten und Schulderfahrungen aufgrund von Lebensentscheidungen zu tun hat. Auch sie bedarf der ethischen Kompetenz. Auch von hier aus erscheint ethische Kompetenz als integral dem Pfarrberuf als Seelsorgeberuf zugehöriges Moment, und nicht als ein isolierter Komplex spezifischer Methoden. Gerade die Klinische Seelsorgeausbildung und vergleichbare grundständige Seelsorgeausbildungen erscheinen mithin als probate Orte, ethische Metakompetenz zu entwickeln und damit Ethik als Teil seelsorglicher Berufsidentität zu integrieren. Hierfür bedarf es zum einen der Unterrichtseinheiten und Ausbildungsmaterialien, für die im Folgenden ein Beispiel geboten wird. Hierfür bedarf es zum anderen der Aufmerksamkeit der Lehrenden, also der Seelsorgerausbilderinnen und -ausbilder. Sie sind es vor allem, die über eine rein pastoralpsychologische oder systemische Ausrichtung der Aus224 Vgl. Zentrum für Seelsorge der evangelischen Landeskirche in Baden, Seelsorge, 29f. 225 Zur Ausrichtung von KSA-Kursen vgl. Gestrich, Fortbildung.

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

313

bildung hinaus die normativen Implikationen der Seelsorge im Blick haben müssen, die also selbst einer geschulten Aufmerksamkeit und Reflexionskompetenz auf dem Feld der Ethik bedürfen. Ethische Kompetenz im oben entfalteten dreifachen Sinne ist also nicht nur Gegenstand der Seelsorgeausbildung, sondern muss auch konsequent in die Standards für die Ausbildung der Ausbilder aufgenommen werden. Für die jetzige Generation der Ausbilderinnen und Ausbilder, die ihre eigenen wesentlichen Erfahrungen im Praxisfeld der Klinik oft noch vor der Etablierung einer professionalisierten Medizinethik im Krankenhaus gemacht haben, bedarf es daher guter Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Auch dabei mögen die Lektüre dieses Buches sowie die Verwendung des vorgeschlagenen Ausbildungsmoduls von Nutzen sein.

4.3

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

I.

Seelsorgedidaktische Überlegungen a) Zur Operationalisierung ethischer Metakompetenz b) Der Kontext der grundständigen Seelsorgeausbildung c) Die Struktur des Heidelberger Moduls II. Die einzelnen Einheiten a) Einführungseinheit: Ethik und Seelsorge b) Begleitprozess: Ethische Fragestellungen in Protokollbesprechungen c) Einzelne Themeneinheiten je nach Bedarf III. Erfahrungen und Varianten

In Kapitel 4.2 wurde ethische Metakompetenz als Kern ethischer Kompetenz in der Seelsorge entfaltet. Sie steht neben und über den anderen beiden Bereichen ethischer Kompetenz, nämlich der ethischen Feldkompetenz einerseits und den als ethische Kompetenzen entwickelten seelsorglichen Kompetenzen andererseits. Ethische Metakompetenz ist im Kern die umfassende Aneignung von „Ethik“ in die seelsorgliche Professionalität. Neben einer grundsätzlichen Sensibilität für das Thema Ethik umfasst sie den theologisch reflektierten Umgang mit ethischen Situationen im Seelsorgeberuf, insbesondere mit der eigenen moralischen Involviertheit, wie auch eine Klärung der eigenen ethischen Rolle und der Grundzüge eines seelsorglichen Berufsethos. Ferner gehört zu ihr die Wahrnehmung seelsorglicher Kompetenzen als ethischer Kompetenzen sowie die Indienstnahme ethischer Feldkompetenz und, falls notwendig, deren gezielte Erweiterung. Im Unterschied zu anderen seelsorglichen Kompetenzen und auch zur ethischen Feldkompetenz hat die ethische Metakompetenz bislang keinen

314

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

festen Ort in der seelsorgerischen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Dem soll mit dem hier vorgeschlagenen Ausbildungsmodul Abhilfe geschaffen werden. Das Modul ist für die Klinische Seelsorgeausbildung oder vergleichbare grundständige Seelsorgeausbildungen konzipiert, kann aber auch in spezialisierten Fortbildungen für Klinikseelsorgende verwendet werden. Die seelsorgedidaktischen Überlegungen (I.) bilden das Scharnier zwischen den theoretischen Überlegungen in 4.2 und der konkreten Anwendung in der Ausbildungspraxis. Dabei wird der Ausbildungskontext von Seelsorgekursen reflektiert und die Struktur des Heidelberger Moduls vorgestellt. Es folgen eine anwendungsorientierte Darstellung der einzelnen Elemente (II.) und abschließend ein kurzer Bericht aus der Erprobung der Modelle sowie eine Reflexion der Anwendung auf alternative Ausbildungskontexte (III.).

I.

Seelsorgedidaktische Überlegungen

a)

Zur Operationalisierung ethischer Metakompetenz

Die Ausbildung ethischer Metakompetenz kann, wie aller Kompetenzerwerb, nur im Modus der Selbstbildung erfolgen. Um eine solche Selbstbildung anzuregen, verfolgt das vorgeschlagene Ausbildungsmodul sechs Teilziele. Diese ergeben sich aus der Entfaltung ethischer Metakompetenz in Kapitel 4.2 und dienen deren Operationalisierung. 1. Grundlegend ist in Anknüpfung an eigene Erfahrungen eine grundlegende Sensibilisierung für das Thema Ethik im Kontext der Klinikseelsorge angezielt. 2. Darüber hinaus gilt es, verschiedene ethische Situationen als solche kennenzulernen und in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen. 3. Ferner soll die Reflexion über die Rolle von Seelsorge in solchen ethischen Situationen angestoßen und die Klärung des Umgangs mit eigener moralischer Involviertheit angebahnt werden. 4. Ein weiteres Ziel ist die Anbahnung einer Reflexion darüber, wie seelsorgliche Kompetenzen in ethischen Situationen zum Tragen kommen und welche Spannungen sich daraus ergeben können. 5. Auch ethische Feldkompetenz wird exemplarisch zu erwerben sein; dabei geht es vor allem darum, ein Sensorium dafür zu entwickeln, wann eine gezielte eigene Weiterbildung auf dem Gebiet ethischer Feldkompetenz angezeigt ist. 6. Das sechste und letzte Teilziel ist es, die Stabilisierung der Aufmerksamkeit für Ethik in der eigenen Seelsorgetätigkeit und damit die Verstetigung ethischer Metakompetenz anzuregen.

Seelsorgedidaktische Überlegungen

315

Aus diesen Teilzielen der Entwicklung ethischer Metakompetenz werden im Folgenden der grundsätzliche Aufbau und wesentliche didaktische Vorentscheidungen der Ausbildungseinheit „Ethik in der Seelsorge“ entwickelt. (1.) Die grundlegende Sensibilisierung für das Thema Ethik soll durch einen erfahrungsorientierten Ansatz ermöglicht werden. Dazu gehört, dass zunächst der Reflexion eigener bisheriger Erfahrungen mit dem Thema Ethik und der Vergegenwärtigung des eigenen Ethikverständnisses Raum gegeben werden muss. Dazu gehört es zweitens, auch innerhalb der Ausbildungseinheit zur Ethik Erfahrungen zu ermöglichen und diese wiederum zu reflektieren. Eine frontaldidaktische Unterrichtshaltung mit Vortrag und anschließender Diskussion erscheint von daher als unzureichend und würde sich auch nicht in einen ansonsten stark erfahrungsorientierten Seelsorgekurs integrieren. Ihr gegenüber ist einem Wechsel zwischen Erprobungsphasen und Reflexionsphasen im Gruppengespräch der Vorzug zu geben. Nichtsdestotrotz gehört zur Sensibilisierung für das Thema Ethik auch die Vermittlung eines Verständnisses dafür, dass Ethik es auch mit Wissen um Sachverhalte, Prozeduren und Normen in einem hochdynamischen Feld zu tun hat. Also sind auch wissensorientierte Ausbildungseinheiten (Impulse) zu integrieren (siehe auch 5.). (2.) Das Teilziel einer Wahrnehmung der Unterschiedlichkeit ethischer Situationen soll im vorgeschlagenen Ausbildungsmodul durch die Erprobung verschiedener ethischer Situationen im Modus des Planspiels erfolgen. Das Ausbildungsmodul besteht in seinem Kern aus der Gegenüberstellung einer ethischen Fallbesprechung – als hoch formalisierter ethischer Situation – einerseits und einem bzw. mehreren ‚klassischen‘ Seelsorgegesprächen, die ebenfalls ethische Situationen darstellen, ohne jedoch formalisiert zu sein. Die beiden Planspiele, „Individualseelsorge“ und „ethische Fallbesprechung“ werden nach Rollenanweisungen durchgeführt und anschließend im Gruppengespräch reflektiert. (3.) Die Sensibilisierung für die Seelsorgerolle in verschiedenen ethischen Situationen soll dadurch erfolgen, dass in den Planspielen durch entsprechende Rollenanweisungen jeweils verschiedene Seelsorgerollen vorgegeben werden. So sollen an der ethischen Fallbesprechung (Block 3) – eine ausreichende Teilnehmerzahl vorausgesetzt – bis zu drei Teilnehmende als Seelsorgerin oder Seelsorger auftreten. Ihnen sind die Rollen der Moderatorin/des Moderators, der seelsorglichen Patientenbegleitung sowie eine dritte, nicht weiter spezifizierte Seelsorgerolle vorgegeben. Im auf das Planspiel folgenden Gruppengespräch sollen diese verschiedenen Seelsorgerollen durch die Akteure und Akteurinnen und die Beobachtenden gleichsam von innen und von außen reflektiert werden. In den Planspielen zur Individualseelsorge enthalten die Rollenanweisungen der Klienten bestimmte Erwartungen an die Seelsorge. Hier erscheinen Seelsorgerollen also im Modus der Rollenzuschreibung (der sozialen Erwartung).

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Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

(4.) Der Umgang mit seelsorglichen Kernkompetenzen im Umfeld ethischer Situationen ist auf verschiedene Weise in die Planspiele eingelassen. So ist auf dem Feld der kommunikativen Kompetenz etwa der Wechsel zwischen der formalisierten Kommunikation einer ethischen Fallbesprechung einerseits und der informell-lebensweltlichen Kommunikation des Seelsorgegesprächs andererseits zu erproben und zu reflektieren. Auch die kommunikativen Anforderungen der Moderationsrolle gehören in dieses Gebiet. Auf dem Gebiet der Deutungskompetenz werden die Seelsorgenden unter anderem im Planspiel „Individualseelsorge“ (Block 2) mit verschiedenen Klientinnen und Klienten konfrontiert, deren Rollenanweisungen das Thema des Umgangs mit Schuld oder des individuellen Gewissens im Kontext der Organisation zum Zentrum des Seelsorgegesprächs machen. Auch wenn es sich bei den Planspielen um artifizielle Situationen handelt, so können diese doch eine Ahnung davon vermitteln, welche Bedeutung seelsorgliche Kompetenzen unter den Anforderungen ethischer Situationen haben und welche Gefährdungen sich damit verbinden können. (5.) Spezifische ethische Feldkompetenz wird im Planspiel insbesondere dadurch vermittelt, dass die ethische Fallbesprechung nach dem geläufigen Nimwegener Modell durchgeführt wird. Es liegt als Planspielanweisung allen Teilnehmenden vor. Zudem liegt den Planspielen das Thema einer Therapieentscheidung am Lebensende und damit eines der wichtigsten ethischen Themen in der Klinik wie im Pflegeheim überhaupt zugrunde. Darüber hinaus sieht das Ausbildungsmodul die Möglichkeit vor, dass weitere ethische Themen anlassbezogen behandelt werden können. (6.) Dem letzten Teilziel einer Verstetigung ethischer Aufmerksamkeit dient der Begleitprozess, der auf die Einführungseinheit folgt. In Verlauf des Begleitprozesses werden die ethisch interessanten Situationen oder Aspekte aus den während der Seelsorgeausbildung diskutierten Verbatims auf einer Pinnwand oder einem großen Poster festgehalten und im Schlussteil des Kurses noch einmal ausgewertet. Auf diese Weise soll es ermöglicht werden, Ethik als Aspekt zahlreicher seelsorglicher Situationen wahrzunehmen. Selbstverständlich kann damit eine Verstetigung ethischer Aufmerksamkeit über den Zeitraum der Ausbildung hinaus nicht gewährleistet werden. Aber es soll eine Anregung zur Stabilisierung ethischer Sensibilität gegeben werden.

b)

Der Kontext der grundständigen Seelsorgeausbildung

In der grundständigen, d. h. noch nicht auf ein spezielles Seelsorgefeld ausgerichteten Ausbildung von Seelsorgenden gibt es verschiedene Konzepte. Die Klinische Seelsorgeausbildung ist hier sicherlich die prominenteste; daneben

Seelsorgedidaktische Überlegungen

317

stehen Modelle, die etwa systemische oder psychologische Aspekte der Seelsorge intensiver berücksichtigen.226 Das hier vorgeschlagene Ausbildungsmodul lässt sich in verschiedene Kursmodelle integrieren, wie im Folgenden am Beispiel eines sechs- oder zwölfwöchigen KSA-Kurses demonstriert wird. KSA-Kurse stellen eine spezifische Lernumgebung dar, deren Besonderheiten zu berücksichtigen sind.227 So entspricht der starke Praxis- und Erfahrungsbezug des vorgeschlagenen Kursmodells der Grundausrichtung der KSA-Kurse. Der intensive Gruppenprozess des KSA-Kurses mit seiner sensiblen Selbst- und Fremdbeobachtung kann sehr gut auch für die Entwicklung ethischer Kompetenz genutzt werden. Dabei ist das Ausbildungsmodell anschlussfähig an unterschiedliche Vorerfahrungen und Arbeitskontexte der Teilnehmenden, wobei das Praxisfeld der Klinik bzw. des Pflegeheims im Zentrum steht. Angestrebt ist eine methodische Vielfalt mit starken dialogischen Elementen. Doch auch Impulse „von außen“ werden eingeführt, die neue Reflexionsperspektiven eröffnen. Die einzelnen Einheiten sind flexibel kombinierbar und lassen sich mit dem übrigen Kursgeschehen gut verzahnen; eine flexible Anpassung an die Interessen der Teilnehmenden und an die Struktur (den Fraktionierungsgrad) des Kurses ist möglich. Die einzelnen Einheiten sind durch Kursleitende selbst anhand des bereitgestellten Materials durchführbar; bei Spezialthemen kann die Einbeziehung externer Referentinnen und Referenten hilfreich sein. Auch in Modellen der Seelsorgeausbildung, die nicht allein das Praxisfeld der Klinik einbeziehen, ist eine Implementation des vorgeschlagenen Moduls möglich. So kann das Planspiel „Ethische Fallbesprechung“ umstandslos auch in einem Pflegeheim auf dem Gebiet einer Pfarrgemeinde situiert werden. Lediglich dann, wenn in Kursgestaltung und Teilnehmendeninteressen gar kein Bezug zu medizinethischen Fragen vorhanden ist, sollte das Modul nicht durchgeführt werden. c)

Die Struktur des Heidelberger Moduls

Das vorgeschlagene Ausbildungsmodul besteht aus drei unterschiedlichen Einheiten, für die jeweils ausgearbeitete Ablaufpläne und Materialvorschläge vorliegen. Sie können im Rahmen einer stabilen Grundstruktur (insbesondere der Zweigliederung aus Einführungseinheit und Begleitprozess) flexibel kombiniert werden. Der gesamte Zeitaufwand beträgt mindestens vier (und je nach Teilnehmerinteressen gegebenenfalls ein bis zwei zusätzliche) Blöcke à 90 Minuten.

226 Siehe dazu Kapitel 4.2, III. 227 Vgl. dazu Piper, Seelsorge-Ausbildung.

318

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

a) Eine Einführungseinheit (3 aufeinanderfolgende Blöcke à 90 min) in der 2. oder 3. Kurswoche eröffnet das Thema und legt die Grundlage für die Entwicklung ethischer Metakompetenz. b) Ein Begleitprozess (1–2 Blöcke à 90 min) in der Mitte und gegen Ende des Kurses vertieft die Reflexionsperspektive „Ethik“ während des Kurses. c) Einzelne Themeneinheiten ( je 90 min) können je nach Teilnehmerinteressen anlassweise eingesetzt werden. Eine Einheit sollte je nach verfügbarer Zeit Bestandteil des Begleitprozesses sein.

II.

Die einzelnen Einheiten

a)

Einführungseinheit: Ethik und Seelsorge

In der Einführungseinheit werden vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Teilnehmenden Grundfragen des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik besprochen. Vorerfahrungen der Teilnehmenden kommen zu Wort, Interessenschwerpunkte werden benannt und gewichtet. Als wesentliche Voraussetzung für den Umgang mit ethischen Fragen in der Seelsorge wird die Einbindung von Seelsorgenden in die Organisationsabläufe der Klinik reflektiert (Block 1). Der Schwerpunkt der Einführungseinheit liegt darin, zwei zentrale Handlungsfelder zu erschließen, in denen Seelsorgende mit ethischen Fragen konfrontiert werden. Das sind zum einen die Individualseelsorge und zum anderen die institutionalisierte Ethikberatung. Methodisch werden diese durch zwei aufeinander bezogene Planspiele aufbereitet. Ausgehend von einem typischen Fall mit ethischem Konfliktpotenzial (Therapieentscheidung am Lebensende) werden unterschiedliche Konstellationen von Gesprächen der Individualseelsorge durchgespielt, die sich im Kontext dieses ethischen Problems ergeben können (Block 2). Anschließend wird mit demselben Fall eine ethische Fallbesprechung (Konsil) mit verteilten Rollen nachgespielt; dabei lernen die Teilnehmenden die organisierte Ethikberatung im Allgemeinen sowie im Hinblick auf die möglichen Rollen von Seelsorgenden dort kennen. Zudem vertiefen sie ihre Kenntnisse in einem wichtigen materialen Feld klinischer Ethik (Block 3). In Gruppengesprächen werden nach den Planspielen jeweils die Eindrücke der Akteurinnen und Akteure sowie Beobachterinnen und Beobachter reflektiert.

Block 1: „Ethik in der Klinik“ – Vorerfahrungen, Interessen und Selbstverortung Einführung: Seelsorgende sind vielfach in Prozesse klinischer Ethik involviert. Sie nehmen an Gremien Klinischer Ethikberatung teil, moderieren Ethik-Komitees, beraten Patientinnen und Patienten sowie Angehörige individuell. Dabei

319

Die einzelnen Einheiten

ergibt sich ein spezifisches Spannungsfeld, unter dem Seelsorge steht: Auf der einen Seite ist in der Klinischen Ethikberatung das moralische Urteil unabdingbar. Es geht um Positionierung, um Beratung in Entscheidungssituationen und um Urteilsbildung. Auf der anderen Seite sind Seelsorgende von ihrer Ausbildung und ihrem Berufsverständnis her in der Regel so orientiert, dass sie im moralischen Urteil eher zurückhaltend sind. Ihr Paradigma ist das Begleiten von Menschen in schwierigen Situationen, aber nicht das Fällen moralischer Urteile. Ziel: Vor dem Hintergrund dieses Spannungsfeldes ist es das erste Ziel von Block 1, dass die Teilnehmenden (TN) sich ihre praktischen Vorerfahrungen und Interessenschwerpunkte zum Thema „Ethik in der Klinik“ bewusst machen. Des Weiteren sollen sie Modelle der seelsorglichen Inanspruchnahme für Ethikberatung und andere Prozesse ethischer Entscheidungsfindung kennenlernen und sich selbst mit ihrem beruflichen Selbstverständnis darin verorten. Durchführung: Thema und Dauer (1) Erfahrungen der TN mit Ethik in der Klinik; Einführung in Modul (30 min)

Ziel (Z) und Kompetenzen (K) Z: TN tauschen Praxiserfahrungen und Interessen aus

Methoden/ Sozialformen Kartenabfrage und Clusterung

Material/ Bemerkungen Karten ggf. in verschiedenen Farben, Stifte Kapitel 4.1, I.; 4.3, I. c

(2) Impuls zur seelsorglichen Einbindung im Krankenhaus (15 min) (3) Seelsorgliche Einbindung im Krankenhaus (30 min)

Z: TN kennen Modelle der Einbindung von Seelsorge im Krankenhaus K: Feldkompetenz Z: TN können sich selbst als Seelsorgende im Krankenhaus verorten K: Ethische Metakompetenz, v. a. ethische Rolle

Impuls und Rückfragemöglichkeit

Kapitel 2.2

(4) offenes Gespräch (15 min)

offene Fragen Gruppengespräch werden geklärt oder notiert

Einzelarbeit mit Frage- M I bogen (10 min); Auswertung im Gruppengespräch (20 min)

(1) Die Leitungsperson (L) fragt die Teilnehmenden (TN), welche praktischen Erfahrungen und Interessen sie mit „Ethik in der Klinik“ verbinden. Die TN notieren Stichpunkte auf Karten, erläutern ihre Stichpunkte mündlich und legen

320

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

die Karte in die Stuhlkreismitte. Gegebenenfalls können verschiedene Kartenfarben für Erfahrungen und Interessen verwendet werden. L nimmt gemeinsam mit der Gruppe eine Clusterung der Stichworte vor. Dazu können die Karten mit Blick auf eine der folgenden Fragen geordnet werden. • Welche Anlässe gab es für ethische Konflikte? Handelt es sich eher um eine Beratungsanfrage (so etwa Hilfe bei der Auslegung einer Patientenverfügung, Ratschlag bei einer Therapieentscheidung, Frage nach moralischem Standpunkt), oder um eine Begleitungsanfrage (so etwa ein Gespräch ohne vorgegebenes Ziel, Abschiedsritual, Trauerbegleitung von Angehörigen)? • Welche Themen standen im Zentrum (so etwa Sterbebegleitung, Schwangerschaftsabbruch, künstliche Ernährung, dringende Therapieentscheidung, Schweigepflicht)? L fasst das Ergebnis zusammen und gibt einen Impuls zu den Spannungen, die sich in der Seelsorge in der Konfrontation mit Ethik ergeben können (siehe Kapitel 4.1, I.), und zur Struktur des Heidelberger Moduls (siehe Kapitel, 4.3, I. c). TN stellen Rückfragen. L sichert die Clusterung im Anschluss an die Sitzung fotografisch. Im Anschluss an die Sitzung können die Karten geclustert an einer Pinnwand angebracht werden. Es empfiehlt sich, die Karten mit den thematischen Interessen der TN an eine separate „Ethikwand“ zu heften, die mit Blick auf den Begleitprozess (Modulteil b) weiter verwendet wird. (2) L gibt auf der Grundlage der Beispiele aus Kapitel 2.2 einen Impuls zur Frage, wie Seelsorge in ethische Prozesse in der Klinik eingebunden ist. Alternativ können die TN einen Textauszug gemeinsam im Plenum lesen und diskutieren. Hierfür eignen sich folgende Beispiele (a-c) aus Kapitel 2.2: (a) Die Seelsorgerin Susanne Christlieb sieht sich als Teil des Behandlungsteams und nimmt regelmäßig an Dienstbesprechungen teil. Dadurch ist sie früh im Bilde, ob sich bei der Behandlung bestimmter Patienten ethische Fragestellungen ergeben. (Siehe Kapitel 2.2, II. a) (b) Die Seelsorgerin Carla Drews hat eine moderierende Rolle im Ethikkomitee übernommen. Sie sieht ihre Rolle darin begründet, dass sie aufgrund ihrer außenstehenden Position auf hohe Akzeptanz bei allen Mitarbeitern stößt. (Siehe Kapitel 2.2, II. b) (c) Die Seelsorgerin Kerstin Heine beschreibt einen Rollenwechsel. Bei einer interdisziplinären Teambesprechung hatte sie die Moderation inne und wechselte im Anschluss die Rolle, als sie sich zum selben Fall auf ein seelsorgliches Gespräch einließ. (Siehe Kapitel 2.2, II. c)

Die einzelnen Einheiten

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(3) L händigt Material (M I) aus und bittet TN, in Einzelarbeit die Fragen für sich zu beantworten. Die Beispiele und Antworten werden im Gruppengespräch ausgewertet. (4) Das geführte Gruppengespräch geht über in eine offene Gesprächsrunde, in der offene Fragen geklärt oder notiert werden. Block 2: „Individualseelsorge“ Einführung: Seelsorgende wirken nicht nur im Rahmen formalisierter Prozesse an ethischen Entscheidungen mit, sondern gestalten auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten ethische Situationen (vgl. Kapitel 2.1 und M II). Das kann das Gespräch auf dem Flur mit einer Pflegekraft sein, die ihre Bedenken gegenüber einer bestimmten Behandlung äußert. Das kann aber auch das Abschiedsritual mit Angehörigen am Bett des verstorbenen Patienten sein, bei dem ein Ethikkonsil für eine Therapiebeendigung votiert hatte. Seelsorgende geben der ethischen Entscheidung eine zeitlichen und räumlichen Rahmen und wissen, wie sie verschiedene, teils provisorische Orte für Gespräche und Rituale nutzen können. In diesen ethischen Situationen außerhalb der formalisierten Entscheidungsprozesse kommen seelsorgliche Kompetenzen als ethische Kompetenzen zum Tragen (Kommunikationskompetenz, Deutungskompetenz, Liturgische Kompetenz). Aufgrund der Anschlussfähigkeit an die Situationen, mit denen es Seelsorgende tagtäglich zu tun haben, wurden als Einstieg in die Planspiele verschiedene individualseelsorgliche Beispiele (Block 2) als Ausgangspunkt gewählt. Block 3 widmet sich auf Grundlage desselben Fallbeispiels der Simulation einer ethischen Fallbesprechung. Ziel: Im Planspiel von Block 2 werden seelsorgliche Situationen als ethische Situationen erkennbar. Durch die Gesprächssimulationen mit unterschiedlichen Klientinnen und Klienten werden gleichermaßen die kommunikative Kompetenz wie auch die Deutungskompetenz angesprochen. So müssen sich die TN auf unterschiedliche Gesprächssettings einstellen und ethische Dimension des Gesprächs deutend gestalten. Des Weiteren wird ethische Metakompetenz angebahnt, wenn Seelsorgende ihre ethische(n) Rolle(n) in den Gesprächssettings reflektieren. Auch die ethische Feldkompetenz wird mit einem Impuls geschult, der eine Übersicht über ethische Situationen außerhalb der formalisierten Ethikberatung gibt.

322

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

Durchführung: Ein Planspiel zielt auf Lernen durch Erfahrung. In einem vorgegeben Setting werden die Rollen verschiedener Akteurinnen und Akteure übernommen und Abläufe aus dieser Rolle erlebt.228 Eine ‚echte‘, das heißt aus der Literatur bekannte Fallkonstellation bildet die Grundlage der beiden Planspiele in Blöcken 2 und 3 (M III, nur zur Information für L). Sie wurde inhaltlich angereichert, damit die Planspiele auch für Menschen zugänglich sind, die mit dem medizinischen Fachjargon nicht vertraut sind. Thema und Dauer (1) Vorbereitung des Planspiels (10 min)

Ziel (Z) und Kompetenzen (K)

Methoden/ Sozialformen Gruppeneinteilung, Erläuterung von M IV

(2) Individualseelsorge mit verschiedenen Beteiligten an einem „Fall“ (insgesamt 30 min)

Z: TN beziehen den Kommunikationskontext „Individualseelsorge“ auf Medizinethik TN erkennen Perspektivwechsel und Rollenkonflikte K: Seelsorgliche Kompetenzen als ethische Kompetenzen

Planspiel: Klient/in, Seelsorger/-in, Beobachter/-in, verschiedene Rollenanweisungen für verschiedene ‚Problemtypen‘, Orte, Klienten

5 min

10 min 15 min (3) Auswertung im Plenum (40 min) (4) Offenes Gespräch und möglicher Impuls (10 min)

Material/ Bemerkungen M IV

M IV Papier, Stifte TN teilen sich in Dreiergruppen auf: jeweils ein/e Beobachter/-in, ein/e Seelsorger/-in und ein „Klient“ bzw. eine „Klientin“. Einlesen in die Rolle (Seelsorge: Einstellen auf Kliniksituation; Klient: Rollenimagination) bzw. in die Fragestellungen (Beobachter/-in)

Planspiel „Gespräch“ Rückmeldung des Beobachters/der Beobachterin an die Spieler und Gespräch (in der Kleingruppe) Z: TN reflektieren Seelsorgerollen K: Ethische Rolle Offene Fragen werden geklärt oder notiert. Möglicher Impuls zu ethischen Situationen

Gruppengespräch im Plenum Gruppengespräch

M II Kapitel 2.1, III

Zur Vorbereitung von Block 2 stellt L sicher, dass genügend Räume zur Verfügung stehen, damit jeweils drei TN in parallelen Sitzungen ein Seelsorgegespräch simulieren können. Dies kann auch eine Sitzgruppe im Gang, eine Teeküche etc. sein – für die Klinikseelsorge nicht ungewöhnliche Gesprächsorte. Außerdem 228 Hintergründe zur Methode und Vorschläge zum Ablauf von Planspielen bietet die Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/planspiele/.

Die einzelnen Einheiten

323

sollten die entsprechenden Materialien für alle TN kopiert vorliegen und Stifte und Schreibpapier vorhanden sein. (1) Zu Beginn gibt L eine Übersicht über die Schritte von Block 2. Die ausformulierte Fallkonstellation (M III) wird nicht offen gelegt; sie liegt nur L und nicht den TN vor. TN können M III auf Wunsch nach den beiden Planspielen von Blöcken 2 und 3 erhalten. TN teilen sich in Dreiergruppen auf und verteilen die Rollen. Wenn es die Gruppengröße notwendig macht, können auch vier TN in eine Gruppe gehen, in der dann zwei Personen die Beobachterrolle spielen. Es ist sinnvoll, möglichst viele verschiedene Gesprächskonstellationen parallel zu spielen ( je nach Gruppengröße, priorisiert in der Reihenfolge von M IV). L erläutert das Vorgehen: Zuerst werden die Rollen innerhalb der Gruppe verteilt, bevor das Einlesen in die Rollen erfolgt. (2) Dann simulieren die Kleingruppen jeweils ein Seelsorgegespräch mit einem Klienten, der in spezifischer Weise mit dem „Fall“ in Verbindung steht. Während des inszenierten Gesprächs ist es Aufgabe der Beobachtenden, ihre Eindrücke der seelsorglichen Rolle zu protokollieren. In einer ersten kurzen Auswertungsphase geben die Beobachtenden Rückmeldung an die Spielenden, wie sie das Gespräch erlebt haben. Die Spielenden haben die Gelegenheit zu reagieren. (3) Nach der vorgegebenen Zeit kommen die Kleingruppen im Plenum zusammen und reflektieren die inszenierten Seelsorgerollen. Dabei bietet es sich an, die Wahrnehmungen der Beobachtenden als Ausgangspunkt der Diskussion zu nehmen. Mögliche Fragen: • Beobachterinnen und Beobachter: Welche Rolle ist S. (Seelsorger/-in) angetragen worden? Welche hat er/sie eingenommen? • Klientinnen und Klienten: Wie haben Sie S. erlebt? • Seelsorgende: Wie ist es Ihnen mit der Konfrontation mit Ethik gegangen? L bündelt die Ergebnisse hinsichtlich der eingenommenen Seelsorgerollen, ihrer Chancen und Schwierigkeiten, und hält sie ggf. auf Karten oder an einer Flipchart fest. L kann die Diskussion beispielsweise entlang möglicher Rollen der Seelsorgenden zusammenfassen: Ethikexpertin, freundschaftlicher Berater, Religionsexperte, Anwältin der Patienten, Teil des Teams, Außenseiter. (4) Es sollte ein Puffer von 10 Minuten eingerechnet werden, der für die Klärung offener Fragen verwendet werden kann. Ein Impuls zur Klassifikation ethischer Situationen ist anhand von M II (und Kapitel 2.1, III) möglich.

324

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

Block 3: „Ethische Fallbesprechung“ Einführung: Seelsorgende sind in der Klinik in verschiedenen Funktionen in der formalisierten Ethikberatung beteiligt: als klinische Ethikberaterinnen, als Vorsitzende Klinischer Ethikkomitees, als am Fall unbeteiligte Mitglieder eines Ethikgremiums oder als seelsorglich in den Fall Involvierte. In Block 3 wird auf Grundlage desselben Falls wie in Block 2 (M III) eine ethische Fallbesprechung (Konsil) durchgespielt, in dem verschiedene Berufsgruppen in der Klinik sowie Angehörige des Patienten zusammenkommen. Grundlage des Planspiels ist das sogenannte Nimwegener Modell, das im Materialteil (M VI) ausführlich beschrieben wird.229 Ziel: Durch die Anwendung und das reflektierte Erleben einer ethischen Fallbesprechung nach dem Nimwegener Modell wird den TN exemplarisch ethische Feldkompetenz vermittelt. Des Weiteren werden in Block 3 die Kommunikationskompetenz und ethische Metakompetenz der TN herausgefordert. TN müssen in ihrer vorgegebenen Rolle bleibend kommunizieren und die Kommunikationsstrategien der anderen Rollenspielenden wahrnehmen. In der Reflexion auf das Planspiel kommt dann ethische Metakompetenz zum Tragen, wenn es um die eigenen ethische Rolle und die Berufsrolle geht. Durchführung: Thema und Dauer (1) Vorbereitung des Planspiels (15 min) (2) Ethische Fallbesprechung (40 min)

Ziel (Z) und Kompetenzen (K) Z: TN kennen die Schritte des Nimwegener Modells K: Ethische Feldkompetenz Z: TN kennen den Kommunikationskontext „Ethische Fallbesprechung“; TN erweitern ihre Kenntnisse der Ethik am Lebensende K: Ethische Feldkompetenz; Kommunikationskompetenz

(3) Auswertung (20 min)

Z: TN reflektieren die Seelsorgerollen K: Ethische Metakompetenz Z: offene Fragen der TN werden geklärt oder notiert; TN kennen Begleitprozess

(4) offenes Gespräch (15 min)

229 Vgl. Steinkamp/Gordijn, Ethik.

Methoden/ Sozialformen Gruppengespräch

Planspiel mit verschiedenen Rollen mit ausführlichen Anweisungen; Beobachter

Gruppengespräch

Gruppengespräch

Material/ Bemerkungen M VI (eine Kopie pro TN) (M III) M V+VI

Flipchart, Stifte M VII

Die einzelnen Einheiten

325

(1) L bereitet einen Sitzungsraum mit Tischen, Stühlen und Flipchart vor (Innenkreis für Komitee und Außenkreis für Beobachter und Beobachterinnen). L weist darauf hin, dass das ethische Gesprächssetting gegenüber Block 2 gewechselt wird und eine ethische Fallbesprechung (Konsil) gespielt wird. L erwähnt, dass es nach den Regeln des sog. Nimwegener Modells ablaufen wird. Nach einem Überblick über den Ablauf von Block 3 und die Schritte des Nimwegener Modells (M VI, ausgegeben an TN) werden den TN Rollen zugeteilt (M V). TN erhalten Zeit, um sich in das Material einzulesen. Die Druckvorlagen für die Rollenanweisungen sind wie alle anderen Materialbögen auch abrufbar unter http://www.v-r.de/de/ethik_in_der_klinikseelsorge/t-1/1035489/. Dort liegt eine doppelseitig zu druckende Vorlage vor, die auf der Rückseite jeder Rollenanweisung noch einmal die jeweilige Rollenbezeichnung („Seelsorge I“, „Tochter“ …) in großen Lettern aufweist. Diese kann so hochgeklappt werden, dass sie gleichzeitig als ‚Namensschild‘ für die anderen Teilnehmenden dient.

(2) Dann startet unter Leitung der Moderatorin/des Moderators „Seelsorgen I“ die ethische Fallbesprechung. Die Beobachtenden sollten außerhalb des Sitzungstisches sitzen und ihre Beobachtungen protokollieren. M III ist ausschließlich zur Vorbereitung von L gedacht. (3) Nach 40 Minuten wird die Sitzung unterbrochen, auch wenn keine Entscheidung herbeigeführt wurde. Es folgt die Auswertung auf Grundlage von M VII. L kann wie folgt einleiten: „Wir haben zwei sehr unterschiedliche Formen ethischer Kommunikation wahrgenommen. Das wollen wir reflektieren. Unser Kerninteresse bei der Auswertung sind die Seelsorgerollen: Wie haben Sie die drei Seelsorgenden erlebt?“ Wiederum ist es sinnvoll, zuerst die Wahrnehmungen der anderen Spielenden und der Beobachtenden abzufragen, bevor diejenigen zu Wort kommen, die die Seelsorgenden gespielt haben. (4) Es sollte ein Puffer von 15 Minuten eingerechnet werden, der ggf. für die Klärung offener Fragen verwendet wird, die nicht in der Auswertung zur Sprache kamen. Ein kurzer Abschluss der Einführungseinheit sollte auf den Begleitprozess hinweisen.

b)

Begleitprozess: Ethische Fragestellungen in Protokollbesprechungen

Einführung: Ist im Laufe der Einführungseinheit (a) ein erster Erfahrungsraum zum Thema „Seelsorge und Ethik“ entstanden, so gibt der Begleitprozess den Teilnehmenden Gelegenheit dazu, vor diesem Hintergrund ihre eigenen Erfahrungen mit ethischen Problemstellungen während des weiteren Kursverlaufes zu reflektieren.

326

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

Ziel: Das Ziel des Begleitprozesses liegt darin, die Aufmerksamkeit für Ethik in der eigenen Seelsorgetätigkeit zu stabilisieren und damit die Verstetigung ethischer Metakompetenz anzuregen.230 Durchführung: Wenn im Kurs (in der Besprechung von Verbatims) ethische Fragen und Probleme auftreten, werden diese auf Karten notiert: Welches ethische Thema wurde angesprochen? Welche Fragen haben sich ergeben, welche Schwierigkeiten traten auf ? Besteht der Wunsch nach Besprechung in der Gruppe? Auf der jeweiligen Karte wird ggf. auf das zugrundeliegende Verbatim mit Namen und Datum verwiesen. Die Karten werden an eine „Ethikwand“ gepinnt, die während des Kurses immer sichtbar bleibt. Diese gesammelten Fragen werden in einer Schlusseinheit aufgenommen (90 min). Je nach Zeit und Fragestellung kann eine weitere Einheit zu einem Thema eingespielt werden. Alternativ kann eine Referentin bzw. ein Referent eingeladen werden (Ergänzungseinheit). Ergänzungseinheit zu einer einzelnen ethischen Sachfrage Zu bestimmten Sachfragen empfiehlt es sich, einen Referenten einzuladen und die Diskussion auf die Fragen und Themen der „Ethikwand“ zu fokussieren. Thema und Dauer (1) Vorstellung und Präzisierung der Sachfrage(n) (15 min) (2) Besprechung der Sachfrage, gegebenenfalls mit eingeladenem Referenten (60 min) (3) offenes Gespräch (15 min)

Ziel (Z) und Kompetenzen (K) Z: Probleme der TN werden identifiziert

Methoden/ Sozialformen Gruppengespräch, ggf. anhand von Protokollauszügen

Z: Feldkompetenz zu Sachthema vertiefen K: Feldkompetenz Z: offene Fragen der TN werden geklärt oder notiert

Impuls und weitere Methoden nach Thema

Material/ Bemerkungen Protokolle aus dem Begleitprozess

Gruppengespräch

Ein mögliches Thema mit Blick auf die Einbindung von Seelsorgenden in die organisierte Ethikberatung sind die Entwicklung und die Formen Klinischer Ethikberatung. Hierzu könnte eine Referentin bzw. ein Referent eingeladen werden. Alternativ kann L oder ein/-e TN auf Grundlage von Kapitel 2.1, I., ein Kurzreferat vorbereiten. Weitere mögliche Themen sind in Abschnitt c) genannt. 230 Vgl. das sechste Teilziel dieses Kapitels: 4.3, I. a.

327

Die einzelnen Einheiten

Schlusseinheit in letzter Kurswoche In einer Schlusseinheit sollten die Fragen und Themen, die im Verlauf des Kurses an der „Ethikwand“ gesammelt wurden, gebündelt und auf ihre befriedigende Klärung hin überprüft werden. Thema und Dauer

Ziel (Z) und Methoden/ Kompetenzen (K) Sozialformen Z: Thematische Breite der Gruppengespräch Themen bewusstmachen; Probleme identifizieren

Material/ Bemerkungen „Ethikwand“, Karten, Stifte

Arbeit in kleinen Gruppen an Protokollen 3–4 Leute pro Gruppe

Papier, Stifte, Protokolle/ Verbatims

(1) Bestandsaufnahme des Themas: Ethik in der Seelsorge (30 min) (2) Ethische Protokollbe- Z: „Ethik“ als Thematisprechung sierungshinsicht seel(45 min) sorglicher Arbeit einüben und verankern K: ethische Metakompetenz (3) offenes Gespräch (15 min)

offene Fragen klären oder Gruppengespräch notieren

(1) Anhand der Einträge an der „Ethikwand“ leitet L ein Gruppengespräch zur Frage, wie die Bestandsaufnahme der TN zum Thema „Ethik in der Seelsorge“ aussieht. Die Einträge der Ethikwand können geclustert werden. TN können darüber hinaus Antworten zu folgender Frage formulieren: Wo sehe ich Probleme und Weiterarbeitsbedarf ? (2) TN gehen in Kleingruppen, wählen sich Themen von der „Ethikwand“ und die entsprechenden Protokolle/Verbatims. Die ethischen Probleme werden noch einmal thematisiert und mit den eigenen Erfahrungen verknüpft. Offene Fragen und Feedback werden notiert. (3) TN berichten von offenen Fragen und Feedback aus den Kleingruppen. c)

Einzelne Themeneinheiten je nach Bedarf

Themeneinheiten zu ethischen Fragen Bei Bedarf können Einheiten zu ethischen Themen in den Kurs eingefügt werden. Diese können von den Teilnehmenden oder den Kursleitenden vorbereitet oder von externen Referenten gestaltet werden. Mögliche Themen sind folgende: • Klinische Ethikberatung: Entwicklung und Formen • Behandlungsentscheidungen am Lebensende

328 • • • • • • • •

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

Klinische Ethik am Lebensanfang Organspende; Hirntod Patientenverfügung; Betreuungsrecht Einzelfragen je nach Anlass (am Lebensanfang beispielsweise: Selektiver Fetozid; Spätabtreibung; Fetalchirurgie etc.) Kirchliche Meinungsbildung zu medizinethischen Fragen Medizinethik in den christlichen Konfessionen/in den Weltreligionen Ethik klinischer Studien Rechtslage in verschiedenen Ländern; Medizintourismus

Da die ethischen Debatten und die gesetzlichen Rahmenbedingungen sich hier zum Teil sehr schnell verändern, ist es nicht sinnvoll, hierzu ausgearbeitete Einheiten zu präsentieren. Gute deutschsprachige Anhaltspunkte für eine erste Recherche sind das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (www.drze.de) sowie die Zeitschriften für Medizinische Ethik, für Ethik in der Medizin sowie die einschlägigen Beiträge in der Zeitschrift für Evangelische Ethik. Die Meinungsbildung im Raum der evangelischen Kirchen ist übersichtlich zusammengestellt im Internetportal „Evangelische Medizin- und Bioethik“ unter www.ev-medizinethik.de. Im Folgenden werden noch Ausarbeitungen für zwei Themeneinheiten geboten, die im Themenzuschnitt zunächst ungewöhnlich erscheinen mögen, sich aber in der Erprobung als ertragreich erwiesen haben. Dies ist eine Einheit zur ethischen Valenz von Ritualen sowie eine Einheit, die eine biblische Erzählung auf ein Verbatim anwendet.

Themeneinheit: Umgang mit Schuld Einführung: In dem Maße, in dem Menschen in Behandlungsentscheidungen involviert werden, wird auch die Frage nach Schuld virulent. Die seelsorgliche Begleitung umfasst üblicherweise das Gespräch über Fragen der Schuld, aber auch die rituelle Aufnahme von Schulderfahrungen bis hin zur Beichte. Dies kann für Seelsorgende zum ethischen Problem werden, wenn sie den Eindruck haben, Entscheidungen „absegnen“ zu müssen, die sie selbst für falsch halten.231 Ziel: Die Einheit dient einerseits der Reflexion von Schuld und Vergebung als seelsorglichen Themen; dabei kommen insbesondere die ethischen Valenzen zur Sprache. Zum anderen wird liturgische Kompetenz gefördert, in dem die Möglichkeiten und Grenzen von Vergebungsritualen eruiert werden. 231 Siehe dazu Kapitel 3.7 in diesem Band.

329

Die einzelnen Einheiten

Durchführung: Ziel (Z) und Kompetenzen (K) (1) Erfahrungen mit Z: Probleme Schuld in der Klinik identifizieren (30 min)

Methoden/ Sozialformen Gruppengespräch, ggf. anhand von Protokollauszügen und eingespieltem Material

Material/ Bemerkungen M VIII

(2) Möglichkeiten und Grenzen von Vergebungsritualen (30 min)

Besprechung in Kleingruppen

M IX

Thema und Dauer

(3) offenes Gespräch (30 min)

Z: Beispiel für ein Vergebungsritual kennenlernen K: Liturgische Kompetenz Z: Zusammenführung der Ergebnisse

Gruppengespräch im Plenum

(1) L bittet TN, über ihre Erfahrungen mit Schuld in der Klinik zu berichten. Insbesondere sollten dabei Schulderfahrungen im Kontext von Behandlungsentscheidungen zur Sprache kommen. Es gilt zu reflektieren, welche Erwartungen an Seelsorgende in diesem Zusammenhang gestellt werden und welche Probleme dabei auftreten können. Wenn hierzu keine einschlägigen Erfahrungen der Teilnehmenden vorliegen, können Beispiele aus M VIII eingespielt und diskutiert werden. (2) Die TN teilen sich in kleine Gruppen zu 3–4 Personen auf, lesen und besprechen das in M IX protokollierte Vergebungsritual. Leitfragen sind: Finden Sie diesen Umgang mit Schuld angemessen? Wo sehen Sie Probleme? Können Sie sich selbst einen solchen gottesdienstlichen Umgang mit Schuld vorstellen? (3) Im Plenum werden die Ergebnisse zusammengeführt. Wichtig ist vor allem, dass Dissense und unterschiedliche Einschätzungen zur Sprache kommen. Das Thema „Schuld“ sollte eine eigene Karte auf der „Ethikwand“ bekommen, auf der Problempunkte und offene Fragen notiert werden. Themeneinheit: Barmherziger Samariter und Seelsorge Einführung: In der Einheit geht es darum, Strukturanalogien des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) zur eigenen Seelsorgetätigkeit zu entdecken. Mit Blick auf das Spannungsfeld von Seelsorge und Ethik wird der Fokus auf Handlungsmotivationen und Kompetenzen liegen.

330

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

Ziel: Ziel ist es, dass anhand des biblischen Textes seelsorgliche Kompetenzen als ethische Kompetenzen wahrgenommen werden. Durchführung: Thema und Dauer (1) Aneignung des Gleichnisses Lk 10,25–37 (25 min) (2) Was „können“ Seelsorgende? (25 min)

(3) Samaritergleichnis auf Verbatim anwenden (25 min) (4) offene Fragen (15 min)

Ziel (Z) und Kompetenzen (K) Z: Handlungen und Motivationen der biblischen Personen werden nachvollzogen K: Deutungskompetenz

Methoden/ Material/ Sozialformen Bemerkungen Plenum Text: Lk 10,25–37

Z: TN ziehen Analogien zwischen den biblischen Personen und der Seelsorgetätigkeit K: Deutungskompetenz, ehische Metakompetenz Z: TN erkennen Analogien zwischen einem Verbatim und dem Gleichnis K: Deutungskompetenz

Einzelarbeit Plenum

Plenum oder M X oder Kleingruppen Verbatim aus dem eigenen Kurs Plenum

(1) L bittet TN, den Text Lk 10,25–37 zu Gehör zu bringen. Beispielsweise lesen TN das Gleichnis Vers für Vers reihum. Arbeitsschritt (1) kann auch in eine Andacht integriert werden. In einem zweiten Lesedurchgang fordert L TN auf, alle Verben zu lesen, die Handlungen einer Person beschreiben. Beim Lesen können TN eine pantomimische Geste dazu vormachen. Es schließt sich eine Diskussion über den Text an. Diese kann folgende Fragen aufnehmen: Was ist bei der Lesung der Verben aufgefallen? Was hat der Samariter, das die anderen Personen im Text nicht haben? Was verbindet den Samariter mit den anderen Personen in Gleichnis (auch mit dem Wirt)? Auf welche Frage antwortet das Gleichnis? Wo ist der Wendepunkt? (2) TN erhalten Karten und Stifte. TN fragen sich: Was verbindet die Personen im Gleichnis mit der eigenen Arbeit in der Klinik? Was für Handlungen und Handlungsmotivationen helfen für die Seelsorgetätigkeit? Welche sind hinderlich? TN bringen die notierten Ideen ins Plenum ein. (3) Im Plenum oder in Kleingruppen wird ein Verbatim (M X) oder ein geeignetes Verbatim aus dem eigenen Seelsorgekurs in verteilten Rollen gelesen. In der

Erfahrungen und Varianten

331

Diskussion wird gefragt: Was verbindet das Verbatim mit dem Samaritergleichnis? Was macht der Seelsorger? (4) Es sollte ein Puffer von 15 Minuten eingerechnet werden, der ggf. für die Klärung offener Fragen reserviert ist, die nicht in der Auswertung zur Sprache kamen.

III.

Erfahrungen und Varianten

Das vorgestellte Heidelberger Modul wurde in verschiedenen Kursen durchgeführt. Es zeigt sich, dass es den Teilnehmenden durchweg sehr leicht gefallen ist, sich aufgrund der Rollenanweisungen in die Situation der darzustellenden Personen einzufühlen und die Rollen zu spielen. Ebenso leicht fiel es, die Rollenspiele durchzuhalten. Selten wurde die Spannung der Situation durch ein Lachen oder einen rollenexternen Kommentar abgebaut. Die Planspiele führten durchweg zu Situationen mit großer Intensität; zuweilen war es notwendig, im Auswertungsgespräch zunächst besonders intensive und konfliktreiche Phasen des Spiels zu thematisieren. Die Rollenanweisungen sind kurz gehalten, um sie handhabbar zu machen. Viele wichtige Informationen fehlen. Daher ist es sinnvoll, die Teilnehmenden zu ermutigen, weitere Details der Geschichte bei Bedarf hinzuzuerfinden. Auch dies gelang durchweg gut. Manche Teilnehmenden erfanden Namen für sich („Schwester Irmgard“), die die Identifikation mit der Rolle noch einmal erleichterten. Die Rollenanweisungen von Block 2 (Individualseelsorge) sind so gehalten, dass die Klientinnen und Klienten jeweils mit einer starken Erwartung an eine „ethische Rolle“ der Seelsorgenden ausgestattet sind. Diese sollte im Auswertungsgespräch offengelegt werden. Gelegentlich wichen Teilnehmende hiervon ab; so verzichtete etwa ein „Sohn“ darauf, von der Seelsorgerin einen Ratschlag einzufordern, weil er dies als Seelsorger unangemessen fand. Auch dies ist ein ertragreiches Thema für das Auswertungsgespräch. In die Rollen von Block 2 konnten sich auch solche Teilnehmenden gut hineinversetzen, die ihren Arbeitsschwerpunkt in der Gemeindeseelsorge hatten. Besonders durch Besuche im Altenheim und durch Trauergespräche brachten diese Teilnehmenden einen Erfahrungsschatz mit, den sie leicht auf die individualseelsorglichen Gesprächssettings im klinischen Kontext übertragen konnten. Schwerer fiel es manchen Teilnehmenden ohne Klinikerfahrung, die Rollenanweisungen von Block 3 (ethische Fallbesprechung) umzusetzen. Es ist sinnvoll, solche Schwierigkeiten im Auswertungsgespräch zu thematisieren.

332

Ausbildung ethischer Kompetenz: Das Heidelberger Modul

In der Auswertung von Block 3 (ethische Fallbesprechung) war es hilfreich, darauf hinzuweisen, dass zwar der Fall authentisch, die Situation aber durch die stark antagonistischen Rollenanweisungen in einer Weise zugespitzt ist, die in ethischen Fallbesprechungen nicht häufig vorkommt. Oftmals tagt ein Ethikkonsil auch ohne die Angehörigen, mit denen separat Gespräche geführt werden; dies ermöglicht es, die Situation etwas zu entschärfen. Für das Rollenspiel wurde bewusst eine zugespitzte Situation gewählt, um die divergierenden Erwartungen an die Seelsorgenden und die Schwierigkeit, eine ethische Rolle zu finden, erlebbar zu machen. Eine schwierige Rolle in Block 3 ist „Seelsorge II“, weil ihr weder Informationen zum Fall noch Anweisungen zum Verhalten vorliegen. Es bedarf einer Person, die spontan auf die vorgetragenen Fakten reagieren kann und die Rolle aktiv ausfüllt. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Person nicht ins Gespräch eingebunden wird. Doch auch das ist eine mögliche ethische Rolle Seelsorgender in der Klinik und als solche zu reflektieren. Eine Schlüsselrolle in Block 3 ist „Seelsorge I“, die die Fallbesprechung moderiert. Da die Situation stark zugespitzt ist, ist es sinnvoll, hier eine Teilnehmerin bzw. einen Teilnehmer mit Moderationserfahrung zu wählen. Auch bei stringenter Moderation können 40 Minuten sehr knapp sein, und die Sitzung kann dann schadlos abgebrochen werden. Denn es geht nicht um die ethische Angemessenheit der Empfehlung, sondern um die Rolle der Seelsorgenden im Prozess der Entscheidungsfindung. Auch der sehr konventionelle Beginn des Moduls mit einer Abfrage bisheriger Erfahrungen mit „Ethik“ hat sich als ertragreich erwiesen. Nicht selten fielen Teilnehmenden, die sich anfangs als weitgehend unerfahren bezeichnet hatten, im Laufe des Gesprächs mehr und mehr einschlägige Situationen aus Gemeinde, Freundeskreis und Klinik ein. Schon das ist ein Hinweis darauf, dass die Aufmerksamkeit für „Ethik“ in der Seelsorge geschult werden muss, aber eben auch recht leicht zu wecken ist. Die Verbindung zwischen der Reflexion auf direkte eigene (Block 1; Begleitprozess) und auf gleichsam artifiziell vermittelte (Block 2 und 3) Erfahrungen im vorgeschlagenen Ausbildungsmodul ermöglicht es gerade, beim Eigenen zu beginnen, aber auch einen darüber hinausgehenden Lernprozess anzustoßen. In seiner Struktur ist das Modul nicht an den KSA-Kurs gebunden. Es ist auch in andere Ausbildungsgänge sinnvoll zu integrieren. Das gilt auch für Kurse, die nicht die Klinik, sondern etwa das Pflegeheim als Praxisfeld zu Grunde legen. Weiterhin ist es auch möglich, an Stelle der vorgeschlagenen Planspiele andere, bereits im Kurs als ethisch problematisch aufgefallene Situationen in Form von Rollenanweisungen zugrunde zu legen. Es wäre wünschenswert, wenn Kursleiterinnen und Kursleiter es sich zur Gewohnheit machten, die im Laufe des Kurses eingereichten Verbatims der Teilnehmenden auf interessante ethische Situatio-

Erfahrungen und Varianten

333

nen hin durchzusehen und diese gegebenenfalls in modifizierten Rollenanweisungen für folgende Kurse fruchtbar zu machen. Neben der Anreicherung und Verbesserung der Planspiele hätte das zur Folge, dass auch Kursleitende ihre eigene ethische Aufmerksamkeit hierdurch trainieren könnten. Eine weitere Zielgruppe für die Ausbildung ethischer Metakompetenz sind Supervisorinnen und Supervisoren. Auch sie haben es mit moralischen Konflikten und Überzeugungen ihrer Supervisanden zu tun. Auch hier sind abgeleitete Versionen der vorgeschlagenen Einheit denkbar. Wir möchten die Leserinnen und Leser dieses Buches hiermit ausdrücklich ermutigen, mit dem vorgeschlagenen Modul sehr frei umzugehen und zu experimentieren. Für die Mitteilung von Erfahrungen mit dem Modul oder mit eigenen Varianten danken wir sehr und werden diese in zukünftigen Veröffentlichungen berücksichtigen.

5.

Zusammenfassung und Ausblick

I. Zusammenfassung der Studienergebnisse II. Themen weiterer Forschung

I.

Zusammenfassung der Studienergebnisse

Klinikseelsorgende kommen in ihrer täglichen Praxis mit einem sehr breiten Spektrum ethischer Themen in Berührung (2.1). Fragen an den Grenzen des Lebens nehmen dabei einen besonders großen Raum ein. Die wichtigsten Anlässe für die Befassung mit ethischen Fragen sind die Begleitung bei einer Entscheidungsbewältigung und -findung, wobei die relationale Dimension von Konflikten für Seelsorgende eine herausgehobene Bedeutung hat. Insgesamt geht das seelsorgliche Verständnis von ethischen Problemen über die auf Behandlungsentscheidungen ausgerichtete Reflexion ethischer „Fälle“ deutlich hinaus. Dieses weite Ethikverständnis, das mit unterschiedlichen Erwartungen an die Institutionalisierung von Ethik einhergeht, wurde für die Zwecke der vorliegenden Studie in Form einer Klassifikation ethischer Situationen systematisiert. In der Praxis hat sich Ethik zu einem neuen professionellen Feld der Seelsorge entwickelt (2.2): Seelsorgende definieren und benennen ethische Probleme, gelten als Ansprechpartner für ethische Fragen und sind in Gremien der Ethikberatung einbezogen. Die Rolle, die Seelsorgende im Umgang mit ethischen Fragen einnehmen, ist dabei abhängig von ihrer grundsätzlichen Einbindung in das System Krankenhaus. Diese variiert zwischen den Seelsorgenden stark und wird von den organisatorischen Gegebenheiten, aber auch von der jeweiligen Berufsauffassung der Seelsorgenden geprägt. Einen großen Einfluss haben zudem konkrete Bezugs- bzw. Ankerpersonen vor allem im medizinischen Team, von denen Seelsorgende jeweils hinzugezogen werden.

Zusammenfassung der Studienergebnisse

335

Diese Situation fordert Seelsorgende heraus, die eigene Rolle im Umgang mit ethischen Themen gründlich zu reflektieren. Sie müssen sich zu verschiedenen möglichen Rollen, wie der des Ethikers, der seelsorglichen Begleiterin, des Übersetzers oder der Moderatorin positionieren. In der Abfolge verschiedener ethischer Situationen kann die eingenommene Rolle wechseln. In Gremien der Ethikberatung richten sich Seelsorgende hingegen vergleichsweise konstant in bestimmten Rollen ein, was die Reflexion der eigenen Rolle umso notwendiger erscheinen lässt. Seelsorge ist schließlich damit konfrontiert, über die generelle Verortung von Ethik im Krankenhaus nachzudenken und an der Gestaltung von entsprechenden Organisationsprozessen mitzuwirken. Eine Grundsituation klinischer Ethik ist die Entscheidung zwischen verschiedenen Therapieoptionen in schwierigen Fällen, etwa bei der Weiterbehandlung am Lebensende. Seelsorgende sind hier in vielfacher Weise involviert (3.1). Sie sind an der Eröffnung solcher Entscheidungssituationen beteiligt, wenn etwa im Verlauf der Behandlung eines Patienten aus einem latenten Unbehagen ein „Fall“ für die Klinische Ethikberatung wird – oder gerade nicht. In bestehenden Entscheidungssituationen verändern Seelsorgende durch verschiedene Strategien den Zuschnitt und Ablauf von Entscheidungsstrukturen und -prozessen. So tragen sie zur Weitung, Öffnung und Verlagerung von institutionalisierten Entscheidungssituationen bei. Schließlich sind Seelsorgende auch dann intensiv beteiligt, wenn eine Entscheidung bereits gefallen ist. Insgesamt zeigen Seelsorgende nicht nur ein weites Verständnis von Ethik, sondern sind auch mit „Ethik“ in der Klinik in einer Weise konfrontiert, die erheblich umfänglicher ist als allein die – in anderen Studien bereits untersuchte – Teilnahme an Klinischen Ethikkomitees. Seelsorgliches Handeln ist oftmals gerade im Übergang zwischen elaborierten Techniken der Entscheidungsfindung in der Klinischen Ethikberatung einerseits und fluideren ethischen Situationen im klinischen Alltag andererseits angesiedelt. Umgekehrt zeigt sich, dass das Involviertsein in ethische Situationen seinerseits Prozesse der Seelsorge beeinflusst. Seelsorge verändert Ethik in der Klinik, aber Ethik verändert auch Seelsorge. Seelsorgende sind mit Ethik jedoch nicht nur im Umgang mit Entscheidungsprozessen konfrontiert. Auch die Organisation Krankenhaus als solche stellt ein Thema ethischer Reflexionen und Auseinandersetzungen dar (3.2). Hier sind Seelsorgende einerseits strukturell eingebunden, wenn sie im Kontext von Ethikkomitees oder Ad-hoc-Arbeitsgruppen Fragen der Organisationskultur diskutieren oder in der Pflegeausbildung Einheiten zur Ethik durchführen. Auf der anderen Seite sind sie selbst an der Schaffung von Strukturen beteiligt, wenn sie auf die Gründung von Arbeitsgruppen o. ä. hinwirken und dabei insbesondere Belange von Mitarbeitenden aufnehmen. In Prozessen der Etablierung von Strukturen der Ethikberatung nehmen sie zuweilen temporäre Funktionen wahr,

336

Zusammenfassung und Ausblick

die sie nach Abschluss dieser Prozesse wieder verlassen. Verschiedentlich repräsentieren Seelsorgende die Organisation als ganze. So sind die Seelsorgenden auf sehr unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität in organisationskulturelle Belange eingebunden. Generell sind sie aber wichtige Vermittlungsinstanzen zwischen dem Programm der Organisation und den individuellen Anliegen ihrer Mitglieder. Sie erscheinen im Kontext der Organisation Klinik als personelle Legitimatoren für Kommunikation; eine Funktion, die sie teils flexibel, teils in festen Strukturen zur Geltung bringen. Seelsorgende betrachten diejenigen, mit denen sie zu tun haben, als in Beziehungsnetze eingebundene Individuen (3.3). Ihnen gegenüber nehmen sie in ethischen Situationen eine Haltung ein, die sich als Fürsorge- oder Care-Orientierung beschreiben lässt. Diese Haltung manifestiert sich sowohl im Umgang mit ethischen Situationen als auch in konkreten sorgenden Aktivitäten. Sie ist charakterisiert durch eine hohe Beziehungsorientierung, intensive Anteilnahme und das Einlassen auf die Einzigartigkeit von moralischen Problemlagen und Konfliktsituationen. In dieser Haltung der Fürsorge ist eine Form seelsorglicher Ethik erkennbar, die deutliche Parallelen zu Ansätzen der Care- oder FürsorgeEthik aufweist. Das Fürsorgeverständnis von Seelsorgenden ist dabei auf eine soziale, emotionale und spirituelle Dimension menschlichen Lebens ausgerichtet. Dass Fürsorge auch eine spirituelle Ebene umfasst, unterscheidet das Care-Verständnis von Seelsorgenden von bekannten Fürsorgeansätzen zum Beispiel der Psychologin Carol Gilligan oder der Philosophin Elisabeth Conradi. Care-Orientierungen von Theologinnen und Theologen in der Klinik sind ein großes Potenzial, ethische Reflexionen stärker an die Wirklichkeit der Beteiligten zurückzubinden. Sie können jedoch auch zu Situationen führen, in denen sich Seelsorge und medizinische Ethik in einem Spannungsverhältnis befinden – etwa dann, wenn dezidiert seelsorgliche Konfliktinterventionen dem erklärten Willen eines Patienten entgegenstehen. Eine Reihe von Situationen erschienen für die Seelsorgenden – in der Regel auf Nachfrage im Interview – als gewissensrelevant (3.4). Dabei handelt es sich um solche, in denen ein Raum für moralisches Subjektsein reklamiert wird – in den Ausprägungen des positionellen Gewissens (ich kann hier nicht mitmachen) und des zwiespältigen Gewissens (ich stehe im Widerstreit mit mir). Dieser Raum für moralisches Subjektsein ist nicht der eines formalen Ichs, eines Menschenwürdeträgers und Rechtssubjekts, sondern der eines bestimmten Individuums mit materialer Identität und konkreten Lebenserfahrungen. Im Gewissen steht dieses Individuelle zumeist einer allgemeinen Anforderung (etwa den Regeln einer Organisation oder dem Ethos einer Profession) gegenüber. In der spannungsvollen Lage zwischen Organisationsregeln und individueller Gewissensbe-

Zusammenfassung der Studienergebnisse

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stimmtheit, auch: zwischen Stärkung und Kritik des Gewissens, sehen sich die Seelsorgenden in ihrer eigenen Personalität und damit in ihrem eigenen Gewissen gefordert. Sie müssen sich immer neu zwischen Selbstermächtigung und Selbstzurücknahme verorten und beide Reaktionsweisen einüben. Grundlegend für viele klinisch-ethische Fragestellungen ist die Frage nach dem Personsein des Patienten (3.5). In medizinischen Krisensituationen am Anfang und am Ende des Lebens finden – etwa im Kontext von Ethikkonsilen – Aushandlungen darüber statt, „wieviel Person“ ein Mensch noch oder schon ist: wie es etwa um seine kognitiven, voluntativen und interaktiven Fähigkeiten bestellt ist. Zwar ist sowohl in der christlichen Tradition als auch im Rechtssystem die Überzeugung verankert, dass der Mensch unabhängig von seinem konkreten Zustand Achtung als Person beanspruchen kann. Dennoch gehen Ergebnisse von Aushandlungen um die empirische Verfasstheit personaler Qualitäten in Behandlungsentscheidungen ein, wenn die beteiligten Akteure konkrete Entscheidungen legitimieren oder sich anderen gegenüber positionieren müssen. Klinikseelsorgende sind in solchen Aushandlungsprozessen um das Personsein besonders engagiert; diese bilden ein wichtiges Scharnier zwischen ihren im engeren Sinne seelsorglichen und ihren ethischen Aufgaben. In ihrer praktischen Anthropologie treten Seelsorgende dabei nicht durchweg als „Anwälte der Person“ im Sinne einer Affirmation des Personstatus eines Patienten auf, sondern bringen durchaus auch den prekären Charakter personaler Zuschreibungen zum Ausdruck. In ethischer Hinsicht wird dies etwa dann relevant, wenn Seelsorgende sich an der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens beteiligen. In der Klinik finden sich Seelsorgende in einem System vor, in dem mehrere Sprachen gesprochen werden (3.6). Dabei ist die medizinische die mit Abstand dominanteste, und Seelsorgende bedienen sich unterschiedlicher Strategien, sich mit dieser Fachsprache zu arrangieren. Mit ihr wie mit rechtlicher, ökonomischer oder religiöser Sprache sind normative Vorannahmen verbunden, die Seelsorgende übernehmen bzw. zu denen sie sich positionieren. Explizit religiöse Rede findet sich in der Klinikseelsorge in mehrfacher Gestalt: als direkte Verwendung christlicher (oder christlich konnotierter) Semantiken oder biblischer Narrative („barmherziger Samariter“), als Hintergrundkonzept (zum Beispiel in Form einer theologisch reflektierten Hermeneutik), oder auch als Selbstzurechnung zu einer bestimmten theologischen Richtung („Befreiungstheologie“). Religiöse Rede wird von Seelsorgenden insbesondere dann eingesetzt, wenn sie ihre Rolle in der Klinik reflektieren. Sie schließen sich dabei nicht bestimmten Seelsorgekonzepten ‚aus einem Guss‘ an, sondern verwenden theologische Reflexionen unterschiedlicher Form und Herkunft in einer flexiblen Art und Weise, um die vielfältige und durch widersprüchliche Anforderungen charakterisierte Berufsrealität zu verstehen und sich in ihr zu orientieren. Ähnlich zeigen sich Seelsorgende im Umgang mit moralischem Sprechen sensibel, wenn sie situations-

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Zusammenfassung und Ausblick

bedingt auf moralische Verstärkung oder auf eine Distanzierung von moralischem Urteilen abzielen und sich bestimmte moralische Begriffe und ethische Konzepte selektiv aneignen. Die Sprachfähigkeit von Klinikseelsorgenden zeigt sich noch am Übergang in die Sprachlosigkeit. Besonders in ethischen Entscheidungssituationen, in denen es um Menschen mit fehlender Sprachfähigkeit geht, ist der Deutungsdruck hoch. Um der intrinsischen Unschärfe und der gebotenen Vorsicht bei der Deutung nichtsprachlicher Zeichen gerecht zu werden, unternehmen Seelsorgende hermeneutische Metareflexionen, die sich etwa im Begriff der Ambivalenz niederschlagen oder sich an die Rede von der „Wut des Verstehens“ (F.D.E. Schleiermacher) anschließen. Eine Beichte nach einem Schwangerschaftsabbruch oder die Nottaufe eines schwerstgeschädigten Neugeborenen, bevor die lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet werden: Rituale spielen im Kontext ethischer Situationen eine wichtige Rolle (3.7), im Umfeld der Entscheidungsfindung wie auch in der Nachbegleitung ethischer Situationen. Dabei haben Rituale verschiedene Funktionen. Sie bringen Unsicherheiten hinsichtlich von Identitäten und sozialen Positionen, sozialen Beziehungen, Normen und Werten sowie Handlungsoptionen zum Ausdruck. Dann wiederum bestätigen sie kollektive Normen und Werte sowie den Status der involvierten Personen, insbesondere der Patienten bzw. der Verstorbenen. Schließlich zielen sie auf die Handlungsfähigkeit der am Konflikt Beteiligten, indem sie das ethischen Entscheidungen inhärente Schuldmoment thematisieren. Auch für die Seelsorgenden persönlich kann Schuld zum Thema werden: dann nämlich, wenn die Durchführung eines Rituals im Widerspruch zu ihren eigenen moralischen Überzeugungen steht, und sie sich in der Rolle finden, bestimmte Entscheidungen „absegnen“ zu sollen. Eine praxistaugliche theologische Rekonstruktion des Verhältnisses von Ethik und Seelsorge muss sich an den flexiblen Theologiegebrauch der Seelsorgenden anschließen (4.1). Sie zielt darauf ab, dass Seelsorgende ihre ethische Praxis reflektieren und diese zugleich als einen Teil ihrer eigenen seelsorgerlichen Berufsidentität begreifen können. Insofern ist es von großer Bedeutung, dass die empirischen Resultate der Studie gezeigt haben, in welchem großen Umfang Seelsorgende Fähigkeiten und Fertigkeiten aus dem Kernfeld der Seelsorge auch in den Umgang mit Ethik einbringen. Das reicht von der Hermeneutik symbolischer Sprache in der Suche nach dem mutmaßlichen Willen eines Patienten über die Sensibilität für die Kontrafaktizität personaler Zuschreibungen und die liturgische Begleitung ethisch komplexer Lebenssituationen bis hin zu einem relationalen, kontextuellen und systemischen Verständnis von Konfliktsituationen. Gleichzeitig haben sich Spannungen gezeigt, die sich für die Seelsorge in der Konfrontation mit Ethik ergeben. So steht etwa die Sensibilität für das Individuelle und Personale in der Gefahr, die strukturellen Rahmenbedingungen

Zusammenfassung der Studienergebnisse

339

von „Ethik“ in der Klinik zu unterschätzen. Ferner kann eine relationale Ethik, die etwa die Belange von Angehörigen berücksichtigt, in Spannung treten zu einer Ethik der Patientenselbstbestimmung. Spannungen können sich auch ergeben aus der theologischen Kontextualisierung von Medizinethik, die einerseits theologische Reflexionspotenziale freisetzt, andererseits aber die Gefahr einer semantischen und konzeptionellen Selbstabkapselung theologischer Berufstätigkeit im Krankenhaus in sich birgt. Theologisch lassen sich diese wahrnehmbaren Spannungen beziehen auf die Spannungen und Bruchlinien des theoretischen Feldes der Seelsorgelehre. Theologische Reflexion, so die vertretene These, vermag die Spannungen des praktischen Umgangs mit Ethik in der Seelsorge nicht zu lösen; aber sie hält Reflexionsinstrumente bereit, mittels derer Seelsorgende sich in den Spannungen ihrer Praxis situativ wie der eigenen Professionalität und Persönlichkeit angemessen verorten können. Dass Seelsorgende insbesondere in der Klinik ethische Kompetenz benötigen, ist weithin unbestritten (4.2). Üblicherweise wird diese als ethische Feldkompetenz verstanden, die neben die seelsorglichen Kernkompetenzen tritt. Eine solche spezifisch medizinethische Kompetenz, die in spezialisierten Zusatzausbildungen erworben werden soll, ist für Klinikseelsorgende jedenfalls dann erforderlich, wenn diese in formalisierte Strukturen Klinischer Ethikberatung eingebunden sind. Die theologische Reflexion der Studienergebnisse hat jedoch gezeigt, dass neben einer solchen spezialisierten ethischen Kompetenz auch die anderen seelsorglichen Kompetenzen als ethische Kompetenzen zu entwickeln sind. Ihr Zentrum hat die ethische Kompetenz von Seelsorgenden dann in der hier sogenannten ethischen Metakompetenz: in der grundlegenden Funktion, Ethik als integralen Teil von Seelsorge zu begreifen, ein Bewusstsein für die normativen Aspekte seelsorglichen Handelns zu entwickeln, mit dem eigenen moralischen Involviertsein umgehen zu können und eine eigene „ethische Rolle“ in der Organisation und im Team zu finden. Ethische Metakompetenz bedeutet also die umfassende Integration von Ethik in die seelsorgliche Professionalität. Insbesondere diese wird im vorgeschlagenen Ausbildungsmodul angezielt. Dabei sind die genannten Kompetenzen nicht nur für die Klinikseelsorge einschlägig. Sie werden in der Klinik eine feldspezifische Ausprägung gewinnen; allerdings ist auch im Kontext gemeindlicher oder anderer Sonderseelsorge die Entwicklung seelsorglicher Kompetenzen als ethischer Kompetenzen und die Aufmerksamkeit für die normativen Implikationen seelsorglichen Handelns erforderlich. Wenn seelsorgliche Kompetenzen in dieser Weise als ethische Kompetenzen zu entwickeln sind, so ist es sinnvoll, das Thema Ethik nicht erst in feldspezifischen Zusatzausbildungen zu behandeln. Vielmehr sollte dies bereits dort geschehen, wo seelsorgliche Kompetenzen selbst ausgebildet werden: in der

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Zusammenfassung und Ausblick

grundständigen Seelsorgeausbildung. Zu diesem Zweck wurde eine Ausbildungseinheit entwickelt („Heidelberger Modul“, 4.3). Das vorgeschlagene Kursmodul ist durch einen starken Praxis- und Erfahrungsbezug gekennzeichnet. Dabei ist es anschlussfähig an unterschiedliche Vorerfahrungen und Arbeitskontexte, wobei das Praxisfeld Klinik/Pflegeheim im Zentrum steht. Das Modul besteht aus drei unterschiedlichen Elementen, für die jeweils ausgearbeitete Ablaufpläne und Materialvorschläge bereitgestellt werden. Sie können innerhalb einer gemeinsamen Grundstruktur (Einführungsmodul und Begleitprozess) flexibel kombiniert werden. Der Zeitaufwand beträgt je nach Gestaltung 4–5 Blöcke à 90 Minuten. Die einzelnen Einheiten sind durch Kursleiterinnen und Kursleiter anhand des bereitgestellten Materials durchführbar.

II.

Themen weiterer Forschung

Die vorgeschlagene Implementierung der Ausbildung ethischer Kompetenz in die grundständige Seelsorgeausbildung soll die spezialisierten Fort- und Weiterbildungsangebote nicht ersetzen. Vielmehr bildet sie eine Verbindung zwischen beiden und vermittelt damit auch zwischen dem seelsorgerlichen Berufsbild und der professionalisierten Medizinethik. So sollte es gelingen, Ethik als eigenes Thema der Seelsorge wiederzuentdecken, ohne die Selbstermächtigung der Theologen zu „Seelenführern“ zu restituieren. Das gilt auf der Ebene der Seelsorgelehre, aber auch auf der Ebene der Praxis. Hier müssen die für die Seelsorgeausbildung Verantwortlichen ein Bewusstsein dafür entwickeln und vertiefen, dass „Ethik“ zu den Kernfeldern der Seelsorge gehört und sich nicht allein an Spezialistinnen und Spezialisten delegieren lässt. Von der Wahrnehmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik dürfte auch die theologische Ethik in erheblichem Umfang profitieren. Zum einen kann dies dadurch geschehen, dass sie normative Implikationen seelsorglicher Haltungen reflektiert und so ein Verhältnis zu fürsorgeethischen Ansätzen entwickelt, ohne deren letztlich unfruchtbare Gegnerschaft zu prinzipienethischen Ansätzen zu übernehmen. Es erscheint in diesem Zusammenhang lohnend, den Dialog zwischen Care-Ethik und theologischer Ethik weiterzuführen und ihn wiederum für die Krankenhausseelsorge zugänglich und fruchtbar zu machen. Zum anderen könnte die Reflexion auf das Berufsfeld der Seelsorge der theologischen Ethik helfen, den breiten Graben zwischen ethischen Grundsatzfragen auf der einen Seite und hochspezifischen bereichsethischen Fragen am Ort der Medizinethik nicht völlig zu überwinden, aber doch hie und da zu überbrücken. Schließlich zeigt sich theologisch-ethischer wie dogmatischer Klärungsbedarf insbesondere am Ort der Schuldfrage: Im Studienmaterial verwenden Seelsorgende den Terminus der Schuld mit Zurückhaltung, zeigen sich aber offen für das Ritual der

Themen weiterer Forschung

341

Beichte. Es scheint eine Verlegenheit zu entstehen, wenn versucht wird, glaubhaft von Vergebung zu sprechen, ohne Schuld religiös zu thematisieren. Es ist die feste Überzeugung der Autorinnen und Autoren dieser Studie, dass es sich lohnt, die empirische Seelsorgeforschung weiter zu stärken und auszubauen. Schon im engeren Umfeld des Themas dieser Studie zeigt sich eine Fülle weiterer Fragen. So würde sich hinsichtlich der Rolle von Seelsorgenden im Umgang mit ethischen Themen ein Vergleich zwischen Kliniken in öffentlicher, privater und konfessioneller Trägerschaft lohnen. Kirchliche Krankenhäuser haben den Anstoß für die Etablierung von Ethikberatungsstrukturen gegeben; zu untersuchen wäre, inwiefern sich die Einbindung von Seelsorgenden in die Ethikarbeit in evangelischen und katholischen Kliniken von anderen unterscheidet. Auch die Formen des Ethischen in der Klinik verdienen weitere Aufmerksamkeit. Seelsorgende verwenden religiöse und moralische Sprache, um ihre Rollen und ethische Haltungen in der Klinik zu beschreiben. Es wäre interessant, genauer zu erforschen, welchen Einfluss die Sprachformen der Seelsorger auf Entscheidungsprozesse haben. Das gilt insbesondere auch für den Umgang mit nonverbaler Kommunikation. Angesichts dessen, dass die Eruierung des mutmaßlichen Willens kommunikativ eingeschränkter Patienten zu den Schwerpunktthemen der Ethikberatung gehört, besteht Klärungsbedarf, welchen Stellenwert nonverbale Kommunikation in der ethischen Entscheidungsfindung hat und haben sollte. Darüber hinaus wäre auch eine umfangreichere medizinanthropologische Forschung zu Ritualen in der Klinik im Kontext der Ethik interessant; so wie überhaupt die Einbindung ethnologischer bzw. kulturanthropologischer Methoden in die empirische Seelsorgeforschung sich auch in anderen Kontexten als fruchtbar erweisen dürfte. Über den Bereich der Seelsorge wie auch über den Bereich der Theologie hinaus gehen Forschungsfragen zur klinischen Ethik, die sich an Beobachtungen dieser Studie anschließen. So wäre es lohnend, die Berufsgruppe der Seelsorgenden mit anderen Berufsgruppen zu vergleichen hinsichtlich ihres Umgangs mit der Kategorie der Personalität oder der des Gewissens. Auch eine weitere Aufmerksamkeit auf die medizinethisch zentrale Kategorie des Willens lohnt sich, gerade in praxistheoretischer Hinsicht: Wie sind die Praktiken der Erzeugung des Patientenwillens in der Klinik, im Pflegeheim oder der Arztpraxis verfasst, und wie verhalten sie sich zu dem normativen Gewicht, das der Patientenwille in der medizinischen Ethik zu tragen hat? 1 Ferner dürfte das im Rahmen dieser Studie entwickelte Modell ethischer Situationen in der Klinik dazu beitragen, einer Verengung klinischer Ethik auf eine Technik der Entscheidungsfindung in schwierigen Behandlungsverläufen zu wehren. Es wäre 1 Zu diesem Thema erscheint in Kürze Thorsten Moos/Christoph Rehmann-Sutter/Christina Schües (Hg.): Randzonen des Willens.

342

Zusammenfassung und Ausblick

insbesondere intensiver zu untersuchen, wie etwas ethisch zum „Fall“ für die Klinische Ethikberatung wird, oder wie sich die Klinische Ethikberatung zu Fragen der Organisationsethik und Organisationskultur verhält. Ferner wäre der Blick nicht nur auf die Krankenhäuser mit ihren zum Teil schon stark etablierten Strukturen der Ethikberatung zu richten, sondern auch auf den institutionalisierten wie informellen Umgang mit Ethik im Kontext von Pflegeheimen und, nicht zuletzt, von Praxen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte.2 Weitere Forschungsfragen eröffnen sich auf dem Feld der seelsorglichen Professionsethik. Hier würde es sich lohnen, das seelsorgliche Berufsethos in geeigneter Weise empirisch zu beschreiben und dies mit vorhandenen Kodifizierungsversuchen zu konfrontieren. Hier wie auch hinsichtlich der anderen in dieser Studie behandelten Fragen wären interkonfessionelle wie auch interreligiöse Vergleiche hochinteressant; so dürfte die Präsenz nichtchristlicher Seelsorgender in den Kliniken zukünftig eine immer wichtigere Rolle spielen. Es ist kein großes Wagnis zu prognostizieren, dass die Rolle von Klinikseelsorgenden sich in Zukunft deutlich verändern wird. In dem Maße, wie Seelsorgende nicht mehr bei den Kirchen, sondern direkt an den Krankenhäusern angestellt und finanziert werden, dadurch noch stärker Teil des Teams werden, hausspezifischen Qualitätsmaßstäben unterliegen und ihre Arbeit dokumentieren,3 sind weitere empirische Studien zum Wandel der Profession der Klinikseelsorge, auch im internationalen Vergleich, wünschenswert. Eine solche Forschung erfüllt zum einen die originäre Aufgabe der Theologie, der kirchlichen Praxis im Modus ihrer Reflexion zu dienen; sie wäre aber auch ein Stück Grundlagenforschung zur religiösen Lage der Gegenwart. Denn der Blick auf die Seelsorge erlaubt es, Religion in ausdifferenzierten Gesellschaften an einem spezifischen Ort empirisch zu untersuchen und theologisch zu durchdringen. Die Seelsorge verdient also ein gerüttelt Maß an Aufmerksamkeit.

2 Vgl. dazu Coors/Simon/Stiemerling (Hg.): Ethikberatung. 3 Vgl. dazu Krüger, Krankenhausseelsorge, 12–14.

Anhang: Material für die Seelsorgeausbildung

M I: M II: M III: M IV: M V: M VI: M VII: M VIII: M IX: M X:

Arbeitsblatt „Modelle der Einbindung von Seelsorge in die Klinik“ (Block 1) Impuls „Klassifikation ethischer Situationen“ (Block 2) Fallbeispiel (Blöcke 2 und 3) Rollenanweisungen (Block 2) Rollenanweisungen (Block 3) Ablaufplan „Nimwegener Modell der ethischen Fallbesprechung“ (Block 3) Fragenkatalog „Auswertung des Planspiels“ (Block 3) Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“: Impuls für Erfahrungsaustausch Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“: Arbeitsmaterial für Kleingruppenarbeit Material zur Themeneinheit „Barmherziger Samariter und Seelsorge“

Alle Materialien sind als Druckvorlagen auch abrufbar unter http://www.v-r.de/de/ethik_ in_der_klinikseelsorge/t-1/1035489/.

344 M I:

Anhang

Arbeitsblatt „Modelle der Einbindung von Seelsorge in die Klinik“ (Block 1)

In den folgenden Interviewausschnitten treffen Seelsorgende Aussagen über die Art und den Grad ihrer Einbindung in die Klinik. Entscheiden Sie bei jedem Beispiel, ob Sie sich der betreffenden Aussage anschließen können und wie Sie diese Rolle bewerten. Die Bewertung richtet sich darauf, wie angemessen Sie die Rolle in der Klinik empfinden: von „sehr angemessen“ (++) bis „überhaupt nicht angemessen“ (– –). Die Überschriften über den Beispielen dienen nur als Orientierung für das Gruppengespräch und stellen eine verkürzte und nicht letztgültige Interpretation des jeweiligen Interviewabschnitts dar.

Rolle 1: Übersetzer/-in „Aber die Frage ist tatsächlich, in diesen Arzt-Angehörigen-Gesprächen: Welche Rolle habe ich denn da eigentlich? Gut, da fühle ich mich einmal in der Rolle des Übersetzers und des Begleiters für die Angehörigen. Aber nicht in der Rolle eines Mediziners.“ (I Florian Ahrens 18. 10. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer oft selten

nie

Diese Rolle bewerte ich: ++ + -

--

Rolle 2: Moderator/-in „Ich verstehe meine Rolle in dem Sinne, dass ich moderiere, die Position des Patienten oder der Patientin vermittle, wenn ich um die weiß. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich auch noch meins mit in die Waagschale werfen muss, sondern, dass es eher darum gehen müsste, dass jemand das moderiert und dafür sorgt, dass solche ethischen Konflikte einen Rahmen haben.“ (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer oft selten

nie

Diese Rolle bewerte ich: ++ + -

--

Rolle 3: Teamspieler/-in unter gemeinsamen Zwängen „Und gleichzeitig kommt ein ökonomischer Druck: Menschen haben nur noch eine bestimmte Verweildauer im Haus, und von daher müssen manchmal Entscheidungen schneller getroffen werden. Den Prozess dann zu forcieren, ist ein Teil des ethischen Prozesses für mich – also ich mach das nicht alleine – sondern wir versuchen als Team die Angehörigen da mitzunehmen.“ (I Susanne Christlieb 26. 10. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer oft selten

nie

Diese Rolle bewerte ich: ++ + -

--

345

Arbeitsblatt „Modelle der Einbindung von Seelsorge in die Klinik“

Rolle 4: Ethische Warninstanz in der Organisation „Da gibt’s eben Dinge, die laufen bis zu mir. Und da hat’s einen Konflikt gegeben, wo ich mich einfach eingemischt habe. Also wo ein Arzt versucht hat, eine eugenische Spätabtreibung durchzusetzen. Und wo das über eine der Hebammen bei mir gelandet ist und ich mich dann über die Geschäftsleitung noch mal eingemischt habe. Ich konnt’s nicht verhindern, aber es hat im Nachhinein noch mal ganz ordentlichen Krach gegeben. Das finde ich auch richtig.“ (I Annette Ingelmann 22. 11. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer

oft

selten

Diese Rolle bewerte ich: nie

++

+

-

--

Rolle 5: Sprachrohr der Patienten/-innen „Man kann, wenn man eine Stellung hat, alles äußern. Und ich werde deshalb nicht geschnitten. Es wird natürlich gelästert, klar, aber ich kann mich hinstellen und Sprachrohr sein für jemand, der sich vielleicht nicht mehr in der Weise äußern kann und unter Umständen keine Angehörigen hat, die sich hinstellen und sagen: Das machen wir nicht mit! Da geben wir nicht unsere Einwilligung!“ (I Christine Stein-Böttler 25. 10. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer oft selten

nie

Diese Rolle bewerte ich: ++ + -

--

Rolle 6: Guerilla-Ethiker/-in „Ich bin so eine Art Guerillakämpfer in diesem zu glatten System, mitunter dieser Klinik also in dieser Institution, die ja auch ihre Schattenseiten hat […]. Also das kann man in der Ethik gut unterbringen und auch ansprechen. Und da sind wir ein bisschen unter unseresgleichen, weil wir auch diese Schattenseiten zur Sprache bringen, auch die Tabuzonen, was sonst schwieriger ist.“ (I Philipp Vogt 27. 4. 2012 K) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer

oft

selten

Diese Rolle bewerte ich: nie

++

+

-

--

Rolle 7: Neutrale Instanz „Weil ich eine große Scheu vor Einmischung der Seelsorge in die Prozesse habe. […] Wenn eine Patientin sich über irgendetwas beklagt und ich noch einmal eine Rückfrage stelle, dann erlebe ich eine große Sensibilität oder zumindest eine Empfindlichkeit [beim Personal]. Und da erlebe ich Seelsorge ziemlich am Rande. Ich möchte auf jeden

346

Anhang

Fall nicht, dass Mitarbeitende den Eindruck gewinnen, dass Seelsorge etwas beurteilt.“ (I Renate Frohmut 9. 11. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer oft selten

nie

Diese Rolle bewerte ich: ++ + -

--

Rolle 8: Grenzgänger/-in zwischen Klinik und Kirche „[A]lso ich bin Inhaberin einer Pfarrstelle. Und damit auch Teil des Pfarrkollegiums hier im Kirchenkreis. Ich bin auch Teil des Seelsorgekonventes, was ich persönlich unendlich wichtig finde, weil die Arbeit als Seelsorgerin im Krankenhaus auch eine sehr einsame Arbeit ist. Also grad mit dieser Zwischenstellung zwischen ja… Teil des Krankenhauses sein und doch nicht.“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer oft selten

nie

Diese Rolle bewerte ich: ++ + -

--

Rolle 9: Theologische/-r Experte/-in „Auf der Geriatrie waren das auch die Ärzte, die das formuliert haben, da gibt’s eine Problemstellung, da würden wir auch gerne Ihre Sicht dazu hören als Seelsorgerin oder als Theologin.“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E) Diese Rolle nehme ich selbst ein: immer oft selten

nie

Diese Rolle bewerte ich: ++ + -

--

Rolle 10: Wechselnde Rollen im gleichen Konflikt „Und da bin ich als Seelsorgerin ja immer wieder mal auch in wechselnder Position innerhalb des gleichen Konflikts beteiligt… das ist, was ich auch als anstrengend erlebe bei meinem Beruf: eben zu wissen, da sind Menschen an ein und derselben.. Frage.. und ich bin eine die, die von außen dazukommt und für verschiedene [Menschen] zeitweise eine Begleiterin ist.“ (I Kerstin Heine 11. 11. 2011 E) Den Rollenwechsel erlebe ich selbst: immer oft selten

nie

Den Rollenwechsel bewerte ich: ++ + --

Arbeitsblatt „Modelle der Einbindung von Seelsorge in die Klinik“

347

M II: Impuls „Klassifikation ethischer Situationen“1 (Block 2)

Abbildung: Klassifikation ethischer Situationen in der Klinik nach (weithin) voneinander unabhängigen Merkmalen. Hervorgehoben ist die institutionalisierte klinisch-ethische Entscheidungssituation, wie sie die professionalisierte Medizinethik (etwa in der Ausbildung an ethischen Fällen) im Blick hat. Bei jeder horizontalen Verschiebung eines ‚Merkmalsbalkens‘ ergibt sich eine andere ethische Situation.

1 Siehe auch Kapitel 2.1, Abb. 2.

348

Anhang

In der Abbildung hervorgehoben ist eine medizinethische Entscheidungssituation, die von den Merkmalen her bei einer Fallbesprechung in einem Klinischen Ethikkomitee verortet sein kann. Es geht um die explizite Abwägung einer Behandlungsentscheidung, die im institutionellen Rahmen einer ethischen Fallbesprechung punktuell zusammen mit dem medizinischen Team und unter Einbeziehung von Angehörigen vorgenommen wird. Bei Verschiebung der horizontalen Merkmalsbalken ergeben sich anders geartete ethische Situationen, die als solche von Seelsorgenden in der Klinik benannt wurden. Zum Beispiel ist eine ethische Situation denkbar, in der eine ethische Frage nur implizit mitschwingt (Kommunikation), in der sich die Gespräche prozesshaft entwickeln (Zeit) und in der zwischen Tür und Angel (Raum) gesprochen wird: Eine Seelsorgerin begleitet den Sohn einer demenzkranken Patientin und führt in einem Prozess mehrerer Treffen auf dem Flur und im Garten kurze und längere Gespräche mit ihm. Manchmal geht es um die Frage, wie es mit der Mutter medizinisch weitergehen soll und für welche Behandlungsoptionen sich die Mutter entscheiden würde. Meist steht im Vordergrund, wie der Sohn die Mutter wahrnimmt und wie er sich die familiäre Zukunft vorstellt. Dann steht eine Behandlungsentscheidung mit der Frage an, ob sich die Patientin einer Operation zur Anlage einer Sonde zur künstlichen Ernährung unterziehen soll. Mit dieser Frage wird die ethische Entscheidung explizit und der Merkmalsbalken „Kommunikation“ rutscht nach links. Die anderen Merkmalsbalken verbleiben. Denn auch jetzt kann die Seelsorgerin den Sohn der demenzkranken Patientin prozesshaft und in Tür- und Angel-Gesprächen begleiten. Schließlich fällt die Entscheidung gegen eine künstliche Ernährung, die Patientin verstirbt und die Seelsorgerin führt Trauergespräche und übernimmt die Beerdigung. Hier steht die explizite Abwägung nicht mehr im Vordergrund, aber es handelt sich um eine Nachbereitung der ethischen Entscheidung, die von Seelsorgenden auch als ethische Situation wahrgenommen wird. Im Planspiel von Block 2 (Individualseelsorge) interessiert, in welchen Konstellationen ethischer Situationen sich die Seelsorgenden bewegen und welche Kompetenzen sie dort zur Gestaltung des Entscheidungsweges einbringen.

349

Fallbeispiel

M III: Fallbeispiel (Blöcke 2 und 3) Herr G. ist ein 72-jähriger Mann, der mit folgender Vorgeschichte in die Klinik eingeliefert wird: Vor 20 Jahren Vor 20 Jahren Vor 10 Jahren Vor 5 Jahren Vor 5 Jahren

Koronaleiden (Beschwerden durch verengte Herzkranzschlagadern) Bypassoperationen Herzinfarkt (Therapie: Verschlussauflöser) Erneuter Herzinfarkt (Vorderwand) RCA Stent (Gefäßstütze in der rechten Kranzschlagader)

„Während der Goldhochzeit eines Familienmitglieds wird Herr G. bewusstlos. Er atmet nicht mehr und hat eine blasse, violette Hautfarbe. Die direkt Umstehenden beginnen mit der Reanimation, wonach eine erfolgreiche Nachreanimation durch das Ambulanzteam stattfindet. Über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wird, wird Herr G. zur Intensivstation gebracht, weil er nicht selbstständig atmet. Dort konzentrieren sich die Probleme auf das zentrale Nervensystem. Auf der Intensivstation verläuft es nicht gut: Obwohl Herr G. kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert bei einer körperlichen Untersuchung durch den Neurologen nicht auf Reize wie Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Dies deutet auf ein Koma hin. Ergänzende klinisch neurologische Untersuchungen (EEG, SSEP) weisen auf einen möglichen schweren Hirnschaden aufgrund des für längere Zeit abwesenden Blutdrucks während der Reanimation hin. Neurologisch wird die Zukunft von Herrn G. bestimmt sein durch Invalidität (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wovon das genaue Ausmaß nicht vorhergesagt werden kann. Weiter ist die Rede von einer sehr schlechten Pumpkraft des Herzens, wodurch bereits eine leichte Nierenfunktionsstörung entstanden ist und wobei auch Herzrhythmusstörungen aufgetreten sind. Das Kranzschlagadersystem ist bedroht und kann größeren Belastungen nicht standhalten. Dies hat wiederum lebensbedrohende Auswirkungen. Therapeutische Optionen für das Herz bestehen nicht (Herr G. hat in der Vergangenheit bereits viel Therapie bekommen: Medikamente, RCA-Stent). Dieser schlechte Herzzustand ist entscheidend für die Zukunft von Herrn G.: Er wird nur geringe Anstrengungen überstehen können und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte bleibt groß.“2

2 Steinkamp/Gordijn, Ethik, 241f.

350

Anhang

M IV: Rollenanweisungen (Block 2) Die Gruppe teilt sich in Dreiergruppen auf: jeweils ein Beobachter, ein Seelsorger und ein ‚Klient‘. Die Rollenanweisungen werden ‚blind‘ verteilt und erst dann gelesen. Setting 1: Tochter [am Krankenbett der Intensivstation]: Rollenanweisung Seelsorger/-in: Sie vertreten einen Kollegen und sind heute zum ersten Mal auf der Intensivstation „Ihres“ Krankenhauses. Sie erkundigen sich bei der Stationsschwester, wer sich über Ihren Besuch freuen könnte. Diese verweist Sie auf eine Frau, die gerade am Krankenbett ihres Vaters sitzt.

Rollenanweisungen

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Setting 1: Tochter [am Krankenbett der Intensivstation]: Rollenanweisung Tochter: Während der Goldhochzeit eines Familienmitglieds vor einer Woche wurde Ihr Vater bewusstlos. Er atmete nicht mehr und hat eine blasse, violette Hautfarbe. Die direkt Umstehenden begannen mit der Reanimation, bis der Notarzt kam. Über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, wurde Ihr Vater zur Intensivstation gebracht, weil er nicht selbstständig atmete. Auf der Intensivstation verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Man müsse jetzt entscheiden, ob man die Geräte abschaltet oder weitermacht. Sie als Tochter sind von der Situation ihres Vaters sehr betroffen und verbringen jeden Tag mehrere Stunden am Krankenbett. Sie sind entschieden dafür, dass man alles für Ihren Vater tun muss. Im Hintergrund steht Ihre christliche Überzeugung, dass man die Hoffnung nie aufgeben darf, und dass das Abschalten der Maschinen einer Tötung gleichkommt. Sie haben die Eindruck, dass Sie für diese Position gegen alle kämpfen müssen. Ihre Mutter tendiert dazu, dass das Leiden Ihres Vaters nicht verlängert werden soll, Ihr Bruder ist unentschieden. Sie selbst wollen den Vater nicht aufgeben. Sie halten oft die Hand Ihres Vaters und wissen: „Ich brauche ihn noch. Er darf nicht sterben.“ Von der Seelsorgerin, die Sie anspricht, als Sie am Bett Ihres Vaters sitzen, erhoffen Sie sich Verständnis und Verstärkung für Ihre christliche Position.

352

Anhang

Setting 1: Tochter [am Krankenbett der Intensivstation]: Aufgaben für Beobachter/-in: 1. Wie geht die Seelsorgerin/der Seelsorger auf die ethische Frage ein? 2. Welche Gesprächsimpulse nimmt der Klient/die Klientin auf ? 3. Welche Rolle wird der Seelsorgerin/dem Seelsorger im Gespräch angetragen, und welche nimmt er/sie tatsächlich ein?

Bitte achten Sie auch auf die Zeit: 10 min Planspiel Seelsorgegespräch 10 min erste Besprechung in der Kleingruppe

Rollenanweisungen

353

Setting 2: Sohn [in der Cafeteria des Krankenhauses]: Rollenanweisung Seelsorger/-in: Sie vertreten einen Kollegen und sind heute zum ersten Mal auf der Intensivstation „Ihres“ Krankenhauses. Sie erkundigen sich bei der Stationsschwester, wer sich über Ihren Besuch freuen könnte. Diese verweist Sie auf einen Mann, dessen sterbenskranker Vater vor einigen Tagen eingeliefert wurde. Der Mann läuft auf dem Flur hin und her. Sie sprechen ihn an und gehen mit ihm in die Cafeteria.

354

Anhang

Setting 2: Sohn [in der Cafeteria des Krankenhauses]: Rollenanweisung Sohn: Während der Goldhochzeit eines Familienmitglieds vor einer Woche wurde Ihr Vater bewusstlos. Er atmete nicht mehr und hat eine blasse, violette Hautfarbe. Die direkt Umstehenden begannen mit der Reanimation, bis der Notarzt kam. Über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, wurde Ihr Vater zur Intensivstation gebracht, weil er nicht selbstständig atmete. Auf der Intensivstation verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Man müsse jetzt entscheiden, ob man die Geräte abschaltet oder weitermacht. Sie selbst sind fahrig und unkonzentriert. Sie waren bei großen Entscheidungen immer die rechte Hand ihres Vaters. Auch nun erwartet die Familie von Ihnen, dass Sie Position beziehen. Mit der Entscheidung sind Sie überfordert und fühlen sich hin und her gerissen. Sie führen die Geschäfte des Vaters im Unternehmen weiter (er ist Direktor eines eigenen Transportunternehmens) und können nur selten ins Krankenhaus kommen. Einerseits glauben Sie, dass Ihr Vater in so einem Zustand nicht hätte weiterleben wollen. Andererseits wissen Sie, dass in der Firma noch vieles unerledigt ist und Sie und Ihr Vater in der nächsten Zeit noch wichtige Dinge hätten klären wollen. Außerdem sind Sie sich unsicher, wie viel Ihr Vater doch noch mitbekommt. Vielleicht muss man die Sache auch pragmatisch sehen und jetzt einfach entscheiden? Aber wie? Eine Seelsorgerin spricht Sie an, als Sie auf dem Flur hin und herlaufen. Sie gehen in die Cafeteria. Sie erhoffen sich von der Seelsorgerin einen konkreten Ratschlag, was Sie machen sollen.

Rollenanweisungen

355

Setting 2: Sohn [in der Cafeteria des Krankenhauses]: Aufgaben für Beobachter/-in: 1. Wie geht die Seelsorgerin/der Seelsorger auf die ethische Frage ein? 2. Welche Gesprächsimpulse nimmt der Klient/die Klientin auf ? 3. Welche Rolle wird der Seelsorgerin/dem Seelsorger im Gespräch angetragen, und welche nimmt er/sie tatsächlich ein?

Bitte achten Sie auch auf die Zeit: 10 min Planspiel Seelsorgegespräch 10 min erste Besprechung in der Kleingruppe

356

Anhang

Setting 3: Pflegekraft [im Tür-und-Angel-Gespräch]: Rollenanweisung Seelsorger/-in: Sie vertreten einen Kollegen und sind heute zum ersten Mal auf der Intensivstation „Ihres“ Krankenhauses. Sie erkundigen sich bei der Stationsschwester, wer sich über Ihren Besuch freuen könnte. Diese sagt spontan: „Ich hab da selbst was.“ Sie sprechen mit ihr, stehend, irgendwo zwischen Tür und Angel.

Rollenanweisungen

357

Setting 3: Pflegekraft [im Tür-und-Angel-Gespräch]: Rollenanweisung Pflegekraft: Ein älterer Mann ist über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, auf die Intensivstation gekommen, weil er nicht selbstständig atmete. Hier verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Trotzdem erhält er bisher die Maximaltherapie. Sie sind gegen eine Verlängerung des „Leidens“ des Patienten. Die Intensivstation ist voll von solchen Fällen. Aber Ärzte wollen immer noch bis zuletzt alles ausreizen. Sie haben viele Fälle erlebt, wo es ähnlich gelaufen ist und die verlängerte Behandlung dann doch nichts genützt hat. Sie sind der Ansicht, dass alles auf dem Rücken der Pflege ausgetragen wird und Sie ständig überfordert werden. Eine neue Seelsorgerin ist heute zum ersten Mal auf der Intensivstation. Sie erkundigt sich bei Ihnen, wer sich über Ihren Besuch freuen könnte. Sie sagen spontan: „Ich hab da selbst was.“ Sie sprechen mit ihr, stehend, irgendwo zwischen Tür und Angel. Sie wünschen sich von der Seelsorge, sich bei der Klinikleitung für die Situation der Pflege auf der Intensivstation stark zu machen.

358

Anhang

Setting 3: Pflegekraft [im Tür-und-Angel-Gespräch]: Aufgaben für Beobachter/-in: 1. Wie geht die Seelsorgerin/der Seelsorger auf die ethische Frage ein? 2. Welche Gesprächsimpulse nimmt der Klient/die Klientin auf ? 3. Welche Rolle wird der Seelsorgerin/dem Seelsorger im Gespräch angetragen, und welche nimmt er/sie tatsächlich ein?

Bitte achten Sie auch auf die Zeit: 10 min Planspiel Seelsorgegespräch 10 min erste Besprechung in der Kleingruppe

Rollenanweisungen

359

Setting 4: Ehefrau [in der Sitzgruppe im Flur]: Rollenanweisung Seelsorger/-in: Sie vertreten einen Kollegen und sind heute zum ersten Mal auf der Intensivstation „Ihres“ Krankenhauses. Sie erkundigen sich bei der Stationsschwester, wer sich über Ihren Besuch freuen könnte. Diese verweist Sie auf eine ältere Dame, deren sterbenskranker Ehemann vor einigen Tagen eingeliefert wurde. Sie sitzt in einer Sitzgruppe im Flur. Sie setzen sich zu ihr.

360

Anhang

Setting 4: Ehefrau [in der Sitzgruppe im Flur]: Rollenanweisung Ehefrau Während der Goldhochzeit eines Familienmitglieds vor einer Woche wurde Ihr Mann bewusstlos. Er atmete nicht mehr und hat eine blasse, violette Hautfarbe. Die direkt Umstehenden begannen mit der Reanimation, bis der Notarzt kam. Über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, wurde Ihr Mann zur Intensivstation gebracht, weil er nicht selbstständig atmete. Auf der Intensivstation verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Man müsse jetzt entscheiden, ob man die Geräte abschaltet oder weitermacht. Sie haben das schon länger erwartet und fühlen sich abgeklärt. Sie kommen regelmäßig zu Besuch, halten es aber nicht lange am Bett Ihres Mannes aus. „Wie der da liegt. Wie eine Puppe. Das hätte er nicht gewollt.“ Sie sind sich sicher, dass Ihr Mann für ein Abschalten der Geräte votiert hätte. Andererseits sehen Sie, dass Ihr Sohn und vor allem Ihre Tochter damit Schwierigkeiten hätten. Ihre Tochter übt viel Druck auf Sie aus. Einerseits verstehen Sie sie ja und möchten nicht, dass sie leidet. Aber besser wäre es, nun dem Leiden Ihres Mannes ein Ende zu setzen. Eine Seelsorgerin setzt sich zu Ihnen, als Sie in einer Sitzgruppe im Flur der Klinik sitzen. Von der Seelsorge erwarten Sie, dass Sie eine Verstärkung Ihrer Position bekommen. Sie wollen von der Seelsorgerin hören, dass es gut und geboten ist, abzuschalten.

Rollenanweisungen

361

Setting 4: Ehefrau [in der Sitzgruppe im Flur]: Aufgaben für Beobachter/-in: 1. Wie geht die Seelsorgerin/der Seelsorger auf die ethische Frage ein? 2. Welche Gesprächsimpulse nimmt der Klient/die Klientin auf ? 3. Welche Rolle wird der Seelsorgerin/dem Seelsorger im Gespräch angetragen, und welche nimmt er/sie tatsächlich ein?

Bitte achten Sie auch auf die Zeit: 10 min Planspiel Seelsorgegespräch 10 min erste Besprechung in der Kleingruppe

362

Anhang

M V: Rollenanweisungen (Block 3) Seelsorge I Sie haben als Seelsorger/-in den Vorsitz des Klinischen Ethikkomitees inne und moderieren das Gespräch. Nach der sogenannten Nimwegener Methode wird der Fall prospektiv besprochen. Das heißt, dass dem ärztlichen Behandlungsteam ein oder mehrere begründete Vorschläge für eine noch ausstehende Handlungsentscheidung an die Hand gegeben werden sollen. Sie halten sich in ihrem ethischen Urteil zurück, leiten das Gespräch und sind darauf bedacht, dass alle Beteiligten gleichermaßen zu Wort kommen und dass die Zeit (max. 40 min) eingehalten wird.

Rollenanweisungen

363

Seelsorge II Sie sind Seelsorger/-in und kennen den Patienten und alle Angehörigen nicht.

364

Anhang

Seelsorge III Ein älterer Mann ist über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, auf die Intensivstation gekommen, weil er nicht selbstständig atmete. Hier verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege. Trotzdem erhält er bisher die Maximaltherapie. Sie sind Seelsorger/-in und haben die ethische Fallbesprechung veranlasst, weil Sie mit Ehefrau und Tocher des Patienten gesprochen haben. Offenbar gibt es ganz unterschiedliche Auffassungen zur Weiterbehandlung, nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch im medizinischen Team. Sie wissen einiges zur Weltanschauung des Patienten und zur sozialen Situation der Familie: Laut Auskunft der Familie ist Herr G. römisch-katholisch und würde Wert auf ein Gespräch mit dem Pfarrer legen. Andererseits ist er nüchtern und geht auch nicht zur Kirche. Herr G. ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist Direktor eines eigenen Transportunternehmens, das er gemeinsam mit seinem Sohn betreibt. Seine Familie scheint sehr involviert zu sein. Herr G. ist trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen sehr aktiv und für jeden hilfsbereit. Er hat angegeben, dass er niemals abhängig von anderen sein will, auch nicht während einer Krankheit, jedoch hat er sich darüber nie detailliert ausgesprochen. Ein eventuelles Versterben von Herrn G. hätte beträchtliche Folgen für das Unternehmen. Sein Sohn übernimmt es zwar, es wäre aber dennoch eine enorme Veränderung für alle Beteiligten. Die Familienkonstellation sehen Sie als schwierig an. Sie haben guten Kontakt zur Tochter, die sehr an der Situation leidet. Die Tochter ist tief gläubig und wendet sich gegen ein Abschalten der Geräte. Sie sind selbst auch der Ansicht, dass man die Hoffnung nie aufgeben solle. Hirngeschädigte und komatöse Patienten haben ein Recht auf Leben, und man muss sie als schwer behinderte Menschen behandeln. Sie haben vor kurzem eine Weiterbildung für nonverbale Kommunikation mit komatösen Patienten gemacht und können sich vorstellen, der Familie des Patienten zu helfen, mit dem Patienten zu „kommunizieren“. Auf jeden Fall müsse die Position der Tochter ernst genommen werden.

Rollenanweisungen

365

Behandelnder Arzt/Behandelnde Ärztin Die medizinische Fallbeschreibung wird auf Bitten der Moderation am Anfang der Sitzung eingebracht: Herr G. ist ein 72-jähriger Mann, der mit folgender Vorgeschichte in die Klinik eingeliefert wurde: Reanimierter Patient mit ernstem Kranzschlagaderleiden. Wegen niedriger Blutdrücke vor und während der Reanimation ist Hirnschaden entstanden, resultierend in komatösem Zustand. Prognose des Kranzschlagaderleidens ist sehr schlecht: keine medizinischen Behandlungsoptionen mehr, Zustand des Herzens nach diesem letzten Herzinfarkt weiter verschlechtert. Geringste Anstrengung resultiert in ernsthafter Überlastung des Herzens mit möglicherweise lebensbedrohenden Folgen. Prognose des Hirnschadens ist ebenfalls sehr schlecht: ergänzende Untersuchung weist auf ernsten, irreversiblen Schaden hin. Ernst und Ausmaß davon sind schwer vorherzusagen. Behandlungsabbruch (Beatmung, Medikation) würde das Versterben von Herrn G. zur Folge haben. Folgende Informationen können noch in der Phase 2 „Fakten“ eingebracht werden: • Herr G. hat folgende Vorerkrankungen: Vor 20 Jahren Koronaleiden (Schmerzen in der Brust durch verengte Kranzschlagadern) Vor 20 Jahren Bypassoperationen Vor 10 Jahren Herzinfarkt (Therapie: Verschlussauflöser) Vor 5 Jahren Erneuter Herzinfarkt (Vorderwand) Vor 5 Jahren RCA-Stent (Gefäßstütze in der rechten Kranzschlagader) • Herz ist sehr anfällig: schlechte Pumpkraft und Herzrhythmusstörungen • große Wahrscheinlichkeit weiterer Herzinfarkte • Nierenfunktionsstörung, wahrscheinlich bald dialysepflichtig Es kommen drei Handlungsalternativen in Betracht: (1) Mit der Behandlung eventuell über Monate fortfahren, bis sich – auch wenn dies unwahrscheinlich ist – die Situation so verändert, dass Anpassungen des Behandlungsplans notwendig werden. (2) Die Begrenzung der Behandlung, indem abgesprochen wird, keine neuen großen medizinischen Probleme zu behandeln. Auf einer Liste werden die Behandlungen vermerkt, mit denen nicht mehr begonnen wird. Dazu gehören unter anderem Reanimation, Dialyse, Operationen, Behandlung von Herzrhythmusstörungen etc. Die entsprechende Liste muss stets sorgfältig durchgenommen und eventuelle Veränderungen vermerkt werden.

366

Anhang

(3) Behandlungsabbruch: Alle die vitalen Funktionen unterstützenden Maßnahmen werden beendet. Dies hat das Versterben von Herrn G. zur Folge. Die Aufgabe des Teams ist dann nicht mehr die Wiederherstellung der Gesundheit von Herrn G., sondern die Ermöglichung eines menschenwürdigen Sterbens. Letzteres geschieht beispielsweise dadurch, dass normale Dosen von Schlaf- und Schmerzmitteln verabreicht werden, um Schmerz, Angst, Unruhe und Beklemmung auszuschließen. Herr G. würde dann eines natürlichen Todes sterben und seine Familie könnte in der Zeit an seinem Bett Abschied von ihm nehmen. Sie sehen keine Aussichten auf Heilung. Ihr Pathos ist es, dem Patienten keine Maximaltherapie zu geben. Allerdings hätten Sie Gewissensbisse, alle Geräte abzustellen. Lieber wäre es Ihnen, die Behandlung nicht zu eskalieren. Also, wenn die Nieren des Patienten versagen, keine Dialyse anzusetzen, oder wenn er eine Lungenentzündung entwickelt, keine Antibiotika zu verabreichen. Sie sprechen sich also dezidiert für Option 2 aus.

Rollenanweisungen

367

Pflegekraft Ein älterer Mann ist über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, auf die Intensivstation gekommen, weil er nicht selbstständig atmete. Hier verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Trotzdem erhält er bisher Maximaltherapie. Auf Bitten der Moderation tragen Sie pflegerische Aspekte vor: Pflegerisch sind keine therapeutischen Optionen erkennbar. Der Pflegeplan besteht aus pflegerischer Basisversorgung und intensiver Begleitung der Familie. Der Patient ist nicht zur Kommunikation oder Selbstsorge in der Lage. Von physiotherapeutischer Versorgung wird abgesehen, bis das weitere medizinische Vorgehen deutlich vereinbart ist. Sie selbst sind gegen eine Verlängerung des Leidens des Patienten. Die Intensivstation ist voll von solchen Fällen. Aber Ärzte wollen immer noch bis zuletzt alles ausreizen. Sie haben viele Fälle erlebt, wo es ähnlich gelaufen ist, und die verlängerte Behandlung dann doch nichts genützt hat. Sie sind der Ansicht, dass alles auf dem Rücken der Pflege ausgetragen wird, und Sie ständig überfordert werden. Auch sehen Sie: Die Ehefrau und der Sohn leiden daran, dass der Patient so „dahinvegetiert“. Außerdem, denken Sie, ist die Tochter ja nicht auszuhalten, wie sie an dem Vater klammert. Sie halten sie für religiös indoktriniert. Auch Gerechtigkeitsaspekte spielen für Sie eine Rolle: Die Pflege- und Behandlungsbedürfnisse des Patienten können erfüllt werden, allerdings nicht unbegrenzt. Sie finden, dass es mit dem Wissen über einen solchen komatösen Zustand und angesichts der Bettenknappheit nicht zu verantworten sei, den Patienten ohne Aussicht auf Verbesserung monatelang auf diese Weise auf der Intensivstation zu pflegen. Andererseits darf jedoch die Bettenknappheit an sich die Entscheidung über die Behandlung von Herrn G. nicht beeinflussen.

368

Anhang

Neurologe/-in Als Neurologe/Neurologin wurden Sie vom behandelnden Arzt auf die Intensivstation gerufen, um bei Herrn G. neurologische Untersuchungen durchzuführen. Folgende Ergebnisse haben die Untersuchungen ergeben: • Herr G. wird nicht wach und ist abhängig von mechanischer Beatmung. • Keine Reaktion auf Reize, wie Ansprechen, Anfassen, Schmerz. • Alles deutet auf ein Koma. • Weitere Untersuchungen (EEG: Elektroenzephalogramm, SSEP: Somatosensorisch Evozierte Potenziale) weisen auf einen möglichen schweren Hirnschaden. • Neurologisch wird die Zukunft von Herrn G. bestimmt sein durch Invalidität (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit). Für Sie ist klar: An eine Heilung im Sinne einer Wiederherstellung des ursprünglichen Wohlbefindens von Herrn G. ist nicht zu denken. Es ist sogar fraglich, ob Herr G. überhaupt überlebt, wenn man an den Zustand des Herzens denkt. Wenn er denn überlebt, steht zur Debatte, ob die erwartete Lebensqualität den gemutmaßten Vorstellungen von Wohlsein des Patienten entspricht. Sie werden während der Sitzung öfter auf Ihrem Diensthandy angerufen und werden ungeduldig, wenn Sie meinen, dass das Gespräch nicht vorangeht. Es kommen drei Handlungsalternativen in Betracht: (1) Mit der Behandlung eventuell über Monate fortfahren, bis sich – auch wenn dies unwahrscheinlich ist – die Situation so verändert, dass Anpassungen des Behandlungsplans notwendig werden. (2) Die Begrenzung der Behandlung, indem abgesprochen wird, keine neuen großen medizinischen Probleme zu behandeln. Auf einer Liste werden die Behandlungen vermerkt, mit denen nicht mehr begonnen wird. Dazu gehören unter anderem Reanimation, Dialyse, Operationen, Behandlung von Herzrhythmusstörungen etc. Die entsprechende Liste muss stets sorgfältig durchgearbeitet werden; eventuelle Veränderungen müssen vermerkt werden. (3) Behandlungsabbruch: Alle die vitalen Funktionen unterstützenden Maßnahmen werden beendet. Dies hat das Versterben von Herrn G. zur Folge. Die Aufgabe des Teams ist dann nicht mehr die Wiederherstellung der Gesundheit von Herrn G., sondern die Ermöglichung eines menschenwürdigen Sterbens. Letzteres geschieht beispielsweise dadurch, dass normale Dosen von Schlaf- und Schmerzmitteln verabreicht werden, um Schmerz, Angst, Unruhe und Beklemmung auszuschließen. Herr G. würde dann eines natürlichen Todes sterben und seine Familie könnte in der Zeit an seinem Bett Abschied von ihm nehmen. Sie vertreten ein starkes Interesse an Therapieoption 3. Es habe keinen Sinn mehr, den Patienten weiter zu behandeln. „Das wird ein Dauerpflegefall.“

Rollenanweisungen

369

Tochter Während der Goldhochzeit eines Familienmitglieds vor einer Woche wurde Ihr Vater bewusstlos. Er atmete nicht mehr und hat eine blasse, violette Hautfarbe. Die direkt Umstehenden begannen mit der Reanimation, bis der Notarzt kam. Über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, wurde Ihr Vater zur Intensivstation gebracht, weil er nicht selbstständig atmete. Auf der Intensivstation verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Man müsse jetzt entscheiden, ob man die Geräte abschaltet oder weitermacht. Sie als Tochter sind von der Situation Ihres Vaters sehr betroffen und verbringen jeden Tag mehre Stunden am Krankenbett. Sie sind entschieden dafür, dass man alles für Ihren Vater tun muss. Im Hintergrund steht Ihre christliche Überzeugung, dass man die Hoffnung nie aufgeben darf, und dass das Abschalten der Maschinen einer Tötung gleichkommt. Sie haben die Eindruck, dass Sie für diese Position gegen alle kämpfen müssen. Ihre Mutter tendiert dazu, dass das Leiden Ihres Vaters nicht verlängert werden soll, Ihr Bruder ist unentschieden. Sie selbst wollen den Vater nicht aufgeben.

370

Anhang

Sohn Während der Goldhochzeit eines Familienmitglieds vor einer Woche wurde Ihr Vater bewusstlos. Er atmete nicht mehr und hat eine blasse, violette Hautfarbe. Die direkt Umstehenden begannen mit der Reanimation, bis der Notarzt kam. Über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, wurde Ihr Vater zur Intensivstation gebracht, weil er nicht selbstständig atmete. Auf der Intensivstation verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Man müsse jetzt entscheiden, ob man die Geräte abschaltet oder weitermacht. Mit der Entscheidung sind Sie überfordert und fühlen sich hin und her gerissen. Sie führen die Geschäfte des Vaters im Unternehmen weiter (er ist Direktor eines eigenen Transportunternehmens) und können nur selten ins Krankenhaus kommen. Einerseits glauben Sie, dass Ihr Vater in so einem Zustand nicht hätte weiterleben wollen. Andererseits wissen Sie, dass in der Firma noch vieles unerledigt ist und Sie und Ihr Vater in der nächsten Zeit noch wichtige Dinge hätten klären wollen. Außerdem sind Sie sich unsicher, wie viel Ihr Vater doch noch mitbekommt. Vielleicht muss man die Sache auch pragmatisch sehen und jetzt einfach entscheiden? Aber wie? Ihr Vater hat sich trotz seiner kardialen Vorgeschichte weder schriftlich noch mündlich geäußert, welches Maß von Einschränkungen er bereit gewesen wäre hinzunehmen. Seine allgemeine Aussage, er wolle nie abhängig sein, führt in der konkreten Situation nicht weiter. Ans Bett gefesselt zu sein, hätte er vermutlich nicht gewollt.

Rollenanweisungen

371

Ehefrau Während der Goldhochzeit eines Familienmitglieds vor einer Woche wurde Ihr Mann bewusstlos. Er atmete nicht mehr und hat eine blasse, violette Hautfarbe. Die direkt Umstehenden begannen mit der Reanimation, bis der Notarzt kam. Über die Notaufnahme, wo ein Herzinfarkt diagnostiziert wurde, wurde Ihr Mann zur Intensivstation gebracht, weil er nicht selbstständig atmete. Auf der Intensivstation verläuft es nicht gut: Obwohl er kein Schlafmittel bekommt, wird er nicht wach, bleibt abhängig von mechanischer Beatmung und reagiert nicht auf Ansprechen, Anfassen, Schmerz. Die Ärzte sagen, dass er im Koma liege und möglicherweise einen schweren Hirnschaden erlitten habe. Vermutlich werde er ein Invalide bleiben (Lähmungen, keine Kommunikation, Pflegebedürftigkeit), wobei das genaue Ausmaß hiervon nicht vorhergesagt werden könne. Es heißt, sein Herz sei in sehr schlechter Verfassung. Auch wenn er wieder aufwachen sollte, werde er nur geringe Anstrengungen überstehen können, und die Wahrscheinlichkeit neuer Herzinfarkte sei groß. Man müsse jetzt entscheiden, ob man die Geräte abschaltet oder weitermacht. Sie haben das schon länger erwartet und fühlen sich abgeklärt. Sie kommen regelmäßig zu Besuch, halten es aber nicht lange am Bett Ihres Mannes aus. „Wie der da liegt. Wie eine Puppe. Das hätte er nicht gewollt.“ Sie sind sich sicher, dass Ihr Mann für ein Abschalten der Geräte votiert hätte. Andererseits sehen Sie, dass Ihr Sohn und vor allem Ihre Tochter damit Schwierigkeiten hätten. Ihre Tochter übt viel Druck auf Sie aus. Einerseits verstehen Sie sie ja und möchten nicht, dass sie leidet. Aber besser wäre es, nun dem Leiden Ihres Mannes ein Ende zu setzen. Ihr Mann hat sich trotz seiner kardialen Vorgeschichte weder schriftlich noch mündlich geäußert, welches Maß von Einschränkungen er bereit gewesen wäre hinzunehmen. Aber die Aussicht von Invalidität, ans Bett gefesselt zu sein, wäre eine unannehmbare Situation für ihn.

372

Anhang

Beobachter/-in I: Welche Rolle nehmen die Seelsorgenden ein? Beobachter/-in II: Bitte beobachten Sie die Stationen des Gesprächsverlaufs. Wie kommt es zu einer Lösung, oder was verhindert eine solche? Beobachter/-in III: Was hat Ihrer Ansicht nach gefehlt? Wo gab es Lücken, Unausgesprochenes? Was wurde nicht weiterverfolgt? Warum?

Ablaufplan „Nimwegener Modell der ethischen Fallbesprechung“

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M VI: Ablaufplan „Nimwegener Modell der ethischen Fallbesprechung“ (Block 3) Ziel: In einem ethisch schwierigen Fall Empfehlungen für den behandelnden Arzt bzw. die behandelnde Ärztin erstellen. Zusammensetzung: behandelndes medizinisches Team, ggf. Psychologe/-in, Sozialdienst, Seelsorge, ggf. Angehörige. Moderation (M): Jemand, der nicht am Fall beteiligt ist [im Planspiel: Seelsorger/-in I]

Phase 1: Problem Grundfrage: Wie lautet das ethische Problem? Ziel: Das anstehende Problem so deutlich und konkret wie möglich formulieren (Frageform). Verfahren: Moderatorin • bittet Seelsorger/-in III um Auskunft, warum sie die ethische Fallbesprechung veranlasst hat; • bittet den/die behandelnde/-n Arzt/Ärztin um Vorstellung des Falls; • bittet um Stellungnahme der Teilnehmenden dazu, was als das ethische Problem gesehen wird; • fasst zusammen und formuliert eine Ausgangsfrage für das weitere Gespräch.

Phase 2: Fakten Grundfrage: Was wissen wir? Ziel: Kenntnisse über den Patienten und die Umstände sammeln und strukturieren. Verfahren: Moderatorin bittet um Darstellung: • medizinische Gesichtspunkte (behandelnder Arzt und weitere Ärzte); • lebensanschauliche und soziale Dimension (Seelsorge und Angehörige: Was wollen sie beitragen?); • pflegerische Gesichtspunkte (Pflegekräfte); • organisatorische Dimension (Sozialdienste [nicht im Planspiel]). Hier kann erkannt werden, ob wichtige Fakten noch nicht bekannt sind.

374

Anhang

Phase 3: Ethische Bewertung Grundfrage: Wie ist die Situation ethisch zu bewerten? Ziel: Überzeugungen der Teilnehmenden strukturiert ins Gespräch bringen. Verfahren: Moderatorin lässt etwa folgende ethischen Aspekte diskutieren (es geht hier nicht um allgemeine Grundwerte und Normen, sondern um Konkretisierungen hinsichtlich des Patienten): • Wie können wir für das Wohlsein des Patienten sorgen und Schaden von ihm abwenden? Was verstehen wir in seinem Fall unter Wohlsein? Was wäre für ihn das Beste? • Wie können wir die Autonomie des Patienten achten? Hat er sich zu dieser Situation jemals geäußert? Wenn nicht, was wäre sein mutmaßlicher Wille? Wie sicher sind wir dabei? • Wie können wir dem Aspekt der Gerechtigkeit im Fall des Patienten Rechnung tragen? Welche Interessen sind im Spiel, und gibt es finanzielle Gesichtspunkte oder Vertraulichkeitsprobleme? M fasst die Punkte abschließend zusammen. Phase 4: Beschlussfassung Grundfrage: Was empfehlen wir dem Arzt/der Ärztin? Ziel: Handlungsoptionen sichten und Meinungsbild erheben. Verfahren: Moderatorin fragt: • Stellt das eingangs formulierte ethische Problem immer noch den Hauptfokus dar? • Welche Behandlungsalternativen kommen in Betracht (Frage an die Ärzte)? • Welche der Alternativen wollen wir empfehlen? M versucht einen Konsens herzustellen. Wenn dies nicht gelingt, wird über die Alternativen abgestimmt.

Fragenkatalog „Auswertung des Planspiels“

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M VII: Fragenkatalog „Auswertung des Planspiels“ (Block 3) Zur Auswertung des Planspiels in Block 3 (organisierte Ethikberatung) im Plenum haben sich folgende Fragestellungen bewährt: Fragen an die Beobachter (und ggf. übriges Publikum) • Wie haben Sie die Seelsorgenden in ihren unterschiedlichen Rollen erlebt? • Inwiefern haben die einzelnen Seelsorgenden den Verlauf des Entscheidungsprozesses beeinflusst? Wo gab es durch Seelsorgende initiierte Wendepunkte im Gespräch? • Gab es Lücken, Brüche, Unausgesprochenes im Gespräch?

Fragen an die am Spiel beteiligten anderen Berufsgruppen • Wie haben Sie die Seelsorgenden erlebt? • Welche Perspektiven und Fragestellungen der Seelsorgenden haben Sie in Ihrer Rolle als weiterführend empfunden?

Fragen an die Seelsorgenden • • • •

Wie ist es Ihnen in Ihrer Rolle ergangen? Wie haben Sie die anderen Berufsgruppen erlebt? Wo liegen für Sie Vorteile, wo Nachteile in der von Ihnen gespielten Rolle? Was würden Sie künftig in ähnlicher Rolle anders machen, was würden Sie beibehalten?

376

Anhang

M VIII: Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“: Impuls für Erfahrungsaustausch Verschiedene Seelsorgerinnen berichten: (1) „Und das andere [bei dem ethische Fragen eine Rolle spielen,] sind rituelle Formen. Vor allem Andachten bei Sterbenden und bei Verstorbenen. Jetzt kann man natürlich sagen, na klar, da geht es jetzt ums Abschiednehmen. Abschiednehmen ist nicht einfach, und trotzdem mit dem Abschiednehmen ist nicht selten was ganz anderes noch verbunden. Nämlich: Haben wir es richtig gemacht? Haben wir etwas falsch gemacht? Sind wir dran schuld, dass sie jetzt hat sterben müssen? Sind wir dran schuld, dass sie so lang hat leiden müssen? Dass wir sie damals doch noch mal zurückgeholt haben? Und all diese Dinge. Also jetzt mit dem Gewissen beschwert. Manchmal beschwert, weil sie jetzt sterben muss, oder er sterben muss. Jetzt ist der Pfarrer da und hat eine ritualisierte Form, wo man das zumindestens ein Stück entlastend hinbekommt.“ (2) „Eine Patientin sagte: ‚Ich bin zwischendurch in Amerika gewesen, und da hab ich ein Kind erwartet und das hab ich abgetrieben, das hab ich aber meinem Mann nie erzählt.‘ Also während der Ehe ist das passiert. Und das hat sie doch als sehr starke Schuldgefühle erlebt, nachträglich, als sie Krebs kriegte, sagte sie: ‚Das ist sozusagen die Bestrafung dafür.‘ Sie war auch völlig [einverstanden], dass sie bestraft worden war, denn sie hatte darunter immer gelitten. Dann haben wir zusammen gebetet, und das hat ihr auch geholfen. Und sie hat auch dann alle Chemo und alles gemacht, das war gar nicht so sehr schlimm, also das war kein sehr großer Befund gewesen. Aber, das hat damals mich sehr erschrocken, dass jemand nach vielen Jahren … es war also, was weiß ich, fünfzehn Jahre oder noch länger her das ganze Erlebnis, dass das für sie so lange ein wirkliches, traumatisches Erlebnis war.“ (3) „Eine Seelsorgerin berichtet von einem Erlebnis aus ihrer Zeit als Gemeindepfarrerin, das ihr Gewissen belastet habe. Zu dieser Zeit hatte sie für das Klinikum, in dem sie jetzt als Klinikseelsorgerin tätig ist, Rufdienst. Eines Nachts wurde sie in den Kreissaal gerufen, wo sie, wie ihr mitgeteilt wurde, eine Geburt in der 26. Schwangerschaftswoche begleiten sollte, um die Eltern zu unterstützen. Zudem sollte sie das Kind segnen oder taufen. Das Kind hatte Trisomie 18 und eine geringe Lebenserwartung. Es wäre schwerstbehindert gewesen. Das Kind habe einen Namen gekriegt und wurde gehalten. Sie tat alles, was man als Seelsorger im Falle einer Totgeburt oder Fehlgeburt tut. Diese Erfahrung war für sie total belastend. Im Nachhinein verbindet sie mit diesem Erlebnis den Begriff Spätabtreibung, auch wenn keiner der Anwesenden in der Situation diesen Begriff verwendet hat. Sie hatte den Eindruck, dass sie diese Entscheidung zur Spätabtreibung absegnen sollte, indem sie dieses Kind segnete. Sie war nicht am Entscheidungsprozess beteiligt. Ihre eigene Überzeugung ist es, dass es besser gewesen wäre, dass Kind zu bekommen und dann zu schauen, wie sich die Situation entwickelt. Sie habe sich missbraucht gefühlt.“

Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“

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M IX: Material zur Themeneinheit „Umgang mit Schuld“: Arbeitsmaterial für Kleingruppenarbeit „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes! Jesus Christus spricht: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Gebet: Gott, wir stehen heute vor dir und bitten dich nun um deinen Beistand. Wir sind hier, weil Schuldgefühle so schwer auf dem Leben von Frau X. lasten und ihr zeitweise fast die Luft zum Atmen nehmen. Diese Schuld bringen wir vor dich und bitten dich um deine Entlastung und Vergebung. Du weißt, dass im November ein drittes Kind, L., entstanden ist – mitten in einer schwierigen Ehephase. So konnte Frau X. keine Freude empfinden. Der medizinische Befund von Trisomie 21 bei L. führte zu dem Entschluss des Schwangerschaftsabbruchs, weil sie sich in der Lebenssituation absolut überfordert sah, dieses dritte Kind zu bekommen. Es war ein furchtbarer und quälender Prozess, der wohl zu den schlimmsten Tagen von Frau X. gehört. Seitdem findet Frau X. keine Ruhe mehr und ist geplagt von Schuldgefühlen. Vom Gesetz her ist ihr nichts vorzuwerfen und ist alles rechtens, aber ihr innerer Richter klagt sie pausenlos an, und auch die Sorge, dass du, Gott und auch L. ihr nicht vergeben können, lassen sie verzweifeln. Ihr Wert, dass Leben zu schützen sei und dein Gebot: du sollst nicht töten, wurden durchbrochen. Die Schuld lastet nun schwer auf Frau X., denn das Geschehene ist nicht rückgängig zu machen. Barmherziger Gott, du weißt, dass wir Menschen Fehler machen und schuldig werden, dass wir unzureichend sind. Genau deshalb hast du Jesus Christus in unsere Welt gesandt, der uns deine Botschaft bringt: Die Liebe zu uns Menschen ist größer und tiefer als alles andere. Nichts kann uns von deiner Liebe trennen, auch nicht die Schuld. Als Zeichen dafür hat uns Jesus die Feier des Heiligen Abendmahles hinterlassen. Im Abendmahl soll deutlich werden: Jesus, also auch Gott, setzt sich mit allen Menschen an einen Tisch, ganz gleich, was in ihrem Leben vorgefallen ist. Immer wieder will Gott die Gemeinschaft mit uns erneuern und uns befreien von Schuld und Versagen. Das hat er uns schon in der Taufe zugesagt, aber wir können uns dessen vergewissern, indem wir das Abendmahl feiern. Niemand wird von Gottes Tisch ausgeschlossen, sondern liebevoll breitet Gott seine Arme aus, wenn wir zu ihm kommen und er vergibt uns das, was uns in unserem Leben nicht gelingt. Lesung Psalm 34 So frage ich dich nun, X.X., bist du bereit, das, was als Schuld und Versagen auf dir lastet, vor Gott zu bekennen, all das, was dich quält nun in seine Hände zu legen, so antworte mit: „Ja, ich bekenne meine Schuld und lege sie in Gottes Hand.“ So lese ich nun die Worte, die Jesus gesprochen hat, als er mit seinen Jüngern zusammen saß und die auch uns heute gelten: Einsetzungsworte und Vaterunser. Nimm hin das Brot des Lebens, für dich gegeben. Nimm hin den Becher der Vergebung, für dich gegeben zur Vergebung der Schuld. Im Namen Gottes des Vaters, des Schöpfers des Himmels und der Erde spreche ich dir zu: Gott vergibt dir all deine Schuld und

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Anhang

Verfehlungen. Er befreit dich und erlöst dich, so dass du immer wieder einen neuen Anfang wagen kannst. Bist du bereit diese Vergebung Gottes anzunehmen? Gebet: Gnädiger, barmherziger Gott, du hast uns Menschen zugesagt, dass du immer wieder einen neuen Anfang mit uns wagst. Niemanden, der bei dir anklopft, weist du ab. Du begegnest uns mit deiner barmherzigen Liebe und schenkst uns deine Vergebung. Wir bitten dich, lass uns deine Liebe spüren und darauf vertrauen, dass wir immer und immer bei dir willkommen sind. So bitten wir dich heute für Frau X., dass sie deine Liebe und Vergebung annehmen kann und sie sich selbst ebenso mit Barmherzigkeit begegnet. Wir danken dir, Gott, für deine Güte und deinen Beistand in allen unseren Lebenssituationen. Segen: Gott segne dich und er behüte dich, Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und er sei dir gnädig. Gott hebe seine Augen auf dich und er schenke dir seinen Frieden – von nun an bis in Ewigkeit. Amen.“

Erläuterung der Seelsorgerin: „[I]ch habe die Patientin hier im Krankenhaus kennengelernt, als die Geburt des Kindes bereits eingeleitet war. Unsere Ärzte achten immer sehr auf Ambivalenzen, aber diese kamen erst zum Ausdruck, als der Weg zurück nicht mehr ging. Ich habe die Patientin hier begleitet, das Kind mit ihr und ihrem Mann zusammen beerdigt und mehrere Nachgespräche nach der Entlassung gehabt. Hierbei ergab sich dann die Möglichkeit des Schuldbekenntnisses mit Abendmahl. Das haben wir zu zweit in unserer Kirche hier [in der Klinik] durchgeführt, direkt vor dem Altar. Die Rückmeldungen, auch nach einer ganzen Weile nochmals, waren sehr gut. Endlich konnte die Patientin wieder besser leben und sich auch wieder mehr der Familie und somit den lebenden Kindern zuwenden. Sie ist danach weiterhin zu den alljährlichen Gedenkfeiern gekommen. Diese Situation mit diesen Ritualen einschließlich Abendmahl in der Kirche war einmalig, aber ich habe häufig Situationen, in denen das Thema Schuld besprochen wird und Segnung ein wichtiger Bestandteil ist.“3

3 Siehe dazu Kapitel 3.7, II.

Material zur Themeneinheit „Barmherziger Samariter und Seelsorge“

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M X: Material zur Themeneinheit „Barmherziger Samariter und Seelsorge“ [Gedächtnisprotokoll (Verbatim) eines Seelsorgers:] Frau X. (88) liegt in einem Einzelzimmer. Vor ihr steht ihre Tochter, Frau Y., vielleicht 60 Jahre alt, bürgerlich-gepflegt gekleidet, ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide blicken mich an. 1. S. Guten Tag! Mein Name ist [S.], ich komme von der Klinikseelsorge. Wenn Sie möchten, habe ich Zeit für ein Gespräch. Aber ich sehe, Sie haben schon Besuch. Y. Meine Mutter kann nicht mehr sprechen. Sie hatte einen Schlaganfall. Sie könnten sich nicht unterhalten. Aber ich … (beginnt sofort zu weinen). 2. S. Ich bin auch für Sie da! Y. Ja, vielleicht… 3. S. Gern! Auch wenn Sie hier nicht sprechen möchten, können wir uns ja in der Cafeteria verabreden, so um 17:00 Uhr. Y. Ich weiß nicht, …, ja, vielleicht wäre das ganz gut. Wir verabreden uns genau und verabschieden uns. Ich bereite sie darauf vor, dass ich vielleicht fünf Minuten später komme, falls ich gerade ein Gespräch habe. Als ich um 17:03 Uhr zur Cafeteria komme, hat diese schon geschlossen. Frau Y. ist den Gang in Richtung des Ausgangs weitergegangen, dreht sich aber um, als sie mich kommen hört. Y. Hier bin ich! 4. S. Die Cafeteria hat leider schon zu. Y. Vielleicht können wir uns hier ein wenig unterhalten. (Deutet auf eine große Nische im Flur, in der drei Stühle stehen. Daneben ist eine Telefonzelle, direkt gegenüber sind zwei Aufzüge.) Ich hatte schon ein wenig bereut, dass ich mich mit Ihnen verabredet habe. 5. S. Ich bin Ihnen nicht böse, wenn Sie es sich anders überlegt haben. Y. Nein… (beginnt wieder zu weinen). Mir geht es sehr schlecht. Aber Sie können mir bestimmt auch nicht helfen. 6. S. Erzählen Sie doch erst einmal. Y. Meine Mutter – sie wollte schon nicht mehr leben, als es ihr noch besser ging. Sie wollte auch nie ins Krankenhaus. Das war immer klar. Wir hatten uns schon entschieden: keine Behandlung mehr. Das war, als sie keine Schmerzen hatte. Jetzt hat sie Schmerzen, sagt die Ärztin. Also habe ich zugestimmt, dass sie eine Infusion bekommt, und Wasser soll ihr […] abgelassen werden. Das ist nicht schmerzhaft, sagt die Ärztin. Und dann habe ich Ja gesagt. Ich weiß nicht, ob ich das richtig mache (weint).

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7. S. Sie tragen sehr schwer an der Verantwortung für Ihre Mutter. Y. Ja. Ich bin ihr Vertre… – Vorm… – Betreuer. (erzählt weitere Details aus der Krankengeschichte ihrer Mutter und von ihren Entscheidungen. Sie erzählt von einer Ärztin, die sie immer mit ihrem Sachverstand überfährt. Mit viel Kraft versucht sie dann, gegenzuhalten. Sie erzählt auch, dass sie lange gegen eine PEG-Sonde gekämpft hat. Erfolgreich: nach mehrtägiger künstlicher Ernährung konnte ihre Mutter wieder schlucken.) Aber es kann doch nicht immer so weitergehen! 8. S. Sie wünschen sich, dass diese Last irgendwann von Ihren Schultern genommen wird. Y. Ja. Aber ich muss das machen. Ich habe nur Angst, dass ich etwas falsch mache. 9. S. Sie haben Angst, dass Sie eigentlich das Leiden ihrer Mutter verlängern, obwohl Sie doch wissen, dass sie in einer solchen Situation nicht mehr leben wollte? Y. So ungefähr. Ich weiß oft nicht, was ich machen soll. Mache ich das richtig? Aber das können Sie mir auch nicht sagen. 10. S. Für mich hört sich das sehr überlegt und verantwortlich an, was Sie mir erzählen. […] So wie Sie das machen – ich bewundere das. Ihre Mutter kann sich glücklich schätzen, dass Sie das so machen. Y. (Lächelt, blickt nach unten.) Ich nehme das jetzt mal so. Aber das sagen Sie jetzt nur, um mich zu trösten. […] Aber Sie können mir auch nicht weiterhelfen. Ich muss das machen. Ich muss da durch. 11. S. Können Sie die Last teilen? Haben Sie noch Geschwister? Y. Ja, einen Bruder in [A.-Stadt] und eine Schwester in [B.-Stadt]. Die kommen auch und wir reden drüber. Aber die sind aus anderem Holz geschnitzt. 12. S. Die nehmen sich das nicht so zu Herzen. Y. Ja. Sie sagen: In so einem Alter muss man mit so was rechnen, das passiert eben, da kann man nichts machen. Ich wäre auch gerne so. 13. S. Aber Sie sind nicht so. Ihnen geht das sehr nahe. Y. (weint) Ich kann doch nicht immer in Tränen ausbrechen. Ich kann so auch nicht zu meinem Mann rausgehen. (greift an ihre Handtasche.) 14. S. Ihr Mann sagt dann: Hab dich nicht so? Y. Nein, … so sagt er das nicht. Aber er ist aus anderem Holz geschnitzt. 15. S. Sie fühlen sich allein, weil scheinbar nur Ihnen das so nahegeht. Y. Die anderen helfen mir auch. Aber ich, … es ist so schwer. Ich würde gerne einfach darüber sprechen können, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Es kostet so viel Kraft. 16. S. Sie wären gerne etwas unberührter. Y. Nein, so nun wieder auch nicht. Es ist nur: Ich wäre gerne etwas stärker.

Material zur Themeneinheit „Barmherziger Samariter und Seelsorge“

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17. S. Vielleicht ist das ja gerade ihre Stärke, dass Sie so mitfühlen können, dass Sie die Situation Ihrer Mutter so an sich heranlassen können. Y. (sieht mich an) So, meinen Sie? 18. S. Für mich ist das eine große Stärke, dass Sie Ihre Mutter so begleiten, wie Sie das tun. Y. Vielleicht haben Sie Recht. 19. S. Ich habe dabei nur Angst, dass Sie irgendwann nicht mehr können. Y. (leise) Ja. Wir sprechen noch […] darüber, ob es ihr möglich sein könnte, eine Auszeit zu nehmen, die Sorge um ihre Mutter auch einmal ihren Geschwistern zu überlassen. Y. So, jetzt habe ich Sie aber genug aufgehalten. 20. S. Sie halten mich nicht auf. Ich bin bis abends hier. Y. Es war überhaupt das erste Mal, dass ich solch ein Gespräch geführt habe. 21. S. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich in Zukunft ein wenig Entlastung verschaffen können. Y. Am [Datum] ist wieder ein Gespräch mit der Ärztin. Es geht um […], und dann um die Weiterbehandlung. 22. S. Sie müssen wieder entscheiden, was nun zu tun ist? Y. Ja. 23. S. Möchten Sie, dass jemand bei diesem Gespräch dabei ist? Y. Nein. 24. S. Okay. Ich wollte nur, dass Sie wissen: Es gehört auch zu den Aufgaben der Krankenhausseelsorge, solche Entscheidungen mit zu begleiten, wenn das gewünscht wird. Y. Ich danke Ihnen. (Wischt sich die Tränen aus den Augen.) 25. S. Ich wünsche Ihnen alles Gute! Ihnen und Ihrer Mutter. Passen Sie auf sich auf. Y. Danke. Ihnen auch alles Gute. Auf Wiedersehen. (Verschwindet rasch in Richtung Toilette.)

Dank

Das vorliegende Buch verdankt sich der engagierten Unterstützung vieler. Unser Dank gilt vor allen anderen den Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die wir interviewen und begleiten durften. Mit großer Geduld und Offenheit standen sie uns Rede und Antwort und gaben uns vielfältige Einblicke in ihre Praxis. Es hat uns beeindruckt, mit wie viel Energie, Leidenschaft und auch Leidensfähigkeit sie sich den gewandelten Herausforderungen ihrer Praxis stellen. Ihre echten Namen müssen ungenannt bleiben; doch sei ihnen dieses Buch gewidmet. Ebenso danken wir den Klinikleitungen, den Mitarbeitenden der Kliniken, den Angehörigen und den Patientinnen und Patienten, die uns vertrauensvoll Zutritt zu den Häusern und Zimmern gewährten. Weiterhin danken wir all jenen, die diesem Projekt auf wissenschaftlicher Seite in verschiedenen Phasen mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, so Prof. Dr. Ruth Albrecht, Prof. Dr. Wolfgang Drechsel und den Teilnehmenden des poimenischen Oberseminars an der Universität Heidelberg, PD Dr. Elisabeth Hartlieb, Prof. Dr. Ulrich Körtner, Prof. Dr. Helen Kohlen, Dr. Dagmar Kreitzschek, Prof. Dr. Andreas Kubik, Prof. Dr. Arne Manzeschke, Dr. Alexander Massmann, Prof. Dr. Jörg Niewöhner, Prof. Dr. Isabelle Noth, Prof. Dr. Friederike Nüssel, PD Dr. Theda Rehbock und den Mitgliedern der AG Sprache und Ethik der AEM, Dr. Marita Rödszus-Hecker, PD Dr. Sibylle Rolf, Dr. Rüdiger Sachau, Dr. Kurt Schmidt, Prof. Dr. Ingrid Schoberth, Prof. Dr. Christina Schües, Detlef Spitzbart und Prof. Dr. Klaus Tanner. Unter den Verantwortlichen für die Seelsorge-Ausbildung danken wir insbesondere Sabine Kast-Streib, Hildegard Hamdorf-Ruddies, Bernd Nagel und Lutz Krüger für ihre kompetente Beratung und für die Gelegenheit, Ergebnisse der vorliegenden Studie am Seelsorgeseminar der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und am Zentrum für Seelsorge und Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu erproben. Für die Unterstützung bei der Herstellung des vorliegenden Buches danken wir herzlich Dr. Silke Domasch, Debora Kumpf, Anke Muno und Simeon Prechtel. Wir danken Prof. Dr. Eberhard Hauschild und Prof. Dr. Anne M. Steinmeier für die Aufnahme des Bandes in diese renommierte Reihe sowie

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Dank

Herrn Dr. Jörg Persch und Moritz Reissing für die hervorragende Zusammenarbeit zwischen Verlag und Autoren. Für eine großzügige finanzielle Unterstützung der Studie selbst danken wir der Evangelischen Kirche in Deutschland; weiterhin der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und der Evangelischen Akademie zu Berlin für umfangreiche institutionelle, finanzielle und persönliche Unterstützung. Zu den Herstellungskosten dieses Buches haben der Kirchenkreis München und Oberbayern, die Evangelische Landeskirche in Baden und die EvangelischLutherische Kirche in Bayern beigetragen; auch dafür großen Dank. Heidelberg und Berlin, im Mai 2015

Thorsten Moos Simone Ehm Fabian Kliesch Julia Thiesbonenkamp-Maag

Abkürzungen

.. EEG IVF KEB KEK KSA KTQ L M Iff. PEG TN

Kürzere Pause im Redefluss (siehe 1, II. e.) Elektroenzephalogramm (Messung von Hirnströmen) In–vitro-Fertilisation (künstliche Befruchtung) Klinische Ethikberatung Klinisches Ethikkomitee Klinische Seelsorgeausbildung Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen Lehrperson Beigegebene Materialien für die Seelsorgeausbildung (Anhang) Perkutane endoskopische Gastrostomie (Magensonde) Teilnehmende

Die Aufschlüsselung der in den Verweisen auf das empirische Material dieser Studie verwendeten Abkürzungen findet sich in Kapitel 1, II. e.

Autorinnen und Autoren

Dr. Thorsten Moos ist Physiker und Theologe. Er leitet den Arbeitsbereich Religion, Recht und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und leitete das Forschungsprojekt „Seelsorge und Ethik“. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Bio- und Medizinethik, Krankheitsbegriffe, Theologie und Kulturwissenschaften sowie Grundfragen theologischer Ethik. Simone Ehm studierte Gesundheits- und Sozialmanagement, Biologie und Evangelische Theologie. Sie ist Studienleiterin an der Evangelischen Akademie zu Berlin mit den Schwerpunkten Medizinethik, gesundheitliche Versorgungsstrukturen, Profil konfessioneller Einrichtungen im Gesundheitssystem und arbeitete in dieser Funktion am Projekt „Seelsorge und Ethik“ mit. Seit 2014 ist sie zudem freiberuflich tätig mit dem Schwerpunkt Evaluations- und Wirkungsforschung im Gesundheitswesen. Dr. Fabian Kliesch ist approbierter Arzt und evangelischer Theologe mit Ausbildung als Klinikseelsorger (CPE/KSA). Er war im Rahmen des Projekts „Seelsorge und Ethik“ an der FEST angestellt und forscht zur ärztlichen Berufsethik und der Klinischen Ethikberatung sowie zu ethischen Fragen der Organtransplantation. Derzeit arbeitet er als Pfarrer in Heidelberg, ist Mitglied im Klinischen Ethikkomitee der Uniklinik Heidelberg sowie in der AG Verfahrensgrundsätze/Ethik der Bundesärztekammer. Dr. Julia Thiesbonenkamp-Maag ist Ethnologin und Kognitionswissenschaftlerin. Sie arbeitet im Arbeitsbereich Religion, Recht und Kultur an der FEST. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medizinethnologie und Religionsethnologie.

Literatur

Die in den Fußnoten verwendeten Kurztitel sind im Folgenden kursiv gedruckt. Adams, Jay E., Befreiende Seelsorge, Giessen 61982. Aldebert, Heiner, Von der Ethik an der Grenze zur Grenze der Ethik, Forum TTN 19, 2008, 17−32. Alkemeyer, Thomas (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013. Al-Krenawi, Alean/Graham, John R., Conflict Resolution through a Traditional Ritual among the Bedouin Arabs of the Negev, Ethnology 38 (2), 1999, 163−174. Anselm, Reiner, Die Kunst des Unterscheidens. Theologische Ethik und kirchliche Stellungnahme, in: R. Anselm/U.H.J. Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, 47–69. Anselm, Reiner/Schleissing, Stephan (Hg.), Ethik als Kommunikation. Zur Praxis klinischer Ethik-Komitees in theologischer Perspektive, Göttingen 2008. Anspach, Renee R., Life-and-Death-Decisions and the Sociology of Knowlegde: The Case of Neonatal Intensive Care, in: M.L. Poland/L.M. Whiteford (Hg.), New Approaches to Human Reproduction. Social and Ethical Dimensions, London 1989, 53−69. Atzeni, Gina/Voigt, Friedemann, Religion und Theologie in bioethischen Komissionen. Eine Untersuchung zu Berufstheologen in ethischen Diskursen, in: F. Voigt (Hg.), Religion in bioethischen Diskursen. Interdisziplinäre, internationale und interreligiöse Perspektiven, Berlin 2010, 215−244. Barth, Ulrich, Religion in der Moderne, Tübingen 2003. Barth, Ulrich, Die religiöse Dimension des Ethischen. Grundzüge einer christlichen Verantwortungsethik, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 315–344. Baumgärtner, Esther, Lokalität und kulturelle Heterogenität. Selbstverortung und Identität in der multi-ethnischen Stadt, Bielefeld 2009. Beauchamp, Tom L./Childress, James F., Principles of Biomedical Ethics, New York 72013. Beer, Bettina, Feldforschung: Verfahren, Methoden, Techniken, in: dies. (Hg.), Methoden und Techniken der Feldforschung, Berlin 2003, 9–32. Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 42008. Bentele, Katrin, Seelsorgekonzepte und Medizinethik, in: H. Haker et al. (Hg.), Perspektiven der Medizinethik in der Klinikseelsorge, Berlin 2009, 137–165.

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